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Full text of "Zeitschrift für experimentelle Pädagogik"

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ZEITSCHRIFT  FÜR 

PÄDAGOGISCHE 
PSYCHOLOGIE 

UND  EXPERIMENTELLE  PÄDAGOGIK 


HERAUSGEGEBEN  VON 
E.  MEUMANN  UND  O.  SCHEIBNER 

UNTER  REDAKTIONELLER  MITWIRKUNG  VON 
A.  FISCHER  UND  H.  GAUDIG 


XV.  JAHRGANG 


1914 
VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


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Inhaltsverzeichnis. 


A.  Abhandlungen. 

Seite 

Zur  Frage  der  Erziehungsziele.  Von  Dr.  E.  Meumann,  Prof.  am  öffentlichen 

Vorlesungswesen  in  Hamburg 1 

Montegsori's  pädagogischer  Versuch  der  „Case  dei  bambini"  in  der  Eindergarten« 

bewegung.    Von  Dr.  U.  Saffiotti,  Prof.  an  der  Universität  Rom     .        9 

Das   Entwicklungsalter    und    seine  Gefahren.    Von    Stadtarzt   Prof.    Dr.    med, 

W.  V.  Drigalski,  Privatdozent  an  der  Universität  Halle     ....      17 

Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes.  Von  Dr.  K.  K.  Prinz  v.  Löwen- 
stein-Freudenberg in  München 25 

Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen  Vorführungen.  Von 
Gerichtsassessor  Dr.  jur.  A.  Hellwig,  wissensch.  Beirat  d.  juristischen 
Fakultät  Berlin 37 

Versuche  über  die  Beteiligung  von  Bewegungsempfindungen  und  Bewegungsvor- 
stellungen bei  Formkombinationen.  Von  Geh.  Medizinalrat  Prof.  Dr. 
phil.  et  med.  Th.  Ziehen  in  Wiesbaden 40 

Probleme  und  Apparate   zur   experimentellen  Pädagogik.    Von  Dr.  H.  Rupp, 

Privatdozent  an  der  Universität  Berlin 44;  217;  408 

Deskriptive  Pädagogik.    Von  Privatdozent  Dr.  A.  Fischer  in  München     .    .      81 

Beiträge  zur  Analyse   der  zeichnerischen  Begabung.    Von  Lehrer  R.  Peter  in 

Hamburg 96 

Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  und  Psychologie. 
Von  Dr.  G.  Deuchler,  Dozent  für  Pädagogik  an  der  Universität 
Tübingen , 114;  145;  229 

Moralpsychologische  Auswertung  freier  Einderzeichnungen  von  taubstummen 
Schülern.  Von  R.  Lindner,  Lehrer  an  der  Königl.  Taubstummen- 
anstalt in   Leipzig 160 

Zu   den   experimentellen   Untersuchungen   über  Bildyerständnis.    Von   Rektor 

O.  Hasserodt  in  Hamburg • 184 

Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der  Schule.    Von  Prof, 

J.  Duck  in  Innsbruck 177 

Der  Jugendsport  vom  Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie.  Von  Privat- 
gelehrten  Dr,  A.  Huther  in  Heidelberg 195 

Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  sein  Zusammenhang  mit  der  Auf- 
klärung.   Von  Universitätsprofessor  Dr.  v.  Aster  in  München     .    .    209 

Schülernervosität    und    ihre   prophylaktische    Behandlung   im    Unterricht.    Von 

Oberlehrer  Dr.  W.  Krassmöller  in  Berlin 257;  313 

Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  der  Geschlechter. 

Von  Lehrer  F.  Rössel  in  Hamburg 265 

Arbeitsfeld  und  Ziele  der  Schulhygiene.  Von  Regierungsrat  Professor  Dr,  phil. 
Dr.  jur.  hon.  c,  L.  Burger  stein,  Privatdozent  an  der  Universität 
Wien 283 

Der  Begriff  des  Interesses  in  psychologischer  Ableitung.    Von  Privatgelehrten 

Dr,  A.  Huther  in  Heidelberg 280 

Eigenschaften    der    frühkindlichen    Phantasie.    Von    Universitätsprofessor    Dr. 

W.  Stern  in  Breslau 306 


IV  Inhaltsverzeichnis. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  und  Urteilsbeständigkeit 

der  Schulkinder.    Von  Lehrer  A.  Lode  in  Chemnitz  i.  Sa.     .    .    327;  369 

Zwei  neue  Ergographen.    Von  Dr.  G,  Anschütz,  Assistent  am  psychologischen 

Institut  in  Hamburg 336 

Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß.  Ein  Beitrag  zur  experimentellen 
Gruppenpsychologie.  Von  Dr.  W.  Mode,  Assistent  am  Institut  für 
experimentelle  Pädagogik  in  Leipzig 353 

Die  Milieuerkrankung  des  Kindes.    Von  Professor  Dr.  F.  Kühner  in  Eisenach    369 

Zahlbildung  und  Finger.    Von  Dr.  H.  Walsemann,  Direktor  des  Oberlyzeums 

zu  Schleswig 403 

„Unsere  Jugend'*.    Bericht  über  die  pädagogische  Ausstellung  in  Essen.   Von 

Oberlehrer  Dr.  J.  Weber  in  Wattenscheid 419 

„Wir  Deutschen".    Aus  dem  Seelenleben   unserer  Zeit.    Von  Schulrat  Prof. 

Dr.  H.  Gaudig  in  Leipzig 449 

Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  über  den  Fortschritt  der 
Verbesserungen  der  öffentlichen  Volksschulen  im  Deutschen  Reiche.  Von 
Privatdozent  Dr.  A.  Fischer  in  München 454 

Beiträge    zur   Psychologie    und   Pädagogik    des   Jugendwanderns.    Von  Lehrer 

C.  Zeidler  in  Hamburg 465 

Die  Ermüdung  und  das  Antikenotoxin.    Von  Lehrer  F.  Lorenz  in  Berlin    .    .    482 

Über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  und  ihre  heilpädagogische  Behandlung. 

Von  Dr.  J.  Girstenberg  in  Berlin 484 

Zur  Psychologie  der  Schrift  des  Kindes.    Von  Prof.  F.  Kuhlmann  in  Bremen  "488 

Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  yon  Volksschülern.   Von  Schuldirektor 

Dr.  H.  Tittmann   in  Leipzig 492;  550 

Der  Krieg  und  die  Schule.     Von  Universitätsprof.  Dr.  A.  Messer  in  Gießen  .    529 

Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.  Von  Geh.  Re- 
gierungsrat Universitätsprof.  Dr.  P.  Cauer  in  Münster 540 

Formauffassung  und  SchreibTersuch  im  Kindergartenalter.    Von  Dr.  A.  Huth 

in  München 566 

Die  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel.    Von  Dr.  A.  Prüfer,  Dozent 

und  Verwaltungsdirektor   der  Hochschule  für  Frauen   in  Leipzig     .     592 


B.  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Alkoholkriminalität  der  Jugendlichen 244 

Arbeitsplan  einer  Versuchsschule 338 

Aufgaben  der  psychologisch -pädagogischen  Forschung  im  Gebiete  des  Religions- 
unterrichts       64 

Ausstellung  der  pädagogischen  Fachpresse  der  Welt 203 

Amerikanische  Koedukationsschulen 136 

Berufserkrankungen  des  Lehrers 600 

Berufsständiges  Herkommen  der  Volksschullehrerschaft 61 

Ein  deutsches  Schulmuseum  in  Leipzig 601 

Deutsches  „Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht" 340 

Elternbelehrung   über    die  Versuchsklassen    im   Elementarunterrichte 205 

Erste  Einzelerinnerung 204 

Erprobung  der  „Linkskultur"  in  den  Berliner  Hilfsschulen 55 

Ein  Fall  von  Kleptomanie  im  Schüleralter.    Von  KurtTucholsky.    .    .    .  55 

Ferienheilsprachkursus  für  unbemittelte  Schulkinder 600 

Für  stotternde  Schulkinder , 58 

Gegen  die  „Warnung  vor  den  Übergriffen  der  Jugend-Psychoanalyse"    ....  201 

, Gesellschaft  für  Psychologie  und  Hygiene* 140 

Institut  für  Jugendkunde  in  Bremen 512 

Internationaler  Kongreß  für  Volkserziehung  und  Volksbildung 341 

Internationale  pädagogische  Fachpresse 516 


Inhaltsverzeichnis. 


Internationale  Regelung  der  Kinderarbeit 138 

Eerschensteiners  Leitsätze  über  „Die  nationale  Einheitsschule" 242 

Kinder-  und  Jugendselbstmorde 134 

Medizinisch-pädagogische  Fürsorge-  und  Beratungsstelle  zu  Eisenach 427 

Nachrichten 66,  250.  295,  341,  517 

Neue  Theorie  über  die  Ursache  der  Schulkurzsichtigkeit 57 

Pädagogik   in   den  Vorlesimgen    der   deutschen  Hochschulen   für   das  Sommer- 
halbjahr 1914      .        293 

Pädagogisch-psychologisches  Institut  zu  München 425 

Pädagogisch-psychologisches  Laboratorium  an  der  Landeslehrerakademie  In  Wien  513 

Pädagogische  Zentrale 62 

Phonetisches  Laboratorium  des  Hamburgischen  Kolonialinstitutes 65 

Praktische  pädagogische  Ausbildung  von  Studenten  an  einer  Volksschule     .    .    .  599 

Preisausschreiben 139,  250,  427 

Prüfung  für  Hilfschullehrer 60 

Psychologie  der  Rechtschreibungsfehler  bei  Schulkindern.    Von  Otto  Schreyer  132 

Psychologisches  Institut  in  Hamburg 339 

Religions-psychologischer  Fragebogen 423 

Richtlinien  für  militärische  Vorbildung 611 

Selbstregiening  in  der  Erziehung 423 

Statistik  der  Selbstmorde  Jugendlicher  in  Preußen 293 

Stellung  des  deutschen  Lehrervereins  zur  pädagogischen  Wissenschaft 422 

Theodor  Lipps.    Von  Aloys  Fischer 603 

Über  ein  neuropsychologisches  Grundgesetz 389 

Umfrage  über  die  Wirkungen  des  Kindergartens.    Von  Nelly  Wolffheim  .    .  931 

Umfrage  über  die  Wirkung  der  Ortsschulaufsicht  auf  den  Unterricht 61 

Unterschiede  der  Abstraktionsfähigkeit  bei  Knaben  und  Mädchen 598 

Vergleich  der  schulärztlichen  Befunde  bei  Schülerinnen  der  Höheren  Mädchen- 
schule und  der  Volksschule 57 

Vergleichende  Pädagogik.    Von  Johannes  Kretzschmar. 200 

Versuchsweise  Einführung  einer  Schulreform 60 

Vertretung  der  Pädagogik  auf  der  Internationalen  Ausstellung  für  Buchgewerbe 

und  Graphik ,  246 

Wesen  und  Prinzipien  der  Elementarbildung 697 

Wilhelm  Wundt  über  den  „wahrhaften  Krieg" 607 

Zehn  Gebote  einer  Kriegspädagogik 609 

Zur  Frage  der  rangmäßigen  Schulplätze 135 

Zur  Soziologie  der  erwerbsunfähigen  Schwachsinnigen 59 


C.  Literaturbericht. 

Ament,  Dr.  W.,  Die  Seele  des  Kindes.     Otto  Scheibner 441 

Anderson,  David  Allen,  The  School  System  of  Norway.   Dr.  F.  W.Meisnest  255 
Anschütz,  G.,  Die  Intelligenz.   Eine  Einführung  in  die  Haupttatsachen,  die 
Probleme  und   die  Methoden   zu   einer   Analyse   der  Denktätigkeit. 

Fritz  Giese 71 

Baeumker,  Clemens,  Anschauung  und  Denken.    A.  Huther 76 

Baumgartner,  H.,  Psychologie   oder  Seelenlehre  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung der  Schulpraxis  für  Lehrer  und  Erzieher.    Otto  Scheibner  141 

Bechterew,  Bildhches  Schreiben  der  Kinder.    W.  J.  Ruttmann 431 

Bechterew,  Prof.  Dr.  O.  v.,  Objektive  Psychologie  oder  Psychoreflexologie, 

die  Lehre  von  den  Assoziationsreflexen.     Johannes  Handrick  .     .     .  252 

Beck,  Fr.,  Americana  Paedagogica.     Aloys  Fischer 349 

Bloch,  Robert,  Die  Grundlagen  der  Rechtschreibung.     Otto  Scheibner      .  607 

Brandenberger.K.,  Die  Zahlauffassung  beim  Schulkinde.    Gustav Deuchler  604 

Brandi,  Karl,  Unsere  Schrift.     Carl  Jesinghaus 606 


VI  Inhaltsverzeichnis. 


Budde,  Gerhard,  Moderne  Bildungsprobleme.     Dr.  A,  Huther 67 

Busse,  Ludwig,  Geist  und  Körper,  Seele  und  Leib.  Dr.  Aloys  Fischer  .  70 
Dritter    deutscher    Kongreß    f.    Jugendbildung    und    Jugendkunde    zu 

Breslau  am  4.,  5.  u.  6.  Oktober  1913.     Paul  Ficker 346 

Die  Deutsche  Unterrichtsausstellung.     Dr.  Rieh.  Tränkmann 256 

Dürr,  Prof.  Ernst,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit.    Rieh.  Tränkraann  298 

Ebbinghaus,  Herm.,  Abriß  der  Psychologie.     Rieh.  Tränkmann     ....  342 

Eucken,  R.,  Zur  Sammlung  der  Geister.     Lic.  Paul  Krüger.     ......  66 

Fauth-Finkbeiner,     Grundlagen     des     Zeichen-     und    Kunstunterrichts. 

W.  J.  Ruttmann ' 430 

Flagstad,  Ch.  B.,  Psychologie  der  Sprachpädagogik.    Dr.  Hermann  Schmitt  73 

Freud,  Prof.  Dr.  Sigism.,  Die  Traumdeutung.     Paul  Ficker      ......  603 

Fröscheis,  Dr.  Emil,  Lehrbuch  der  Sprachheilkunde  (Logopädie)  für  Ärzte, 

Pädagogen  und  Studierende.     Dr.  Ernst  Levy 253 

Gabius,  Dr.  P.,  Denkökonomie  und  Energieprinzip.     Joseph  Herkomer  .     .  344 

Gesamtunterricht  im  ersten  und  zweiten  Schuljahre.     Rieh.  Tränkmann   .     .  608 

Geyser,  Joseph,  Die  Seele.     Werner  Bloch 601 

Gerlach,  A.,  Von  schönen  Rechenstunden.    Kurt  Döring 442 

Gerlach,  A.,  Des  Kindes  erstes  Rechenbuch.     Otto  Scheibner 301 

Giese,  Fritz,  Das  freie  literarische  Schaffen  bei  Kindern  und  Jugendlichen. 

J.  Handrick 142 

Goddard,  Die  Familie  Kalikak.     Ferdinand  Kühne 524 

Henning,  Dr.  Hans,  Der  Traum,  ein  assoziativer  Kurzschluß.    Paul  Ficker  437 

Hensel,  Paul,  Hauptprobleme  der  Ethik.       Hans  Frey  er 78 

Herbarts  Lehrbuch  zur  Einleitung  in  die  Philosophie.  Dr.  Joh.  Kretzschmar  80 
Hönigswald,    Rieh.,    Studien    zur    Theorie    pädagogischer    Grundbegriffe. 

Otto  Scheibner 606 

Ivanoff,   E.,    Recherches   experimentales   sur  le   dessin   des   ecoliers   de   la 

Suisse  romande.     W.  J.  Ruttmann 430 

Jodl,  Fr.,  Das  Problem  des  Moralunterrichts  in  der  Schule.    Gustav  Deuchler  346 

Kafka,  Gustav,  Einführung  in  die  Tierpsychologie.     Aloys  Fischer     .     .     .  522 

Kerrl,  Dr.  Th.,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit.     Otto  Scheibner      .     .  254 

Kind  und  Schule.     Rieh.  Tränkmann 441 

Krukenberg,  H.,  Der  Gesichtsausdruck  des  Menschen.  Aloys  Fischer  .  .  252 
Kohler,  Josef,  Recht  und  Persönlichkeit  (Kultur  der  Gegenwart).    Werner 

Bloch 522 

Külpe,  Osw.,  Einleitung  in  die  Philosophie.     Fritz  Low 296 

Kunzfeld,A.,  Naturgemäßer  Zeichen-  und  Kunstunterricht.  W.  J.  Ruttmann  431 
Lay,  Dr.  W.  A.,  Reform  des  Psychologieunterrichts,  verdeutlicht  an  Schüler- 
arbeiten.    Rieh.  Tränkmann 299 

LippB,  G.  F.,  Über  die  geistige  Entwicklung  des  Schulkindes.     Seh.     .     .     .  525 

Lobsien,  Marx,  Kinderzeichnung  und  Kunstkanon.     W.  J.  Ruttmann    .     .  430 

Lobsien,  Marx,  Das  Gedächtnis.     Rieh.  Tränkmann 523 

Luquet,  G.  H.,  Les  dessins  d'un  enfant.     W.  J.  Ruttmann    •....,.  430 

Luquet,  G.  H.,  Le  premier  äge  du  dessin  enf antin.     W.  J.  Ruttmann      .     .  430 

Meumann,E.,  Abriß  der  experimentellen  Pädagogik.  Prof.  Dr.  R.  Tränkmann  439 

Meumann,  Dr.  E.,  Intelligenz  und  Wille.     Rieh.  Tränkmann 343 

Meßmer,  Der  zeichnerische  und  der  sachliche  Blick.  W.  J.  Ruttmann  .  .  432 
Montessori,    Dr.  Maria,    Selbsttätige    Erziehung    im    frühen  Kindesalter. 

Nelly  Wolffheim 299 

Murtfeld,  Wilhelm,  Grundlagen  und  Stoffe  für  Hilf sschuUehrpläne.    Otto 

Scheibner •     .  256 

Muth,  Über  Ornamentationsversuche  mit  Kindern  im  Alter  von  6—10  Jahren. 

W.  J.  Ruttmann 433 

Muthesius,  Karl,  Die  Berufsbildung  des  Lehrers.  Max  Brahn  ....  77 
Nagy,    Ladislaus,    Psychologie    des    kindlichen    Interesses.     (Übersetzung 

aus  dem  Ungarischen.)     A.  Huther 207 


Inhaltsverzeichnis.  VII 


Pfordten,  O.  v.  d.,  Das  Gefühl  und  die  Pädagogik.     A.  Huther 438 

Penzig,  Rudolph,  Ernste  Antworten  auf  Kinderfragen.     Aloys  Fischer      .  76 

Potpeschnik,  Luise,  Aus  der  Kindheit  bildender  Kunst.    W.  J.  Ruttmann  433 
Prüfer,  Dr.  Joh.,  Kleinkinderpädagogik  .  .  .  Friedrich  Fröbels  „Mutter  und 
Koselieder"  .  .  .  Vorläufer  Fröbels  .  .  .  Quellen  zur  Geschichte  der 

Kleinkindererziehung  .  .  .     Johannes  Kühnel 525 

Prüfer,  Dr.  Johannes,  Kleinkinderpädagogik.    Nelly  Wolf f heim    ....  68 

Ranschburg,  Paul  Dr.,  Psychologische  Studien.     K.  G.  Szidon 602 

Rothe,    K.    C,    Sonderelementar klassen    für   sprachkranke   Kinder.     Otto 

Scheibner 348 

Rouma,  G.,  Le  langage  graphique  de  l'enfant.     W.  J.  Ruttmann 430 

Ruttmann,  W.  J.,  Die  Hauptergebnisse  der  modernen  Psychologie  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  derlndividualforschung.  Rieh.  Tränkmann  297 
San  dt,  Dr.  Hermann,  Die  Pädagogik  Wicherns.    Lic.  Paul  Krüger    ...  437 
Schanoff,  Botju,  Die  Pädagogik  des  Rechnens.    Dr.  A.  Huther     ....  75 
Scheindler,  August,  Methodik  des  Unterrichts  in  der  lateinischen  Sprache. 

A.  Huther 144 

Schlager,  Paul,  Pädagogik,  Psychologie,  Philosophie.    Kritischer  Literatur- 
bericht.    Paul  Ficker 346 

Schmidt,  Prof.  Dr.  med.  E.  A.,  Das  Schulkind  nach  seiner  körperlichen  Eigen- 
art und  Entwicklung.     Otto  Scheibner 441 

Schmidt,  Alfr.,  Kunsterziehung  und  Gedichtbehandlung.    A.  Huther    .    .  300 
Scholz,    Prof.  Dr.  W.  Rein,    Eine    kurzgefaßte  Darstellung   seines   Lebens 

und  Wirkens.     Otto  Scheibner 348 

Schriften  des  Deutschen  Fröbelverbandes,  Heft  2.    Nelly  Wolffheim  .    .    .  347 

Schulwartkatalog.    Ein  Lehr-  und  Lernmittelverzeichnis.    Paul  Ficker    .  348 

Schulze,  Rud,,  Experimente  aus  der  Seelenlehre.    Kurt  Schleif 70 

Schumann,  Religion  und  Wirklichkeit.     H.  v.  Müller 519 

Seguin,  S.Edward,  Die  Idiotie  und  ihre  Behandlung  nach  physiologischer 

Methode.    Ernst  Levy 524 

Siercks,  H.,  Jugendpflege.    Johannes  Kühnel 208 

Stern,  Victor,  Einführung  in  die  Probleme  und  die  Geschichte  der  Ethik. 

Hans  Freyer 80 

Überwegs  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie.     Werner  Bloch  .     .     .  518 

Vierkandt,  Das  Zeichnen  der  Naturvölker.     W.  J.  Ruttmann 432 

Viertel  Jahrsverzeichnis  neuer  Schriften 301 

Vorträge    über    wissenschaftliche    und    kulturelle    Probleme    der   Gegenwart. 

R.  Tränkmann 436 

Wagner,  P.  A.,  Das  freie  Zeichnen  von  Volksschulkindern,    W.  J.  Ruttmann  433 
Wähmer,   Richard,    Spracherlernung    und   Sprachwissenschaft.     Hermann 

Schmitt 444 

Weber,  Alfred,  Schriften  zur  Soziologie  der  Kultur.    Dr.  Werner  Bloch    .  206 

Weber,  Ernst,  Zeichnerische  Gestaltung  und  Bildungsarbeit.  W.  J.  Ruttmann  430 

Wohl r ab,  E.  H.,  Lebensvoller  Unterricht  axif  der  Unterstufe.    Joh.  Kühnel  608 

Wohlrab,  E.  H.,  Zum  dritten  Schuljahr.     Joh.  Kühnel 608 

Wulffen,  Erich,  Das  Kind.    Sein  Wesen  und  seine  Entartung.   Dr.  E.  Levy  142 

Wyneken,  G.,  Schule  und  Jugendkultur.    Dr.  Hans  Freyer 68 

Ziertmann,  P.,  Pädagogik  als  Wissenschaft  und  Professuren  der  Pädagogik. 

Dr.  Gustav  Deuchler 264 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 

Von  Ernst  Meumann. 

Die  Pädagogik  unsrer  Zeit  ist  in  Gefahr,  sich  durch  die  Fülle  neuerldeen 
und  neuer  Vorschläge  „zur  Umkehr",  „zur  Reform",  zum  Einschlagen  „neuer 
Bahnen",  zur  ,, Gewinnung  von  Neuland"  und  dergleichen  zu  zersplittern, 
und  es  entspricht  daher  einem  dringenden  Bedürfnis,  wenn  die  Praktiker 
und  Theoretiker  der  Pädagogik  neuerdings  dem  Beispiel  aller  großen  wissen- 
schaftlichen und  praktischen  Bewegungen  der  Gegenwart  gefolgt  sind  und 
eine  Aussprache  und  einen  Ausgleich  der  Gegensätze  auf  pädagogischen 
Kongressen  herbeigeführt  haben. 

Das  wichtigste,  aber  zugleich  das  schwierigste  Ziel  zur  Verständigung  und 
Einigung  der  Geister  wäre  eine  Klärung  der  Frage  der  Erziehungsziele  — 
nicht  bloß  des  Bildungszieles,  wie  es  auf  dem  vorletzten  Kongreß  des 
Bundes  für  Schulreform  in  München  als  Thema  gestellt  war.  Denn  die  Ziele 
(oder  das  Ziel),  die  sich  der  einzelne  Pädagog  —  bewußt  oder  unbewußt, 
mit  mehr  oder  weniger  bestimmter  wissenschaftlicher  Formulierung  und 
Begründung  —  stellt,  bestimmen  natürlich  seine  ganze  pädagogische  Tätig- 
keit, und  sie  legen  bei  dem  Systematiker  der  Pädagogik  seine  „Richtung" 
oder  seinen  ,, Standpunkt"  fest. 

Mag  man  nun  die  Aufgabe  und  das  Wesen  der  Erziehung  auffassen,  wie 
man  will,  auf  das  eine  kommen  alle  Definitionen  der  Erziehung  hinaus,  daß 
wir  das  heranwachsende  Geschlecht  durch  die  Erziehung  zu  einem  uns  vor- 
schwebenden menschlichen  Ideal  heranzubilden  suchen:  zu  einem  Ideal, 
dessen  Inhalt  natürlich  sehr  verschieden  bestimmt  werden  kann  und  das  in 
den  verschiedenen  Zeiten  und  Generationen  auch  sehr  verschieden  bestimmt 
worden  ist.  Bald  hat  man  mehr  darauf  Wert  gelegt,  daß  die  Erziehung  die 
Vermittlerin  und  Überlieferin  des  von  den  früheren  Generationen  erworbenen 
Bildungsgutes  sein  soll  (Willmann),  dann  wird  man  den  Erwerb  dieses 
Bildungsgutes  als  einen  ,, Hauptwert"  des  Erziehungszieles  betrachten;  bald 
betont  man  melir  die  Fähigkeit  der  heranwachsenden  Generation,  sich  der 
kulturellen,  wissenschaftlichen  und  sozialen  Aufgabe  ihrer  Zeit  zu  bemäch- 
tigen und  sich  ihnen  gewachsen  zu  zeigen  (so  die  meisten  gegenwärtigen 
pädagogischen  Reformer). 

Die  Bedeutung  der  Erziehungsziele  äußert  sich  naturgemäß  auch  darin, 
daß  die  großen  historischen  Gegensätze  in  der  Pädagogik  (als  Theorie 
und  Praxis),  die  „Strömungen",  „Richtungen"  und  ,, Standpunkte",  die  uns 
in  der  Geschichte  der  Pädagogik  entgegentreten,  durch  die  Verschiedenheit 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  1 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 


der  Ziele  bestimmt  werden,  welche  von  einzelnen  Pädagogen  oder  ganzen 
Zeitströmungen  als  Erziehungsideale  anerkannt  wurden.  Je  nachdem  das 
Erziehungsziel  eine  mehr  formale  oder  materiale  (inhaltlich  bestimmte) 
Formulierung  erhielt,  trug  auch  die  ganze  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
arbeit bald  mehr  formalistischen  Charakter,  bald  wurde  sie  bis  in  die  Aus- 
wahl und  Behandlung  der  einzelnen  Lehrgegenstände  hinein  von  bestimmten 
materialen  „Idealen"  durchdrungen.  So  ist  Pestalozzis  Erziehungsziel  und 
seine  ganze  Didaktik  mehr  formalistischer  Natur:  die  einzelnen  Kenntnisse 
des  Schülers  treten  in  allen  Unterrichtsfächern  für  ihn  zurück  hinter  der 
Wertschätzung  der  formalen  Fähigkeiten  des  Intellektes  und  des  Willens, 
die  der  Schüler  erwirbt,  während  umgekehrt  bei  den  Philanthropen  —  trotz 
ihrer  stark  formalistischen  Beeinflussung  durch  Rousseau  und  Pestalozzi  — 
die  Betonung  des  Nützlichkeitsgesichtspunktes  wieder  die  Wertschätzung 
des  Wissens  gegenüber  bloß  formalem  Können  in  den  Vordergrund  drängt. 
Im  ganzen  Mittelalter  und  noch  weit  darüber  hinaus,  z.  B.  in  den  humani- 
stischen Gymnasien  der  Reformation  herrscht  die  Wertschätzung  bestimmter 
Kenntnisse  —  besonders  natürlich  lateinischer  Sprachkenntnisse  —  in 
solchem  Maße  vor,  daß  dieses  materiale  Ziel  die  ganze  Erziehung  beeinflußt. 
Soll  doch  —  nach  einer  ungefähren  Berechnung  —  Johannes  Sturm  (in 
Straßburg)  die  Kenntnis  von  rund  20000  lateinischen  Vokabeln  von  seinen 
Schülern  gefordert  haben. 

Die  relativ  material  bestimmten  Erziehungsziele  erzeugten  aber  viel 
durchgreifendere  Gegensätze  im  Erziehungswesen.   Wo  Bildung  und  Kennt- 
nisse am  höchsten  geschätzt  wurden,  entstand  der  pädagogische  Intellek- 
tualismus; wenn  die  ethischen  Ziele  allen  anderen  übergeordnet  wurden, 
entstand  der  pädagogische  Ethizismus;  wenn  die  religiöse  Bildung  bevor- 
zugt oder  ausschließlich  betont  wird,  sehen  wir  teils  den  Konfessionalis - 
mus  entstehen,  teils  Erziehungsideale  vom  Charakter  einzelner  Auffassungen 
des  religiösen  Lsbens,  wie  das  pietistische,  methodistische  oder  das  Jesuitische 
(soweit  es  für  die  Ordensschüler  selbst  gedacht  war).     Einseitige  Wert- 
schätzung ästhetischer  und  künstlerischer  Bildung  brachte  den  pädagogischen 
Ästhetizismus  hervor  (Schelling;  der  schroffste  Gegensatz  dazu  findet 
sich  vielleicht  bei  Sören  Kierkegaard).  Die  einseitige  Schätzung  der  Brauch- 
barkeit des  Zöglings  für  das  praktische  Leben  erzeugt  einen  eigentümlichen 
pädagogischen    Utilitarismus  (der  sich  keineswegs  mit   dem    ethi- 
schen Nützlichkeitsstandpunkt  deckt):  wir  sehen  ihn  in  ausgeprägter  Form 
bei  Basedow,  dessen  Erziehung  ,,zum  gemeinnützigen,  patriotischen  und 
glückseligen  Leben"  oft  in  recht  banaler  Weise  den  Gesichtspunkt  der  prak- 
tischen Brauchbarkeit  des  Zöglings  betont  —  schon  die  Einteilung  der  Schüler 
am  Philanthropin  in  Dessau  beruhte  darauf.  Und  innerhalb  der  material 
bestimmten  Erziehungsziele  sind  nun  wieder  sehr  verschiedene  Standpunkte 
möglich  je  nach  der  genaueren  Bestimmung  des  Gesamtziels.    Der  pädago- 
gische Ethizismus  kann  das  Erziehungsziel  bald  mehr  im  Sinne  der  Kant- 
schen  Pflichtethik  bestimmen,  dann  erhalten  wir  einen  pädagogischen  Rigo- 
rismus; bald  mehr  im  Sinne  der  Glückseligkeitsethik  (pädagogischer  Eudä- 
monismus  oderHedonismus),  bald  mehr  im  Sinne  des  ethischen  Utilitarismus, 
der  Perfektionsmoral  usw.    Fast  alle  diese  Möglichkeiten  finden  wir  auch  in 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 


der  Geschichte  des  Erziehungswesens  verwirklicht,  und  es  fragt  sich  nun, 
wie  soll  sich  unsere  gegenwärtige  Pädagogik  zu  dieser  Fülle  historisch  aus- 
geprägter Standpunkte  stellen?  Gibt  es  unter  den  historisch  gewordenen 
Erziehungszielen  eines,  das  sich  noch  dazu  eignet,  das  einheitliche  Ziel 
unsrer  Zeit  zu  sein?  Gibt  es  unter  den  vom  systematischen  Gesichtspunkt 
aus  möglichen  Zielen  eines,  das  die  Gegensätze  unsrer  Zeit  zu  einigen  ver- 
mag, oder  eines,  das  wir  als  den  vollen,  allumfassenden  Ausdruck  oder  als  den 
Kern  unsrer  ,, modernen"  Erziehungsideen  ansehen  können? 

Lassen  wir  einmal  die  verschiedenen  Möglichkeiten  der  Zielbestimmung 
,Revue  passieren'  unter  dem  Gesichtspunkt,  ob  eine  von  ihnen  als  das  uns 
völlig  befriedigende  Erziehungsziel  unsrer  Zeit  angesehen  werden  kann! 

Da  haben  wir  zunächst  den  Gegensatz  der  mehr  formal  oder  mehr  material 
bestimmten  Ziele.  Es  ist  zu  beachten,  daß  der  ganze  Gegensatz  formaler  und 
inhaltlich  bestimmter  Ziele  ein  bloß  relativer  ist!  Es  gibt  mehr  oder 
weniger  formalistische  Zielangaben  und  mehr  oder  weniger  bestimmte 
Inhaltsangaben  bei  der  materialen  Zielbestimmung.  Zu  den  extrem  for- 
malen Zielbestimmungen  gehören  einige  der  heutzutage  besonders  beliebten 
Angaben,  wie  die  Erziehung  „zur  Kraft",  „zur  Tat"  (W.  A.  Lay),  „zum 
Handeln",  zur  ,, Selbsttätigkeit",  „zum  Willen",  zur  „Ausdrucksfähigkeit" 
oder  gar  die  Zielbestimmungen,  die  sich  auf  die  Angabe  einzelner  formaler 
Willenseigenschaften  beschränken,  wie  die  ,, Erziehung  zur  Konsequenz", 
,,zur  Willensstärke"  und  dergleichen. 

Alle  diese  extrem  formalen  Zielangaben  sind  völlig  unbrauchbar,  um 
die  Fülle  und  Mannigfaltigkeit  der  Erziehungsbestrebungen  unsrer  Zeit  zu 
umfassen,  oder  auch,  um  deren  einheitlichen  Grundgedanken  anzugeben. 
Denn  einerseits  haben  alle  rein  formalen  Zielbestimmungen  große  Nach- 
teile —  die  wir  sogleich  sehen  werden  — ,  sodann  sind  diese  heute  so  behebten 
Formeln  sogar  ganz  beschränkte  Einseitigkeiten,  die  höchstens  einige  ein- 
seitige Verirrungen  unsrer  ,, modernen"  Pädagogik  zum  Ausdruck  bringen. 
Die  Nachteile  rein  formaler  Zielbestimmungen  sind  einmal  ihre  völlige  Leer- 
heit und  Inhaltlosigkeit  und  damit  ihre  Indifferenz  gegenüber 
Wertangaben.  Die  Erziehung  „zur  Kraft",  ,,zurTat",  zur  „Konsequenz"  und 
dergleichen  sagen  ja  nichts  darüber,  in  welchem  Sinne  und  in  welcher 
Gesinnung  nun  die  „Tat",  die  ,, Konsequenz"  usw.  gemeint  ist:  ob  im  sitt- 
lichen oder  unsitthchen,  im  rein  utilitarischen,  sozialen,  antisozialen,  indi- 
vidualen  usw.  Sinne.  Es  hat  auch  konsequente  Verbrecher  gegeben,  und 
unter  der  brutalen,  gewissen-  und  skrupellosen  Ausbeutung  der  Mitmenschen, 
die  wir  heutzutage  wohl  als  ,,Amerikanismus"  bezeichnen  (ob  mit  Recht  oder 
Unrecht,  das  wollen  wir  dahingestellt  sein  lassen !),  finden  sich  die  klassischen 
Beispiele  einer  ,, Erziehung  zur  Tat",  sogar  in  deren  idealster  Form  der 
„Selbsterziehung  zur  Tat";  der  ,,Selfmadegauner",  wie  ihn  ein  moderner 
Humorist  genannt  hat,  ist  in  der  Tat  die  höchste  formale  Verkörperung 
einer  Selbsterziehung  zur  Tat!  Sodann  bringt  die  Inhaltlosigkeit  formaler 
Zielbestimmung  einen  weiteren  Nachteil  mit  sich,  nämlich  die  Schwierigkeit 
ihrer  Anwendbarkeit.  Jede  Anwendung  eines  solchen  Zieles  (sowohl 
in  der  Wissenschaft  wie  in  der  Praxis)  auf  den  einzelnen  Fall  stellt  uns  vor 
ein  neues  Problem,  oft  sogar  vor  ein  Rätsel,  weil  wir  stets  wieder  aufs  neue 

1* 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 


ZU  bestimmen  haben,  ob  und  in  welchem  Sinne  das  in  dem  allge- 
meinen Ziel  ausgesprochene  Prinzip  auf  den  einzelnen  Fall  zutrifft. 
Einige  Beispiele!  Erziehung  zur  „Konsequenz"  —  ja,  was  ist  denn  im  ein- 
zelnen Falle  „konsequent"  handeln,  die  absolut  starre  und  mechanische  Be- 
folgung eines  Entschlusses  oder  einer  Form  des  Handelns  oder  aber  die  An- 
passung des  Handelns  an  die  jeweiligen  Umstände  unter  möglichster 
Aufrechterhaltung  eines  früheren  Entschlusses?  Ich  habe  mir  etwa  vor- 
genommen, einem  Bettler  nichts  zu  geben,  weil  ich  darin  die  Gefahr  der 
Begünstigung  der  Faulheit,  Arbeitsscheu,  Vagabondage  und  dergleichen 
erblicke ;  nun  tritt  einmal  ein  Bettler  an  mich  heran,  von  dem  ich  weiß,  daß 
er  in  wirklicher  unverschuldeter  Not  ist,  kein  Arbeitsscheuer,  kein  Vagabund, 
—  was  ist  dann  ,, Konsequenz",  die  Gabe  zu  verweigern  oder  nicht?  Oder 
mein  Prinzip  sei  die  „Erziehung  zur  Tat",  nun  steht  ein  Zögling  vor  der ,, bangen 
Wahl",  seinem  Feinde  eine  Beleidigung  zu  erwidern  oder  den  anderen  durch 
Selbstbeherrschung  zu  entwaffnen;  was  ist  da  die  ,, Erziehung  zur  Tat"; 
das  Losschlagen  (das  doch  sicher  eine  ,,Tat"  ist)  oder  die  Selbstbeherrschung? 
Kurz,  alle  rein  formalen  Ziele  machen  im  einzelnen  Falle  stets  erst  eine  be- 
sondere Entscheidung  nötig,  wie  sie  anzuwenden  sind.  Man  verzeihe  mir 
diese  populären  Überlegungen,  aber  sie  sind  angesichts  der  ,, Sicherheit", 
mit  der  heutzutage  Erziehungsziele  von  ganz  ungenügendem  Charakter  auf- 
gestellt werden,  nötig. 

Ferner  sind  die  vorhin  erwähnten  ,, modernen"  Ziele  auch  abgesehen  von 
ihrem  inhaltleeren  und  indifferenten  Charakter  ungenügend  wegen  ihrer 
geradezu  beschränkten  Einseitigkeit.  Ich  habe  schon  angedeutet,  wie  wenig 
solche  Angaben  zu  bedeuten  haben,  wie  die  Erziehung  zum  Handeln,  zur 
Tat,  zur  Selbsttätigkeit  und  dergleichen;  man  kann  noch  hinzufügen:  er- 
schöpft sich  denn  wirklich  unser  gegenwärtiges  Erziehungsstreben  in  ein 
paar  derartigen  einseitig  voluntaristischen  Zielen?  Sind  Gefühls-  und 
Phantasiewerte,  sind  intellektuelle  Eigenschaften  wie  die  Selb- 
ständigkeit und  Produktivität  des  Denkens  für  uns  nichts  mehr?  Kommt 
es  unsrer  heutigen  Erziehung  wirklich  nicht  mehr  darauf  an,  ob  dabei  Wille 
und  Tat  ,,als  solche"  gemeint  sind,  oder-ob  wir  einen  von  der  Intelligenz 
und  von  einer  bestimmten  Gefühl  sdisposition  geleiteten  „Tatwillen"  in 
der  Jugend  heranzubilden  streben  ?  Ist  es  uns  gleichgültig,  ob  dieses  Han- 
deln, diese  Selbsttätigkeit,  diese  „Tat"  individual  oder  sozial  gerichtet  ist? 
Man  braucht  solche  Überlegungen  nur  anzudeuten,  um  die  Beschränktheit 
der  Auffassung  des  Erziehungswerkes  zu  erkennen,  die  sich  in  den  genannten 
Formeln  ausdrückt!  Noch  schlimmer  steht  es  mit  der  Erziehung  zur  „Aus- 
drucksfähigkeit", die  auf  dem  letzten  internationalen  Kongreß  für  Zeichnen 
und  Kunsterziehung  in  Dresden  (1912)  allen  Ernstes  als  das  Erziehungsziel 
hingestellt  wurde!  Was  ist  denn  eine  ,, Ausdrucksfähigkeit"  wert,  wenn  wir 
gar  keinen  Inhalt  angeben,  den  der  Zögling  „ausdrücken"  soll?  Und  was 
wäre  eine  reine  Erziehung  zur  Ausdrucksfähigkeit  ohne  voraus-  und  parallel- 
gehende Erziehung  des  Zöglings  zur  Empfänglichkeit  und  zur  Ein- 
drucksfähigkeit? Und  was  ist  Ausdrucksfähigkeit  als  eine  Eigenschaft 
der  Persönlichkeit;  ist  sie  wirklich  ihre  Grundeigenschaft?  Können  wir 
uns  nicht  auch  eine  reiche  und  tiefe  Persönlichkeit  denken,  deren  Ausdrucks- 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 


fähigkeit  eine  relativ  unvollkommene  ist  ?  Gewiß  ist  ein  solcher  Mensch  in 
mancher  Beziehung  benachteiligt,  aber  der  Kern  seiner  Persönlichkeit,  seine 
Grundgesinnung,  sein  Wollen,  sein  Gemütsleben,  ja  selbst  die  Klarheit 
seines  Denkens  und  die  Folgerichtigkeit  seines  Schließens  braucht  darunter 
nicht  zu  leiden. 

Neben  den  extrem  formalen  Erziehungszielen  kennen  wir  die  relativ 
inhaltlich  bestimmten,  die  aber  noch  keinen  bestimmten  Zielinhalt  nennen, 
wie  die  Erziehung  zur  Vollkommenheit,  zur  harmonischen  Ausbildung  aller 
Scelenkräfte,  zur  Persönlichkeit  (als  solchen)  und  dergleichen.  Sie  teilen 
die  erwähnten  Nachteile  der  rein  formalen  Angaben,  aber  sie  geben  in  jenen 
Begriffen  doch  schon  bestimmtere  Ziele  an,  weil  sie  gewisse  Möglichkeiten 
ausschließen,  die  in  den  zuerst  erwähnten  Zielbestimmungen  offen  gelassen 
werden.  Eine  ,,Persönnchkeit",  einen  vollkommenen  Menschen,  eine  in  sich 
harmonische  Natur  können  wir  uns  z.  B.  nicht  zugleich  als  unsittlich,  oder 
als  mit  sozialen  oder  auch  großen  ästhetischen  Defekten  behaftet  denken; 
jeder  derartige  Defekt  degradiert  auch  die  in  jenen  Begriffen  angedeuteten 
Ideale.  Immerhin  bleiben  auch  sie  zu  unbestimmt,  um  in  einer  an  inhalt- 
lichen Ideen  so  reichen  Erziehungsbewegung  wie  der  der  Gegenwart  als  völhg 
ausreichende  Zielbestimmungen  dienen  zu  können. 

Es  bleiben  die  material  bestimmteren  Ziele,  wie  wir  sie  durch  die  einzelnen 
,, Wertgebiete"  angeben  können,  also  in  der  Hauptsache:  das  sittliche,  das 
sittlich-religiöse,  das  rein  rehgiöse,  das  ästhetische,  das  rein  praktische  und 
das  rein  intellektuelle  Erziehungsziel. 

Gegenüber  diesen  durch  die  Erziehung  im  Zögling  auszubildenden  Werten 
erhebt  sich  nun  die  fundamentale  Frage:  dürfen  wir  eines  von  ihnen 
allen  überordnen,  und  wenn  das  der  Fall  ist,  welches  Ziel  hat  Anspruch 
darauf,  in  der  Erziehung  das  höchste  zu  sein,  und  wie  ordnen  sich  die  anderen 
ihm  unter?  Wir  bedürfen  in  diesem  Falle  also  einer  Wertskala  oder  einer 
subordinierenden  Stufenfolge  der  Erziehungsziele  nach  ihrem  relativen 
Werte  für  die  Erziehung.  Das  ,,für  die  Erziehung"  ist  dabei  zu  betonen, 
denn  es  ist  nicht  ohne  weiteres  gesagt,  daß  die  Skala  dieser  Werte  unter 
anderen  Gesichtspunkten,  z.  B.  dem  der  Persönlichkeit  oder  des  sozialen 
Lebens  sich  mit  der  pädagogischen  Wertskala  decken  muß!  Für  Er- 
ziehungszwecke könnten  z.  B.  dann  die  intellektuellen  Ziele  höher  stehen  als 
die  übrigen,  wenn  sich  zeigen  ließe  (wie  Herbart  meinte),  daß  alle  Erziehung 
,,vom  Gedankenkreise"  des  Zöglings  ausgeht. 

Neben  der  Unterordnung  der  Erziehungs werte  besteht  aber  ferner  die 
Möglichkeit,  sie  vollständig  zu  koordinieren.  Das  heißt,  man 
könnte  meinen,  daß  jede  Subordination  (dem  Werte  nach  —  nicht  logische 
Subordination!)  der  Erziehungsziele  vom  pädagogischen  Gesichtspunkt  aus 
unberechtigt  sei,  teils  weil  sie  notwendig  in  der  Praxis  zur  Unterschätzung, 
Vernachlässigung,  Benachteiligung  eines  oder  mehrerer  Teilziele  der 
Erziehung  führen  müsse,  teils  weil  es  in  der  Natur  der  Teilziele  und  der  übrigen 
Werte  der  Erziehung  liege,  daß  sie  auch  keine  systematisch-wissenschaft- 
liche Einordnung  in  ein  Hauptziel  vertragen:  jedes  Wertgebiet  habe  viel- 
mehr seine  eigenartige  und  völlig  selbständige  Bedeutung  auch 
für  die  Erziehung,  diese  müsse  also  auch  aufrecht  erhalten  werden.    Das 


Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 


schließt  aber  eine  Wertabstufung  der  Partialziele  in  der  Erziehung  schein- 
bar vollständig  aus.  Ein  Beispiel  möge  das  klar  machen.  Die  intellek- 
tuellen Ziele,  also  die  Vermittelung  von  Kenntnissen  und  von  intellek- 
tuellen Fähigkeiten  (wie  Beobachtungsgabe,  Gedächtnisleistung,  Phantasie- 
und  Denkfähigkeiten)  haben  zweifellos  eine  völlig  selbständige  Bedeu- 
tung für  den  Unterricht.  Der  Unterricht  mag  noch  so  sehr  als  ,, erziehen- 
der" aufgefaßt,  als  „ethisch  gerichteter"  gekennzeichnet  werden.  Niemand 
kann  leugnen,  daß  die  Erziehung  und  die  Sittlichkeit  für  den  Unterricht 
nur  sekundäre  Ziele  sind,  jeder  Pädagoge  hat  naturgemäß  beim  Unter- 
richten unmittelbar  und  als  primäres  Ziel  die  Vermittelung  bestimmter 
Kenntnisse  und  intellektueller  Fähigkeiten  im  Auge,  alles  andere 
erscheint  dem  gegenüber  als  ein  in  zweiter  Linie  zu  erstrebender  Mit  erfolg  — • 
es  mag  so  wertvoll  sein  wie  es  will.  Und  für  die  Praxis  des  Unterrichtens 
bringt  z.  B.  eine  Überordnung  sittlicher  oder  ästhetischer  Gesichtspunkte 
die  Gefahr  mit  sich,  daß  der  Erwerb  von  Wissen  und  Kenntnissen,  die  Schulung 
des  Denkens  und  dergleichen  vernachlässigt  wird.  Nun  erscheint  aber  wieder 
der  Unterricht  neben  der  erziehlichen  Beeinflussung  im  engeren  Sinne  als 
eine  völlig  selbständige  Partialtätigkeit  in  dem  Ganzen  der  Erziehung,  die 
ihre  eigenartige  Bedeutung  hat  und  durch  nichts  anderes  ersetzt  werden 
kann.  Der  Erwägung,  daß  ein  Unterricht  ohne  sittliche  Orientierung  wertlos 
sei,  kann  der  Vertreter  des  Koordinationsprinzips  entgegen  halten,  daß  es 
wohl  eine  befriedigende  sittliche  Erziehung  ohne  Unterricht  nicht  gibt  — 
sittliche  Erziehung  ohne  alle  sittliche  Belehrung  und  Hebung  der  sittlichen 
Einsicht  ist  undenkbar.  So  scheint  es  mit  allen  Erziehungswerten  zu  stehen; 
Jeder  hat  in  den  Grenzen  der  Erziehung  seine  eigenartige,  durch  nichts  zu 
ersetzende  Bedeutung,  deshalb  scheint  auch  keiner  dieser  Partialwerte  dem 
anderen  übergeordnet  werden  zu  dürfen,  es  sei  denn  auf  Kosten  dieser 
selbständigen  Bedeutung  der  übrigen  Werte. 

Alle  diese  —  zugunsten  der  Nebenordnung  der  Erziehungsziele  an- 
gestellten Überlegungen  sprechen  also  gegen  ihre  Unterordnung.  Aber 
auch  eine  volle  Nebenordnung  der  genannten  pädagogischen  Wert- 
gebiete gibt  zu  großen  Bedenken  Anlaß.  Wie  sollen  wir  uns  z.B.  die 
Erziehung  denken,  wenn  zwei  Wertziele  in  Konflikt  geraten?  Die 
Probleme  der  sexuellen  Aufklärung  bieten  ein  Beispiel  dafür !  Das  Interesse 
an  intellektueller  Belehrung  verlangt  gebieterisch,  daß  wir  den  Kindern 
keine  falschen  Vorstellungen  von  den  sexuellen  Vorgängen  und  keine  un- 
richtige Erklärung  von  ihnen  geben;  das  Interesse  der  sittlichen  Erziehung 
kann  dagegen  große  Bedenken  erheben  —  wenigstens  für  gewisse  Lebens- 
jahre des  Kindes.  Welches  Partialziel  hat  nun  hierbei  den  Ausschlag  zu 
geben  ?  Die  modernen  Anhänger  der  sexuellen  Aufklärung  fordern  zum  Teil 
unbedingt  das  erstere,  nicht  wenige  Ethiker  halten  auch  ein  längeres  Ver- 
harren des  Kindes  in  unrichtigen  Sexualbegriffen  für  notwendig.  Wir  scheinen 
also  in  der  Praxis  der  Erziehung  ohne  eine  bestimmte  Wertordnung  der 
Partialziele  der  Erziehung  nicht  auszukommen!  Aber  ferner  scheint  der 
Koordinationsstandpunkt  überhaupt  kein  einheitliches  Gesamtziel  der  Er- 
ziehung zu  kennen,  und  wenn  es  auch  logisch  möglich  ist,  zu  sagen:  die  Er- 
ziehung hat  alle  jene  Werte  gleichmäßig  im  Zögling  heranzubilden,  so  muß 


Zxir  Frage  der  Erziehungsziele. 


das  doch  in  der  Praxis  zu  einer  Zersplitterung  des  Erziehers  wie  des  Zöglings 
oder  zu  einer  „Vielseitigkeit"  im  übelsten  Sinne  des  Wortes  führen.  Die 
Konsequenz  dieses  Standpunktes  in  der  pädagogischen  Praxis  scheint  ja 
die  zu  sein,  daß  wir  die  gleiche  Zeit  und  Kraft  auf  sittliche  wie  auf 
künstlerische,  auf  formal- und  material-intellektuelle  wie  auf  religiöse  Bildung 
verwenden  —  ein  in  praxi  unmögliches  Verfahren.  Kurz:  beide  Standpunkte 
in  der  materialen  Zielbestimmung  scheinen  auf  unlösbare  Schwierigkeiten 
zu  stoßen. 

Ein  klassisches  Beispiel  für  die  Art,  wie  man  diese  Schwierigkeiten  nicht 
lösen  soll,  bietet  die  Pädagogik  Herbarts  dar.  Herbarts  Pädagogik  mußte 
eigentlich  nach  ihrer  psychologischen  und  metaphysischen  Grundlage  eine 
rein  intellektualistische  sein,  denn  die  Seele  hat  nach  Herbart  nur 
eine  Art  von  Tätigkeit,  die  des  Vorstellens.  Wille  und  Gefühl  werden 
aus  diesem  erst  sekundär  abgeleitet  und  sind  bei  Herbart  nur  in  Worten 
vorhanden,  also  mußte  auch  die  erzieherische  Beeinflussung  der  Kindesseele 
in  letzter  Linie  immer  nur  eine  Beeinflussung  von  Vorstellungen  sein,  also 
rein  intellektuelle  Beeinflussung.  In  der  Erkenntnis  dieses  Mangels 
seiner  Pädagogik  half  sich  Herbart  mit  einem  Gewaltstreich:  er  setzte  trotz- 
dem das  ethische  Ziel  („Charakterstärke  der  Sitthchkeit")  als  höchstes 
ein  und  schuf  den  Begriff  des  „erziehenden  Unterrichts",  als  eines  Unter- 
richts, der  sitthchen  Zwecken  dient.  Dieser  Begriff  ist  bei  Herbart  eine  klare 
Inkonsequenz,  oder  w^enn  man  will,  eine  Tautologie ;  denn  die  „Erziehung"  eines 
rein  intellektuell  bestimmten  Wesens  wie  der  Seele,  kann  nichts  anderes 
sein  als  intellektuelle  Beeinflussung.  Die  Folgen  der  inneren  Zusammen- 
hangslosigkeit  dieser  beiden  Begriffe  zeigen  sich  nun  bei  den  Herbartianern 
darin,  daß  fortgesetzt  die  ethischen  Gesichtspunkte  auch  bei  der  Methodik 
des  Unterrichts  mit  Gewalt  und  ohne  jede  Motivierung  aus  dem  Wesen 
des  Unterrichts  selbst  herbeigezogen  werden,  wobei  zugleich  die  eigentüm- 
liche intellektuelle  Bedeutung  des  Unterrichtes  verkannt  wird.  Die  bedenk- 
lichsten Mißgriffe  sind  dabei  befürwortet  worden,  indem  Stoffe,  die  inhalt- 
hch  gar  keine  Beziehung  zum  sittlichen  Leben  zeigen,  wie  geographische 
und  naturkundliche,  zu  ,,  Gesinnungsstoffen"  umgestempelt  wurden.  Weil 
Herbart  gar  kein  Prinzip  haben  kann,  um  den  Unterricht  im  engeren  Sinne 
erziehend  wirken  zu  lassen,  suchten  die  Herbartianer  in  prinziploser  Weise 
erziehende  Tätigkeit  in  den  Unterricht  hineinzutragen,  und  über  all  den 
„Gesinnungsstoffen"  wurde  die  so  außerordentlich  wichtige  formal-or- 
ziehende  Bedeutung  im  Unterricht,  die  Erziehung  zur  Gewissenhaftigkeit, 
Genauigkeit,  zum  Fleiß,  zur  Energie,  zur  Konsequenz,  durch  die  Form  der 
Tätigkeit  des  Zöglings  übersehen. 

Welchen  Ausweg  gibt  es  aus  diesen  Schwierigkeiten?  Die  gegenwärtige 
Pädagogik  betont  mit  Recht  die  außerordentliche  Bedeutung,  welche  die 
Heranbildung  der  Persönlichkeit  des  Zöglings  hat.  Aber  sie  begnügt 
sich  nicht  damit,  einen  inhaltlecren  Persönlichkeitsbegriff  als  Ziel  der  Er- 
ziehung aufzustellen,  sondern  wir  suchen  diesen  Begi'iff  auf  drei  Wegen 
zum  Erziehungsziel  geeignet  zu  machen.  Einmal  durch  die  psycho- 
logische Persönlichkeitsforschung,  die  uns  immer  mehr  zu  der  Erkenntnis 
dessen  führt,  was  in  der  Persönlichkeit  das  Bestimmende,  sie  Konstituierende 


8  Zur  Frage  der  Erziehungsziele. 

ist,  und  das  heranzubilden,  ist  ein  Hauptziel  der  Erziehung.  Sodann  dadurch, 
daß  wir  nicht  nur  fordern,  der  Zögling  muß  „zur  Persönlichkeit"  gebildet 
werden  —  wobei  immer  die  Gefahr  vorliegt,  daß  wir  ihm  ein  abstraktes, 
seiner  Eigenart  nicht  entsprechendes  Persönlichkeitsideal  auf- 
zwingen — ,  sondern  indem  wir  die  bestimmtere  Forderung  aufstellen,  so 
zu  erziehen,  daß  die  individuelle  Eigenart  jeder  einzelnen  Persön- 
lichkeit zur  Geltung  kommen  muß.  Nicht  ein  abstraktes  Persönlich- 
keitsideal, sondern  die  Einzelpersönlichkeit,  die  sich  in  voller 
Eigenart  zu  behaupten  vermag,  ist  unsre  bestimmtere  Formulierung 
des  Erziehungszieles.  Das  ist  auch  der  tiefere  Sinn  aller  gegenwärtigen  Be- 
mühungen um  die  Hebung  der  ,, Selbsttätigkeit"  (besser:  Selbständigkeit), 
Spontaneität  und  Aktivität  des  Zöglings,  die  an  Stelle  passiven  Aufnehmens 
treten  soll. 

Aber  wir  würden  mit  jenem  Ziel  der  Herausarbeitung  der  Einzelpersön- 
lichkeit einem  planlosen  und  wahllosen  Individualismus  verfallen,  wenn 
wir  nichts  anderes  als  die  Ausbildung  der  Einzelpersönlichkeit  und  ihrer 
bestimmenden  Grundzüge  ins  Auge  faßten,  vielmehr  denken  wir  uns  die 
Einzelpersönlichkeit  wieder  als  eine  mit  allen  jenen  Erziehungs werten  ausge- 
rüstete, als  eine  ethisch,  ästhetisch,  intellektuell  und  praktisch  so  gebildete,wie 
sie  es  ihrer  Anlage  und  ihren  Fähigkeiten  nach  überhaupt  zu  erreichen  vermag, 
und  wir  suchen  deshalb  durch  eine  dritte  Art  von  Untersuchungen  zu  zeigen, 
wie  eine  bestimmt  geartete  Einzelpersönlichkeit  diese  Werte  in  sich  ver- 
wirklichen kann. 

Es  läßt  sich  nun  zeigen,  wie  mit  dieser  Auffassung  des  Erziehungszieles 
auch  die  Schwierigkeiten  gelöst  werden,  die  sich  auf  dem  Standpunkt  der 
Subordination  wie  der  Koordination  der  Erziehungswerte  zeigten.  Die 
Pädagogik  hat  von  ihrem  Gesichtspunkte  aus  keinen  Grund,  eines  jener 
Wertgebiete  allen  anderen  überzuordnen  —  wenn  sie  es  tut,  so  begibt  sie 
sich  damit  in  Abhängigkeit  von  einem  bestimmten  wertphilosophischen 
Standpunkt  und  verfällt  notwendig  allen  Einseitigkeiten  seiner  Auffassung 
auch  für  die  Erziehung  —  eine  Gefahr,  die  durchaus  zu  vermeiden  ist.  Viel- 
mehr kann  die  pädagogische  Lösung  dieser  Fragen  nur  die  sein:  wir  haben 
alle  jene  Werte  im  Zöghng  heranzubilden,  wir  müssen  ihn  ebensowohl  in 
die  sittliche,  wie  die  rehgiöse,  wie  die  ästhetische  und  intellektuelle  Seite 
der  Bildung  einführen,  aber  wir  haben  ihn  zugleich  zu  einer  solchen  Per- 
lichkeit  zu  erheben,  die  imstande  ist,  über  die  Über-  und  Unterordnung 
dieser  Werte  im  eigenen  Leben  selbst  zu  entscheiden.  Dann  zwingen 
wir  dem  Zögling  kein  seiner  Eigenart  nicht  entsprechendes  Persönlichkeits- 
ideal auf,  wir  fallen  nicht  der  Gefahr  anheim,  die  Eigenart  der  einzelnen  Er- 
ziehungstätigkeiten aus  dem  Auge  zu  verlieren  und  falsche  Gesichtspunkte 
in  die  Partialziele  der  Erziehung  hineinzutragen,  ein  Partialziel  anderen  zu 
opfern  und  dergleichen.  Wir  lassen  die  autonome  Persönlichkeit  des  Zög- 
lings selbst  diejenige  Subordination  der  Wertgebiete  vornehmen,  die  ihr 
entspricht,  und  suchen  ihn  zu  dieser  autonomen  Persönlichkeit  heranzubilden. 
Will  man  dieser  Zielbestimmung  einen  Namen  geben,  so  mag  sie  vielleicht 
als  der  Standpunkt  der  autonomen  Einzelpersönlichkeit  bezeichnet  werden. 

Diese  ganze  Überlegung,  die  hier  nur  in  einigen  Grundzügen  angedeutet 


Montessoria    pädagogischer  Versuch   der   „Gase  dei  bambini"  usw. 


wurde,  verlangt  noch  eine  mehrfache  Ergänzung.  So  muß  z.  B.  betont 
werden,  daß  in  dieser  Zielbestimmung  wichtige  weitere  Forderungen  ein- 
geschlossen liegen,  wie  die  Angabe  der  Grundzüge,  die  in  der  Einzelpersön- 
lichkeit heranzubilden  sind,  damit  sie  ihrer  Aufgabe,  ihr  eigener  Wertgesetz- 
geber zu  sein,  gerecht  werden  kann.  Ferner  ist  es  selbstverständlich,  daß  das 
Kind,  solange  es  noch  nicht  die  nötige  Selbständigkeit  hat,  sich  in  hohem 
Maße  von  dem  Erzieher  in  seinen  Wertschätzungen  abhängig  zeigen  wird  — 
aber  daran  ändert  kein  pädagogischer  Standpunkt  etwas,  und  darum  muß 
doch  das  Ziel  aller  Erziehung  die  immer  mehr  zu  entwickelnde  autonome 
Entscheidung  des  Zöglings  sein.  Dieses  Schicksal,  daß  wir  unser  Erzieh- 
ungsziel nicht  sogleich  an  dem  unentwickelten  Kinde  verwirklichen  können, 
teilt  es  mit  allen  anderen  Erziehungszielen  —  auch  die  Selbständigkeit 
und  Produktivität  können  wir  nicht  sogleich  dem  fünf-  oder  sechsjährigen 
Kinde  zumuten.  Und  die  Schwierigkeit,  die  einzelnen  Wertgebiete  in 
der  Erziehungspraxis  gleichmäßig  zu  berücksichtigen,  regelt  sich  von  selbst 
durch  die  Rücksichtnahme  auf  den  geistigen  Entwickelungsgang  des 
Kindes;  wir  können  z.  B.  ästhetische  Werte  erst  relativ  spät  an  das 
Kind  heranbringen,  weil  es  lange  Zeit  für  den  eigentlich  ästhetischen 
Eindruck  nicht  zugänglich  ist.  Die  Ent Wickelung  des  Kindes  selbst  und 
sein  sukzessives  Zugänglichwerden  für  die  einzelnen  Erziehungswerte  stellt 
für  die  Praxis  der  Erziehung  einen  naturgemäßen  sukzessiven  Stufen- 
gang her.  Auch  das  ist  kein  Bedenken,  daß  damit  dem  Individualismus 
im  ungesunden  Sinne  Tür  und  Tor  geöffnet  sei,  denn  so  verschieden 
sind  die  Menschennaturen  nicht,  und  auf  der  anderen  Seite  kann  kein 
noch  so  rücksichtsloser  Erziehungszwang  (im  Sinne  einer  extrem  hetero- 
nomen  Pädagogik)  verhindern,  daß  der  eine  Mensch  sich  kraft  seiner 
angeborenen  Anlage  mehr  zum  religiösen  Bekenner,  der  andere  mehr  zum 
Intellektualisten  entwickelt,  daß  der  eine  empfängHcher  bleibt  für  die  Welt 
des  Sittlichen,  ein  anderer  für  die  künstlerische  und  ästhetische  Seite  des  Lebens. 
Wo  wir  überhaupt  auf  die  selbständige  Persönlichkeit  stoßen,  da  sehen  wir 
sie  auch  in  erster  Linie  ihre  Wertskala  selbst  bestimmen.  Warum  sollte 
also  die  Erziehung  das  nicht  zu  ihrem  Ziele  machen?  Bilden  wir  nur  die 
Einzelpersönlichkeit  so  reich  und  so  selbständig  aus,  daß  sie  im  Besitz  aller 
Werte  ist  und  die  Fähigkeit  hat,  autonom  ihr  Leben  so  zu  gestalten,  wie  es 
ihrer  Abstufung  der  Werte  entspricht! 


Montessori's  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini'' 
in  der  Kindergartenbewegung. 

Von  F.  Umberto  Saffiotti. 

Die  neue  Methode  der  Kindererziehung  nach  Dr.  med.  Marie  Montessori, 
Privatdozentin  an  der  Universität  Rom,  Montessorische  Methode  genannt, 
hat  fast  in  allen  Ländern,  die  an  der  Spitze  der  pädagogischen  Bewegung  stehen, 
einen  ungewöhnlich  großen  Erfolg  zu  verzeichnen.  Deutschland,  die  Vereinigten 


10  Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw. 

Staaten,  die  Schweiz,  England,  Frankreich,  auch  Japan,  Indien  und  Australien,, 
haben  viel  dazu  beigetragen,  Interesse  für  diese  Methode  zu  erwecken,  die 
nach  der  Meinung  ihrer  Schöpferin  eine  Revolution  der  veralteten  pädagogischen 
Methoden  und  der  heutigen  Lehrpläne  des  niederen  und  höheren  Schulwesens 
fördern  soll.  In  dem  Chor  von  Lob  und  Bewunderung  schwieg  fast  vollständig 
Italiens  Stimme,  obgleich  es  das  Geburtsland  der  neuen  Methode  war.  Warum  ? 
Sollte  es  dem  Bibelwort  „nemo  propheta  inpatria"  treu  geblieben  sein  ?  Oder  sollte 
die  Entwicklung  seines  Schulwesens,  die  Orientierung  seines  wissenschaftlichen 
Geistes  in  bezug  auf  die  pädagogische  Anwendung  nicht  auf  der  Höhe  stehen, 
um  die  Vorzüge  der  Montessorischen  Methode  so  zu  übersehen?  Ich  glaube 
weder  das  eine  noch  das  andere. 

In  Italien,  wie  auch  anderswo,  muß  man  Kämpfe  gegen  die  traditionelle, 
rein  aprioristische  Pädagogik  führen,  aber  zu  gleicher  Zeit  können  wir  nicht 
behaupten,  daß  unser  Land  mit  seinen  pädagogischen  Problemen  außerhalb 
der  übrigen  wissenschaftlichen  Bewegung  geblieben  ist;  im  Gegenteil,  wir  haben 
hier  eine  Tradition,  an  die  sich  das  Werk  der  Montessori  anschließt.  -, |  |i'||  ^ 

Die  wissenschaftliche  Pädagogik  in  Italien  geht  zurück  auf  den  berühmten 
Anthropologen  Prof.  Sergi.  Er  war  der  erste,  der  die  Anwendung  der 
experimentellen  Psychologie  auf  pädagogische  Probleme  in 
Fluß  brachte;  er  war  es,  der  die  Notwendigkeit  einer  ,, anthropologischen 
Psychologie",  deren  Voraussetzung  die  Kenntnis  der  kindlichen  Individualität 
unter  psychophysischem  Gesichtspunkt  wäre,  befürwortete.  Aber  sein  Gedarke 
fand  eine  einseitige  Anwendung,  die  über  den  rohen  Messungen  das  grundlegende 
Prinzip  der  Revision  der  ganzen  Methode  und  Theorie  der  Pädagogik  übersah. 
Eines  der  am  meisten  erörterten  Probleme  in  Sergis  Kreise  war  die  Erziehvrg 
der  Anormalen.  Montessori  nun  wandte  sich  diesem  Problem  zu  und  fand  neben 
Sergi  ihre  Lehrer  in  Stard  und  Seguin.  Das  amerikanische  Werk  von  Dr.  Seguin 
—  Idioty  and  its  treatment  by  the  physiological  method  1866  —  entwickelte 
den  Gedanken,  daß  die  physiologische  Methode,  d.  h.  diejenige,  welche  die 
individuelle  Kenntnis  des  Schülers  und  der  erzieherischen  Faktoren  durch  die 
genaue  Analyse  der  physischen  und  psychischen  Tatsachen  gewinnt,  auch  lür 
die  normalen  Kinder  gelten  und,  entsprechend  angewandt,  zugleich  die  Regene- 
ration der  Menschheit  hervorbringen  müsse.  ,,Seguins  Stimme  schien  mir  die 
eines  Wahrsagers  zu  sein;  ich  umarmte  im  Geiste  die  Größe  des  bedeutenden 
Werkes,  das  die  Reform  der  Schule  und  Erziehung  herbeizuführen  imstande  wäre. 
Montessori  dachte  zuerst  an  die  Anwendung  der  speziellen  Methoden  bei  der 
Erziehung  derAnormalen  auf  die  Schüler  der  ersten  Volksschulklasse ;  dann  aber, 
unter  Einfluß  von  gewissen  Erscheinungen,  die  ich  unten  angebe,  richtete  sie 
ihre  Aufmerksamkeit  auf  das  Kleinkinderwesen  und  die  Organisation  der  vor- 
schulpflichtigen Erziehung. 

In  der  Hälfte  des  letzten  Viertels  des  XIX.  Jahrhunderts  entwickelte  sich 
in  Rom  eine  fieberhafte  Bautätigkeit;  der  Stadtteil  ,,San  Lorenzo"  wurde  1884  bis 
1888  gebaut,  vornehmlich  zu  Wohnungszwecken  für  die  arme  Bevölkerung, 
ohne  jedes  Bedenken  um  Hygiene  oder  Moral.  Als  Folge  der  Bautenkrisis  kam 
eine  Not,  die  die  allerärmsten  Elemente  hier  zusammenbrachte.  Das  Zusammen- 
drängen von  mehreren  Familien  in  sechs  oder  sieben  dunklen  ungesnuden  Zimmern 
ohne  Licht  und  Luft,  in  Not,  Laster,  oft  in  Verbrechen  dahin  ^vegetierend  —  das 


Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw.  11 

ist  das  Bild  dieses  Viertels  zu  jener  Zeit.  Man  kann  sich  leicht  vorstellen,  was 
ein  Leben  in  dieser  Umgebung  von  Schmutz  und  Elend  für  die  Kinder  bedeutete. 
Da  erschien  eine  Abhilfe:  „das  römische  Institut  der  Immobilienbesitzer"  kaufte 
die  alten  Häuser  an,  riß  sie  nieder  und  errichtete  an  ihrer  Stelle  gesunde,  prakti- 
sche Wohnungen  zu  geringem  Mietspreis  für  jede  Familie  einzeln ;  es  verpflichtete 
sich  sogar,  den  Einwohnern  eine  gewisse  kulturelle  Ausbildung  zu  gewähren. 
Heutzutage  gibt  es  mehrere  von  solchen  großen  Häusern  in  verschiedenen  Stadt- 
teilen, und  ihr  Anblick  macht  wirklich  einen  angenehmen  Eindruck:  in  der 
Mitte  ist  ein  Hof  mit  Blumen  und  Bäumen  bepflanzt,  die  einzelnen  Wohnungen 
sind  im  Besitze  modernen  Komforts,  als  da  sind:  Badezimmer,  gemeinsamer 
Lesesaal,  Vereinszimmer,  Arzt  für  jedes  Haus,  Separatzimmer  für  Kranke  (bei 
Ansteckungsfällen),  gemeinsame  Waschküche  usw.,  und  für  die  Kinder,  die  während 
der  Tagesstunden,  die  ihre  Eltern  bei  der  Arbeit  verbringen  müssen,  allein  sind, 
hat  man  einen  Klub  gegründet,  eine  Art  von  kindlicher  Familie,  wo  die  Kleinen 
versorgt,  gepflegt  und  unterrichtet  werden,  kurz  gesagt:  es  entstand  auf  diese 
Weise  eine  echte  ,,Casa  dei  Bambini",  wie  sie  von  Frau  Olga  Lodi  genannt 
wurde  (Kinderhaus,  Maison  des  enfants,Houseof  Childhood  oderChildrensHouse). 
Die  Lehrerin  oder  eine  Vorsteherin  hat  ihre  Wohnung  in  demselben  Hause ;  sie 
kennt  alle  Eltern  von  ihren  kleinen  Zöglingen,  die  sie  lieben  und  verehren.  Dieses 
auf  solche  Weise  verwirklichte  Wohltätigkeitsideal  trug  zur  andauernden  so- 
zialen Besserung  gewisser  Volksschichten  bei.  Zu  diesem  sozialen  Werke  wurde 
Dr.  Montessori  berufen,  um  die  Organisation  der  neuen  Kinderschulen  zu  leiten. 

Die  Methode  Montessori  verdankt  nun  ihre  Entstehung  zwei  günstigen  Ge- 
legenheiten, einer  ideellen:  dem  Erscheinen  des  Buches  von  Dr.  Seguin,  und 
einer  materiellen:  der  Einladung  vom  Direktor  der  Römischen  Gesellschaft 
des  Grund-  und  Bodenbesitzes,  Ed.  Talamo,  zur  Leitung  der  ,,C.  d.  B.".  Ihre 
Methode  ist  —  nach  der  Darlegung  von  Montessori  in  ihrem  Buche^)  —  ein  Syste- 
matisierungs versuch  auf  dem  empirischen  Boden  einiger  allgemeinen  Prinzipien 
der  experimentellen  Psychologie  und  verschiedener  Strömungen  der  modernen 
Pädagogik,  ein  Systematisierungsversuch  auf  Grund  des  didaktischen  Materials, 
gesammelt  bei  Seguin,  Bourneville,  Fröbel,  von  anderen  schon  in  Italien  be- 
stehenden Schulen  (Arbeits-  und  industriellen  Schulen)  und  von  der  Initiative  eini- 
ger Erzieherinnen,  hier  und  da  verändert  und  den  neuen  Forderungen  angepaßt. 

Anderseits  ist  diese  Methode  von  großer  Bedeutung:  sie  stellt  ein  vollzogenes 
Experiment  dar,  das  zum  Zweck  der  praktischen  und  konkreten  pädagogischen 
Orientierung  dienen  sollte.  Das  ganze  Buch  von  Montessori  durchzieht  fol- 
gender grundlegende  Gedanke:  die  pädagogische  Methode  muß  experimentell 
sein,  gegründet  auf  Beobachtung  und  geleitet  durch  die  spontanen  natürlichen 
Tatsachen  der  psychophysischen  Entwickelung  des  kleinen  Individuums.  Dieser 
Gedanke  soll  zur  Richtungslinie  der  modernen  Pädagogik  werden.  Bleibt  Mon- 
tessori konsequent  ?  Wenn  wir  einige  der  allgemeinen  prinzipiellen  Darlegungen 
in  ihrem  Werke  betrachten,  sehen  wir  eine  Unsicherheit  des  Schließens,  das  sich 
in  einem  Zirkel  dreht:  ist  es  die  experimentelle  Psychologie,  die  ihre  Ergebnisse 
der  wissenschaftlichen  Pädagogik  liefert?  oder  ist  es  die  Pädagogik  selbst,  sind 
es  die  pädagogischen  Experimente,  die  uns  Aufschluß  über  die  Psychologie 
der  Kinder  liefern  sollen  ? 

')  ,, Selbsttätige  Erziehung".     Übersetzt  von  O.  Knapp.'    Stuttg.  1913. 


12  Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw. 

Wenn  es  wahr  ist,  daß  „die  Pädagogik  die  Aufgabe  hat,  nicht  die  Empfindungen 
zu  messen,  sondern  die  Sinne  zu  erziehen",  so  ist  es  unzulässig  zu  behaupten: 
,,wir  gehen  hier  nicht  von  den  Ergebnissen  der  experimentellen  Psychologie  aus, 
d.  h.  nicht  die  Kenntnis  der  sensoriellen  Bedingungen  jeder  Alterstufe  ist  es, 
die  uns  zu  bestimmten  pädagogischen  Anwendungen  zwingt",  und  es  ist 
inkonsequent,  den  Schluß  zu  ziehen:  ,,wenn  wir  von  einer  Methode,  als  dem 
Ausgangspunkt  sprechen,  ist  es  wahrscheinlich,  daß  die  Psychologie  selbst  ihre 
Ergebnisse  in  der  so  aufgefaßten  Pädagogik  findet  und  nicht  umgekehrt"; 
zu  gleicher  Zeit  wird  aber  behauptet,  daß  die  an  Kindern  gemachten  Beobachtun- 
gen ,, imstande  sind,  die  Kinderpsychologie  zu  rekonstruieren,  um  die  experi- 
mentelle Pädagogik  vorzubereiten". 

Diese  Denkweise  ist  zweideutig:  sie  muß  sich  auch  bei  der  praktischen  Durch- 
führung als  solche  bewähren,  und  wirklich  haben  sich  die  ,,Case  dei  Bambini" 
in  Laboratorien  der  experimentellen  Pädagogik  umgestaltet,  denen  aber  jeder 
wissenschaftliche  und  psychologische  Zweck  fehlt.  Es  ist  wirklich  schade, 
daß  die  Unmenge  von  Bsobachtungen,  die  in  diesen  ,,nurseries  psychologist", 
um  mit  Baldwin  zu  sprechen,  gesammelt  wurde,  keinen  Beitrag  zur  Erforschimg 
der  psychologischen  Entwicklung  des  Kindes  lieferte. 

Auf  dieser  zweideutigen  Grundlage  wird  das  psychologisch  und  pädagogische 
Prinzip  der  Methode  aufgebaut:  ,, Freiheit"  des  Kindes  und  „Passivität"  der 
Erzieherin.  Montessori  hält  viel  auf  dieses  Prinzip,  und  es  gibt  in  ihrem  Werke 
wandervolle  und  interessante  Seiten,  worin  sie  scharfe  Kritik  an  der  ausschließ- 
lich formellen  und  rationellen  Ausbildung  der  Lehrerschaft  übt,  die  in  keinem 
Kontakt  mit  der  Kinderseele  ist  und  zu  sein  versteht.  Montessori  beansprucht 
das  Recht  der  quasi  neuen  Forderung  der  Vorbereitung  des  Lehrerpersonals 
für  alle  Schulstufen:  die  Vorbereitung  soll  mehr  praktischer,  konkreter  Natur 
sein,  als  es  bis  jetzt  der  Fall  war,  damit  die  Entwickelung  des  Kindes  mehr  natür- 
lich und  spontan  sein  kann.  Diese  Forderung  ist  im  allgemeinen  nicht  neu, 
aber  im  Bereiche  der  vorschulpflichtigen  Erziehung  bildet  sie  eine  begründete 
Reaktion  gegen  die  theoretischen  Abstraktionen  und  gegen  die  Degeneration 
der  automatischen  und  leeren  Anwendung  des  Fröbelianismus.  Diese  Schätzung 
des  Prinzips  aber  führt  Montessori  zu  weit:  sie  vergißt,  daß  sie 
,,die  Pädagogik"  zu  begründen  imd  nicht  ,,der  Psychologie"  die  Methode  zu 
schaffen  hat,  und  sie  kommt  infolgedessen  zu  ihrer  grundlegenden  Behauptung, 
die  jedoch  ohne  pädagogische  Bedeutung  bleibt :  die  Erzieherin  soll  passiv  bleiben, 
wenn  ein  Kind  einen  Fehler  macht;  sie  soll  es  nicht  verbessern,  sondern  ruhig 
gehen  lassen ;  der  Tag  wird  schon  kommen,  wo  das  Kind  auf  Grund  einer  Unter- 
richtsstunde oder  eines  anderweitigen  Eindruckes  den  Fehler  selbst  sieht  und  erfaßt. 

Wir  stimmen  dem  Montessorischen  Prinzip  der  Aktivität  in  gewissem  Um- 
fange zu,  aber  wir  können  es  nicht  gänzlich  billigen.  Um  ein  Beispiel  herauszu- 
greifen: sie  hat  unrecht,  wenn  sie  jede  Fehlerkorrektur  verbietet.  Das  Kind, 
welches  rot  mit  blau  verwechselt  und  keine  Verbesserung  erfährt,  verliert  die 
natürliche  Gelegenheit  der  richtigen  Benennung  einer  Empfindung  gerade 
in  dem  Augenblicke,  wo  seine  Aufmerksamkeit  ganz  von  ihr  in  Anspruch  ge- 
nommen wird.  Wenn  dieses  Kind  ein  andermal  zur  richtigen  Benennung  gelangt, 
welches  zuversichtliche  Kriterium  werden  wir  dann  besitzen,  daß  es  nicht  wie- 
derum eine  zufällige  Erkenntnis  ist?    Man  vergißt  hier  augenscheinlich  eine 


Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw.  13 


der  fundamentalen  Tatsachen  für  die  psycliische  Entwickelung  des  Kindes: 
die  Suggestion  und  den  direkten  Einfluß  der  erziehenden  Persönlichkeit.  Ander- 
seits scheint  diese  spezielle  Vorbereitung  für  die  „C.  d.  B."  doch  schließlich 
nicht  von  großem  Nutzen  für  die  berufliche  und  die  wissenschaftliche  Ausbildung 
des  Lehrpersonals  zu  sein.  Zuerst  ist  sie  zu  einseitig,  zu  sehr  auf  das  Mechanische 
dieser  Methode,  für  die,  wie  M.  zugibt,  eine  wissenschaftliche  Veranlagung 
nötig  ist,  beschränkt.  Eine  derartige  Vorbereitung  schreitet  sehr  bald  zur  Me- 
chanisierung des  Technischen  der  Methode,  und  der  Begriff  einer  ideellen 
Lehrerpersönlichkeit,  die  uns  M.  schildert,  die  zugleich  Christus  mit  seiner  Liebe 
für  die  Menschheit  und  Wissenschaftler  mit  ganzer  Hingabe  an  die  Forschung 
sein  soll,  ist  sicher  schön,  aber  unreal  in  der  Praxis  der  Welt. 

Das  ganze  Werk  von  Montessori  durchweht  ein  ausgesprochener  Optimismus, 
ein  Mystizismus  des  Auserwählten,  der  die  Schule  zu  einer  Kirche  macht,  die 
leidenschaftliche  Phantasie  der  Verfasserin  führt  uns  in  die  erhabenen  Regionen 
der  Zukunft. 

Heutzutage  sind  die  ,,C.  d.  B."  nicht  mehr  der  Ausdruck  eines  sozialen  und 
moralischen  Werkes,  das  für  das  Volk  bestimmt  war ;  sie  sind  vielmehr  zum  Thema 
der  aristokratischen  Salons  geworden  und  wollen  sich  im  übrigen  den  anderen 
Anstalten  für  Vorschulpflichtige  beiordnen.  Unter  diesem  Gesichtspunkt  wollen 
wir  sie  betrachten;  es  soll  uns  wenig  ihr  idealer  Ursprung  angehen,  wir  wollen 
sie  auf  ihre  bleibenden  Werte  hin  prüfen. 

Die  Pflege  und  die  Erziehung  der  kleinen  Kinder  in  den  ,,C.  d.  B."  kann  unter 
folgende  Punkte  zusammengefaßt  werden: 

1.  allgemeine  ärztliche  Beaufsichtigung:  vom  medizinisch  -  pädagogischen 
Gresichtspunkte  aus  ist  die  Anwendung  der  ,,Personalienbücher"i)  zu  erwähnen; 

2.  hygienische  Behandlung:  Anleitung  zur  Körperpflege,  wie  Reinhalten  der 
Hände,  Zahnputzen,  Waschen,  Baden  usw.; 

3.  Anleitung  zur  Erfüllung  der  praktischen  Lebensforderungen:  sich  An- 
und  Ausziehen,  Ordnen  der  Sachen,  Abstauben,  Decken  und  Abdecken,  das 
gegenseitige  Helfen  in  kleinen  Hausleistungen,  das  Begrüßen  und  Abschied- 
nehmen, das  Handreichen  usw.; 

4.  physische  Bildung:  a)  praktische  Gymnastik — Herauf-  und  Heruntersteigen 
einer  Treppe,  sich  Bewegen  ohne  Lärm,  Muskelkoordinieren  usw.;  b)  erzieherische 
Gymnastik  —  Übungen  im  Erdegraben,  Pflanzenbegießen,  Tierepflegen,  Kücken- 
nähren, dann  Auf-  und  Zuknöpfen,  Knotenmachen  und  -lösen,  Schleifenbinden; 
unter  diese  Rubrik  fällt  auch  die  Gjnnnastik  der  Atmungsorgane  und  der  Sprach- 
werkzeuge ; 

5.  Handfertigkeitsunterricht  —  Anfertigung  von  verschiedenen  Sachen: 
Tonvasen  ohne  Modelle,  Bechern,  Häuschen,  Karren,  Spielsachen  usw. ; 

6.  intellektuelle  Erziehung:  diese  umfaßt  die  Erziehung  der  Sinne,  die  Anfänge 
des  Lesens,  Schreibens  und  Rechnens ; 

7.  moralische  Erziehung:  Abschaffung  von  Strafen  und  Belohnungen,   „Seif 


^)  Das  Personalienbuch  enthält  eine  sehr  ausgedehnte  Skala  der  anthropometri- 
schen  Maße  jedes  Kindes,  dann  Bemerkungen  über  die  physische  Konstitution, 
über  die  trophischen  Bedingungen  der  Muskeln,  über  Haut-  und  Haarfarbe,  über 
erbliche  Belastung,  über  persönliche  Eigentümlichkeiten.  Das  ganze  Personalien- 
buch enthält  keine  psychologischen  Data. 


14  Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw. 

governement"  (Selbstregierung),  Entwickelung  der  sozialen  und  der  religiösen 
Gefühle  bei  den  Kindern. 

Wie  wir  wohl  sehen,  stellen  diese  einzelnen  Punkte  im  Zusammenhang  einen 
großzügig  gefaßten  Plan  der  Kindererziehung  dar;  mit  Ausnahme  von  einigen 
Einzelheiten  können  wir  ihm  wohl  beistimmen. 

Der  ganze  Plan  aber  enthält  nichts  Neues :  er  ist  ein  Ergebnis  der  neuen  Ten- 
denzen unserer  Pädagogik,  und  Montessori  hat  nur  das  Verdienst  ihrer  Anwendung 
und  Verbreitung.  Sehen  wir  uns  näher  an,  wie  die  theoretischen  Prinzipien 
bei  Montessori  praktische  Verwirklichung  erfahren. 

Die  wichtige  Erziehung  der  Sinne  wird  sehr  unbestimmt  durchgeführt :  den 
Kindern  wird  zwar  genügend  abgestuftes  Material  geboten,  aber  seine  Durch- 
arbeitung ist  der  Willkür,  dem  Zufall  und  dem  Interesse  der  Kleinen  preisge- 
geben. Die  Kinder  dürfen  bei  dem  Material  verweilen,  so  lange  sie  wollen,  sie 
können  es  verlassen,  wenn  es  ihnen  kein  Interesse  mehr  einflößt.  Wenn  sie  Fehler 
machen,  brauchen  sie  ihren  Fehler  nicht  zu  verbessern,  ja  die  Leiterin  soll  sie 
oft  gar  nicht  auf  ihre  Mängel  aufmerksam  machen.  Bei  solchem  Betriebe  fehlt 
das  wichtigste  erzieherische  Element  bei  der  Ausbildung  der  Sinne:  nämlich  die 
Erziehung  zur  willkürlichen  Aufmerksamkeit  fällt  vollständig  weg,  sie  wird 
dadurch  eigentlich  ganz  verneint.  Und  doch  erhalten  wir  erst  durch  die  Richtung 
der  Aufmerksamkeit  auf  unsere  Wahrnehmungen  ,,das  utilitäre  Bewußtsein" 
von  unseren  Sinnen.  Das  Außerachtlassen  dieses  Gesichtspunktes  brachte  die 
empirische  Mechanisierung  der  technischen  Fertigkeiten  in  den  „C.  d.  B."  statt 
der  richtigen  Sinneserziehung  mit  sich. 

Rousseau  predigte  uns  die  natürliche  Freiheit  des  Kindes ;  Montessori  predigt 
seine  soziale  Freiheit.  Wie  sieht  bei  ihr  diese  Freiheit  aus  ?  Im  Grunde  deckt 
sie  sich  vollständig  mit  einer  sozialen  Disziplin,  die,  wenn  sie  in  einer  Klasse 
herrscht,  bald  zum  Sklaventum  jeder  individuellen  Tätigkeit  führt.  Das  funda- 
mentale Prinzip  der  Freiheit,  das  die  wichtigste  Bedingung  jeder  pädagogischen 
Entwickelung  bildet,  ist  hier  derartig  übertrieben  und,  um  mit  dem  Prinzip  der 
Disziplin  im  Einklang  zu  bleiben,  derartig  überspannt,  daß  die  Kinder  zu  echten 
Automaten  werden,  ohne  in  ihren  Bewegungen,  in  ihrer  Auswahl  und  in  ihrem 
ganzen  Verhalten  wirklich  frei  zu  sein.  Vielleicht  erhält  man  einen  günstigen 
Eindruck  von  ihrem  Hin-  und  Hergehen,  Spielen  und  Arbeiten,  aber  dies  ganze 
,,L3ben"  erinnert  uns  allzusehr  an  die  Ordnung  und  Regelmäßigkeit  eines  Stückes, 
das  von  Marionetten,  deren  Fäden  uns  unsichtbar  sind,  gespielt  wird.  Treten 
wir  z.  B.  in  eine  Casa  dei  Bambini  ein!  In  einem  Augenblicke  sind  wir  von  einer 
ganzen  Schar  von  Kleinen  umgeben,  sie  reichen  uns  die  Hände,  begrüßen  und 
küssen  uns  und  wollen  ihr  Können  zeigen.  Wenn  wir  einige  Stunden  mit  den 
Kleinen  verbringen,  wirkt  die  absolute  Stille  der  Klasse  ganz  merkwürdig; 
wenn  die  Kinder  sprechen  müssen,  lispeln  sie;  wenn  sie  sich  bewegen,  gehen  sie 
still,  ganz  still.  Es  ist  keine  fröhliche,  lachende,  lebhafte,  sorglose,  oft  schreiende, 
überlaute  Kinderschar  mehr,  —  es  sind  kleine  Erwachsene,  die  ernst,  überlegend, 
sinnend  arbeiten.  Die  Klasse  ist  hier  zugleich  der  Platz  des  Mystizismus  einer 
kindlichen  Religion.  Und  diese  Religion  hat  auch  ihre  Zeremonie:  es  ist  die 
Hervorruf ung  des   Schweigens. 

Auf  welche  Weise  es  eingeübt  wird,  erfahren  wir  auch  aus  dem  Absatz  über 
die  Erziehung  des  Gehörsinnes,  wo  es  heißt:  „Ich  rufe  das  Schweigen  durch 


Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw.  15 

gewölmliclie  Mittel  hervor,  und  dann  vertiefe  ich  es  durch  die  Laute  ,,st!  st!" 
in  einer  abgestuften  Reihe  von  Tönen,  von  sehr  klangvollen,  langen,  bis  zu  leisesten 
von  sehr  kurzer  Dauer.  Die  ^leinen  werden  allmählich  entzückt.  Von  Zeit 
zu  Zeit  sage  ich:  ,, Noch  mehr  Schweigen,  noch  mehr",  und  ich  spreche  meinen 
Laut  immer  schwächer  und  wiederhole  ,,Noch  mehr,  mehr" !  fast  mit  ersterbender 
Stimme.  Dann  sage  ich  fast  dramatisch,  als  wenn  man  mitten  im  Meere  eine 
Glocke  gehört  hätte,  mitVerwunderung  ,,Hier,  man  hört  dieUhr",  ,,Hier,  man  hört 
die  Fliegen"  usw.  Die  Kinder  verbleiben  dann  in  solch  einem  absoluten  Schweigen, 
daß  man  glauben  könnte,  das  Zimmer  sei  leer.  ,, Schließen  wir  die  Augen!"  Ich 
glaube,  daß  Übungen  dieser  Art  die|Kinder  dermaßen  an  Unbeweglichkeit 
und  absolutes  Schweigen  gewöhnen,  daß  mir  später  nur  ein  Ton,  ein  Blick  genügt, 
um  Ordnung  und  Stille  wieder  herzustellen.  Nach  dem  Einüben  der  Stille  ist 
es  erzieherisch  ratsam,  den  Kindern  die  Schönheit  der  Glocken  vorzuführen: 
sie  wirken  beruhigend  durch  ihre  ernsten  und  süßen  Töne,  anderseits  erregend 
durch  die  kleinen  Glöcklein.  Und  wenn  man  zu  sagen  imstande  ist,  daß  man  außer 
der  Gehörserziehung  die ,  ,vibratorische"  Erziehung  des  ganzenKörpers,  der  Muskeln, 
der  Venen  erreicht  hat,  kann  man  zugleich  sicher  sein,  daß  der  erreichte  ,,fibrilläre 
Friede"  derKinder  von  selbst  „das  Schreiende"  in  ihrerEntwicklungvermeiden wird. " 

Das  alles  ist  nicht  natürlich;  es  ist  vielmehr  ein  unbewußter  Versuch  der 
Hypnose,  des  Faszinierens  der  kleinen  Kinder  —  diese  Poesie  des  Schweigens 
z.  B.  würde  durch  die  Kinder  selbst,  die  das  Leben  in  seinem  vollen  Umfang 
lieb  haben,  auf  spontan-kindliche  Weise  nie  erstrebt  und  erfaßt  werden. 

Bei  milderer  Beurteilung  können  wir  sagen,  daß  die  ,,C.  d.  B."  statt  des 
Materials  zum  Aufbau  der  Kinderpsychologie  uns  eher  Stoff  liefert  zu  einer 
Psychologie  der  Ausnahme. 

Nach  der  Darstellung  von  Montessori  können  die  ,,C.  d.  B."  folgende  Resul- 
tate aufweisen: 

1.  Im  Alter  von  2 — 3  Jahren  erkennen  die  Kinder  die  geometrischen 
Formen  und  zwar  mehr  durch  das  Gefühl  (den  Tastsinn)  als  durch  das  Gesicht; 
sie  können  sie  auch  der  Größe  nach  ordnen,  die  Kegel  in  die  für  sie  bestimmten 
Löcher  hineinstellen,  die  Grundfarben  unterscheiden,  kleine  Türme  aus  Klötzchen 
bauen;  ein  Kind  von  2^  Jahren  erkennt  die  Buchstaben  von  a — f. 

2.  Im  Alter  von  3  Jahren  gewinnen  die  Kleinen  die  stereognostische 
Erkenntnis  der  Gsgenstände  durch  Gefühl  und  Gesicht  zusammen,  dann  die 
Nuancen  der  Hauptfarben.  Auf  dem  Willensgebiet  erhalten  sie  auch  die  Fähig- 
keit zu  selbständigem  und  freiem  Handeln. 

3.  Im  Alter  von  3 — 4  Jahren  können  die  Kleinen  Vergleiche  zwischen  den 
Größen  von  mehreren  Körpern  anstellen;  manche  schreiben  auch  schon. 

4.  Im  Alter  von  4  Jahren  besitzen  sie  die  Fähigkeit  zum  Verallgemeinern, 
alle  können  schreiben  und  verstehen  den  Aufbau  der  Wörter  durch  Buchstaben 
und  Silben,  l^^  Monate  genügen,  um  den  Kindern  das  Schreiben  beizubringen, 
2^2,  damit  sie  mit  Feder  undTinte  schreiben,  imd  5  Monate,  damit  sie  im  Schreiben 
die  Stufe  der  3.  Klasse  einer  gewöhnlichen  Schule  erreichen;  mit  4  Jahren  schrei- 
ben sie  selbständig  kleine  Briefe. 

5.  Im  Alter  von  4 — 5  Jahren:  Benennung  der  geometrischen  Körper. 
Das  Lesen  der  Adressen  der  Hauskorrespondenz. 

6.  Im  Alter  von  5  Jahren:  Benennung  der  Farben;  Lesen  und  Schreiben 


16  Montessoris  pädagogischer  Versuch  der  „Gase  dei  bambini"  usw. 

wie  auf  der  Stufe  der  zweiten  Klasse  einer  gewöhnlichen  Schule;  das  arithme- 
tische Rechnen  bis  100.  Ein  Kind,  das  schon  schreiben  kann,  macht  nach 
14tägiger  Übung  perspektivische  Zeichnungen  und  bemalt  sie;  kann  aber  die 
einzelnen  Teile  noch  nicht  benennen. 

7.  Im  Alter  von  6  Jahren:  geometrische  Analyse,  Fähigkeit  der  Beobach- 
tung, des  Voraussehens,  der  Geduld  zur  Erreichung  dessen,  was  die  anderen 
leisten  können;  Naturempfinden;  Handfertigkeit;  Anfertigung  von  Vasen,  Am- 
phoren, Tripoden  aus  Ton — das  alles  bildet  den  geistigen  Besitz  der  kleinen  Schar. 

Nach  dem  Verlassen  der  ,,C.  d.  B."  treten  die  Kinder  mit  diesen  Vorzügen  ihrer 
physischen  und  geistigen  Entwickelung  in  die  zweite  Elementarklasse  ein.  Die 
von  Montessori  erzielten  Resultate  erscheinen  besonders  groß,  wenn  man  sie  mit 
denen  anderer  vorschulpflichtigen  Anstalten  vergleicht.  Die  Eltern,  welche 
sehen,  daß  die  Kinder  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  viele  praktische  Fertig- 
keiten erworben  haben  und  mit  5 — 6  Jahren  schon  lesen  und  schreiben  können, 
sind  von  der  ganzen  pädagogischen  und  didaktischen  Organisation  der  ,,C.  d.  B." 
entzückt  und  drücken  immer  und  überall  ihre  große  Freude  darüber  aus. 

Für  uns  aber,  die  wir  der  Sache  objektiv  gegenüberstehen,  ist  es  wichtig 
zu  erfahren,  ob  und  welche  absoluten  Vorzüge  diese  frühzeitige  Erwerbung 
der  Kenntnisse  für  den  allgemeinen  Schulnutzen  liefert. 

Leider  fehlen  uns  genaue  Angaben.  Auf  unsere  Anfragen  bei  den  Rektoren 
erhielten  wir  die  Antwort,  die  Kinder  aus  den  ,,C.  d.  B."  seien  in  ihrer  Entwicke- 
lung und  ihren  intellektuellen  Fortschritten  nicht  individuell  beobachtet  worden; 
im  übrigen  unterschieden  sie  sich  in  keiner  Weise  von  anderen  Kleinen  ihres 
Milieus.  Diese  Antworten  können  uns  kein  Material,  weder  positives,  noch 
negatives,  für  die  genaue  Prüfung  der  erhaltenen  Ergebnisse  liefern.  Es  wäre 
wünschenswert,  daß  in  der  Zukunft  Vergleichstabellen  der  Leistungen  der 
Kinder  aus  den  ,,C.  d.  B."  und  der  aus  dem  üblichen  Hausmilieu  oder  aus  anderen 
vorschulpflichtigen  Anstalten  hervorgegangenen  Kinder  im  Laufe  ihrer  ganzen 
Schulzeit  aufgestellt  würden  —  dann  hätte  man  Anhaltspunkte  zu  einer  objek- 
tiven Beurteilung  und  Bewertung  des  Montessorischen  Systems.  Da  uns  solche 
statistische  Angaben  vollkommen  fehlen,  ist  jedes  Lob  wie  jeder  Tadel  dieses 
Systems  im  ganzen  nicht  am  Platze.  Was  die  einzelnen  pädagogisch-didaktischen 
Maßnahmen  betrifft,  so  enthält  es,  abgesehen  von  den  suggestiven  Exaltationen 
xmd  den  mystischen  Stimmungsübertreibungen  zweifellos  viele  treffliche  Einzel- 
heiten. Hervorzuheben  wäre  das  konsequent  durchgeführte  Prinzip  der  weit- 
gehenden Selbständigkeit  und  Selbsttätigkeit  auf  jeder  Stufe  der  kindlichen 
Entwickelung  und  die  größere  Ausnutzung  des  Muskel-  bzw.  des  motorischen 
Sinnes  beim  Schreib-  und  Leseunterricht  der  Kinder,  als  es  jetzt  der  Fall  ist. 

Unsere  Darlegungen  verdichten  wir  zu  folgenden  summarischen  Sätzen: 

1.  Es  gibt  keine  originelle  Montessorische  Methode. 

2.  Ihre  Darbietungen  stellen  einen  Versuch  der  Systematisierung  der  Tatsachen 
der  experimentellen  Psychologie  und  anderer  bereits  festgestellter  und  anerkann- 
ter pädagogischen  Ergebnisse  dar. 

3.  Die  ,,Case  dei  Bambini"  mögen  ihren  ursprünglichen  rein  sozialen  Charakter 
beibehalten;  als  Unterrichtsanstalten  entbehren  sie  jedes  speziellen  Interesses. 

4.  Montessoris  System  ist  eine  nützliche  Reaktion  auf  den  pädagogischen 
Apriorismus.  (Übersetzt  von  Dr.  H.  v.  Reybekiel.) 


Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren.  17 

Das  Entwicklungsalter  und  seine  Gefahren. 

Von  WHhelm  v.  Drigalski. 

Wenn  das  Säuglingalter  noch  immer  eine  solche  Fülle  von  Gefahren 
für  das  Leben  zu  überstehen  hat,  daß  bei  uns  fast  ein  volles  Fünftel  unserer 
Kleinsten  ihnen  vor  Ablauf  des  ersten  Lebensjahres  erliegt,  wenn  das  Kindes- 
alter bis  zur  Reifeentwicklung  von  zahlreichen  Feinden,  den  infektiösen 
Kinderkrankheiten  heimgesucht  wird,  so  ist  unsere  Jugend  in  der  Zeit  der 
Pubertät  äußeren  Anstürmen  und  inneren  Erschütterungen  ausgesetzt,  die 
für  die  ganze  körperliche,  insbesondere  aber  auch  für  die  geistige  Leistungs- 
fähigkeit, die  G-esundheit  des  gesamten  Nervensystems  und  damit  für  die 
seelische  Ent Wickelung  von  gewaltiger  Bedeutung  sind. 
i?  Für  viele  der  Heranwachsenden  ist  die  Entwicklungszeit  eine  solche  der 
Gefahr.  Diesen  Gefahren  für  das  gesunde  Geistesleben  unserer  Jugend  hat 
auch  der  Hygieniker  seine  Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  um  in  enger  Füh- 
lung mit  den  berufenen  Fachleuten,  dem  Psychologen  und  Psychiater,  ihnen 
entgegenzutreten.  Die  Geisteshygiene  ist  ein  wichtiger  Zweig  der  Schul- 
hygiene geworden.  So  kommt  auch  der  praktische  Hygieniker  dazu,  auf 
dem  zur  Behandlung  gestellten  Gebiet  Erfahrungen  zu  sammeln  und  Maß- 
nahmon  zu  treffen.  Nur  dieser  Umstand  berechtigt  mich,  mit  Unterstützung 
der  fachkundigen  Psychologen  an  der  Besprechung  so  schwieriger  Fragen 
teilzunehmen. 

Wollen  wir  ergründen,  welche  Folgen  die  heute  in  Städten  und  besonders 
in  einer  Großstadt  wirksamen  Einflüsse  auf  das  geistige  Werden  unserer 
Jugendlichen  ausüben,  so  dürfen  wir  uns  nicht  nur  auf  Vermutungen  oder  Spe- 
kulationen einlassen;  ganz  und  gar  müssen  wir  uns  hüten,  etwa  eines  der 
modernen  Schlagworte  („Freiheit  der  Jugend",  „Seelenmord  in  der  Schule" 
usw.)  überwertig  in  unserem  Denken  werden  zu  lassen.  Vielmehr  ist  es  nötig, 
so  weit  als  möglich  sachlich  zuzusehen,  was  für  ein  Organismus  es  ist,  der 
sich  in  unserer  oft  so  lärmvollen  Umgebung  entwickeln  soll,  welchen  Ge- 
setzen das  Wunder  der  lebenden  Maschinerie  etwa  folgt,  an  welchen  Hebeln 
erwünschte  oder  unerwünschte  Einwirkungen  einsetzen.  Nach  den  Ent- 
wickelungsbedingungen  für  unser  Geistesleben  vornehmlich  soll  sich  die 
Erziehung  richten.  Der  Erzieher  sollte  daher  etwas  von  der  organischen 
Ent  Wickelung  des  Menschen  wissen,  mit  dem  er  sich  befassen  soll. 

In  wunderbarer  Gesetzmäßigkeit  entwickelt  sich  der  kindliche  Organismus 
zunächst  in  größter  Abhängigkeit  von  dem  mütterlichen.  In  dem  rasch  auf- 
blühenden Körper  sorgt  ein  Organ  für  das  andere,  leidet  eines  mit  dem 
anderen,  blüht  eins  durch  das  andere,  man  kann  auch  sagen  —  hält  eins  das 
andere  in  Schach.  Fehlt  dem  Säugling  die  nötige  Bewegung  und  Anregung, 
so  bleiben  Muskulatur  und  Stoffwechsel  zurück,  damit  auch  die  Knochen- 
bildung, die  Entwickelung  des  Blutgewebes  usw.  Versagt  der  Ernährungs- 
apparat, so  leiden  sehr  rasch  alle  anderen  Organe  not.  Trennen  wir  aber 
irgendein  Organ  von  seiner  nervösen  Verbindung,  so  geht  es  raschem  Schwund 
entgegen.  Bei  so  enger  Verknüpfung  ist  es  begreiflich,  daß  trotz  der  hohen 
Selbständigkeit,  die  wir  an  unserem  Nervensystem  beobachten,  auch  die 

Zeitschrift  f.  p&dagog.  Psychologie.  3 


18  Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren. 

Tätigkeit  der  Nervensubstanz,  insbesondere  der  Hirnelemente  stark  beein- 
flußt und  beeinträchtigt  werden  kann  durch  den  Zustand  anderer  Körper- 
provinzen. Daher  das  Wort :  Mens  sana  in  corpore  sano.  Das  muß  für  ein 
Organ,  das  wie  das  menschliche  Hirn  schließlich  der  Leiter  und  Träger  der 
meisten  körperlichen  Funktionen  ist,  wohl  beachtet  werden. 

Beim  Säugling  finden  wir  bereits  Ys  des  gesamten  Hirngewichtes,  ein 
zweites  entwickelt  sich  in  der  Kinderzeit  bis  zum  14.  Jahre,  die  Ausbildung 
des  letzten  Drittels  erfolgt  sehr  rasch,  oft  genug  unter  stürmischen 
Erscheinungen  während  der  Entwickelungsjahre,  in  der  Pubertät. 
Aber  nicht  nur  das  nervöse  Organ  erfährt  dann,  etwa  zwischen  dem  14.  und 
17.  Jahre,  also  in  einer  recht  kurzen  Zeitspanne  eine  gewaltige  Zunahme  an 
Masse  und  einzelnen  feinen  Elementen,  sondern  eine  Reihe  bis  dahin  schlum- 
mernder Organe  erwachen,  welche  in  der  Kindheit  wohl  vorhanden  und 
nicht  ganz  ohne  Wirkung,  aber  doch  von  unvermerktem  (latentem)  Einfluß 
waren.  Diese  innere  Sekretion,  besonders  betont  von  G.  Anton,  ist 
von  solcher  Wichtigkeit,  daß  sie  das  Tempo  der  Entwickelung,  die  Länge 
der  Beine,  die  Gestaltung  des  Schädels,  die  Entwickelung  des  Denkver- 
mögens beeinflußt.  Nicht  allein  die  Geschlechtsdrüsen,  sondern  eine  ganze 
Reihe  drüsiger  Organe  dienen  dieser  Neuordnung  und  Regulierung  der  Vor- 
gänge im  menschlichen  Körper.  Die  äußeren  Zeichen  sind  deutlich:  Der 
Knabe  wird  zum  jungen  Mann,  das  weibliche  Kind  reift  zur  Jungfrau,  die 
sekundären  Geschlechtscharaktere  —  Körperbehaarung,  Schnurrbart,  Stimm- 
bruch, Büste,  Figur  —  bilden  sich  aus.  Das  geistige  Wesen  der  bislang  harm- 
losen Kinder  ändert  sich,  oft  sehr  rasch,  überraschend,  oft  von  den  Eltern 
nicht  ge wertet  und  verstanden. 

Das  Kind  schon  hat  erhebliche  geistige  Leistungen  zu  vollbringen,  seine 
Umwelt  und  ihre  Eigenheiten  kennen  zu  lernen,  sich  mit  dem  Gange  des 
täglichen  Lebens  abzufinden,  sein  Gedächtnis  mit  Schulwissen  zu  belasten. 
Seine  Erziehung  geht  darauf  aus,  es  mit  den  nötigen  Gegenständen,  ihrem 
Gebrauch  bekannt  zu  machen,  seine  Sinne  zur  Anwendung  zu  bringen,  ihm 
den  Nutzen  oder  Schaden  der  üblichen  Handlungen  im  kleinen  Umfang 
seiner  Geschäfte  ,, beizubringen",  es  zu  einer  gewissen  Rücksicht  auf  seine 
Umgebung  zu  gewöhnen,  ihm  eine  gewisse  Menge  gedächtnismäßigen  Wissens 
einzuprägen. 

Denkt  das  Kind?  Die  Frage  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  bejahen.  „Wes- 
halb darfst  du  nicht  lügen?"  ,,Weil  Papa  mich  dann  haut."  Das  ist  kindHche 
Logik,  das  der  Sinn  der  moralischen  Erziehung,  die  eben  noch  keine  ethischen 
Werte  zur  Geltung  bringen  kann.  Das  Kind  ist  meist  von  sehr  kurzem  Ge- 
dächtnis, lenksam,  suggestibel,  unkritisch,  unüberlegt;  es  ist  frei  von  ethi- 
schen Vorstellungen,  amoralisch,  kennt  daher  keine  eigentliche  Eltern- 
liebe, Dankbarkeit,  ist  sehr  egoistisch.  Wir  dürfen  zunächst  gar  nichts 
anderes  von  ihm  verlangen.  Die  Begriffe  gut — schlecht,  zweckmäßig— un- 
zweckmäßig, Schuld — Sühne,  prägt  ihm  der  Erwachsene  ein.  Die  Über- 
legung, zu  der  die  Bildung  abstrakter  Begriffe  gehört  (Recht — Unrecht,  Dank- 
barkeit, Pflichtgefühl)  hat  das  Kind  noch  nicht,  weil  ihm  hierzu  die  nervösen 
Organe  fehlen.  Indes  sehen  wir  schon,  wie  wichtig  es  ist,  daß  das  Kind  bei- 
zeiten gute  zweckmäßige  Eindrücke  erhält,  daß  seine  Aufmerksamkeit  auf 


Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren.  19 

nützliclie,  walire,  schöne  Dinge  gelenkt  wird,  daß  seinem  Nachahmungstrieb 
ein  gutes  Beispiel  vorgestellt,  seinem  Gedächtnis  Eindrücke  eingeprägt 
werden,  die  ihm  förderlich  sind.  —  Wenn  wir  daran  denken,  muß  uns  bei 
dem  Gespräch,  dem  Anblick,  den  Anreizungen,  die  das  Getriebe  der  Groß- 
stadt an  Kinder  heranbringt,  bedenklich  werden.  Und  doch  geht,  sieht  und 
hört  zum  Glück  das  Kind  an  vielem  vorüber,  ohne  sich  etwas  dabei  zu  denken ; 
der  häusliche  Einfluß  kann  manches  Unerwünschte  wieder  beseitigen. 

Ganz  anders  ist  es  bei  den  im  Entwickelungsalter  Stehenden.  Die 
stärkere  Ausbildung  zahlreicher  nervöser  Elemente  bedingt  stärkere  Er- 
regbarkeit. Dinge,  die  vorher  nicht  geschaut  oder  geachtet  wurden,  wer- 
den jetzt  beachtet,  Gutes  wie  Schlechtes.  Die  stärkere  Erregung  ändert  auch 
das  Benehmen  der  Jugendlichen,  sie  reagieren  schärfer,  wir  merken,  daß 
sie  reizbar,  widersetzlich,  veränderlich  werden,  daß  ihre  Affekte  gestei- 
gert sind. 

Die  Änderung  der  Gedankenrichtung  springt  ins  Auge:  Die  Fähig- 
keit, weiter  denken  zu  können,  wird  wohl  vermerkt,  die  Gedanken  sind  auf 
das  Hohe,  Ideale,  Weitschweifende  gerichtet,  die  Rechte  des  Erwachsenen 
werden  sehr  rasch  beansprucht. 

Die  Empfindung  für  die  Weiblichkeit  erwacht,  Verliebtheiten, 
Schwärmereien,  Geschlechtsneugierde,  Geschlechtstrieb  erwachen,  Miß- 
bräuche und  Verfehlungen  auf  diesem  Gebiet  sind  weit  verbreitet. 

Es  mischen  sich  also  Züge  reiferer  Entwickelung  mit  kindlichen,  nun 
kindisch  wirkenden.  Die  Stimmungen  und  Affekte  sind  ungeregelt  und  wer- 
den nicht  beherrscht.  ,, Weltschmerz"  kann  bis  zum  Selbstmordversuch 
treiben,  um  nach  wenigen  Stunden  schon  einer  vergnügten  Laune  beim 
kindlichen  Spiel  Platz  zu  machen.  Von  einer  Logik  der  Affekte  ist  kaum 
die  Rede. 

Die  Gedanken  werden  jetzt  in  reichlicherer  Folge  aneinander  gereiht,  weit 
ausschauende  Pläne  gemacht,  zahlreiche  Vorstellungen  miteinander  ver- 
knüpft, assoziert;  aber  alles  das  geschieht  zunächst  noch  sehr  unkritisch, 
und  die  Folgen  sind  häufig  unüberlegte  Handlungen,  dumme  Streiche,  in 
harmlosen  Fällen  das  Schauerdrama,  das  der  jugendliche  Verfasser  un- 
bedenklich über  die  Klassiker  stellt.  Die  Kritik  ist  in  charakteristischer 
Weise  vorwiegend  negativ;  oft  genug  offenbart  sie  kein  Unterscheidungs- 
vermögen, sondern  nur  den  Widerspruchsgeist  gegen  das  bisher  als  selbst- 
verständhch  Geltende,  gegen  Eltern,  Schuldisziphn  usw.,  Selbstkritik  ist 
kaum  angedeutet.  Der  erwachende  Selbständigkeitstrieb  stößt  begreiflicher- 
weise auf  Widerstände,  die  als  altmodisch,  unzeitgemäß  usw.  empfunden 
werden,  weil  die  sehr  viel  weiter  reichenden  Vorstellungen,  die  ein  eigenes 
Verantwortlichkeitsgefühl  begründen,  noch  nicht  recht  gebildet  werden 
können.  Dagegen  wird  oft  genug  das  Ungewöhnliche,  mag  es  auch  nur  in 
(If!r  Auflehnung  gegen  selbstverständliche  Forderungen  bestehen,  beifällig 
aufgenommen.  Hier  spielen  Nachahmungshandlungen,  der  Imitations- 
ti'ieb,  oft  genug  eine  Rolle,  deren  Gefährlichkeit  wir  aus  den  immer  häufiger 
werdenden  Berichten  über  Verbrechen  Jugendlicher,  die  ihren  Ursprung  in 
der  Wirkung  aufreizender  Schundliteratur  haben,  über  Selbstmordversuche 
aus  ähnlichem  Anlaß  usw.  nur  zu  deutlich  erkennen  können. 

2* 


20  Das  Entwicklungsalter  und  seine    Gefahren. 

Während  der  Sinn  für  den  Reiz  des  Weiblichen  in  der  Pubertät  lebhaft 
zu  werden  pflegt,  fehlt  noch  jedes  G3fühl  für  die  Größe  der  in  den  Liebes- 
beziehungen ruhenden  MögUchkeiten,  ihre  G-efahr,  ihre  Verantwortlichkeit. 
Auch  schon  im  Knabenalter  kann  der  Saxualtrieb  vorhanden  sein,  aber 
durch  geeignete  Erziehungsmaßnahmen  wenigstens  bei  nicht  ausgesprochen 
Psychopathischen  eingedämmt  oder  abgelenkt  werden.  Charakteristisch  für 
die  Reifezeit  ist,  daß  ein  oft  sehr  lebhafter  Geschlechtstrieb  normalerweise 
erwacht;  eine  Erscheinung,  die  zu  Unrecht  von  vielen  Erziehern  immer  noch 
als  etwas  Unsittliches  gedeutet  wird. 

Keinem  Pädagogen  braucht  man  über  die  mannigfachen  Schwierigkeiten,  die 
alle  diese  psychologischen  Verhältnisse  einer  glückUchen  Erziehung  bereiten, 
längere  Auseinandersetzungen  zu  geben.  Aber  was  vollzieht  sich  bei 
allen  psychischen  Vorgängen,  durch  welche  Einwirkungen 
werden  sie  bestimmt?  Über  diese  Fragen  muß  man  ins  klare  kommen, 
will  man  unsere  Adoleszenten  gerecht  und  sorgsam  zugleich  während  ihres 
gefährüchen  Alters  behandeln  und  leiten.  Daß  das  nicht  immer  geschieht, 
liegt  nur  allzu  klar  zutage.  Berichte  von  Schulärzten  und  Sexualforschern 
(Meirowski  u.  a.)  lassen  geradezu  annehmen,  daß  Angehörige  mancher 
Gymnasien  und  Lyzeen  ganz  gewohnheitsmäßig  sich  Zerstreuungen  und 
einem  Geschlechtsverkehr  hingeben,  über  deren  Konsequenzen  sie  sich  nicht 
im  geringsten  klar  sind. 

Alle  psychischen  Vorgänge  sind  an  die  Funktion  der  nervösen 
Elemente  der  Hirnrinde  gebunden.  Eine  solche  Erregung,  die  in  einer 
Zustandsänderung  besteht,  wird  durch  äußere  und  innere  Einwirkungen  auf 
die  nervösen  Elemente,  einen  Reiz,  zugeleitet.  Die  äußeren  Reize  vermit- 
teln die  Sinnesorgane  (Auge,  Ohr,  Gefühl,  Geschmack,  Geruch);  der  Geruch 
vermag  z.  B.  in  hohem  Grade  geschlechtlich  erregend  zu  wirken.  Innere 
Reize  gehen  von  dem  Blut,  der  Gewebsflüssigkeit  aus.  Jeder  Reiz,  jede  Er- 
regung einer  Hirnzelle  bedingt  einen  Zerfall  eines  Teiles  des  Zell- 
eiweißes, der  Biogene,  und  dieser  Verbrauch  wird  in  der  Ruhe  wieder 
ersetzt.  Wiederholt  sich  der  gleiche  Reiz  —  ,, Eindruck"  —  öfters,  so  geht 
die  L3itung  des  Reizes  in  den  an  ihn  gewöhnten  „ausgeschliffenen"  Bahnen 
leichter  vor  sich,  und  in  der  Hirnzelle  bleiben  Residuen  dieses  Eingriffes 
zurück:  latente  Erinnerungsbilder.  Noch  nach  langer  Zeit  kann  der  gleiche 
Eindruck  die  gleiche  Tätigkeit  leicht  reproduzieren,  ein  Verhalten,  das  an 
die  rasche  u.  U.  noch  nach  Jahren  erfolgende  Bildung  von  Immunkörpern 
durch  die  tränierte  Zelle  bei  erworbener  Immunität  erinnert.  Von  einem 
Hirnrindenelem3nt  wird  die  Erregung  durch  leitende  Hirnfasern,  Assozia- 
sionsfasern  (man  könnte  sie  auch  Verbindungsbahnen  nennen)  zu  solchen  ge- 
leitet, die  mit  jenem  bei  gleichen  früheren  Anlässen  schon  in  leitende  Ver- 
bindung gebracht  waren.  Diese  „Vergesellschaftung",  Verknüpfung  ver- 
schiedener Eindrücke  und  Vorstellungen  wird  erst  dann  zureichend,  wenn 
zahlreiche  weiterführende  L3itungen  vorhanden  sind.  Diese  Assoziations- 
fasern werden  aber  in  größerer  Zahl  im  Pubertätsalter  neu  ge- 
bildet. Erst  jetzt  können  längere  Vorstellungsreihen  entstehen,  und  zwar 
um  so  leichter,  je  öfter  die  Nervenbahnen  ähnliche  Reize  erhalten  und  weiter 
geleitet  haben.   Jede  Vorstellung  ruft  (als  ihre  Nachfolgerin)  eine  durch  Ver- 


Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren.  21 

bindung  ihr  nahestehende  hervor,  die  zweckmäßige  Aneinanderreihung  ver- 
schiedener Vorstellungen  gelingt  immer  leichter,  diese  Reihe  von  Vorstel- 
lungen wird  zu  Schlüssen  und  Urteilen  verbunden  —  der  Mensch  lernt 
denken,  und  zwar  folgerichtig  und  zweckmäßig  oder  auch  unzweckmäßig. 

Lebhaft  beeinflußt  wird  das  Zustandekommen  solcher  Ge- 
dankenreihen vom  Gefühl;  die  am  m.eisten  von  lebhafter  subjektiver 
Empfindung  betonte  Vorstellung  obsiegt  über  die  Schar  der  mit  ihr  an- 
klingenden und  behält  den  Vorrang.  Die  Affekte,  rasch  und  anschwellend 
auftretende  Gefühls  Vorgänge,  spielen  ähnlich  eine  große  Rolle  bei  dem 
Denken  und  für  die  von  ihm  beeinflußten  Handlungen  (übereiltes  Handeln 
bei  Zornmütigkeit,  Körperkraft  des  Tobenden).  Zu  den  mannigfachen 
durch  Erfahrungen  gesammelten  Vorstellungen  kommen  minder 
gefühlsbetonte  überheferte,  erlernte.  Als  Glaubensvorstellung  religiöser, 
politischer,  sozialer  Richtung,  als  Neigungen  oder  Abneigungen,  die  in  der 
Kinderstube  erzeugt  wurden,  ergänzen  und  beeinflussen  sie  wesentlich  die 
eigene  Erfahrung.  Da  gerade  diese  Vorstellungen  eiserne  Beharrlichkeit,  Be- 
geisterung, Fanatismus  bedingen  können,  ist  es  ungemein  wichtig,  darauf  zu 
achten,  welche  Empfindungen  wir  in  unseren  Kindern  erwecken,  w^elche 
Gefühle  wir  mit  der  Einprägung  wichtiger  Vorstellungen  verbinden.  Es  ist 
kein  leerer  Schall,  wenn  man  von  dem  Einfluß  der  Kinderstube  als  einem 
häufig  entscheidenden  spricht. 

Das  Aneinanderreihen  zusammengehöriger  Ideen,  der  Gedankenzusammen- 
hang wird  gefährdet  und  gestört  durch  Affekte,  durch  überwertige  Ideen; 
Zerstreuungen,  sexuelle  Vorstellungen  und  Erregungen  können  derart  hem- 
mend wirken.  Andererseits  ist  die  zweckmäßige  Verwertung  des  Nach- 
ahmungstriebes als  eines  reizfördernden  Faktors  sehr  wesentlich:  Wirkung 
des  guten  Beispiels.  Wie  schlechte,  kann  auch  gute  Gewöhnung  ein- 
treten; bei  Wiederholung  der  entsprechenden  nervösen  Reaktionen  bleibt 
die  betreffende  Neigung  bestehen.  Man  gewöhnt  sich  zweckmäßig,  man 
, .lernt"  das  ,,Gute",  die  Ziehung  von  Konsequenzen,  die  Beharrlichkeit, 
kurz  die  Art  der  nervösen  Reaktionen  auf  gewisse  Einflüsse. 

Gerade  im  Entwickelungsalttr  stürmen  besonders  viele  verstärkte  und 
vermehrte  Reize  auf  das  Zentralnervensystem  ein:  Die  reizleitenden  Bahnen 
sind  vermehrt,  durch  die  Neuerzeugung  innerer  Reizungen  ist  die  Reiz- 
schwelle für  äußere  Reize  gleichzeitig  erniedrigt,  die  äußeren  Reize  wirken 
also  mächtiger,  dazu  kommt  die  Reizverstärkung  durch  die  Zunahme  der 
Affekte.  Die  nervöse  Substanz  ist  außerordentlich  vielen  neuen  Eindrücken, 
d.  li.  Erschütterungen,  ausgesetzt,  von  denen  jeder  einzelne  Zerfall  und 
Wiederaufbau  bedingt  und  verlangt.  Soll  der  Organismus  einer  solchen 
Steigerung  der  Ansprüche  gewachsen  bleiben,  so  muß  der  gesamte  Stoff- 
wechsfl  in  Ordnung  sein,  die  verschiedenen  körperlichen  Organe  müssen 
rnöglielist  gl(  iehmäßig  beansprucht  und  ausgebildet  werden.  Im  anderen 
Fnllc  uilstdit  die  Gefahr,  daß  einer  einzelnen  Hirnprovinz  übermäßig  viele 
Reize  zugemutet  werden,  andere  zurückbleiben.  Dabei  muß  man  sich  der 
Tatsache  bewußt  bleiben,  daß  Muskelarbeit  auch  Hirnarbeit  ist,  daß  also 
bei  einsfitiin  r  Beansprueluiiig  des  Geistes  durch  Schularbeit  und  infolge  der 
Aufzucht  iiijfceres  Nachwuchses  in  engen  Zimmern  eine  Vernachlässigung 


22  Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren. 

wichtiger  nervöser  Zentren  stattfindet,  von  der  eine  mittelbare  Mitwirkung 
auf  die  intellektuelle  Leistungsfähigkeit  erwartet  werden  kann.  Jene  Stö- 
rungen sind  sehr  leicht  nachzuweisen.  Wir  haben  unter  den  gut  situierten 
Schülern  der  höheren  und  der  Mittelstände  bei  3361  Untersuchten  nicht  weniger 
als  19  Prozent  mit  Blutarmut,  11,9  Prozent  mit  Zeichen  von  Rhachitis,  also 
mit  Störungen  des  Stoffwechsels,  behaftet  gefunden.  Schwieriger  ist  es,  ein- 
wandfrei festzustellen,  daß  mit  der  Steigerung  der  körperlichen  Leistungs- 
fähigkeit bei  ebenmäßiger  Behandlung  auch  eine  solche  der  geistigen  Leistun- 
gen einhergeht.  Verschiedene  Untersucher  geben  an,  derartige  Befunde  ge- 
habt zu  haben,  indessen  schleicht  sich  gerade  bei  diesen  Feststellungen  leicht 
der  Fehler  ein,  daß  man  Dinge  miteinander  vergleicht,  die  sich  nicht  ver- 
gleichen lassen,  oder  daß  man  die  Zufallsergebnisse  zu  kleiner  Untersuchungs- 
reihen verwertet.  Es  ist  notwendig,  ganze  Schulsysteme  zu  untersuchen. 
Diese  Fehlerquellen  glauben  wir  bei  Untersuchungen,  die  auf  meine  Ver- 
anlassung bei  rund  12000  Kindern  vorgenommen  wurden,  vermieden  zu  haben. 
Schon  bei  den  Angehörigen  der  höheren  und  Mittelschulen  scheint  es,  als 
stünden  die  10  vom  Hundert  mit  schlechten  Leistungen  körperlich  geringer 
da  als  die  10  Prozent,  denen  gute  Leistungen  zugebilhgt  wurden.  Doch 
schwanken  diese  Ergebnisse  etwas,  auch  ist  die  Zahl  der  für  die  Berechnung 
erfaßten  —  rund  3000  —  m.  E.  noch  zu  klein.  Eindeutiger  sind  schon  die 
Feststellungen  ausgefallen,  die  Herr  Schularzt  Dr.  Peters  an  rund  9000 
Volksschülern  ausgeführt  hat,  schon  deswegen,  weil  hier  größere  Unterschiede 
in  der  Körperbeschaffenheit  auffallen.  Die  Körperbeschaffenheit  von  1262 
,, schlechten"  Schülern  (Remanenten)  verghch  Peters  mit  derjenigen  der 
Gesamtheit  und  fand  gute  Körperbeschaffenheit  bei  40,7  Prozent 
aller  Schüler,  aber  nur  bei  36,6  Prozent  der  Remanenten,  also  der  Minder- 
begabten, minder  Leistungsfähigen  oder  Faulen.^)  Es  scheint  darnach  richtig 
zu  sein,  daß  bei  körperlich  schlecht  Ausgebildeten  bzw.  Vernach- 
lässigten die  Gefahr  der  Erschöpfung  oder  der  rascheren  Ermüdung  auch  in 
der  Minderung  der  geistigen  Leistungsfähigkeit  ihren  Aus- 
druck findet. 

In  den  letzten  Jahren  haben  Bestrebungen  eingesetzt,  welche  das  erwähnte 
Mißverhältnis  in  der  Ausbildung  des  Organismus  besonders  zur  Zeit  des  stür- 
mischen Wachstums  in  der  Pubertät  vermeiden  wollen.  In  dankenswerter 
Weise  haben  sich  für  Volkserziehung  interessierte  Männer  mit  Lehrern  ver- 
einigt, um  den  Heranwachsenden  die  nötige  körperliche  Übung  (Arbeit)  zu 
verschaffen ;  Schülerwandern  und  Schulsport  vermögen  infolge  der  auftreten- 
den Lustgefühle  (Gefühlsbetonung)  in  der  Tat  zu  leisten,  was  das  meist  sehr 
langweilige  Schulturnen  nicht  vermochte  —  eine  Erfahrung,  die  ich  aus 
eigener  Anschauung  nur  bestätigen  kann.  Aber  kaum  haben  jene  Bestrebungen 
eingesetzt,  so  finden  sie  auch  schon  Widersacher,  die  nicht  ohne  einen  Schein 
des  Rechtes  anführen,  daß  die  Mehrung  der  körperlichen  Ausbildung  der 
Schularbeit  Abbruch  tue.  Darf  oder  muß  man  sich  aber  auf  den  oben  skiz- 
zierten Standpunkt  stellen,  so  muß  ein  billiger  Ausgleich  in  der  Beanspruchung 
und  Ausbildung  der  geistigen  und  körperlichen  Fähigkeiten,  d.  h.  der  ver- 


^)  Die  Ermittelungen  werden  fortgesetzt. 


Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren.  23 

schiedenen  Gehirnprovinzen  gefunden  werden.  Er  wird  sich  finden  lassen, 
je  mehr  der  Erzieher  imstande  ist,  Wichtiges  vom  Unwichtigen  zu  unter- 
scheiden. Es  ist  gar  keine  R^ge,  daß  auch  heute  noch  der  gute  Schüler 
infolge  seiner  Gewandtheit  40 — 50  Prozent  der  auferlegten  Aufgaben  auszu- 
schalten vermag,  ohne  daß  man  ihm  allzu  sehr  auf  die  Sprünge  kommt. ^) 

Sicherlich  muß  die  Aneinanderreihung  der  Vorstellungen,  die  ja  schließ- 
lich die  spätere  Lebensführung  bedingt,  in  zweckmäßiger  Weise  ausgebildet, 
erlernt  werden.  Wichtig  sind  dabei  die  Ausgangsvorstellungen,  und  es 
ist  sehr  wesentlich,  als  solche  gerade  im  Entwickelungsalter  nützliche,  schöne 
wichtige  Eindrücke  fest  einzuprägen.  Wichtig  ist  ferner  die  Bahnung  rich- 
tiger Leitungen  zum  logischen,  zweckmäßigen  Gedankenablauf.  Pflicht- 
treue wird  anerzogen.  Wichtig  ist  die  Ausbildung  des  Willens;  die  Jugend- 
hchen  müssen  gezwungen  werden,  eine  G^dankenreihe  zu  Ende  zu  führen, 
so  daß  schließlich  gewohnheitsmäßig  eine  zweckmäßige  Zielvorstellung  er- 
reicht und  eine  ausführende  Tat  herbeigeführt  wird;  Zerstreuungen  bilden 
daher  für  die  Ausbildung  des  Willens  eine  große  Gefahr.  Notwendig  ist  end- 
lich die  Hintanhaltung  vorzeitiger  geschlechtlicher   Reizungen. 

Das  sind  die  Bedingungen,  die  wir  für  die  Entwicklung  unserer  Jugend- 
lichen verlangen  müssen,  aber  immer  stärker  tritt  die  Tatsache  hervor,  daß 
geradezu  systematisch  eine  Überfülle  störender  Außenreize 
erzeugt  und  infolge  mangelnder  Einsicht  mancher  Erzieher  (Eltern)  auch 
an  die  in  der  Pubertät  Stehenden  herangebracht  wird.  Eine  riesenhafte 
Theater-  und  Literaturindustrie  verherrlicht  geradezu  in  Tausenden  von 
Schundfilms  und  Schundromanen  das  Verbrechen,  entschuldigt  die  Gewalt- 
tätigkeit, erzeugt  die  Nervenüberreizung  systematisch.  Die  Pflichttreue, 
das  Großartige  und  eigentlich  doch  ganz  ,, Demokratische",  das  im  Heeres- 
wesen und  in  der  Wehrpflicht  liegt,  werden  herabgesetzt,  lächerlich  gemacht, 
beschimpft.  Ganz  systematisch  wird  von  Interessenten,  die  jeden  Angriff 
als  einen  Eingriff  in  berechtigte  Interessen  hinstellen,  ein  Überwuchern 
gleichgültiger  oder  schädlicher  Vorstellungen,  Verflachung,  übermäßige  Zer- 
streuung herbeigeführt.  Sensationen  werden  an  Stelle  des  Denkprozesses 
erzeugt,  Athletentum  statt  Willensstärke  gepflegt,  die  Ausbildung  des  Willens 
gehemmt  oder  auf  schädliche  Ziel  Vorstellungen  gerichtet.  In  doppelter  Weise 
wird  auf  dem  Gebiete  des  Geschlechtslebens  gesündigt.  Von  manchen  Seiten 
wird  in  Ansehung  der  Gefahr  grundsätzlich  alles  auf  das  Sexuelle  Bezüg- 
liche als  bedenkUch  angesehen,  als  verboten,  schmutzig  hingestellt,  aber  das 
stete  Verbot  wirkt  schließlich  als  Demonstration  und  erhält  damit  etwas 
Aufreizendes.  Zur  erwünschten  Hinausschiebung  der  Reife  ist  die  Prüderie 
aber  sicher  viel  ungefährlicher  als  das  bewußte,  oft  geradezu  zynische  Hin- 
lenken auf  das  Gebiet  des  Sexuellen.  Die  Zweideutigkeiten  und  die  infolge 
ihres  künstlerischen  Schmisses  besonders  aufreizend  wirkenden  Darstellungen 
im  Simplicissimusstil  werden  je  länger  je  stärker  auch  in  ,, Witzblättern" 
gepflegt,  die  sich  gleichwohl  als  Familienblätter  gerieren;  in  ,, französischen" 
Schwänken  und  Lustspielen  werden  ganz  systematisch  Familienleben, 
volkserhaltende  Sitte,  eine  Summe  alter  fest  gefügter  Erfahrungen  verspottet, 


»)  S.  a.  Verf.  „Schulgesundheitspflege",  Leipzig  1912,  S.  87  u.  93/94. 


24  Das  Entwicklungsalter  und  seine   Gefahren. 

zerrüttet,  zerstört.  Die  Prostitution  gibt  ganz  öffentlich  trotz  aller  Vor- 
schriften auf  Straßen  und  Plätzen  das  schlechteste  Beispiel.  Es  scheint,  als 
ob  man  sich  der  Gefahr,  die  gerade  für  ein  in  voller  Ausbildung  begriffenes 
Nervensystem  durch  solches  Übermaß  zweckloser  und  schädlicher  Reize 
entsteht,  gar  nicht  mehr  bewußt  wird,  andernfalls  wäre  die  Gedankenlosig- 
keit, mit  welcher  Jünglingen  und  Backfischen  Lektüre  und  Theaterstücke 
der  erwähnten  Art  zugänglich  gemacht  werden,  nicht  zu  verstehen.  Ich 
glaube  nicht,  daß  es  so  weiter  gehen  darf,  sondern  daß  wir  bei  dem  unge- 
heueren Anwachsen  der  erregenden  Einflüsse  in  ganz  kurzer  Zeit  uns  ent- 
scheiden müssen,  ob  wir  die  menschlichen  Hirne  zur  Zeit  der  Ausbildung  des 
Denkprozesses  durch  eine  strenge,  logische  Erziehung  zu  dem  Erfassen  des 
"Wahren,  Guten,  Schönen  bringen  oder  eine  Übung  zulassen  wollen,  die  zur 
Verwahrlosung,  Kriminalität,  Prostitution  führt;  ob  wir  eine  körperlich 
untüchtige  Jugend  aufwachsen  lassen  wollen  oder  eine  solche,  die  durch 
Training  des  Zentralnervensystems  eine  Gewandtheit  und  Widerstandsfähig- 
keit erreicht,  die  sie  Beschwerden  überwinden  und  Gefahren  ausweichen 
läßt,  die  wir  niemals  ganz  ausschalten  können.  Die  quantitativ  übermäßig 
gesteigerten  und  qualitativ  bedenklichen  Reize  können  zweifellos  durch  eine 
verständige  körperliche  Pflege  zum  Teil  ausgeschaltet  werden ;  zum  Teil  aber 
müssen  sie  unterdrückt  werden,  und  die  Eltern  müssen  mehr  als  bisher  dem 
Pädagogen  dabei  Hilfe  leisten.  Die  staatlichen  Organe  dürfen  nicht  weiter 
dulden,  daß  mit  dem  Schlagwort  der  Kunst,  des  ,, berechtigten"  Geschäfts- 
interesses, der  Parteipolitik  oder  selbst  der  Wohltätigkeit  Produktionen  ge- 
deckt werden,  die  schlechthin  verderblich  wirken,  wenn  die  Jugend  ihnen 
nicht  entzogen  bleibt.  Es  ist  für  mich  keine  Frage,  daß  unter  diesem  Ge- 
sichtspunkt viele,  selbst  künstlerische  Darstellungen i)  die  aufdringliche 
Schaustellung  in  Schaukästen  usw.  nicht  vertragen,  die  man  heute  überall 
zuläßt.  Dem  Verdacht  der  Prüderie,  in  den  selbst  ein  Otto  von  Leixner 
bei  Besprechung  dieses  Themas  geraten  ist,  dürfte  ich  nicht  leicht  verfallen. 
Seit  5  Jahren  geben  wir  auf  meine  Veranlassung  in  Halle  mit  Zustimmung 
der  Eltern  regelmäßig  allen  abgehenden  Knaben  und  Mädchen  der  Volks- 
und Mittelschulen  Aufklärungen  über  die  Gefahren  des  Alkoholmißbrauches 
und  des  leichtfertigen  Geschlechtsverkehrs;  an  den  höheren  Lehranstalten 
werden  nicht  nur  den  Abiturienten  ähnliche  Vorträge  gehalten,  sondern  auf 
Anregung  des  Gymnasialdirektors  Prof.  Dr.  Schmidt  werden  auch  die  Sekun- 
daner über  die  Schädlichkeit  vorzeitigen  Tabak-  und  Alkoholgenusses,  der 
Masturbation  und  über  die  Gefahren  der  Prostitution  belehrt.  Ich  fand  dabei 
nicht  die  geringsten  Schwierigkeiten.  .  . 

Auch  gegenüber  den  Gefahren  des  Entwicldungsalters  ist  die  Vorbeugung 
unendhch  viel  wichtiger  und  dabei  weniger  kostspielig  als  der  Versuch,  ent- 
standene Schäden  später  auszuflicken.  Läßt  man  die  im  vorstehenden  be- 
rührten ungeheuren  Reizwirkungen  aber  gedankenlos  zu,  so  erscheint  es 
vollends  als  Unlogik  und  ein  Unfug,  auf  den  Gebieten  der  Jugenderziehung 


^)  Die  Kapitolinische  Venus,  die  von  Milo,  die  Ariadne  usw.  \isw.  sind  hier  natür- 
lich nicht  gemeint.  Aber  fast  jede  „Kunsthandlixng"  führt  die  Bettbilder  eines  be- 
kannten Zeichners  im  Schaufenster. 


Zur   Phänomenologie  und   Pädagogik;  des  Lobes.  25 

vorzugsweise  von  der  Schule  Schonung,  Erleichterungen  und  Freiheiten  zu 
fordern.  Notwendig  ist  nur  ^in  gewisser  Ausgleich.  Eine  gewisse  Strenge 
der  Erziehung  aber  ist  nichts  anderes  als  die  logische  Folgerung  aus 
physiologischen  Tatsachen. 


Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

Von  Karl  Konstantin  Prinz  von  Loewenstein-Freudenberg." 

Es  ist  eine  häufig  zu  machende  Erfahrung,  daß  die  Psychologie  gar  oft  da 
versagt,  wo  sie  in  konkreten  Dingen  eine  praktisch  verwertbare  Aufklärung 
geben  sollte.  Besonders  die  Pädagogik  interessieren  viele  Fragen,  die  über  die 
gewöhnliche  und  herkömmliche  Naturgeschichte  des  Psychischen  hinausgreifen. 
So  weist  z.  B.  der  Aufsatz  von  A.  Fischer  in  dieser  Zeitschrift  „Über  die  Faul- 
heit" auf  Problemgebiete,  die  für  den  Lehrer  das  lebendigste  Interesse  haben, 
die  aber  trotzdem  von  der  bisherigen  Psychologie  nur  geringe  Beachtung  gefunden 
haben.  Zu  diesen  etwas  vernachlässigten  Gebieten  gehört  auch  eine  Psycho- 
logie des  Lobes. 

So  sehr  das  Lob  eine  alltägliche  Sache  ist,  so  dürfte  es  doch  bei  näherem 
Zusehen  sich  als  ein  ziemlich  kompliziertes  Gebilde  herausstellen,  dessen  Be- 
trachtung insbesondere  wegen  mannigfacher  pädagogisch  wertvoller  Erkennt- 
nisse sich  als  lohnend  herausstellen  wird. 

Bei  einer  einstweiligen  oberflächlichen  Analyse  finden  wir,  daß  das  Lob  von 
mindestens  zwei  Beziehungspunkten  abhängt:  von  dem  Lobenden  und  von  dem 
Lobempfänger.  Bei  dem  echten  Selbstlob  (wenn  es  nicht  nur  Selbstzufriedenheit, 
Selbstgefallen  oder  ähnliches  ist)  finden  wir  auch  diese  Auseinanderspannung 
der  beiden  Faktoren,  zwischen  denen  das  Lob  besteht,  wenn  auch  in  ein  und 
derselben  Persönlichkeit.  ,,Ich  lobe  mich"  ist  ein  Akt,  der  von  einem  Subjekts- 
punkt in  mir  seinen  Ausgang  nimmt  und  ein  andersgestaltetes  Ich  betrifft,  das 
zwar  eine  Einheit  mit  dem  erstgenannten  Subjektspunkt  duldet,  aber  doch 
nicht  völlig  mit  ihm  identisch  ist.  Es  ist  dieser  Akt  schwer  zu  beschreiben, 
aber  doch  jedem  verständlich,  der  durch  die  Selbstbeobachtung  gelernt  hat, 
seine  seelischen  Vorgänge  zu  erkennen  und  nicht  nur  in  ihnen  zu  ,, leben". 

Das  Lob  verlangt  mindestens  zwei  Beziehungspunkte.  Dies  ist  verständlich. 
Es  können  ja  auch  mehr  als  ein  Subjekt  gelobt  werden.  A  kann  den  B,  den  C, 
den  D  usw.  loben;  und  umgekehrt  können  B  und  C  und  D  usw.  den  A  loben. 
Dabei  ist  aber  einschränkend  zu  bemerken,  daß  zwar  mehr  als  zwei  Beziehungs- 
punkte vorhanden  sein  können,  teils  als  Lobspender,  teils  als  Lobempfänger, 
daß  aber  in  einem  Gebilde  (Lob)  nur  eine  zweipolige  Auseinanderspannung  sich 
vollzieht.  Wenn  also  z.  B.  der  A  den  B  und  C  und  D  lobt,  so  lobt  er  nicht  jeden 
einzelnen  für  sich,  sondern  er  lobt  ,,sie",  etwa  eine  Gruppe,  eine  Klasse,  eine 
Riege.  Wie  A  den  B  und  den  C  und  den  D  im  einzelnen  für  sich  lobt,  ist  nicht 
mehr  das  Phänomen  eines  Lobes  gegeben,  sondern  mehrerer  Lobgebilde.  Der- 
selbe Fall  tritt  da  ein,  wo  es  sich  um  mehrere  Loberteiler  handelt.  Ein  Lob 
ist  nur  dann  vorhanden,  wenn  die  Lobspender  als  ,,wir"  in  strenger  Gruppen- 


26  Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

geschlossenlieit  loben.  In  allen  anderen  Fällen  handelt  es  sich  stets  um  gesonderte 
Lobäußerungen. 

Das  Lob  hat  nur  vollen  Sinn  zwischen  zwei  Subjektpolen.  Man  pflegt  zwar 
auch  Gegenständliches,  wie  Verordnungen,  Gesetze,  Arbeiten  usw.,  zu  loben, 
doch  geschieht  dies  immer  da,  wo  das  lobempfangende  Subjekt  mangelt,  nur  in 
uneigentlichem  Sinne.    Man  lobt  etwa  die  Wasserversorgung  einer  Stadt. 

,,Lobt"  man  sie  wirklich,  frage  ich.  Man  hält  sie  für  trefflich,  man  schätzt 
oder  bewundert  sie,  aber  man  kann  ihr  doch  sinnvollerweise  kein  Lob  spenden. 
Höchstens  könnte  man  in  versteckter  Art  zum  Ausdruck  bringen,  daß  man  die 
Projektierer,  Errichter  und  Ausgestalter  dieser  trefflichen  Wasserversorgung  lobt. 
Eine  gegenteilige  Implikation,  wie  die  in  dem  Sprichwort  vom  Sack  und  dem  Esel. 

Weiterhin  ist  zur  Konstatierung  des  echten  Lobes  ein  ,, Grund"  nötig.  Irgend- 
ein Wert  muß  dem  Gelobten  durch  das  Lob  gezeigt,  offenbart  werden.  Ein 
grundloses  Lob,  behaupte  ich,  gibt  es  nicht.  (Wohl  kann  der  Grund  des  Lobenden 
für  sein  Lob  oder  auch  der  Grund  des  Lobempfängers  ein  zweifelhafter  sein, 
ein  solcher,  der  gegenüber  einer  genauen  Prüfung  nicht  standzuhalten  vermag; 
aber  stets  ist  für  das  Lob  ein  Grund,  ein  Warum  vorhanden.)  Der  Grund  kann 
willkürlich  gewählt  sein,  aber  er  muß  ein  solcher  sein,  der  beiden  Teilen  ein- 
sichtig ist.  Ich  kann  niemand  wegen  Eigenschaften  z.  B.  loben,  deren  Vorhanden- 
sein er  selbst  nicht  kennt.  Dadurch  komme  ich  zu  einer  weiteren  Tatsache,  die 
sich  aus  der  Betrachtung  des  Lobes  erschließt.  Es  ist  nämlich  in  jedem  Lob 
die  Aufzeigung  eines  wirklichen  (oder  vermeintlichen)  Wertes  an  der  Person 
des  Lobempfängers  enthalten.  Dieser  Wert  muß,  wie  wir  sehen,  sowohl  dem 
Lobenden  wie  dem  Gelobten  ersichtlich  sein.  Es  scheint  oft,  als  könne  das  Ver- 
stehen des  Wertes  bei  dem  Lobempfänger  wegfallen.  Ein  Schüler  wird  von 
seinem  Lehrer  gelobt,  er  sagt,  er  wisse  nicht  warum,  der  Lehrer  wird  schon  einen 
Grund  haben.  In  diesem  Fall  ist  die  Wertsetzung  der  Autorität  des  Lehrers 
überlassen,  und  der  Schüler  ist  für  seine  Person  nur  der  Anlaß  zum  Lob,  das  eigent- 
liche Gelobtwerden  geschieht  hier  —  eine  schwer  zu  beschreibende  Sache  —  in 
der  Person  des  Lehrers.  Der  Schüler  legt  seine  mangelhafte  Werterkenntnis 
sozusagen  in  die  Hand  des  Lehrers  (leistet  auf  sie  Verzicht)  und  erhält  nur  die 
Vorteile  des  Lobes. 

Eine  völlig  andersartige  Sache  tritt  uns  dann  entgegen,  wenn  der  Schüler 
in  der  „Äußerung"  des  Lobes  nur  die  Zufriedenheit  des  Lehrers  sieht.  Ein 
echtes  Lob  ist  hier  nicht  vorhanden;  denn  es  fehlt  der  eine  Beziehungspunkt. 
Es  dürfte  (nebenbei  bemerkt)  eine  leider  in  den  Schulen  sehr  verbreitete  Art 
sein,  Zufriedenheit  an  Stelle  von  Lob  auszudrücken.  Eine  naheliegende  Folge 
hiervon  ist  eine  Tendenz  der  Schüler,  ihr  Verhalten  und  ihren  Fleiß  nicht  nach 
bestimmten  objektiven  Gesichtspunkten  einzurichten,  sondern  um  der  Zufrieden- 
heit des  Schuloberhauptes  willen  dieses  oder  jenes  ,,zu  Gefallen"  zu  tun.  Daß 
dieser  mehr  oder  minder  persönliche  Gesichtspunkt  nicht  zum  normgebenden 
gemacht  werden  darf,  ist  wohl  einsichtig.  Der  Wert  des  Lobes  für  Erziehung 
und  Unterricht  besteht  eben  großenteils  darin,  daß  dem  Gelobten  in  dem  Lob 
(ebenso  wie  umgekehrt  in  dem  Tadel)  besondere  Wertmaßstäbe  offensichtlich 
werden,  nach  denen  er  sein  Tun  und  Lassen  zu  regulieren  hat. 

Fassen  wir  das  vorbemerkend  Gesagte  noch  einmal  zusammen,  so  ergab  sich 
uns  das  Lob  als  ein  Gebilde,  das  zwischen  zwei  subjektmäßigen  Beziehungs- 


Zur   Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes.  27 

punkten  (dem  Lobenden  und  dem  Lobempfänger)  auf  Grund  eines  ersichtlichen 
Wertes  besteht.  Von  dieser  einstweiligen  Bestimmung  ausgehend,  wollen  wir  im 
Nachfolgenden  durch  phänomehologische  Betrachtung  tiefere  Aufschlüsse  über 
das  Wesen  und  die  Eigentümlichkeiten  des  Lobes  zu  erhalten  suchen. 

Phänomenologie  des  Lobes. 

Wir  nannten  das  Lob  ein  „Gebilde",  ohne  uns  über  die  Eigenart  dieses  Gebildes 
zu  äußern.  Für  jeden  ist  es  einsichtlich,  daß  das  Lob  mehr  ist  als  die  bloße 
mündliche  Verlautbarung  bzw.  die  schriftliche  Fixierung  der  Lobkundgabe. 
Das  ,,Lob"  ist  seinem  Wesen  nach  auch  mehr  als  die  Bedeutung  der  kund- 
gegebenen Ausdrücke.  Wohl  ,, bedeutet"  die  Lobäußerung  etwas,  und  es  gehört 
selbstverständlich  mit  zum  Wesen  des  Lobes,  daß  es  etwas,  auf  Grund  einer 
verbalen,  graphischen  oder  mimischen  Äußerung  bedeutet.  Daß  die  Äußerung 
,, kundgegeben"  sein  muß,  ergibt  sich  mit  Notwendigkeit  daraus,  daß  eine  unwill- 
kürliche Äußerung  niemals  Grundlage  eines  ,, Lobes"  bilden  kann.  Ein  Zulächeln, 
eine  beifällige  Miene  drückt  z.  B.  an  sich  noch  kein  Lob  aus.  (Terminologisch 
sei  bemerkt,  daß  wir  jede  willkürliche  bedeutungsvolle  Äußerung 
als  ,, Kundgabe"  bezeichnen.)  Doch  ist  das  Lob  mehr  als  ein  kundgegebenes 
Wort  oder  eine  Geste.  Während  kundgegebene  Worte  nur  bei  ihrer  aktuellen 
Kundgab3  (die  durch  schriftliche  Fixierung  wohl  beliebig  verlängert  werden  kann) 
leben,  verbleibt  das  Lob,  auch  wenn  die  Kundgabe  verschwunden  oder  ver- 
nichtet ist.  Das  Lob  ist  bildlich  wie  eine  Gloriole  zu  nehmen,  die  um  das  Haupt 
des  Gelobten  schwebt.  Wie  dieser  Heiligenschein  ein  materielles  (wenn  auch  sehr 
dünnes)  Gebilde  nach  der  Ansicht  der  Gläubigen  darstellt,  so  ist  das  Lob  ein 
ideelles  Gebilde.  Ein  Etwas,  das  zwar  nur  durch  seine  Komponenten  geschaffen 
wird  und  entstehen  kann,  das  sich  aber  —  einmal  entstanden  —  selbständig 
erhält.  Es  wird  im  Lobe  wie  im  Tadel  etwas  geschaffen,  das  eine  angebbare, 
wenn  auch  sehr  vage,  eigene  Wesenheit  besitzt.  Dies  erhellt  insbesondere  aus  den 
später  noch  ausführlicher  zu  besprechenden  Wirkungen  des  Lobes.  Die  Wirkungen 
des  Lobes  und  des  Tadels  sind  derartig,  daß  sie  nicht  völlig  auf  Einwirkungen 
des  Lobenden  auf  den  Gelobten  oder  auf  Wirkungserhalte  in  dem  Gelobten  reduzier- 
bar sind;  vielmehr  ist  es  bedeutsam,  daß  das  Lob  bzw.  der  Tadel,  wenn  er  die 
Stufe  der  aktuellen  Kundgabe  verlassen  hat,  noch  als  etwas  verbleibt,  das  ich 
nur  als  selbständige  Wesenheit  zu  charakterisieren  vermag.  Das  Lob  bleibt 
als  ein  Ganzes  bestehen  und  tritt  außer  in  seinen  unmittelbaren  Einwirkungen 
auf  den  Gelobten  auch  noch  in  ein  besonderes  Verhältnis  zu  ihm:  es  ist  sein 
Lob,  das  ihn  gleichsam  wie  ein  guter  Genius  umschwebt.  Ein  ähnliches  Gebilde, 
das  vielleicht  geeignet  ist,  unsere  Ansicht  von  derartigen  Gebilden  klarer  zu 
stellen,  ist  die  „Ehre".  Auch  sie  ist  etwas  an  dem  Träger,  und  doch  nicht  so  sehr 
er  selbst,  wie  es  z.  B.  seine  Bewußtseinsfunktion  ist.  Das  Psychische  erlischt, 
wenn  der  Träger  des  Psychischen,  das  Ich,  zugrunde  geht.  Ein  Toter  kann  nicht 
mehr  wollen,  denken  und  fühlen.  Aber  die  Ehre  des  Betreffenden  kann  auch  über 
sein  zeitliches  Existieren  hinaus  bestehen  bleiben.  Der  Tadel  oder  das  Lob, 
das  auf  ihm  ruht,  kann  verbleiben  als  Gebilde,  das  eben  losgelöst  von  ihrem  eigent- 
lichen B^ziehungspunkt  ein  Sonderdasein  führt.  Insbesondere  erscheint  uns  dies 
bei  der  ,,Ehre"  nicht  verwunderlich.  Die  „Ehre"  ist  gleichsam  etwas  Dingliches 
wenn  auch  nichts  materiell  —  oder  selbst  real  —  Dingliches).    Etwas  Ding- 


28  Zur  Phänomenologie  und   Pädagogik  des  Lobes. 

liches,  das  man  verletzen,  beflecken,  reinigen,  stützen  usw.  kann.  Wohl  hat  die 
Ehre  bestimmte  Voraussetzungen,  aus  denen  sie  erwächst,  aber  sie  ist  ebensowenig 
damit  zu  identifizieren  wie  die  Pflanze  mit  dem  Erdboden,  aus  dem  sie  wächst. 
So  ist  z.  B.  für  die  Ehre  eine  bestimmte  soziale  Basis  unentbehrlich.  Da,  wo 
keine  Beziehungen  sozialer  Art  vorkommen  (wenn  es  gestattet  ist,  diese  Fiktion 
zu  bilden),  da  kann  es  auch  niemals  zur  Ausbildung  einer  Ehre  kommen.  Trotz- 
dem ist  die  Ehre  etwas,  was  nicht  als  eine  pure  soziologische  Formation  wie 
z.  B.  eine  Gruppe,  ein  Verein  oder  ähnliches  aufgefaßt  werden  darf.  Ich  nenne 
die  Ehre  ein  ideelles  Gebilde  und  meine  damit  nicht,  daß  sie  ideell  im  Sinne 
von  geistig-überempirisch  ist,  daß  man  sie  etwa  den  geometrischen  Gebilden, 
für  welche  man  die  Bezeichnung  ,, ideal"  gebraucht,  nahebringen  könnte.  Nein, 
es  soll  mit  ,, ideell"  nur  zum  Ausdruck  kommen,  daß  hier  ein  Gebilde  vorliegt, 
das  nicht  materiell,  nicht  psychisch-real  ist  und  das  keine  pure  Kelation  zwischen 
diesen  Gebilden  bedeutet. 

Wenn  auch  nicht  so  scharf  wie  bei  der  Ehre,  so  doch  immer  erkennbar  ist 
die  Gebildnatur  bei  dem  Lob.  Es  ist  nichts  von  aller  Ewigkeit  her  Seiendes, 
sondern  im  menschlichen  Zusammenleben  Entstandenes,  etwas,  das  viel- 
leicht nur  sehr  kurze,  aber  immerhin  selbständige  Existenz  besitzt.  Diese  selb- 
ständige Natur  des  Lobes  ist  uns  vor  allem  das  Interessante;  ebensowenig  wie 
bei  der  Ehre  findet  man  darüber  in  der  Literatur  hinreichende  Verdeutlichungen. 
Man  sagt,  die  Ehre  lebt  in  den  zwei  Komponenten :  dem,  der  Ehre  hat,  und  dem 
oder  denjenigen,  der  oder  die  Ehre  gelben.  Damit  ist  nur  etwas  über  das 
Zustandekommen  der  Ehre  ausgesagt,  aber  nichts  über  ihr  eigenes  Wesen. 
Gerade  so  haben  wir  gesehen,  sind  für  das  Lob  zwei  Beziehungspunkte  nötig, 
die  jedoch  das  Lob  selbst  nicht  ausmachen.  Wir  müssen  also  die  einfache  Tat- 
sache anerkennen,  daß  es  ideelle  Gebilde  gibt,  die  nicht  irgendwelche  gemein- 
same Phantasmen  von  zwei  oder  mehr  Menschen  sind,  sondern  die  eine  selbstän- 
dige Existenz  führen.  Diese  Gebilde  hängen  wohl  häufig  von  der  Gnade  ihrer 
menschlichen  Schöpfer  ab,  sind  gleichsam  mit  ihrem  Atem  gefüllte  Seifenblasen, 
die  —  solange  in  Reichweite  befindlich  —  von  ihren  Urhebern  zerstört  werden 
können.  Sie  sind  aber  andererseits  wie  die  Seifenblasen  besondere  Existenzen, 
die  auch  einmal  ihren  Erzeugern  entschweben  können  und  dann  ein  freies  Dasein 
in  der  Welt  vortäuschen. 

Es  ist  ein  merkwürdiges  Faktum,  daß  die  Menschen  ein  derartiges  ideelles 
Gebilde,  wie  die  ,,Ehre",  das  ,,Lob",  den  ,, Kredit",  den  ,, Leumund"  u.  ä.  erzeugen 
können.  Gewiß  sind  sie  dabei  (die  Menschen)  in  weitem  Maße  an  sachliche 
Momente  gebunden  (ein  fundamentum  in  re  muß  immer  vorhanden  sein,  wenn 
diese  Gebilde  überhaupt  einen  Gehalt  haben  sollen);  es  bleibt  jedoch  immer 
ein  Spielraum  für  das  eigentliche  Schaffen  dieser  Gebilde  übrig.  Jemand  unter- 
gräbt die  ,,Ehre"  eines  anderen.  Auf  ihn  als  Persönlichkeit  hat  er  es  erst  in 
zweiter  Linie  abgesehen.  Die  Ehre,  dieses  ideelle  Gebilde,  soll  verändert  wer- 
den. Oder  jemand  will  das  ,,Lob",  das  einem  anderen  gehört,  vernichten.  Das 
sind  Redewendungen,  die  uns  anzeigen,  daß  diese  Gebilde  mehr  sind  als  echte 
oder  fingierte   Qualitäten,  die  an  einem  Menschen  haften. 

Beachtenswert  ist,  daß  diese  Gebilde,  so  sehr  sie  selbständig  sind,  doch  immer 
der  humanen  Basis  sowohl  zur  Erzeugung  als  auch  zur  Fortexistenz  bedürfen. 
Wenn  z.  B.  sämtliche  kommerziell  engagierten  Menschen  plötzlich  eines  gemein- 


Zvir  Phänomenologie  tmd  Pädagogik  des  Lobes.  2  9 

samen  Todes  stürben,  so  würde  mit  ihnen  der  ,, Kredit"  eines  jeden  einzelnen 
auch  zugrunde  gehen;  so  sehr  der  Kredit  etwas  von  dem  einzehien  Menschen 
und  seinem  Leben  Lostrennbäres  zu  sein  scheint.  Oder  wenn  alle  Menschen 
durch  ein  katastrophales  Ereignis  vom  Erdball  vertilgt  würden,  würde  wohl 
nicht  die  Ehre  oder  Unehre  eines  jeden  einzelnen  wie  ein  trauernder  Vogel  die 
verlassenen  Stätten  durchschweben. 

In  diesen  Gebilden  ist  immer  gewissermaßen  ein  menschlicher  Atemhauch, 
der  ständig  erneuert  sein  muß,  wenn  das  Gebilde  in  seiner  echten  Gestalt  weiter- 
leben soll.  Wir  sehen  dies  deutlich  an  den  Beispielen,  die  uns  von  der  Ehre 
oder  dem  Lob  historischer  Persönlichkeiten  sprechen.  Dieses  Lob  bzw.  diese 
Ehre  hat  als  eigentliches  Gebilde  meist  nur  mit  den  Zeitgenossen  Existenz.  Gewiß 
kann  dieses  Gebilde  in  Versteinerimg,  wie  die  Sage  oder  der  historische  Bericht 
sie  bieten,  weiterleben,  aber  ihr  eigentlichstes  Wesen  spricht  sich  in  diesen  Ver- 
steinerungen nicht  aus.  Wenn  ich  von  dem  Lobe  spreche,  das  Cicero  durch  seine 
Zeitgenossen  erfahren  hat,  so  meine  ich  damit  etwas  anderes  zu  treffen  als  die 
bloße  Wertschätzung,  die  sich  sehr  wohl  von  dem  Lobe  unterscheidet.  Das  Lob 
ist  etwas,  das  an  der  Persönlichkeit  des  historischen  Menschen,  Cicero,  in  be- 
sonderer Weise  haftet,  das  aber,  da  es  den  lebendigen  Beziehungspunkt  heutzu- 
tage verloren  hat  (oder  verloren  haben  kann)  nicht  mehr  seine  eigentliche  Exi- 
stenz innehat.  Gewiß  wird  man  einräumen  müssen,  daß  auch  heutzutage  den 
historischen  Menschen  Cicero,  gleichviel,  ob  sein  Tod  auch  Hunderte  von  Jahren 
zurückliegt,  wie  eine  Gloriole  umschweben  kann,  die  aber,  sofern  sie  ein  echtes 
Gebilde  in  unserem  Sinn  ist,  nur  von  der  jetzigen  Meinung,  die  lebende  Menschen 
von  Cicero  haben,  abhängt.  Wir  müssen  diesen  Fall  unbedingt  einräumen,  denn 
es  wäre  gar  leicht  möglich  zu  sagen,  daß  sonst  mit  dem  puren  vitalen  Vernichtet- 
werden eines  Menschen  auch  die  sich  ihm  anschließenden  Gebilde  vernichtet 
würden.  Dies  ist  nicht  der  Fall.  Wir  behaupten  ausdrücklich,  daß  zwar  diese 
Gebilde  ständig  humane  Faktoren  zu  ihrer  Auswirkung  benötigen,  daß  aber  die 
rein  vitale  Existenz  eines  solchen  Faktors  für  das  Bestehen  bzw.  Nichtbestehen 
eines  solchen  Gebildes  nicht  wesentlich  ist.  Um  das  eben  Gesagte  nochmals 
an  dem  historischen  Beispiele  klar  zu  machen,  so  kann  man  von  einem  Lobe 
Ciceros  in  zwiefacher  Beziehung  sprechen.  Einmal  kann  man  jenes  vergangene 
Lob  meinen  (jenes  versteinerte  Gebilde,  von  dem  uns  die  Historiker  berichten), 
das  dem  Cicero  durch  seine  Zeitgenossen  gegeben  war.  Dieses  Gebilde  ist  dahin. 
Sodann  kann  man  aber  auch  von  einem  zweiten  Gebilde  ,,Lob  des  Ciceros" 
sprechen,  nämlich  demjenigen,  das  durch  die  aktuelle  lobende  Meinung  dem 
Cicero,  dieser  historischen  Person,  von  unseren  Zeitgenossen  zuteil  wird.  Dieses 
letztere  Lob  ist  ein  echtes  und  sozusagen  lebendiges  Gebilde,  das  sich  nur  dadurch 
von  dem  gewöhnlich  ausgesprochenen  Lob  unterscheidet,  daß  es  sich  auf  eine 
vergangene  Persönlichkeit  richtet. 


Nachdem  wir  die  Gebildnatur  des  Lobes  hiermit  zu  verdeutlichen  versucht 
haben,  wenden  wir  uns  dem  zu,  was  wir  als  aktuelles  Lob  bezeichnen,  nebst 
den  sachlichen  Voraussetzungen  des  Lobes.  Unsere  erste  These  besagt,  daß  in 
dem  Lob  ständig  ein  Wert  zum  Ausdruck  gebracht  wird  und  zwar  ein  Wert, 
der  an  dem  Lobempfänger  haftet  resp.  durch  ihn  gesetzt  wird.  Umgekehrt 
faßt  der  Tadel  einen  Unwert,  der  an  dem  Getadelten  haftet  oder  durch  den 


30  Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

Getadelten  verwirkliclit  wird.  Eine  nähere  Bestimmung  der  Art  dieses  Wertes 
geht  dahin,  daß  er  ein  solcher  ist,  der  mit  der  freiwollenden  Persönlichkeit  des 
Lobempfängers  zusammenhängt.  Es  ist  unmöglich,  jemanden  wegen  Eigenschaften 
zu  loben,  für  die  er  —  populär  gesprochen  —  ,, nichts  kann".  Ein  echtes  Lob 
bezieht  sich  immer  auf  eine  aktuelle  oder  mindestens  vermeintliche  Setzung 
eines  Wertes  durch  den  Lobempfänger.  Dieser  Wert  ist  in  gewissem  Sinne  die 
Vorbedingung  für  jedes  Lob.  Wo  er  nicht  vorhanden  ist,  oder  wo  er  zum  wenigsten 
nicht  vermeint  wird,  ist  ein  Lob  ausgeschlossen.  Wie  wir  schon  erwähnten, 
ist  das  Moment  der  eigenen  freien  Setzung  des  Wertes  für  das  Lob  eine  Voraus- 
setzung. Es  wird  mit  dem  Lob  eben  nicht  bloß  der  Wert  des  anderen  oder  ein 
Wert  an  dem  anderen  getroffen,  sondern  das  Lob  bezieht  sich  auf  ein  tiefes 
Selbst  des  anderen,  auf  seine  freiwollende  Persönlichkeit.  Immer  da,  wo  wir 
loben,  richten  wir  uns  mit  der  Hervorkehrung  oder  der  Anerkennimg  der  Werte 
am  anderen  auf  seine  selbstwirkende  Persönlichkeit.  In  diesem  Sinne  kann  ich 
ein  Tier,  sofern  ich  es  als  vitalen  Automatismus  auffasse,  nicht  loben;  nur  dann, 
wenn  ich  ihm  irgendein  freihandelndes  Wesen  zuerkenne,  hat  es  Sinn,  ihm  gegen- 
über Lob  auszusprechen.  Das  Lob  richtet  sich  auf  die  Persönlichkeit  des  anderen, 
aber  in  dem  Lobe  als  Gebilde  steckt  keine  derartige  tiefe  Bezüglichkeit. 
Das  Lob  als  Gebilde  hängt  vielmehr  an  der  äußeren  sozialen  Figur  des 
anderen.  Es  ist  nicht  so,  als  wenn  jemand,  der  das  Lob  als  Gebild  sehen  würde, 
damit  auch  in  den  innersten  Kern  des  anderen  Menschen  eindränge.  Das  Lob 
als  Gebilde  lebt  sozusagen  vielmehr  von  der  sozialen  Atmosphäre  als  von  dem 
Wesen  der  Persönlichkeit.  Wir  müssen  also  nach  dem  Vorausgehenden  zwei 
Aspekte  wohl  unterscheiden:  erstens  das  Lob  in  seiner  psychischen  Zielung, 
das  aktuelle  Lob,  wie  es  vom  Lobspender  zum  Lobempfänger  sich  richtet; 
zweitens  das  Lob  als  Gebilde,  wie  es  an  dem  Gelobten  (dem  Lobempfänger) 
hängt.  Diese  beiden  Arten,  das  Lob  zu  betrachten,  geben  zu  manchen  Verwechs- 
lungen Anlaß.  So  gibt  es  Menschen,  die  der  Meinung  sind,  das  Lob  bestände 
eben  nur  in  dieser  Zielung  von  dem  einen  zum  anderen;  seine  selbständige 
Weiterexistenz,  das  Gebild,  sehen  sie  nicht.  Das,  was  wir  Gebild  nannten,  glau- 
ben sie  für  einen  sozialen  Reflex  dieser  psychischen  Zielimg  halten  zu  müssen, 
Dies  scheint  mir  aus  schon  früher  dargelegten  Gründen  unrichtig  zu  sein,  ins- 
besondere aber  deswegen,  weil  es  guten  Sinn  hat  zu  sagen,  das  Lob  ist  auch  ganz 
unabhängig  von  irgendwelcher  Sozietät,  die  den  Reflex  bewirken  sollte. 

Andererseits  sehen  diejenigen,  welche  behaupten,  das  Lob  ist  einzig  ein  Gebilde, 
das  durch  irgendwelche  soziale  Akte  formiert  wird,  die  Tatsachen  auch  nicht  recht. 
Denn  das  besonders  Charakteristische  an  dem  Lobe,  die  aktuelle  Schaffung 
desselben  durch  eine  psychische  Zielung,  verschließt  sich  denen,  die  in  dem  Lobe 
einzig  das  Gebild  sehen. 

Ich  sagte,  daß  in  dem  Lob  bestimmte  Werte  des  anderen  oder  an  den  anderen 
ergriffen  werden.  Zu  einer  genauen  Analyse  ist  hier  noch  eine  Ergänzimg  nötig. 
Der  Lobende  kann  bei  einem  echten  Lob  nicht  so  ohne  weiteres  Werte  fest- 
stellen, von  denen  er  annimmt,  daß  sie  durch  den  anderen  gesetzt  sind,  wenn 
nicht  auch  dieser  andere  die  Werte  in  ihrer  Eigenschaft  als  Werte 
sieht  und  kennt.  Es  muß  beim  Lobgeber  wie  beim  Lobempfänger  ein  gemein- 
samer Maßstab  für  die  Werte  vorhanden  sein,  auf  die  Bezug  genommen  wird. 
Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  verändert  sich  das  Lob  in  eine  Wertbemessung  des 


I 


Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes.  31 

anderen.  Ein  einfaches  Konstatieren,  du  hast  diese  und  diese  Werte  verwirklicht, 
macht  in  gar  keiner  Weise  ein  Lob  aus,  erst  dann,  wenn  der  Maßstab,  nach  dem 
gelobt  wird,  auch  von  dem  Gelobten  ersichtlich  geteilt  und  gebilligt  ist,  ist  die 
Grundlage  zum  echten  Lob  geschaffen.  Hier  kann  freilich  noch  ein  besonderes 
Faktum  eintreten.  Wenn  nämlich  der  Lobende  dem  Lobempfänger  gegenüber 
als  besondere  wertsetzende  oder  werterkennende  Autorität  gilt,  dann  kann  der 
Fall  eintreten,  daß  mit  dem  Lobe  für  den  Gelobten  der  bezügliche  Wertmaßstab 
ersichtlich  wird.  Die  Autorität  ersetzt  in  diesem  Falle  die  selbständige  Erkenntnis 
des  Wertes  auf  selten  des  Lobempfängers. 

Eine  weitere  Besonderheit  des  Lobes,  sofern  es  als  psychische  Zielung  betrachtet 
wird,  ist  die  Hinneigung  des  einen  Menschen  zu  dem  anderen.  Das  Lob  hat  stets 
einen  bestimmten  freundschaftlichen  Charakter,  auch  da,  wo  ein  um  vieles 
höher  gestellter  Lobgeber  einen  niedrig  gestellten  lobt,  ist  es  eine  gewisse  Herab- 
beugung,  ein  Heruntergehen  zu  dem  anderen.  Der  Gelobte  wird,  wenn  auch 
nur  in  einer  Hinsicht,  als  ein  Gleichgestellter  betrachtet.  Ohne  dieses  freund- 
schaftliche Moment  würde  das  Lob  der  eigentümlichen  Wärme  und  Zutraulich- 
keit entbehren,  die  es  doch  für  den  Gelobten  im  aktuellen  Erleben  hat.  Diese 
Basis,  die  dem  Lobe  in  der  freundschaftlichen  Gesinnimg  geschaffen  wird,  ruht 
in  tieferem  Betracht  auf  einem  Akt  des  liebenden  Sich-Zuneigens. 

Damit  kommen  wir  zu  den  Voraussetzungen,  welche  von  selten  des  Lobgebers 
vorhanden  sein  müssen,  damit  das  Lob  entsteht.  Der  Lobgeber,  wenn  er  wirklich 
lobt  und  nicht  etwa  nur  Zufriedenheit,  Billigung  oder  Anerkennung  usw.  aus- 
spricht, muß,  so  sagte  ich,  in  einer  freundschaftlichen  Gesinnung  zu  dem  Lob- 
empfänger stehen.  Diese  Gesinnung  selbst  wird  durch  einen  Akt  der  Liebe 
fundiert  (diese  Liebe  ist  natürlich  im  Sinn  eines  rein  geistigen  Aktes  verstanden 
und  hat  ihrem  Wesen  nach  mit  sexueller  Zuneigung  nichts  zu  tun).  Für  die  ak  - 
tuelle  Loberteilung  ist  die  Liebe  selbst  nicht  erforderlich  und  notwendig,  son- 
dern nur  die  durch  die  Liebe  geschaffene  Gesinnung.  Freilich  ein  der  Liebe 
entgegengesetzter  Akt,  wie  der  Haß,  macht  das  Lob  unmöglich  (nicht  die  Aner^ 
kennung,  wie  ich  bemerken  möchte),  da  er  die  Gesinnung,  aus  der  das  Lob 
erwächst,  auflöst  und  zerstört. 

Das  aktuelle  Lob,  diese  psychische  Zielung  kleidet  sich  bei  seiner  Kundgabe 
im  wesentlichen  in  zwei  Formen.  Einmal  tritt  es  auf  als  die  Konstatierung  von 
Werten  an  der  Persönlichkeit  des  Lobempfängers  (z.  B.:  ,,Du  bist  ein  fleißiger 
Knabe"):  direktes  Lob.  Sodann  als  die  Konstatierung  von  Werten,  welche 
durch  die  zu  lobende  Persönlichkeit  selbst  verwirklicht  wurden  (oder  werden). 
(Bsp.:  ,,Das  hast  du  brav  gearbeitet,  das  hast  du  schön  gemacht"  usw.):  in- 
direktes Lob.  Beide  Klassen  von  Lob  entbehren  nicht  der  Mittelstufen  und 
Übergänge;  ebenso  wie  sie  vereinigt  in  einem  ,,Lob"  vorkommen  können. 
Wir  trennen  diese  beiden  Arten  hauptsächlich  deshalb,  weil  sie  in  ihrer  Wirkung 
auf  den  Lobempfänger  sehr  verschieden  sein  können. 

Für  das  aktuelle  Lob  ist,  wie  wir  sahen,  neben  dem  Lobgeber  der  Lobempfänger 
notwendig.  Der  Lobgeber  muß  in  bestimmtem  Kontakt  mit  dem  letzteren  stehen, 
zwar  nicht,  um  die  Erzeugung  des  Lobgebildes,  sondern  um  die  psychische 
Zielung  aktualisieren  zu  können.  Dieser  Kontakt  setzt  die  beiderseitige  reale 
Existenz  voraus.  Wer  einen  Gestorbenen  lobt  und  damit  mehr  tut,  als  ein  bloßes 
Lobgebilde  in  die  Welt  setzt,  das  sich  an  die  Persönlichkeit  des  Verblichenen 


32  Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

anlehnt,  der  muß  eine  reale  Weiterexistenz  nach  dem  Tode  voraussetzen.  Nicht 
nötig  ist  es,  daß  der  betreffende  Lobempfänger  weiß,  daß  er  gelobt  wird}  auch 
in  seiner  Abwesenheit  kann  er  gelobt  werden,  nur  müsssen  (und  das  ist  wichtig) 
Abnehmer  für  das  Lob  dasein,  Zeugen,  die  an  seiner  statt  das  Lob  auffassen.  Ob 
das  Lob  hinterbracht  wird  oder  nicht,  bleibt  gleichgültig.  Das  Lob  muß 
nur  den  existierenden  Lobempfänger  treffen  können.  Der  Gläubige  kann  Gott, 
die  Heiligen  oder  sonstige  Venerabilia  ,, loben",  da  er  als  gläubig  der  Überzeugung 
lebt,   daß   Gott  oder  die  Heiligen  sein  Lob  vernehmen. 

Ganz  unabhängig  ist  das  Lob  als  Gebilde  und  als  psychische  Zielung  von  der 
Wirkung,  die  es  auf  den  Lobempfänger  ausübt.  Seinem  Wesen  nach  ist  das  Lob 
nicht  dieser  Wirkung  wegen  da,  sondern  das  aktuelle  Lob  ist  eine  freie  Meinungs- 
kundgabe über  Werte  mit  einer  besonderen  Zielung  auf  die  andere  Persönlichkeit. 
Von  dem  eventuellen  Einfluß,  den  es  auf  den  anderen  hat,  braucht  eine  Phäno- 
menologie des  Lobes  nichts  zu  erwähnen.  Dies  resultiert  schon  aus  dem  Umstand, 
daß  gar  oft  gelobt  wird,  ohne  daß  eine  bestimmte  Wirkung  bei  dem  anderen, 
dem  Gelobten,  vorausgesetzt  wird  (wenn  ich  z.  B.  den  Landesfürsten  lobe, 
ohne  gerade  auf  ein  Gnadengehalt  zu  spekulieren,  oder  wenn  ich  Gott  lobe). 
Des  weiteren  kann  man  auch  nicht  von  allgemeinen  Folgen,  die  aus  dem  Ijobe 
entspringen,  reden,  denn  das  Lob  wird  stets  von  Fall  zu  Fall  verschiedene  Wir- 
kungen je  nach  der  Art  des  lobempfangenden  Individuums  haben.  Den  einen 
wird  das  Lob  angreifen,  den  anderen  wird  es  kalt  lassen ;  der  eine  wird  durch  das 
Lob  innerlich  gehoben  werden,  der  andere  (ein  Negativist  z.  B.)  wird  sich  durch 
das  Lob  gedrückt  fühlen.  Nicht  nur  das  Mitleid,  wie  Nietzsche  sagt,  sondern 
auch  das  Lob  kann  gegen  die  Scham  sein. 

Wenn  ich  trotzdem  versuche,  hier  einige  Wirkungen  des  Lobes  anzugeben, 
so  geschieht  dies  einzig  wegen  der  pädagogischen  Bedeutung  des  Lobes,  Das  Lob 
ist  ein  mächtiges  Erziehungsmittel,  das  wird  jeder  zugestehen,  insbesondere 
derjenige,  welcher  sich  beruflich  mit  Erziehung  und  Unterricht  abzugeben 
hat.  Wenn  es  auch  nicht  im  eigentlichen  Sinne  des  Lobes  liegt,  Wirkungen  auf 
den  Gelobten  auszuüben,  so  ist  es  doch  von  eminenter  praktischer  Bedeutung 
auf  Grund  der  Wirkungen,  die  es  tatsächlich  ausübt.  Daß  diese  Wirkungen 
nicht  eindeutig  sind  (oder  zum  mindesten  bei  dem  jetzigen  Stande  der  Unter- 
suchungen nicht  eindeutig  erhellbar),  kompliziert  sowohl  die  Erörterungen  über 
die  Wirkung  des  Lobes  als  auch  die  faktische  richtige  Anwendung  desselben. 
Die  nachfolgenden  Erörterungen  über  die  Wirkung  des  Lobes  bitte  ich  also  nach 
dem  eben  Gesagten  nur  als  approximative  Regeln,  aber  nicht  als  feststehende 
"Gesetzmäßigkeiten  zu  verstehen. 

Normalerweise  glaube  ich  drei  hauptsächlichste  Wirkungen  des  Lobes  fest- 
stellen zu  können.  Diese  Wirkungen  teile  ich  nach  Gesichtspunkten  ein,  die  mir 
die  Analyse  des  Lobes  selbst  an  die  Hand  gibt.  Wir  fanden,  daß  das  Lob  auf 
Werte  Bezug  nimmt ;  wir  fanden  weiter,  daß  es  sich  auf  das  Selbst  einer  anderen 
Persönlichkeit  bezieht,  und  schließlich,  daß  es  aus  einer  freimdschaftlichen 
Gesinnung  entspringt.  Diese  drei  Momente  werden  ims  bei  dem  Nachfolgenden 
hauptsächlich  leiten. 

In  dem  Lob  wird  der  Gelobte  auf  Werte  hingewiesen,  die  ihm  teils 
bekannt  sind,  die  er  teils  durch  die  werterkennende  Autorität  des  Lobgebers 
Tiacherkennt.   In  allen  diesen  Fällen  ist  das  Lob  ein  Mittel,  um  in  dem  Gelobten 


Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes.  33 

die  Richtung  auf  diese  Werte  zu.  fixieren.  Wenn  der  Lobempfänger  z.  B,  nur  eine 
vage  Erkenntnis  der  Werte  hat,  so  wird  das  Lob  diese  Erkenntnis  der  Werte 
befestigen  und  insbesondere  seifie,  des  Lobempfängers,  Stellungnahme  zu  den 
Werten  stabilisieren.  Hat  jemand  ein  bestimmtes  Verhalten  als  gut  eingesehen 
imd  wird  eben  dieses  Verhalten  ihm  auch  von  anderer  Seite  (durch  das  Lob 
nämlich)  als  gut  bestätigt,  so  ist  es  eine  psychologische  Erfahrungstatsache, 
daß  die  Hinneigung  zu  diesem  als  gut  erkannten  Verhalten  eine  größere  ist,  als 
wenn  der  Betreffende  mit  seiner  Erkenntnis  allein  steht.  An  dieser  Stelle  könnte 
man  noch  die  verschiedensten  Beispiele,  in  welcher  Weise  für  den  Gelobten 
die  Werte  wirksam  werden,  anführen,  doch  würde  hierdurch  der  prinzipiellen 
Tatsache,  die  wir  eben  konstatierten,  keine  weitere  hinzugefügt. 

Eine  zweite  Wirknmg  des  Lobes  besteht  darin,  daß  sie  das  Selbstgefühl  des 
Grelobten  erhöht  und  vermehrt.  Das  Lob  —  als  psychische  Zielung  —  geht  auf 
das  Selbst  des  anderen  und  sieht  es  als  ein  wertvolles.  Dieser  Umstand  bedingt 
es,  daß  eine  Steigerung  des  Selbstgefühls  eintritt.  Das  gelobte  Individuum 
erscheint  sich  als  ein  würdigeres,  als  ein  fähigeres,  überhaupt  als  ein  höheres 
nach  dem  Lobe  als  vor  ihm.  Dies  ist  eine  bekannte  Tatsache  und  bedarf  keiner 
näheren  Erörterung. 

Wenn  ich  bei  den  Wirkungen  des  Lobes  hauptsächlich  diejenigen  ins  Auge 
fasse,  welche  durch  die  psychische  Zielung  entstehen,  so  muß  ich  an  dieser  Stelle 
auch  derjenigen  gedenken,  welche  durch  das  Lob  als  Gebilde  erzeugt  werden. 
Nicht  nur  das  aktuelle  Lob  erhöht  und  vermehrt  das  Selbstgefühl,  sondern 
auch  dieses  eigentümliche  Gebilde,  was  wir  im  Anfang  dieser  Abhandlung  zu 
charakterisieren  versuchten.  Ja,  es  scheint,  daß  gerade  dieses  Gebilde  etwas 
an  sich  hat,  was  rückwirkend  seinen  Träger  beeinflußt.  Der  Träger  des  Lob- 
gebildes fühlt  sich  von  dem  Lobe  umgeben,  er  spiegelt  sich  in  dem  Lobe,  er 
zieht  quasi  aus  dem  Lobe  geistige  Nahrung.  (Diese  Wirkung  des  Lobes  hat  ins- 
besondere Carl  Lambek^)  in  seinem  Buche  ,,Zur  Harmonie  der  Seele",  Abschnitt 
vom  Lobe,  im  Auge,  wenn  er  sagt,  das  Lob  sei  eine  Art  konzentriertester  Nahrung, 
die  wir  dem  anderen  eingeben.)  Gerade  die  Nachhaltigkeit,  welche  man  oft 
in  der  Wirkung  des  Lobes  verspürt,  läßt  sich  nur  auf  Grund  dieses  Lobgebildes 
erklären.  Der  pure  Eindruck,  der  Einfluß  des  aktuellen  Lobes,  ja  selbst  die 
Erinnerung  daran,  ist  längst  geschwunden,  und  trotzdem  ist  etwas  da,  was  das 
Individuum  erhebt,  was  es  stolz  und  erhaben  macht. 

Eine  dritte  Wirkung  des  Lobes  besteht  in  der  Kenntnisnahme  der  freund- 
schaftlichen Gesinnung  des  anderen.  Der  Gelobte  wird  durch  das  Lob  dieser 
Gesinnung  versichert.  Nun  ist  es  eine  allgemeine  Erscheinung,  daß  die  guten, 
die  freundlichen  Gesinnungen,  die  die  Menschen  uns  gegenüber  haben,  für  uns 
selbst  und  unseren  psychischen  Zustand  förderlich  und  nützlich  sind.  Der  Mensch, 
der  sich  von  rachsüchtigen,  mißtrauischen,  ihn  beargwöhnenden  Gesinnungen 
umgeben  wähnt,  dieser  Mensch  wird  in  den  meisten  Fällen  kein  ruhiges,  fried- 
liches und  sicheres  Dasein  führen.  Das  Feindliche  der  Gesinnungen  wird  auf  seinen 
seelischen  Habitus  schädigend  einwirken,  und  ebenso  werden  im  Gegenteil  dazu 
gute    Gesinnungen    einen  angenehmen  seelischen  Habitus  bei  dem  Menschen 


^)  C.  Lambek:    Zur  Harmonie   der   Seole.     Aus  dem  Dänischen    übersetzt^  von 
Elisabeth  Dauthendey.     (Jena  1907.    E.  Diederichs.)  i,-?^; 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  3 


34  Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

erzeugen.  Nun  gibt  es  viele  Wege,  die  Gesinnungen  anderer  Menschen  zu  fassen, 
viele  sind  umständlich  und  nur  indirekt  zum  Ziele  führend.  Wir  können  z.  B. 
die  Gesinnungen  anderer  Menschen  daran  studieren,  wie  sie  sich  einer  Auffor- 
derung von  unserer  Saite  gegenüber  verhalten,  oder  wir  werden  aus  ihren  Mienen 
und  Gasten,  aus  dem  Ton  ihrer  Rede  zu  entnehmen  suchen,  wie  sie  sich  innerlich 
zu  uns  stellen.  Aber  jedermann  kennt  die  vielen  Täuschungsquellen,  die  uns  die 
Gesinnung  unserer  Mitmenschen  verdunkeln.  Nur  selten  erleben  wir  eine  echte 
spontane  Gesinnungskundgabe  des  anderen.  Eine  solche  liegt  aber  stets  in  dem 
Lobe  vor.  Ja,  wir  haben  insbesondere  auch  bei  dem  Lobe  noch  ein  Kriterium 
für  die  Echtheit  dieser  Gesinnung.  Das  falsche  Lob,  das  jemand  erteilt,  bloß 
der  Schmeichelei  halber,  das  keine  echte  Gesinnung  zu  verraten  braucht,  das 
falsche  Lob  ist  in  den  meisten  Fällen  von  dem  Lobempfänger  selbst  zu  durch- 
schauen. Die  Werte,  die  durch  dieses  Lob  enthüllt  werden,  sind  meistens  solche, 
an  denen  der  Gelobte  nur  wenig  oder  gar  kein  Teil  hat,  die  ihm  eben  nur  un- 
berechtigter weise  attribuiert  werden.  Das  echte  Lob  dagegen  wird  sehr  selten 
gespendet  werden,  wenn  der  Lobende  nicht  in  freundschaftlicher  Gesinnung 
zu  dem  Gelobten  steht.  Ja,  ich  halte  es  sogar  prinzipiell  für  ausgeschlossen, 
daß  ohne  freundschaftliche  Gesinnung  ein  echtes  Lob  zustande  kommt.  Man 
kann  wohl  Anerkennung  aussprechen,  seine  Billigung  für  etwas  ausdrücken, 
aber  loben  kann  man  denjenigen  nicht,  dem  man  indifferent  oder  feindlich 
gegenübersteht.  Wenn  sich  auch  oft  die  Anerkennung  in  der  Form  eines  Lobes 
gibt,  so  ist  doch  für  den  feinfühligen  Menschen  in  dem  Lobe  eine  gewisse  Tinktion 
enthalten,  die  es  von  der  Anerkennung  unterscheiden  läßt. 

Verwandte  Erscheinungen. 

E?  erübrigt  sich  uns,  noch  auf  Erscheinungen  hinzuweisen,  die  dem  Lobe  ähnlich 
oder  verwandt  sind.  Gar  oft  scheint  etwas  als  Lob  sich  zu  geben,  was  in  Wirklich- 
keit nur  etwas  Ähaliches,  oft  aber  sogar  nur  etwas  ganz  äußerlich  dem  Lobe 
Nahestehendes  ist.  Wir  haben  im  Laufe  unserer  Untersuchung  schon  verschiede- 
nes derartige  kennen  gelernt,  z.  B.  das  Anerkennen,  die  Billigung,  die  Zu- 
friedenheit. Wir  wollen  hier  noch  die  hauptsächlichsten  Arten  dieser  dem  Lobe 
nahekommenden  Erscheinungen  feststellen. 

Das  Preisen,  Schätzen,  Werten  hat  insofern  mit  dem  Lobe  Verwandtschaft, 
als  es  auch  auf  Werte  geht,  Werte  feststellt,  unterscheidet  sich  aber  von  dem  Lobe 
dadurch,  daß  es  keine  ausschließliche  Beziehung  auf  Persönlichkeiten  als  Wert- 
träger hat.  Wir  preisen,  schätzen  dieses  und  jenes,  und  es  erscheint  als  eine 
ganz  nebensächliche  Sache  (für  das  Wesen  des  Schätzens,  Preisens),  wenn  wir 
eine  Persönlichkeit  im  Auge  haben. 

Viel  näher  scheint  dem  Lob  die  Anerkennung  zu  stehen.  Hier  ist  auch  (wenigstens 
gewöhnlich)  die  Richtung  auf  eine  Persönlichkeit  mitgegeben.  Irgend  jemand 
wird  anerkannt,  oder  das  Verdienst,  die  guten  Taten  von  irgend  jemand  werden  an- 
erkannt. Die  Anerkennung  hat  auch  mit  dem  Lobe  gemeinsam,  daß  sie  wertgemäß 
ist.  Aber  die  Anerkennung  ist  sozusagen  ein  kühleres  Verhalten  als  das  Lob. 
In  der  Anerkennung  ist  nicht  wesentlich  jene  freundschaftliche,  liebenswürdige 
Gesinnung,  die  für  das  Lob  Voraussetzung  ist.  Anerkennen  kann  man  auch  den- 
jenigen, dem  man  in  größter  Feindschaft  gegenübersteht. 

Die  Zufriedenheit  wird  oft  gleichbedeutend  als  Lob  gebraucht.    Doch  sahen 


Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes.  35 

wir  gleich  zu.  Anfang,  daß  in  der  Zufriedenheit  nicht  jene  Beziehung  auf  den  Träger 
der  Werte  besteht  wie  im  Lobe.  Zufriedenheit  ist  der  Ausdruck  eines  mehr 
egozentrischen  Tatbestandes.  "Irgend  jemand  wird  zufriedengestellt  und  gibt 
daan  eventuell  seiner  Zufriedenheit  Ausdruck.  Die  Beziehung  auf  denjenigen, 
welcher  diese  Zufriedenheit  veranlaßt  hat,  ist  gar  nicht  nötig.  Freilich  tritt 
oft  die  Zufriedenheit  in  einer  gewissen  VerbiDdimg  mit  dem  Lobe  auf,  so  daß 
ihre  Unterscheidung  schwer  wird.  Immer  dann,  wenn  man  sagen  kann:  „Ich 
lobe  dich,  weil  ich  zufrieden  bin".  Für  ein  echtes  Lob  allerdings  ist  diese  Be- 
gründung (das  Zufriedengestelltsein)  nicht  hinreichend,  sondern  es  ist  außerdem 
noch  nötig,  die  Werte  anzuzeigen,  welche  die  Zufriedenstellung  bewirkt  haben. 
Ein  wahres  Lob  muß,  wie  wir  sagen,  immer  auf  einen  objektiven  Wertmaßstab 
aufgebaut  sein  mid  kann  nicht  durch  das  pure  Zufriedenstellen  irgendeines 
Subjektes  seine  genügende  Begründung  finden. 

Der  Beifall,  den  ich  jemandem  spende,  braucht  auch  seinem  Wesen  nach  kein 
Lob  zu  sein.  Selbst  wenn  ich  den  Beifall  mit  einer  Anerkennmigsäußerung 
verbinde,  so  bleibt  er  immer  noch  eine  pure  Kundgabe,  sei  es  meiner  Freude 
oder  meiner  Zufriedenheit,  er  wird  aber  nur  dann  zum  Lob,  wenn  jene  Faktoren 
hinzutreten,  welche  wir  in  unserer  vorausgehenden  Analyse  als  für  das  Lob 
notwendig  gefunden  haben.  Der  Beifall  kann  also  sich  mit  dem  Lobe  verbinden, 
er  braucht  aber  nicht  seinem  Wesen  nach  dem  Lobe  zugerechnet  zu  werden. 
Das  ursprünglichste  Faktum  des  Beifalls  ist  die  Kundgabe  meiner  Freude  und 
Billigung  angesichts  von  Werten,  die  durch  einen  anderen  verwirklicht  sind. 
Auch  das  Kompliment  rangiert  ganz  in  der  Nähe  des  Beifalls,  insbesondere 
bezieht  sich  das,  was  man  gesellschaftlich  ,, Kompliment"  nennt,  nicht  auf 
Werte,  die  selbsttätig  durch  ein  Individuum  verwirklicht  werden,  sondern 
mehr  auf  solche  Werte,  die  durch  Natur  oder  zufällige  Bedingtheit  an  dem 
anderen  sind. 

Eine  letzte  Art  von  Erscheinungen,  die  dem  Lobe  nahestehen,  glaube  ich 
in  der  Belobigung  und  der  Ermunterung  zu  finden.  Die  Belobigung  kann 
natürlich  ein  echtes  Lob  enthalten,  dann  interessiert  sie  uns  aber  hier  nicht. 
Wir  meinen  unter  Belobigung  diejenige  Erscheinung,  welche  die  Gestalt  des 
echten  Lobes  anzunehmen  bestrebt  ist,  die  aber  ihrem  Wesen  nach  ganz  anders 
gerichtet  ist.  Die  Belobigung  ist  quasi  ein  Bonbon,  das  ich  jemand  für  irgend 
etwas  (z.  B.  für  seine  Freundlichkeit  oder  für  seinen  Fleiß  usw.)  gebe.  Die  Be- 
lobigung bemüht  sich  nicht,  die  Werte  zu  sehen  und  zu  entdecken,  sondern  sie 
hat  vielmehr  den  Charakter  einer  Entlohnung.  Das  Fleißbillett  insbesondere 
erscheint  mir  als  ein  solches  Symptom  der  Belobigung.  Die  Belobigung  wird 
auch  vielfach  nur  als  Mittel  zu  irgendwelchen  erzieherischen  Zwecken  ange- 
wendet und  steht  dann  der  Ermunterung  nahe.  Die  Ermunterung  will  vor  allem 
etwas,  sie  will,  daß  der  Ermunterte  etwas  leiste,  es  leichter  tue,  Mut  zu  sich 
selbst  fasse  usw.  Um  dies  zu  erreichen,  gebraucht  die  Ermunterung  oft  ebenso 
wie  die  Belobigung  die  Form  des  Lobes.  Es  liegt  jedoch  wohl  in  den  seltensten 
Fällen  bei  der  Ermimterung  ein  echtes  Lob  vor,  meist  wird  die  Ermunterung  ganz 
wahllos,  ob  die  betreffenden  Werte,  welche  dem  ermunterten  Individuum  zu- 
geschrieben werden,  bestehen  oder  nicht,  verwendet.  Während  das  Lob  von  dem 
Gelobten  nichts  will,  ihn  quasi  in  Ruhe  läßt,  soll  die  Ermunterung  etwas  bei 
ihm  bewirken  und  ausrichten.    Einen  Unterschied  zwischen  Belobigung  und 

3* 


36  Zur  Phänomenologie  und  Pädagogik  des  Lobes. 

Ermunterung  sehe  ich  darin,  daß  die  Belobigung  der  äußeren  Form  des  Lobes 
sich  näherstellt  als  die  Ermunterung. 

Zur  pädagogischen  Verwendung  des  Lobes. 

Wie  ich  schon  erwähnte,  hat  das  Lob  für  die  Pädagogik  große  Bedeutung. 
Das  Lob  ist  ein  vortreffliches  Erziehungsmittel,  was  für  jeden  deutlich  werden 
wird,  der  sich  unseren  Abschnitt  über  die  Wirkungen  des  Lobes  vergegenwärtigt. 
Wir  wollen  hier  zum  Schluß  nicht  nochmals  das  früher  Gesagte  wiederholen,  son- 
dern versuchen,  bestimmte  Regeln  anzugeben,  nach  welchen  in  der  Pädagogik 
das  Lob  verwendet  werden  soll.  Diese  Regeln  ergeben  sich  aus  Überlegungen, 
wie  sie  imsere  Analyse  des  Lobes  mit  sich  brachten.  Vor  allem  ist  daran  fest- 
zuhalten, daß  man  mit  dem  Lobe  der  jugendlichen  Psyche  gegenüber  einen 
gewaltigen  Hebel  in  der  Hand  hat.  Derjenige,  welcher  dieses  Instrument  besitzt 
imd  es  nicht  verwendet,  scheint  zweckwidrig  zu  handeln.  Lehrer  und  Erzieher, 
welche  aus  prinzipieller  Abneigung  gegen  das  Lob  so  sparsam  wie  möglich  es 
verwenden,  dürften  wohl  nicht  richtig  handeln.  Insbesondere  sollte  das  echte 
Lob,  d.  h.  dasjenige,  in  dem  sich  alle  die  Faktoren  finden,  die  wir  im  Vorangehen- 
den genannt  haben,  häufiger  angewendet  werden,  als  es  im  Durchschnitt  üblich 
ist.  Die  Ermunterung  und  die  Belobigung  als  pure  Äußerlichkeiten  sollten 
zurücktreten.  ;?     ''.• 

Mit  diesem  ist  auch  gesagt,  daß  nur  da  gelobt  werden  soll,  wo  Grund  für  das 
Lob  vorhanden  ist,  d.  h.  wo  die  durch  das  Individuum  selbsttätig  gesetzten  Werte 
wirklich  bestehen.  Das  grundlose  Lob,  das  jemandem  Werte  zudichtet,  die  gar 
nicht  vorhanden  sind  (wie  es  z.  B.  auch  Carl  Lambek  in  seinem  eben  erwähnten 
Buche  „Zur  Harmonie  der  Seele"  empfiehlt),  halte  ich  für  sehr  gefährlich.  Wenn 
der  Lobempfänger  merkt,  daß  das  ihm  erteilte  Lob  nicht  auf  Grund  von  be- 
stehenden Werten  gegeben  wird,  so  wird  ihn  gar  bald  das  Lob  des  Lobgebers 
völlig  gleichgültig  lassen.  Ja,  der  Lobspender  selbst  wird  in  den  Verdacht  kommen, 
rmi  die  Sachen  nicht  richtig  Bescheid  zu  wissen  und  des  weiteren  leicht  zu  einem 
Objekt  des  Beschwindeins  gemacht  werden.  Demgegenüber  ist  als  Vorbeuge- 
mittel anzuempfehlen,  vor  allem  bei  dem  Lobe  höchste  Klarheit  walten  zu  lassen, 
genau  anzugeben,  warum  man  lobt  und  weshalb  diesem  einzelnen  das  Lob 
zukommt. 

Es  ist  darauf  zu  achten,  den  Würdigen  zu  loben.  Nicht  immer  empfiehlt 
es  sich,  die  Leistung  in  den  Vordergrund  zu  stellen,  als  wenn  an  ihr  alles  läge,imd 
durch  die  Leistung  hindurch  zu  loben  (indirektes  Lob).  Die  Leistung  ist  gar  oft 
von  nebensächlichen  Umständen  mitbeeinflußt,  oft  sogar  durch  Umstände 
mitbedingt,  welche  sich  dem  Lobspender  entziehen.  Der  Takt  des  Lehrers 
hat  es  zur  Aufgabe,  den  Würdigen  zu  finden  und  ihn  zu  loben,  auch  wenn  seine 
Leistung  nicht  immer  das  höchste  Maß  seiner  Fähigkeiten  ausdrückt.  Das  direkte 
Lob  ist  nur  da  zu  vermeiden,  wo  es  sich  um  notorisch  eitle  und  selbstgefällige 
Individuen  handelt.  Hier  ist  das  direkte  Lob  nicht  am  Platze,  da  es  einer  un- 
gesunden Erweiterung  des  Selbstgefühls  Vorschub  leistet. 

Das  Lob  selbst,  der  lobende  Akt,  soll,  wenn  das  Lob  eindrucksvoll  wirken  soll, 
mit  einer  gewissen  Feierlichkeit  und  Würde  ausgesprochen  werden.  Man 
kann  das  Lob,  die  eigene  lobende  Äußerung  erhöhen  oder  abschwächen,  je  nach 
dem  man  es  in  eine  würdigere  oder  weniger  würdige  Form  kleidet.  Es  empfiehlt 


Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen  Vorführungen.        37 

sich,  für  das  Lob  in  der  Schule  besonders  nur  eine  angemessene  Kundgabe 
desselben,  da  sonst  der  Lobspender  durch  ein  zu  billig  hingeworfenes  Lob  sich 
selbst  herabsetzt.    Man  muß  sein  eigenes  Lob  in  Wert  halten. 


Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen 

Vorführungen. 

Von  Albert  Hellwig. 

Man  hat  in  den  letzten  Jahren  verschiedentlich  mit  Nachdruck  auf  die  hohe 
Suggestivkraft  kinematographischer  Vorführungen  hingewiesen^)  und  aus  ihr 
die  Folgerung  gezogen,  daß  einerseits  den  Vorführungen  gemeingefährlicher 
Schundfilms  energisch  mit  allen  zu  Gebote  stehenden  Repressivmaßregeln  zu 
Leibe  gegangen  werden  müsse  ^)  (insbesondere  auch  den  kriminellen  Schundfilms), 
daß  andererseits  aber  auch  die  Anschaulichkeit  kinematographischer  Vorfüh- 
rungen weit  mehr  als  bisher  systematisch  im  Dienste  des  Schulunterrichts  und 
der  Volksbildung  ausgenutzt  werden  müsse.^) 

In  außerordentlich  interessanter  Weise  werden  diese  Darlegungen  durch  Be- 
obachtungen gestützt,  welche  ein  italienischer  Gelehrter*)  vor  einiger  Zeit 
veröffentlicht  hat.  Da  es  sich  um  eine  Abhandlung  handelt,  die  den  wenigsten 
in  Deutschland  zugänglich  ist,  wird  es  nicht  unerwünscht  sein,  wenn  ich  im 
folgenden  ein   Referat   über  seine  wesentlichsten  Ausführungen  gebe. 

An  sich  und  gelegentlich  auch  an  anderen  hat  Ponzo  bei  dem  Besuche  kine- 
matographischer Vorführungen  folgende  Beobachtungen  gemacht.  Er  fand, 
daß  Sinneseindrücke  infolge  der  gleichzeitigen  Einwirkung  der  kinematographi- 
schen Vorführungen  derart  umgedeutet  wurden,  daß  sie  sich  den  Vorgängen 
in  dem  bewegten  Bilde  anschlössen;  ja,  er  konnte  sogar  feststellen,  daß  mitunter, 
ohne  daß  ein  äußerer  Sinneseindruck  stattfindet,  in  dem  Zuschauer  Eindrücke 
hervorgerufen  werden,  welche  die  Vorgänge,  die  kinematographisch  vorgeführt 
werden,  ergänzen. 


1)  Vgl.  Hellwig,  „Die  Schundfilms.  Ihr  Wesen,  ihre  Gefahren  und  ihre  Be- 
kämpfung" (Halle  a.  S.  1911);  Sellmann,  „Der  Kinematograph  als  Volkserzieher  ?" 
(Langensalza  1912);  Gaupp  und  Lange,  „Der  Kinematograph  als  Volksunter- 
haltungsmittol"  (Flugschrift  des  Dürerbundes) ;  Götze,  „Jugendpsyche  und  Kine- 
matograph" (Zeitschrift  für  Kinderforschung  1911,  S.  416/24);  Hellwig,  ,,Die  Be- 
ziehungen zwischen  Schundliteratur,  Schundfilms  und  Verbrechen.  Das  Ergebnis 
einer  Umfrage"  (Archiv  für  Kriminalanthropologie,  Bd.  61,  S.  1 — 32). 

')  Hellwig,  ,,ö  ff  entliches  Kinematographenrecht"  (Preuß.  Verwaltungsblatt, 
Bd.  33,  S.  199 — 204);  ,, Rechtsquellen  des  öffentlichen  Kinematographenrechts" 
(München- Gladbach  1913),  Einleitung;  „Die  Reichsfilmzensur.  Eine  dogmatische 
und  rechtspolitische  Untersuchung"  (Berlin  1914). 

•)  Ernst  Schultze,  „Der  Kinematograph  als  Bildungsmittel"  (Halle  a.  S.  1911), 
sowie  zahlreiche  Aufsätze  der  Zeitschriften  „Bild  und  Film"  (München- Gladbach) 
und  „Film  und  Lichtbild"  (Stuttgart), 

*)  Ponzo,  ,,Di  alcune  osservazioni  psicologiche  fatte  dvurante  rappresentazioni 
cinematograficho"  (Atti  doUa  R.  Academia  delle  Scienze  di  Torino,  vol.  46).  Der  Verf. 
hat  mir  liebenswürdigerweise  einen  Sonderabdruck  übersandt. 


38       Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen  Vorführungen. 

Was  zunächst  die  Illusionen  anbetrifft,  welche  durch  äußere  Anreize  ver- 
anlaßt werden,  so  ist  es  z.  B.  nicht  ungewöhnlich,  daß  man  beim  Erblicken 
eines  Wasserfalles,  von  sich  bewegenden  Maschinen,  eines  fahrenden  Wagens 
usw.,  gleichzeitig  auch  die  entsprechenden  Geräusche  zu  hören  glaubt.  Da  man 
im  täglichen  Leben  gewöhnt  ist,  in  derartigen  Fällen  solche  Geräusche  zu  hören, 
treten  beim  Erblicken  des  kinematographischen  Bildes  unwillkürlich  auch  die 
Gehörsempfindungen  auf  und  verstärken  dadurch  ganz  wesentlich  die  Illusion. 
Nicht  selten  ist  die  Suggestivkraft  der  kinematographischen  Vorführung,  die 
Vortäuschung  des  wirklichen  Lebens,  so  stark,  daß  wir  momentan  bei  uns  den 
Drang  verspüren,  Beifall  zu  klatschen,  indem  wir  für  einen  Augenblick  ganz 
vergessen,  daß  nicht  Menschen  von  Fleisch  und  Blut  vor  uns  auftreten,  sondern 
daß  wir  nur  das  Bild  eines  Vorganges  sehen. 

Die  erwähnten  Halluzinationen  können  natürlich  nicht  den  gleich  starken 
und  klaren  Eindruck  machen  wie  die  Illusionen,  welche  in  äußeren  Vorgängen 
ihren  Anlaß  haben.  Sehr  häufig  sind  insbesondere  Verquickungen  zwischen 
den  im  Zuschauerraum  hörbaren  Geräuschen  und  den  Vorgängen  auf  dem  Film. 
Wir  haben  dabei  nicht  selten  die  Illusion,  daß  ein  bestimmtes  Geräusch,  welches 
an  imser  Ohr  dringt,  aus  derEichtung  herkomme,  in  die  das  lebende  Bild  projiziert 
wird,  während  der  Schall  in  Wirklichkeit  aus  einer  ganz  anderen  Richtung  her- 
kommt. Es  geschieht  beispielsweise  häufig,  daß  wir  irgendeinen  Ton  der  be- 
gleitenden Musik  unwillkürlich  mit  den  Vorgängen  auf  dem  Film  in  eine  Verbin- 
dung bringen,  daß  wir  die  Empfindung  haben,  der  Ton  komme  aus  der  gleichen 
Richtung  wie  die  Lichtwellen,  und  daß  wir  ihn  unbewußt  entsprechend  hindeuten. 
So  erzählt  uns  Ponzo,  daß  er  bei  der  Vorführung  eines  Bildes  aus  Birma,  auf 
welchem  zwei  Burschen  mit  Stöcken  auf  Glocken  einer  Pagode  schlugen,  zu 
seiner  Überraschung  bei  jedem  Schlag  zwar  nicht  den  Glockenton,  wohl  aber 
das  eigentümliche  Geräusch  gehört  habe,  welches  einem  Stockhiebe  gewöhnlich 
nachfolge;  als  er  versucht  habe,  diese  Illusion  aufzuklären,  habe  er  kon- 
statieren können,  daß  diese  Illusion  bewirkt  war  durch  eine  Assoziation  des 
Gesichtseindruckes  mit  einigen  tiefen  Noten  der  Streichinstrumente  des 
Orchesters. 

Ein  anderes  Beispiel,  wie  leicht  gewisse  Geräusche  auf  die  projizierten  Bilder 
bezogen  und  entsprechend  umgedeutet  werden  können,  ist  folgendes.  Es  wurde 
ein  Automobilkorso  bei  Rio  de  Janeiro  vorgeführt.  Während  dieser  Vorführung 
hatte  Ponzo  einen  Augenblick  den  Eindruck,  er  höre  den  Motor  eines  aus  der 
Feme  mit  größerer  Geschwindigkeit  sich  nähernden  Automobiles.  Im  nächsten 
Moment  wurde  er  sich  klar  darüber,  daß  dies  Geräusch  von  dem  im  Saale  befind- 
lichen elektrischen  Ventilator  herrührte. 

Je  kürzer  derartige  Gehörseindrücke  sind,  desto  weniger  leicht  können 
ihre  wahre  Ursache  und  der  Ort,  aus  dem  sie  herkommen,  erkannt  werden, 
weil  wir  dazu  neigen,  verschiedene  Eindrücke,  die  wir  gleichzeitig  erhalten, 
zu  einem  einheitlichen  Gesamteindruck  zu  vermischen  und  diesen  Eindruck 
nach  den  besonders  betonten  Eindrücken,  also  bei  kinematographischen  Vor- 
führungen nach  den   Gesichtseindrücken,  zu  bestimmen. 

Während  Ponzo  einer  kinematographischen  Vorführung  beiwohnte,  in  welcher 
eine  Mutter  im  Begriff  war,  ihrem  Sohne  einen  Kuß  zu  geben,  ahmte  einer  der 
Zuschauer  mit  den  Lippen  das  Geräusch  des  Kusses  nach ;  im  gleichen  Moment 


Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen  Vorführungen.        39 

hatte  Ponzo  den  Eindruck,  daß  er  den  Kuß  auf  der  Projektionsfläche  nicht 
nur  sähe,  sondern  ihn  auch  von  dorther  höre. 

Besonders  interessant  ist,  daß  derartige  Halluzinationen  fast  ausnahmslos 
nur  dann  auftreten,  wenn  der  Zuschauer  nicht  in  bewußter  Weise  darauf  ausgeht, 
die  zufälligen  Geräusche  in  eine  Verbindung  mit  den  Vorgängen  der  kinemato- 
graphischen Vorführungen  zu  bringen.  Hieimit  mag  es  zum  Teil  zusammen- 
hängen, daß  die  bisherigen  Versuche,  durch  Verbindung  des  Kinematographen 
mit  einem  Phonographen  eine  gleichzeitige  Gesichts-  und  Gehörstäuschung 
zu  erzielen,  zu  keinem  rechten  Ergebnis  geführt  haben,  da  die  Identifikation 
der  Töne  des  Phonographen  mit  den  durch  den  Kinematographen  vermittelten 
Gesichtseindrücken  nicht  glückt.^) 

Ein  weit  wirksameres  Ersatzmittel  für  die  fehlenden  Gehörseindrücke  bei 
den  kinematographischen  Vorführungen  ist  die  uns  auch  von  dem  Theater  her 
bekannte  Nachahmung  bestimmter  Geräusche,  beispielsweise  des  Rauschens 
eines  Wasserfalles,  des  Fahrens  von  Wagen,  des  Hupens  eines  Autos,  des  Ratterns 
eines  Eisenbahnzugs  und  dergleichen  durch  primitive  Vorrichtungen.  Wenn 
dies  geschickt  geschieht  und  zwar  am  besten  hinter  der  Projektionsfläche,  so 
werden  in  der  Regel  die  Gehörseindrücke  mit  den  gleichzeitigen  Gesichtsein- 
drücken mühelos  unbewußt  identifiziert  werden. 

Außer  Gehörshalluzinationen,  die  allerdings  besonders  häufig  vorkommen 
und  auch  am  leichtesten  beobachtet  werden  können,  kann  man  mitunter  aber  auch 
Halluzinationen  konstatieren,  welche  auf  anderen  Gebieten  liegen. 

So  empfand  ein  Nachbar  Dr.  Ponzos  bei  der  Vorführung  eines  Films,  in  welchem 
im  Anschluß  an  Dantes  Dichtung  die  Qualen  der  Verdammten  geschildert  wurden, 
plötzlich  ein  feuchtes  und  kaltes  Gefühl,  das  er  in  Zusammenhang  mit  den 
Vorführungen  brachte.  In  Wirklichkeit  war  diese  Empfindung  veranlaßt 
worden  durch  die  feuchte,  kalte  Luft,  die  in  dem  betreffenden  Vorführungs- 
raum war. 

Bei  einem  anderen  Film,  welcher  brandende  Meereswogen  zeigte,  rief  die 
Mutter  Ponzos  plötzlich  aus,  sie  glaube  das  erfrischende  Meer  zu  fühlen,  indem  sie 
die  durch  einen  Ventilator  erzeugte  angenehme  Frische  auf  die  Gesichtseindrücke 
bezog  und  mit  ihnen  in  Zusammenhang  brachte. 

Ein  typisches  Beispiel  von  Geruchsillusionen  erlebten  Dr.  Ponzo  und  Prof. 
Kiesow  unabhängig  von  einander  zur  gleichen  Zeit.  Der  Film  stellte  einen 
Marstall  dar,  in  dessen  Krippen  sich  viel  Heu  befand.  In  dem  gleichen 
Momente,  wo  dieses  Heu  sichtbar  wurde,  bemerkte  Prof.  Kiesow  zu  Dr. 
Ponzo,  er  glaube,  den  Duft  des  Heues  zu  spüren;  gleichzeitig  machte 
Ponzo  zu  ihm  dieselbe  Bemerkung.  Wie  sie  sich  nachher  überzeugten,  kam  der 
heuartige  Geruch  von  einer  Dame,  welche  kurz  vorher  eingetreten  war  und  sich 
nicht  weit  von  ihnen  entfernt  gesetzt  hatte;  sie  war  mit  einem  Parfüm  parfümiert, 


•)  Vgl.  über  diese  Frage  vom  technischen  und  ästhetischen  Standpunkt  Lehmann, 
„Die  Kinematographie,  ihre  Grundlagen  und  ihre  Anwendungen"  (Leipzig  1911), 
S.  93f. ;  Wolf-Czapek,  „Die  Kinematographie.  Wesen,  Entstehung  imd  Ziele 
des  lebenden  Bildes"  (2.  Aufl.,  Berlin  1911),  S.  104f.;  Forch,  „Der  Kinematograph 
imd  das  sich  bewegende  Bild"  (Wien  und  Leipzig  1913),  S.  220f.;  Tannenbaum, 
„Kino  und  Theater"  (München  1912),  S.  8  Anm.;  Häfker,  „Kino  und  Kunst" 
(München-GIadbach   1913),  S.  69f. 


40        Illusionen  und  Halluzinationen  bei  kinematographischen  Vorführvmgen. 

dessen  Art  zwar  nicht  näher  festgestellt  werden  konnte,  das  aber  nicht  im  gering- 
sten an  den  Duft  des  Heus  erinnerte. 

Bei  den  Beobachtungen  Ponzos  handelt  es  sich  um  Illusionen  und  Halluzi- 
nationen, wie  sie  wohl  schon  ein  jeder  von  uns  bei  dem  Besuche  kinematographi- 
Bcher Vorführungen  an  sich  selbst  erlebt  hat,  und  zwar  gerade  dann,  wenn  er  sich 
dem  Gegenstand  der  Vorführung  ganz  hingab  und  nicht  etwa  mit  dem  Zuschauen 
besondere  Zwecke  verfolgte,  insbesondere  nicht  etwa  psychologische  Beobach- 
tungen machen  wollte. 

Es  handelt  sich  hier  um  Illusionen  und  Halluzinationen,  deren  Charakter  von 
den  betreffenden  Zuschauern  erkannt  wird,  wenngleich  es  ihnen^  nicht  immer 
möglich  ist,  ihre  Entstehung  hinreichend  aufzuklären.  Charakteristisch  ist  ferner 
noch,  daß  es  sich  hier  immer  nur  um  momentane  Sinnestäuschungen  handelt, 
welche  keinerlei  Nachwirkung  zeigen.  Immerhin  zeigen  die  zahlreichen  Fälle 
von  Sinnestäuschungen  bei  kinematographischen  Vorführungen  bei  geistig 
gesunden  Zuschauern®)  in  ausgezeichneter  Weise,  wie  eindrucksvoll  die  kine- 
matographischen Vorführungen  auf  die  Psyche  der  Zuschauer  wirken.') 


Versuche  über  die  Beteiligung  von  Bewegungsempfindungen 
und  Bewegungsvorstellungen  bei  Formkombinationen. 

Von  Theodor  Ziehen.' 

Eine  der  zweckmäßigsten  Methoden  'der  Intelligenzprüfung  bei  jüngeren 
Kindern,  welche  auf  Schwachsinn  verdächtig  sind,  ißt  die  sog.  Legspiel- 
methode.^)  Sie  besteht  darin,  daß  das  Kind  eine  geometrische  Figur,]  die 
ihm  unzerlegt  gezeigt  worden  ist,  aus  mehreren  Teilstücken  zusammen- 
zusetzen hat.  Statt  einer  geometrischen  Figur  kann  man  auch  irgendein 
Bild  wählen,  z.  B.  eines  Menschen,  eines  Tieres,  einer  Stube  oder  Landschaft 
mit  mehreren  Menschen  usw.  Man  kann  die  Aufgabe  erleichtern,  indem  man 
die  Zahl  der  Stücke  einschränkt  oder  indem  man  die  unzerlegte  Figur  bzw. 
das  unzerlegte  Bild  dem  Kind  nicht  nur  vor  dem  Versuch  zeigt,  sondern 
auch  während  des  Versuchs  als  Vorlage  zur  Verfügung  stellt.  Praktisch 
hat  sich  dieses  Verfahren  mir  seit  über  einem  Jahrzehnt  ausgezeichnet 
bewährt. 


*)  über  Beobachtungen  an  nervenkranken  Personen  vgl.  d'Abundo,  „Sopra 
alcuni  particolari  effetti  delle  projezioni  cinematografiche  nei  nevxotici"  (Rivista 
Italiana  di  neuropatologia,  psichiatria  ed  elettroterapia".  Vol.  IV,  Heft  10)  — -  niir 
gleichfalls  freundlichst  vom  Verf.  gesandt  —  werde  ich  wahrscheinlich  in  der  „Ärzt- 
lichen Sachverständigen-Zeitung"  berichten. 

')  Vgl.  auch  Laquer,  „Über  die  Schädlichkeit  kinematographischer  Veranstal- 
tungen für  die  Psyche  des  Kindesalters"  (Ärztliche  Sachverständigen-Zeitung'* 
1911,  Nr.  11)  und  Hellwig,  „Die  Schädlichkeit  von  Schundfilms  für  die  kindUche 
Psyche"  (ebendort  Nr.  22). 

^)  Vgl.  meine  Psychiatrie  4.  Aufl.  1911,  S.  248  uad  Prinzipien  und  Methoden 
der  Intelligenzprüfung;  Berlin  1911;  ferner  Binet  und  Simon,  Ann.  psychol.  1908, 
Bd.  14,  Seite  18. 


Versuche  über  die  Beteiligung  von  Bewegungsempfindungen  usw. 


41 


Die  Intelligenztätigkeit,  welche  dabei  in  Frage  kommt,  ist  offenbar  vor  allem 
die  sog.  Kombination.  Handelt  es  sich  um  Bilder,  so  sind  die  optischen 
Gesamtvorstellungen,  die  Form  und  Farbe  umfassen,  für  die  Kombination 
maßgebend.  Bei  den  geometrischen  Figuren  kommen  nur  die  Form- 
vorstellungen in  Frage.  Es  bot  sich  daher  Gelegenheit  zu  untersuchen, 
wie  weit  an  diesen  Formvorstellungen  ausschließlich  optische  Empfindungen, 
bzw.  wie  weit  auch  kinästhetische,  d.  h.  spezifische,  nicht-optische  Bewegungs- 
empfindungen und  entsprechende  Bewegungsvorstellungen  beteiligt  sind. 
Über  Versuche,  die  ich  in  der  letzten  Zeit  in  dieser  Richtung  angestellt  habe 
und  die  zur  Klärung  der  Frage  wohl  etwas  beitragen  können,  will  ich  im 
folgenden  kurz  einiges  berichten. 

p  Ich  habe  nämlich  an  Kindern  im  Alter  von  10 — 15  Jahren,  sowohl  nor- 
malen wie  leicht-schwachsinnigen  wie  auch  einigen  in  frühester  Kindheit 
erblindeten,  und  an  einzelnen  Erwachsenen  untersucht,  wie  weit  ihnen  die  Zu- 
sammensetzung der  erwähnten  geometrischen  Figuren  auch  bei  geschlossenen 
Augen  gelingt.  Die  Versuchspersonen  waren  also  bei  dem  Zusammenlegen 
abgesehen  von  der  Erinnerungs Vorstellung  der  Form  ausschließlich  auf 
ihre  Berührungs-  und  Bewegungsempfindungen  angewiesen.  Es  war  vor 
allem  zu  erwarten,  daß,  wenn  kinästhetische  Vorstellungen  neben  den 
optischen  eine  wesentliche  Rolle  spielten,  die  Zusammensetzung  der  Figur 
eventuell  auch  bei  geschlossenen  Augen  und  namentlich  auch  bei  den  blinden 
Kindern  ohne  Schwierigkeit  gelingen  werde.  Außerdem  sollte  durch  eine 
besondere  Abänderung  des  Versuchs,  die  alsbald  zur  Sprache  kommen  wird, 
die  Unentbehrlichkeit  der  optischen  Vorstellungen  noch  in  einer  andern 
Weise  geprüft  werden. 

Rechtecke  aus  Kartonpapier,  wie  sie  die  beistehenden  Figuren  zeigen, 
jedoch  ohne  die  auf  diesen  angegebenen  Teilungsstriche,  wurden  dem  Kind 


Nr.  1. 


/ 

■j- — m. 


gezeigt  (c.  10—15  Sek.),  dann  wurden  ihm  die  durch  die  Striche  bezeich- 
neten Teilstücke  gegeben  und  die  Zusammensetzung  des  Rechteckes  aus 
den  Teilstücken  bei  geschlossenen  Augen  verlangt.^)  Das  unzerteilte 
Rechteck  stand  dem  Kind  dabei  nicht  mehr  zur  Verfügung.  Das  Resultat 
war,  wie  vorauszusehen,  daß  die  Zusammensetzung  bei  geschlossenen  Augen 
wesentlich  langsamer  gelang  als  bei  offenen.   Die  Mitwirkung  der  optischen 


')  Die  Zu3amm3n33tzaag  b3i  offenen  Aagan  ist  nam9ntlich  bei  der^J Untersuchung 
schwachsinniger  Kinder  (s.  o.)  und  bei  manchen  Herderkrankungen  des  Gehirns 
( Sehsphäre)  diagnostisch  von  Badeutung.  Bei  den  letzteren  gibt  übrigens  auch  die 
Untersuchung  bei  Augenschluß  interessante  Aufklärungen. 


42  Versuche  über  die    Peteiliging  von  Pe\regrngsemffindtingen  usw. 

Empfindungen  erleichtert  also  die  Aufgabe  jedenfalls  wesentlich.  Dagegen 
hatte  ich  nicht  erwartet,  daß  der  Unterschied  so  erheblich  ausfallen  würde. 
Übrigens  hat  der  Erwachsene  ebenfalls  Schwierigkeiten.  Man  erkennt, 
wenn  man  den  Versuch  bei  sich  selbst  machen  läßt,  wie  unsicher  das  Zu- 
sammensetzen bei  geschlossenen  Augen  gelingt.  Besonders  gilt  dies  von 
dem  Rechteck  Nr.  2,  das  allerdings  auch  dem  Zusammensetzen  bei  offenen 
Augen  schon  Schwierigkeiten  bereitet.^)  y 

Eine  zweite  Versuchsanordnung  (T-Methode)  bestand  darin,  daß  den 
Kindern  die  unzerlegten  Rechtecke  vorher  nicht  gezeigt,  sondern  nur 
10 — 15  Sekunden  zum  Betasten  in  die  Hände  gegeben  wurden.  Jetzt 
war  das  Kind  also  nicht  nur  bei  dem  Zusammensetzen  auf  seine  Berührungs- 
und Bewegungsempfindungen  beschränkt,  sondern  es  war  bei  diesen  Zu- 
sammensetzungen auch  auf  ein  Erinnerungsbild  beschränkt,  welches  es 
ebenfalls  nur  aus  Berührungs-  und  Bewegungsempfindungen,  nicht  auch  aus 
Gesichtsempfindungen  gewonnen  hatte.  Bei  diesen  ,,T- Versuchen"  waren 
die  Resultate  im  ganzen  noch  schlechter  als  bei  den  0-Versuchen,  wie  ich 
diejenigen  der  ersten  Reihe  nennen  will.  Eine  normale  erwachsene  Ver- 
suchsperson, die  in  der  ersten  Reihe  1^/4  Minute  gebraucht  hatte,  um  das 
Rechteck  Nr.  1  zusammenzusetzen,  brauchte  bei  der  T-Methode,  um  ein 
ganz  analoges  Rechteck  zusammenzusetzen,  etwa  2  Minuten.  Das  Resultat 
ist  um  so  bemerkenswerter,  als  durch  den  1.  Versuch  der  zweite  sicher  er- 
leichtert wurde.^)  Das  Rechteck  Nr.  2  wurde  von  derselben  Versuchsperson 
zuerst  nach  der  T-Methode  zusammengesetzt.  Sie  brauchte  dazu  12  Minuten. 
Nach  einer  Pause  brauchte  sie  für  dasselbe  Rechteck  nach  der  0-Methode 
2  Minuten.  Sie  v/urde  nun  nach  einer  abermaligen  Pause  (30  Min.)  aufgefordert, 
das  Rechteck  nochmals  nach  der  T-Methode  zusammenzusetzen  und  brauchte 
wieder  10  Minuten.  Hieraus  und  aus  ähnlichen  andern  Versuchen,  namentlich 
bei  Kindern,  scheint  sich  doch  mit  Sicherheit  zu  ergeben,  daß  das  unmittelbar 
vor  ausgehende  Wecken  eines  optischen  Erinnerungsbildes  die  Rekonstruktion 
der  Form  in  auffallendem  Maße  erleichtert.  Ein  14jähriger  normaler  Knabe 
konnte  ein  im  Sinn  von  Fig.  2  zerlegtes  Rechteck  nach  der  T-Methode  überhaupt 
nicht  zusammensetzen,  während  es  ihm  nach  der  0-Methode  in  ca.  5%  Min. 
gelang.  Von  4  blindgeborenen  bzw.  sehr  früh  erblindeten  Schülern  (3  Knaben 
und  1  Mädchen  im  Alter  von  12 — 15  J.)  der  hiesigen  Blindenanstalt  vermoch- 
ten zwei  ein  im  Sinn  der  Fig.  2  zerlegtes  Rechteck  überhaupt  nicht  zusammen- 
zusetzen. Zum  Rechteck  Nr.  1  brauchte  ein  blindgeborener  Knabe  10  Min. 

Exakte  Zeitmessungen  sind  leider  nicht  möglich.  Erstens  spielt  der  Zufall 
insofern  eine  Rolle,  als  gelegentlich  einmal  zufällig  die  Stücke  in  eine  annähernd 
richtige  Lage  kommen  und  dann  die  Lösung  unverhältnismäßig  rasch  ge- 
lingt. Zweitens  müßte  man,  um  exakte  Resultate  zu  gewinnen,  den  Versuch 
öfter  wiederholen;  dies  scheitert  aber  daran,  daß,  wenn  man  Rechtecke  mit 
ähnlicher  Zerlegung  wählt,  die  Versuchsperson  einfach  die  bei  dem  ersten 


^)  Bekanntlich  beruht  hierauf  das  sog.  Siebenstein-  oder  geometrische  Figuren- 
spiel („Stemrätsel",  „Geduldprüfer"),  welchem  ein  nicht  geringer  Wert  für  die  Ent- 
wickltmg  der  Form  Vorstellungen  zukommt. 

*)  Um  diese  Erleichterung  nicht  so  groß  werden  zu  lassen,  daß  sie  den  Unterschied 
ganz  verwischte,  wurde  eine  längere  Pause  eingeschaltet.^ 


Versuche  über  die  Beteiligung  von  Bewegungsempfindungen  usw.  43 

Versuch  gefundene  Zusammeneetzungsweiße  wieder  anwendet;  wählt  man 
aber  Rechtecke  von  ganz  anderer  Zerlegung,  so  ist  ein  Vergleich  oder  das 
Ziehen  eines  Durchschnittes  "nicht  möglich,  da  die  Schwierigkeit  von  der 
Art  der  Zerlegung  wesentlich  abhängt.  Drittens  werden  die  Ergebnisse 
auch  dadurch  beeinträchtigt,  daß  die  Versuchspersonen  in  ganz  unkontrollier- 
barer "Weise  logische  Überlegungen  (z.  B.  „hier  ist  ein  rechter  Winkel,  das 
muß  eine  Ecke  werden")  heranziehen  und  dadurch  die  Lösung  bald  be- 
schleunigen, bald  verlangsamen.  Ich  habe  daher  auch  wenigstens  vorläufig 
auf  eine  systematische  Durchführung  und  ausführliche  Mitteilung  der  Ver- 
suche verzichtet. 

Analoge  Versuche  habe  ich  dann  auch  mit  parallelepipedischen  Kör- 
pern gemacht,  die  entweder  nur  in  2  Stücke  oder  in  3  Stücke  nach  Analogie 
von  Fig.  1  zerlegt  waren.  Die  Zusammensetzung  aus  2  Stücken  gelang  auch 
nach  der  T-Methode  stets  sehr  rasch.  Die  blinden  Kinder  brauchten  z.  B. 
nur  10 — 20  Sekunden.  Die  Zusammensetzung  aus  3  Stücken  erforderte 
erheblich  mehr  Zeit,  nämlich  nach  der  T-Methode  beispielsweise  bei  einer 
normalen  Erwachsenen  3V3  Min.,  bei  einem  normalen,  mathematisch  gut 
veranlagten  15jährigen  Mädchen  iVsMin.,  bei  einem  normalen  14jährigen 
Knaben  ca.  6  Min.,  bei  drei  blinden  Schülern  62  Sek.  bzw.  4^  Min.  bzw. 
6  Min.  5  Sek. 

Alle  diese  Versuche,  die  ich  hier  nur  auszugsweise  mitteile  und  die  auch 
noch  nicht  abgeschlossen  sind,  scheinen  mir  einen  Satz  zu  bestätigen,  den 
ich  auf  Grund  anderweitiger  Versuchsreihen  ausführlich  zu  begründen 
versucht  habe^),  daß  nämlich  die  spezifischen  kinästhetischen  Vorstellungen 
(die  nicht-optischen  ,,BewegungBvorstellungen")  nicht  die  erhebliche  Rolle 
spielen  und  überhaupt  nicht  so  differenziert  sind,  wie  es  meistens  angenom- 
men wird.  Hätten  sie  wirklich  die  ihnen  zugeschriebene  Bedeutung,  so  hätten 
die  Versuche  überhaupt  und  besonders  die  Versuche  nach  der  T-Methode 
nicht  so  schlecht  ausfallen  können.  Ich  sehe  die  Bedeutung  der  kinästhetischen 
Erregungen  vielmehr  vorzugsweise  in  der  unbewußten  Regulierung  unsrer 
Bewegungen  und  in  dem  "Wecken  optischer  Bewegungs-  und  Formvor- 
stellungen, nicht  aber  in  dem  "Wecken  spezifischer  Bewegungsvorstellungen.^) 
Bei  der  T-Methode  würde  sich  der  Vorgang,  wenn  meine  Auffassung  richtig 
ist,  im  wesenthchen  folgendermaßen  abspielen.  Bei  dem  Betasten  des  ganzen 
Rechtecks  werden  an  die  Tastempfindungen  optische  Formvorstellungen 
angeknüpft,  ebenso  müssen  bei  dem  Betasten  der  Stücke  während  des 
Zusammensetzens  die  Tastempfindungen  in  optische  Bewegungs- und  Form- 
vorstellungen übersetzt  werden,  und  erst  diese  können  mit  der  optischen 
Formvorstellung  des  ganzen  Rechtecks  verglichen  werden,  und  erst  auf  Grund 


>)  Fortschr.  der  Psychol.,  herausgeg.  v.  Marbe,  Bd.  1,  S.  228—337. 

*)  Sehr  interessant  sind  für  diese  Frage  auch  folgende  Versuche.  Man  läßt  Stäb- 
chen von  einer  bestimmten  Länge  betafiten  und  dann  einen  Strich  von  gleicher  Länge 

zeichnen. Derselbe  Versuch  wird  dann  wiederholt,  nachdem  man  passiv  den  Finger 

des  Kindes  an  dem  Stätchen  entlang  geführt  hat.  !  Bei  sehenden  Individuen  zeigt 
man  in  einer  dritten  Versuchsreihe  das  Stäbchen  und  läßt  dann  aus  der  Erinnerung 
einen  Strich  ziehen, '"der  die  gleiche  Länge  habensoll.  Merkwürdig  ist  dabei  die  oft 
hervortretende  Neigxmg  zu  einer  Überschätzung  der  gesehenen  Linie. 


44  Versuche  über  die  Beteiligung  von   Bewegungsempfindimgen  usw. 

dieses  Vergleichs  kann  die  Zusammensetzung  zum  Ziel  geführt  werden. 
Die  zweifache  Übersetzung  in  das  Optische  erschwert  die  Zusammensetzung 
bei  der  T-Methode.  —  Erst  recht  ist  natürlich  keinerlei  Veranlassung,  wenn 
die  Zusammensetzung  mit  offenen  Augen  erfolgt,  spezifisch  kinästhetischen 
Vorstellungen  eine  nennenswerte  Mitwirkung  zuzuschreiben.  Ich  glaube 
daher  auch,  daß  bei  den  eingangs  erwähnten  Legspielmethoden  der  Intelh- 
genzprüfung  die  kinästhetischen  Vorstellungen  gegenüber  den  optischen 
ganz  zurücktreten  und  zwar  auch  dann,  wenn  es  sich  um  rein  geometrische 
Figuren  handelt. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Führer  durch  die    Sammlung   „Einfache   Apparate    zur    experunentellen 
Pädagogik«  in  der  „Deutschen  Unterrichts-Ausstellung"  in  Berlin. 

Von  Hans  Rupp. 

•  ImFrühjahr  1912  tagte  in  Berlin  der  V.  Kongreß  der  „Gesellschaft  für  experi- 
mentelle Psychologie".  Mehr  als  auf  andern  Kongressen  war  diesmal  die  experi- 
mentelle Pädagogik  vertreten,  einerseits  in  Referaten  und  Vorträgen,  anderer- 
seits in  der  mit  dem  Kongreß  verbundenen  Ausstellung. 

Zwei  Abteilungen  dieser  Ausstellung  bezogen  sich  speziell  auf  pädagogische 
Gebiete.  Die  eine  war  vom  „Institut  für  angewandte  Psychologie"  veranstaltet. 
Die  andere,  die  uns  hier  interessiert,  bezweckte  eine  Zusammenstellung  von 
Apparaten  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Es  war  wünschenswert,  daß  diese  Ausstellungen  zum  Studium  für  die  inter- 
essierten Kreise  dauernd  erhalten  bleiben.  Einen  willkommenen  Anlaß  bot  hierzu 
die  ,, Deutsche  Unterrichts- Ausstellung",  die  damals  vom  Preußischen  Ministerium 
ins  Leben  gerufen  wurde.  Beide  Ausstellungen  wurden  daher,  mit  geringen 
Änderungen,  in  die  Räume  der  „D.  U.  A."  verlegt. 


Lsitend  für  die  Auswahl  der  Apparate  waren  folgende  Gesichtspunkte : 

1.  Es  sind  sowohl  solche  Apparate  und  Hilfsmittel  aufgenommen,  die  dem 
Unterricht  in  der  experimentellen  Pädagogik  dienen,  wie  solche,  die 
zu  wissenschaftlichen  Untersuchungen  verwendet  werden.  Manche  wer- 
den auch  in  der  Praxis  der  Schule  verwertbar  sein,  einerseits  zur  Prüfung 
verschiedener  Fähigkeiten,  andererseits  zur  Erziehung,  Bildung  derselben, 
z.  B.  des  Augenmaßes  oder  Gehörs.  Was  den  Unterricht  in  Pädagogik  betrifft, 
so  ist  nicht  nur  an  Demonstrationen  bei  Vorlesungen  zu  denken,  sondern  auch 
an  die  uuerläßlichen  experimentellen  Übungen,  die  in  den  letzten  Jahren  wenig- 
stens an  den  Universitäten  Eingang  gefunden  haben.  An  Seminaren  scheinen 
sie  immer  noch  selten  gewürdigt  zu  werden. 

2.  Wenn  die  Apparate  zar  experimentellen  Pädagogik  eine  größere  Verbreitung 
finden  sollen,  wenn  einige  von  ihnen  sogar  in  der  Praxis  der  Schule  Eingang 
inden  sollen,   so  drängt  sich  ein  Gesichtspunkt  gebieterisch  in  den  Vordergrund : 


Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  45^' 

es  müssen  möglichst  einfache  und  billige  Modelle  ausgewählt  werden. 
Dieser  Forderung  ist  in  der  Ausstellimg,  soweit  es  bis  heute  möglich  ist,  Rechnung 
getragen.  Man  wird  z.  B.  das  vielbesprochene  Hipp 'sehe  Chronoskop  oder  große 
Chronographen  vergeblich  suchen.  Für  pädagogische  Zwecke  werden  die  ein- 
facheren, vielleicht  nicht  immer  bequemeren  Apparate  meist  ausreichen.  Übri- 
gens scheint  die  Ansicht  immer  mehr  Boden  zu  gewinnen,  daß  die  Bedeutung 
dieser  Apparate  ihrem  hohen  Preise  nicht  entspricht. 

Die  ausgestellten  Apparate  werden  manchen  inmaer  noch  recht  teuer  erscheinen. 
Das  kommt  daher,  daß  wir  gewohnt  sind,  die  Preise  nach  Gegenständen  des 
praktischen  Gebrauchs  zu  messen,  die  in  Tausenden,  oft  Hxinderttausenden  von 
Exemplaren  hergestellt  werden.  In  diesem  Falle,  aber  auch  nur  dann,  läßt  sich  die 
Herstellung  so  vereinfachen,  daß  die  oft  unglaublich  billigen  Preise  möglich  werden. 
Bei  imseren  Apparaten  können,  solange  der  Absatz  so  gering  ist,  jedesmal  nur  wenige 
Exemplare  gebaut  werden.  Die  Herstellung  ist  daher  sehr  kostspielig.  —  Eine 
Reihe  von  Apparaten  sind  so  primitiv,  daß  man  sie  leicht  selbst  herstellen  kann. 
Wer  freilich  die  Zeit  in  Anrechnung  zu  bringen  hat,  die  er  darauf  verwendet,  wird 
bald  die  Erfahrung  machen,  daß  dieser  Weg  keineswegs  der  billigste  ist. 

3.  Von  der  Ausstellung  des  ,, Institutes  für  angewandte  Psychologie"  ist  unsere 
Ausstellung  dadurch  unterschieden,  daß  sie  nur  Apparate  enthält.  Solange  sich 
die  Ausstellungen  unmittelbar  nebeneinander  befinden,  ist  eine  derartige  Ab- 
grenzung erwünscht,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden.  So  sind  in  unserer  Aus- 
stellung die  mannigfaltigen  Tests  zur  Untersuchung  der  einzelnen  Fähigkeiten 
nicht  aufgenommen,  sofern  sie  nicht  in  Verbindung  mit  Apparaten  verwertet 
werden.  Freilich  ist  der  Ausdruck  Apparat  in  weitem  Sinne  genommen;  so 
sind  z,  B.  Demonstrationstafeln  hinzugerechnet. 

Um  Mißverständnisse  zu  vermeiden,  sei  ausdrücklich  hervorgehoben,  daß 
zwischen  beiden  Abteilungen  nur  dieser  äußerliche  Unterschied  besteht.  Sie 
stellen  nicht  aber  verschiedene  Richtungen  innerhalb  der  Pädagogik  oder  der 
angewandten  Psychologie  dar.  Probleme  der  differentiellen  Psychologie,  für  die 
die  andere  Ausstellung  besonders  reiches  Material  bietet,  müssen  vielfach  auch 
durch  instrumenteile  Hilfsmittel  in  Angriff  genommen  werden  —  ich  führe  als 
Beispiel  nur  die  Feinheit  des  musikalischen  Gehörs  bei  verschiedenen  Individuen 
an  — ;  und  dort  wie  hier  sind  differentielle  Probleme  nicht  die  einzigen,  deren 
Untersuchung  die  ausgestellten  Hilfsmittel  dienen. 

4.  Ebenso  wie  die  „Deutsche  Unterrichts- Ausstellung"  überhaupt  sich  zur  Auf- 
gabe stellt,  stets  mit  der  Zeit  fortzuschreiten,  hat  auch  unsere  Abteilung  keine 
starre  Form.  So  ist  seit  dem  Kongreß  manches  hinzugekommen,  mancher  Apparat 
durch  ein  verbessertes,  vereinfachtes  Modell  ersetzt  worden.  Leider  wird  es  nie 
möglich  sein,  daß  die  Ausstellung  ein  vollständiges  Bild  der  instrumentellen  Hilfs- 
mittel gibt.  Die  Firmen  sind  nicht  in  der  Lage,  von  allen  Apparaten  Modelle 
dauernd  zur  Verfügung  zu  stellen.  Und  auch  das  Psychologische  Institut  Berlin 
und  die  „Arbeitsgemeinschaft  für  exakte  Pädagogik"  des  Berliner  Lehrervereins,, 
die  bis  jetzt  die  Ausstellung  in  freundlicher  Weise  unterstützt  haben,  können 
die  Apparate  nur  so  weit  leihen,  als  sie  nicht  gerade  für  Untersuchungen  oder 
Übungen  verwendet  werden. 

Die  folgenden  Ausführungen  geben  ein  Bild  der  Ausstellung.  Bei  der  Be- 
Bchreibimg  von  Apparaten,  die  ziemlich  allgemein  bekannt  sind,  kann  ich  mich 


46  Einfache  Apparate  zur  experimentellen.  Pädagogik. 

mit  dem  kurzen  Hinweis  begnügen.  Die  Mehrzalil  der  Apparate  sind  aber  neu 
und  bis  jetzt  nicht  in  der  Literatur  beschrieben;  sie  sollen  daher  ausführlicher 
behandelt  werden.  Aber  nicht  so  sehr  auf  eine  detaillierte  Beschreibung  der 
Apparate  kommt  es  mir  an.  Wichtiger  ist  es  mir,  die  P  r  o  b  1  em  e ,  deren  Unter- 
suchung sie  dienen,  hervorzuheben  und  die  pädagogische  Bedeutung  derselben 
zu  besprechen. 

I.  Gruppe:  Farben  Wahrnehmungen. 
Ich  erwähne  zuerst  einige  physiologische  Erscheinungen:  Ermüdung,  Simul- 
tan- und  Sukzessivkontrast,  Dämmerungssehen  und  periphere  Farbenblindheit. 
Wenn  diese  Erscheinungen  auch  nicht  in  dem  Grade  interessieren  wie  die  später 
zu  besprechenden  psychologischen  Phänomene,  so  sollte  der  Pädagoge  doch 
nicht  an  ihnen  vorübergehen.  Einmal  treten  sie  gelegentlich  als  Störungen, 
Fehlerquellen  auf  sowohl  im  praktischen  Unterricht  (beim  Malen,  Betrachten  von 
Bildern)  wie  namentlich  bei  feineren  Untersuchungen  über  das  Farbensehen. 
Wichtiger  ist  aber  folgender  Punkt.  Im  täglichen  Leben  sind  wir  geneigt,  alle 
diese  Erscheinungen  zu  übersehen.  Sie  sind  ja  nur  subjektiv,  gehen  die  objek- 
tiven, eigentlichen  Farben  der  Körper  nicht  an.  Man  denke  an  die  blauen  Schatten 
auf  dem  weißen  Schnee,  die  der  Laie,  wenn  er  sie  auf  Bildern  sieht,  unnatürlich, 
übertrieben  findet.  Nun  ist  es  eine  Aufgabe,  nicht  bloß  des  Zeichenunterrichts, 
sondern  der  Schule  überhaupt,  den  Schüler  beobachten,  sehen  zu  lehren.  Unsere 
Demonstrationen  kommen  dieser  Aufgabe  in  hohem  Grade  entgegen.  Sie  üben 
das  Sehen  an  auffallenden  und  leichten  Beispielen,  die  durch  keine  Suggestion 
erschwert,  getrübt  sind,  wie  es  beim  weißen  Schnee  der  Fall  ist.  Sie  leisten  aber 
noch  mehr:  sie  zeigen  zugleich  die  genaueren  Bedingungen,  die  Gesetzmäßig- 
keiten solcher  subjektiven  Erscheinungen,  wenigstens  die  elementarsten  Gesetze 
z.  B.  bei  den  blauen  Schatten,  warum  gerade  blaue  Schatten  auftreten. 

Zum  mindesten  sollte  also  der  Lehrer  selbst  diese  Erscheinungen  kennen.  Aber 
auch  für  den  Schüler  sind  sie  nicht  schwieriger  zu  erfassen  und  auch  nicht  weniger 
interessant  und  wertvoll  als  physikalische  Gesetze, 

5  Tafeln  zur  Demonstration  der  Ermüdung  für  Farben  nach 
Bupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  5  Tafeln,  50  X  60,  4  mit  farbigen,  eine  mit 
weißem  (mattem)  Papier  bespannt,  in  der  Mitte  mit  einem  schwarzen  Fixations- 
punkt  F  versehen.  Man  verdeckt  zunächst  die  Hälfte  der  Tafel 
mit  dem  beiliegenden  schwarzen  Karton  (in  der  Figur  schraf- 
fiert gezeichnet)  so,  daß  der  Fixationspunkt  noch  sichtbar  ist.  Die 
Schüler  werden  angehalten,  F  durch  etwa  20  Sekunden  gut  zu 
fixieren,  anzustarren.  Dann  zieht  man  plötzlich  den  schwarzen 
Karton  weg,  während  F  weiter  fixiert  wird.  Die  vorher  ver- 
deckte, linke  Hälfte  erscheint  jetzt  intensiv  in  der  Farbe  der  Tafel,  z.  B.  leuch- 
tend rot,  während  die  schon  vorher  gesehene  rechte  Hälfte  ganz  blaß,  fahl, 
manchmal  fast  farblos  aus  sieht.  Für  diese  Seite  ist  das  Auge  eben  ermüdet. 
Man  lernt  daraus,  wie  enorm  verschieden  dieselbe  Farbe  auf  das  frische  imd  auf 
das  für  die  betreffende  Farbe  ermüdete  Auge  wirkt. 

Konsequenzen  liegen  nahe.  Man  achte  darauf,  daß  farbige  Bilder,  Gegen- 
stände nicht  lange  angestarrt  werden;  man  wird  im  Schulzimmer,  wenigstens 
im  Zeichensaal  deutliche  Tönungen  der  Wände  vermeiden,  da  sonst  das  Auge 
für  diese  Töne  stumpf  wird. 


Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  47 


6  Tafeln  zur  Demonstration  der  negativen  Nachbilder  nach  Rupp 
(Mjchaniker  Marx,  B3rlin),  und 

2  Tafeln  zur  Demonstl-ation  der  negativen  Nachbilder  nach 
Hofbr-Wita^ak,  aus  dar  Sammlung  „lO^^  psychologische  Schulversuche"  (Rohr- 
b3C5k3  Nachfolger,  Wien). 

\  Die  6  erstän  Tafeln  bsstehen  aus  grauen  Kartons,  50  X  60.  vier  mit  einer 
farbigen,  einsrmit  einsr  waißen,  einer  mit  einer  schwarzen  Scheibe  in  der  oberen 
Hälfte  baklebt  (in  der  Figar  schraffiert  gezeichnet).  In  der  Mitte  der  Scheibe 
ist  ein  Fixationspunkt  F^^,  ebanso  ein  zweiter  F^,  in  der  unteren 
Hälfte  dsr  Tafel.  Die  Schüler  werden  wieder  angehalten  F^^  etwa 
20  Sskunden  lang  gut  za  fixieren.  Darnach  sollen  sie  hinunter 
blicken  auf  F2.  Um  F2  herum  entwickelt  sich  dann  allmählich 
das  negative  Nachbild,  Wenn  man  länger  auf  F2  hinsieht,  so 
kann  man  oft  m3hrere  Phasen  beobachten :  das  Nachbild  schwindet, 
kommt  wieder  usf. 

Nicht  immer  gelingt  der  Versuch  dem  Anfänger  gleich  beim  erstenmal.  Man 
muß  ihn  anweisen,  gat  zu  fixieren  und  vor  allem  auch  nachher,  wenn  er  auf  F^ 
blickt,  geduldig  zuzuwarten;  das  Nachbild  kommt  oft  erst  nach  mehreren  Se- 
kunden. Unter  diesen  Vorsichtsmaßregeln  ist  die  Erscheinung  leicht  imd  sicher 
zu  beobachten,  auch  von  Kindern. 

Negative  Nachbilder  sind  schon  beim  ersten  Fixieren  (von  F.^)  zu  beobachten, 
näulich  als  farbige  Ränder  an  der  Peripherie  der  Scheibe;  ebenso  auch  beim 
früheren  Versuch  an  dsr  vertikalen  Grenze  zwischen  den  beiden  Hälften.  Diese 
Nachbilder  entstehen  durch  Blickschwankungen  beim  Fixieren. 

Auf  2  graue  Tafeln  derselben  Größe  50  X  60  ließ  ich  an  Stelle  der  Scheiben 
in  der  obsren  Hälfte  die  beiden  Bilder  aus  der  genannten  Sammlung  von  Höfler 
und  Witasek  aufkleben.  Das  eine  Bild  ist  eine  Reproduktion  des  bekannten 
S3lb3tbildnisse3  von  Dürer,  jedoch  so  ausgeführt,  daß  Schwarz  und  Weiß  ver- 
tauscht sind,  also  wie  im  photographischen  Negativ.  Im  Nachbild  erscheint 
dann  das  Positiv  —  auch  für  den  Kenner  immer  wieder  eine  Überraschung.  Das 
zweite  Bild  ist  nicht  in  Weiß- Schwarz  gehalten,  sondern  farbig.  Es  stellt  eine 
Landschaft  mit  einem  Regenbogen  dar  und  zwar  wieder  in  den  Kontrastfarben, 
z.  B.  das  Laub  der  Bäume  bläulich  rot;  im  Nachbild  erscheinen  Bäume  und 
Regenbogen  in  den  richtigen  Farben. 

Die  praktischen  Konsequenzen,  die  wir  früher  bei  der  Ermüdung  erwähnt 
haben,  gelten  auch  hier.  Man  vermeide  längeres  Anstarren  von  Farben  und  ver- 
meide größere  farbige  Flächen,  die  auch  ohne  Fixation  dauernd  auf  das  Auge 
wirken  wie  farbige  Wände,  farbige  Unterlagen  z.  B.  aus  rotem  Löschpapier. 

6  Tafeln  für  Simultankontrast  nach  Stumpf  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
6  Kartons,  30  X  60  cm,  4  mit  farbigem,  1  mit  weißem,  1  mit  schwarzem  Papier 
bespannt.  In  der  Mitte  liegt  auf  allen  Tafeln  ein  gleich  grauer  Streifen, 
der  jedoch  nur  an  seinem  oberen  Ende  befestigt  ist.  Vergleicht  man 
nun  diese  Streifen,  zunächst  die  auf  den  bunten  Tafeln,  so  zeigen 
sie  deutliche  bunte  Tönung  in  der  Kontrastfarbe  der  Tafel;  von 
den  beiden  grauen  Streifen  auf  den  farblosen  Tafeln  erscheint  der  auf  hellem 
Grund  dunkler,  der  auf  dunklem  Grund  heller,  also  wieder  in  der  Richtung 
der  Kontrastfarbe  verändert. 


48  Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Den  Tafeln  liegt  ein  Stück  des  grauen  Papieres  bei,  aus  dem  die  Streifen  ge- 
sclmitten  sind.  Legt  man  dieses  Papier  unter  den  (aus  diesem  Grunde  nur  an 
dem  oberen  Ende  befestigten)  grauen  Streifen,  so  sieht  der  Beobachter,  daß  sie 
farblos  und  alle  gleich  sind.  Zugleich  ist  demonstriert,  daß  die  Änderung  nur  von 
der  Umgebung  herrührt. 

Die  Kontrastwirkung  tritt  deutlicher  hervor,  wenn  man  über  das  Ganze  Seiden- 
oder Florpapier  legt  („Florkontrast").  Um  auch  diesen  Versuch  ausführen  zu 
können,  ist  am  oberen  Rande  der  Tafeln  ein  Seidenpapier  angeklebt,  das  sich 
nach  Belieben  hinauf-  oder  auf  die  Tafel  hinunterschlagen  läßt. 

Handapparat  für  farbige  Schatten,  nach Rupp (Mechaniker Marx,  Berlin). 
Besonders  intensive  Kontrastfarben  zeigen  die  sogenannten  farbigen  Schatten. 
Hering  hat  eine  sehr  wirkungsvolle  Anordnung  mit  farbigen 
Fenstern  in  einem  sonst  verdunkelten  Räume  beschrieben.  Um 
diese  intensiven  und  doch  rein  subjektiven  Farben  auch  ohne 
die  umständliche  Verdunklung  zeigen  zu  können,  versuchte  ich 
die  Hering 'sehe  Anordnung  in  einem  Apparat  nachzuahmen,  der 
bei  normaler  Beleuchtung  zu  benützen  ist.  Freilich  kannjedesmal 
nur  einer  die  Erscheinung  sehen.  Der  Apparat  ist  in  der  Hand 
zu  halten  und  kann  eventuell  im  Hörsaal  herumgereicht  werden. 
Der  Beobachter  blickt,  gegen  ein  Fenster  gewendet,  in  einen 
schwarzen  Pappkasten.  Der  nebenstehende  horizontale  Quer- 
schnitt zeigt  die  Einrichtung  desselben.  Die  vordere,  aus  Blech  her- 
gestellte Wand  hat  2  Spalte,  die  durch  seitliche  Schieber  enger  und  weiter 
zu  stellen  sind.  Hinter  den  einen  Spalt,  z.  B.  den  linken,  wird  ein  farbiges- 
Mattglas  (F),  hinter  den  andern  ein  weißes  (W)  eingeschoben.  Etwa 
in  der  Mitte  des  Kastens  ist  eine  Mattscheibe  eingesetzt  und  ein  wenig 
davor  ein  Stab  St.  Die  beiden  von  den  Spalten  herkommenden  Lichter 
erzeugen  auf  der  Mattscheibe  2  Schatten  von  dem  Stabe  St;  sie  sind  in  der  Figur 
mit  /  und  k  bezeichnet.  Der  eine  Schatten  /  ist  nur  von  farbigem  Licht  be- 
leuchtet, und  erscheint  deutlich  in  der  Farbe  dieses  Lichtes,  z.  B.  rot.  Der  andere 
Schatten  k  ist  nur  von  weißem  Licht  beleuchtet.  Da  aber  die  umgebende  Matt- 
scheibe von  dem  roten  Licht  getroffen  ist,  so  wird  in  unserem  Auge  auf  dem 
farblosen  Schatten  k  die  Kontrastfarbe  grün  erzeugt.  Die  rötliche  Färbung  der 
umgebenden  Mattscheibe  ist  wegen  der  Beimischung  von  weißem  Licht  (viel- 
leicht auch  aus  anderen  Gründen)  kaum  zu  merken.  Die  Kontrastfarbe  dagegen 
ist  sehr  intensiv,  ebenso  deutlich  wie  die  objektive  Farbe  des  Schattens  /. 

Man  muß  darauf  achten,  daß  die  Lichter  F  und  W  die  richtige  Stärke  haben. 
Zu  dem  Zwecke  sind  die  Schieber  eingesetzt,  durch  die  die  Weite  der  Spalte 
entsprechend  reguliert  werden  kann.  Verschiedene  farbige  Gläser  verlangen 
verschiedene  Spalte.  Es  sind  4  ungefähr  den  Urfarben  entsprechende  Gläser 
dem  Apparat  beigegeben.  Bei  der  Betrachtung  ist  es  gut,  den  Apparat  ein  wenig 
nach  rechts  und  links  zu  drehen ;  man  findet  dann  leicht  die  Lage  (Beleuchtung),, 
bei  der  die  Erscheinung  am  deutlichsten  ist.  Der  vordere  Teil  der  oberen  Wand 
ist  aufklappbar  gemacht,  damit  man  die  innere  Einrichtung  des  Apparates 
überblicken  kann. 

Tafel  zur  Demonstration  des  (farblosen)  Randkontrastes,  nach 
Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).     Der  Simultankontrast  wirkt  dort,   wo  zwei 


oben 

= 

— 

~ 

Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  49 

verschiedene  Farben  aneinander  stoßen,  am  stärksten  und  nimmt  von  dieser 
Grenze  an  sehr  schnell  ab.  Er  heißt  darum  auch  Randkontrast.  Sehr  deutlich 
ist  dies  bei  folgender  Anordnung  zu  beobachten. 

Auf  einen  Karton  30  X  50  sind"scharf  aneinanderstoßend  5  Streifen  aufgeklebt, 
der  linke  weiß,  die  rechten  immer  dunkler  werdend.  Jeder  Streifen  ist  in  sich 
objektiv  ganz  gleichmäßig  gefärbt.  Allein  dem  Beobachter  er- 
scheinen sie  nicht  gleichmäßig,  sondern  jeder  gegen  den  linken 
Eand  zu,  wo  er  an  einen  helleren  Streifen  grenzt,  dunkler,  gegen 
den  rechten,  wo  ein  dunklerer  Streifen  angrenzt,  heller.  Die  Kon- 
tras tfärbung  nimmt  aber  schnell  vom  Rande  gegen  die  Mitte  zu  ab. 
Infolge  dieser  Schattierung  sehen  die  Streifen  zuweilen  deutlich  ge- 
wölbt aus,  das  Ganze  macht  den  Eindruck  einer  kannelierten  Säule. 

Um  dem  Beobachter  zu  zeigen,  daß  die  Streifen  objektiv  gleichmäßig 
grau  sind,  hält  man  rechts  und  links  an  den  mittleren  Streifen  die  beiden  bei- 
liegenden Kartons,  die  nahezu  dasselbe  Grau  zeigen  wie  der  genannte  Streifen. 
Jetzt  sieht  man  den  Streifen  ganz  gleichmäßig  gefärbt.  Die  geringe  Hellig- 
keitsdifferenz gegen  die  Kartons  (die  obendrein  auf  beiden  Seiten  die  gleiche 
Richtung  zeigt),  vermag  keinen  merkbaren  Kontrast  zu  erzielen. 

Prisma  zur  Demonstration  des  farblosen  Kontrastes  nach  Rupp 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).  Der  praktisch  wichtigste  Fall  des  Randkontrastes 
ist  wohl  folgender:  An  einer  Kante  stoßen  2  ebene  Flächen  eines  gleichmäßig 
gefärbten  Körpers  zusammen;  die  beiden  Flächen  sind  verschieden  beleuchtet. 
Dann  erscheinen  an  der  Kante  die  Helligkeitskontraste  der  2  Flächen  gesteigert. 
Wir  kennen  alle  die  Erscheinung  vom  Zeichenunterricht  her,  wo  wir,  vielleicht 
das  erstemal,  merkten,  daß  die  Seiten  eines  Würfels  oder  Prismas  nicht  gleich- 
mäßig weiß  oder  dunkel  sind.  Daß  die  Erscheinung  nicht  objektiv  ist,  wird  man- 
chem neu  sein. 

Für  diese  Erscheinung  ließ  ich  ein  Prisma  herstellen,  von  welchem  5  Flächen  dem 
Beobachter  zugekehrt  sind.  Sie  zeigen,  ähnlich  wie  die  vorige  Tafel,  6  verschiedene 
Grau,  von  Weiß  zu  einem  ziemlich  dunklen  Grau  abgestuft.  (Man  achte  darauf ,  daß 
das  Licht  möglichst  nur  von  einer  Seite  her,  z.  B.  von  links  kommt.)  Es  zeigt  sich 
nun  deutlich  die  erwähnte  Schattierung:  jeder  Streifen  erscheint  gegen  den  linken 
Rand  dunkler,  gegen  den  rechten  heller.  Daß  die  Streifen  objektiv  ganz  gleich- 
mäßig grau  sind,  zeigen  wir  auf  ähnliche  Weise  wie  im  früheren  Beispiel.  Wir 
nehmen  den  beiliegenden  Karton,  der  objektiv  dieselbe  weiße  Farbe  hat  wie  das 
Prisma  und  der  einen  rechteckigen  Ausschnitt  von  der  Breite  einer  Prismenseite 
hat,  und  legen  ihn  so  an  irgendeine  Prismenseite  an,  daß  diese  ganz  den  Aus- 
schnitt ausfüllt.  Dann  erscheint  sie  nicht  mehr  verschieden,  sondern  ganz  gleich- 
mäßig gefärbt;  und  auch  der  ganze  Karton  hat  die  gleiche  Färbung.  Es  wäre 
ja  sehr  merkwürdig,  wenn  auf  so  kleinen  Flächen  die  objektive  Beleuchtung 
merkliche  Verschiedenheiten  aufweisen  würde. 

Wir  können  wieder  praktische  Konsequenzen  aus  unseren  Demonstrationen 
über  den  Siraultankontrast  ziehen.  Auch  wenn  wir  die  Prismenseiten  —  und 
Analoges  gilt  von  den  Streifen  in  den  früheren  Beispielen  —  ganz  gleichmäßig 
schattieren  oder  malen,  so  muß  doch,  genau  wie  bei  unseren  Demonstrationen, 
der  Kontrast  auf  treten ;  er  kommt  ganz  von  selbst,  ohne  unsere  Zeichnungen.  Frei- 
lich kommt  er  nur  dann  in  derselben  Stärke,  wenn  die  beiden  Flächen  auf  der 

Zeitschrift  t.  pädagog.  Psychologie.  4 


50  Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Zeichnung  dieselbe  objektive  Lichtstärke  besitzen  wie  im  Original;  und  auch 
die  Größe  ist  von  Einfluß.  Da  das  vielfach  nicht  der  Fall  ist,  so  müssen  wir  nach- 
helfen, wir  müssen  den  Rest  durch  unser  Schattieren  ergänzen;  aber  eben  doch 
nur  den  Rest! 

Sammlung  von  Beispielen  für  Kontrasterscheinungen.  Es  ist 
wertvoll  für  den  Lehrer,  Beispiele  aus  dem  täglichen  Leben  zu  kennen,  wo  der 
Kontrast  auftritt.  Es  sollten  daher  Zeichnungen,  Ornamente,  Bilder,  kunst- 
gewerbliche oder  sonstige  Gegenstände  dieser  Art  gesammelt  werden.  Um  einen 
kleinen  Anfang  zu  machen,  habe  ich  in  einer  Mappe  einige  Beispiele,  die  in  der 
Literatur  bekannt  sind,  zusammengestellt:  Kontrast  bei  Flechtblättern,  Kontrast- 
rost nach  Hermann  und  dergleichen.  Weitere  Beiträge  für  diese  Sammlung  hat 
sich  das  Institut  für  angewandte  Psychologie  (Sekretär  Dr.  Lipmann,  Klein- 
Glienicke  bei  Potsdam)  freundlichst  bereit  erklärt  entgegenzunehmen.  (Es 
wird  gebeten,  Zusendungen  mit  dem  Vermerk  „Für  die  Apparaten- Sammlung" 
zu  versehen). 

Tafel  zur  Demonstration  der  Farbenblindheit  bei  Dämmerung 
(Mechaniker  Marx,  Bsrlin).  Bei  zunehmender  Dämmerung  werden  alle  Gegen- 
stände farblos ;  wir  erkennen  sie  wohl  noch,  wir  sehen  hellere  und  dunklere  Flecke 
und  die  Konturen  zwischen  ihnen,  aber  alles  Bunte  ist  verschwunden,  jede,  auch 
die  satteste  Farbe  ist  in  ein  Grau  verwandelt.  Aber  nicht  jede  Farbe  ist  in  das 
gleiche  Grau  verwandelt:  rote  Töne  werden  sehr  dunkel,  blaue  und  besonders 
grüne  bleiben  relativ  hell  (Purkinje'sches  Phänomen). 

Unsere  Tafel  veranschaulicht  diese  Verhältnisse.  Sie  zeigt  untereinander- 
stehend 10  ziemlich  gesättigte  Farben  (Rothe- Serie)  in  spektraler  Anordnung 
(in  der  Figur  schraffiert  gezeichnet)  und  rechts  daneben  die  den 
Farben  in  der  Dämmerung  entsprechenden  Grau.  Wenn  man 
den  Raum,  in  welchem  man  demonstriert,  allmählich  ver- 
dunkelt (die  Beobachter  dürfen  nicht  gegen  helle  Spalten, 
die  vielleicht  noch  übrig  bleiben,  blicken),  so  sieht  man  die 
Farben  immer  ungesättigter,  bis  schließlich  jeder  bunte  Stich 
schwindet  und  jede  Farbe  dem  rechts  daneben  liegenden  Grau  voll- 
kommen gleich  erscheint. 

|S^Noch  wirksamer  ist  der  umgekehrte  Versuch:  man  verdunkelt  erst  den  Raum 
und  zeigt  die  Tafel,  auf  welcher  der  Beobachter  zwei  gleiche  Reihen  von  ver- 
schieden grauen  Rechtecken  sieht,  die  keinerlei  Tönung  zeigen  (bei  richtiger  Be- 
leuchtung). Es  ist  überraschend,  wie  sich  nun  bei  Aufhellung  des  Raumes  die 
eine  Reihe  zu  intensiven,  leuchtenden  Farben  entwickelt. 

Die  Tafel  ist  eine  Nachahmung  der  bekannten  Tafel  von  Hippel  für  die 
Farbenblindheit  der  Stäbchenseher. 

Tafel  zur  Demonstration  der  peripheren  Farbenblindheit  nach 
Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Wenn  wir  einen  farbigen  Gegenstand  in  die 
äußeren  Zonen  des  Gesichtsfeldes  rücken,  so  wird  er  ebenfalls  farblos,  erscheint 
in  einem  bestimmten  Grau.  Dieses  Grau  ist  aber  im  allgemeinen  ein  anderes  wie 
bei  Dämmerung. 

Unsere  Tafel  ist  ganz  analog  eingerichtet  wie  die  frühere.  Links  sind  dieselben 
10  Farben,  rechts  die  entsprechenden  „Peripherie werte",  d.  h.  die  Grau,  in  welche 
die  Farben  beim  peripheren,  seitlichen  Sehen  übergehen.     Am  hellsten  ist  das 


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Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  51 

Grau  der  gelben  Farbe,  also  der  Farbe,  die  auch,  bei  direkter  Betrachtung  als  die 
hellste  erscheint. 

Die  periphere  Farbenblindheit  hat  für  die  Pädagogik  nur  eine  untergeordnete 
Bedeutung.  . 

Eine  Hauptaufgabe  des  Farbensehens  besteht  darin,  die  Farben  zu  erkennen, 
ihre  Ähnlichkeiten,  Verwandtschaften  zu  erfassen  und  die  verschiedenen  Eigen- 
schaften, die  wir  ihnen  zuschreiben,  klar  zu  sondern.  An  diese  mehr  intellektuelle 
Aufgabe  schließt  sich  die  ästhetische  Erfassung  der  einzelnen  Farben  und  der 
Farbenkombinationen. 

Von  der  Kenntnis  der  Farben  selbst  ist  wohl  zu  scheiden  die  Kenntnis,  wie 
sie  durch  Mischmig  herzustellen  sind.  Leider  werden  diese  Erfahrungen  der 
Maltechnik  in  die  psychologische  Auffassung  oft  hineingetragen  und  das  wirk- 
liche Sehen,  Beobachten  dadurch  in  falsche  Bahnen  geleitet.  An  der  Hand  unserer 
Versuche  lassen  sich  die  Fragen  leicht  trennen. 

Zur  Untersuchung  und  Erziehung  des  Farbensehens  wäre  eines  sehr  erwünscht : 
eine  große,  möglichst  vollzählige  Normal- Sammlung  von  Farben  in  bequemer 
Form  (z.  B.  Wollstoffe  oder  Papiere),  so  daß  wir  sie  beliebig  zusammenstellen, 
ordnen  können.  Jede  Farbe  hätte  hier  einen  Namen  oder  eine  Nummer.  Wer 
immer  eine  Untersuchung  oder  Übung  vornimmt,  bedient  sich  dieser  Normal- 
Skala.  Alle  Statistiken  sind  auf  sie  bezogen.  Es  wird  festgestellt,  was  die  besten 
Farbenkenner  unter  reinem  Rot,  Blau  usw.  verstehen,  was  sie  als  Ton,  Hellig- 
keit, Intensität  usw.  bezeichnen.  Danach  wird  der  Gebrauch  in  Schulen  usw. 
geregelt. 

Leider  sind  imsere  Sammlungen  noch  recht  unvollkommen.  Einen  gewissen 
Ersatz  bieten  die  Mischapparate.  Allein  die  Spektralapparate  sind  viel  zu  teuer, 
und  die  einfacheren  sind  nicht  so  vollkommen;  auch  ist  es  für  viele  Zwecke  er- 
wünscht, fertige  Farben  zur  Hand  zu  haben  und  sie  beliebig  ordnen  zu  können. 

Ich  bespreche  nun  die  Serien,  die  wir  besitzen,  erst  die  bunten,  dann  die  ton- 
losen, und  weise  dabei  auf  die  einzelnen  Versuche  und  Übungen  hin,  die  sich  mit 
ihrer  Hilfe  wenn  auch  nur  in  roherer  Weise  ausführen  lassen.  Daran  füge  ich 
die  Besprechung  einiger  ähnlichen  Fragen  dienender  Demonstrationsobjekte. 
Zuletzt  gehe  ich  auf  die  ausgestellten  Mischapparate  ein. 

Wollproben  nach  Holmgren.  Zirka  130  kleine  Wollbündel,  sehr  gesättigte 
und  auch  ungesättigte  Farben;  freilich  lange  nicht  alle  Farben,  z.  B.  im  Spek- 
trum empfindliche  Lücken.  Tonlose  Farben  sind  überhaupt  nicht  vertreten. 
Dennoch  lassen  sich  über  die  meisten  hier  interessierenden  Fragen  einfache, 
orientierende  Versuche  anstellen. 

Was  alles  wird  z.  B.  als  rot  bezeichnet  (Umfang  von  ,,rot")?  Was  auf  den 
ersten  Blick,  was  bei  kritischer  Betrachtung,  namentlich  bei  Nebeneinander- 
halten der  Farben  (Kontrast)  ?  Welche  Farbe  wird  schließlich  als  bestes,  reinstes 
Rot  bezeichnet?  von  Erwachsenen,  Kindern,  Malern?  Die  letzte  Frage  ist  be- 
sonders bei  den  „Urfarben"  von  Interesse.  Genauere  Bestimmungen  sind  aber 
nur  mit  den  Mischapparaten  durchführbar. 

Andererseits  können  wir  fragen :  Was  alles  wird,  wenn  auch  nicht  als  rot,  so 
doch  als  rötlich  erkannt?  Erscheinen  auch  noch  Violett  und  Orange  rötlich? 
Ein  wie  starker  Stich  ins  Rote  ist  bei  Weiß,  Grau,  Schwarz  nötig?  Reicht  die 

4* 


52  Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Ähnlichkeit  so  weit,  wie  es  nach  der  Farbenpyramide,  unserem  Idealsystem, 
zu  verlangen  ist?   oder  wie  weit  bleibt  der  einzelne  zurück? 

Auch  eine  Statistik  der  Farbenbezeichnungen  ist  sehr  lehrreich:  Welche  der 
in  der  Serie  vorhandenen  Farben  erhalten  einfache  Namen,  welche  werden  um- 
schrieben ?  und  wie  hilft  man  sich  bei  Umschreibung  ? 

Alles  dies  geht  auf  Erkennung  der  Farben,  Wenn  eine  Farbe  aber  auch  nicht 
erkannt  wird,  so  kann  sie  doch  unterschieden  werden.  Für  rohe  Versuche  dieser 
Art  ist  unsere  Serie  wieder  verwertbar :  Man  läßt  zu  einer  Wolle  die  ganz  gleichen 
suchen;  welche  Verwechslungen  treten  auf?  Gröbere  Fehler  weisen  auf  Farben- 
schwäche oder  gar  Farbenblindheit  hin. 

Die  schwierigste  Aufgabe  aber  ist  es  wohl,  bei  2  als  verschieden  erkannten 
Farben  anzugeben,  in  welcher  Hinsicht  sie  verschieden  sind.  Sie  tritt  schon  bei 
der  Bezeichnung  der  Farben  auf.  Es  fragt  sich,  ob  die  verschiedenen  Eigen- 
schaften: Ton,  Helligkeit,  Intensität,  Sättigung  usw.  gesondert  werden 
und  was  das  Kind,  auch  der  Erwachsene,  darunter  versteht.  Man  gibt  verschiedene 
Paare  und  läßt  den  Unterschied  charakterisieren,  oder  man  läßt  zu  einer  Farbe 
die  gleich  hellen,  gleich  satten  finden,  oder  läßt  alle  hellsten,  intensivsten  suchen, 
oder  läßt  eine  Helligkeits-,  Sättigungsreihe  zusammenstellen  und  dergleichen  mehr. 

Alle  derartigen  Versuche  scheinen  mir  für  psychologische  und  pädagogische 
Übungen  wie  auch  für  die  Schule  selbst  sehr  empfehlenswert.  Man  braucht  die 
Ergebnisse  nicht  zu  notieren ;  man  kann  es  im  Unterricht  nicht  immer.  Dennoch 
lernt  man  individuelle  Unterschiede,  z.  B.  im  Umfang  der  Begriffe,  in  der  Er- 
kennung entfernterer  Ähnlichkeiten  kennen,  und  man  lernt  insbesondere  die 
Schwierigkeiten  und  die  Unsicherheit  in  der  Charakterisierung  der  Eigenschaften 
kennen  und  wird  daraus  für  den  Unterricht  Gewinn  ziehen.  Man  braucht  dazu 
natürlich  nicht  eine  bestimmte  Serie.  Jedes  reichhaltige  Muster  tu  ch  leistet 
ähnliches.  Allein  für  die  Verständigung  mit  anderen  ist  eine  Normalserie  nötig, 
und  als  solche  ist  unsere  wohl  am  meisten  zu  empfehlen. 

Gleiches  wie  von  diesen  mehr  intellektuellen  Aufgaben  gilt  von  den  ästhe- 
tischen. Man  läßt  die  Wirkung  sowohl  einzelner  Farben  wie  von  Kombinationen 
beschreiben,  Bilder  oder  bestimmte  Erinnerungen  angeben,  die  sie  auslösen; 
oder  man  läßt  die  schönsten  Farben  oder  Kombinationen  suchen,  läßt  zu  be- 
stimmten Anlässen,  z.  B.  zu  Festen,  oder  zu  bestimmten  Gedichten,  Stimmungen 
passende  Farben  wählen.  Man  kann  sehr  viele  Versuche  dieser  Art  anstellen,  imd 
sie  werden  immer  lehrreich  sein;  aber  man  wird  selten  auf  feste,  übereinstim- 
mende Ergebnisse  rechnen  dürfen. 

Tafel  und  Ovale  zur  Erziehung  des  Farbensinnes  nach  Magnus. 
Die  Serie  ist  nicht  so  vielseitig  wie  die  vorige,  sie  verfolgt  speziellere  Zwecke. 
Sie  enthält  9  Farben,  für  welche  wir  einfache  Namen  haben:  braun,  purpur, 
rot,  gelb,  grün,  blau,  violett;  jede  Farbe  außerdem  in  drei  immer  weißlicher 
werden  den  Schattierungen.  Diese  36  Farben,  auf  Papier  gedruckt,  sind  auf 
einer  Tafel  aufgeklebt.    Der  Lehrer  soll  die  Tafel  erklären. 

Sodann  sind  dieselben  Farben  als  Ovale  auf  Pappe  geklebt,  von  jeder 
Nuance  sind  zwei  Ovale  vorhanden.  Damit  können  folgende  Versuche  angestellt 
werden:  Eine  Farbe  wird  auf  der  Tafel  gezeigt;  es  sind  die  gleichen  Ovale  heraus- 
zusuchen. Oder  es  wird  eine  Nuance  gezeigt,  und  es  sind  alle  Nuancen  desselben. 
Tones  zu  suchen. 


Einfache  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  53 

Grau- Serie  (Mechaniker  Zimmermann,  Leipzig).  Papiere  der  Größe 
50X60  cm,  50  Stufen  von  Weiß  bis  Schwarz.  Die  Stufen  sind  leider  sehr  un- 
gleich, die  Grau  nicht  frei  von  schwachen  Tönungen,  die  auch  bei  verschiedenen 
Stufen  verschieden  sind.  Für  manche  Versuche  kann  man  eine  Skala  von  z.  B. 
15 — 20  Grau  heraussuchen,  die  dann  ziemlich  gleichmäßig  ist.  Für  feinere 
Versuche  muß  man  zu  Mischapparaten  greifen. 

An  die  Grau-Reihe  knüpfen  sich  folgende  Probleme.  Analog  wie  bei  den 
bunten  Farben  erhebt  sich  die  Frage  der  Erkennung:  Welche  Stufen  werden 
als  weiß,  grau,  schwarz  bezeichnet  ?  Gibt  es  ein  bestes  Grau  ?  Wie  weit  reicht 
die  Weißähnlichkeit  ?  Ist  ein  nicht  ganz  schwarzes  Schwarz  schon  etwas  weißlich  ? 

Viel  untersucht  ist  die  Unterschiedsempfindlichkeit  für  Grau-Nu- 
ancen. Wie  feine  Unterschiede  werden  noch  unterschieden  ?  Ebenso  die  kompli- 
zierte Frage:  Können  zwei  Grau-Unterschiede  verglichen  werden?  Wie 
beschaffen  muß  ein  Grau  sein,  damit  es  in  der  Mitte  zwischen  zwei  anderen  Grau 
steht?  Aber  wir  können  noch  weiter  gehen:  Wir  können  irgendeine  Kombi- 
nation mehrerer  Grau  in  größere  oder  geringere  Helligkeit  übertragen.  Oder 
wir  können  eine  Kombination,  ein  Verhältnis  von  Farben  einmal  kontrast- 
reicher, einmal  flauer  abbilden,  während  doch  immer  das  Verhältnis  erhalten 
bleibt.  Von  der  Photographie  her  sind  alle  diese  Fragen  bekannt.  Dort  haben 
wir  aber  keine  Möglichkeit,  die  einzelnen  Grau  selbst  zu  suchen,  abzustimmen 
und  so  die  Feinheit  unseres  Urteils  zu  messen. 

Ist  in  allen  diesen  Fragen  die  Grau-Reihe  an  sich  von  Interesse,  so  wird  sie 
uns  bei  folgenden  Versuchen  durch  die  Beziehungen  zu  den  bunten  Farben 
wertvoll.  Die  Helligkeit  einer  bunten  Farbe  bestimmen  wir  meist  so,  daß 
wir  ein  gleich  helles  Grau  suchen.  Die  Zuordnung  muß  nicht  immer  auf  Grund  der 
Helligkeit  erfolgen,  das  Grau  kann  auch  aus  anderen  Gründen  zur  Farbe  passen. 
Nicht  nur  zu  einer  isolierten  Farbe,  sondern  auch  zu  einer  Kombination  kann 
eine  passende  Grau-Kombination  gesucht  werden.  Damit  stehen  wir  vor  der  sehr 
komplizierten  und  schwierigen  Frage  der  Weiß- Schwarz- Abbildung  eines 
farbigen  Objektes  oder  der  farblosen  Reproduktion  eines  farbigen  Bildes.  Welche 
Grau  werden  gewählt?  Ist  die  absolute  Helligkeit  des  Grau  innerhalb  größerer 
Grenzen  gleichgültig,  und  kommt  es  nur  auf  das  Verhältnis  an  ?  Wie  verhalten 
sich  Kinder  bei  diesen  Versuchen?  Bei  einzelnen  Farben  gelingt  Kindern  die 
Zuordnung  überraschend  leicht.  Zeigen  sie  aber  auch  schon  Sinn  für  Kombi- 
nationen ? 

Alle  diese  Versuche  lassen  sich  mit  unserer  Serie  freilich  nur  unvollkommen 
aasführen.  Leider  gibt  es  zurzeit  keine  bessere  Serie ;  die  technische  Herstellung 
scheint  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden  zu  sein.  Für  manche  Fragen 
reicht  die  Serie  aber  recht  gut  aus.  So  sind  die  Tafeln  für  Farbenblindheit  mit 
Grau  aus  dieser  Serie  hergestellt;  die  Unterschiede  sind  dort  so  groß,  daß  die 
Serie  ein  hinreichend  klares  Bild  gibt. 

Farbenpyramide  aus  der  Sammlung  ,,100  Schulversuche**  von  Höfler 
und  Witasek  (Rohrbecks  Nachfolger,  Wien).  Sie  soll  das  System  veranschau- 
lichen, das  heute  ziemlich  allgemein  als  Idealsystem  anerkannt  wird:  6  Ur- 
farben  nach  Hering:  Rot,  Gelb,  Grün,  Blau,  Weiß  und  Schwarz  und  deren 
Übergänge.  Die  Lokalisation  der  Urfarben  an  die  Ecken  eines  Vierecks  drückt 
ihre  ausgezeichnete  Stellung  im  Farbenzirkel  aus;   die  Lokalisation  der  Weiß- 


54  Einfache  Apparate   zur  experimentellen  Pädagogik. 

Schwarz-Reihe  in  die  vertikale  Achse  zeigt  deren  ausgezeichnete  Stellung 
gegenüber  den  bunten  Urfarbenreihen  (z.  B.  Rot-Gelb):  von  jeder  farblosen 
Nuance  gibt  es  Übergänge   zu  allen  bunten  Tönen. 

Leider  sind  die  Farben  auf  der  Pyramide  nicht  gut  getroffen.  Offenbar  ist 
die  Herstellung  technisch  schwierig  oder  kostspielig.  Aber  das  Modell  ist  das 
einzige  im  Handel  vorhandene.  Für  Schulen  wäre  ein  gutes  Modell  dringend 
erwünscht. 

NB.  Eine  Sammlung  verschiedener  Darstellungen  derselben  oder  anderer 
Systeme  wäre  für  die  Pädagogik  sehr  lehrreich.  Werden  immer  die  richtigen 
Farben,  z.  B.  das  beste  Rot  gewählt  ?  Geben  sie  ein  vollständiges  System  ?  Häufig 
fehlen  z.  B.  die  Übergänge  der  bunten  Töne  zu  Grau. 

Tafel  der  photographischen  Helligkeitswerte  nach  Rupp  (Mecha- 
niker Marx,  Berlin).  Die  Tafel  ist  analog  zusammengesetzt  wie  die  Tafeln  der 
Peripherie-  und  der  Dämmerungswerte ;  nur  sind  die  Grau  nach  einem  anderen 
Prinzip  gewählt.  Jeder  Farbe  ist  jenes  Grau  zugeordnet,  in  welchem  sie  sich 
bei  einer  photographischen  Aufnahme  abbildete.  Man  sieht,  wie  z.  B.  die  blauen 
Töne  auf  der  Photographie  relativ  hell  werden. 

Hält  man  diese  und  die  zwei  früher  erwähnten  Tafeln  nebeneinander,  so 
erkennt  man,  daß  derselben  Farbe  häufig  auf  verschiedenen  Tafeln  andere  Grau 
zugeordnet  sind.  Es  liegt  nahe,  eine  Tafel  zu  entwerfen,  die  durch  direkte  Hellig- 
keitsvergleichung gewonnen  ist.  Sie  allein  würde  wirklich  Helligkeitswerte 
geben;  alle  anderen  Methoden  sind  indirekt,  und  es  ist  jedesmal  erst  zu  unter- 
suchen, ob  sie  mit  der  direkten  übereinstimmen.  Jedoch  habe  ich  vorläufig 
davon  Abstand  genommen,  da  die  Einstellungen  zu  sehr  differieren  und  man 
von  normalen  Helligkeits werten  zurzeit  noch  nicht  sprechen  kann.  Auch  dürfte 
die  Zuordnung  eine  andere  sein,  wenn  man  das  ganze  Spektrum  vor  sich  hat, 
als  wenn  man  die  Farben  einzeln  untersucht,  wie  es  gewöhnlich  geschieht. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Über  die  Aufgaben  der  psychologisch-pädagogischen  Forschung  im  Gebiete 
des  Religionsunterrichtes  äußert  sich  Universitätsdozent  Dr.  G.  Deuchler-Tü- 
bingen  in  folgender  bemerkenswerter  Weise :  Im  Zusammenhang  mit  der  gegen- 
wärtigen Bewegung  einer  Reform  und  Gestaltung  des  Religionsunterrichts  nach 
pädagogischen  und  psychologischen  Prinzipien  taucht  natürlicherweise  besonders 
energisch  die  Frage  auf  nach  der  religiösen  Entwicklung  des  Kindes  und  des  Jugend- 
lichen. Die  Aufgaben,  um  die  es  sich  hier  handelt,  lassen  sich  um  sechs  Fragen  grup- 
pieren: 1.  um  die  des  Verständnisses  und  der  Resonanz  oder  Bedeutungstiefe  der 
Begriffe  des  religiösen  Lehrinhalts,  2.  um  die  der  Wirksamkeit  religiöser  Vorbilder, 
3.  um  die  nach  der  Dauer  und  Tiefe  der  religiösen  Affekte  und  Handlungen  wie 
Ehrfurcht,  Andacht,  Gebet,  4.  um  die  nach  den  Bestandteilen,  die  auf  das  Vor- 
handensein einer  idealen  und  eventuell  transzendenten  Welt  —  von  dem  Bewußt- 
sein der  jeweiligen  Altersstufe  aus  betrachtet  —  hinweisen,  5.  um  die  nach  den 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen,  55 

religiösen  Bestandteilen  in  den  ethischen  Affekten,  z.  B.  in  Schuld,  Reue  und 
Hoffnung,  sowie  im  sittlichen  Verhalten  überhaupt,  und  6.  um  die  nach  der 
Abhängigkeit  von  dem  religiösen  Leben  der  Umgebung  und  nach  der  Verschie- 
denheit beim  einzelnen  Individuum.  Leicht  sind  diese  Fragen  nicht  zu  lösen, 
und  nur  wer  sich  frei  weiß  von  Tendenzen,  die  außerhalb  des  wissenschaftlichen 
Problems  liegen,  und  die  nötige  Feinfühligkeit  besitzt,  möge  an  solche  Probleme 
sich  wagen.  Von  relativ  geringer,  oft  sogar  von  zweifelhafter  Bedeutung  sind 
die  meisten  bisherigen  Untersuchungen  über  das  Verständnis  religiöser  Begriffe 
durch  Definierenlassen  derselben  oder  durch  Ausfragen  darüber.  Das  wertvollste 
Material  wird  durch  eine  diskrete  Beobachtung  des  religiösen  Verhaltens,  durch 
Dialoge,  die  in  ihren  Bedingungen  vollständig  durchsichtig  sind,  und  durch 
sorgfältiges  Registrieren  der  Stellungnahme  im  Unterrichtsgespräch  zu  ge- 
winnen sein. 

Die  Erprobung  der  „Linkskultur"  in' den  Berliner  Hilfsschulen  hat  nach 
den  Berichten  des  Stadtschulinspektors  Dr.  Dickhoff  zu  so  wenig  befriedigenden 
Ergebnissen  geführt,  daß  von  weiteren  Versuchen  Abstand  genommen  wird. 
Die  eingelaufenen  Gutachten,  die  sich  auf  rund  2600  Kinder  in  146  Klassen  be- 
ziehen, sprechen  sich  teils  ablehnend  aus,  teils  enthalten  sie  sich  eines  abschließen- 
den Urteils.  Die  Linkskultur  wurde  in  der  Art  gepflegt,  daß  man  neben  der 
rechten  Hand  auch  die  linke  heranzog  beim  Turnen  und  Handfertigkeitsunter- 
richt, beim  Schreiben  und  Zeichnen.  Während  beim  Handfertigkeits-  und  Zeichen- 
unterricht immerhin  im  allgemeinen  nicht  ungünstige  Erfahrungen  gemacht 
wurden,  sind  die  Berichte  einig  in  der  Ablehnung  der  Linkskultur  beim  Schreiben. 
Daß  eine  gesteigerte  geistige  Entwicklung  im  Gefolge  der  Linkskultur  aufgetreten 
sei,  läßt  sich  nicht  behaupten.  Ja,  in  den  Fällen,  wo  infolge  Lähmung  der  rechten 
Seite  eine  erhöhte  Betätigung  der  linken  Hand  einsetzte,  ist  der  große  Erfolg, 
der  in  der  geistigen  Entwicklung  eintreten  sollte,  ausgeblieben.  Fast  alle  Berichte 
heben  hervor,  daß  der  Nutzen  aus  der  Linkskultur  in  keinem  Ver- 
hältnis steht  zu  dem  Aufwand  an  Arbeit  und  Mühe. 

Ein  Fall  von  Kleptomanie  im  Schüleralter.  Bekanntlich  neigen  ganz  be- 
sonders Kinder  dazu,  in  die  fremde  Eigentumssphäre  einzubrechen.  Die  Motive 
hierzu  können  verschiedener  Art  sein:  meist  sind  es  Zweckmäßigkeitsgründe, 
die  ein  Kind  veranlassen,  zu  stehlen.  So  zum  Beispiel  die  Freude  am  Besitz, 
Sammeltrieb  und  die  Schadenfreude  am  Suchen  des  Bestohlenen.  Wenn  bei  diesen 
durch  diebische  Neigung  hervorgerufenen  Vergehen  die  nötige  Aufsicht  mangelt, 
so  kann  ein  solches  Kind  doch  einmal  später  zu  Bedenken  Veranlassung  geben. 
Fällt  aber  jeder  Moment  der  Zweckmäßigkeit  fort,  wird  das  Stehlen  Selbstzweck, 
dann  kann  nur  noch  als  Motiv  eine  Zwangsvorstellung  in  Betracht  kommen. 
Dann  wird  der  Vorgang  des  Stehlens  selbst  in  den  Vordergrund  gerückt,  die  Sache, 
der  Gegenstand  werden  gleichgültig,  der  Diebstahl  ist  eine  Triebhandlung, 
die  nicht  auf  Beschaffung  einer  Sache  gerichtet,  sondern  Selbstzweck  geworden 
ist.  Dies  ist  Kleptomanie  im  eigentlichen  Sinn,  die  sehr  schwer  festzustellen  ist 
und  nicht  allzu  häufig  vorkommen  dürfte.  —  Um  so  interessanter  ist  folgender 
Fall,  den  ich  aus  nächster  Nähe  zu  beobachten  Gelegenheit  hatte. 

Einer  meiner  Privatschüler  im  Alter  von  sieben  Jahren  entlarvte  sich  als 


56  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Kleptomane  dieser  Art,  Mir  war  nämlich  aufgefallen,  daß  Wochen  hindurch 
kleinere  Gegenstände  aus  meinem  Arbeitszimmer  verschwanden.  Mein  Verdacht 
richtete  sich  auf  diesen  Schüler  X.  Eines  Tages  gelang  es  mir  auch,  den  Jungen 
während  einer  Viertelstunde  seiner  Arbeitszeit  allein  zu  beobachten.  Auf  einem 
Tisch,  drei  Meter  von  ihm  entfernt,  lang  eine  kleine,  fast  wertlose  Taschenbürste. 
Kaum  war  er  ihrer  ansichtig  geworden,  mußte  in  ihm  der  Gedanke  aufgetaucht 
sein,  sich  in  ihren  Besitz  zu  setzen.  Er  warf  begehrliche  Blicke  herüber,  stand 
einmal  auf,  griff  auch  nach  ihr,  sah  sie  sich  genau  an  und  legte  sie  wieder 
hin.  Dann  setzte  er  sich  wiederum  auf  seinen  Platz,  stand  noch  einmal  auf  und 
steckte  sie  nun  hastig,  unruhig  und  unter  allen  Zeichen  innerer  Erregung  wirklich 
ein.  Als  ich  dies  anfangs  sah,  zweifelte  ich  nicht,  den  Urheber  der  kleinen 
Diebstähle  der  letzten  Zeit  vor  mir  zu  haben.  Aber  ich  fragte  mich  bereits, 
zu  welchem  Zweck  er  die  Bürste  fortnahm.  Ich  trat  nunmehr  dazwischen, 
nahm  ihm  die  Bürste  wieder  fort  und  verhörte  ihn  über  die  Beweggründe  seines 
Verhaltens.  Es  war  aus  ihm  nichts  herauszubringen,  und  so  setzte  ich  mich 
mit  der  Mutter  in  Verbindung.  Sie  durchsuchte  bei  dieser  Gelegenheit  die 
Sachen  ihres  Sohnes  und  konnte  mir  berichten,  daß  sie  eine  Menge  fremder  Sachen 
versteckt  unter  den  alten  Schulheften  des  X.  im  äußersten  Schrankwinkel  ge- 
funden habe.  Wir  stellten  nun  gemeinsam  fest,  daß  es  sich  in  fast  allen  Fällen 
um  für  den  Jungen  wertlose  und  unbrauchbare  Sachen  handelte.  Er  hatte 
der  Freundin  seiner  etwas  älteren  Schwester  Puppenseife  fortgenommen,  ohne 
je  damit  zu  spielen,  —  das  Moment  des  Neckens  ist  nach  den  Aussagen  der  Mutter 
und  der  Schwester  ausgeschlossen.  Er  hatte  ferner  allerhand  Kleinigkeiten 
aus  dem  Haushalt  entwendet,  die  für  ihn  nicht  den  geringsten  Wert  besitzen 
konnten.  Merkwürdigerweise  fanden  wir  auch  bei  ihm  Löschblätter  und  neue 
Federn,  die  er  einem  Freund  fortgenommen  hatte.  Aber  auch  diese  hatte  er  nicht 
benutzt,  obgleich  sie  schon  monatelang  im  Schrank  gelegen  hatten;  noch  war 
keine  Feder  — ■  wie  die  Schachtelaufschrift  ergab  —  benutzt  worden,  kein  Lösch- 
blatt angerührt. 

Daraus  ergab  sich,  daß  es  sich  um  einen  reinen  Fall  von  Kleptomanie  handelte. 
Spätere  Verhöre  zeigten,  daß  es  sich  bei  ihm  niemals  um  Zweckmäßigkeits- 
gründe gehandelt  hat,  niemals  hat  er  eine  gestohlene  Sache  wirklich 
benutzt,  niemals  eine  solche  etwa  versilbert  oder  überhaupt  irgend- 
einen Vorteil  aus  seiner  Handlungsweise  gezogen.  Daher  bleibt  nach  meiner 
Vermutung  nur  übrig,  daß  der  Junge  unter  einer  Zwangsvorstellung  ge- 
handelt hat,  daß  er  stehlen  mußte,  und  daß  er  nicht  voll  verantwortlich 
gemacht  werden  kann. 

Er  wurde  infolgedessen  auch  nicht  gestraft,  sondern  nur  ermahnt,  dergleichen 
nicht  wieder  zu  tun.  Alle  Gegenstände,  die  ihn  etwa  reizen  konnten,  wurden  aus 
seiner  Nähe  geschafft,  im  übrigen  wurde  er  unter  strenge  Aufsicht  gestellt. 
Aus  anderen  ähnlichen  Fällen,  die  allerdings  nicht  so  deutlich  lagen,  ist  mir  bekannt, 
daß  sich  eine  solche  Veranlagung  häufig  gibt,  und  daß  der  Kranke  —  gewöhnlich 
in  der  Pubertätszeit  — ■  wieder  die  richtigen  Hemmungen  in  der  Moral  und  im 
Ethos  findet.  Jedenfalls  gehört  ein  solches  Kind  nicht  in  die  Schule,  weil  er  für 
die  übrigen  Schüler  ein  Anreiz  sein  könnte,  sich  eben  derselben  Handlungen 
schuldig  zu  machen. 

Berlin.  Kurt  Tucholsky., 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  57 

Eine  neue  Theorie  über  die  Ursache  der  Schulkurzsichtigkeit  vertrat 
der  Augenarzt  Prof.  Dr.  Levinsohn-Berlin  vor  der  Gesellschaft  für  soziale 
Medizin,  für  Hygiene  und  Medi^inalstatistik.  Nach  weitverbreiteter  Anschauung 
wird  die  in  der  Schule  entstehende  Kurzsichtigkeit  durch  die  Naharbeit  ver- 
schuldet, und  man  sucht  sich  den  Vorgang  so  zu  erklären,  daß  bei  der  ständigen 
Annäherung  des  Auges  an  die  Arbeit  der  Druck  innerhalb  des  Auges  steige 
und  hierdurch  die  kugelige  Kapsel  zu  einer  Eiform  ausgedehnt  werde.  Nun  haben 
sich  aber  solche  zur  Erklärung  angenommenen  Drucksteigerungen  in  neueren 
Untersuchungen  nicht  nachweisen  lassen.  Ebenso  hat  sich  auch  eine  andere 
Theorie,  nach  der  die  Naharbeit  einen  Muskeldruck  bedinge  und  so  die  Wachs- 
tumsrichtung des  Auges  verändert  werde,  als  unhaltbar  erwiesen;  denn  im  4. — 14. 
Lebensjahre,  in  dem  sich  vornehmlich  die  Kurzsichtigkeit  entwickelt,  wächst  das 
Auge  nicht  mehr  oder  doch  nur  wenig.  Auf  Grund  eingehender  Studien  schuldigt 
nun  Levinsohn  die  Körperhaltung  als  Ursache  an:  der  Rumpf  wird  bei  den 
Schularbeiten  nach  vorn  gebeugt,  außerdem  der  Kopf,  so  daß  die  bei  gerader 
Körper-  und  Kopfhaltung  horizonzal  gerichtete  Achse  des  Auges  immer  mehr 
der  vertikalen  Richtmig  genähert  wird.  Dabei  sinkt  allmählich  das  Auge 
nach  vorn,  der  Schwere  folgend,  und  da  es  hinten  und  an  den  Seiten  durch 
Sehnerven,  Blutgefäße,  Muskeln  usw.  befestigt  ist,  so  dehnt  sich  in  dieser 
Lage  die  Kapsel  allmählich  in  die  Länge.  Dieses  Herabsinken  hat 
Levinsohn  durch  Luftdruckmessung  festgestellt,  und  später  ist  es  von  anderer 
Seite  auf  photometrischem  Wege  bewiesen  worden.  Eine  Bestätigung  dieser 
Theorie  gibt  die  Tatsache,  daß  einige  Berufe  mit  ausgesprochener  Naharbeit, 
wie  Uhrmacher,  Juweliere,  Feinstickerinnen,  verhältnismäßig  wenig  Kurzsichtige 
zeigen.  Man  konnte  sich  das  bisher  nur  schwer  erklären.  Jetzt  leuchtet  die 
Ursache  ein:  Uhrmacher  und  Juweliere  arbeiten  auf  niedrigen  Schemeln  an 
verhältnismäßig  hohen  Tischen,  also  nur  wenig  gebückt,  und  die  Feinstickerinnen 
pflegen  den  Stickrahmen  hoch  in  die  Nähe  der  Augen  zu  bringen.  Levinsohn 
stellte  weiter  Versuche  an  jungen  Hunden,  Katzen,  Kaninchen,  vor  allem  aber 
an  Affen  an.  Er  setzte  die  Affen  in  kleine  Kästchen,  so  daß  der  Kopf  durch 
eine  Öffnung  herausragte.  Über  der  Öffnung  befand  sich  ein  Brett,  das  ein  Hoch- 
richten des  Kopfes  unmöglich  machte ;  die  Tiere  waren  also  gezwungen,  die  Augen 
fast  senkrecht  nach  unten  gerichtet  zu  halten,  und  blieben  täglich  in  dieser  Haitang 
mehrere  Stunden.  Von  Woche  zu  Woche  konnte  man  durchweg  die  Entstehung  und 
Zunahme  einer  Kurzsichtigkeit  feststellen,  bis  zu  sehr  hohen  Graden,  und  die  spätere 
anatomische  Untersuchung  der  Augen  ergab  in  allem  vollkommene  Übereinstim- 
mung mit  den  anatomischen  Veränderungen  am  kurzsichtigen  Auge  des  Menschen. 

Leicht  ergeben  sich  nun  die  vorbeugenden  Maßnahmen:  nicht  in  erster  Linie 
Vermeidung  zu  großer  Nähe  zwischen  Auge  und  Schrift,  sondern  Vermeidung 
gebückter  Haltung  beim  Arbeiten.  Dazu  müssen  die  Schul- und  Arbeits- 
tische entsprechend  eingerichtet  werden.  Die  Schreibplatte  wird  man  nicht 
so  bald  überall  entsprechend  ändern  können,  aber  mindestens  läßt  sich  die  Platte 
jeder  Schulbank  für  das  Lesen  so  einrichten,  daß  das  Buch  hochsteht  und  das 
Auge  ziemlich  geradeaus  gerichtet  bleiben  kann. 

Ein    Vergleich    der    schulärztlichen    Befunde    bei    Schülerinnen    der 
Höheren   Mädchenschule  und  der  Volksschule  liegt  für  die  Stadt  Halle 


58 


Kleine   Beiträge  und  Mitteilungen. 


vor.^)  Er  zeigt,  daß  die  allgemeine  Körperbeschaf fenheit  bei  den  Ly- 
zeumsschülerinnen  durchaus  nicht  so  erheblich  besser  steht,  als  es  gemeinhin  an- 
genommen wird.  Unterscheidet  man  drei  Grade  körperlicher  Entwicklung,  so  er- 
gibt die  Verteilung  der  untersuchten  Schülerinnen  auf  sie  das  folgende  Bild: 


I 

II 

III 

Lyzeum. 

38,5% 

61,7% 

0,6% 

Volksschule 

33,5% 

58,7% 

7,8% 

Ein  kaum  erwartetes  Ergebnis  liefert  nun  der  Häufigkeitsvergleich  der  wich- 
tigsten in  der  Schule  auftretenden  Körperfehler:  sie  werden,  wie  das  neben- 
stehende  statistische   Bild  zeigt,   in   der   Höheren   Mädchenschule   bedeutend 

zahlreicher  gefunden  als  in 
Wirbelsäulen-    q  r  i.-  ^^^r  Volksschule,  unzweifel- 

^  haft  eine  bedenkliche  Wir- 

kung der  Belastung  mit 
längerer  Schulzeit,  größerer 
Stundenzahl,  anspannen- 
derem Unterricht  und  um- 
fangreicherer Schulhaus- 
arbeit. Es  mag  wohl  aber 
auch  der  Vorwurf  zu  Recht 
bestehen,  daß  nach  unserer 
Erfahrung  in  den  höheren 
Schulen  nicht  so  sorgsam 
wie  in  den  Volksschulen 
auf  straf  feKörperhaltung — 
besonders  beim  Schreiben 
—  gesehen  wird.  Um  so 
berechtigter  erscheint  dann  das  Vorgehen  der  Stadt  Halle,  die  als  eine  der 
ersten  deutschen  Städte  eine  ausgiebige  schulärztliche  Versorgung  auch  an  den 
höheren  Lehranstalten  —  einschließlich  der  Mädchenschulen  —  eingeführt  hat. 
Es  ist  bekannt,  wie  man  vielfach  meint,  den  Schularzt  hier  darum  entbehren  zu 
können,  weil  die  Gesundheit  der  Schüler  von  Hause  aus  hinreichend  überwacht 
würde  und  weil  schulärztliche  Eingriffe  den  Schulbetrieb  emp  f  indlich  stören  könnte. 

Für  stotternde  Schulkinder  hatte  die  Stadt  Berlin  im  Schuljahr  1912/13 
29  Heilkurse  eingerichtet,  die  von  359  Schülern  (190  Knaben  und  169  Mädchen) 
besucht  wurden.  Die  Abschlußprüfungen  fanden  vom  28.  Februar  bis  8.  März 
unter  Teilnahme  der  Schulinspektoren,  Schulärzte,  Rektoren  und  nicht  selten 
unter  der  Teilnahme  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  der  stotternden  Kinder  statt. 
Es  wurden  nur  die  Kinder  als  geheilt  bezeichnet,  deren  Sprache  sich  in  jeder 
Beziehung  als  einwandfrei  erwies.  Als  geheilt  konnten  von  337  geprüften 


^)  Vergl.  den  ausgezeichneten  Bericht :  Die  Einrichtungen  für  städtische 
Gesundheitspflege  in  Halle  a.  S.,  verfaßt  im  Jahre  1912/13,  von  Stadtarzt 
Dr.  V.  Drigalski  und  Schularzt  Peters.  Herausgegeben  vom  Magistrat  zu 
Halle.     Kommissionsverlag  der  Lippertschen  Buchhandlung. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  59 

Kindern  221  bezeiclinet  werden,  das  sind66v.H.  In  den  vorliergelienden 
Jahren  lautete  die  entsprechende  Zahl  62  v.  H.  Drei  Kinder  mußten  als 
ungebessert  bezeichnet  werden.  Die  übrigen  Kinder  waren  gebessert,  d,  h.  die 
Mitbewegungen  an  den  Armen  und  Beinen  und  am  Gesicht  waren  geschwunden, 
ihre  Sprache  war  meist  fließend,  doch  noch  nicht  ganz  ohne  Tadel.  Von  ihnen 
ist  eine  ganze  Reihe  durch  den  Nachkursus  noch  völlig  geheilt  worden. 

Zur  Soziologie  der  erwerbsunfähigen  Schwachsinnigen  gab  Rektor  Arno 
Fuchs  im  Erziehungs-  und  Fürsorge  verein  für  schwachsinnige  Kinder  die 
folgenden  Tatsachen  uud  Anregungen.  Nach  den  Erfahrungen  der  Fortbildungs- 
schule für  Schwachbeanlagte  beteiligen  sich  70 — 80  Prozent  der  ehemaligen 
Hilfsschulkinder  als  Lehrlinge,  Arbeitsburschen,  Dienstmädchen  und  Arbei- 
terinnen an  der  Arbeit  der  Gesellschaft.  20 — 30  Prozent  aber  müssen  davon 
ausgeschlossen  bleiben.  Sie  sind  entweder  bildungsunfähig  (ca.  10  Prozent) 
oder  sie  erweisen  sich  nur  beschränkt  arbeitsfähig  und  können  bloß  unter  steter 
Aufsicht  erwerbsfähig  werden  (ca.  10 — 20  Prozent).  Die  eine  Gruppe  dieser 
letztgenannten  Menschen  ist  nicht  unbegabt,  aber  manuell  vollständig  un- 
geschickt; die  andere  ist  ebenfalls  nicht  unbegabt,  aber  energielos,  schlecht 
diszipliniert  und  zeigt  ein  so  häßliches  Betragen,  daß  mit  ihr  in  der  Öffentlich- 
keit nirgends  auszukommen  ist.  Eine  dritte  Gruppe  ist  geistig  unbegabt,  kör- 
perlich sehr  ungeschickt  und  verbindet  mit  dieser  geistigen  und  körperlichen 
Schwäche  noch  ein  besonderes  Leiden,  z.  B.  Kurzsichtigkeit,  Schwerhörigkeit. 
Daß  diese  Unglückskinder  um  ihrer  Schwäche  und  Eigentümlichkeiten  willen 
durchweg  von  der  Arbeit  in  der  Gesellschaft  ausgeschlossen  bleiben,  daß  sie 
in  der  Gesellschaft  unmöglich  sind,  ist  klar. 

Wie  gestaltet  sich  nun  das  Schicksal  dieser  Kinder? 

Zunächst  werden  sie  vielfach  privaten  Anstalten  zur  Ausbildung  überwiesen. 
Diese  können  sie  aber  nicht  dauernd  behalten  und  geben  sie,  ohne  Resultate 
erzielt  zu  haben,  den  Eltern  schließlich  wieder  zurück.  Nun  beginnt  der  Kampf 
der  Elternliebe  gegen  die  Gesellschaft.  Die  Eltern  wollen  noch  immer  nicht 
einsehen,  daß  ihr  Kind  geistig  anormal  ist,  sie  machen  unendlich  viele  und  ver- 
gebliche Versuche,  es  doch  noch  irgendwo  nutzbringend  zu  beschäftigen,  bis 
es  schließlich  in  den  Schoß  der  Familie  zurückfällt.  Auch  die  verheirateten 
älteren  Geschwister  versuchen  vielleicht,  das  Kind  eine  Zeitlang  zu  ertragen. 
Da  es  aber  nur  ein  Esser  und  kein  Arbeiter  ist,  wird  es  ihnen  auf  die  Dauer  auch 
zur  Last.  So  endet  es  schließlich  in  der  Pflegeabteilung  einer  Irrenanstalt  oder 
eines  Siechenhauses  oder  vergrößert  im  späteren  Leben,  sofern  es  sich  selbst 
überlassen  bleibt,  das  Heer  der  Asylisten,  Zwangsarbeiter,  Prostituierten  und 
Gefangenen.  Also  ein  schwerer  Leidensweg  oder  ein  verkümmertes  Leben  in 
der  Familie  ist  das  Ende  der  vorhin  gekennzeichneten  Kinder.  Und  deshalb 
ist  es  notwendig,  solche  Menschen  beizeiten  aus  der  Öffentlichkeit  zu  entfernen 
und  sie  in  einem  „Beschäftigungs-  und  Ausbildungsheim  für  geistig  Schwache" 
unterzubringen.  Die  Aufgaben  eines  solchen  Heimes  beständen  in  der  Erziehung 
der  Kinder  zur  Arbeit,  in  der  Verwertung  der  schwachen  Kräfte  für  eine  nutz- 
bringende Tätigkeit.  Komplizierte  Arbeit  müßte  in  Teilarbeit  zerlegt  werden. 
Beschäftigungsmöglichkeiten  böten  sich  im  Haushalt  und  im  Hausleben  der 
Insassen,  im  Garten  und  in  der  Landwirtschaft.     Auch  leichte  Berufsarbeiten 


60  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

könnten  eingeführt  werden,  z.  B.  Bürstenbinden,  Papier-  und  Holzarbeiten, 
Flechten  in  Stroh  und  Kohr.  Die  Mädchen  könnten  in  Haus  und  Küche  Ver- 
wendung finden.  Nach  einer  gewissen  Ausbildungszeit  könnte  man  vielleicht 
einige  Zöglinge  versuchsweise  in  die  Familie  hinausgeben.  Eine  solche  Anstalt 
müßte  natürlich  die  nötigen  Wohn-,  Ausbildungs-  und  Beschäftigungsräume 
haben.  Sie  dürfte  nicht  mit  einer  Irrenanstalt  verbunden  und  niemals  Pflege- 
anstalt sein.  Sie  müßte  in  der  Nähe  einer  Großstadt  liegen.  Auch  könnte  die 
Altersgrenze  nicht  zu  hoch  genommen  werden,  damit  nicht  Zöglinge  Aufnahme 
finden,  die  die  Arbeit  schon  gänzlich  verlernt  haben.  Für  viele  Eltern  würde 
es  ein  Grlück  bedeuten,  wenn  sie  ihr  geistig  schwaches  und  nicht  recht  erwerbs- 
fähiges Kind  zeitlebens  in  einem  solchen  Heim  aufgehoben  wüßten,  in  dem  ihm 
auch  noch  verständige  Teilnahme,  Liebe  und  Freude  geboten  würden.  Viele 
Begüterte  würden  ihr  Kind  gern  einkaufen. 

Der  Verein  beabsichtigt  vorläufig  die  Gründung  eines  Heimes  für  Mädchen, 
weil  diese  am  meisten  allerhand  Gefahren  ausgesetzt  sind.  Er  wird  demnächst 
eine  öffentliche  Umfrage  über  das  tatsächlich  vorhandene  Bedürfnis  ver- 
anstalten. 

Eine  Prüfung  für  Hilfsschullehrer  ist  von  dem  preußischen  Minister  der 
geistlichen  und  ünterrichtsangelegenheiten  zum  Erwerb  der  Anstellungsfähigkeit 
eingerichtet  worden  (Zentralblatt  für  die  Unterrichtsverwaltung  unter  U  HI  A 
1295).  Nach  §  8  der  Prüfungsordnung  erstreckt  sich  die  mündliche  Prüfung, 
neben  der  eine  schriftliche  und  eine  praktische  hergeht,  auf  alle  Gebiete  der 
Erziehung  und  des  Unterrichts  der  Schwachbegabten  unter  Bezugnahme  auf 
die  allgemeine  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre.  Die  Bewerber  haben  insbe- 
sondere nachzuweisen  die  Bekanntschaft  1.  mit  der  Psychologie  und  ihren 
Zweigwissenschaften,  der  Psychopathologie,  der  Kinderpsychologie  mit  dem 
Wesentlichen  über  den  Bau  und  die  Funktionen  der  Sinnesorgane,  des  gesunden 
und  kranken  Gehirns  und  Nervensystems,  mit  der  Psycho-Physiologie  der  Sprach- 
funktionen, den  wichtigsten  Sprachstörungen  und  den  Methoden  ihrer  Behand- 
lung und  Heilung;  2.  mit  der  Methodik  aller  Unterrichtsgegenstände,  der  Ein- 
richtung und  den  Lehr-  und  Lernmitteln  der  Hilfsschule;  3.  mit  der  Geschichte 
und  der  Literatur  der  Hilfsschule,  soweit  sie  für  ihre  Entwicklung  von  Bedeutung 
ist;  4.  mit  den  Fragen  der  Fürsorge  für  Schwachsinnige.  In  die  Prüfungskommis- 
sion ist  auch  ein  Psychiater  aufzunehmen. 

Die  versuchsweise  Einführung  einer  neuen  Schulform  ist  in  London  in  die 
Wege  geleitet  worden.  Nach  einem  Beschluß  des  Schulausschusses  will  man 
in  zwei  Volksschulen  den  Normallehrplan  völlig  fallen  lassen  und  dabei  einen 
durchweg  auf  die  Handarbeit  gegründeten  Unterrichtsplan  durchführen 
lassen.  Veranlassung  zu  diesem  pädagogischen  Versuche  war  vor  allem  die 
Beobachtung,  daß  die  Volksschule  in  Northey  Street,  einem  der  ärmsten  Stadt- 
teile Londons,  keine  nennenswerten  Erfolge  erzielen  konnte.  Bei  günstigen 
Ergebnissen  der  zu  erprobenden  Arbeitsschule  soll  das  gesamte  Schulwesen 
der  Londoner  Grafschaft  eine  durchgreifende  Änderung  im  Sinne  einer  An- 
passimg an  die  jeweiligen  örtlichen  Bedingungen  erfahren. 


Kleine   Beiträge  und  Mitteilungen. 


61 


Das  berufsständige  Herkommen  der  Volksschullehrerschaft  stellt  sich 
für  Preußen  in  seinen  nur  geringen  Verschiebungen  seit  dem  Anfang  des  Jahrhun- 
derts so  dar: 


Beruf  und  Berufsstellung  der  Väter 

a    =    SelbstÄndig,    einschließlich    Geschäftsleiter 

und     leitende     Beamte.       b  =  Aufsichts-     und 

Kechnungspersonal .     c  =  Arbeitsgehilfen. 


Aus  den  Berufsabteilungen  stammen 


unter  100 
Lehrern 


1901   1906  1911 


unter  100 
Lehrerinnen 


1901   1906  1911 


A.  Landwirtschaft,  Gärtnerei  und  Tier- 
zucht, Forstwirtschaft  und  Fischerei 


B.  Bergbau  und  Hüttenwesen,  Industrie  j^ 

und  Bauwesen | 

Ic 

(9. 

C.  Handel  und  Verkehr ^b 

♦  Ic 

D.  Häusliche  Dienste  (einschl.  persön- 
licher Bedienung,  auch  Lohnarbeiten 
wechselnder  Art) c 

E.  MiUtär-,  Hof-,  bürgerl.   und  kirchl.    f, 
Dienat,  auch  sog.  freie  Berufsarten   | 

darunter: 
Hochschul-  und  höhere  Lehrer    .    . 
Rektoren,  Seminar-,  Mittelschul-  u. 

Hauptlehrer      

Volksschullehrer 

sonstige  Lehrer 

F.  Ohne  Beruf  und  Berufsangabe    .    .     a 

darunter: 
pensionierte  Volksschullehrer    .    .    . 
sonstige  pensionierte  Lehrer     .    .    . 


Zusammen  A — F 


30,4 
1,9 
1,2 

21,7 

2,9 
2,9 

7,6 
1,6 

2,0 


0,6 

19,0 
2,6 
1,1 

0,1 

1,4 

16,4 

0,2 

4,5 

0,8 
0,1 

83,3 
9,0 

7,7 


30,3 
1,8 
0,8 

21,0 
4,0 
1,9 

7,6 
2,8 
1,6 


0,7 

19,0 
3,4 
0,7 

0,1 

4,0 

13,7 

0,1 

4.4 

0,5 
0,1 

82,3 
12,0 

5,7 


28,4 
1,8 
0,9 

20,7 
3,9 
3,1 

8,7 
2,2 

2,7 


0,4 

17,8 
3,5 
1,3 

0,1 

1,9 

14,7 

0,1 

4,6 

0,5 
0,1 

80,4 

11,3 

8,3 


12,7 
1,1 
0,1 

20,7 
4,0 
2,6 

12,9 
5,6 
1,7 


0,3 

21,8 
8,5 
1,4 

1,9 

3,4 

8,5 
0,7 

6,6 

0,6 
0,2 

74,7 

19,3 

6,0 


12,5 
0,9 
0,1 

19,9 
5,0 
1,5 

12,1 
7,6 
1,5 


0,3 

23,3 

8,0 
1,0 

1,8 

5,6 
7,2 
0,3 

6,3 

1,0 
0,3 

74,2 

21,5 

4,3 


11,8 
1,3 
0,1 

17,8 
5,2 
3,0 

12,3 
6,8 
2,6 


0,2 

22,3 
9,0 
0,9 

1,9 

4,4 
8,9 
0,3 

6,7 

0,6 
0,3 

70,9 

22,2 

6,9 


Eine  Umfrage  über  die  Wirkung  der  Ortsschulaufsicht  auf  den  Unterricht 

veranstaltet  eine  kleine  Arbeitsgemeinschaft  in  Brachstedt  im  Saalkreis.  Es 
ist  der  Zweck  der  Veranstaltung,  für  den  Gegenstand  der  Erhebung,  der  in  schul- 
politischen Verhandlungen  häufig  genug  unter  unsachlichen  Erwägungen  zu 
leiden  hatte,  eine  breite  Grundlage  gesicherter  Erfahrungen  zu  schaffen.  Wenn 
der  einzelne,  so  heißt  es  in  dem  Anschreiben,  seine  Ansichten  hierüber  zur  All- 
gemeingültigkeit emporzuheben  versucht,  gelangt  er  leicht  zu  unberechtigten 
Verallgemeinerungen  seiner  individuellen,  vielleicht  zufälligen  Erfahrung. 
Ein  Urteil,  das  entscheidende  Bedeutung  haben  will,  muß  dem  Individuellen 
entzogen  und  auf  eine  breitere  Grundlage  gestellt  werden.  Nur  wenn  viele  ihre 
Erlebnisse  und  Meinungen  mitteilen,  kann  aus  dem  regelmäßigen  Auftreten 
gewisser  Wirkungen  ein  einwandfreies  Ergebnis  abgeleitet  werden,  das  auch 
bei  einer  Neuregelung  der  Schulaufsicht  Beachtung  verdiente.  Alle  Lehrer  und 
Lehrerinnen  werden  gebeten,  mit  zu  helfen  zur  Klärung  dieser  Frage,  alle, 
nicht  nur  die,  welche  besonders  schlechte  Erfahrungen  gemacht  haben.     Vor 


62  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

allem  soll  die  pädagogiscli-psycliologisclie   Wirkung  nicht  unberücksich- 
tigt bleiben.    Über  das  Ergebnis  wird  in  dieser  Zeitschrift  berichtet  werden. 
Einsendungen  werden  bis  zum  15.  Februar  an  Paul  Blum  (Brachstedt  i.  S.) 
erbeten  mit  der  Aufschrift  „Ortsschulaufsicht"  und  der  Adresse  des  Absenders. 

Die  Pädagogische  Zentrale  des  Deutschen  Lehrervereins  war  am  29.  und 

30.  November  1913  zu  einer  Gesamtsitzung  in  Berlin  vereinigt.  Gegen- 
stand ihrer  Beratungen  war  zunächst  die  endgültige  Fassung  des  Statuts  und 
die  Vorbereitung  einer  Geschäftsordnung.  Das  Statut  bezeichnet,  gemäß  dem 
Gründungsbeschlusse  aus  dem  Jahre  1908,  als  Aufgabe  der  P.  Z.  ,,alle  Be- 
wegungen auf  dem  Erziehungs-  und  Schulgebiete  zu  beobachten,  ihren  jeweiligen 
Stand  durch  Umfragen  und  Erhebungen  zu  erkunden  und  darüber  zusammen- 
fassende, wissenschaftlich-kritische  Berichte  zu  veröffentlichen".  Ferner  hat  sie 
,,für  die  pädagogisch-wissenschaftliche  Arbeit  in  den  dem  Deutschen  Lehrer- 
Verein  angehörigen  Gruppen  und  Vereinen  Anregung  und  Unterstützung  zu  ge- 
währen, insbesondere  durch  Gründung  pädagogischer  Arbeitsgemeinschaften  und 
Vermittlung  des  Forschungsaustausches,  sowie  durch  geeignete  Einwirkung  auf 
die  Schulbehörden,  um  für  theoretisch  einwandfrei  begründete  Reformvorschläge 
die  Erlaubnis  zu  praktischer  Erprobung  in  Versuchsschulen  und  Schulversuchen 
zu  erlangen".  Die  Mitglieder  der  P.  Z.  werden  vom  Geschäftsführenden  Aus- 
schuß des  Deutschen  Lehrer- Vereins  für  die  Dauer  seiner  Geschäftsperiode  ge- 
wählt; die  P.  Z.  kann  nach  eigenem  Ermessen  für  einzelne  Aufgaben  auch  andere 
Mitarbeiter  heranziehen.  Der  Vorsitzende  der  P.  Z.  muß  dem  Geschäftsführen- 
den Ausschuß  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  angehören  und  wird  von  diesem 
bestimmt.  Die  laufenden  Geschäfte,  die  Vorbereitung  der  Gesamtsitzungen  und 
die  Ausführung  der  in  ihnen  gefaßten  Beschlüsse  besorgt  eine  Arbeitskom- 
mission. Kundgebungen  für  die  Öffentlichkeit  bedürfen  der  Ge- 
nehmigung durch  eine  Gesamtsitzung  oder  durch  schriftliche  Abstimmung  sowie 
der  Zustimmung  des  Geschäftsführenden  Ausschusses  des  D.  L.  V.  Die  Gesamt- 
sitzungen  finden  jährlich  mindestens  einmal  statt.  Die  Arbeitsergebnisse  der 
P.  Z.  werden  im  Jahrbuch  der  Pädagogischen  Zentrale  veröffentlicht, 
das  je  nach  Bedarf  jährlich  oder  in  zweijährigen  Zwischenräumen  erscheint.  Die 
Kosten  werden  von  der  Kasse  des  Deutschen  Lehrer- Vereins  getragen. 

Dieses  Statut  faßt  im  wesentlichen  die  bei  der  Gründung  maßgebenden  Inten- 
tionen und  die  in  der  bisherigen  Entwicklung  betätigten  Aufgaben  der  P.  Z.  zu- 
sammen und  fand  mit  geringenÄnderungen  in  der  Fassung  der  Arbeitskommission 
Annahme.  Eine  detaillierteGeschäftsordnung,  welche  den  Verkehr  zwischen 
Arbeitskommission  und  den  auswärtigen  Mitgliedern,  das  Antragsrecht,  den  Ab- 
stimmungsmodus, die  Protokollierung  der  Verhandlungen  und  Bekanntgabe  der 
Bsschlüsse  regeln  soll,  wird  vorbereitet  und  gelangt  wahrscheinlich  auf  dem 
Weg  der  Zirkularabstimmung  zur  Annahme. 

la  den  Beratungen  des  zweiten  Tages  stand  im  Mittelpunkt  der  Plan  des 
Jahrbuches  1914;  aber  die  Aussprache  darüber  entwickelte  sich  weiter  zu 
einer  prinzipiellen  Debatte  über  Aufgabe,  Sinn  und  Aufbau  der  Jahrbücher 
überhaupt.  Im  Anschluß  an  die  Vorbesprechung  bei  der  letzten  Sitzung  und 
unter  Benutzung  des  Materials,  das  eine  Ende  September  erlassene  Rundfrage 
ergeben  hatte,  war  von  der  Arbeitskommission  der  Plan  eines  Buches  ausgearbeitet 


Kleine  Beiträge  und  ]Mitteilungen.  63 

worden,  das  eine  Übersicht  über  die  Reformversuche  auf  dem  Gebiet 
des  Deutschunterrichts  zum  Thema  haben  sollte  und  nach  dem  Vor- 
gang des  letzten  Jahrbuchs  einen  kleineren  zweiten  Teil  mit  Beiträgen  und  Be- 
richten über  die  wissenschaftliche  pädagogische  Arbeit  der  jüngsten  Zeit. 

Thema  und  Gesamtgliederung  des  Buches  in  2  Teile  fanden  sofortige  Annahme; 
dagegen  ergab  die  Aussprache  über  die  Einzeluntersuchungen,  in  welche  das 
Hauptthema  zerlegt  werden  sollte,  größere  Unterschiede.  Ich  hebe  als  die  drei 
wesentlichen  Auffassungen  hervor:  E.  Linde  (Gotha)  wollte  den  Zweck  der 
Jahrbücher,  der  Praxis  des  Lehrers  zu  dienen,  in  der  Weise  erreicht  wissen, 
daß  die  Einzeluntersuchungen  monographisch  gerade  schwebende  Streitfragen 
behandeln  sollten,  ohne  Rücksicht  auf  Vollständigkeit  xmd  Systematik,  wesent- 
lich nach  der  Vordringlichkeit  in  der  gegenwärtigen  Diskussion.  Zugleich  scheint 
ihm  eine  konkrete  Formulierung  („Lesebuch  oder  Buchlektüre  in  der  Ober- 
klasse?" ,,Wie  bringt  man  die  Kinder  zum  Nacherleben  des  im  Gedicht  aus- 
kristallisierten Dichtererlebnisses?"  „Bühnenaufführungen  von  Jugendlichen". 
,,L3b3ndiger  Sprachlehrunterricht!  Wege  und  Winke  zur  Verwirklichung  der 
Hildebrandschen  Forderungen")  und  direkter  Zuschnitt  auf  die  Nutzanwendung 
in  der  Schulstube  der  Wirksamkeit  des  Jahrbuchs  förderlich  zu  sein. 

Die  Aussprache  über  die  in  Lindes  Vorschlägen  und  ihrer  Begründung  ent- 
haltene Ansicht  über  die  Tendenz  der  Jahrbücher  ergab  Einmütigkeit  darüber, 
daß  nicht  eine  systematische  Methodik  des  Deutschunterrichts  erstrebt  werden 
solle,  sondern  lediglich  eine  Übersicht  über  die  Reformversuche  und  methodischen 
Neubildungen.  Aber  es  schien  nicht  angezeigt,  dabei  nur  einzelne  dieser 
Strömungen  herauszugreifen,  sie  mögen  noch  so  wertvoll  und  nachahmenswert 
ssin,  sie  allein  zu  würdigen  und  womöglich  propagandistisch  zu  empfehlen;  die 
wissenschaftliche  Aufgabe  der  Zentrale  erfordert  es,  daß  unbeschadet  der 
stärkeren  Betonung  einzelner  Forderungen  und  Versuche  doch  nach  einer  Ge- 
samtdarstellung der  neuen  Ideen  und  Kräfte  gestrebt  werde  und  von  prinzipiellen 
Grundlagen  aus,  die  wissenschaftliche  Verbindlichkeit  für  die  entgegengesetz- 
testen Standpunkte  der  praktischen  Reformarbeit  beanspruchen  dürfen,  zu  den 
Tagesfragen  und  Tageslösungen  Stellung  genommen  werde.  Eine  solche  Ein- 
stellung der  Jahrbücher  schließt  die  Brauchbarkeit  für  die  Praxis  keineswegs 
aus,  erhöht  aber  die  Zuverlässigkeit  ihres  Inhaltes.  In  seiner  letzten  Tendenz 
erstrebte  auch  Linde  dieses  Ziel. 

Stärker  als  in  diesem  Punkte  differierten  die  Meinimgen  über  die  Schul- 
gattungen,  welche  im  Jahrbuch  Berücksichtigung  finden  sollten.  Nach  der 
Meinung  insbesondere  der  Vertreter  der  pädagogischen  Theorie  ist  die  pädago- 
gische Bewegung  der  Gegenwart  ein  Ganzes  und  ist  deshalb  bei  der  Darstellung 
von  Reformversuchen  in  irgendeinem  Fach  die  Ausbreitung  derselben  und  die 
Vermannigfaltigung  in  Volksschule,  höherer  Schule,  Lehrerseminar  und  mittlerer 
Fachschule  ins  Auge  zu  fassen.  Aber  die  P.  Z.  hält  in  ihrer  überwiegenden  Mehr- 
heit, aus  buchtechnischen  Gründen  und  infolge  der  Zielbestimmung  der  P.  Z., 
eine  Bsschränkung  auf  die  Volksschule,  Fortbildungsschule  und  die  Bildung 
der  Volksschullehrer  für  unerläßlich.  Nach  den  Erfahrungen  der  vorliegenden 
Jahrbücher  ist  diese  Praxis  auch  erfolgreich,  zumal  dem  einzelnen  Referenten 
freisteht,  Streifzüge  auf  das  Gebiet  der  Didaktik  höherer  Schulen  zu  machen. 

Der  letzte  Punkt  betraf  die  konkrete  Gestaltung  der  Disposition ;  darüber  wurde 


64  Kleine  Beiträge  und   Mitteilungen. 

schließlicli  Einigkeit  erzielt.  Es  stehen  zwei  grundlegende  wissenschaftliche 
Abhandlungen  zu  erwarten  (,, Sprachpsychologie  und  Sprachunterricht".  „Die 
historischen  Wandlungen  der  Sprachwissenschaft  und  ihre  Konsequenzen  für 
den  Sprachunterricht"),  von  denen  eine  als  wesentlich  neu  zu  bezeichnen  ist 
und  mindestens  8  Einzelabhandlungen,  die  in  ihrer  Gesamtheit  die  Reform- 
tendenzen des  Deutschunterrichts  der  Gegenwart  erschöpfend  charakterisieren 
können. 

Der  zweite  Teil  des  Jahrbuchs  wird  eine  einführende  Abhandlung  in  die  Praxis 
der  experimentellen  Forschung  auf  pädagogischem  Gebiet  bringen  und  Berichte 
über  die  Institute  und  Arbeitsgemeinschaften  der  Lehrer,  besonders  die  im 
letzten  Jahr  erfolgten  Neugründungen. 

An  die  Beratung  des  Jahrbuchs  schloß  sich  eine  freie  Aussprache  über  die 
augenblickliche  Lage  des  pädagogischen  Lebens  und  die  Stellung  der 
Zentrale  zu  ihr.  Anregungen  verschiedener  Art  wurden  geäußert:  die  Schaffung 
einer  Rednerliste  wurde  gewünscht,  die  Bestrebungen,  durch  Kurse  verschiedener 
Art  zunächst  die  Bildung  der  Mittelschullehrer,  indirekt  der  gesamten  Lehrer- 
schaft, endgültig  von  der  Hochschule  fernzuhalten,  wurden  kritisch  beleuchtet, 
die  Achtsamkeit  auf  die  Bewegung  für  Versuchsschulen  herausgefordert,  über  die 
Frage  des  pädagogischen  Handwörterbuchs  Bericht  erstattet.  Es  ist  sicher, 
daß  einige  dieser  Anregungen  auf  der  nächsten  Tagesordnung  als  ordnungsmäßige 
Anträge  erscheinen  werden;  ausführlicher  über  sie  hier  referieren,  hieße  nicht 
nur  der  Arbeit  vorgreifen,  sondern  auch  den  Erfolg  derselben  durch  eine  vor- 
zeitige Preisgabe  gefährden. 

Nur  die  prinzipiellen  Gedanken  kann  ich  nicht  unterdrücken:  die  Gegenwart 
erfordert  nach  wie  vor  1.  die  energische  Befürwortung  akademischer  Lehr- 
stühle für  Pädagogik  an  allen  Hochschulen,  die  Lehramtskandidaten  ausbilden, 
2.  das  fortgesetzte  Studium  der  Lehrerbildungsbewegung  mit  seinen  Grund- 
forderungen: für  die  allgemeine  Vorbildung  eine  9klassige  höhere  Schule,  für 
die  praktische  Ausbildung  ein  Seminar,  für  die  wissenschaftliche  Abschlußarbeit 
die  Hochschule.  3.  Neu  vordringlich  scheint  mir  zu  werden,  je  mehr  sich  die 
Fortbildungsschule  als  eigener,  geschlossener  Schultyp  durchsetzt  und  konsoli- 
diert, die  Berufsbildung  des  hauptamtlichen  Fortbildungsschullehrers.  4.  Un- 
ausgesetzte Beobachtung  verdienen  die  Bestrebungen  der  konfessionellen  und 
politischen  Parteien  um  Einfluß  nicht  nur  auf  die  Schulgesetzgebung,  sondern 
auf  Fortbildung  des  Schulwesens  selbst.  Die  reine  pädagogische  Idee  muß  un- 
ablässig vertreten  werden.  5.  Auch  zu  zwei  weittragenden  Vorschlägen:  der 
Errichtung  schulpsychologischer  Ämter  und  der  Schaffung  von  Schulmuseen 
großen  Stils,  scheint  mir  eine  Stellungnahme  der  P.  Z.  wünschenswert. 

Soviel  über  die  Verhandlungen  selbst.  Mit  der  Sitzung  war  diesmal  eine  öffent- 
liche Versammlung  verbunden,  am  30.  November,  abends  8  Uhr,  in  welcher 
das  Mitglied  der  Zentrale,  Herr  Privatdozent  Dr.  Max  Brahn,  der  Leiter  des 
Instituts  für  experimentelle  Pädagogik  an  der  Universität  Leipzig,  das  Thema: 
Neue  Ziele  und  neue  Wege  in  der  Pädagogik  behandelte. 

In  einem  Hörsaal  der  Universität,  vor  gewiß  400  Teilnehmern,  entwickelte  er  in 
großem  Zuge  die  aus  dem  Unterschied  der  Kultur  des  Aufklärungszeitalters  und 
unserer  Gegenwart  hervorgewachsenenUnterschiede  der  Zielsetzung  der  Volks-  und 
höheren  Schule  einst  und  jetzt.  Das  rationalistische  Ideal  desVernunftmenschen 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  65 

zog  pädagogisch  die  Forderung  der  allgemeinen  formalen  Bildung  nach  sich,  das  sich 
in  der  höheren  Schule  als  humanistischer  Universalismus,  in  der  Volksbildung  als 
gleichschwebendes  Interesse  konkretisierte  und  über  der  sorgfältigen  Pflege  aller, 
besonders  der  schwachen  Anlagen  und  Interessen  die  eigentlichen  Produktivkräfte, 
die  immer  nur  in  einseitiger  Verteilung  vorhanden  zu  sein  pflegen,  allzusehr  sich 
selbst  überließ.  Zugleich  folgte  aus  dieser  universalen  Zielsetzung  eine  Didaktik 
vom  Lehrer  aus,  weil  nur  er  imstande  war,  so  zu  fragen,  daß  die  Schülerentwick- 
lung in  der  Linie  des  Fortschrittes  auf  allgemeineformale  Zielehin  verlaufenmußte. 

Gegenüber  dieser,  mit  einer  bestimmten  Kultur  und  dem  sie  beherrschenden 
Persönlichkeitsideal  zusammenhängenden  Pädagogik  erstrebt  die  Gegenwart  aus 
wirtschaftlichen  und  ideellen  Gründen:  die  starke  Pflege  der  schöpferischen  Kräfte, 
die  Unterordnung  alles  nur  im  Dienste  der  praktischen  Orientierung  Nötigen,  da- 
mit zugleich  eine  Didaktik  vom  Schüler  aus,  dasHeimatprin zip  und  die  Ar- 
beit sgesinnung  im  tiefsten  psychologischen  Sinne ;  erstrebt  sie  nicht  nur  die  ,, Ver- 
vollkommnung des  menschlichen  Verstandes",  sondern  auch  die  Veredlung  der  Fühl- 
fähigkeit, die  Willensbildung  und  Gemeinschaftsgesinnung,  die  Pflege  des  Körpers. 

Zu  diesen  neuen  Zielen  in  der  praktischen  Erziehungsarbeit  treten  die  neuen 
Wege  in  der  pädagogischen  Forschung:  die  organisierte  Sammelforschung,  die 
allein  wirkliche  Durchschnittswerte  ermöglicht,  und  das  Experiment  in  Labo- 
ratorium und  Schulstube. 

Mit  einem  Ausblick  auf  die  Konsequenzen  dieser  Entwicklung  der  Pädagogik 
für  die  Berufsbildung  und  die  verantwortliche  Selbständigkeit  des  Lehrers  schloß 
der  Vortragende  seine  mit  Beifall  und  Zustimmung  aufgenommenen  Darlegungen. 

In  der  Aussprache  kamen  im  wesentlichen  nur  die  Zustimmungen  zu  Wort, 
besonders  in  temperamentvollen  Darlegungen  Dr.  Buchenaus  über  Willens - 
bildimg  als  Zentralproblem  der  Sozialpädagogik  und  die  Notwendigkeit  der  ver- 
tieften, wissenschaftlichen  Bildung  des  Lehrerstandes,  Mir  allerdings  will  ja 
scheinen,  als  ob  das  Stadium  der  Einseitigkeit,  Berufsbildung,  Begabungsschule, 
das  für  den  Geist  der  neuen  Pädagogik  gewiß  wichtig  war,  den  gewaltigen  Ein- 
fluß der  Wirtschaf tsbewegung  auf  das  Bildungswesen  zum  Ausdruck  brachte, 
bereits  im  Entschwinden  ist :  eine  neue  Synthese  bereitet  sich  vor,  und  die  Schule 
der  Zukunft  wird  dazu  berufen  sein,  ohne  Preisgabe  der  für  Erwerb,  Beruf, 
Geltung  unseres  Volkes  im  modernen  Wirtschaftsleben  nötigen  neuen  Errungen- 
schaften und  Gredanken  die  in  der  Reaktion  gegen  einen  unmöglich  gewordenen 
Universalismus  doch  imrichtig  eingeschätzten  zeitlos  gültigen  Leitgedanken  der 
Menschen bildung  neu  zu  konzipieren.  — 

So  hat  dieP.  Z,  wieder  fruchtbare  interne  Arbeit  geleistet,  zugleich  auch  beach- 
tenswert und  vielbeachtet  für  die  Aufklärung  eines  größeren  Publikums  Sorge  ge- 
tragen, und  dadurch  der  Sache  der  pädagogischen  Bewegung  pflichtgemäß 
ihren  Dienst  erwiesen. 

München.  Aloys  Fischer. 

Das  Phonetische  Laboratorium  des  Hamburgischen  Kolonialinstitutes 

hat  sich  von  ganz  bescheidenen  Anfängen  innerhalb  dreier  Jahre  zu  einer  be- 
deutungsvollen Anstalt  entwickelt,  die  auch  die  Augen  des  Auslandes  auf  sich  ge- 
zogen hat.  Professoren,  Assistenten  und  Hörer  des  Kolonialinstitutes  führen  im 
phonetischen  Laboratorium  Arbeiten  aus  über  schriftlose  Sprachen  von  Afrika, 

Zoitscbrilt  t.  püdagog.  PsycholoKie.  5 


66  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Ostasien,  den  Südseeinseln,  sowie  über  Idiome  von  Europa  (u.  a.  wurden  auch  die 
Mundarten  der  Bevölkerung  der  Eibinsel  Finkenwerder  und  verschiedener  Ort- 
schaften der  Vierlande  untersucht  und  phonographisch  aufgenommen).  Ferner 
untersuchen  Taubstummenlehrer  im  Laboratorium  die  Atmung  und  den  Tonfall 
der  Taubstummen;  Spezialärzte,  G-esangspädagogen,  Lehrer  für  Schwerhörige, 
Neusprachler  u.  a.  machen  sich  die  Vorrichtungen  des  Laboratoriums  zunutze 
zur  Untersuchung  spezieller  theoretischer  und  praktischer  Fragen. 

Nachrichten:  1.  Der  nächste  Kongreß  für  experimentelle  Psycho- 
logie findet  vom  15. — 18,  April  1914  zu  Göttingen  statt.  Die  Anmeldungen 
zur  Teilnahme  —  Nichtmitglieder  der  Gesellschaft  für  experimentelle  Psycho- 
logie haben  eine  Gebühr  von  10  Mark  zu  entrichten  —  hat  zu  erfolgen  an  Prof. 
Dr.  G.  E.  Müller,  Göttingen,  Bergstraße  4. 

2.  Unter  dem  Vorsitz  von  Privatdoz.  Dr.  Max  Brahn  besteht  seit  Nov.  1913 
nun  auch  in   Leipzig   eine  Ortsgruppe  des  Bundes  für  Schulreform. 

3.  Im  Auftrage  von  Professor  Dr.  Wilhelm  His  hält  jetzt  Dr.  A.  Lewan- 
dowski,  Schularzt  der  Stadt  B3rlin,  an  der  von  His  geleiteten  ersten 
medizinischen  Chariteeklinik  eine  Reihe  von  Vorträgen  über  Jugend- 
fürsorge und  Jugendpflege.  Sie  sollen,  was  bisher  im  Uni- 
versitätsunterrichte noch  nicht  geschah,  die  Studierenden  über  die 
Fürsorge  für  das  Säuglingsalter,  für  die  Kleinkinder,  das  schulpflich- 
tige Alter  und  auch  die  schulentlassene  Jugend  unterrichten.  Die 
Vorträge  werden  durch  Demonstrationen  und  Führungen  ergänzt  werden: 
in  Säuglingsfürsorgestellen,  in  Säuglingsheimen,  Kinderhorten,  Wald- 
schulen, Krüppelheimen,  Schulzahnkliniken,  Hilfsschulen,  Jugendheimen  und 
ähnlichen  Anstalten. 

4.  Der  erste  Kursus  am  heilpädagogischen  Seminar  in  Essen  ist  im  November 
vergangenen  Jahres  eröffnet  worden. 

5.  Ein  Museum  für  das  Mittelschulwesen  ist  in  Frankfurt  a.  M.  im 
Werden.  Es  soll  enthalten:  Literatur,  die  das  Mittelschulwesen  betrifft,  Ver- 
fügungen, Jahresberichte  (Programme),  Formulare,  Vordrucke  usw.,  Schulbücher, 
Lehr-  und  Lernmittel  für  Mittelschulen,  Schülerarbeiten,  Hefte,  Zeichnungen 
usw.,  aus  Frankfurter  Mittelschulen  hervorgegangen.  Bildnisse  und  Photo- 
graphien von  Frankfurter  Mittelschulen  und  Frankfurter  Mittelschullehrern  und 
-Lehrerkollegien.  Abbildungen  moderner  Mittelschulgebäude.  Preßstimmen 
über  die  Mittelschulen,  insbesondere  über  die  Neuordnung  des  Mittelschulwesens 
vom  3.  Februar  1910.  Leiter  des  Museums  ist  der  Rektor  der  Hufnagel-Mittel- 
schule in  Frankfurt  a.  M.,  Max  Zimpel. 


Literaturbericht. 

R.  Eucken,  Zur  Sammlung  der  Geister.  Leipzig,  Quelle  u.  Meyer,  1913. 
151  S.  Geb.  3.60  M. 
Wenn  Euckens  neuestes  Werk  auch  an  dieser  Stelle  allen,  denen  das  innere  Ge- 
deihen unseres  Volkes  am  Herzen  liegt,  aufs  wärmste  empfohlen  wird,  so  soll  hier 
vor  allem  auf  den  meisterhaften  psychologischen  Unterbau  hingewiesen  werden,  auf 
den  der  Verfasser  seine  Aufforderung  zur  Sammlvmg  der  Geister  gründet.  In  glänzen- 


Literatvirbericht.  67 


den  Darlegungen  gibt  er  sowohl  von  der  geistigen  Lage  der  Gegenwart  als  auch  von 
der  Eigenart  des  deutschen  Wesens  eine  gediegene  psychologische  Analyse.  So 
schafft  er  sich  einen  sicheren  PHifstein,  um  einerseits  die  mannigfachen  Zeitströ- 
mungen (Monismus,  Naturalismus,  Subjektivismvis,  Ästhetizismus,  Optimismus, 
Pessimismus,  neue  Moral)  zu  beurteilen,  und  anderseits  positiv  zu  zeigen,  wie  unser 
deutsches  Volk  in  seinem  durch  mühevolle  Arbeit  errungenen,  durch  große  Leistungen 
auf  den  verschiedensten  Gebieten  bewährten  geistigen  Charakter  einen  eigenartigen, 
wertvollen  Typus  des  Menschenlebens  vertritt,  der  in  sich  die  Kräfte  trägt,  ohne 
Hilfe  von  außen  allen  Aufgaben  der  Jetztzeit  gewachsen  zu  sein.  Die  durch  unsere 
deutsche  Natur  und  Geschichte  gegebenen  Möglichkeiten  zur  Entfaltung  zu  bringen, 
dazu  will  E.  die  Geister  sammeln,  um  so  das  deutsche  Geistesleben  avis  der  augen- 
blicklichen Zerklüftung  und  Zersplitterung  herauszuführen  dem  Ziele  entgegen,  das 
der  deutschen  Eigenart  entspricht. 

Leipzig.  Lic.  Paul  Krüger. 

Gerhard   Budde,    Moderne    Bildungsprobleme.     Langensalza  1912.      Verlag 
von  Beyer  &  So.      184  S.      Preis  5,20  M. 

Der  Verf eisser  greift  aus  den  gegenwärtig  in  der  Fachliteratur  vielfach  behandelten 
Vorschlägen  zur  Reform  des  höheren  Unterrichts  einige  heraus,  die  im  Mittelpunkt 
des  pädagogischen  Interesses  stehen,  indem  er  vor  allem  zu  einem  geschichtlichen 
Verständnis  dieser  Probleme  beizutragen  sucht.  So  handelt  er  über  Sozial-  und 
Individualpädagogik,  Persönlichkeitspädagogik,  allgemeine  imd  individuelle  Päda- 
gogik, staatsbürgerliche  Erziehung,  Schulhygiene,  Reform  des  Religionsiuiterrichts, 
Koedukation  imd  Landerziehungsheime. 

Grundsätzlich  wendet  er  sich  gegen  die  herkömmliche  enzyklopädische,  auf  die 
Gesamtheit  der  sogenannten  sieben  freien  Künste  des  Mittelalters  zurückgehende 
Gestaltung  des  Lehrplans  der  höheren  Schulen.  Statt  deren  tritt  er  für  mög  ichst 
weitgehende  Individualisierung  des  Unterrichts  ein,  um  der  besonderen  Begabung 
der  Schüler  Rechnung  zu  tragen.  Was  er  in  dieser  Beziehung  über  die  Forderung 
der  Persönlichkeitsbildung  (meist  im  Anschluß  an  Eucken)  sagt,  kann  ich  voll  und 
ganz  unterschreiben.  Wenn  er  aber  den  fremdsprachlichen  Unterricht  vom  Mittel- 
punkte der  höheren  Schulen  mehr  nach  der  Peripherie  geschoben  zu  haben  wünscht, 
so  scheint  er  mir  der  eigentümlichen  formalen  Aufgabe  jenes  Unterrichts,  die  in  der 
formalen  Bildung  besteht,  nicht  gerecht  zu  werden.  Auch  Lietz,  dem  er  sich  in  dieser 
Forderung  anschließt,  hebt  hervor,  daß  dvirch  Vergleichung  der  fremden  mit  der 
Muttersprache  diese  selbst  zu  bewußter  Auffassung  und  der  Schüler  dadurch  zu 
größerer  Ausdrucksfähigkeit  und  Gedankenklarheit  gebracht  wird.  Außer  der  Auf- 
fassung der  logischen  ist  es  auch  diejenige  der  ästhetischen  Form,  die  an  der  Hand 
der  fremdsprachlichen,  insbesondere  griechischen  dichterischen  Literatur  erzielt  wer- 
den soll.  Und  es  ist  gerade  wichtig,  daß  diese  formale  Bildung  auf  Grund  des  fremd- 
sprachlichen Unterrichts  gewonnen  wird,  der  ethisch  minder  bedeutsam  ist  als  die 
heimische  Sprache.  Sollen  hingegen  die  auf  formale  Bildvmg  abzielenden  Übungen 
an  der  Muttersprache  ins  Werk  gesetzt  werden,  so  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  diese 
den  Schülern  verleidet  wird.  Außerdem  bilden  die  Proben  aus  den  verschiedenen 
Gattungen  der  Literatur,  die  den  Zöglingen  in  der  fremdsprachlichen  Lektüre  geboten 
zu  werden  pflegen,  einen  wertvollen  Beitrag  zu  der  kulturgeschichtlichen  Bildung, 
die  der  Verfasser  neben  dem  naturwissenschaftlichen  Unterricht  in  den  Mittelpunkt 
des  Lehrplans  gestellt  haben  will. 

Was  die  Vorschläge  betrifft,  die  der  Verfasser  zur  Reform  des  Religionsunterrichtes 
vorbringt,  so  scheint  er  mir  hier  mehr  das  Bedürfnis  des  gebildeten  Erwachsenen 
als  das  des  Schülers  zu  berücksichtigen.  Der  jugendlichen  Natur  fehlen  noch  zu  sehr 
eigene  religiöse  Erlebnisse,  als  daß  sie  für  eine  vergeistigte  Religion,  wie  sie  jenem 
vorschwebt,  mit  ihren  Grundideen,  wie  eigener  Verantwortungsfähigkeit,  Erlösungs- 
bedürftigkeit und  Bewußtsein  der  eigenen  Unzulänglichkeit,  empfänglich  wäre.  Sie 
bedarf  eines  positiven  Glauberisinhaltes,  um  sich  in  reiferem  Alter  selbst  ihre  religiöse 
Anschauungsweise  bilden  zu  können.  Ob  freilich  die  herkömmliche  Religionsunter- 
weisung, die  sich  dem  kirchlichen  Dogma  anschließt,  angesichts  der  neueren  histo- 


68  Literaturbericht. 


risch-kritischen  ForschTingen  sich  auf  die  Dauer  wird  aufrecht  erhalten  lassen,  scheint 
auch  mir  zweifelhaft. 

Im  übrigen  halte  ich  die  Darlegungen  des  Verfassers  für  sehr  geeignet,  den  Leser  in 
ein  geschichtlich  begründetes  Verständnis  der  einschlägigen  Reformideen  einzuführen. 
Heidelberg.  Dr.  A.  Huther. 

G.  Wyneken,    Schule  und    Jugendkultur,  Jena  1913,  Eugen  Diederichs  Ver- 
lag,  181  S.,  br.  3  M.,  geb.  4  M. 

Dieses  Buch  wird  demjenigen,  der  in  der  wissenschaftlich-pädagogischen  Reform- 
bewegung der  Gegenwart  drinsteht,  willkommene  Gelegenheit  geben,  sich  prin- 
zipiell über  das  Verhältnis  zwischen  pädagogischer  Technik  und  ethischer  Grund- 
legung der  Pädagogik,  zwischen  Methodik  und  Zielsetzung  im  Gebiete  der  Erziehung 
zu  besinnen.  So  klar  es  nämlich  ist,  daß  die  heutige  pädagogische  Wissenschaft 
(soweit  sie  nicht  als  Wissenschaft  vom  Kind  die  Voraussetzungen  der  Erziehung 
erforscht)  zu  ihrem  weitaus  größten  Teil  technische  Disziplin,  in  der  streng 
logischen  Bedeutung  dieses  Wortes,  ist:  so  gebieterisch  fordert  sie  eine  allgemein- 
gültige Formulierung  der  Erziehungsziele,  und  das  heißt  eine  Einordnung  der 
Erziehungsleistung  in  die  allgemeine  Weltanschauung,  eine  Philosophie  der 
Erziehung,  zu  ihrer  Ergänzung.  Wyneken  gibt  ein  philosophisch-pädagogisches 
Buch  in  diesem  eminenten  Sinne  des  Worts;  er  gibt  eine  Philosophie  der  Schule 
im  Sinne  eines  an  Kant  und  Hegel  orientierten  metaphysischen  Idealismus. 

Natürlich  gehen  die  Bemühungen  um  eine  Ideologie  der  Schule  nicht  beziehungs- 
los neben  den  technisch-pädagogischen  Reformbewegungen  her.  Schon  daß  Wy- 
nekens  Buch  aus  der  Praxis  seiner  Schulgründung,  der  Freien  Schulgemeinde 
Wickersdorf ,  erwachsen  ist,  die  ihrerseits  selbstverständlich  die  Erziehung  im  einzel- 
nen auf  Grund  der  Resultate  der  zeitgenössischen  Wissenschaft  aufbaut,  verbürgt 
diesen  Zusammenhang.  Den  in  der  pädagogischen  Einzelforschung  Stehenden  wird 
z.  B.  die  Einordnung  des  Arbeitsschulgedankens  in  die  allgemeine  Philosophie  der 
Schule  interessieren  (S.  70ff).  Besonders  ein  Gedanke  scheint  es  mir  zu  sein,  den 
die  moderne  pädagogische  Psychologie  und  Wyneken  gemeinsam  haben:  Wie  jene 
die  Klasse  als  soziales  Ganzes  und  darüber  hinaus  die  Schule  als  Organisation 
zum  Objekt  ihrer  Forschungen  erhoben  hat,  so  deduziert  Wyneken  nicht  mehr, 
wie  die  früheren  philosophischen  Theoretiker,  die  Erziehung  überhaupt,  sondern 
die  Gemeinschaftserziehung,  die  Schule,  als  notwendige  Leistung  im  Dienste  des 
Geistes;  so  daß  die  Schulerziehung  ihm  nicht  mehr,  wie  jenen  nur  zu  leicht,  als 
rein  praktisch  bedingt,  sondern  als  unabtrennbar  von  der  Idee  der  Erziehung  über- 
haupt erscheint. 

Gegenwärtig  geht  um  Wynekens  Ideen  ein  Kampf,  der  seine  Formulierungen 
zu  Schlagworten  zu  verhärten  droht.  Aber  dieses  Buch  ist  durchaus  nicht  nur 
oder  in  erster  Linie  als  Kampfschrift  von  Wert,  sondern  es  ist  für  jeden,  der  das 
Problem  der  Ethik  der  Erziehung  als  ein  Grundproblem  einer  ihrer  selbst  bewußten 
Pädagogik  erkannt  hat,  ein  wissenschaftliches  Buch  von  größter  Wichtigkeit. 
Berlin.  Dr.  Hans  Freyer. 

Dr.    Johannes   Prüfer,   Kleinkinderpädagogik.      Leipzig    1913.      Verlag    Otto 
Nenmich,     251  Seiten.     Preis  geb.  5,40  M. 

Trotz  der  großen  Beachtiing,  die  man  heute  den  Erziehungsfragen  schenkt, 
wurde  der  Erziehvmg  der  kleinen,  noch  nicht  schulpflichtigen  Kinder  bisher 
verhältnismäßig  wenig  Interesse  zuteil.  Man  betont  zwar  allgemein  die  Bedeutung 
früher  Beeinflussung,  nennt  die  ersten  Jahre  „die  wichtigste  Zeit"  und  hebt  hervor, 
daß  hier  der  Grundstein  für  spätere  Charakter-  und  Geisteseigenschaften  gelegt 
werden  müsse;  man  macht  psychologische  Beobachtungen  über  diese  Altersstufe, 
und  Veröffentlichungen,  die  Bücher  von  Preyer,  Shinn,  Stern,  Skupin  u.  a.  legen 
Zeugnis  davon  ab,  aber  trotz  alledem  hat  die  Kleinkinderpädagogik  in  der  Literatur 
eine  verhältnismäßig  geringe  Bearbeitung  gefunden.  Mit  Ausnahme  des  Buches  von 
Karl  Richard  Löwe  „Wie  erziehe  ich  mein  Kind  bis  zum  sechsten  Lebensjahre  ?" 
(siehe  meine  Besprechung  in  dieser  Zeitschrift  Jahrgang  1908,  S.  396)  ist  mir  eine 


Literaturbericht.  69 


spezielle  Behandlung  dieser  Kindheitsstufe  nicht  bekannt.  So  ist  es  denn  ein  glück- 
licher Gedanke  gewesen,  einmal  den  Standpunkt  unserer  Kleinkindererziehung  dar- 
zulegen und  sie  einer  kritischen  Betrachtung  zu  unterwerfen,  um  festzustellen,  was 
auf  diesem  Gebiete  eigentlich  vorhanden  und  was  davon  brauchbar  ist,  vor  allem, 
um  Richtlinien  für  einen  weiteren  Ausbau  der  Kleinkinderpädagogik  zu  gewinnen. 
Dr.  Prüfer  hat  es  in  dem  vorliegenden  Buche,  das  aus  Vorlesxuigen,  die  er  an  der 
Hochschule  für  Frauen  zu  Leipzig  hielt,  erwachsen  ist,  unternommen,  die  Lücke  in 
der  pädagogischen  Literatur  auszufüllen.  Er  betrachtet  diese  Arbeit  als  einen  Ver- 
such, „die  wichtigsten  Seiten  der  Kleinkinderpädagogik  wissenschaftlich  zu  beleuch- 
ten", und  er  bezweckt  damit,  die  Aufmerksamkeit  der  beteiligten  Kreise  auf  diese 
viel  zu  lange  vernachlässigte  Materie  zu  lenken  und  die  angeregten  Fragen  zur  Debatte 
zu  steüen.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  sich  dieser  Zweck  des  Werkes  erfüllt;  der  eingeschla- 
gene Weg  scheint  mir  Gutes  zu  verheißen.  Das  Buch  ist  eingehend,  übersichtUch  und 
dabei  auch  fesselnd  geschrieben;  es  ist  wissenschaftlich  und  populär  zugleich,  so  daß 
es  ebensowohl  den  Fachgelehrten  wie  den  Seminaristen  anregen  und  fesseln  wird, 
daneben  aber  auch  die  gebildeten  Eltemkreise  auf  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes 
hinleiten  kann. 

Die  „Kleinkinderpädagogik"  zerfällt  in  einen  historischen  und  einen  theoretisch- 
praktischen  Teil. 

Prüfer  beginnt  seine  geschichtliche  Darlegung  im  Gegensatz  zu  der  allgemein 
üblichen  Art  nicht  schon  mit  dem  Altertum  oder  Mittelalter,  sondern  er  setzt  erst 
beim  Beginn  der  neueren  Zeit  mit  seinen  Betrachtungen  ein;  seiner  Meinung  nach 
hat  es,  bei  aller  Anerkennung  der  Leistvmgen  früherer  Epochen,  an  eigentlich  päda- 
gogisch gerichteten  Köpfen  gefehlt,  die  die  Probleme  systematisch  und  gründlich 
allseitig  betrachtet  hätten.  Die  sogenannten  Pädagogen  jener  Zeit  waren  in  erster 
Linie  Philosophen,  Theologen  oder  dergleichen  und  beschäftigten  sich  nur  nebenher 
mit  Erziehungs-  und  Bildungsfragen;  ihr  Verdienst  um  die  Erziehungskunst  ist  nur 
gering,  und  wir  haben  wichtigere  Aiifgaben  als  ihre  Gedankenspäne  aus  ihren 
Schriften  herauszulösen.  Der  erste,  der  einer  eingehenderen  Besprechung  gewürdigt 
wird,  ist  Konrad  Bitschin;  nicht  etwa,  weil  er  besonderes  für  die  Erziehungskunst 
geleistet  hat,  wird  er  in  seinen  Ideen  vorgeführt,  sondern  weil  Prüfer  ihn  als  typischen 
Vertreter  der  Pädagogik  am  Ausgange  des  Mittelalters  auffaßt.  Bitschin  hat  das, 
was  seine  Zeit  in  sich  trug,  in  einem  neunbändigen  Werk,  „De  vita  conjugali"  nieder- 
gelegt; die  Kleinkinderpädagogik  ist  dabei  ärmlich  ausgefallen,  sowohl  in  bezug  auf 
die  Quantität,  wie  auch  bezüglich  der  Art  des  Dargebotenen.  An  Bitschin  ist  deut- 
lich zu  sehen,  ,,wie  weit  die  Pädagogik  am  Ausgange  des  Mittelalters  noch  ziu-ück  war, 
wie  groß  also  das  Verdienst  der  folgenden  Männer,  der  ersten  wirklichen  großen 
Pädagogen  ist.  Die  Pädagogik  ist  erst  eine  Frucht  der  neuen  und  neuesten  Zeit.  Das 
muJ3  einmal  mit  aller  Deutlichkeit  gesagt  werden.  Erst  seit  den  Tagen  eines  Comenius 
ist  der  pädagogische  Gedanke  wirklich  lebendig,  ist  er  immer  Neues  schaffend  tätig". 
Comenius,  Rousseau,  die  Philantropisten,  I,  H.  G.  Housinger,  Pestalozzi,  J.  J.  Wagner, 
Jean  Paul  und  Fröbel  werden  in  ihrem  Verhältnis  zur  Kleinkinderpädagogik  dar- 
gestellt, so  daß  sich  vor  unseren  Augen  eine  Entwicklungsgeschichte  der  sich  auf  das 
früheste  Alter  beziehenden  Erziehungsgrundsätze  aufbaut.  Friedrich  Fröbel,  der  für 
unsere  Zeit  als  grundlegender  Pädagoge  (nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  frühesten  Er- 
ziehung) betrachtet  zu  werden  verdient,  findet  eine  besonders  eingehendeWürdigung. 

Ein  Anhang,  der  dem  historischen  Teil  beigegeben  ist,  behandelt  die  Geschichte 
der  Anstalten  für  die  früheste  Erziehung:  Spielschulen,  Kleinkinderbewahranstalten 
und  Kindergärten;  letztgenannte  Einrichtung  findet  eine  besonders  ausführliche  Be- 
schreibung. Prüfer  hat  als  spezieller  Fröbelforscher  ganz  neue  Aufschlüsse  über  die 
Entetehungsgeschichte  der  Kindergärten  gefunden  und  stützt  auch  seine  Darlegungen 
in  d  esem  Werke  auf  dieselben.  Wer  der  Kindergartenpädagogik  noch  fern  steht, 
wird  in  diesem  Abschnitt  des  Buches  Orientierung  finden.  In  dem  theoretisch-prak- 
tischen Teil  werden  die  wichtigsten  Einzelfragen  der  Kleinkindererziehung  erörtert, 
nachdem  in  einer  grundlegenden  Abhandlung  zu  einigen  Punkten  allgemeiner  Natur 
Stellung  genommen  wird.  Der  Verfasser  sucht  das  Ziel  der  Erziohimg  zu  umgrenzen 
und  gelangt  zu  dem  Schlüsse,  daß  es  sich  nur  um  o'nzelno  Aufgaben,  nicht  aber  um 


70  Literattirbericht. 


ein  allgemeines  Endziel  handeln  könne:  als  formales  Ziel  läßt  er  allenfalls  die  Hin- 
leitung zur  Selbständigkeit  des  Zöglings  gelten.  Der  Einfluß  der  Vererbung  und  somit 
das  Problem  einer  Beeinflußbarkeit  des  Kindes  überhaupt  wird  dabei  erörtert.  Den 
Schwierigkeiten,  welche  der  praktischen  Erziehung  entgegenwirken,  wird  offen  ins 
Auge  geschaut,  aber  Prüfer  tritt  jeder  Resignation,  die  der  Erziehungswissenschaft 
die  Lebenskraft  unterbinden  würde,  entgegen  und  baut  seine  Darlegungen  über  die 
früheste  Erziehung  auf  zwei  Tatsachen  auf:  auf  die  durch  Vererbung  mächtigen  Triebe 
des  Kindes  imd  auf  die  Suggestionskraft  des  Milieus.  Das  Spiel,  die  Beschäftigung, 
die  Kameraden,  Märchen,  Kinderlügen,  die  Gewöhnung  und  die  Strafen  kormnen  zxir 
eingehenderen  Behandlung,  und  ein  Anhang  über  die  Maßnahmen  zur  Verbesserung 
der  gegenwärtigen  Kleinkindererziehung  bildet  den  Schluß  des  Werkes.  Es  würde 
den  zur  Verfügung  stehenden  Raum  überschreiten,  wenn  ich  im  einzelnen  auf  alle 
wesentlichen  Punkte  eingehen  wollte,  die  Erwähntmg  verdienten.  Es  bleibt  mir  nvir 
noch  hervorzuheben,  daß  bei  aller  persönlichen  Stellixngnahme  ein  vornehmer  Ton 
objektiver  Darstellvmg  der  Schrift  den  Stempel  aufdrückt. 

Berlin.  Nelly  Wolffheim. 

Ludwig  Busse,  Geist  und  Körper,  Seele  und  Leib.  2.  Auflage  mit  einem 
ergänzenden  und  die  neuere  Literatur  zusammenfassenden  Anhang  von  Ernst 
Dürr.    X  und  556  Seiten.     Leipzig  1913.     F.  Meiner.     Geb.  12.50  M. 

Das  Buch  Busses  verfolgte  in  der  ersten  Auflage  (1903)  den  Zweck,  die  ver- 
schiedenen Anschauungen  über  das  Verhältnis  von  Physischem  und  Psychischem 
informatorisch  darzustellen  und  in  dem  Streit  der  Meinungen  eine  Lanze  zu  brechen 
für  die  Theorie  der  phychophysischen  Wechselwirkung.  Der  ersten  Absicht  kann 
es  in  der  neuen  Gestalt  noch  besser  dienen  als  früher,  insofern  durch  die  von  E.  Dürr 
gegebenen  Ergänzungen  die  Übersicht  über  die  vertretenen  Theorien  eine  voll- 
ständige geworden  ist  und  das  Literaturverzeichnis  überdies  gestattet,  sofort  die 
Originalarbeiten  zu  finden,  sobald  man  aus  der  referierenden  bzw.  kritisierenden 
Wiedergabe  im  Text  den  Eindruck  gewinnt,  daß  es  der  Mühe  wert  sei,  das  Original 
selbst  nachzustudieren.  Selbst  die  Orientierungshilfen  des  Schemas  der  möglichen 
Standpunkte  möchte  ich  nicht  missen,  obgleich  derartige  Mittel  geeignet  sind,  einem 
rein  wissenschaftlichen  Werk  etwas  vom  Charakter  des  Lehrbuchs  aufzudrücken. 
Die  zweite  Absicht,  den  Gedanken  der  psychophysischenWechselwirkung  zu  empfeh- 
len, die  Schwierigkeiten  des  Parallelismus  aufzudecken,  ist  in  der  neuen  Auflage  durch 
Dürrs  abweichenden  Standpunkt  beeinträchtigt,  obgleich  Dürr  seineÜberlegungen  nicht 
in  den  ursprünglichen  Text  Busses  hineingearbeitet,  sondern  in  einera  getrennten, 
für  sich  lesbaren  und  durchaus  bemerkenswerten  Anhang  selbständig  gemacht  hat. 
Es  gibt  gewiß  Bücher,  welche  kürzer  und  in  einzelnen  Partien  auch  klarer  über 
die  Theorien  über  das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib,  allgemeiner  von  Physischem 
und  Psychischem  informieren;  ich  hebe  besonders  Benno  Erdmanns  kleine  Schrift: 
Wissenschaftliche  Hypothesen  über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  (1908)  hervor; 
aber  Busse  bleibt  für  alle,  welche  die  Frage  nicht  bloß  aus  fachpsychologischem 
Interesse  studieren  wollen,  sondern  wegen  ihrer  grundlegenden  Bedeutung  für  philo- 
sophische Fragen  ihr  Aufmerksamkeit  schenken,  die  wichtigste  kritische  Zusammen- 
fassung der  Literatur.  Der  Brauchbarkeit  seines  Werkes  tut  es  nicht  einmal  Ab- 
bruch, wenn  man  den  in  den  Schlußergebnissen  mehr  vorausgesetzten  als  aus  den 
vorangehenden  Einzeluntersuchungen  eigentlich  abgeleiteten  idealistischen  Stand- 
punkt des  Verfassers  nicht  teilt. 

Für   den    Einzelbetrieb    der    empirischen   psychologischen   Forschung   bleibt   die 
Annahme  der  psychophysischen  Wechselwirkung  die  einfachere  und  fruchtbarere 
Arbeitshypothese,  auch  wenn  man  es  mit  Absicht  unterläßt,  philosophische  Kon- 
sequenzen aus  ihr  zu  entwickeln. 
München.  Dr.  Aloys  Fischer. 

Schulze,  Rud.,  Experimente  aus  der  Seelenlehre.  Ein  Buch  für  alle.  Leipzig 
1913.     R.  Voigtländers  Verlag.,  112  S. 

Das  Buch  ist  eine  treffliche  Einführung  in  einige  der  wichtigsten  Abschnitte  der  ex- 
perimentellen Psychologie,   z.  B.  in  die  Empfindungsmessvmg,  Gefühlsuntersuchung, 


Literaturbericht.  71 


Gedächtnisprüfung,  Arbeitsmessung  usw.  Es  wendet  sich  mit  seinen  gemeinverständ- 
lichen Darbietiingen  an  die  Laien,  und  daß  es  nach  der  Absicht  des  Verfassers  in 
weiteren  Kreisen  Interesse,  Verständnis  für  psychologische  Untersuchungen  wecken 
wird,  verbürgen  die  geschickte  Auswahl  und  Anordnung  des  Stoffes,  die  schlichte 
Darstellung  und  die  nicht  kärgliche  Ausstattung  mit  vorzüglichen  Abbildimgen. 
Das  Buch  ist  ein  Seitenstück  zu  des  Verfassers  Lehrbuch  ,,Aus  der  Werkstatt  der 
experimentellen  Psychologie  luid  Pädagogik",  an  das  es  sich  textlich  und  in  der 
Bilderauswahl  sehr  eng  anlehnt. 

Leipzig.  Kurt  Schleif. 

G.  Anschütz,  Die  Intelligenz.  Eine  Einführung  in  die  Haupttatsachen, 
die  Probleme  und  die  Methoden  zu  einer  Analyse  der  Denktätigkeit. 
Osterwieck  a.  H.,   1913,  Verlag  Zickfeldt. 

Das  Buch  will  sozusagen  nur  als  vorläufige  Mitteilung,  als  eine  Art  resümierendes 
und  statuierendes  Programm  auftreten,  und  man  muß  sich  dessen  bewußt  werden, 
um  die  Kritik  in  angemessener  Weise  auszuüben.  Das  Resümierende  zeigt  sich  in 
starker  Beeinflussung  durch  Meumann,  Binet  und  Lipps.  Nicht  in  dem  Sinne, 
daß  dem  Autor  Unselbständigkeit  vorgeworfen  sei:  aber  man  kann  seine  schemati- 
sierenden Einteilungen,  seine  Testprinzipien  und  seine  Stellung  zum  Intelligenz- 
begriff am  ehesten  verstehen,  wenn  man  seine  Berührungspunkte  mit  den  Erwähnten 
kennt,  die  aus  der  persönlichen  Mitarbeit  mit  Lipps,  Binet  und  Meumann  stam- 
men. Entschieden  das  Wertvollste  am  Ganzen  sind  die  zahlreichen  Problemstellun- 
gen, die  der  Autor  aufzudecken  sich  bemüht.  Aber  im  einzelnen  darauf  einzugehen, 
hieße  vielleicht  ein  Referat  verfassen,  das  an  Umfang  das  Originalwerk  kaum  unter- 
bietet. Wenn  er  im  Grunde  ,, Intelligenz"  mit  Denkvorgang  identifiziert  und  wenn 
er  später  dieses  Prinzip  einer  mehr  auf  philosophischer  Basis  arbeitenden  Psycho- 
logie praktisch  anwenden  will,  so  dürfte  dort  am  klarsten  eine  Diskrepanz  zu  ver- 
zeichnen sein,  die  vielleicht  schon  früher  bei  anderen  Schriften,  zum  Teil  polemischer 
Art,  bei  Anschütz  zutage  trat:  ob  nämlich  die  Intelligenz  in  der  generellen  Psy- 
chologie wirklich  dasselbe  wäre  wie  in  der  angewandten  ?  Meines  Erachtens  ist 
das  ein  Punkt,  der  es  schwierig  macht,  eindeutige  Beurteilungen  der  Auffassungen 
zu  ermöglichen;  wenigstens  ist  durchaus  nicht  bei  allen  praktisch  arbeitenden  Psy- 
chologen (den  ,, anwendenden")  eine  Gleichstellung  mit  Denkvorgang  und  Intelligenz 
geläufig.  Der  Intelligenzbegriff  in  der  angewandten  Psychologie  ist  viel  unbestimm- 
ter und  zum  Teil  vom  wirklichen  ,, Denken"  entfremdeter  als  in  der  generellen 
Psychologie.  Den  trefflichen  Unterschied,  den  Stern  zwischen  Prüfungs-  und 
Forschungsoxperiment  macht,  wird  man  am  ehesten  hier  wiederfinden,  wenn  man 
versucht,  Denkprozeß  und  Intelligenz  parallel  oder  gleich  zu  stellen. 

Der  vorzügliche  historische  Abriß,  den  Anschütz  vom  Intelligenzproblem  gibt 
(und  daß  psychologische  Begriffe  eine  historische  Darstellung  erhalten,  ist  dringend 
zu  wünschen !),  zeigt  doch,  daß  der  Übergang  von  der  generellen  zur  angewandten 
Psychologie  im  Rahmen  des  Intelligenz-  oder  Denkproblems  durchaus  kein  klarer 
ist.  Im  besonderen  angewendet  auf  die  Pädagogik  scheint  mir  die  ,, Intelligenz" 
etwas  ganz  anderes  zu  bedeuten  als  das  eigentliche  ,, Denken".  Auch  Meumanns 
Begabungsbegriff,  der  zwischen  dem  synthetischen  und  dem  analytischen  Denken 
trennt,  ist  für  die  angewandte  Psychologie  nicht  unbedingt  zu  verwenden.  Ist  also 
bei  Anschütz  die  Klarstellung  dieser  sehr  verwickelten  Auffassungsunterschiede 
noch  nicht  so  präzise  dargestellt  und  ist  damit  eine  gewisse  dispositionelle  Unruhe 
über  das  ganze  Buch  ausgestreut,  die  sicherlich  der  Hauptmangel  des  Werkes  ist, 
so  muß  andererseits  unbedingt  ein  Prinzip  betont  werden,  auf  das  Anschütz  inner- 
halb der  Intelligenzforschung  immer  wieder  hinweist:  das  Problem  der  Aufmerk- 
samkeit. An  einigen  demonstrativen  Beispielen  (die  freilich  auch  nur  als  Vor- 
versuche Geltung  haben)  leitet  er  aus  der  Qualität  der  Aufmerksamkeit  gewisse 
Typen  ab,  die  zweifelsohne  nach  späterer  Verbesserung  deutlich  zeigen,  daß  man 
an  Hand  einfachster  Versuche  (Streck enschätzen,  Arbeiten  am  Weilerschen  Appa- 
rat usw.)  ein  Bild  der  psychischen  Struktur  des  Einzelnen  erhalten  kann.  Wie 
bereits  Meumann  erwähnt,  mui3  man  die  Aufmerksamkeit  und  die  Art  ihres  Ab- 


7  2  Litöraturbericht. 


laufes  ganz  besonders  einer  Untersuchung  durch  die  angewandte  Psychologie 
empfehlen.  Nicht  so  beipflichten  wird  man  den  Schemata  der  komplexen  Denk- 
formen, dieAnschütz  aufstellt,  und  die  zwar  das  richtige  Prinzip  verfolgen,  aus  ver- 
schiedensten Gebieten  experimentell  Aufschlüsse  über  die  Eigenart  eines  Menschen 
zu  erhalten,  um  ein  Gesamtbild  der  Persönlichkeit  zu  gewinnen,  die  aber  andererseits 
viel  zu  theoretisch  basiert  sind,  als  daß  man  sie  psychologisch  anerkennen  dürfte. 
Am  bedenklichsten  scheint  es  mir  zu  sein,  das  (ebenfalls  gewiß  wünschenswerte)  Prinzip 
z  1  verfolgen,  Tests  in  aufsteigender  Schwierigkeit,  vom  peripheren  zum  zentralen 
V  jrgahand,  zu  konstruieren  und  womöglich  daran  die  Höhe  der  Intelligenz  zu  messen. 
;  j^Warum  das  Gedächtnis  etwa  vor  der  Suggestibilität,  die  Rechentest^  vor  den 
sprachlichen,  die  Assoziationstests  nach  den  Aufmerksamkeitstests  in  der  Anschütz- 
schen  Skala  auftreten  und  warum  in  dieser  Reihenfolge  etwa  die  Intelligenzhöhe 
abgestuft  sein  darf,  ist  mir  nicht  klar.  Das  dürfte  wieder  eine  der  Konstruktionen 
sein,  vor  denen  die  angewandte  Psychologie  vor  allem  sich  bewahren  muß.  Auch 
der  Unterschied  zwischen  freier  und  zufälliger  Produktion  eines  Aufsatzes,  einer 
Skizze  usw.  ist  mir  nicht  psychologisch  einwandfrei.  Freie  Produktion  auf  ein 
gegebenes  Thema,  oder  mit  vorgeschriebenem  Umfang  oder  überhaupt  auf  Ver- 
anlassung ist  psychologisch  nicht  mehr  frei,  sondern  gezwungen.  Für  die  Produk- 
tionsart erhält  man  daraus,  wie  ich  selbst  nachgewiesen  habe,  nicht  mehr  den  klaren 
Tatbestand  als  Befund,  wie  bei  der  spontanen  (,, zufälligen")  Produktion.  Ferner 
halte  ich  es  nicht  für  vorteilhaft,  Tests  wie:  Beurteilung  von  zwei  Gegenständen, 
Personen  oder  Gedanken  mit  Angabe  von  Gründen  und  ähnliches  mehr,  heute  noch 
für  die  Intelligenzprüfung  vorzuschlagen.  Anschütz  selbst  gibt  das  Unklare  des 
Resultates  zu.  An  dieser  Stelle  sei  nochmals  hervorgehoben,  daß  wir  unbe- 
dingt die  Methodik  der  exakt  arbeitenden  generellen  Psychologie  so  weit  als  irgend 
möglich  auf  die  angewandte  übertragen  müssen !  Wir  müssen  Tests  suchen,  die 
eindeutige  Lösungen,  Lösungen  nach  Quantitätsunterschieden,  nach  exakt  meß- 
baren Faktoren,  wie  der  Zeit,  nach  richtig  und  falsch,  benutzen,  nicht  aber  ver- 
schwommene Ausdrucksformen,  wie  Schilderungen,  Darstellungen,  subjektiv  zu 
beurteilende  Antworten  enthalten!  Auch  die  Tests,  die  Typen  bringen,  sind  vom 
Exaktheitsstandpunkte  nicht  verwendbar.  Und  damit  komme  ich  wiederum  auf 
einen  Punkt  bei  Anschütz,  der  auch  sehr  diskutabel  ist:  in  der  angewandten  Psy- 
chologie Denktypen  aufzustellen,  ist  höchst  bedenklich,  in  der  generellen  Psychologie 
kann  es  nur  aus  vorläufigem  Notbehelf  geschehen.  Überall,  wo  vom  Versuchsleiter 
subjektive  Maßstäbe  angelegt  werden  müssen,  wird  ein  Prinzip  der  Beurteilung 
eingeführt,  daß,  so  lange  wir  noch  nichts  besseres  haben,  bei  Massenmaterial  in  der 
Statistik  mit  Vorbehalt  noch  annehmbar  ist,  das  aber  kaum  gebilligt  werden  kann, 
wenn  man  einen  Einzelnen  rangieren  möchte.  Sicherlich  sind  die  Gegensatzpaare 
und  die  Übergangsstufen  der  Denktypen,  die  Anschütz  aufstellt,  interessant:  ob  sie 
irgendwie  praktisch  benutzbar  werden,  sei  dahingestellt. 

So  kommt  man  bei  diesem  Buche  immer  wieder  auf  den  gleichen  Gegensatz: 
Theorie  und  Anwendung,  Psychologie  als  Geistes-  und  als  Naturwissenschaft.  Für 
den  philosophisch  orientierten  Psychologen  wird  das  Buch  viel  Anregung  geben. 
Bei  den  mehr  Tatsachen  Suchenden  wird  es  umso  intensiver  anspornen,  durch  prak- 
tische Forschung,  durch  einfaches  Darbieten  experimenteller  Ergebnisse,  das  In- 
telligenzproblem zu  bewältigen.  Für  beide  aber  wird  das  Buch  zur  Weiterarbeit 
Anlaß  sein :  denn  vielleicht  ist  durch  die  Verquickung  von  philosophischem  Überlegen, 
Schematisieren  und  Apriorisieren  auf  der  einen  und  der  Experimentalarbeit  auf 
der  anderen  Seite  die  Anschützsche  Schrift  besonders  geeignet,  die  Nachteile  und 
die  Vorzüge  beider  Methoden  darzustellen.  Daß  eine  Verschmelzung  beider  Arten 
augenblicklich  noch  nicht  möglich  ist,  scheint  ebenso  evident  zu  sein.  Vielleicht  finden 
wir  jedoch  eine  zukünftige  Überbrückung  in  der  Korrelationsmethode,  die  ver- 
wunderlicherweise bei  Anschütz  nebensächlich  behandelt  wird  (gleich  den  doch 
verdienstvollen  Untersuchungen  Bobertags).  Ein  anderer  Ausweg  aus  der  Ver- 
wirrung, die  das  Buch  indirekt  bezeugt  und  gemäß  der  wissenschaftlichen  Sachlage 
auch  bezeugen  muß,  scheint  mir  bis  jetzt  nicht  gegeben. 

Leipzig.  Fritz  Giese. 


Literaturbericht.  73 


Ch.  B.  Flagstad,  Psychologie  der  Sprachpädagogik.  Versuche  zu  einer 
Darstellung  der  Prinzipien  des  fremdsprachlichen  Unterrichts  auf  Grund  der 
psychologischen  Natur  der  Sprache.  Leipzig  u.  Berlin  1913.  Verlag  B.  G.  Teubner. 
XXVIII  u.  370  S.     Geb.  6  M. 

Die  Berücksichtigung  einiger  Erscheinungen  aus  dem  Gebiete  der  sprachpsycho- 
logischen Literatur,  die  Auseinandersetzimg  mit  der  pädagogisch-psychologischen 
Fachliteratur  des-  Sprachunterrichts  tmd  endlich  die  gründliche  Unterrichtserfahrung 
des  Verfassers  verleihen  diesem  Buche  Wert  und  Bedeutung.  Die  Darstelliing  ist 
anregend,  wenn  sie  auch  nichts  Neues  zutage  fördert.  Wir  können  hier  nur  einiges 
aus  der  Fülle  der  behandelten  Fragen  hervorheben. 

Sofern  die  Wortvorstellung  LautTm.g  ist,  stellt  sie  sich  als  eine  akustisch-moto- 
rische Einheit  dar,  in  welcher  der  Bewegungskomponente  die  größte  Bedeutung  zu- 
kommt (S.  22).  Die  Kultur  dieser  Sprechbewegungen  bildet  eine  wichtige  Aufgabe 
des  Sprachunterrichts.  Wie  bei  aller  Ausdruckskultur,  so  handelt  es  sich  auch  hierbei 
um  eine  künstlerische  Gestaltung.  Für  den  Lehrer  aber  ist  es  gar  nicht  schwer,  den 
Schüler  —  besonders  den  Anfänger  —  für  diese  Verfeinerung  in  der  Nachahmung 
fremdartiger  Sprachbewegungen  zu  gewinnen.  Die  Natur  des  Schülers  kommt  ihm 
dabei  weit  entgegen.  „Wie  jede  Sprachtätigkeit  überhaupt  ihre  Wurzel  und  ihren 
Ursprung  in  der  Freude  hat,  die  das  kleine  Kind  an  der  Betätigung  seiner  Sprach- 
organe empfindet,  so  ist  auch  der  Trieb,  sich  mit  fremden  Sprachen  zu  beschäftigen, 
ursprünglich  an  das  Lustgefühl  geknüpft,  das  die  in  der  fremden  Artikulation  liegende 
Abwechslung  erregt,  und  an  die  Stimmung,  die  der  Klang  der  fremden  Sprache 
hervorruft"  (S.  39).  Diese  ästhetische  Freude  an  dem  fremden  Sprachlaute  und  das 
spontane  Streben  des  Menschen,  ihn  zu  meistern,  muß  vor  allem  im  Anfangsimter- 
richt  vollauf  ausgenutzt  werden.  Bedenkt  man  mm,  daß  das  Wort  als  Lautung  eine 
Handlung  ist,  die  durch  sorgfältige,  pflichttreue  Übung  zur  Gewohnheit,  zu  etwas 
Wohlbekanntenx  werden  kann,  dann  erhält  auch  die  ethische  Wiirzel  dieses  spon- 
tanen Lustgefühls  ihre  rechte  pädagogische  Bewertung.  „Die  allgemeine  erziehe- 
rische Wirkung  des  Sprachunterrichts  liegt  zum  nicht  geringen  Teil  eben  darin,  daß 
er  den  Schüler  daran  gewöhnt,  sein  Wesen  unter  anderen  Formen  als  den  bisher  ge- 
wohnten zu  äußern,  und  ihn  zwingt,  sich  selbst  zu  vergessen,  indem  er  in  der  zu 
lösenden  Aufgabe  aufgeht  und  alle  Kräfte  entschlossen  zusammennimmt  ohne  Rück- 
sicht auf  ein  mögliches  Scheitern"  (S.  54).  Und  unter  diesem  Gesichtspunkte  hat 
auch  die  phonetische  Unterweistmg  im  Unterricht  eine  nicht  zu  unterschätzende 
ethische  Bedeutung,  sofern  sie  den  Schüler  immer  wieder  zur  Selbstbeobachtung  und 
-berichtigung  auffordert. 

Was  für  die  Einübung  des  Wortes  als  Lautvorstellung  gilt,  findet  auch  bei  der 
Einprägung  der  Phrase  Anwendung.  Sicherlich  beruht  ihre  Fügung  ursprünglich 
auf  dem  Bedeutungsgehalt  der  einzelnen  Teile,  so  daß  der  Sprachunterricht  selbst- 
verständlich auf  die  Kläning  dieses  Sinnes  bedacht  sein  muß.  Weil  wir  aber  mit  den 
Prä-  luid  Suffixen  in  den  Kompositionsfugen  in  den  meisten  Fällen  keine  bestimmte 
Vorstellung  mehr  verbinden,  sollte  im  Unterricht  diese  grammatisch-formale  Kon- 
struktion zugunsten  der  akustisch-motorischen  Assoziation  der  Teile  einer  stehenden 
Redowendung  weise  eingeschränkt  werden.  Die  einzelnen  Teile  der  Phrase  behaupten 
den  Platz,  den  sie  innehaben,  nicht  auf  Grund  ihrer  Bedeutung.  Die  akustisch-moto- 
rische Einheit  des  Ganzen  vielmehr  schreibt  ihnen  diesen  Platz  dogmatisch  vor 
(S.  106).  Ein  Doppeltes  also  muß  die  Methode  des  Sprachunterrichts  fordern:  die 
Realisierung  des  Vorstellungsgehaltes  der  Teile  eines  Ausdrucks  und  ihre  akustisch- 
motorische  Verschmelzung  im  Bewußtsein  des  Redenden.  Da  aber  im  Laufe  der 
Entwicklung  einer  Sprache  die  Phrasen  Kreuzungen  eingehen,  wird  der  zuletzt  be- 
schriebene Weg  am  häufigsten  beschritten  werden.  Denn  die  —  ursprünglich  übrigens 
immer  räumlich  gestaltete  —  Bedeutung  des  sprachlichen  Ausdrucks  ist  nicht  stets 
80  durchsichtig  wie  in  der  Wendung:  „es  liegt  auf  der  Hand",  für  die  der  Verffisser 
methodisch  richtig  empfiehlt,  man  solle  „sich  wirklich  die  Sache  auf  einer  offenen 
Hand  liegend  vorstellen"  (S.  108).  Gäbe  es  in  der  Sprache  keine  Kontaminations- 
formen, dann  könnte  man  diese  Methode  sogar  konsequent  durchführen.  Führt  dem- 
nach die  Entwicklung  der  Sprache  atif  Grund  der  Organisation  des  menschlichen 


74  Literaturbericht. 


Bewußtseins  zu  einer  Verdunkelung  des  Vorstellungsgehalts,  so  wird  man  doch,  wo 
es  möglich  ist,  den  Schüler  dazu  veranlassen,  sich  die  Anschaulichkeit  und  eigentüm- 
liche Auffassiuig  eines  Tatbestandes  bewußt  zu  machen.  Natürlich  fordert  diese  Be- 
trachtungsweise zur  Vergleichung  heraus;  nicht  zum  ,, Übersetzen",  sondern  zum 
,, Ersetzen"  (so  möchte  ich  es  einmal  nennen);  und  zwar  zum  Ersetzen  eines  Bildes 
aus  einer  neuen  Sprachwelt  din*ch  ein  muttersprachliches.  Mag  man  dieses  „Ersetzen" 
immerhin  „Übersetzen"  nennen,  so  ist  doch  von  vornherein  klar,  daß  es  die  Kenntnis 
der  zu  vergleichenden  Gebilde  unbedingt  voraussetzt  vmd  daher  nicht  am  Anfang 
sondern  am  Ende  der  Unterweisung  in  der  fremden  Sprache  steht.  E  ■;  ist  gar  nicht 
einzusehen,  warimi  der  Verfasser  diese  Konsequenz  der  direkten  Methode  nicht  klipp 
und  klar  zieht;  um  so  weniger  als  er  sich  doch  nachdrücklich  gegen  den  ,, zweifel- 
haften Begriff  der  guten  Übersetzung"  wendet  (S.  109).  Angenommen,  der  Verfasser 
sei  psychologisch  im  Rechte,  wenn  er  behauptet,  daß  wir  beim  Sprechen  —  also  auch 
beim  verständnisvollen  Gebrauche  einer  fremden  Sprache  —  ,,auf  Grund  der  sprach- 
lichen Anschauimg  zur  realen  übergehen"  (S.  166),  dann  spräche  diese  Ansicht  doch 
ganz  zu  unsern  Gim.sten.  Für  einen  Umweg  über  die  Muttersprache  liegt  dann  doch 
am  wenigsten  ein  Grund  vor.  Ganz  nachdrücklich  aber  müssen  wir  uns  gegen  einen 
Umweg  über  die  Muttersprache  wenden,  wenn  der  Verfasser  meint,  es  sei  ,, pädago- 
gisch eine  bessere  Übersetzung,  die  Feldherrn  der  Griechen  sterben  zu  lassen,  nach- 
dem sie  bezüglich  der  Köpfe  abgehauen  worden  waren,  als  sie  einfach  enthauptet 
werden  zu  lassen"  (S.  109).  Danach  also  soll  doch  das  fremdartige  Bild,  statt  in  seiner 
eigenartigen  Konzeption  erfaßt  vmd  in  seiner  akustisch-motorischen  Einheit  gewußt 
zu  werden,  in  kleinste  Teilchen  zerschlagen  und  dann  in  ein  gänzlich  anderes  Material 
Stück  für  Stück  übersetzt  werden ! 

Wie  kommt  der  Verfasser  zu  dieser  Auffassung,  die  doch  im  Grunde  ein  ganz 
einseitiger  Formalismus  ist  ?  Offenbar  weil  er  die  tiefe  Bedeutung  der  ,, inneren 
Sprachform"  bei  W.  v.  Humboldt  verkannt  hat.  Dieser  Ausdruck  Humboldts  hat 
für  ihn  etwas  Mystisches,  Unverständliches.  ,,Wenn  wir  überhaupt  von  innerer 
Sprachform  reden  wollen,  müssen  wir  zwischen  dem  Inhalt,  der  dvirch  die  Sprache 
ausgedrückt  werden  soll,  und  der  Sprache  selbst  als  Ausdrucksmittel  \mterscheiden, 
vü\d  wenn  wir  die  Sprachformen  verschiedener  Sprachen  vergleichen,  müssen  wir 
von  den  zwischen  den  betreffenden  Nationen  in  bezug  auf  Begriffsbildung  und  Denk- 
art bestehenden  Unterschieden  absehen  und  nur  nach  der  Art  der  lediglich  dem  Aus- 
druck dienenden  VorsteFungen  fragen"  (S.  160).  Hierin  aber  liegt  gerade  das  Ver- 
sehen, von  dem  Humboldts  Darstel'ung  frei  ist.  Für  jede  Art  des  künstler' sehen 
Ausdrucks,  daher  auch  für  die  Sprache,  ist  es  unzulässig.  Form  und  Inhalt  in  diesem 
Sinne  von  einander  zu  scheiden.  Beide  bestimmen  und  bedingen  sich  gegenseitig. 
Und  mit  innerer  Spracbform  ist  gerade  eine  innere  Auff- ssung  und  Gestalttmg  in 
sprachlichem  Gewände  gemeint.  Beider  Entwickliuig  imd  Vervollkommmmg  gehen 
Hand  in  Hand.  Außerdem:  nationale  ,, Begriffsbildung  und  Denkart"  bedingt  selbst- 
verständlich die  ,,Art  der  lediglich  dem  Ausdruck  dienenden  Vorstellungen".  Inwie- 
fern ist  es  übrigens  Humboldts  Ansicht,  daß  die  Laute  eine  ,, äußere  Sprachform  als 
Gegensatz  zu  einer  inneren  konstituieren"  ?  (S.  161.)  Mancherlei  Widersprüche  wären 
im  Anschluß  daran  noch  zu  erwähnen.  Für  die  Wortschöpfung  soll  etwas  wie  ,, Geist 
der  Sprache"  gelten  (S.  169).  Für  den  gesamten  Bau  der  Sprache  und  den  des  Satzes 
wird  nichts  dergleichen  zugelassen  (S.  167).  Wohl  aber  spricht  der  Verfasser  auch 
bei  ihnen  von  einer  ,, sprachlichen  Anschauungsform".  Sie  ,,will  vms  keine  bestimmte 
Auffassung  des  realen  Bewußtseinsinhaltes  aufzwingen,  sondern  nur  de  Möglich- 
keiten so  weit  abgrenzen,  daß  wir  den  realen  Zusammenhang  ohne  Mühe  wiederher- 
zustellen vermögen"  (S.  167).  Denkt  man  diese  Begriffsbestimmung  zu  Ende,  dann 
kommt  man  zu  Humboldts  innerer  Sprachform.  Durch  Ausdrücke  wie  ,, keine  be- 
stimmte Auffassung"  und  „aufzwingen"  wird  der  Sachverhalt  nwr  unnötig  verdunkelt. 
Kurz  vorher  (S.  166)  lesen  wir:  „Wir  denken  uns  (beim  Sprechen)  die  Sache,  wie  die 
Sprachform  es  will,  wenn  das  auch  nur  dimikel  zum  Bewußtsein  kommt".  Was  heißt 
das :  die  Sprachform  will  ?  Von  einem  Aufzwingen  soll  doch  gerade  nicht  die  Rede 
sein.  Dann  wieder  heißt  es  (S.  167):  „Die  Anschauungsformen  beruhen  .  .  .  für  jede 
Sprache  auf  einer  Wahl  zwischen  unendlich  vielen  Möglichkeiten",   wobei  das  Wort 


Literatlirbericht. 


„Wahl"  bildlich  zu  verstehen  sei.  Denn  ,,der  Sprachgebrauch  ist  blind  und  folgt 
keinen  rationellen  Prinzipien,  sondern  läßt  sich  von  zufällig  wirkenden  Ursachen 
beeinflussen".  Was  soll  hier  mit  Sprachgebrauch  gemeint  sein  ?  Er  ist  doch  of  enbar 
mehr  als  die  Wirkvmg  zxifällig  vorhandener  Ursachen.  Denn  sonst  zerfiele  ja  eine 
Sprache  in  eine  mehr  oder  weniger  große  Zahl  sprachlicher  Äußerungen,  die  zwar 
selbst  durch  die  „sprachliche  Anschauungsform"  jedesmal  geschaffen  werden,  ohne 
aber  durch  eine  allgemeine,  überall  in  wesentlich  gleicher  Weise  wirkende  ,, sprach- 
liche Anschauungsform"  zusammengehalten  und  zu  einem  stilvollen  Bau  vereinheit- 
licht zu  sein.  Was  aber  hätte  es  dann  für  einen  Sinn,  von  „sprachlicher  Anschauungs- 
form" zu  reden  ? 

Wir  müssen  uns  hier  versagen,  auf  die  zahlreichen  pädagogischen  und  psycho- 
logischen Themata  einzugehen,  die  in  dem  Buche  übersichtlich  geordnet  behandelt 
werden.  Seine  Lektüre  sei  dem  Sprachlehrer  warm  empfohlen.  Er  wird  die  Er- 
wägungen und  pädagogischen  Bedenken  aus  dem  Reformstreite  in  neuem  Zusammen- 
hange rnid  in  erfrevdicher  Vollständigkeit  hier  behandelt  finden  und  sich  dabei  gern 
der  Führung  eines  xunsichtigen  Praktikers  anvertrauen.  Psychologische  Klärung 
kann  für  den  neusprachlichen  Unterricht  —  und  um  ihn  handelt  es  sich  hier  in  erster 
Linie  —  nur  willkommen  sein,  ziunal  Anzeichen  dafür  vorhanden  sind,  daß  die  Reform- 
bewegung durch  den  vermittelnden  Charakter  der  Lehrpläne  nur  zu  einem  vor- 
läufigen Stillstande  gekommen  ist. 

Königsberg  i.  Pr.  Dr.  Hermann  Schmitt. 

Botju  Schanoff,  Die  Vorgänge  des  Rechnens.  Pädag.  Monographien. 
Bd.  XI,  Leipzig  1912.  Verlag  Nemnich.  VI  u.  111  S.  Preis  geh.  2,80  M.,  geb.  4,30  M. 
Der  Verfasser  stellt  auf  Grund  von  Aussagen  erw^achsener  Versuchspersonen 
die  psychischen  Vorgänge  fest,  die  beim  Kopfrechnen  erlebt  werden,  \ind  beschränkt 
eich  dabei  auf  Rechenoperationen  der  vier  Spezies,  die  in  der  Regel  nicht  über  100 
hinausgehen.  Insofern  sich  diese  Vorgänge  beim  Erwachsenen  leichter  und  vollstän- 
diger beobachten  lassen  als  beim  Kinde,  will  er  die  vorliegende  Schrift  als  Einleitung 
eines  zweiten,  die  gleichen  Vorgänge  des  kindlichen  Bewußtseins  behandelnden 
Teiles  betrachtet  wissen,  womit  die  Arbeit  erst  ihre  Bedeutung  für  die  Didaktik 
gewinnt. 

Bezüglich  der  für  die  Auffassung  und  das  Ausrechnen  der  Aufgaben  in  Betracht 
kommenden  Bewußtseinsinhalte  wird  betont,  daß  diejenigen  anschaulicher  Art 
als  vermittelnd  imd  zum  Behalten  der  Zahlen  dienen,  aber  nicht  das  Rechnen  selbst 
allein  ermöglichen.  Vielmehr  finden  sich  optische,  akustische  und  akustisch-moto- 
rische Elemente  hierbei  im  Bewußtsein  vor.  Gerechnet  wird,  wie  der  Verfasser  her- 
vorhebt, überhaupt  nicht  mit  optischen  oder  akustischen  Ziffern,  sondern  mit  Zahlen 
(mit  Bedeutungsbewußtsein  verbundenen  Inhalten).  Wir  können  die  letzteren  wohl, 
soweit  sie  dem  rechnenden  Subjekte  bekannte  Werte  darstellen,  psychologisch  als 
beharrende  spezifische  Bewußtseinsdispositionen  erklären,  an  denen  teils  optische, 
teils  akustische,  teils  akustisch-motorische  Elemente,  je  nach  dem  vorwiegenden  Vor- 
stellungstypus,  zu  apperzeptivem  Bewußtsein  gelangen. 

Besondere  Wichtigkeit  kommt  indessen  nach  den  Ausführungen  des  Verfassers 
den  Bewußtseinsinhalten  gedanklicher  Art  zu,  den  Beziehungssetzungen 
zwischen  den  Zahlen  der  Rechnung  und  ihren  Teilen,  den  Erwägungen,  Überlegungen 
imd  Schlußfolgerungen  in  betreff  des  anzuwendenden  Verfahrens.  Die  Rechenopera- 
tionen stellen  sich  vermöge  dieser  spontanen  Akte  des  Subjekts  nicht  als 
bloße  Anwendung  des  Einsundeins  und  Einmaleins,  sondern  als  eine  Art  des 
Denkens  dar. 

Im  übrigen  kennzeichnen  sich  die  Rechenvorgängo  als  komplizierte  Willensvor- 
gängo,  die  als  solche  angedeutet,  aber  nicht  näher  untersucht  werden. 

Die  fleißige  und  gründliche  Untersuchung  wird  denen,  welche  die  rechnerischen 
Vorgänge  bei  den  Schülern  psychologisch  zu  zergliedern  wünschen,  gewiß  eine  will- 
kommene Anleitung  bieten  können. 

Heidelberg.  Dr.  A.  Huther. 


76  Literaturbericht. 


Clemens  Baeumker,  Anschauung  und  Denken.  Eine  psychologisch-päda- 
gogische Studie.    Paderborn  1913.    VI  und  154  S. 

Der  Verfasser  gehört  zu  den  akademischen  Vertretern  einer  spezifisch  katho- 
lischen Philosophie,  welche  Erkennen  und  Glauben  in  Einklang  miteinander  zu 
setzen  sucht,  und  dieser  sein  Standpunkt  kommt  darin  zvim  Ausdruck,  daß  er  einer- 
seits gern  auf  Aristoteles  und  die  Scholastik  Bezug  nimmt,  andrerseits  grundsätzlich 
die  transzendenten  Beziehungspunkte  des  Denkens,  wie  Seele,  Gott  und  eine  höhere 
"Ordnung  der  Dinge  nebst  einer  Welt  geistiger  Wirklichkeit  und  sittlicher  Werte 
zur  Anerkennung  bringt.  Seine  Darlegungen,  die  eine  psychologische  Analyse  der 
Anschauung  und  des  Denkens  bezwecken,  zeugen  indessen  von  gründUchen,  auf 
eigener  Kritik  beruhenden  Studien  und  erweisen  sich  als  wohl  geeignet,  in  den  frag- 
lichen Gegenstand  der  Untersuchung  einzuführen.  Überall  knüpft  er  an  die  theore- 
tische Erörterung  wertvolle  Nutzanwendungen  für  die  Pädagogik  und  hebt  insbe- 
sondere gegenüber  der  oft  einseitig  betonten  Pflege  der  Anschauung  die  Not- 
wendigkeit hervor,  daß  auch  die  Ausbildung  der  abstrakten  Verstandestätigkeit  zu 
ihrem  Rechte  komme. 

Im  einzelnen  kann  ich  dem  Verfasser  darin  nicht  zustimmen,  daß  er  (S.  102f.) 
den  Begriff  der  Zahl  auf  rein  abstraktem  Wege  zu  konstruieren  sucht,  indem  er 
diese  für  eine  Synthese  der  einzelnen  Bewußtseinsakte  des  zählenden  Subjektes 
und  demnach  als  aus  reiner  Verstandessetzung  entstanden  erklärt.  Ich  sehe  nicht 
ein,  warum  die  Zahl  als  psychologische  Erscheinung  anders  als  das  Wort  (im  Sinne 
eines  mit  Bedeutungs  Vorstellung  verbundenen  Bewußtseinsinhaltes)  abgeleitet 
werden  soll.  Die  Ziffer  dient  (soweit  es  sich  um  aus  der  Wahrnehmung  aufgefaßte, 
bereits  geläufige  Zahlenwerte  handelt)  ebenso,  wie  das  Wort  das  Zeichen  bestimmter 
Wahrnehmungsinhalte  darstellt,  als  Symbol  bestimmter  konkreter  Zahlengrößen, 
die  zwar  nicht  in  aktueller  Bewußtseinsform,  jedoch  in  Gestalt  von  psychischen 
Dispositionen  gegeben  und  jederzeit  reproduzierbar  sind.  Für  das  Schulkind  kommt 
die  Zahl  jedenfalls  nur  als  konkrete  Vorste  lung  in  Betracht,  wenn  diese  auch,  wie 
B.  näher  ausführt,  der  Verdeutlichung  durch  Zerlegung  in  ihre  Elemente  bedarf. 
Bei  den  Rechenoperationen  treten  die  Zahlen  freilich  in  abstrakter  Form  auf,  näm- 
lich in  Gestalt  akustischer  bzw.  akustisch-motorischer  Bewußtseinsinhalte  (s.  hier- 
über Botju  Schanoffs  Untersuchungen  zur  Psycholog  e  des  Rechnens) ;  es  ist  das 
Einsundeins  und  Einmaleins,  das,  mechanisch  eingeübt,  hierbei  Anwendung  findet. 
In  diesem  Falle  haben  die  Zahlenbegriffe  aber  auch  für  das  rechnende  Subjekt  ihre 
eigentliche  Bedeutung  als  bestimmte  Zahlenwerte  eingebüßt. 

Es  mag  wohl  eine  Nachwirkung  der  Kant  sehen  Lehre  von  der  apriorischen 
Natur  der  Mathematik  und  ihrer  Bestimmungen  sein,  welche  dieser  Erklärung  der 
Zahl  als  eines  Produktes  , .reiner  Verstandessetzung"  zugrunde  liegt. 

Heidelberg.  A.  Huther. 

Rudolph  Penzig:  Ernste  Antworten  auf  Kinderfragen.  4.  erw.  Auflage. 
Berlin  1913.    G.  Reimer,  geb.  4.20  M. 

Ohne  eine  vollständige  und  systematische  Jugendlehre  sein  zu  wollen,  be- 
handelt Penzigs  erfolgreiches  und  wertvolles  Buch  mit  psychologischem  Geschick 
und  großer  ethischer  Feinheit  die  Hauptprobleme  der  sittlichen  Belehrung  und  Er- 
ziehung, soweit  diese  im  Rahmen  der  Hauspädagogik  erfolgt.  Etwas  zu  seiner 
Empfehlung  zu  sagen,  ist  überflüssig ;  es  hat  Hunderte  von  Vätern  und  Müttern  in 
Fällen  des  Zweifels,  der  Instinktuasicherheit  gut  beraten;  es  will  auch  nicht  mehr, 
als  durch  die  Paradigmata  selbständigen  und  ernsthaft  ihrer  Erzieherpflicht  be- 
wußten Eltern  zur  Findung  eigener  Wege  und  Lösungen  behilflich  sein,  nicht  seine 
Meinungen  und  Verfahren  als  doktrinäre  Schemata  allen  auf  zwängen.  Eine  etwas 
andere  Art  der  Behandlung  einzelner  Punkte  (z.  B.  in  der  sexuellen  Belehrung  über 
die  Rolle  des  Vaters,  in  der  soziologischen  Belehrung  über  die  Stellung  „Minnas" 
zum  Haus  usw.)  könnte  deshalb  gar  nicht  im  Sinne  einer  Kritik  vorgetragen  werden. 
Das  Buch  will  anregen  zu  eigener  pädagogischer  Produktivität,  nicht  bekehren  zu 
einem  starren  Schematismus,  und  in  Fällen,  in  welchen  sein  Leser  doch  nicht  zu 
einer  selbständigen  Lösung  der  Konflikte  kommt,  die  ihn  zu  diesem  gedruckten 


Literaturbericht.  7  7 


Ratgeber  greifen  ließen,  ist  eine  genaue  Übernahme  und  Befolgung  von  P.s  Instruk- 
tionen immer  noch  besser  als  eine  pädagogische  Unterlassungssünde.  Eines  muß 
dem  Verfasser  hoch  angerechnet  werden:  daß  er  nicht  wie  manche  andere  ehemalige 
Förderer  der  ethischen  Bewegung  und  ethischen  Jugendlehre  irre  geworden  ist  an 
den  natürlichen  sittlichen  Fähigkeiten  des  Menschen,  nicht  müde  wurde,  die  Probleme 
der  praktischen  Charakterbildung  und  Moraldidaktik  immer  wieder  durchzudenken 
und  sich  nicht  verleiten  ließ,  zur  Festigung  der  moralischen  Praxis  und  zur  Begrün- 
dung der  ilir  vorschwebenden  Leitideen,  der  für  sie  gültigen  Prinzipien  auf  Religion 
und  die  Hilfsmittel  der  religiösen  Praxis  zu  rekurrieren. 

Es  ist  ein  merkwürdiges  Schicksal  —  Penzigs  Buch  legt  mir  diesen  Gedanken 
wieder  nahe  —  das  der  Bewegung  für  eine  ethische  Jugendbildxmg  in  Deutschland 
beschieden  war.  Anfänglich  von  vielen  Seiten  enthusiastisch  begrüßt,  hat  die  Be- 
wegung für  einen  weltlichen  Moralunterricht  und  eine  von  der  religiösen  Praxis 
losgelöste  moralische  Erziehung  unserer  Jugend  immer  mehr  ihre  werbende  Kraft 
eingebüßt,  je  notwendiger  sie  wurde;  der  organisierte,  im  Besitz  der  politischen 
Machtmittel  befindliche  Konfessionalismus  bekämpfte  sie  planmäßig.  Allein  ich 
glaube  nicht,  daß  dieser  Ansturm  von  außen  weitgehende  Schädigungen  der  Be- 
wegung hätte  bewirken  können.  In  den  Reihen  der  ursprünglichen  Förderer  und 
Vorkämpfer  des  Gedankens  selbst  griff  der  Skeptizismus  Platz,  richtiger  gesagt: 
erlahmte  die  schöpferische  Schwungkraft,  an  welche  die  neue  Bewegung  erheblich 
größere  Anforderungen  stellt,  als  die  sind,  mit  denen  man  eine  religiöse  Tradition 
weitergibt.  Aber  auch  dieser  Rückzug  einzelner  Gründer  auf  die  gebahnten  Heer- 
straßen und  in  den  Schutz  und  die  endgültigen  Beruhigungen  religiöser  Sanktionierung 
erklärt  das  Schicksal  der  Bewegung  für  ethische  Jugendkultur  nicht  ganz.  Letzt- 
entscheidend ist  dafür  m.  E.  der  Umstand,  daß  die  Staatsgewalt  und 
die  dem  Gegenwartsstaat  dienstbaren  Parteien  dem  ehemals  von  ihnen  befeh- 
deten weltlichen  Moralunterricht,  der  Lebens- und  Bürgerkunde  einen  grund- 
legend wichtigen  Teil  allmählich  entzogen  und  ihn,  als  staatsbürgerliche 
Belehrung  und  Erziehung,  namentlich  im  Alter  der  Fortbildungsschule,  der  höheren 
Knaben-  und  Mädchenschule,  natürlich  bona  fide,  so  umwandelten  und  um- 
modelten, daß  er  nicht  nur  der  Gesellschaft  und  dem  Staat  überhaupt, 
sondern  zugleich  beiden  in  ihrer  heutigen  Form  und  Verfassung  dienst- 
bar werden  konnte.  Wer  die  feinversteckten  Wege  der  zähen  Selbsterhaltung 
geistiger  und  kultureller  Gebilde  kennt,  wird  ja  nicht  überrascht  sein;  aber  es  scheint 
mir  Tatsache,  daß  mit  dieser  Indienstnahme  der  Bewegung  für  ethische  Jugendkultur 
durch  den  Gegenwartsstaat  der  reine  Idealismus  utilitaristisch  zersetzt  worden. 
Man  mißverstehe  nicht:  ich  halte  sowohl  die  Sicherungsarbeiten  der  heutigen  Ge- 
sellschaft für  notwendig,  wie  religiöse  Kultur,  dort  wo  sie  noch  möglich  ist,  für  die 
tiefste  Form  der  Lebensgestaltung.  Aber  die  ethische  Bewegung,  insbesondere  der 
Jugendzweig  derselben,  hat  nach  Ursprung  und  Tendenz  mit  beiden  Aufgaben  nichts 
zu  tun ;  und  Penzigs  Buch  darf  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  ohne  Zugeständ- 
nisse und  Beschränkungen  die  rein  ethische  Richtung  innegehalten  zu  haben.  Ich 
glaube  freilich,  daß  die  pädagogische  Schöpfertat  eines  Gesamtsystems  der  mora- 
lischen Unterweisving  und  praktischen  Charakterbildung  erst  von  der  Zukunft  zu 
erwarten  ist,  aber  Bücher  wie  das  vorliegende  sind  Schrittmacher  auf  dem  Weg 
zum  Aufbau  einer  mit  unserer  Kultur,  soweit  sie  wertvoll  ist,  übereinstimmenden 
und  auf  das  ethische  Ideal  kommender  Zeiten  orientierten  Moralpädagogik. 

München.  Aloys  Fi  scher. 

Karl  Muthesius,  Die  Berufsbildung  des  Lehrers.    München  1913,  Becksohe 
Verlagsbuchhandlung,  geb.  3.80  M. 

Die  Veränderungen  der  Lehrerbildung  sind  im  letzten  Menschenalter  nicht 
kleiner,  sondern  eher  größer  als  die  Reformen  an  anderen  Schulanstalten.  Und 
wie  Muthesius  mit  Recht  hervorhebt,  sind  die  Verbesserungen  fast  ausschließlich 
der  Fachbildung,  der  wissenschaftlichen  Allgeraeinbildung  zugute  gekommen, 
während  die  pädagogische  Ausbildung    im  ganzen    unverändert    geblieben    ist. 


78  Literaturbericht. 


Deren  Vertiefung  zu  fordern  und  tief  in  den  Bildungsforderungen  der  Zeit  zu  ver- 
ankern, ist  die  Aufgabe  des  Buches  von  Muthesiuß. 

Zwei  Grundsätze  unterscheiden  nach  ihm  die  heutige  von  der  früheren  Pädagogik 
im  tiefsten  Wesen:  das  Prinzip  der  Selbstbetätigung  und  das  Persönlichkeitsprinzip. 
Dieselben  Lehrer,  die  diese  Prinzipien  hauptsächlich  vertreten  und  doch  ohne  Frage 
zunehmend  mehr  in  die  Schule  übertragen  sollen,  werden  persönlich  im  Seminar 
durchaus  nicht  nach  diesen  Grundsätzen  erzogen.  Wie  soll  sich  ihnen  daher  der 
Geist  dieser  Methode  einprägen,  wenn  sie  selbst  jahrelang  anderes  gewöhnt  werden  ? 

Darin  liegt  der  grundlegende  Unterschied  zwischen  der  Auffassung  von  Muthesius 
und  der  Auffassung,  die  viele  Behörden  von  der  Volksschule  und  damit  von  ihren 
Lehrern  zu  haben  scheinen.  Muthesius  verlangt  wirkliche  Bildung  des  Volkes  und 
nicht  Dressur  zu  äußeren  Fertigkeiten;  —  die  alte  Anschauung  dagegen  wird  von 
der  Überzeugung  getragen,  daß  solches  nicht  möglich  ist.  Nach  dieser  neueren 
Auffassung  muß  daher  auch  der  Lehrer  ein  vielseitig  durchgebildeter  Mensch  sein, 
dessen  Ausbildung  man  nicht  durch  Nebenaufgaben  der  verschiedensten  Art  er- 
schweren und  verflachen  darf. 

Die  Seminarübungsschule  will  dabei  Muthesius  ebenso  wenig  wie  das  Seminar 
verworfen  sehen:  solche  Art  revolutionärer  Gedanken  liegt  ihm  ganz  fern.  Seine 
Pläne  ruhen  auf  Tatsachen  und  entwickeln  sich  aus  ihnen  in  wirksamster  Weise. 
Die  Vernichtung  der  Seminarübungsschule  würde  nach  ihm  ein  großes  Unglück 
bedeuten;  er  wünscht  ähnliche  Einrichtungen  auf  die  Universitäten  übertragen, 
wenn  die  Pädagogik  an  der  Universität  ihre  volle  Wirkung  haben  soll. 

Im  Semineir  selbst  will  er  (im  Gegensatz  etwa  zu  Seyfert  und  anderen)  die  All- 
gemeinbildung nicht  von  der  pädagogischen  Bildung  getrennt  wissen,  sondern  sie 
beide  ineinander  gearbeitet  haben.  Pädagogische  Lehre  und  Praxis  soll  auf  3  Jahre 
verteilt  werden,  um  langsam  zu  reifen,  wobei  die  ersten  2  Jahre  mehr  für  die  Theorie 
bestimmt  sind,  das  letzte  für  das  Durchdringen  von  Theorie  und  Praxis. 

Trotz  aller  Schwierigkeiten  möchte  er  die  Unterrichtslehre  nicht  an  die  Fach- 
lehrer verteilt,  sondern  in  eine  einzige  gestaltende  Hand  gelegt  wissen.  Der  Semi- 
narist soll  zwar  den  Unterricht  aller  Fächer  einigermaßen  kennen  lernen;  aber 
auch  er  soll  seine  Kraft  in  der  Hauptsache  an  einem  einzigen  Fache  erproben,  das 
ihm  innerlich  naheliegt,  damit  seine  Entwicklung  eine  gründlichere  und  der  Unter- 
richt der  Seminarschulen  ein  besserer  werde. 

Die  Pädagogen  mögen  in  einzelnen  Punkten  anderer  Meinung  sein,  sicherlich  hat 
Muthesius  ohne  jede  Tendenz  und  Einseitigkeit,  rein  aus  langen  Erfahrungen  heraus 
Anregungen  in  so  ruhiger  Art  gegeben,  daß  man  hoffen  darf,  sie  werden  mehr  wie 
Radikalforderungen  auch  auf  die  entscheidenden  Instanzen  bestimmend  wirken. 

Leipzig.  Dr.  Max  Brahn. 

Paul  Hensel,  Hauptprobleme  der  Ethik.  2.  Auflage  1913.  B.  G.  Teubner. 
128  S. 

Dieses  schlicht  und  allgemeinverständlich  geschriebene  Buch  darf  auf  das  Lob, 
nicht  nur  Philosophie,  sondern  philosophieren  zu  lehren,  Anspruch  erheben.  Man  weiß, 
daß  dieses  Lob  (eins  der  schönsten,  die  man  einer  philosophischen  Schrift  zollen  kann) 
davon,  ob  ihr  Inhalt  original  sei  oder  nicht,  und  sogar  davon,  ob  er  wahr  oder  falsch 
sei,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  tinabhängig  ist.  So  ist  in  der  Tat  dieses  Buch  weniger 
neue  Philosophie  als  neue  Formulierung  alten  philosophischen  Gutes,  ruft  auch  wohl 
stellenweise  unsre  Kritik  auf,  und  läßt  doch  überall  ein  glückliches  und  energisches 
Denken,  das  zum  Selbstdenken  anregt,  lebendig  spüren. 

Inhaltlich  betrachtet  ist  sein  Standpunkt  so  zu  charakterisieren,  daß  es,  nach 
einer  bündigen  Kritik  des  Utilitarismus  und  der  evolutionistischen  Ethik  Spencerscher 
Färbung,  Kants  Kritik  der  praktischen  Vernunft  zu  seinem  Ausgangspunkt  macht, 
an  einigen  Stellen  ihre  Einseitigkeiten  und  dogmatischen  Reste  beseitigt  und  Kants 
Grundprinzip  der  Moral  in  möglichster  Reinheit  zu  dem  seinigen  macht.  Tut  man 
das,  so  hat  man  natürlich  von  vornherein  Beträchtliches  gewonnen:  die  Ethik  ist  weit 
hinaus  über  alle  Lustrechnung,  über  Altruismus  und  Egoismus,  Pessimismus  vmd 
Optimismus,  sie  ist  als  unabhängiges  Gebiet  mit  ureigener  Gesetzgebung  konstituiert. 


Lteraturbericht.  79 


Man  erbt  aber  natürlich  auch  alle  Schwierigkeiten  des  reinen  Moralismus  und  steht 
vor  den  zugespitzten  Problemen,  die  die  Kantische  Philosophie  an  ihren  Rändern 
erzeugt  und  deren  mangelhafte  bösiingen  wir  heute  als  Kants  Grenzen  empfinden. 
Wird  nämlich  in  dem  unbedingt  verpflichtenden  „Du  sollst"  des  Sittengesetzes  das 
einzige  Kriterium  für  sittliches  Handeln  festgehalten,  so  muß  jeder  Versuch  miß- 
lingen, dem  Sittengesetz  irgendeine  inhaltliche  Bestimmung  von  der  gleichen  Dignität 
zu  geben.  Alle  Versuche,  ob  sie  von  Kant,  Fichte  oder  sonstwem  stammen,  aus  der 
reinen  Form  der  Sittlichkeit  irgendeinen  Inhalt  dediiktiv  herauszuwickeln,  müssen 
als  Erschleichungen  abgewiesen  werden,  und  H.  tut  das  mit  aller  Entschiedenheit. 
Die  Determination  des  formalen  Imperativs  zu  konkreten  Normen  vollzieht  sich  viel- 
mehr unsystematisch,  rein  tatsächlich,  indem  Leben  und  Geschichte  immer  neue 
Aufgaben  entwickeln  und  dadurch  jederzeit  die  Forderiing  der  Pflichterfüllung  sich 
als  eine  wohlbestimmte  sittliche  Tat  darstellt:  individuell  und  undeduzierbar.  Das 
einzige,  was  man  in  der  Richtung  auf  ein  System  ethischer  Normen  tun  kann,  ist: 
eine  Reihe  von  Verhaltungsweisen  aufzuzeigen,  die  sich  im  Verlauf  der  sittlichen  Er- 
fahrung des  Menschengeschlechts,  durch  Anwendung  der  reinen  Form  des  „Du  sollst" 
auf  relativ  bleibende  menschliche  Verhältnisse  herausgebildet  haben.  Es  wäre  zu 
wünschen,  daß  diese  Erkenntnistheorie  der  materialen  Normen,  die  von  H.  fest- 
gestellt wird  (S.  103),  mit  größerer  Deutlichkeit  besonders  in  dem  Abschnitt  über 
Staat  und  Gerechtigkeit  festgehalten  würde,  wo  es  so  scheint,  als  ob  der  Verfasser, 
durch  die  Analogie  der  unpersönlichen  Art  der  staatlichen  Forderungen  mit  der  Sitt- 
lichkeit verführt,  die  Forderung  nach  Gerechtigkeit  des  Staats  für  ganz  so  absolut 
und  aus  dem  kategorischen  Imperativ  ableitbar  hielte  wie  Kant.  Es  m\xß  betont 
werden,  daß  es  für  den,  der  das  erlebte  ,,Du  sollst"  zum  alleinigen  &iterium  der  Sitt- 
lichkeit macht,  ein  System  der  Normen,  oder  überhaupt  allgemein  gültige  materiale 
Forderungen  oder  auch  nur  eine  absolute  Ethik  der  Gemeinschaft  schlechterdings 
nicht  gibt. 

Statt  eines  ethischen  Systems  der  Normen  arbeitet  nun  H.  im  Laufe  der  Schrift 
ein  psychologisches  System  der  sittlichen  Erscheinungen  heraus,  und  das  führt  ihn 
in  gewissem  Sinne  über  Kant  hinaus.  Während  nämlich  bei  Kant  eine  , .physiologische" 
Betrachtung  sittlicher  Tatsachen  zwar  im  Rahmen  des  Systems  prinzipiell  möglich 
ist,  aber  gar  keine  Rolle  spielt  und  der  reine  Wille  eben  doch  aus  einer  zweiten  Welt 
in  das  Chaos  der  Triebe  und  Neigungen  hereinragt,  ist  hier  das  Pflichtwollen  mit 
vollem  Bewußtsein  als  psychologische  Tatsache  aufgefaßt,  und  seine  Stellung  im 
psychologischen  Gefüge  des  Gesamtbewußtseins  und  sogar  in  der  psychischen  Ent- 
wicklung der  Menschheit  tritt  heraus.  Noch  spukt  zwar  das  Kantische  Dogma,  daß 
es  außer  dem  Pflichtwollen  nur  Streben  nach  Lust  gebe,  aber  im  übrigen  sind  wichtige 
Resultate  der  Psychologie  ethisch  fruktifiziert.  Besonders  der  Begriff  „außersittlich" 
und  die  Schilderung  der  psychologischen  Dynamik,  vermöge  deren  sich  Pflichthand- 
lungen allmählich  in  Gewohnheiten  verwandeln,  die  sich  ohne  Betätigung  des  sitt- 
lichen Willens  vollziehen,  scheint  mir  glücklich.  Gerade  an  solche  psychologischen 
Einsichten  freilich  müssen  sich  ethische  Probleme  anschließen,  die  H.  von  seinem 
Standpunkt  aus  nicht  lösen  kann.  Findet  nämlich  ein  beständiger  Übergang  zwischen 
sittlichen  und  außersittlichen  Handlungen  statt  und  nehmen  diese  gerade  im  aus- 
gebildeten Bewußtsein  des  Kulturmenschen  eine  so  wichtige  Stelle  ein:  ist  es  dann 
nicht  Willkür,  nur  die  explicite  aus  Pflicht  geschehenden  Handlungen  als  ethisch 
relevant  anzusehen  ?  Machen  wir  nicht  unwillkürlich  auch  in  bezug  auf  die  , .außer- 
sittlichen", gewohnheitsmäßig  ablaufenden  Handlungen  Wertunterschiede  und 
zwar  nicht  nur  zwischen  nützlichen  und  schädlichen,  sympathischen  und  unsym- 
pathischen, sondern  zwischen  guten  und  bösen?  Ein  Kriterium  aber,  um  hier 
etwas  objektiv  zu  entscheiden,  hat  H.s  Ethik  nicht.  Daß  sie  aus  Pflicht  geschehe,  ist 
das  einzige  Kriterium  der  sittlichen  Handlung  für  ihn,  und  dieses  ist  hier  generell 
nicht  erfüllt.  Der  Ausweg,  die  Handlungen,  die  aus  Pflichthandlungen  entstanden 
sind,  gut  zu  nennen,  ist  natürlich  unmöglich,  denn  der  psychologische  Mechanismus 
kann  in  verschiedenen  Fällen  aus  demselben  ganz  Verschiedenes  gemacht  haben.  — 

Ein  weiterer  Beitrag  zur  psychologischen  Einordnung  der  sittlichen  Phänomene 
ist  das  Kapitel  Ethik  und  Kultur.    Hier  wird  eine  Theorie  der  Entwicklung  der  Sitt- 


80  Literaturbericht. 


lichkeit  versucht:  auf  primitiver  Stufe  wirke,  aus  Mangel  an  entgegenwirkenden 
Motiven,  das  Sittengesetz  (Fichtisch  gesprochen)  als  Vernunftinstinkt,  diese  Enge 
des  BewuiBtseins  weite  sich  aber  mit  fortschreitender  Kultur,  die  entwickelte  Indi- 
vidualität werde  zu  weitausholenden  Willenshandlungen  fähig,  habe  aber  auch  eine 
wachsende  Fülle  von  Hemmiuigen  \ind  Gegenstrebungen  in  sich  und  eine  Welt  von 
Versuchungen  um  sich.  Damit  wachse  und  differenziere  sich,  wie  die  Fähigkeit  zum 
Laster  und  Verbrechen,  so  die  zur  Sittlichkeit.  Das  wichtige  ist,  daß  H.  nicht  etwa 
nur  den  reinen  Willen  durch  ein  beständig  sich  komplizierendes  Gewebe  von  Nei- 
gungen durchgreifen,  sondern  daß  er  ihn  sich  selbst  hinsichtlich  seiner  Struktur  ent- 
wickeln läßt. 

Das  letzte  Kapitel  stellt  das  Problem  des  Verhältnisses  der  verschiedenen  Wert- 
gebiete (bes.  Moral  und  Religion)  zu  einander  luid  löst  es  kritizistisch,  indem  es  dieses 
Problem  als  ein  notwendiges  Anliegen  der  nach  Einheit  strebenden  Vernunft,  aber 
als  Metaphysik  der  Werte  und  darum  als  überschwängliches  Unternehmen  des  Er- 
kenntnistriebes charakterisiert. 

Berlin.  Dr.  H.  Freyer. 

Victor  Stern:  Einführung  in  die  Probleme  und  die  Geschichte  der 
Ethik.   Wien,  Hugo  Heller,  1912.    89  S.   2.50  M. 

Das  Buch  will  nicht  die  Darstellung  eines  eigenen  ethischen  Systems,  sondern 
die  Darstellung  der  ethischen  Probleme  und  der  verschiedenen  Lösungsversuche,  die 
in  der  Geschichte  hervorgetreten  sind,  geben.  ,, Nicht  in  ein  System,  in  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  der  Systeme  will  es  einführen."  Es  macht  sich  freilich  diese  Ob- 
jektivität, die  es  von  sich  selbst  fordert,  recht  bequem.  Im  systematischen  Teile 
stellt  es  die  verschiedenen  Möglichkeiten,  zu  einem  System  der  Ethik  zu  kommen, 
leblos  und  schematisch  nebeneinander,  ohne  irgendwie,  auf  das  lebendige  ethische 
Denken  zurückgehend,  die  innere  Dialektik  der  Probleme  und  Lösungen  zu  zeigen. 
Der  historische  Teil  enthält  nicht  eigentlich  etwas  Falsches ;  da  er  aber  die  einzelnen 
Systeme  sowohl  wie  die  historischen  Übergänge  zwischen  ihnen  so  gründlich  simpli- 
fiziert, daß  aus  der  ganzen  Geschichte  der  Ethik  eine  höchst  oberflächliche  und  banale 
Sache  wird,  so  kann  man  ebenso  gut  sagen:  er  enthält  nicht  eigentlich  etwas  Richtiges. 

Das  Buch  ist  eine  Einführung  in  die  Geschichte  der  Ethik  im  Sinne  einer  ersten 
und  flüchtigsten  Übersicht,  eine  Einführung  in  ihre  „Probleme"  ist  es  sicher  nicht. 

Berlin.  Dr.  H.  Freyer. 

Herbarts   Lehrbuch   zur  Einleitung   in   die  Philosophie.    Mit  bisher  unge- 
druckten Herbartschen  Diktaten  sowie  mit  Einleitimg,  Anmerkungen  und  Registern 
herausgegeben  von  O.  Flügel  u.  Th.  Fritzsch.     (Herbarts  philosophische  Haupt- 
schriften, Bd.  I).  Leipzig,  1913.      Julius  Klinkhardt,    XII  u.  251  S.  Geb.  4.—  M. 
Die  beiden  Herausgeber,    der  pädagogischen  Welt  hinreichend  bekannt,  haben 
sich  zu  einer  Ausgabe  der  philosophischen  Hauptschriften  Herbarts  entschlossen  in 
der  zweifellos  richtigen  Erkenntnis,  daß  für  das  Verständnis  seiner  Pädagogik  die 
genauere  Bekanntschaft  mit  seiner  Philosophie  unerläßlich  ist.   Die  vorliegende  „Ein- 
leitung", deren  erste  Auflage  vor  nxinmehr  einem  Jahrhundert  erschien,  ist  die  erste 
dieser  Hauptschriften.    Ihre  Neuausgabe  gibt  den  Text  der  4.  Auflage  mit  den  Ab- 
weichungen der  früheren  Ausgaben  wieder;  ihr  Wert  wird  erhöht  durch  die  Heran- 
ziehvmg  von  bisher  ungedruckten  Kollegheften  zu  Herbarts  Vorlesungen  aus  den 
Jahren  1837/38,  sowie  durch  die  Beigabe  des  Plans  zu  philosophischen  Vorlesungen 
von  1804  und  der  Abhandlung  über  Plato  von  1805.    Diirch  diese  Beilagen,  ebenso 
durch  die  Einleitung  und  die  zahlreichen,  sehr  wertvollen  Anmerkungen  wird  man 
mit  den   schwierigen  Gedankengängen  Herbarts   rasch  vertraut,  so  daß  auch  der 
moderne  Pädagog  das  Buch  nicht  ohne  großen  inneren  Gewinn  aus  der  Hand  legen 
wird,  selbst  wenn  er  nicht  Herbart ianer  ist. 

Leipzig.  Dr.  Joh.  Kretzschmar. 


?j 


Deskriptive  Pädagogik. 

Von  Aloys  Fischer. 

Definiert  man  Pädagogik  als  Prinzipienwissenscliaft  von  der 
Erziehung  als  Tatsache  und  Aufgabe,  so  ist  zwar  dem  Namen  nach 
die  Einheitlichkeit  der  pädagogischen  Wissenschaft  erreicht,  aber  eine  ver- 
tiefte Besinnung  auf  die  einzelnen  Bedeutungen  der  Definitionsworte  läßt 
die  Unterschiede  der  wissenschaftlichen  Betrachtungsweise  sofort  wieder 
zutage  treten,  die  dadurch  verdeckt  werden  und  sich  z.  B.  allein  schon  auf 
die  Erziehung  als  Tatsache  richten  können. 

Die  Erziehung  ist  eine  Tatsache  des  geschichtlich-gesellschaftlichen  Lebens 
der  Menschheit,  Erziehung  verstanden  als  eine  bestimmte  Praxis,  ein  tehsch 
orientiertes  Tun.  Die  Erziehung  ist  auch  in  der  Gegenwart  noch  eine  Tat- 
sache des  kulturpraktischen  Verhaltens. 

Wer  lehrt  und  unterrichtet,  erzieht  und  bessert,  erkennt  nicht;  er  hat 
nicht  die  Aufgabe  zu  erkennen,  weder  das  Kind,  das  er  belehrt  und  erzieht, 
noch  den  Stoff,  den  er  lehrend  weiter  gibt,  noch  die  Methode,  nach  der  er 
verfährt.  Es  ist  selbstverständhch  als  Voraussetzung  seines  Tuns  erforder- 
lich, daß  er  fachwissenschaftliche  Erkenntnisse  besitzt,  daß  er  erkannt  hat, 
was  er  tradieren  soll;  es  ist  auch  unvermeidlich,  daß  er  beim  erziehenden 
Tun  nebenbei  gewisse  Kenntnisse  und  Erkenntnisse  erwirbt,  z.  B.  über  die 
Unterschiede  der  Kinderindividualitäten;  es  ist  auch  unvermeidlich,  daß  er 
Erfahrungen  sammelt  über  die  Wirkungsweise  seiner  pädagogischen  Maß- 
nahmen und  diese  Erfahrungen  wieder  instinktiv  verwertet.  So  steht  der 
praktische  Pädagoge  zwischen  der  Theorie  seines  Faches  und  der  seines 
Tuns,  aber  seine  eigentliche  Aufgabe,  seine  grundlegende  Bestimmung  ist 
•  s  nicht,  zu  theoretisieren,  zu  erkennen,  weder  die  Fachwissenschaft  noch 
(las  Kind,  noch  die  Methode.  Der  Lehrer  als  solcher,  der  Erzieher  als  solcher 
unterrichtet,  belehrt,  bessert,  verbessert,  macht  vor,  redet  zu,  belohnt,  be- 
straft heraus  aus  didaktischen  Instinkten,  unter  dem  Einfluß  konkreter 
Situationen,  mit  Verwertung  selbstgemachter  oder  fremder  Erfahrungen, 
auch  nach  vorgängiger  Überlegung  und  Plansetzung. 

Es  ist  außerordentlich  wichtig,  das  pädagogische  Tun  der  Menschen  und 
der  Menschheit  als  solches  einmal  richtig  zu  sehen,  die  Erziehung  als  Realität 
ins  Auge  zu  fassen.  Geschichtlich  zum  mindesten  und  soweit  es  sich  um 
Pädagogik  als  Tatsachenforschung  handelt,  auch  sachlich  geht  die  päda- 

Zeitechrlft  f.  pftdagog.  Psychologie.  6 


82  Döskriptive  Pädagogik. 


gogische  Tat  der  pädagogischen  Theorie  voran.^)  Das  instinktive  päda- 
gogische Tun,  am  Anfang  der  Geschichte  die  einzige  pädagogische  Reahtät, 
ist  auch  heute  noch  vorhanden,  wird  in  zahlreichen  Spielarten  geübt,  ob- 
gleich inzwischen  andere  und  höhere  Stilformen  der  Erziehung  geschaffen 
worden  sind ;  in  der  menschlich-gesellschaftlichen  Kultur  überlebt  eben  nicht 
nur  das  Passendste  oder  Jeweils  Höchste;  es  bleiben  alle  einmal  vorhanden 
gewesenen  Formen  erhalten,  soweit  die  Bedingungen  ihres  Ursprungs  fort- 
dauern oder  sich  wiederholen.  Im  Laufe  der  Geschichte  entstanden  immer 
kompliziertere  Formen  der  pädagogischen  Praxis :  und  wenn  man  die  Gefahr 
einer  gewissen  Schematisierung  der  Wirkhchkeit  nicht  scheut,  so  kann  man 
sagen,  daß  die  pädagogische  Praxis  heute  bald  ein  naiv-instinktives  Tun  ist, 
bald  Routine,  bald  Kunst,  bald  Technik.  Wichtig  ist,  daß  die  pädagogische 
Praxis  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  und  zwar  in  keiner  ihrer  Formen, 
Erkenntnis  ist,  auch  dort  nicht,  wo  sie  Erkenntnisse  verwertet,  anwendet, 
einschheßt. 

Diese  pädagogische  Praxis  muß  mir  nun  Problem  werden,  wenn  ich  päda- 
gogische Theorie  treibe;  sie  ist  ein  Gegenstand,  vielleicht  der  erste,  den  der 
pädagogische  Theoretiker  sollte  erkennen  wollen.  Pädagogik  als  Wissen- 
schaft ist  doch  die  Theorie,  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  Tatsache 
des  pädagogischen  Tuns;  ist  dies  mindestens  auch. 

Denkt  man  in  dieser  Einstellung  über  das  Verhältnis  von  Tat  und  Theorie 
nach,  so  endigt  man  bei  einer  für  alle  pädagogische  Forschung  und 
Wissenschaft  unerläßlich  wichtigen  und  grundlegenden  Auf- 
gabe, für  welche  ich  den  Namen  deskriptive  Pädagogik  übernehmen 
möchte  —  trotz  der  etwas  anderen  Bedeutungen,  die  er  dort  und  da  in  der 
Literatur  bereits  erhalten  hat.  Ich  halte  es  für  notwendig,  in  der  Gegenwart 
mit  ihren  stark  praktisch-reformerischen  Tendenzen  auf  diese  m.  E.  ent- 
scheidende Aufgabe  einer  reinen,  soweit  als  möglich  interesseloser  Erkenntnis 
dienenden  pädagogischen  Theorie  immer  wieder  hinzuweisen. 

Das  Verhältnis  der  Theorie  zur  Praxis  der  Erziehung  ist  nämlich  vielfach 
ein  ganz  anderes.  Die  Theorie  kritisiert  die  Praxis,  will  sie  verbessern, 
reformieren,  fortbilden.  Es  soll  nicht  geleugnet  werden,  daß  die  Theorie  dazu 
kompetent  ist,  aber  man  soll  auch  nicht  vergessen,  daß  der  bestbegründete 
Reformvorschlag  keine  Antwort  auf  die  Frage  nach  der  Struktur  der  heu- 
tigen pädagogischen  Praxis  gibt.  Oder  vielfach  versteht  man  unter  der  päda- 
gogischen Theorie  eine  Anleitung  zum  Lehren  und  Erziehen;  namentlich 
in  den  Lehrer-  und  Oberlehrerseminaren  verbindet  sich  gern  mit  dem  Aus- 
druck ,, pädagogische  Wissenschaft"  dieser  Sinn,  wird  die  Stunde,  in  welcher 
nominell  Theorie  der  Erziehung  getrieben  wird,  dazu  verwandt,  vorzumachen 
und  zu  erläutern,  wie  man  in  dieser  oder  jener  Disziplin  zu  unterrichten,  in 
diesem  oder  jenem  Fall  von  Schul  er  vergehen  vorzugehen  habe.  Auch  diese 
Anleitung,  die  den  Sinn  von  Theorie  freilich  ganz  verfehlt,  wird  oft  erteilt, 
ist  möghch,  ohne  daß  das  Verhalten,  zu  dem  angeleitet  wird,  genau  be- 
schrieben und  analysiert  wird  und  zu  werden  braucht.   Ein  drittes  Verhältnis 


^)  Vgl.  A.  Fischer:    Über  die  Bedeutung  des  Experiments  in  der  pädagogischen 
Forschiing.    (3.  Pädag.  Jahrbuch,  1913,  Leipzig,  J.  KUnkhardt,  Seite  305 ff.) 


Deskriptive  Pädagogik.  83 


der  Theorie  zur  Praxis  liegt  in  den  Versuchen,  eine  bestehende  Praxis  mit 
ihren  Zielen  und  Wegen  zu  Ij^egründen,  zu  rechtfertigen,  eine  Schulform, 
einen  Lehrplan,  ein  Unterrichtsmittel  zu  rechtfertigen,  rein  aus  Prinzipien 
heraus  oder  mit  polemischer  Wendung  gegen  Mißverständnis  und  Angriff. 
Auch  zur  Lösung  dieser  Aufgabe  ist  eine  nur  allgemeine  Kenntnis  der  päda- 
gogischen Praxis  zulänglich. 

Sehen  wir  scharf  zu,  wie  heute,  man  kann  sagen  in  der  Mehrzahl  der  Fälle, 
die  pädagogische  Forschung  und  Theorie  zur  Praxis  steht,  so  finden  wir :  sie 
kritisiert  oder  begründet,  reformiert  oder  tradiert;  und  das,  was  für  alle 
diese  Leistungen  als  Voraussetzung  erforderlich  ist,  die  genaue,  sorgfältige 
Beschreibung  und  Analyse  des  aktuellen  pädagogischen  Tuns  wird  darüber 
so  kurz  als  möglich  behandelt,  gar  nicht  so  ernst  genommen,  weil  jeder 
meint,  diese  Tatsachen  schon  zu  kennen,  sobald  er  von  ihrer 
Existenz  weiß,  und  weil  die  neuen  Vorschläge,  die  Kritik  an  sich  höher 
gewertet  werden  als  ein  solides  Verständnis  des  Bestehenden.  Man  neigt 
dazu,  das  Bestehende,  unbesehen  und  ohne  den  ernsten  Versuch  des  Ver- 
ständnisses, als  ungenügend  vorauszusetzen;  diese  Neigung  kommt  auch  dem 
,, Recht  des  Lebenden"  entgegen;  man  will,  und  gerade  in  der  Pädagogik,  die 
Sache  so  machen,  wie  man  sich's  selber  denkt ;  da  scheint  es  überflüssig,  zu 
studieren,  wie  es  schon  gemacht  wird.  Jeder  hat  irgendeinen  Spezial- 
wunsch,  Einfall,  Teilgedanken,  eine  Sondererfahrung;  es  liegt  nahe,  für  ihn 
Pi'opaganda  zu  machen,  ihn  zu  verbreiten  und  in  die  Wirklichkeit  einzuführen 
—  ohne  daß  es  nötig  scheint,  von  dieser  pädagogischen  Realität  mehr  zu 
wissen  als  eben  dies,  daß  der  fragliche  Gedanke,  Plan,  Einfall  in  ihr  noch 
nicht  realisiert  ist. 

Ich  möchte  wahrhaftig  nicht  der  Stagnation  in  pädagogischen  Fragen  das 
Wort  reden;  unaufhörlich  muß  an  der  Fortentwicklung  des  Bildungswesens 
gearbeitet  werden;  auch  die  pädagogische  Theorie  hat  Pflicht  und  Recht, 
dabei  mitzuschaffen,  und  zwar  durchaus  nicht  nur  als  kritische  Kontrolle. 
Aber  ich  meine,  daß  die  Theorie  erst  die  Aufgabe  hat,  die  Tatsache 
Erziehung  im  Ganzen  und  die  Einzeltatsachen  der  Erziehung 
nach  ihrem  historischen  und  aktuellen  Bestände  genau  zu 
studieren.  Und  in  dieser  Grundaufgabe  ist  die  Deskription  eingeschlossen, 
die  reine,  allerdings  so  tief  als  möglich  geführte  Beschreibung  und  Zergliede- 
rung der  Einzelheiten  der  pädagogischen  Praxis. 

Die  Deskription  fehlt  ja  in  der  Pädagogik  nicht  vollständig,  das  ist  infolge 
der  Natur  der  übrigen  wissenschaftlichen  Aufgaben  einfach  ausgeschlossen; 
sie  nahm  und  nimmt  in  den  einzelnen  Problemgruppen  einen  verschieden 
großen  Raum  ein:  aber  es  ist  doch  Tatsache,  daß  die  Deskription  1.  sich 
meist  auf  die  der  Geschichte,  d.  h.  der  Vergangenheit  angehörigen  Praktiken 
beschränkt  —  (als  ob  die  heutigen  jedermann  bekannt,  durchsichtig,  pro- 
blemlos wären  und  nicht  beschrieben  zu  werden  brauchten!)  und  2.  daß  sie 
nur  in  seltenen  Ausnahmen  so  getrieben  wird,  wie  sie  es  kann  und  im  Inter- 
esse der  Erkenntnis  muß.  Die  Bedeutung  und  zugleich  die  Schwierigkeit 
der  Beschreibung  wird  oft  unterschätzt,  Beschreibung  selbst  als  Kenntlich- 
machung, Benennung,  Angabe  einzelner,  die  Identifizierung  garantierender 
Merkmale  mißverstanden. 

6* 


84  Deskriptive  Pädagogik. 


Daß  die  Aufgabe  der  Deskription  nicht  nur  gegenüber  den  der  Vergangen- 
heit angehörigen  Praktiken  der  Erziehung  möglich  und  notwendig  ist,  scheint 
mir  keines  eigenen  Beweises  zu  bedürfen.  Die  Geschichtsschreibung  des 
Bildungswesens  macht  reichlich  von  ihr  Gebrauch;  aber  an  sich  ist  die  Be- 
schreibung keine  spezifisch  historische  Methode.  Man  kann  sich  ihr  bei  der 
geschichtlichen  Betrachtung  der  Erziehungstatsachen  nur  weniger  leicht 
entziehen,  weil  der  Umstand,  der  die  Beschreibung  der  Gegen wartseimich- 
tungen  so  leicht  überflüssig  erscheinen  läßt:  die  vorausgesetzte  allgemeine 
Bekanntheit,  auf  die  Tatbestände  vergangener  Zeiten  und  entfernter  Völker 
nicht  zutrifft.  Allein  man  richte  nur  einmal  an  einen  Kandidaten  des  höheren 
Lehramts,  meinetwegen  sogar  an  einen  im  Beruf  stehenden  Lehrer  die  Auf- 
forderung, die  Vorgänge  in  einer  einzigen  Schulstunde,  der  er  als  Hospitant 
anwohnte  oder  die  er  selbst  gegeben  hat,  zu  beschreiben,  und  man  wird  sich 
leicht  überzeugen,  daß  vielfach  nur  eine  Aufzählung  der  einzelnen  mar- 
kanten Akte  des  Lehrers  und  der  Schüler,  bzw.  einzelner  von  selbst  im 
Gedächtnis  gebliebener  Tatsachen  als  Beschreibung  zum  Vorschein  kommt. 
Genau  beschreiben,  was  der  Schüler  tut  —  wenn  er  z.  B.  ein  Gedicht  inter- 
pretiert, einen  Satz  kopiert,  eine  eingekleidete  Rechenaufgabe  durchdenkt, 
um  den  Ansatz  zu  finden  —  erfordert  eine  hochentwickelte  psychologische  und 
pädagogische  Achtsamkeit,  eine  Weite  der  Einfühlung  und  des  Nachver- 
stehens,  die,  als  Naturgabe  nicht  häufig,  erst  als  Resultat  einer  guten  Schulung 
zu  erlangen  ist.  Dabei  meine  ich  mit  Beschreibung  nicht  etwa  die  Lösung 
der  noch  offenen  Probleme  der  Phonetik,  Linguistik  usw.,  sondern  wesent- 
lich die  genaue  und  erschöpfende  Wiedergabe  der  im  Bewußtsein  des  lernen- 
den Kindes  selbst  unterschiedenen  Einzelheiten  des  Erlebnisses. 

Seine  wissenschaftliche  Fruchtbarkeit  entfaltet  das  Prinzip  der  Beschrei- 
bung sowohl  für  die  Geschichte  des  Bildungswesens  wie  für  die  Theorie  des 
pädagogischen  Tuns  freilich  nur  dann,  wenn  man  die  Beschreibung  ernst 
nimmt  und  bis  zu  dem  Grad  der  Vollendung  durchbildet,  dessen  sie  über- 
haupt fähig  ist.  Die  phänomenologische  Philosophie^),  die  im  Laufe  des 
letzten  Jahrzehnts  erwachsen  ist,  von  mehreren  Ausgangspunkten  her  und 
mit  verschiedenen,  ihrer  Grundabsicht  nicht  notwendigen  Nebeninteressen 


1)  Man  vergleiche  hierzu  C.  Kreibig:  Die  jüngste  Wendung  im  philosophischen 
Denken  tmd  die  Pädagogik  (diese  Zeitschrift,  1913,  Heft  11,  Seite  ö45ff.).  Leider 
ist  die  „Phänomenologie"  speziell  Hiisserls  als  „Phänomenalismvis"  bezeichnet 
worden,  mit  dem  Namen  eines  metaphysisch-erkenntnistheoretischen  Standpunkts, 
für  welchen  die  Frage  nach  der  Realität  der  Außenwelt,  eines  Ich,  der  Vergangen- 
heit usw.  keinen  Sinn  hat  bzw.  von  vornherein  als  negativ  beantwortet  feststeht, 
weil  die  Gegebenheiten  der  Erfahrtmg  lediglich  als  Erschein\mgen  gelten  dürfen. 
Abgesehen  von  dieser  falschen  Bezeichnung  ist  Kreibigs  verdienstvolle  Zusammen- 
fassung auch  in  dem  einen  Punkt  verbesserungsbedürftig,  der  die  Bestrebungen  der 
Algorithmiker  imd  Gegenstandstheoretiker  mit  denen  der  Phänomenologen  unter- 
schiedslos zusammengreift.  Das  Interesse  an  den  gültigen  Beziehtmgen  als  solchen, 
das  für  Logik,  Algorithmik  und  Gegenstandstheorie  primär  ist,  tritt  in  der  Phäno- 
menologie an  zweite  Stelle,  hinter  die  deskriptive,  auf  die  Schau  des,, Wesens "luid  die 
Erkenntnis  von  Wesensgesetzen  (erst  als  Spezialfall  dieser  werden  Relationen  wich- 
tig 0  gehende  Intention,  avif  Selbstgegebenheit  der  Sachen.  In  dieser  Einstellving 
entgeht  man  der  Gefahr,  das  Wesen  eines  Gegenstandes  aufzulösen  in  ein  Netz 
von  Relationen,  welcher  die  Algorithmiker  fast  nie  entgangen  sind. 


Deskriptive   Pädagogik.  85 


behaftet,  hat  uns  das  Wesen  der  Beschreibung  erst  gezeigt,  uns  in  der  Be- 
schreibung geübt,  uns  in  der-^Fortbildung  ihrer  in  allen  Wissenschaften  be- 
reits vorhandenen  Anfänge  und  Ansätze  einen  Weg  zu  Erkenntnissen  er- 
schlossen, den  man  mit  historischer  Terminologie  und  zugleich  auf  die  Gefahr 
vieler  Mißverständnisse  hin  als  deduktiven  Apriorismus  zu  bezeichnen  ge- 
wohnt war,  der  jedoch  in  Wahrheit  weder  Deduktion,  d.  h.  syllogistische 
Ableitung  und  Bewahrheitung  von  Sätzen  aus  anderen,  noch  reiner  Aprio- 
rismus in  Kantischer  Auffassung  ist. 

Beschreibung  ist  nicht  bloß  Bezeichnung  eines  Gegenstandes.  In 
der  Psychologie,  beim  Forschungs-  wie  beim  Demonstrationsexperiment 
macht  man  immer  wieder  die  Erfahrung,  daß  der  naive  Mensch,  auch  der 
wissenschaftlich  gebildete,  die  Aufforderung,  seine  Erlebnisse,  die  in  einem 
Augenblick  bei  ihm  vorhandenen  seelischen  Vorkommnisse  zu  beschreiben, 
in  der  Weise  erfüllt,  daß  er  sie  benennt ;  es  ist  dabei  stillschweigend  voraus- 
gesetzt, daß  die  Benennungen  von  der  Mehrzahl  der  Menschen  sowohl  richtig 
angewandt  als  auch  richtig  verstanden  werden  und  daß  mit  dem  usuellen 
Sinn  der  Benennung  eines  Erlebnisses  (z.  B.  als  einer  ,, Spannung",  ,, Er- 
wartung", „Enttäuschung")  alles  geleistet  sei,  was  von  einer  Beschreibung 
desselben  gefordert  werden  könne  und  dürfe. 

Geht  man  in  den  Anforderungen  etwas  weiter,  so  betrachtet  man  als  die 
Aufgabe  der  Beschreibung  die  Angabe  kenntlich  machender  Be- 
stimmungen; im  Grunde  entspringt  auch  diese  Auffassung  derselben 
pra^matistischen  Betrachtungsweise  wie  die  Identifizierung  von  Beschreibung 
und  Benennung.  Man  sieht  in  der  Beschreibung  nicht  eine  Aufgabe  und 
Leistung  wissenschaftlicher  Erkenntnis,  sondern  ein  Erfordernis  praktischer 
Verständigung.  Für  diese  Absicht  ist  es  unter  Umständen  allerdings  ge- 
nügend, wenn  ich  ein  Bild,  eine  Person,  ein  Vorkommnis  in  der  Weise  „be- 
schreibe", daß  ich  einige  Einzelheiten  hervorhebe,  die  den  Gegenstand  ein- 
deutig und  unverwechselbar  kenntlich  machen,  auf  ihn  so  zwingend  hin- 
weisen, daß  ich  sicher  sein  kann,  mein  Gesprächspartner  meine  genau  den- 
selben Gegenstand,  den  ich  eben  gemeint  wissen  will.  Aber  man  braucht  hier 
nur  die  Fälle  konkret  zu  denken,  so  sieht  man  ohne  weiteres  ein,  daß  diese 
kenntlich  machen  den  Bestimmungen  es  nicht  notwendig  mit  dem  Wesen  des 
zu  beschreibenden  Gegenstandes  zu  tun  haben  müssen ;  oft  sind  Äußerlich- 
keiten, zufällig  mit  ihm  verknüpfte  Vorkommnisse  zur  eindeutigen  Kennt- 
lichmachung durchaus  geeigneter,  obgleich  wir  durch  sie  nichts  über  den 
Gegenstand  selbst  erfahren,  er  also  durch  sie  auch  in  keiner  Weise  beschrie- 
ben wird. 

Etwas  weiter  greift  die  Bestimmung,  welche  von  der  Beschreibung  die 
vollständige  und  geordnete  Angabe  der  wesentlichen  Merkmale 
eines  Objektes  oder  Tatbestandes  verlangt.  Wie  man  sieht,  ist  dabei  von 
der  praktischen  Aufgabe  der  Kenntlichmachung  für  einen  Anderen  Umgang 
genommen;  es  sind  nicht  mehr  beliebige  Merkmale,  sondern  ,,die  wesent- 
lichen", deren  Angabe  gefordert  ist,  und  diese  müssen  vollständig  und  ge- 
ordnet angegeben  werden.  Aber  wenn  man  nun  versucht,  diesen  Forderungen 
bei  der  Beschreibung  zu  genügen,  so  stellen  sich  zwei  außerordentliche 
Schwierigkeiten,  ja  man  darf  sagen  Gefahren  ein:  entweder  gerät  die  Be- 


86  Deskriptive  Pädagogik. 


Schreibung  bei  der  Häufung  der  Merkmale  ins  Unendliche  oder  in  eine  Aus- 
wahl nach  vorgefaßten,  bewußten  oder  nur  tatsächlich  wirksamen  Theorien. 
Die  erste  Gefahr  ist  dann  gegeben,  wenn  man  über  die  ,,Wesentlichkeit" 
eines  Merkmals  nichts  präsumiert,  sondern  das  Dasein  eines  Merkmals 
auch  als  Rechtsgrund,  es  in  der  Beschreibung  zu  nennen,  gelten  läßt;  die 
zweite  Gefahr  stellt  sich  ein,  wenn  man  die  ,, Wesentlichkeit"  urgiert;  man 
muß  dann  ein  Prinzip  der  Auswahl,  einen  Gesichtspunkt  haben,  im  Hinbhck 
auf  welchen  den  einzelnen  Merkmalen  die  ,, Wesentlichkeit"  zu-  oder  abge- 
sprochen wird.  Dabei  geschieht  es  nun  leicht,  daß  nicht  das  Wesen  der 
Sache  selbst  die  Wesentlichkeit  bestimmt,  sondern  z.  B.  eine 
vorgefaßte  Theorie,  ein  wissenschaftlicher  Parteistandpunkt,  wenn  nicht 
gar  ein  politischer,  sozialer,  religiöser,  d.  h.  außerwissenschaftlicher,  hetero- 
nomer  Gesichtspunkt  maßgebend  wird.  Für  die  Beschreibung  ist  aber  conditio 
sine  qua  non  der  wissenschaftlichen  Brauchbarkeit  und  Ergiebigkeit,  daß  sie 
theoriefrei,  in  diesem  Sinne  voraussetzungslos  geschieht. 

Die  von  E.  Husserl  vor  rund  einem  Jahrzehnt  literarisch  eingeleitete  phäno- 
menologische Forschung  setzt  sich  die  theoriefreie  Beschreibung  zur  Haupt- 
aufgabe ;  sie  ist  inzwischen  von  Anhängern  und  Gleichstrebenden  über  das 
Gebiet  der  Analyse  der  Erkenntnis,  auf  dem  sie  zunächst  ausgebildet  worden, 
hinaus  entwickelt  und  auf  alle  Gebiete,  in  denen  Gegebenes  und  Letztes 
aufzeigbar  ist  oder  vermutet  wird,  angewandt  worden.  Es  ist  auch  einleuch- 
tend, daß  Jede  Wissenschaft,  die  in  ,, Richtungen",  ,, Schulen"  gespalten 
ist,  innerhalb  welcher  sich  Problemstellungen  und  Methoden,  erst  recht 
natürhch  die  Resultate,  divergierend  gegeneinander  absetzen,  entweder  sich 
selbst  aufgeben  muß,  als  ein  notwendig  in  die  Widersprüchhchkeit  des 
Denkens,  damit  in  die  Unlöslichkeit  der  Probleme  führendes  Unternehmen, 
oder  daß  sie  das  ttou  gtco  finden  muß,  den  unbezweifelbaren  Ge- 
wißheitsgrund eines  allgemein  zugestandenen  (oder  wenigstens  in  sachlicher 
Geisteshaltung  zuzugestehenden)  Ausgangspunktes,  von  dem  aus  es  mög- 
hch  wird,  über  die  ganzen  Richtungen  selbst  kritisch  zu  entscheiden.  Wir 
sind  gewohnt,  eben  diesen  Ausgangspunkt  als  ,,die  Tatsachen"  eines  Wissen- 
schaftsgebiets zu  bezeichnen.  Aber  wir  übersehen  bei  der  Handhabung  dieses 
Wortes  sehr  leicht,  daß  die  Schwierigkeit  der  Forschung  eben  darin  besteht, 
sowohl  formal  zu  bestimmen,  was  als  Tatsache  zu  gelten  hat,  was  das  heißt: 
„Tatsache",  als  sachlich  die  Tatsachen  irgendeines  Gebietes,  die  den  Aus- 
gangspunkt der  Forschung  bilden  sollen,  zu  finden  und  zu  kennzeichnen. 
Es  ist  leichter,  die  Fragestellung  einer  Wissenschaft  deuthch  zu  machen,  als 
die  Tatsachen,  auf  die  sich  die  Fragestellungen  richten,  in  einer  über  den  Hin- 
weis hinausgehenden  Eindeutigkeit  und  sachhchen  Deutlichkeit  zu  beschreiben. 

Eben  diese  grundlegende  Aufgabe,  die  Tatsachen  eines  Ge- 
bietes festzustellen,  und  zwar  in  solcher  Weise,  daß  sie  die 
Voraussetzung  für  das  Verständnis  der  Problemstellungen 
bilden  wie  die  letzte  Instanz,  auf  die  bei  der  Lösung  der 
Probleme  zu  rekurrieren  ist,  will  die  Beschreibung  in  ihrer 
phänomenologischen  Durchbildung  leisten. 

Aus  dem  Gesagten  erhellt,  daß  die  Beschreibung  auch  für  die  Pädagogik 
eine  große  und  grundlegende  Bedeutung  besitzt;  gehört  doch  die  Pädagogik 


Deskriptive  Pädagogik.  87 


in  erster  Linie  zu  den  Wissenschaften,  in  denen  Schulen  und  Richtungen  so 
zahlreich  und  verschieden  sind^  daß  man  überhaupt  an  der  Möglichkeit 
eines  rein  wissenschafthchen  Systems  gezweifelt  hat  und  zweifeln  kann. 

Ich  möchte  deshalb  die  Möglichkeit,  Aufgabe  und  Bedeutung  einer  deskrip- 
tiven Pädagogik  in  kurzer  Skizze  umreißen,  in  der  Absicht,  dadurch  den 
Boden  bereiten  zu  helfen  oder  wenigstens  zu  bezeichnen,  auf  den  alle  Rich- 
tungen des  pädagogischen  Denkens :  die  historischen,  dogmatischen,  exakten, 
experimentellen,  die  religiösen,  die  Herbartianer,  Rousseauschüler,  Plato- 
niker,  die  Instinktpädagogen  und  Organisatoren  —  sich  stellen  müssen, 
sowohl  wenn  sie  ihren  eigenen  Standpunkt  endgültig  begründen  oder  gar  mit- 
einander sich  verständigen  bzw.  in  stichhaltiger  Endgültigkeit  auseinander- 
setzen wollen,  als  auch  sich  stellen  können,  weil  er  noch  keine  theoretische 
Stellungnahme  enthält  oder  präjudiziert. 

Die  Grundfrage  aller  Deskription  lautet,  was  ein  (in  der  Erfahrung) 
Gegebenes  sei.  Alle  Pädagogik  und  alle  Richtungen  der  Pädagogik  reden 
von  ,, Erziehung",  ,,von  Einwirkung  der  älteren  Generation  auf  die 
jüngere".  Wenigstens  von  einem  ,, Verhältnis  des  Erziehers  zum  Zögling"; 
jede  Richtung  glaubt,  diese  so  bezeichneten  Tatsachen  genau  zu  kennen, 
und  schickt  sich  dann  sehr  schnell  an,  zu  sagen:  was  und  wie  ,,die  Erziehung", 
die  „Einwirkung"  nun  sein  soll.  Aber  sind  die  flüchtigen  Angaben  und  Hin- 
weise, mit  denen  die  einleitenden  Kapitel  der  Lehrbücher  der  Pädagogik  an- 
gefüllt zu  sein  pflegen,  wirkliche  Deskriptionen  ?  Erschöpfende  Antworten 
auf  die  Frage :  Was  ist?  Es  scheint  mir,  daß  man  über  der  de  finitori  sehen 
Absicht  und  der  Kennthchmachung  des  Gegenstandes  die  Beschreibung 
vergißt. 

Ich  möchte  auch  dem  Mißverständnis  vorbeugen,  daß  mit  der  Forderung 
der  Beschreibung  als  einer  gültigen  Beantwortung  der  Frage:  was  ein 
Ding  sei,  nichts  anderes  gemeint  sei,  als  daß  der  Sinn  der  verwendeten  Be- 
trriffe  richtig  und  eindeutig  feststehe.  Nein,  es  kommt  nicht  darauf  an,  daß 
in  der  deskriptiven  Fundamentierung  einer  Wissenschaft  die  verwendeten 
Worte  alle  mit  ihrer  usuellen  Bedeutung  übereinstimmen,  auch  nicht  dar- 
auf, daß  man  mit  anderen  Worten  die  Bedeutungssphäre  eines  Be- 
griffs nochmals  bezeichnen  kann  und  bezeichnet,  daß  der  Begriff  als  solcher 
seinen  Sinn  hat  —  solche  Fragen  berühren  die  Korrektheit  des  Ausdrucks, 
geben  Antwort  auf  die  Zweifel  von  Sprachforschern,  ob  ein  Wort  hier  und 
jetzt  richtig  in  seiner  usuellen  Bedeutung  verwendet  ist,  aber  sie  sagen 
nichts  aus  über  die  mit  einem  Namen,  Wort,  Begriff  bezeichnete  Sache. 

So  ist  die  Forderung  mancher  Erkenntnistheoretiker,  jede  Wissenschaft 
müsse  am  Anfang  den  Sinn  ihrer  Begriffe  klären,  zweideutig:  man  kann 
darunter  verstehen  die  sprachliche  Definition  des  unter  ein  Wort  fallenden 
Bedeutungsgebietes  oder  die  Beschreibung  der  Gegebenheiten,  welche  dem 
Wort  (und  allen  „Begriffen")  ihre  Bedeutung  geben.  Nicht  der  Sinn  der 
Worte,  d.  h.  die  Verdeutlichung  der  sprachlichen  Meinung,  sondern  die  Be- 
schreibung des  gemeinten  Etwas  ist  die  alle  Forschung  grundlegende,  sogar 
die  Fragestellung  erst  ermöglichende  Aufgabe  der  Wissenschaft. 

Auch  in  der  Pädagogik  muß  man  fragen,  was  eine  aus  der  pädagogischen 
Erfahrung  bekannte  Gegebenheit  sei,  darf  sich  nicht  damit  begnügen,  sie 


88  Deskriptive  Pädagogik. 


ebensoweit  zu  kennen,  als  die  erste  Besinnung  reicht  oder  gar  die  einfache 
Erinnerung  den  fraghchen  Tatbestand  festgehalten  hat. 

Indem  ich  es  als  Aufgabe  der  Deskription  bezeichne,  zu  erkennen  und  zu 
beschreiben,  was  ein  Gegebenes  ist,  laufe  ich  freihch Gefahr,  mißverstanden 
zu  werden.  Man  könnte  nämlich  einwenden,  daß  ein  Gegebenes  seinem 
Wesen,  seiner  Konstitution  und  ,, wahren"  Natur  nach  erst  am  Ende  der  ge- 
samten wissenschaftlichen  Forschung  darüber  erkannt  werden  kann.  Spricht 
jemand  z.  B.  von  Eis,  so  könnte  man  glauben,  daß  eine  Antwort  auf  die  Frage : 
Was  ist  das  Eis  ?  erst  dann  möghch  ist,  wenn  man  über  das  Gegebene,  über 
das  Eis  als  Gegenstand  der  unmittelbaren  Wahrnehmung  längst  hinaus- 
gegangen ist,  es  chemisch  analysiert  hat  und  dabei  feststellen  konnte,  daß 
es  Wasser  in  einem  anderen  Aggregatzustand  ist. 

Aber  an  diesem  Beispiel  wird  zugleich  der  verschiedene  lOang  und  die 
verschiedene  Intention  der  Frage:  Was  ist?  deutlich.  Als  Leitfaden  der 
Deskription  zielt  diese  Frage  lediglich  auf  eine  erschöpfende 
Charakteristik  des  Gegebenen  als  solchen,  nach  den  Seiten,  die 
unmittelbar  an  ihm  erfaßbar  sind,  ohne  Änderung  der  Gegebenheit,  ohne 
,, Reduktion"  auf  anderes,  ohne  Rekurs  auf  eine  möghche  Genesis.  Die 
letztere  Aufgabe,  ein  Gegebenes  auf  ein  Anderes  zurückzuführen,  es  genetisch 
aus  dem  Anderen  herzuleiten,  setzt  ja  doch  voraus,  daß  das  Gegebene  mit 
den  in  seiner  Sphäre  ihm  eigentümlichen  Seiten  und  Beschaffenheiten  uns 
unverwechselbar  bekannt  ist;  sonst  können  wir  nicht  mit  Sicherheit  be- 
haupten, wirkhch  dieses  Gegebene  genetisch  erklärt  zu  haben. 

In  den  Naturwissenschaften  ist  die  Beschreibung  des  Gegebenen  schon  eine 
seit  Jahrhunderten  geübte  Tradition;  die  Naturwissenschaften  haben  es  auch 
verhältnismäßig  leicht,  die  Aufgabe  der  Beschreibung  zu  erfüllen:  die  Ob- 
jekte sind  dauerhaft,  Fehler  können  korrigiert,  Vergeßlichkeiten  ergänzt 
werden. 

Aber  in  der  Psychologie  und  auch  in  der  Pädagogik  ist  die  Beschreibung 
nicht  nur  von  allergrößter  Tragweite,  sondern  zugleich  sehr  schwierig.  Hätte 
man  z.  B.  eine  genaue  Deskription  der  Affekte  in  ihrer  erlebten  Qualifi- 
zierung erstrebt,  so  wäre  eine  Theorie,  wie  die  von  C.  Lange,  nach  der  Affekte 
nichts  anderes  sind  als  Verschmelzungsprodukte  von  Körperempfindungen, 
einfach  unmöglich  gewesen,  und  niemand  hätte  die  sogenannten  künstlichen 
Affekte,  d.  h.  die  durch  Gifte  oder  Krankheiten  hervorgerufenen  Komplexe 
von  Viszeralempfindungen  (welche  allerdings  Affekte  nach  sich  ziehen  können) 
für  eine  Erklärung  der  Affekte  gehalten;  denn  die  echten  Affekte  selbst  in 
ihrer  in  der  unmittelbaren  Gegebenheit  des  Erlebnisses  noch  faßbaren  Eigen- 
art sind  andere  Tatbestände  als  die  gleichfalls  in  ihrer  Eigenart  faßbaren 
Komplexe  von  Organempfindungen;  eine  ,, genetische  Theorie"  erklärt  also 
nicht  den  Affekt,  sondern  ersetzt  ihn  durch  einen  anderen  Tatbestand,  der 
höchstens  als  Teil  des  echten  und  vollen  Affektes  Anerkennung  verdient. 
Möglich  wird  eine  solche  Problemverschiebung,  weil  die  grundlegende  Auf- 
gabe, die  Deskription  nicht  oder  nicht  ernsthaft  in  Angriff  genommen  wurde, 
das  „Bekanntsein"  mit  Affekten  für  ein  „Kennen"  derselben  genommen  wird. 

Am  Anfang  aller  Wissenschaft  muß  man  also  beschreiben,  d.  h.  fragen, 
was  die  mit  den  Worten  des  betreffenden  Gebietes  bezeichneten  Dinge  und 


Deskriptive  Pädagogik.  89 


Sachverhalte  sind;  und  zwar  die  Sachverhalte  in  ihrer  natürlichen,  vortheo- 
retischen Gegebenheit,  als  ,, Tätsachen",  welche  die  Probleme  der  jeweils  in 
Frage  kommenden  Wissenschaft  noch  enthalten,  erst  möglich  machen.  Man 
muß  die  EYage :  was  ein  G-egenstand  sei,  so  weit  treiben,  bis  weiter  zu  fragen 
evident  unsinnig  wird;  und  man  muß  diese  Frage  dabei  immer  richten  auf 
das  Gegebene  als  solches,  in  seiner  Daseinssphäre,  sie  nicht  umbiegen  oder 
hineingeraten  lassen  in  eine  andere:  ,,'Was  ist?"-Frage,  nämlich  in  die  Frage 
der  verstehenden  bzw.  erklärenden  Theorie. 

Alle  erklärende  ,,Was  ist"?-Frage,  alle  genetische  Fragestellung  wird  in 
streng  wissenschaftlicher  Geisteshaltung  erst  möglich,  wenn  die  deskriptive, 
„Was  ist?"-Frage  endgültig  beantwortet  ist.  Es  ist  zwar  faktisch  möglich, 
oft  auch  geübt  worden  und  vielfach  ohne  Gefahr,  daß  man  vorher  zu  erklären 
anfing,  aber  eine  wissenschafthche  Garantie,  daß  die  Probleme  richtig  ge- 
stellt sind,  die  Erklärungsversuche  nicht  daneben  treffen  werden,  kann  man 
nur  dann  übernehmen,  wenn  der  Tatbestand  selbst  in  der  Gegebenheit,  in 
der  er  problematisch  wird,  als  vollständig  und  richtig  beschrieben  gelten 
kann.  „Erst  muß  man  wissen,  was  das  ist,  das  man  erklären  will,  und  dann 
kann  man  zu  erklären  suchen,  was  es  ist",  könnte  ich  paradox  unter  Be- 
nutzung der  prinzipiellen  Doppeldeutigkeit  der  Was  ist?-Frage  sagen. 

Wir  stellen  also  auch  in  der  Pädagogik  die  Frage;  Was  ist  Erziehung? 
Einwirkung  auf  andere  ?  Lesen  ?  Deklamieren  ?  Rechnen  ?  Wir  stellen  die 
Frage  am  Anfang  der  Forschung,  um  die  Objekte,  um  deren  Theorie  es  sich 
dann  handeln  soll,  so  kennen  zu  lernen,  wie  sie  gegeben  sind.  Und  wir  be- 
gnügen uns  nicht  mit  Hinweisen,  kenntlichmachenden  Bestimmungen,  An- 
gabe einzelner  Merkmale,  sondern  wir  fragen  immer  weiter  ,,was  ist  die  Er- 
ziehung?", diese  Tatsache,  von  der  wir  reden,  dieser  Gegenstand  einer  theo- 
retischen Pädagogik,  bis  wir  alle  Bestimmungsstücke  derselben  in  der  uns 
unmittelbar  zugänglichen  Gegebenheit  klar  haben.  Gelingt  uns  dies,  so 
kennen  wir  mit  dem  Objekt  unserer  Wissenschaft  zugleich  die  möglichen 
Problemstellungen  und  gewisse  Richtungen  der  Lösung,  wissen  jedenfalls, 
wohin  wir  immer  zurückzukehren  haben,  wenn  im  Verfolg  der  theoretischen 
Arbeit  Unsicherheiten  oder  Widersprüche  auftreten. 

In  sehr  vielen  Fällen  ist  es  nun  weder  leicht  noch  ohne  weiteres  möglich, 
das  Gegebene  zu  beschreiben.  Es  ist  eine  eigene  Einstellung  dazu  erforderlich, 
ein  „sich  zur  Gegebenheit  bringen",  in  der  Ausdrucksweise  der  Phänomeno- 
logie. Man  darf  jedoch  dieses  ,,sich  zur  Gegebenheit  bringen"  weder  als  einen 
Akt  der  Produktion  auffassen,  durch  welchen  das  Gegebene  als  solches  erst 
entsteht,  noch  als  einen  distanzierenden,  vergegenständlichenden  Akt  der 
Rcflektion,  durch  welchen  das  Gegebene  aus  einem  bloß  Gegebenen  in 
ein  ,, Aufgefaßtes"  (,, Erkanntes"  eventuell ,, Beurteiltes")  umgewandelt  wird; 
eine  solche  Umdeutung  würde  ja  die  Antwort  auf  die  Frage:  was  ist?  ge- 
radezu unmöglich  machen,  weil  niemals  der  Gegenstand  selbst  in  seiner 
ursprünglichen  Daseinsweise  („die  Wirklichkeit",  „die  Tatsachen"),  sondern 
schon  Begriffe  von  den  Gegenständen,  wenn  auch  rohe,  den  Ausgangs- 
punkt der  wissenschaftlichen  Fragestellung  bilden  würden.  Das  „sich  zur 
Gegebenheit  bringen"  ist  deshalb  weniger  ein  positiver  Akt  als  vielmehr 
eine  „Abstraktion  von",  ein  ,, nicht  zur  Geltung  kommen  lassen",  eine  Re- 


90  Deskriptive  Pädagogik. 


duktion  all  der  Einschläge,  Zusätze,  Namen,  welche  die  Unmittelbarkeit  des 
Gegebenen  beeinträchtigen  und  das  Gegebene  selbst  (in  „seinem  Wesen") 
verdecken.  Zu  diesen  die  Erkenntnis  erschwerenden  Verdeckungen  gehören 
z.  B.  alleWirklichkeitssetzungen,  Deutungen,  Zuteilungen  zu  irgendeinem  Reich 
der  Realität,  dem  physischen,  dem  psychischen  usw.  Derartige  Angaben  in 
die  Beschreibung  aufnehmen,  heißt  nicht  voraussetzungslos  verfahren,  heißt 
aber  auch  nicht  mehr  beschreiben,  insofern  Beschreibung  eben  auf  die  Quali- 
fizierung des  Gegebenen  vor  aller  Theorie  abzielt,  des  Gegebenen  als 
Gegebenen,  der  ,, reinen  Tatsachen",  die  erst  irgendwie  sichtbar  gemacht 
sein  müssen,  wenn  die  weiteren  Begriffe  der  Theorie,  auch  der  vorwissen- 
schaftlichen Vulgärtheorie  sollen  angewandt  werden  dürfen.  Die  Tat- 
sachen müssen  doch  darüber  entscheiden,  welche  Begriffe  auf  sie  angewandt 
werden  dürfen ;  dazu  aber  müssen  diese  Tatsachen  selbst  in  einer  nicht  schon 
mit  Hilfe  von  ,, Theorien"  (wenn  auch  vulgären  und  infolge  ihrer  univer- 
sellen Verbreitung  gern  übersehenen  Theorien)  vollzogenen  Beschreibung 
festgestellt  worden  sein.  Das  unmittelbar  Gegebene  als  solches  wird  nun 
Phänomen  genannt,  nicht  um  es  damit  als  etwas  Unwirkliches  zu  charakteri- 
sieren, sondern  um  es  als  den  von  allen  Wirklichkeitssetzungen  und  theo- 
retischen Formungen  freien  Tatsachenstoff  zu  kennzeichnen,  wie  er  den 
Ausgangspunkt  der  Forschung  und  die  letzte  Instanz  für  die  Legitimation 
ihrer  fortwährenden  Schöpfung  von  Begi'iffen,  Gesetzen,  Zusammenfassungen 
und  Theorien  bildet. 

Sagt  man  nun,  die  Erziehung  sei  eine  Tatsache,  so  ist  damit  die  Not- 
wendigkeit einer  theoriefreien  Deskription  eo  ipso  anerkannt ;  man  muß  sich 
die  Tatsache  Erziehung,  oder  wie  ich  jetzt,  um  die  Mißverständnisse  auszu- 
schließen, sagen  darf,  das  Phänomen  Erziehung  als  Ausgangspunkt  und 
Diktator  der  Probleme  sichern.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  daß  diese  Deskrip- 
tion keine  ,, historische"  ist,  sondern  eine  solche,  die  auch  geschichthche  Be- 
schreibung allererst  möglich  macht,  weil  sie  die  Wesenslinien  dessen  fest- 
legt, was  Erziehung  ist,  demgemäß  Jurisdiktion  darüber  besitzt,  ob  ein  be- 
stimmter „historischer"  Sachverhalt  eine  „Erziehung"  war.  Diese  Deskrip- 
tion besitzt  für  die  Geschichte  der  Erziehung,  für  die  Darstellung  der 
Anfänge  bei  den  sogenannten  Naturvölkern  gerade  so  Bedeutung,  wie  für 
die  Beschreibung  der  heutigen  (also  auch  einer  „geschichtlichen")  Phase  des 
Erziehungswesens,  wie  für  die  Theorie  der  Erziehung  überhaupt,  ohne  Rück- 
sicht auf  die  zeithch  und  örtlich  bedingte  Mannigfaltigkeit  derselben. 

Will  man  nun  einen  Tatbestand,  der  dann  erforscht  werden  soll,  so  be- 
schreiben, wie  er  ist,  in  phänomenologischer  Reduktion  unter  Verzicht  auf 
vorgefaßte  Deutungen,  dann  ist  dazu  erforderlich,  daß  man  ihn  selbst  mit 
unbeirrbarer  Fixation  ins  Auge  faßt  und  festhält,  die  einzelnen  Merkmale 
sich  deutlich  machen  oder  deutlich  werden  läßt,  und  nicht  eher  einen  Namen, 
gar  einen  Terminus  in  Anwendung  bringt,  als  bis  die  Struktur  des  Gegen- 
standes, seine  Stellung  zu  mir,  seine  Teile  und  abstrakten  Momente,  soweit 
das  Alles  in  der  einfachen  Gegebenheit  des  Gegenstandes  mitgegeben  oder 
wenigstens  mitgemeint  ist,  durchsichtig  geworden  ist. 

Dazu  ist  aber  außer  der  phänomenologischen  Einstellung  und  innerhalb 
derselben  geistige  Aktivität  und  der  Übergang  zur  methodischen  Beschreibung 


Deskriptive  Pädagogik.  91 


erforderlich ;  es  genügt  nicht,  ein  Gegebenes  unverwandten  Auges  sozusagen  nur 
anzustieren.  Gewiß  schaut  man^dabei  auf  es  selbst  hin,  erfüllt  also  die  erste 
und  elementarste  Vorbedingung  der  Beschreibung,  aber  wie  derjenige,  der  die 
Augen  offenhält  und  starr  auf  eine  Farbe  blickt,  diese  Farbe  zwar  ,, sieht",  aber 
nicht  notwendig  erkennt,  nicht  notwendig  ,,als"  Farbe,  als  diese  oder  jene 
Farbe  auffaßt,  so  ist  auch  der  Phänomenologe  verpflichtet,  das  Gegebene,  als 
solches  es  innerlich  festhaltend,  zu  charakterisieren,  zu  qualifizieren.  Handelt 
es  sich  um  Letztes,  so  ist  diese  Aufgabe  niemals  voll  erfüllbar :  das  kommt  in 
dem  längst  bekannten  Satz  zum  Ausdruck,  daß  Letztes  (ebenso  wie  in 
seiner  Art  ,, Einziges")  nicht  eigenthch  beschrieben,  sondern  nur  aufgezeigt 
werden  könne.  Ich  gebe  das  zu,  meine  aber,  daß  eben  dieses  Aufzeigen 
erleichtert  oder  erschwert,  die  Verständigung  über  Letztheiten  (Einzig- 
keiten) ermöglicht  oder  gefährdet  wird,  je  nach  der  Art  der  Ausdrücke,  die 
man  dafür  wählt,  und  besonders  je  nach  der  Sorgfalt,  mit  der  man  sie  präzi- 
siert. Außerdem:  kann  man  Letztes  auch  nicht  mehr  beschreiben,  sondern 
sozusagen  nm*  als  Sinnerfüllung  von  Namen  festlegen,  so  kann  man  es  doch 
in  mehr  oder  weniger  genauer  und  vollständiger  Weise  unterscheiden, 
sei  es  von  anderem  Letzten,  sei  es  von  Vorletztem.  Schließhch  ist  ja  die 
Behauptung,  daß  etwas  ein  Letztes  sei,  selber  nur  realisierbar  bei  einer  auf 
Deskription  gerichteten  phänomenologischen  Geisteshaltung  im  allgemeinen 
und  nach  endgültiger  Erfolglosigkeit  der  Versuche,  anders  als  durch  Unter- 
scheidung und  Entgegensetzung  zu  charakterisieren. 

Ist  das  Gegebene,  das  beschrieben  werden  soll,  kein  Letztes  (Einziges, 
Einfaches),  so  erfordert  seine  Beschreibung  nicht  nur  die  möglichst  genaue 
Bezeichnung,  die  vollständige  Unterscheidung  von  der  nächstähnlichen 
Gegebenheit,  sondern  auch  die  Analyse  seiner  Zusammensetzung,  d.h. 
nur  die  im  Gegebenen  als  solchen  ohne  weiteres  vorhandenen  und  bei 
entsprechender  Verteilung  der  Aufmerksamkeit  auch  entdeckbaren  Teile 
und  abstrakten  Merkmale  sind  dafür  erforderüch.  Diese  deskriptive 
Analyse  ist  scharf  zu  unterscheiden  von  jeder  konstruktiven.  Wenn 
jemand  z.  B.  Farbenphänomenologie  treibt,  d.  h.  Farben  selbst  studiert, 
vergleicht,  ordnet  und  etwa  das  Orange  zu  beschreiben  hat,  so  ist  das 
Orange  als  Farbe quali tat  in  der  unmittelbaren  Gegebenheit  einfach,  un- 
zusammengesetzt; es  hat  eine  eigene,  spezifische  Qualität.  Will  man 
diese  Qualität  besclireiben,  so  greift  man  unwillkürlich  nach  Ähnlichkeiten; 
das  Orange  ist  offenbar  dem  Rot  und  dem  Gelb  ähnlich,  von  Blau  und  Grün 
verschieden;  fragt  man  weiter,  ob  es  dem  Rot  oder  Gelb  ähnlicher  ist,  so 
erhält  man  eine  verschiedene  Antwort,  je  nach  der  konkreten  Nuance  von 
Orange,  Rot,  Gelb.  Es  entwickelt  sich  daraus  der  Versuch,  die  „Grund- 
farben" selbst  als  (ideale)  Zielpunkte  aufzufassen,  denen  sich  die  wirklichen 
Nuancen  mehr  oder  minder  annähern,  und  die  Zwischenfarben  als  Misch- 
farben zu  interpretieren.  So  kommt  man  dazu.  Orange  als  ein  Gemisch  von 
Rot  und  Gelb  zu  beschreiben.  Allein  es  ist  einfach  Tatsache,  daß  wer  Orange 
sieht,  nicht  Rot  und  Gelb  nebeneinander,  übereinander  sieht,  etwa  in  kleinen 
abwechselnden  Punkten  oder  in  Lasuren;  Orange  als  Farbphänomen  ist  ein- 
fach und  einheitlich,  derjenige  aber,  der  aus  Rot  und  Gelb  Orange  mischt, 
es  konstruiert,  treibt  nicht  mehr  Phänomenologie.    Ähnlich  liegt  der  Fall 


92  Deskriptive  Pädagogik. 


bei  der  sogenannten  Klanganalyse ;  der  Klang  ist  für  das  Ohr  als  Phänomen 
einfach-einheitlich,  an  dem  höchstens  in  abstracto  Merkmale  unterschieden 
werden  können.  Die  Klanganalyse,  welche  das  Einfache  des  Klanges  als 
bedingt  durch  die  Verschmelzung  in  Wahrheit  einfacher  Töne  erzeugt  aus- 
weist, ist  Beispiel  einer  konstruktiven  (erklärenden),  nicht  deskriptiven 
Analyse. 

Auch  darüber,  ob  ein  Gegebenes  ein  Zusammengesetztes  ist,  ist  nur  bei 
theoriefreier  Einstellung  auf  es  selbst  und  vergleichender  Betrachtung  anderer 
Tatsachen  seiner  oder  anderer  Gegebenheitssphären  sowohl  Vermutung  wie 
Entscheid  möglich. 

Jedes  Gegebene  aber,  es  mag  als  Letztes  und  Einfaches  vermutet  werden  oder 
sich  unmittelbar  als  Komplex  ausweisen,  muß  durch  Benennung,  Abscheidung, 
Bild  so  genau  als  möglich  und  als  es  ohne  Änderung  seiner  Daseins  weise,  ohne 
Zuhilfenahme  theoretischer  Grundbegriffe  möglich  ist,  beschrieben  werden 
nach  seinem  Was  ?  (Was  es  selbst  ist),  seiner  Gegebenheit  (Wie  es  jetzt  da 
ist?  geschaut,  gemeint,  gedacht,  mit  Worten  bezeichnet),  nach  seiner  Stellung 
zum  erlebenden  Ich  und  zu  den  gleichzeitigen  Gegenständen  des  Bewußt- 
seins. Auf  diese  Weise  wird  es  möglich,  die  der  Sache  wesentlichen 
Merkmale  vollständig  und  geordnet  zunächst  zu  finden  und 
dann  anzugeben.  In  diesem  Sinne  und  in  solcher  Vertiefung  muß  die  Deskrip- 
tion  auch  in  der  Pädagogik  zu  ihrem  Recht  kommen.  Es  gibt  kaum  eine 
Einzelheit  der  Erziehungspraxis,  welche  schon  zuverlässig  und  erschöpfend 
beschrieben  ist,  nicht  einmal  alle  Jene  sind  es,  die  man  kritisiert  und  ver- 
bessert, also  ändert.  Jeder  Arbeitsvorgang  des  Schülers  und  jeder  Grund- 
begriff der  Pädagogik  ist  in  gleicher  Weise  geeignet,  davon  zu  überzeugen ; 
ich  greife  ein  einziges  Beispiel  heraus,  dessen  Anschaulichkeit  seine  Drastik 
entschuldigen  möge,  um  an  seiner  Hand  die  Beschreibung  in  der  Pädagogik 
und  zugleich  den  Begriff  „pädagogische  Tatsache"  zu  verdeutlichen. 

Dies  Beispiel  ist  die  körperliche  Züchtigung.  Ein  Vater  (ein  Lehrer)  über- 
rasche sein  Söhnlein  (seinen  Schüler)  dabei,  wie  es  (er)  ihn  gerade  nachmacht ; 
natürlich  in  einem  Zug,  der  dem  Vater  selbst  nicht  sympathisch  erscheint. 
Verblüfft  von  dieser  Entdeckung  und  ohne  weitere  Besinnung  ahndet  der 
nachgeahmte  Träger  der  Erziehungsautorität  dieses  Verhalten  mit  einem 
Klaps  (je  nach  der  Gegend  Ohrfeige,  Maulschelle,  Kopfnuß  oder  sonstwie 
genannt). 

Was  für  ein  ,, Tatbestand"  liegt  nun  in  diesem  Beispiel  vor?  Wenn,  in 
welchem  Sinne  ein  pädagogischer  Tatbestand?  Das  Beispiel  stellt  einen 
juristischen  Tatbestand  dar,  oder  es  ist  unter  juristischem  Gesichts- 
punkt der  Tatbestand  festgestellt,  wenn  wir  wissen,  daß  der  Vater  wirklich 
den  Schlag  geführt  hat,  ihn  geführt  hat,  weil  er  sich  durch  die  Nachahmung 
beleidigt,  lächerlich  gemacht  fühlte.  Ob  man  durch  die  Nachahmung  des 
Kindes  wirklich  beleidigt  werden  kann,  scheidet  dabei  noch  aus.  Den  juristi- 
schen Beurteiler  interessiert  die  Wirklichkeit,  die  Zurechenbarkeit  zu  be- 
stimmten Personen:  die  Motivation  und  die  Rechtsauffassung  des  Täters. 

Dieselbe  Tatsache  ist  aber  auch  ein  psychologischer  Tatbestand,, 
oder  es  gilt,  unter  psychologischen  Gesichtspunkten  den  Tatbestand  festzu- 
stellen, der  vorliegt,  wenn  der  Vater  seinen  Sohn  schlägt.   Psychologisch  ist 


Deskriptive  Pädagogik.  93 


dabei  wichtig,  ob  zwischen  der  Wahrnehmung  der  Nachahmung  und  dem 
Vollzug  des  Schlages  sich  Überlegungen  abgespielt  haben,  oder  ob  der  Schlag 
sozusagen  reflektorisch  erfolgt  ist,  ob  und  in  welchen  Bewußtseinsinhalten 
dem  Vater  der  Zusammenhang  zwischen  der  Handlung  des  Kindes  und  seiner 
eigenen  zu  Bewußtsein  kam,  in  welchen  Inhalten,  optischen,  kinästhetischen 
usw.,  sich  ihm  die  Nachahmung  wie  der  Vollzug  der  Handlung  zu  erkennen 
geben. 

Wenn  ist  nun  aber  der  fragliche  Tatbestand,  wenn  sind  die  „Ereignisse",  die 
ich  in  dem  zitierten  Beispiele  im  Auge  habe,  ein  pädagogischer  Tatbestand  ? 
Wo  und  was  daran  sind  die  pädagogischen  Tatsachen,  die  Ziele  der  päda- 
gogischen Deskription,  die  Probleme  der  pädagogischen  Theorie? 

Es  könnte  der  Fall  sein,  daß  der  Tatbestand  der  körperlichen  Züchtigung 
eines  Kindes  für  eine  Handlung  gar  kein  pädagogischer  ist.  Wenn  feststeht, 
daß  der  Vater  rein  im  Affekt  gehandelt,  gar  nur  reflektorisch  reagiert  hat, 
also  jede  Absicht  fehlte,  die  Absicht  der  Vergeltung  ebenso  wie  die  der  Ab- 
schreckung und  Besserung,  wenn  ferner  feststeht,  daß  das  geschlagene  Kind 
nach  Überwindung  des  ersten  Schreckens  und  Schmerzes  der  Sache  auch 
keine  Bedeutung  beimaß,  wenn  ihm  jede  weiterzielende  Auffassung  fehlt, 
ihm  weder  als  Strafe,  noch  als  Denkzettel  der  Schlag  im  Gedächtnis  blieb, 
•wenn  erst  recht  jede  Einsicht  in  den  Zusammenhang  zwischen  seiner  eigenen 
Aktion  und  der  Reaktion  des  Vaters  fehlt,  erst  recht  jede  Einsicht  in  etwa 
weitergehende  Absichten  des  Vaters  und  die  Motive  seiner  Tat  —  wenn  alle 
diese  Bedingungen  erfüllt  sind,  ist  das  Vorkommnis  der  Ohrfeige  keine 
pädagogische  Tatsache. 

Es  ist  nun  schon  teilweise  ersichtlich,  wenn  ein  bestimmter  Ablauf  von 
Geschehnissen  Anspruch  darauf  hat,  zu  den  pädagogischen  Tatsachen  zu 
gehören;  es  ist  damit  auch  schon  erkennbar,  was  beschrieben  werden  muß, 
wenn  diese  pädagogischen  Tatsachen  der  wissenschaftlichen  Feststellung 
zugeführt  werden.  Entweder  müssen  auf  der  Seite  des  Vaters  bestinmite 
Absichten  nachweisbar  und  als  Motive  wirksam  sein  —  er  will  durch  den 
Schlag  entweder  ein  Unrecht  sühnen  (eine  ethische  Absicht,  die  noch  nicht 
ohne  weiteres  pädagogisch  ist),  oder  er  will  durch  die  Bestrafung  auf  sein 
Kind  und  dessen  künftiges  Verhalten  eine  bestimmte  Wirkung  ausüben, 
erreichen,  daß  das  Kind  nicht  einfach  nur  gedankenlos  sich  allen  Einfällen 
und  Anreizen  überläßt,  sondern  sich  beherrschen  lerne.  Solche  Absichten 
sind  aber  nur  dann  vorhanden  und  wirksam,  wenn  noch  weiteres,  nämlich 
Interesse  am  Kind,  Bewußtsein  der  Verantwortung  für  seine  Entwicklung 
nachweisbar  sind ;  und  alle  diese  Motive  der  Erziehung  stehen  in  unmittelbar 
irlebter  Beziehung  mit  bestimmten  Persönlichkeitsidealen,  die  auf  Seite  des 
Vaters  den  einzelnen  Erziehungshandlungen  das  einheitliche  Ziel  geben. 
Wir  beschreiben  also  einen  Tatbestand  als  pädagogischen,  wenn  wir  in  den 
dabei  beteiligten  Menschen  gewisse  Motive  und  Zielvorstellungen  als  vor- 
handen und  wirksam  erweisen,  die  auf  Beeinflussung  der  Menschen  hindeuten, 
wenn  wir  an  den  beeinflußten  Menschen  alle  Züge  hervorheben,  welche  die 
Beeinflußbarkeit  als  möglich,  ethisch  und  juristisch  erlaubt  und  als  notwendig 
•  ischeinen  lassen.  Gleichgültig  ist  dabei  —  für  den  Standpunkt  der 
Deskription — unsereWertung  dieser  Absichten  und  Ideale.  Es  ist 


94  Deskriptive  Pädagogik. 


möglich,  daß  wir  selbst  die  körperliche  Züchtigung  als  Erziehungsmaßregel 
verwerfen,  es  ist  nicht  ausgeschlossen,  daß  wir  ein  anderes  Ideal  des  wohl- 
erzogenen Menschen  haben,  mit  dem  es  durchaus  vereinbar  ist,  daß  ein  Kind 
lächerliche  Seiten  der  Autoritätspersonen  auch  lächerlich  machen  darf;  in 
der  Beschreibung  haben  wir  von  unseren  Wertungen  wie  von  unseren  vor- 
gefaßten BegTiffen  vollständig  abzusehen;  wir  haben  festzustellen,  daß  ein 
Mensch  bestimmte  Handlungen  tut.  Reden  spricht,  Anordnungen  erläßt 
in  der  Absicht,  damit  andere  seiner  Macht  zugängliche  Menschen  zu  beein- 
flussen, daß  er  eine  solche  Beeinflussung  für  notwendig  und  richtig  hält, 
weil  er  der  Ansicht  ist,  durch  ihre  kumulierte  Wirkung  die  abhängigen  Men- 
schen, solange  sie  noch  plastisch  sind,  so  zu  formen,  wie  ein  ihm  vorschweben- 
des PersönHchkeitsideal  es  als  wünschenswert,  als  „seinsollend"  erscheinen  läßt. 

Ein  pädagogischer  Tatbestand  liegt  aber  auch  vor,  wenn  zwar  auf  der 
Seite  des  Züchtigenden  die  Erziehungs absieht  fehlt,  auf  der  Seite  des  Ge- 
züchtigten aber  doch  eine  bestimmte  Wirkung  eintritt.  Wenn  das  Kind 
durch  die  Erinnerung  an  die  Ohrfeige  tatsächlich  veranlaßt  wird,  bei  der 
nächsten  Versuchung  zur  Nachspötterei  zu  widerstehen,  wenn  es  im  Verfolg 
dieser  Entwicklung  zur  Einsicht  in  bestimmte  Respekts-  und  Pietätspilichten 
reift,  so  ist  eben  diese  Wirkung  eine  pädagogische  Seite  des  Sachverhalts, 
auch  wenn  noch  nicht  gerade  Selbsterziehung  vorzuliegen  braucht.  Auch  der 
Prozeß  der  bewußten  Formung  in  seinem  Unterschied  zu  dem  des  Naturwachs- 
tums ist  ein  pädagogischer  Grundbegriff,  der  durch  Beschreibung  vom  Stand- 
punkt des  Erzogenen  aus  gefunden  und,  wenn  einmal  gesehen,  zum  Problem 
erhoben  werden  kann. 

In  einer  dritten  Hinsicht  kann  in  dem  benutzten  Beispiel  ein  pädagogischer 
Tatbestand  gegeben  sein,  abgesehen  sowohl  von  der  Erziehungsabsicht  als 
auch  von  der  tatsächlichen  Erziehungs  Wirkung  der  Ohrfeige.  Die  pädagogische 
Tatsache,  die  ich  hier  noch  im  Auge  habe,  liegt  in  einer  tieferen  Schicht,  ist 
von  einer  bestimmten  wissenschaftlichen  Einstellung  abhängig.  Faßt  man 
nämlich  an  den  ,, Tatsachen"  diejenigen  Momente  ins  Auge,  durch  welche 
der  Eingriff  des  Erwachsenen  sozusagen  provoziert  wurde,  so  entdeckt  man 
eine  neue  Schicht  der  pädagogischen  Tatsächlichkeit.  Gesetzt,  die  einzelnen 
Handlungen  eines  Menschen  blieben  ohne  Nachwirkung,  einmal  vollendet 
sind  sie  auch  spurlos  dahin  und  präjudizieren  nichts  für  die  Handlungsweise 
des  Menschen  in  der  weiteren  Zukunft,  so  läge  kein  Anlaß  vor,  das  nach- 
spottende Kind  zu  bestrafen,  so  wäre  eine  solche  Bestrafung  auch  sinnlos ; 
man  könnte  ja  entweder  getrost  der  Zuversicht  sein,  daß  das  Kind  bei  nächster 
Gelegenheit  entweder  von  selber  nicht  nachahmen  wird,  oder  müßte  doch 
die  Gewißheit  haben,  daß  auch  der  Schlag  es  nicht  davon  abhalten  wird, 
weil  er  ebenso  nach  wirkungslos  vergessen  ist  wie  die  Nachspötterei,  die  er 
ahnden  und  abstellen  sollte.  Allein  die  gemachte  Voraussetzung  trifft  nicht 
zu,  wir  leben  des  Glaubens,  daß  alle  Erlebnisse  Spuren  hinterlassen,  den 
Anfang  zu  Gewohnheiten  legen  und  dadurch  eine  wesentliche  Bedeutung 
für  das  Schicksal  und  die  endliche  geistige  Form  des  Menschen  erlangen ;  wü* 
glauben,  daß  der  Mensch  plastisch  ist,  besonders  in  der  Jugendzeit;  dieser 
Glaube  ist  die  allerallgemeinste,  darum  fast  regelmäßig  übersehene  Voraus- 
setzung der  Erziehung  im  Ganzen,  eine  Komponente  der  meisten  einzelnen 


Deskriptive   Pädagogik.  95 


Erziehungshandlungen.  Auf  den  Konsequenzen,  welche  alle  Erlebnisse, 
unabsichtlich  gemachte,  durch  anderer  Menschen  Wollen  und  Direktion 
uns  zustoßende,  in  der  Persönlichkeit  des  Erlebenden  hinterlassen,  baut 
auch  jede  Selbsterziehung  auf;  auf  ihr  beruht  die  indirekte  Beeinflussung. 
Im  Verfolg  derartiger  Betrachtungsweisen  wird  an  dem  oben  genannten 
Beispiel  die  indirekte  Wirkung  des  väterlichen  Seins  eine  viel  bedeutungs- 
vollere Tatsache  als  der  aktive  Eingriff.  Bedeutet  die  Gefahr  nicht  ein  Gebot  ? 
Ein  Gebot  immer,  nicht  nur  zu  einzelnen  Stunden  und  in  einzelnen  Stücken, 
vorbildlich  zu  sein?  Für  den  Vater  (Erzieher)  ist  es  wichtiger,  so  zu  sein, 
daß  er  nicht  zu  spöttischer  Nachahmung  herausfordert,  als  eine  solche  Nach- 
ahmung mit  Brachialgewalt  in  ihrer  Äußerung  zu  unterdrücken.  So  ent- 
hüllt sich  uns  in  tieferen  Schichten  des  Seelenlebens  von  Erzieher  und  Zögling 
die  pädagogische  Wirklichkeit,  in  tieferen  Schichten,  als  diejenigen  der  be- 
wußten Absicht  und  des  planmäßigen  Wollens  sind. 

Wie  wir  bei  der  Besclireibung  von  Absichten  und  Hilfsmitteln  von  unserer 
Wertung  derselben  abstrahieren  müssen,  um  die  pädagogischen  Tatbestände, 
welche  den  Ausgangspunkt  der  Theorie  bilden,  zu  finden,  so  müssen  wir 
auch  von  jeder  präsumtiven,  uns  überkommenen,  aus  vorgefaßten  Theorien 
parat  gehaltenen  Erklärung  des  Mechanismus  ihrer  Wirkung 
absehen,  zunächst  so  lange,  bis  wir  den  Verlauf  der  Wirkung  vollständig 
protokolliert  haben.  Derjenige  beschreibt  nicht  mehr,  welcher  irgendeine 
Theorie  über  die  Wirksamkeit  dei*  Körperstrafe  (Vergeltung  und  befriedigtes 
Rechtsbewußtsein,  Abschreckung  und  Schutz,  Denkzettel  und  Vorbeugung 
gegen  Flüchtigkeit  und  Gedankenlosigkeit)  als  richtig  voraussetzt  und  ihr 
die  Begriffe  der  Erklärung  entnimmt.  Man  muß  erst  protokollieren,  was 
an  psychischen  und  äußeren  Befunden  bei  dem  einmal  (wiederholt)  für  einen 
bestimmten  Fehler  (einen  Fehler  bestimmter  Art)  körperlich  bestraften 
Kind  vorliegt,  muß  den  Zusammenhang  dieser  Befunde  mit  dem  Straferlebnis 
im  Bewußtsein  des  Kindes  selbst  zum  Pi'oblem  machen  oder  wenigstens  durch 
Ausschluß  anderer  Erklärungsmöglichkeiten  wahrscheinlich  machen,  daß  die 
Strafe  faktisch  so  gewirkt  hat,  auch  wenn  das  Kind  kein  Bewußtsein  von 
diesem  Mechanismus  mehr  haben  sollte. 

Es  ließe  sich  das  angezogene  Beispiel  noch  weiter  ausbeuten,  noch  genauer 
beschreiben,  aber  ich  lasse  es  an  diesen  Hinweisen  genügen.  Sie  sollen  zeigen, 
daß  die  Deskription  in  der  Pädagogik  nötig  ist  —  zur  Festlegung  dessen, 
was  hernach  Problem  wird,  z.  B.  also  zur  Erhebung  der  Frage :  wie  wirkt  die 
Körperstrafe  als  Erziehungsmittel  und  ist  (infolgedessen)  ihre  Verwendung 
ethisch  und  pädagogisch  einwandfrei  ?  — ,  daß  sie  möglich  ist  (auch  bei 
vielen  Tatbeständen,  die  man  infolge  ihrer  Alltäglichkeit  nicht  mehr  zu  be- 
schreiben für  nötig  erachtet,  schon  genau  zu  kennen  glaubt,  während 
man  eben  immer  wieder  ein  falsches  Bild  von  ihnen  weitertradiert),  und 
daß  ihre  Technik  von  Reduktionen  abhängt,  nämlich  von  der  Ausschaltung 
aller  vorgefaßten  Begriffe,  Theorien  und  Wertungen.  Auf  die  Unter- 
schiede zwischen  der  Deskription  in  Erkenntnistheorie  und  Psychologie 
einerseits,  in  der  Pädagogik  andererseits,  hoffe  ich  später  eingehen  zu  können. 


96  Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabung. 

Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabung. 

Von  Rudolf  Peter. 

In  einem  Aufsatze  über  die  psychologische  Untersuchung  des  Zeichnens*) 
analysiert  Me  um  an n  den  psychischen  Komplex,  der  beim  Zeichnen  gegeben  ist. 
Er  schreibt:  „Im  allgemeinen  wirken  beim  Zeichnen  drei  verschiedene  psycho- 
logische Hauptprozesse  zusammen,  deren  jeder  wieder  ein  mannigfaltig  zusanmien- 
gesetztes  Ganzes  von  Teilvorgängen  ist,  nämlich 

1.  die  Tätigkeit  des  Auges,  oder  richtiger  des  Gesichtssinnes  überhaupt, 
seiner  peripheren  und  zentralen  Partien, 

2.  die  Tätigkeit  der  Hand  und  des  Armes,  oder  allgemeiner  gesagt:  die  motori- 
schen Vorgänge,  die  der  Ausführung  des  Zeichenaktes  dienen, 

3.  die  Apperzeptions Vorgänge  bei  der  Auffassung  des  zu  zeichnenden  Objek- 
tes, bei  der  Kontrolle  und  Überwachung  der  ausführenden  Tätigkeit  des 
Zeichnens  und  bei  der  Auffassung  des  gezeichneten  Produktes, 

4.  das  Zusammenwirken  dieser  verschiedenen  Vorgänge." 

Bei  der  Analyse  des  1.  Teilvorganges  werden  genannt:  Augenmaß,  Tiefen- 
schätzung, Raumtäuschungen,  Einfluß  von  Augenbewegungen  und  Winkel- 
schätzung. Vom  zweiten  dieser  Faktoren  schreibt  Meumann:  ,,Von  beson- 
derer Bedeutung  ist  die  Tätigkeit  des  Auges  auch  bei  der  Schätzung  der  so- 
genannten „Tiefe"  oder  Entfernung  des  Objektes,  auf  der  zugleich  unser  plasti- 
sches dreidimensionales  Sehen  beruht.  Da  hat  die  Psychologie  vielfach  die  An- 
sicht vertreten  (die  auch  oft  von  Pädagogen  geteilt  wird),  daß  das  Sehen  der 
Tiefenverhältnisse  sich  erst  später  entwickelt,  später  als  das  flächenhafte  Sehen. 
So  ist  es  doppelt  interessant,  die  Fähigkeit  der  Tiefenschätzung  auch  bei  Kindern 
durch  Messung  zu  imtersuchen."  —  Wege  zu  zeigen,  die  zur  Lösung  der  Aufgabe 
führen:  Wie  entwickelt  sich  die  Tiefen  Wahrnehmung  beim  Kinde,  und  welche 
Rolle  spielt  dieser  Faktor  beim  Zeichnen  ?  —  das  ist  die  Aufgabe  dieser  Arbeit. 

Vor  dem  Aufsuchen  von  Untersuchungsmethoden  ist  es  notwendig,  den 
Komplex  „Tiefenwahrnehmung"  so  weit  zu  zerlegen,  als  es  der  bisherigen  psy- 
chologischen Forschung  gelungen  ist.  Im  andern  Falle  würde  eine  experimentelle 
Untersuchung  zu  sehr  vieldeutigen,  schwankenden  Ergebnissen  führen. 

Die  Psychologie  der  visuellen  Raumwahrnehmung  teilt  die  verschiedenen 
Faktoren,  die  ein  Urteil  über  die  Tiefe  von  Objekten  erzeugen,  in  zwei  Gruppen 
und  nennt  sie  primäre  und  sekundäre  Faktoren.  Für  die  letzteren  ist  auch  der 
Begriff  „Erfahrungshilfen"  gebräuchlich.  Daraus  geht  schon  hervor,  daß  die 
sekundären  Faktoren  mit  Hilfe  der  Erfahrung  erworben  werden,  während  die 
primären  Faktoren  —  wenigstens  nach  Ansicht  der  „Nativisten"  —  ange- 
boren sind. 

Beim  Tiefenschätzen,  wie  es  das  praktische  Leben  erfordert,  spielen  besonders 
die  Erfahrungshilfen  eine  große  Rolle.  Sie  sollen  jetzt  der  Reihe  nach  vorgeführt 
werden.  Wenn  Entfernungsschätzungen  im  Gelände  vorgenommen  werden, 
so  wird  die  Tiefe  eines  Ortes  beurteilt  nach  der  Größe,  in  der  wir  einen  Baum, 
ein  Haus  oder  einen  Kirchturm  sehen,  die  sich  an  jenem  Orte  befinden.  Die 


^)  Zeitschrift  für  päd.  Psychologie  u.  experim.  Pädagogik.     XIII,   S.  353 ff. 


* 


Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabtmg.  97 

Sicherheit  der  Schätzung  wird  durch  den  Vergleich  mit  einem  objektiv  gleich 
großen,  nahe  gelegenen,  daruuK  subjektiv  größer  erscheinenden  Gegenstande 
erhöht.  Darum  werden  Entfernungen  sehr  stark  unterschätzt,  wenn  solche 
Vergleichsgrößen  gänzlich  fehlen,  z.  B.  auf  dem  Meere,  in  einer  baumlosen  Ebene 
oder  auf  Dünen.    Dieser  erste  Faktor  sei  ,, Sehgröße"  genannt. 

Eine  Hilfe  beim  Entfernungsschätzen  im  Gelände  bietet  auch  die  sogenannte 
Luftperspektive.  Nahe  Objekte  erscheinen  in  satten  Farben,  bei  fernen 
werden  die  Farben  durch  ein  gleichmäßiges  Grau  oder  Blau  gedämpft,  mitunter 
fast  ausgelöscht.  Darum  werden  bei  klarem,  sichtigem  Wetter  Entfernungen 
geringer  geschätzt  als  bei  diesiger  Luft.  So  liegt  in  diesem  Faktor,  wie  übrigens 
in  allen  Erfahrungshilfen,  zugleich  die  Möglichkeit,  eine  Täuschung  über  die 
Entfernung  hervorzurufen.  Wie  dieses  Erzeugen  einer  Täuschung  mit  Hilfe 
des  Sehgrößenfaktors  experimentell  verwertet  wird,  soll  eingehend  später  ge~ 
zeigt  werden. 

Beim  Beurteilen  geringerer  Distanzen  ist  eine  äußerst  wichtige  Hilfe  die 
sogenannte  Perspektive.  Es  handelt  sich  dabei  um  zwei  Erscheinungen, 
die  aber  eng  verbunden  sind:  die  perspektivische  Richtung  und  Verkürzung 
der  Linien.  Dabei  spielt  die  größte  Rolle  die  Synthese  der  Einzelwahrnehmungen 
zur  Gesamt  Wahrnehmung  der  körperlichen  Dinge.  Denn  an  sich  ist  die  perspek- 
tivische Richtung  oder  Verkürzung  eines  Linienelementes  doppeldeutig,  falls 
sie  sich  überhaupt  in  eine  Tiefenvorstellung  umsetzt. 

Ähnliche  Wirkung  hat  die  Überschneidung  der  Konturen,  oder,  wie 
man  auch  sagen  könnte,  das  Decken  von  Flächen.  Auch  hier  ist  das  Auffassen 
von  ,, Dingen"  natürlich  wesentlich. 

Die  Plastik  eines  Objektes,  also  das  Wahrnehmen  geringer  Distanzunter- 
schiede, beruht  zum  Teil  auf  der  Verteilung  von  Licht  und  Schatten.  So 
erscheinen  Gegenstände  plastischer  bei  tiefem  Sonnenstande  als  an  einem  Sommer- 
mittage. 

Bei  nahen  Objekten  werden  auch  Kopfbewegungen  der  Tiefenschätzung 
helfen.  Bei  Kopfbewegimg  nach  rechts  wird  sich  der  Seitenabstand  zweier  Ob- 
jekte in  verschiedener  Tiefe  im  Sehfelde  vergrößern  oder  verringern,  je  nachdem 
sich  das  rechts  gelegene  Objekt  ferner  oder  näher  als  das  links  gelegene  befindet. 
Man  hat  dieser  Erscheinung  den  Namen :  Parallaxe  bei  Kopfbewegungen 
gegeben.  Da  sie  auch  bei  monokularem  Sehen  eintritt,  im  Gegensatz  zu  einer 
Bildverschiedenheit,  die  gerade  an  das  binokulare  Sehen  geknüpft  ist  und  von 
der  sofort  ausführlich  gesprochen  werden  soll,  so  wird  sie  auch  monokulare 
Parallaxe  genannt. 

Allen  diesen  Faktoren  ist  gemeinsam,  daß  sie  durch  Erfahrung  sich  ausbilden 
und  demnach  in  weitem  Maße  übungsfähig  sind.  Ist  nun  eine  Tiefenschätzung 
möglich,  wenn  alle  diese  Erfahrungshilfen  fehlen?  Es  ist  möglich,  experimentell 
einen  solchen  Zustand  zu  erzeugen.  Da  zeigt  sich,  daß  auch  bei  Ausschluß  aller 
bisher  genannten  Hilfen  ein  sicheres  Urteil  über  Entfernungen  vorhanden  ist. 
ALs  weitaus  wichtigster  Faktor  ist  hier  die  Bildverschiedenheit  zu  nennen, 
die  durch  den  Abstand  der  beiden  Augen  entsteht:  zwei  oder  mehrere  Objekte 
in  verschiedener  Tiefenlage  haben  für  jedes  der  beiden  Augen  verschiedenen 
Seitenabstand  im  Sehfelde.  Diese  Verschiedenheit  der  Bilder  wird  binokulare 
Parallaxe  oder  auch  Querdisparation  genannt.  Da  sie  seit  Erfindung  des  Stereo- 

Zeitochrift  f.  pftdagog.  Psychologie.  7 


98  Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabung. 

skops  durch  Wheatstone  benutzt  wird,  um  durch  Darbietung  zweier  Zeich- 
nungen eines  Gegenstandes,  die  dem  Augenabstande  entsprechen,  ein  körper- 
liches, plastisches  Sehen  hervorzurufen,  wird  sie  von  anderen  auch  stereoskopi- 
scher  Effekt  genannt. 

Wenn  die  Wahrnehmung  der  Tiefe  mit  Hilfe  der  binokularen  Parallaxe  ver- 
glichen wird  mit  der  durch  Erfahrungshilfen  gewonnenen,  so  zeigen  sich  tief- 
gehende Unterschiede.  Der  Tiefeneindruck,  der  auf  binokularer  Parallaxe 
beruht,  ist  vor  allem  sicherer.  Das  zeigt  sich  besonders,  wenn  gegen  ihn  Er- 
fahrungsfaktoren ausgespielt  werden,  die  für  sich  allein  wirkend,  ein  entgegen- 
gesetztes Urteil  bewirken  würden.  Dann  ist  der  Faktor  der  binokularen  Parallaxe 
immer  ausschlaggebend.  Über  systematische  Untersuchungen  und  Experimente 
dieser  Art  wird  demnächst  an  anderem  Orte  berichtet  werden.  Der  Tiefenein- 
druck durch  binokulare  Parallaxe  wird  von  allen  Versuchspersonen  auch  als 
,, anschaulicher"  oder  ,, sinnfälliger"  bezeichnet.  Erfahrungshilfen  erzeugen 
oft  kein  Tiefensehen,  sondern  ein  Erschließen  des  Tiefenunterschiedes.  Es  sind 
eben  verschiedene  Möglichkeiten;  der  betreffende  Faktor  kann  als  Element 
direkt  in  den  Wahrnehmungskomplex  eingehen,  er  kann  assoziativ  mit  einer 
Tiefenvorstellung  verbunden  sein  und  diese  infolgedessen  reproduzieren,  oder 
schließlich  besteht  noch  die  Möglichkeit,  daß  auf  dem  Wege  des  Denkens,  Über- 
legens  oder  Schließens  ein  Urteil  über  die  Distanzunterschiede  entsteht.  Nun 
besteht  folgender  charakteristische  Unterschied:  bei  einem  Tiefenschätzen 
mit  Hilfe  eines  Erfahrungsfaktors  ist  dieser  Faktor  immer  im  Bewußtsein  vor- 
handen und  vom  Beobachter  leicht  anzugeben.  Umso  leichter,  je  ausgeprägter 
der  Vorgang  ein  Denkprozess  ist.  Aber  auch  bei  Assoziation  zwischen  dem 
auslösenden  Erfahrungsfaktor  und  der  Tiefen  Vorstellung  ist  in  den  meisten  Fällen 
der  erstere  leicht  anzugeben.  Ganz  anders  ist  das  bei  der  binokularen  Parallaxe ! 
Nur  in  Ausnahmefällen  oder  bei  intensiver  Aufmerksamkeitsrichtung  auf  diese 
Tatsache  ist  eine  Verschiedenheit  der  Bilder  wahrzunehmen.  Die  Sache  liegt 
nicht  so:  wir  sehen  die  Bild  Verschiedenheit  und  diese  löst  assoziativ  oder  gar 
durch  Nachdenken  das  Tief  enurteil  aus.  Sondern:  wir  sehen  mit  aller  sinnlichen, 
anschaulichen  Lebhaftigkeit  Tiefe!  Darin  besteht  ja  gerade  der  Unterschied 
zwischen  der  Plastik  einer  gewöhnlichen  und  einer  stereoskopischen  Photographie 
oder  Zeichnung. 

Diese  Ausnahmestellung  der  binokularen  Parallaxe  hat  mit  dazu  geführt, 
sie  einen  primären  Faktor  der  Tiefenwahrnehmung  zu  nennen.  Wenn  dieser 
Begriff  im  Sinne  von  ,, angeboren"  verstanden  wird,  so  hat  diese  Ansicht  aller- 
dings ihren  Ursprung  in  der  allgemeinen  Raumtheorie,  die  sich  ,,Nativismus" 
nennt  und  die  überhaupt  eine  angeborene  ,, Raumempfindung"  annimmt.  Sie 
zeigt  sich  vornehmlich  in  den  Lehren  Johannes  Müllers,  Panums,  Herings 
und  Stumpfs,  neuerdings  Hillebrands.  Nach  Ansicht  des  ,, Empirismus", 
wie  er  in  den  Werken  von  Helmholtz  und  Wundt  vertreten  wird  (Wundt 
nennt  seine  Lehre  allerdings  nicht  empiristische,  sondern  ,, genetische"  Raum- 
theorie), entsteht  jedoch  auch  das  durch  binokulare  Parallaxe  hervorgerufene 
Tiefensehen  auf  dem  Wege  der  Erfahrung.  Nach  dieser  Auffassung  würde  also 
ein  fundamentaler  Unterschied  zwischen  binokularer  Parallaxe  und  Erfahrungs- 
faktoren nicht  bestehen,  eher  ein  gradueller.  Dieser  Gegensatz  der  Theorien 
besteht  auch  heute  ungemindert.    Die  vorliegende  Frage  durch  experimentelle 


Beiträge  zur  Analyse  der   zeichnerischen   Begabung.  99 

Untersuchungen  an  Kindern  ihrer  Lösung  näher  zu  bringen,  ist  bisher  noch  nicht 
versucht  worden,  obwohl  es  nahe  liegt,  die  Frage,  ob  das  Tiefensehen  durch 
Erfahrung  entsteht  oder  nicht,  durch  direkte  Beobachtung  an  Kindern  verschie- 
denen Alters  und  an  denselben  Kindern  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  zu  lösen. 
Allerdings  stehen  dem  solche  Schwierigkeiten  entgegen,  daß  sie  wohl  von  vorn- 
herein für  unüberwindbar  gehalten  worden  sind.  Über  den  Versuch  zum  Bahnen 
eines  solchen  Weges  soll  im  zweiten  Teile  dieser  Abhandlung  unter  anderm 
berichtet  werden. 

Wird  nun  außer  allen  Erfahrungshilfen  auch  die  binokulare  Parallaxe  ausge- 
schlossen, wie  es  ja  beim  monokularen  Sehen  möglich  ist,  ist  dann  noch  eine 
Tiefen  Wahrnehmung  vorhanden?  In  ziemlich  engen  Grenzen:  ja!  Das  Urteil 
über  Tiefenverschiedenheit  wird  in  diesem  Falle  durch  Akkommodation  hervor- 
gerufen, vielleicht  unter  Mithilfe  der  die  Akkommodationsänderungen  reflektorisch 
begleitenden  Konvergenzänderungen  der  Augenachsen.  Nach  empiristischer 
Auffassung  werden  durch  wechselnde  Akkommodation  und  Konvergenz  Muskel- 
empfindungen in  den  äußeren  und  inneren  Augenmuskeln  hervorgerufen,  und 
diese  erzeugen,  erfahrungsmäßig  mit  ihnen  verbunden,  die  Tiefenurteile  oder 
Tiefen  Vorstellungen.  Da  nach  Wundts  Theorie  die  Raum  Wahrnehmung  überhaupt 
ein  Assoziationsprozeß  zwischen  einem  System  intensiv  abgestufter  Muskel- 
empfindungen und  einem  qualitativ  abgestufter  Lichtempfindungen,  den  soge- 
nannten Lokalzeichen,  ist,  so  muß  nach  seiner  Meinung  das  durch  Akkommodations- 
und  Konvergenzänderungen  erzeugte  Tiefensehen  das  ursprüngliche,  trotzdem 
nicht  angeborene,  sein.  Nach  nativistischer  Auffassung  dagegen  ist  die  bino- 
kulare Parallaxe  der  einzige  primäre,  d.  h.  in  ihrem  Sinne  der  angeborene 
Faktor.  Konvergenz-  und  Akkommodationsänderungen  lösen  z.  B.  nach  Hille- 
brands  Meinung  kein  Tiefensehen  aus,  im  günstigsten  Falle  nur  eine  indirekt 
durch  Erschließen  gewonnene,  unanschauliche  Vorstellung  der  Tiefe,  kein  Sehen, 
sondern  ein  Wissen. 

So  haben  sich  also  als  Mittel  der  Tiefenschätzung  ergeben: 

I.  a)  Binokulare  Parallaxe; 

b)  Konvergenz-  und  Akkommodationsempfindungen. 
IL  a)  Sehgröße; 

b)  Überschneiden  der  Konturen; 

c)  Perspektivische  Richtung  und  Verkürzung  der  Linien; 

d)  Parallaxen  Wirkung  bei  Kopfbewegungen; 

e)  Verteilung  von  Licht  und  Schatten; 

f)  Luftperspektive. 


Kehren  wir  nach  diesen  theoretischen  Darlegungen  zur  Hauptaufgabe  zurück, 
die  ja  forderte,  den  Einfluß  des  Tiefensehens  beim  Zeichnen  und  andererseits 
die  Entwicklung  des  Tiefensehens  beim  Kinde  zu  untersuchen. 

Da  sich  die  Tiefenwahrnehmung  als  ein  überaus  vielgestaltiges,  wechselndes 
€^ebilde  aus  ganz  verschiedenartigen  psychischen  Elementen  erwiesen  hat, 
l  so  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  eine  gesonderte  Untersuchung  den  einzelnen 
;  Faktoren  zuteil  werden  muß.   Und  bei  der  Gesamtuntersuchung  sowohl,  als  auch 


100  Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabung. 

bei  Untersuchung  der  einzelnen  Faktoren  werden  drei  Hauptpunkte  zu  berück- 
sichtigen sein: 

1.  ist  die  Entwicklung  der  Tiefenschätzung  beim  Kinde  zu  beobachten; 

2.  welche  Mittel  der  Tiefendarstellung  vom  Kinde  angewandt  werden ; 

3.  in  welchem  Grade  beim  Bildbetrachten  das  auf  die  zweidimensionale 
Fläche  projizierte  Bild  sich  beim  Kinde   in  Tiefenvorstellungen  umsetzt. 

Daß  in  diesen  drei  Fällen  durchaus  verschiedenartige  psychische  Leistungen 
vorliegen,  ergibt  sich  ja  schon  bei  rein  theoretischer  Analyse.  Daraus  ergibt 
sich  wieder  die  Notwendigkeit  gesonderter  Untersuchung  und  zugleich  die  An- 
wendung gesonderter  Methoden. 

So  erweist  sich  das  Teilgebiet  „Tiefensehen"  innerhalb  des  Gesamtgebietes 
„Zeichnen"  und  „zeichnerische  Begabung"  als  ein  außerordentlich  komplexes 
Grebilde.  Und  es  zeigt  sich  wieder  an  diesem  Beispiel,  welchen  schier  endlosen 
Weg  eine  pädagogische  Psychologie  und  experimentelle  Pädagogik  noch  vor  sich 
hat!  Ehe  wir  daran  denken  können,  erzieherische  und  unterrichtliche  Maß- 
nahmen aus  diesen  Untersuchungen  abzuleiten,  wird  eine  tiefgehende  rein  theo- 
retisch-psychologische Analyse  notwendig  sein.  Aber  der  Weg  muß  gegangen 
werden.  Ehe  nicht  diese  Untersuchungen  tiefgehend  und  doch  umfassend  genug 
durchgeführt  sind,  wird  ein  Abstand  zwischen  experimenteller  Psychologie 
und  pädagogischer  Praxis  nicht  beseitigt  werden.  Dann  aber  ist  eine  starke 
Klärung  aller  pädagogischen  Ideen  und  eine  wahrhafte  naturgemäße  Methode, 
nach  der  Jahrhunderte  hindurch  gesucht  wurde,  zu  erhoffen. 

Um  in  der  theoretischen  Zergliederung  fortzufahren,  wenden  wir  uns  zum  ersten 
der  drei  Teilgebiete  zurück : 

1.  Tiefenwahrnehmung  des  Kindes. 

Die  Untersuchung  dieses  Komplexes  wird  eine  ganze  Reihe  von  Einzelfragen 
zu  beantworten  haben.  Zunächst  muß  festgestellt  werden,  welche  von  den  Fak- 
toren, primären  sowohl  wie  sekundären,  beim  Kinde  in  Aktion  treten.  Das  ist 
systematisch  noch  nicht  untersucht  worden.  Dann  müßte  der  Grad  der  Sicherheit 
der  einzelnen  Faktoren  festgestellt  werden.  Bei  den  primären  Faktoren  muß 
der  Grad  der  Feinheit  bestimmt  und  mit  dem  bei  Erwachsenen  verglichen  wer- 
den, was  mit  der  Aufgabe:  Feststellung  der  Tiefensehschärfe  zusammenfällt. 
Wichtig  wäre  die  Kenntnis  des  Zeitpunktes,  bei  dem  in  der  kindlichen  Ent- 
wicklung die  einzelnen  Faktoren  wirksam  werden.  Besonders  interessant  ist, 
wie  später  an  einem  Beispiel  gezeigt  werden  soll,  die  Untersuchung  über  das 
gegenseitige  Verhältnis  der  Faktoren  untereinander;  vornehmlich  wenn  ein 
sekundärer  Faktor  gegen  einen  primären  wirkt.  Aber  für  diese  Untersuchung 
müssen  erst  Methoden  gefunden  werden,  da  sie  noch  gar  nicht  an  Erwachsenen 
vorgenommen  worden  sind.  In  der  II.  Auflage  von  „Hehnholtz,  Physiologische 
Optik"  (3.  Band,  S.326)  erörtert  von  Kries  diese  Frage,  aber  nur  theoretisch: 

„ eine  Frage  kurz  berühren,  die  eines  gewissen  theoretischen 

Interesses  nicht  ermangelt  und  auch  nicht  ohne  praktische  Bedeutung  ist.  Wenn 
unsere  Entfernungseindrücke,  ganz  allgemein  gesprochen,  teils  durch  die  Ver- 
hältnisse des  binokularen  Sehens,  teils  aber  durch  empirische  Momente  mannig- 
faltiger Art  bestimmt  werden,  so  kann  erwogen  werden,  welcher  Art  denn  des 


Beiträge  zur  Analyse  d6r  zeichnerischen  Bögabung.  101 

genaueren  dieses  Zusammenwirken  ist  imd  wie  weit  es  geht,  und  wir  kommen  damit 
auf  Fragen,  deren  Beantwortung^zum  Teil  wenigstens  keineswegs  selbstverständ- 
lich ist.  Als  ganz  sicher  kann  zunächst  nur  gelten,  daß  die  empirischen  Momente 
da  ins  Spiel  kommen,  wo  die  binokularen  Verhältnisse  ganz  ausscheiden;  so 
beim  einäugigen  Sehen,  ebenso  mit  Bezug  auf  sehr  entfernte  Gegenstände, 
deren  Parallaxe  nicht  merklich  von  Null  verschieden  ist.  Beim  Betrachten 
naher  Gegenstände  werden  sie  sicher  insofern  in  Betracht  kommen,  daß  sie  (es 
sei  nur  an  den  Verlauf  der  Umrisse  erinnert)  das  richtige  Verständnis  verwickelter 
Gegenstände  erleichtern  und  somit  zu  den  Bedingungen  gehören,  von  denen 
die  binokularen  Tiefenwahrnehmungen  abhängen.  Man  kann  nun  aber  fragen, 
ob  und  wie  weit  die  binokularen  Tiefen  Wahrnehmungen  in  quantitativer 
Beziehung  durch  empirische  Momente  mitbestimmt  und  eventuell  modifiziert 
werden  können".  Über  einen  Versuch,  eine  Methode  für  solche  quantitativen 
Messungen  über  das  Verhältnis  der  Sehgröße  zu  den  primären  Faktoren  aufzu- 
stellen, wird  der  letzte  Teil  dieser  Arbeit  berichten. 

Zunächst  sind  aber  einige  prinzipielle  theoretische  Erörterungen  notwendig. 
Wenn  diese  Experimente  mit  Kindern  vorgenommen  werden  sollen,  wird  es 
durchaus  notwendig  sein,  sie  zunächst  an  Erwachsenen  anzustellen.  Erstlich, 
um  einen  Vergleich  zwischen  den  Leistungen  der  Raumauffassung  von  Kindern 
und  Erwachsenen  zu  haben.  Dann  aber  auch,  um  etwaige  Fehlerquellen,  Schwie- 
rigkeiten technischer  Art  zu  überwinden.  Überhaupt  werden  derartige  Experi- 
mente mit  Kindern  mit  größter  Vorsicht  auszuführen  sein,  wenn  man  exakte 
Beobachtungen  gewinnen  will.  Die  Hauptschwierigkeit  besteht  darin,  daß  Kinder 
zu  einer  sorgfältigen,  kritischen  Selbstbeobachtung  nicht  fähig  sind.  Das  wird 
bei  Ausarbeitung  der  Methoden  zu  berücksichtigen  sein.  Die  Versuchsanordnung 
und  Aufgabestellung  müssen  möglichst  so  gestaltet  werden,  daß  die  Ergebnisse 
nicht  gewonnen  werden  aus  den  Aussagen  über  Selbstbeobachtungen  der  Kin- 
der, sondern  aus  Beurteilung  objektiver  Verhältnisse. 

Solche  Versuche  über  das  Zusammen-  und  Gegeneinanderwirken  der  einzelnen 
Tiefenwahrnehmimgsfaktoren  sind  notwendige  Voruntersuchungen  zu  einer 
Analyse  der  Beziehung  zwischen  Raumwahrnehmimg  imd  Zeichnen.  Aber  ihre 
Ergebnisse  dürften  auch  noch  in  zweifacher  Hinsicht  zu  verwenden  sein.  Sollten 
sich  dabei  bedeutende  individuelle  Unterschiede  ergeben  (besonders  im  Falle 
des  G^geneinanderwirkens  von  primären  und  sekundären  Faktoren  scheint  das 
der  Fall  zu  sein),  so  würde  auch  die  differentielle  Psychologie  ein  Interesse  an 
ihrer  Feststellung  haben.  Und  zum  andern:  gelingt  es,  durch  umfangreiche 
und  möglichst  exakte  Beobachtung  die  Entwicklung  der  einzelnen  Faktoren 
beim  Kinde  auch  nur  in  einer  Teilstrecke  des  ganzen  Entwicklungsweges  fest- 
zustellen, so  wäre  zu  erhoffen,  daß  damit  einiges  Licht  auf  das  dunkle  Grebiet 
des  Ursprunges  der  visuellen  Raumwahmehmung  geworfen  würde.  Wenn 
dieses  Ziel  auch  das  fernste  und  am  schwersten  zu  erreichende  ist,  so 
müßte  es  doch  fest  im  Auge  behalten  werden  gerade  bei  diesen 
Untersuchungen.  Soll  das  geschehen,  so  dürfen  sich  die  Experimente 
nicht  darauf  beschränken,  die  tatsächlichen  Verbindungen  und  gegenseitigen 
Hemmungen  der  Faktoren  festzustellen,  sondern  sie  milssen  auch  untersuchen, 
ob  wirklich  eine  Wahrnehmung  vorliegt  oder  ein  anderes  psychisches  (Gebilde, 
St.  Witasek  schreibt  in  der  „Psychologie  der  Raumwahrnehmung  des  Auges" 


102  Beiträge  zur   Analyse  der  zeichnerischen  Begabung. 

S.  356  über  diese  Frage:  „ noch  kaum  als  ein  Proble  merkannt  ist 

die  Frage  nach  der  psychologischen  Natur  und  nach  dem  Aufbau  des  psychischen 
Gebildes,  vermittelst  welchen  wir  in  den  in  Rede  stehenden  Fällen  die  jeweilige 
Tiefe  zu  erfassen  (vorzustellen,  zu  denken)  pflegen;  eine  Aufgabe  der  psycho- 
logischen Analyse.  Es  ist  ein  uraltes  Erbstück  der  Psychologie,  die  Lehre  von 
den  Erfahrungsmotiven  in  der  Tiefenwahrnehmung.  Gleichwohl  ist  diese  Frage 
bis  jetzt  noch  nicht  bearbeitet." 

2.   Mittel  der  Tiefendarstellung  beim  Zeichnen. 

Dieses  Gebiet  ist  teilweise  schon  untersucht  worden,  vor  allem  in  den  Be- 
obachtungen über  Kinderzeichnungen.  Man  findet  es  in  den  betreffenden  Schriften 
unter  dem  Sammelnamen  ,, Perspektive".  Aber  eine  Analyse  im  Sinne  der 
Raumpsychologie  ist  noch  kaum  vorgenommen  worden.  Es  wird  besser  sein, 
für  den  Begriff  „Perspektive"  in  diesen  Untersuchungen  den  Begriff  „Tiefen- 
darsteJlung  beim  Zeichnen"  zu  setzen.  Er  ist  umfassender  und  psychologisch 
klarer.  Um  auch  hier  systematisch  analysierend  vorzugehen,  ist  zunächst  fest- 
zustellen, welche  der  oftgenannten  Faktoren  beim  zeichnerischen  Darstellen 
überhaupt  in  Frage  kommen.  Es  ist  klar,  daß  binokulare  Parallaxe,  Konvergenz 
und  Akkommodation,  auch  monokulare  Parallaxe  durch  zeichnerische  Darstellung 
nicht  zu  erreichen  sind.  Dagegen  bilden  alle  anderen  Faktoren:  Sehgröße, 
Überschneidung,  perspektivische  Richtung  imd  Verkürzung,  Licht  und  Schatten, 
Luftperspektive  die  Mittel  der  Tiefendarstellung.  Erreichbar  im  Bilde  sind 
also  nicht  die  primären  Faktoren  und  die  monokulare  Parallaxe  (wobei  inter- 
essant ist,  daß  manche  Psychologen  beim  Studium  der  Bewegungsvorstellungen 
dazu  gekommen  sind,  die  monokulare  Parallaxe  zu  den  primären  Faktoren 
zu  zählen).  Mittel  der  Tiefendarstellung  sind  die  sekundären  Faktoren.  Daraus 
zu  folgern,  daß  die  primären  Faktoren  in  dem  psychischen  Erlebnis,  das  beim 
Zeichnen  gegeben  ist,  keine  Rolle  spielen,  wäre  sehr  voreilig.  Es  zeigt  sich  hier, 
wie  notwendig  es  ist,  den  Vorgang  der  Raumauffassung  von  dem  der  Raumdar- 
stellung bei  der  psychischen  Leistung  des  Zeichnens  zu  trennen.  Diese  Gesichts- 
punkte geben  einen  freien  Ausblick  auf  ein  weites  Gebiet  von  Fragen,  die  hier 
nur  angedeutet  werden  können.  Welcher  Art  ist  der  psychische  Vorgang, 
der  zwischen  Tiefen  Wahrnehmung  und  Tiefendarstellung  stattfindet?  Welche 
Faktoren  werden  vorzugsweise  benutzt  ?  Zeigen  sich  in  der  Auswahl  und  Bevor- 
zugung individuelle  Unterschiede  bei  den  einzelnen  Künstlern?  Bei  einzelnen 
Schulen  der  Malerei  ?  In  einzelnen  Epochen  ?  Wie  entwickelte  sich  die  Fähigkeit 
der  Tiefendarstellung  in  der  Geschichte  der  Malerei  ?  Welche  Faktoren  traten  zu- 
erst auf?  Welche  Mittel  werden  von  einzelnen  Kunstgattungen  —  Ölmalerei, 
Aquarellmalerei,   Radieren,   Federzeichnen,   Kohle-,  Bleistiftzeichnen  benutzt? 

Kehren  wir  zu  unserer  Hauptaufgabe  zurück!  Eine  flüchtige  Betrachtung 
von  Kinderzeichnungen  lehrt,  daß,  falls  überhaupt  Tiefe  dargestellt  wird,  nicht 
alle  der  genannten  Mittel  angewandt  werden.  Nach  meinen  Beobachtungen 
kommt  Andeutung  von  Luftperspektive  in  Kinderzeichnungen  sehr  selten  vor. 
Findet  man  sie  in  Zeichnungen  von  12 — 14  jährigen  Kindern,  so  zeigt  sich 
immer,  daß  es  bewußte  Nachahmung,  hervorgerufen  durch  Bilderbetrachten, 
ist.  Natürlich  spielt  Nachahmung  überhaupt  in  der  Entwicklung  der  zeichneri- 
schen Tätigkeit  eine  große  Rolle.    Sie  auszuschalten,  wäre  ganz  unmöglich  und 


Beiträge  zur  Analj^se  der  zeichnerischen  Begabung.  103 

vom  pädagogischen  Standpunkte  aus  auch  gar  nicht  erwünscht.  Interessant 
wäre  aber,  im  einzelnen  zu  untersuchen,  welche  Mittel  zuerst,  welche  später 
verwandt  werden.  Wann  treten  sie  beim  normalen  Kinde  auf  ?  Wann  beim  hoch- 
begabten, wann  beim  schwachsinnigen?  Welche  Beziehung  besteht  zwischen 
diesem  Zeitpunkt  und  dem  Grad  der  intellektuellen  Fähigkeit,  der  zeichnerischen 
Begabung?  Geht  Entwicklung  der  Raum  Wahrnehmung  und  der  Raumdar- 
stellung parallel  ?  Oder,  was  zu  erwarten  ist,  wie  stark  bleibt  die  letztere  hinter 
der  ersteren  zurück?  Die  Beantwortung  dieser  Fragen  wäre  gleich  wichtig 
für  die  Kinderpsychologie,  als  auch  für  die  pädagogische  Praxis. 

3.  Tiefen  Vorstellungen  beim  Bildbetrachten. 

Die  Tatsache,  daß  eine  Zeichnung  oder  ein  Gemälde  die  primären  Tiefen- 
schätzungsfaktoren nicht  hervorrufen  kann,  läßt  vermuten,  daß  es  sich  beim 
Bildbetrachten  nicht  um  Tiefenwahrnehmung,  sondern  um  Reproduktion  von 
Tiefenvorstellungen  handelt.  Es  wäre  nun  zu  untersuchen,  ob  beim  Bildbe- 
tracht«n  der  Kinder  reproduzierte  Tiefenvorstellungen  auftreten.  Der  erste 
Teil  der  Untersuchung  müßte  natürlich  festgestellt  haben,  ob  überhaupt  die  dazu 
notwendige  Assoziation  zwischen  der  auslösenden  Vorstellung  und  einer  Tiefen- 
vorstellung vorhanden  ist.  Wie  Meumann  auch  in  seinem  genannten  Aufsatze 
sagt,  lehrt  die  Erfahrung,  daß  Kinder  von  der  im  Bilde  dargestellten  Tiefe  oft 
nicht  die  geringste  Vorstellung  haben.  Durch  planmäßige  Untersuchung  müßte 
festgestellt  werden,  welche  generellen  und  individuellen  Unterschiede  in  dieser 
Hinsicht  bei  den  verschiedenen  Altersstufen  und  bei  einzelnen  Kindern  vor- 
handen sind.  Auch  dabei  müßten  alle  Tiefendarstellungsmittel  gesondert  be- 
trachtet werden. 

Diese  Untersuchung  begegnet  einer  methodischen  Schwierigkeit.  Es  muß 
vermieden  werden,  bei  Befragung  der  Kinder,  suggestiv  auf  sie  zu  wirken.  Das 
wird  mitunter  ziemlich  schwer  sein.  Direkte  Fragen  nach  Entfernung  usw.  wären 
ganz  zu  verwerfen.  Es  gilt,  durch  indirekte  Fragestellung  ein  Urteil  zu  gewinnen, 
ob  das  Kind  in  diesem  Falle  Tiefenvorstellung  hat  oder  nicht.  Durch  Fragen 
nach  dem  Ort,  den  Richtungen,  in  denen  ein  dargestelltes  Tier  laufen,  entfliehen 
kann,  durch  Zeigen  des  Kindes  und  Aufsuchen  auf  dem  Bilde  ließe  sich  die 
Aufgabe  lösen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  kurz  berichtet  über  eine  Versuchsanordnung,  die  der 
Untersuchung  über  das  Verhältnis  zwischen  Sehgröße  und  primären  Faktoren 
dienen  soll.  Es  ist  damit  der  Versuch  gemacht  worden,  einen  Teil  des  in  der  vor- 
liegenden Arbeit  aufgestellten  Programmes  seiner  Verwirklichung  entgegen- 
zuführen. Die  eingehende  Beschreibung  des  Apparates  sowie  der  Bericht  über 
die  gewonnenen  Ergebnisse  werden  in  einer  anderen  Veröffentlichung  gegeben  wer- 
den. Hier  sei  nur  berichtet:  Mit  Hilfe  des  Apparates  werden  alle  übrigen  Faktoren 
der  Tiefenwahrnehmung  ausgeschlossen.  Am  verdunkelten  Gesichtsfelde  er- 
scheinen zwei  leuchtende  Kreise,  von  denen  jeder  von  Versuch  zu  Versuch  seine 
Größe  und  Entfernung  wechselt.  Durch  systematisch  durchgeführte  Versuchs- 
reihen wird  der  Einfluß  der  Größe  auf  das  Tiefenurteil  festgestellt.  Diese  Ver- 
suche werden  auch  an  Kindern  ausgeführt  werden.  Und  so  sollen  die  gestellten 
Fragen  für  dieses  Teilgebiet  Beantwortung  finden.  Zugleich  werden  Untersuchun- 
gen angestellt,  in  welchem  Maße  bei  Kinderzeichnungen  Tiefe  durch  Anwendung 


104  Beiträge  zur  Analyse  der  zeichnerischen  Begabung, 

des  Sehgrößenfaktors  dargestellt  wird.  Durcli  das  Stellen  geeigneter  Aufgaben 
bei  Kindern  aller  Altersstufen  haben  sich  schon  interessante  Ergebnisse  gezeigt. 
Schließlich  wird  untersucht  werden,  inwieweit  beim  Bildbetrachten  durch 
verschiedene  Größe  Tiefenvorstellungen  beim  Kinde  reproduziert  werden. 

Wenn  auf  diese  Weise  gesicherte  Ergebnisse  gewonnen  sind,  die  bei  den 
Kindern  individuelle  Unterschiede  nachweisen,  wird  zu  untersuchen  sein,  ob 
sich  eine  Beziehung  zur  zeichnerischen  Begabung  erkennen  läßt  oder  nicht. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von   Hans  Rupp. 
(Fortsetzung.) 

Ich  gehe  zur  Besprechung  der  Mischapparate  über.  Sie  dienen  nicht  allein 
dazu,  für  verschiedene  Versuche  passende  Farben  herzustellen,  sondern  an 
ihnen  interessiert  auch  das  Mischverfahren  selbst.  Es  handelt  sich  bei  allen 
um  ,, additive"  Mischung;  die  Strahlen  der  einzelnen  Farben  gelangen  unver- 
ändert in  das  Auge.  Die  ,,subtraktive"  Mischung,  wie  sie  bei  den  Malfarben  vor- 
liegt, kommt  also  in  keinem  Apparate  zur  Anwendung. 

Wie  verhalten  sich  die  Mischungsgesetze  zu  den  früher  erwähnten  Gesetzen 
der  Farben,  ihrer  Ähnlichkeit,  Verwandtschaft  usw.  ?  und  welche  Bedeutung 
haben  sie  für  die  Pädagogik  ?  Was  Rot  und  Gelb  bei  der  Mischimg  ergeben,  könnte 
auch  der  beste  Kenner  der  Farben  und  ihrer  Verwandtschaften  nicht  wissen, 
wenn  er  es  nie  versucht  hat,  ebensowenig  wie  er  wissen  kann,  daß  Gelb  imd  Blau 
bei  den  Malfarben  Grün,  bei  Mischung  der  optischen  Strahlen  wie  in  der  farbigen 
Photographie  Grau  ergeben.  Hier  handelt  es  sich  um  physikalische  oder  physiolo- 
gische Wirkungen,  nicht  um  die  psychologische  Verwandtschaft  der  Farben  selbst. 

Aber  es  besteht  doch  in  weiten  Grenzen  eine  Analogie.  Rot  und  Gelb  geben 
Orange,  eine  Farbe,  die  auch  für  unser  Sehen  zwar  nicht  ein  Gemisch  ist,  die 
aber  doch  Rötlichkeit  und  Gelblichkeit  besitzt.  Wenn  der  Maler  also  Orange  her- 
stellen will,  so  braucht  er  sich  nicht  nur  auf  seine  Erfahrung  im  Mischen  zu  stützen, 
es  ist  ein  glücklicher  Zufall,  daß  er  das  Richtige  auch  dann  trifft,  wenn  er  sich  — 
auf  das  Sehen,   auf  die  den  Farben  selbst  anhaftende  Verwandtschaft  stützt. 

Die  Analogie  gilt  freilich  nicht  immer:  Gelb  und  Blau  geben  Grün.  Nun 
besteht  die  Gefahr,  umgekehrt  nach  der  Mischung  die  psychologischen  Ver- 
hältnisse zu  konstruieren  und  das  unbefangene  Sehen  zu  fälschen.  Orange 
soll  für  das  Sehen  Rot  und  Gelb  ,, enthalten";  oder  man  sieht  in  das  Grün  Grelb 
und  Blau  oder  Gelblichkeit  und  Bläulichkeit  hinein.  In  dieser  Hinsicht  sind  unsere 
Mischapparate  mit  den  Gesetzen  der  additiven  Mischung  instruktiv.  Sie  zeigen 
dem  Schüler,  daß  hier  Gelb  und  Blau,  ebenso  daß  alle  Regenbogenfarben  zu- 
sammen Grau  oder  Weiß  ergeben.  Er  wird  nicht  versuchen,  im  Grau  Gelb  und 
Blau  oder  gar  alle  Regenbogenfarben  zu  sehen. 

Aber  noch  in  anderer  Hinsicht  besteht  Gefahr  für  das  natürliche  Sehen.  Wir 
haben  oben  das  Idealsystem,  die  Farbenpyramide,  besprochen.    Dieses  System 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


105 


wird  leicht  durch  das  3-Farbensystem,  das  in  der  Technik  des  Farbendruckes, 
sowie  der  farbigen  Photographie  eine  so  große  Rolle  spielt,  verdrängt.  Durch 
drei  Farben  lassen  sich  alle  anderen  herstellen;  es  liegt  nahe,  diese  drei  Farben 
als  Grundfarben  an  Stelle  unserer  sechs  Urfarben  zu  setzen.  Das  wäre  ein  ver- 
hängnisvolles Mißverständnis.  Die  Grundfarben  des  Dreifarbensystems  sind 
gar  keine  feststehenden  Farben.  Man  kann  unendlich  viele  Kombinationen 
wählen  und  mit  ihnen  jedesmal  alle  andern  Farben  herstellen.  Jede  Farbe 
des  Zirkels  kann  unter  den  Grundfarben  sein.  Von  bestimmten  ausgezeichneten 
Farben  im  Sinne  der  Urfarben  ist  keine  Rede. 

Auch  daß  die  den  drei  Grundprozessen  der  Young-Helmholtz-Theorie  ent- 
sprechenden Farben  nicht  Urfarben  im  psychologischen  Sinne  sind,  ist  heute 
von  den  Vertretern  dieser  Theorie  zugegeben. 

Einfacher  Spiegelfarbenmischapparat  nach  Helmholtz-Rupp  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin).     Er  ist  wohl  der  einfachste  Mischapparat.     Auf  dem 

mit  schwarzem  Tuch  bezogenen  Brett 
erhebt  sich,  um  eine  Achse  drehbar, 
eine  Spiegelglasplatte.  Rechts  und 
links  von  ihr  legt  man  die  zwei  zu  mi- 
schenden Papiere,  z.  B.  Rot  und  Blau 
auf  das  Brett.  Das  Schema  zeigt,  wie 
die  von  beiden  Papieren  ausgehenden 
Strahlen  ins  Auge  gelangen.   Bei  anderer 


rot 


bfau. 


Neigung  des  Glases  ändert  sich  nach  den  Reflexionsgesetzen  die  relative  Stärke 
der  beiden  Strahlen  und  damit  die  Mischfarbe.  So  wird  in  unserem  Falle  bei 
steiler  Lage  Violett  gesehen,  bei  schräger  ein  schwach  bläuliches  Rot.  Auch 
die  an  verschiedenen  Stellen  des  Glases  reflektierten  Strahlen  treffen  unter 
verschiedenen  Winkeln  auf;  daher  ist  die  Mischfläche  in  unserem  Falle  links 
rötlicher,  rechts  bläulicher.  Um  einen  gleichmäßigen  Streifen  herauszugreifen, 
hält  man  zwischen  Auge  und  Apparat  einen  Karton  mit  einem  Spalt;  vgl. 
die  Photographie. 

Der  Apparat  ist  für  Übungen  gedacht.  Man  kann  durch  Neigen  des  Glases 
mit  einem  Griff  alle  Übergänge  von  einer  zu  anderen  Urfarbe  vorführen.  In  der 
bequemen  Handhabung  liegt  sein  Vorzug  gegenüber  den  Elreiseln. 

Man  kann  auch  Mischungen  mit  Weiß,  Grau  und  Schwarz  erzeugen.  Im 
letzteren  Falle  dient  links  der  schwarze  Grund  als  Farbe. 

Auch  kann  man  sich  überzeugen,  daß  Gelb  und  Blau  Grau  ergeben.  Hierbei 
ist  das  Diaphragma  unerläßlich,  denn  es  ist  nur  ein  schmaler  Streifen  der  Misch- 


106 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


fläche  rein  grau ;  auf  der  einen  Seite  ist  ein  gelblicher,  auf  der  anderen  ein  bläu- 
licher Ton,  Ohne  Diaphragma  übersieht  man  den  Grau- Streifen  leicht.  Damit 
man  die  schwachen  Töne  gut  unterscheiden  kann,  ist  das  Diaphragma  selbst 
aus  einem  reinen  mittleren  Grau  zu  wählen. 

Wenn  man  passende  Papiere  hat,  kann  man  die  Urfarben  bestimmen.  Für 
Rot  z.  B.  wählt  man  ein  etwas  zu  bläuliches  oder  etwas  zu  gelbliches  rotes  Papier 
und  setzt  so  viel  Orange  bzw.  Blaurot  hinzu,  bis  das  Gemisch  rein  rot  erscheint. 
Auch  Vergleiche  zwischen  zwei  Farben  lassen  sich  anstellen.  Das  Grundbrett 
hat  in  der  Mitte  einen  Fortsatz.  Legt  man  auf  diesen  ein  Papier,  welches  aber 
nicht  durch  das  Glas,  sondern  direkt  betrachtet  wird,  so  kann  man  diese  Farbe 
mit  der  durch  das  Glas  gesehenen  Mischfarbe  bequem  vergleichen.  So  kann 
man  in  Übungen  die  Aufgabe  stellen,  ein  vorgelegtes  Violett  oder  Karmin  aus 
Rot  und  Blau  zu  mischen.  Wichtiger  ist  folgender  Versuch :  Man  legt  auf  den 
erwähnten  Fortsatz  eine  bunte  Farbe  und  läßt  durch  Mischung  das  gleiche  helle 
Grau  suchen. 

Derselbe  Apparat.  Einfachstes  Modell.  Das  Glas  ist  nicht  an  einer 
Achse  befestigt,  sondern  liegt  lose  in  einer  Rinne,  die  in  das  Grundbrett  ge- 
schnitten ist. 

Derselbe  Apparat,  für  messende  Versuche  eingerichtet.  Es  ist 
eine  Kreisteilung  angesetzt,  an  der  die  Neigung  des  Glases  abzulesen  ist.  Das 
Glas  bleibt  durch  Reibung  des  an  der  Teilung  spielenden  Zeigers  in  jeder  Lage 
stehen.  Ferner  muß  für  messende  Versuche  die  Lage  des  Auges  und  des  Dia- 
phragmaspaltes fixiert  sein.  Das  Auge  legt  sich  an  einen  Ring  und  sieht  durch 
ihn  hindurch;  das  Diaphragma  ist  durch  einen  Rahmen  in  konstanter  Lage 
gehalten. 

Wenn  verschiedene  Autoren  sich  derselben  Papiere  bedienen,  so  lassen  sich 
ihre  Versuche  vergleichen.  Dem  Apparat  ist  die  Hering- Serie,  auf  Glasplatten 
(9X12)  aufgezogen,  beigegeben,  sowie  zwei  Diaphragmen. 

Mischapparat  für  farbige  Gläser  nach  Hering  (Mechaniker  Marx, 
Berlin).  Der  Apparat  hat  gegenüber  dem  vorigen  den  Vorzug,  daß  drei  Farben 
gemischt  werden  können.  Das  Prinzip  ist  wieder  das 
der  Spiegelung.  Der  Beobachter  blickt  von  oben  in  ein 
Kästchen,  in  welches  von  drei  Seiten  her  Licht  reflek- 
tiert wird.  Das  Schema  zeigt,  wie  durch  die  zwei 
schrägen  Glasplatten  alle  drei  Strahlenbündel  ins  Auge 
gelangen.  Das  Licht  kommt  von  matten  Milchglas- 
platten her,  die  mehr  oder  weniger  Licht  reflektieren, 
je  nachdem  sie  dem  Lichte  zu-  oder  abgekehrt  werden. 
In  jedes  Fenster  /,  /j,  f^  des  Kästchens  kann  farbiges 
oder  weißes  Glas  eingeschoben  werden.  Man  kann  daher 
drei  beliebige  Farben  mischen.  Ebenso  kann  man  auch 
■     ^/  bloß  zwei  Farben  benutzen,  indem  das  dritte  Fenster 

durch  eine  Türe  geschlossen  wird. 
Wegen   der  einfachen   Handhabung  ist   auch  dieser  Apparat  für  Übungen 
sehr  geeignet.     Durch  Drehen  der  zuspiegelnden  Milchglasscheiben  kann  man 
sehr  schnell  Übergänge  von  einer  Farbe  zur  anderen  herstellen. 

Sehr  gut  lassen  sich  Urfarben  einstellen.   Man  setzt  unten  z.  B.  ein  rotes  Glas 


'lll 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


107 


ein,  rechts  und  links  ein  gelbes  und  blaues.    Durch  Drehen  der  seitlichen  Milch- 
glasscheiben kann  man  leicht  di^  reine  Rotnuance  herausfinden. 

Mit  einem  roten,  grünen  und  violetten  Glas  kann  man  versuchen,  alle  Farben 
des  Farbenzirkels  herzustellen.  Man  merkt  dabei,  daß  nicht  alle  Farben  ge- 
sättigt herauskommen,  ein  Bedenken,  das  gegen  jedes  additive  Drei-Farben- 
System  zu  erheben  ist. 

Alle  Versuche  können  messend  ausgeführt  werden,  da  die  Stellung  der  Milch- 
glasscheiben an  einer  Kreisteilung  abzulesen  ist. 

Dem  Apparate  sind  mehrere  sorgfältig  ausgesuchte  Gläser  beigegeben. 

Nuancierungsapparate  nach  Hering  (Mechaniker  Rothe,  Leipzig).  Das 
Prinzip  ist  folgendes :  Ein  Papier  wird  auf  eine  um  eine  horizontale  Achse  dreh- 
bare Platte  gelegt.  Kehrt  man  die  Platte  dem  Lichte  zu,  so  reflektiert  sie  viel 
Licht,  kehrt  man  sie  ab,  so  reflektiert  sie  wenig.  Auf  diese  Weise  kann  man 
vor  allem  mit  einem  Griff  eine  Grau- Serie  herstellen,  in  der 
keine  Sprünge  und  keine  plötzlichen  Tonänderungen  vorkommen. 

Der  Apparat  besteht  aus  einem  Kasten ;  unten  sind  zwei  dreh- 
bare Platten  eingesetzt,  deren  Neigung  außen  abzulesen  ist.  Oben 
legt  man  auf  den  Kasten  einen  Schirm  mit  zwei  Löchern.  Be- 
trachtet man  diesen  Schirm  aus  20 — 30  cm  Entfernung  monokular, 
so   sind  die  Löcher  gleichmäßig  von   den  Farben   der  beiden  Platten  erfüllt. 

Es  kommen  hauptsächlich  folgende  zwei  Versuche  in  Betracht:  Bestimmung 
der  Unterschiedsempfindlichkeit  namentlich  für  Grau :  auf  beide  Platten  werden 
die  gleichen  Farben  gelegt;  man  neigt  eine  Platte  so  viel,  bis  die  Verschieden- 
heit eben  gemerkt  wird.  Dann  Helligkeitsvergleichung :  auf  die  eine  horizontal  ge- 
stellte Platte  wird  eine  bunte  Farbe  gelegt,  auf  die  andere  ein  Grau ;  das  Grau  wird 
so  lange  aufgehellt  oder  verdunkelt,  bis  es  gleich  hell  erscheint  wie  die  Farbe. 

Auf  Benutzung  des  Apparates  für  Gedächtnisfarben  und  scheinbare  Größe 
komme  ich  später  zu  sprechen. 

Nuancicrungsapparat  (Modell  III)  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Drei  Platten  nebeneinander,  durch  Schnüre  zu  drehen.  Über  den  Platten  können 
in  horizontaler  Lage  drei  weitere  Papiere  aufgelegt 
werden,  so  daß  man  von  oben  durch  das  Diaphragma 
im  ganzen  sechs  Farben  sieht,  in  folgender  Anordnung : 
Die  drei  unteren  Löcher  werden  von  den 
drei  horizontal  liegenden  Papieren,  die  drei 


^ 

TL 

oberen  Löcher  durch  die  drei  drehbaren  Platten 
ausgefüllt.  Ein  Stimhalter  hat  sich  bei  Übungen 
als  nötig  erwiesen,  da  der  Kopf  gewöhnlich  zu 
nahe  an  das  Diaphragma  gehalten  wird. 

Neben  den  beim  vorigen  Modell  besprochenen 
Versuchen  lassen  sich  nun  noch  andere  Versuche 
anführen:  Zu  zwei  Grau  läßt  sich  ein  drittes 
so  einstellen,  daß  es  subjektiv  in  der  Mitte  liegt. 
Wichtiger  ist  folgendes:  Man  kann  nicht  bloß  zu 
einer  Farbe,  sondern  zu  einer  Kombination  von  zwei  oder  drei  Farben 
die  entsprechenden  Grau  suchen.  Die  Farben  füllen  die  unteren  Löcher  aus, 
die  Grau  werden  durch  die  drei  Platten  eingestellt  und    füllen    die  darüber- 


108 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


liegenden  Löcher  aus.  Ebenso  kann  man  statt  der  zwei  oder  drei  Farben 
verschiedene  Kombinationen  von  drei  grauen  Platten  einlegen  und  mittelst 
der  variablen  Grau  eine  Abbildung  in  größerer  oder  geringerer  Helligkeit,  in 
größeren  oder  geringeren  Kontrasten  herstellen. 

Alle  diese  Fragen  lassen  sich  sehr  bequem  auch  an  Kindern  untersuchen,  viel 
leichter  als  mit  den  umständlichen  Kreiseln.  Natürlich  kann  man  auch  größere 
Kästen  bauen,  mit  mehr  als  drei  Platten  nebeneinander;  auch  können  die  bis 
jetzt  nicht  variabeln  Papiere  der  unteren  Lochreihe  auf  drehbare  Platten 
gelegt  werden.  Mit  der  neuen  Konstruktion  fällt  die  Beschränkung  der  Zahl, 
die  vorher  da  war,  hinweg, 

Kreisel  nach  Hering-Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Die  bisher  er- 
wähnten Mischapparate  scheinen  trotz  ihrer  Vorzüge  in  pädagogischen  Kreisen 

wenig  bekannt  zu  sein.  Allgemein 
bekannt  ist  dagegen  der  Kreisel. 
Es  ist  daher  nicht  nötig,  sein  Prin- 
zip zu  erläutern. 

Dieses  Modell  ist  für  den  Hand- 
betrieb eingerichtet  und  trägt  ein, 
zwei  oder  drei  Achsen.    Zur  Über- 
setzung   dienen    drei    Räder;    die 
Drehkurbel  kann    an   jedes    dieser 
Räder    angesetzt  werden,    so    daß 
man  bei  bequemer  Drehung  einer- 
seits die  volle  Geschwindigkeit  von  50 — 80  Rotationen  pro  Sekunde  für  Farben- 
mischung,   andererseits    auch    geringere    Geschwindigkeiten    für    Bewegungs- 
nachbilder usw.  erzielen  kann. 

Elektrischer  Kreisel  (Modell  Mechaniker  Spindler  u.  Hoyer,  Göttingen). 
Die  Kreiselachse  ist  zugleich  Achse  des  Motors. 

Scheibenschlitzer  nach  Hering  (Mechaniker 
Marx,  Berlin).  Ein  unentbehrliches  Instrumentchen, 
um  in  die  ungeschlitzten  Scheiben  bequem  imd 
exakt  einen  radialen  Schnitt  zu  machen. 
Scheibenschneider,  Lochstanze. 
Scheibenserie  nach  Hering  (Mechaniker  Marx, 
Berlin).  Zwölf  ziemlich  satte  Farben,  angenähert 
die  Urfarben  enthaltend  (nur  ein  gutes  Grün  ist  im 
Papier  schwer  zu  erhalten);  femer  Barytweiß, 
Mattschwarz  und  Tuchschwarz.  Große  und  kleine 
Scheiben,  so  daß  man  auf  einer  Achse  zwei  Ver- 
gleichsfarben herstellen  kann. 

Mit  diesen  Scheiben  lassen  sich  die  additiven 
Mischgesetze  erläutern.  Gelb  mid  Blau  sind  gut 
komplementär.  Sehr  instruktiv  und  für  Übungen 
dankbar  ist  folgender  Versuch:  Man  legt  eine 
Farbe  vor  und  stellt  die  Aufgabe,  sie  aus  den 
Scheiben  der  sechs  Urfarben  herzustellen;  der  Beobachter  soll  sich  dabei 
durch  die  Verwandtschaft  leiten  lassen.    Die  vorgegebene  Farbe  darf  aber  nicht 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  109 


zu  gesättigt  sein ;  denn  die  Scheiben  sind  selbst  nicht  ganz  gesättigt,  auch  nicht 
reine  Urfarben.  Es  geht  also  ähnlich  wie  beim  Drei-Farben- System,  durch 
welches  nie  alle  Töne  rein  zu  erhalten  sind. 

Auch  Einstellungen  der  Urfarben  kann  man,  soweit  die  Papiere  ausreichen, 
vornehmen.  Sehr  gut  und  exakt  lassen  sich  dagegen  alle  Versuche  mit  der  Grau- 
skala ausführen. 

Für  einige  Versuche  sind  besondere  Scheiben  nötig;  ich  führe  sie  im  fol- 
genden an: 

Scheiben  für  Unterschiedsempfindlichkeit  nach  Donders-Rupp  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin).  Barytweiß- Scheibe  mit  sieben  Spalten  (in  der  Figur 
sind  der  Deutlichkeit  halber  nur  vier  gezeichnet),  in  radialer  An- 
ordnung, alle  gleich  breit,  so  daß  die  Gradzahl  gegen  die  Mitte  pro- 
portional zunimmt.  Mehrere  Scheiben  mit  verschieden  breiten 
Spalten:  der  äußerste  Spalt  1,  I14,  2,  3,  40.  Unter  diese  Spalt- 
scheibe wird  eine  schwarze  oder  eine  bunte  Scheibe  gelegt.  Bei  der 
Rotation  entstehen  Ringe,  die  äußeren  unmerkbar  schwach,  die  inneren 
von  immer  intensiverem  Lichte.  Die  Frage  ist:  wie  viel  Ringe,  von  innen  gezählt, 
sieht  man?  Also  eine  sehr  einfache,  auch  dem  Kinde  verständliche  Aufgabe. 
Ein  Beobachter  mit  feiner  Unterschiedsempfindlichkeit  wird  auch  noch  die 
schwächeren  Ringe,  somit  mehr  Ringe  sehen.  Man  kann  nicht  nur  die  Schwelle  für 
Schwarzzusatz,  sondern  auch  für  Farben  bestimmen.  Dabei  werden  die  Ringe 
nicht  gleich  in  der  Farbe  erkannt;  man  kann  also  zwei  Schwellen  suchen,  die 
generelle,  wobei  die  Ringe  nur  zu  sehen  sind,  und  die  spezifische,  wo  auch  ihre 
Farbe  richtig  anzugeben  ist.  (Diese  Schwelle  bezieht  sich  auf  Helladaptation 
und  weißen  Grund.) 

Scheiben  zur  Demonstration  des  Weber- Gesetzes  (Mechaniker  Marx, 
Berlin).  Eine  weiße  und  eine  schwarze  Scheibe  sind  ineinander  gesteckt;  die 
schwarze  hat  einen  kleinen,  1°,  2°  oder  3°  breiten  Einschnitt,  wie 
die  Figur  zeigt.  Bei  der  Rotation  entsteht  an  dieser  Stelle  ein 
hellerer  Ring,  da  zur  Helligkeit  der  übrigen  Scheibe  der  kleine 
Weiß-Sektor  hinzukommt.  Dieser  Zusatz  bleibt  derselbe,  ob  man 
den  großen  Weiß- Sektor  größer  oder  kleiner,  die  ganze  Scheibe  also 
heller  oder  dunkler  macht.  Allein  bei  dunklerer  Scheibe  ist  er 
merkbar;  man  sieht  den  Ring;  bei  hellerer  Scheibe  schwindet  er  allmählich, 
Dieselbe  Erscheinung  trägt  dazu  bei,  daß  am  Morgen  das  immer  gleichbleibende 
Licht  der  Sterne  anfangs  sichtbar  ist,  um  allmählich  bei  zunehmender  Gesamt-, 
beleuchtung  zu  schwinden. 

Drei  weitere  Scheiben  besitzen,  ähnlich  wie  die  vorige  Scheibe,  mehrere 
radial  angeordnete  Einschnitte,  die  gleich  bereit  sind,  deren  Gradzahl  also 
gegen  die  Mitte  proportional  zunimmt.  Man  sieht  dann,  wenn  man  den 
Grund  wieder  allmählich  aufhellt,  wie  erst  die  äußeren  dunkleren,  dann  die 
inneren,  helleren  Ringe  (Sterne)  schwinden. 

Zwei  Scheiben  mit  arithmetischen  und  geometrischen  Grau-» 
stufen  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Die  Scheibe  hat  sechs  aneinander- 
stoßende Ringe,  die  sich  aus  einem  weißen  und  einem  schwarzen  Sektor  zu- 
sammensetzen. Die  Sektoren  sind  so  abgestuft,  daß  die  Lichtmengen  der  Ringe 
bei  der  einen   Scheibe  arithmetisch,  bei  der  anderen  geometrisch  zunehmen, 


110  Probleme  vind  Apparate  zur  experimentellen  I-adagogik. 

Die  geringe  Lichtmenge  der  schwarzen  Sektoren  ist  dabei  in  Rechnung  gezogen. 
Der  äußerste  Ring  ist  in  beiden  Scheiben  weiß,  der  innerste  schwarz. 

Scheibe  zur  Eichung  eines  Grau  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Als  Licht- 
einheit pflegt  man  bei  Kreisel  nicht  Kerzenstärken  zu  nehmen,  da  die  Beleuchtung 
wechselt,  sondern  das  Barytweiß-Papier,  welches  ein  sehr  reines  und  ziemlich 
konstantes  Weiß  zeigt.  Als  ideales  Schwarz  kann  das  Loch  einer  längeren,  mit 
Samt  ausgekleideten  Röhre  (Dunkeltonne)  angesehen  werden.  Mit  diesen  Nor- 
malfarben kann  man  andere  Grau  in  folgender  Weiße  eichen: 

Vor  der  Tonne  wird  der  Kreisel  so  aufgestellt,  daß  die  obere  Hälfte  der  Scheiben 
das  Loch  deckt.     Auf  den  Kreisel  wird  folgende  Kombination  von  Scheiben 

gesteckt:  Vorn  eine  Scheibe  der  Form  A,  mittleres 
Grau.  Dahinter  die  zu  eichende  Scheibe  B,  in 
der  Größe  der  kleinen  Kreiselscheiben;  sie  füllt 
die  innere  Hälfte  des  Ringspaltes  von  Ä  aus. 
Dahinter  die  Barytscheibe  C.  Figur  D  zeigt,  wie 
die  ganze  Kombination  aussieht.  Der  Ring  ist  in 
der  inneren  Hälfte  vom  zu  eichenden  Papier,  in  der 
äußeren  vom  Baryt  weiß  imd  vom  dahinter  lie- 
genden Idealschwarz  der  Tonne  ausgefüllt.  Man 
variiert  nun  den  Weißsektor  so  lange,  bis  beide  Ringe  gleich  erscheinen. 
Bei  Tuchschwarz  sind  z.  B.  3°  Weiß  nötig.  Bei  360°  wären  also  6°  nötig. 
Die  „Weißvalenz"  des  Tuchschwarz  ist  somit  6°.  Die  übrigen  Grau  kann 
man  dann  mit  dem  Tuchschwarz  in  gewöhnlicher  Weise,  ohne  Tonne,  eichen, 
wenn  man  die  Weißvalenz  des  Schwarz  in  Rechnung  zieht. 
Dunkeltonne  nach  Hering  (Mechaniker  Marx,  Berlin),  1  m  lang. 


Neben  dem  Problem  der  Farbenerkennung  ist  wohl  das  Problem  der  Ge- 
dächtnisfarben von  der  Psychologie  am  besten  bearbeitet,  namentlich  durch 
die  Forschungen  von  Katz.  Es  bietet  auch  für  die  Pädagogik  wertvolle  An- 
griffspunkte. 

Die  naive  Auffassung  des  täglichen  Lebens  schreibt  jedem  Gegenstande  eine 
bestimmte  „Eigen"farbe  zu,  die  er  besitzt,  gleichgültig,  ob  er  gut  oder  schlecht 
beleuchtet,  ob  die  Beleuchtung  farblos  (wie  gewöhnlich)  oder  eine  farbige  ist. 
Diese  Eigenfarbe  macht  die  Wandlungen,  die  das  Aussehen,  der  Eindruck  infolge 
verschiedener  Beleuchtung  erfährt,  nicht  mit.^)  Die  Eigenfarbe  kann  wohl  auch 
wechseln :  das  Laub  wird  gelb,  der  Schnee  schmutzig.  Auch  hier  wird  das  Aus- 
sehen, der  Eindruck  ein  anderer.  Allein  dieser  Wechsel  unterliegt  anderen  Ge- 
setzen, ist  von  der  Beleuchtung  ganz  unabhängig,  und  er  wird  auch  streng  von 
einer  Änderung  durch  andere  Beleuchtung  gesondert. 

Die  wirkliche  Farbe  bleibt  dieselbe,  wenn  die  Beleuchtung  sich  ändert.  Das 
geht  so  weit,  daß  auch  der  sinnfällige  Eindruck,  das  Aussehen  beeinflußt 
wird.  Eine  weiße  Wand  hinten  im  schlecht  beleuchteten  Teil  des  Zimmers  strahlt 
sehr  wenig  Licht  aus;  nicht  mehr  als  ein  schwarzes  Papier  vorne  in  der  Nähe 
des  Fensters.  Wir  sehen  sie  aber  keineswegs  schwarz,  sondern  ziemlich  weiß. 


^)  Auch  vermögen  Dunkeladaptation,  Kontrast  usw.  die  Eigenfarbe  nicht  zu  ändern. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  111 

wenn  auch  nicht  ganz  so  weiß  wie  die  weiße  Wand  vorne;  sie  ist  etwas  gegen 
Grau  hin  verändert.  Freilich  ist  das  Weiß  hinten  „dunkler",  weniger  „ausge- 
prägt"; aber  es  ist  doch  keine  Rede  von  Schwarz;  die  Farbe,  die,,  Qualität"  Weiß 
bleibt  ganz  oder  angenähert  erhalten.  Der  Eindruck  entspricht  also  nicht  dem 
Reiz,  sondern  er  wird  korrigiert;  die  schlechte  Beleuchtung  wird  auf  diese  Weise 
ausgeglichen,  kompensiert.  Und  diese  Korrektur  ist  —  darauf  muß  besonders 
geachtet  werden  —  sinnfällig,  nicht  etwa  ein  bloßes  Wissen,  so  wie  ich  mir 
bewußt  bin,  daß  ein  von  einem  Tuch  verhüllter  Körper  z.  B.  weiß  ist,  während 
ich  jetzt  doch  nur  das  schwarze  Tuch  sehe. 

Die  Versuche  sind  ebenso  einfach,  wie  sinnfällig;  auch  mit  Kindern  sind  sie 
auszuführen.  Wir  können  die  Grau- Serie,  den  Nuancierungsapparat  oder  den 
Kreisel  benützen.    Für  sehr  genaue  Versuche  ist  der  Kreisel  unentbehrlich. 

Gedächtnisfarben  versuche  mit  der  Grau- Serie.  Wir  suchen  am 
besten  eine  ungefähr  gleichmäßig  abgestufte  Serie  von  15 — 20  Grau  heraus. 
Einmal  stellen  wir  sie  in  normale  Beleuchtung,  einmal  in  ungünstige  Beleuch- 
timg.   Dabei  sind  verschiedene  Fälle  zu  trennen: 

a)  Einmal  nahe  dem  Fenster  (oder  einer  sonstigen  Lichtquelle),  das  andere 
Mal  entfernt  von  demselben. 

b)  In  gleicher  Entfernung  vom  Fenster;  einmal  dem  Licht  voll  zugekehrt, 
das  andere  Mal  mehr  oder  weniger  abgewendet,  z.  B.  wie  beim  Nuancierungs- 
apparat. 

c)  In  gleicher  Entfernung  vom  Fenster,  einmal  normal  beleuchtet,  einmal 
beschattet. 

d)  In  gleicher  Entfernung  vom  Fenster,  einmal  normal  betrachtet,  einmal 
durch  ein  Rauchglas  oder  durch  ein  Episkotister  gesehen.  Dabei  ist  zu  beachten, 
ob  das  Rauchglas  oder  das  Episkotister  selbst  merklich  Licht  reflektieren.  Ferner 
kann  das  Rauchglas  klein  sein,  so  daß  nur  ein  kleiner  Raum  um  das  be- 
trachtete Grau  durch  das  Glas  gesehen  wird,  oder  das  Rauchglas  ist  so  groß 
oder  wird  so  nahe  dem  Auge  gehalten,  daß  der  ganze  Seh  räum  herabgesetzte 
Beleuchtung  erfährt. 

Alle  diese  Fälle  können  verschiedene  Zahlen  werte  geben.  Man  achte  darauf, 
ob  der  Hintergrund  für  beide  Grau  derselbe  ist.  Für  Massenversuche  und 
Demonstrationen  eignen  sich  je  nach  den  Beleuchtungsmöglichkeiten  a),  b) 
und  c),  am  besten  wohl  a)  und  c). 

Man  bestimmt  nun  einerseits  bei  guter,  andererseits  bei  schlechter  Beleuch- 
tung, was  als  weiß,  grau,  schwarz  bezeichnet  wird;  die  meisten  Beobachter 
werden  außerdem  hell-  und  dunkelgrau  scheiden.  Wie  groß  ist  der  Umfang 
dieser  Begriffe?  Gibt  es  ein  bestes  Grau,  Hellgrau,  Dimkelgrau?  Der  Nach- 
druck liegt  hierbei  aber  stets  auf  der  Vergleichung  der  Werte  bei  den  beiden 
Beleuchtungen.  Was  bei  guter  Beleuchtung  noch  weiß  erscheint,  wird  bei  schlech- 
ter vielfach  schon  hellgrau  sein  usf. 

Man  kann  weiter  gehen  und  zu  verschiedenen  in  normaler  Beleuchtung  ge- 
sehenen Farben  die  gleich  weißen,  gleich  grauen,  gleich  schwarzen  Farben  in 
schlechter  Beleuchtung  suchen,  oder  umgekehrt.  Dabei  ist  ausdrücklich  zu 
beachten,  daß  nur  die  Qualität,  die  Weißheit,  Grauheit,  Schwarzheit  gleich 
sein  soll,  daß  man  sich  aber  nicht  durch  verschiedene  ,, Helligkeit",  „Intensität" 
oder  „Ausgeprägtheit*'  der  2  Farben  täuschen  lassen  darf.  Die  Versuche  bringen 


112  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

zugleich  klar  zum  Bewußtsein,  daß  dasselbe  Weiß  verschieden  hell,  ja 
sogar  dunkel  sein  kann.  Das  ist  selbst  für  die  meisten  Erwachsenen  neu  und 
überraschend.  Daher  sollten  solche  Versuche,  wenigstens  Demonstrations- 
versuche, nach  meinem  Dafürhalten  im  Psychologie-  und  Pädagogikunterricht 
nicht  fehlen. 

Um  in  beiden  Versuchen  zu  erfahren,  wie  die  Farbe  ohne  die  Korrektur  aus- 
sehen würde,  hält  man  einen  Schirm  mit  2  Löchern  so  vor  die  Anordnung,  daß 
die  eine  gut  beleuchtete  Farbe  das  eine,  die  andere  schlecht  beleuchtete  das 
andere  Loch  ganz  gleichmäßig  ausfüllt.  Man  sieht  nur  2  Farben,  die  Umgebung, 
auch  der  Rand  der  Papiere  ist  abgeblendet.  So  kann  man  auch  nicht  mehr 
sehen,  daß  die  2  Farben  verschieden  beleuchtet  sind.  Ein  bloßes  Wissen,  daß 
diese  Farbe  schlecht  beleuchtet  ist,  nützt  nichts.  — Der  Wechsel  der  beiden  Be- 
trachtungen, mit  und  ohne  Schirm,  ist  sehr  lehrreich;  plötzlich  und  sinnfällig 
tritt  die  Änderung  ein. 

Die  Berücksichtigung  der  Beleuchtung  ist  verschieden  bei  verschiedenen  Arten 
der  Beleuchtung.  Es  sind  oben  mehrere  Arten  angegeben.  Innerhalb  jeder  Art 
gibt  es  aber  wieder  Abstufungen:  die  Beschattung  z.  B.  kann  stärker  oder 
schwächer  sein.  Bei  messenden  Versuchen  ist  daher  die  Stärke  der  Beschattung 
anzugeben.  Das  geschieht  wieder  mittels  des  Schirmes.  Als  schlecht  beleuchtetes 
Papier  wird  das  normale  Barytweiß  genommen;  man  gibt  an,  welchem  Grau 
auf  der  gut  beleuchteten  Stelle  das  Barytpapier  gleichkommt. 

Gedächtnisfarbenversuche  mit  dem  Nuancierungsapparat.  Man 
legt  auf  die  eine  drehbare  Platte  hellgraues  oder  weißes,  auf  die  andere  schwarzes 
Papier  (oder  besser  mit  diesen  Papieren  bezogene  Glasplatten).  Dann  blickt 
man  durch  einen  Schirm  mit  2  Löchern  und  stellt  die  Platten  so  ein,  daß  sie 
gleich  erscheinen,  indem  man  die  schwarze  Platte  dem  Licht  voll  zukehrt,  die 
weiße  stark  abkehrt.  Beide  erscheinen  schwarz.  Zieht  man  nun  den  Schirm 
weg,  so  erscheint  die  weiße  Scheibe  nicht  mehr  schwarz,  sondern  weiß  oder 
wenigstens  grau. 

Wenn  man  das  Weiß  noch  mehr  vom  Licht  abkehrt,  so  wird  es  dunkelgrau,  viel- 
leicht sogar  schwarz,  gleich  schwarz  wie  die  andere  Platte. 

Gedächtnisfarbenversuche  mit  den  Kreiseln.  Für  die  Anordnungen 
a  und  b  (siehe  oben)  sind  2  getrennte  Kreisel  nötig,  für  c  und  d  genügt  ein  Kreisel 
mit  2  Kreiselachsen.  In  allen  4  Fällen  braucht  nur  eine  Achse  zu  rotieren ;  die 
schlecht  beleuchtete  Scheibe,  die  meist  weiß  genommen  wird,  kann,  wenn  man 
eine  volle,  ungeschlitzte  Scheibe  verwendet,  ruhen.  Sie  braucht  daher  nicht 
unbedingt  auf  einem  Kreisel  befestigt  zu  sein.  Bei  der  Episkotisteranordnung 
darf  sie  nicht  rotieren;  dagegen  ist  für  das  Episkotister  ein  Kreisel  nötig. 

Die  Versuche  lassen  sich  sehr  genau  ausführen.  Insbesondere  kann  man  die 
schwachen  farbigen  Töne,  die  manchmal  auftreten,  durch  Beimischung  ent- 
sprechender Komplementärfarben  vermeiden. 

Mittels  des  Kreisels  läßt  sich  auch  eine  neue  Gruppe  von  Versuchen  ausführen, 
nämlich  solche  bei  farbiger  Beleuchtung  oder  beim  Durchsehen  durch 
farbige  Gläser  (oder  Gelatine).  Ich  beschreibe  den  Fall,  der  in  der  Praxis 
wohl  am  häufigsten  vorkommen  wird.  Die  eine  Scheibe  wird  vom  Tageslicht, 
die  andere  von  Gaslicht,  das  bekanntlich  gelb  ist,  beleuchtet.  Die  vom  Gaslicht 
beleuchtete  Scheibe  wird  wieder  weiß  genommen,  sie  erscheint  aber,  durch  den 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  113 

Schirm  gesehen,  intensiv  gelb;  man  muß  auf  der  andern  Scheibe  einen  großen 
Gelb-Sektor  einschieben,  um  eine  Gleichung  zu  erhalten.  Zieht  man  aber  den 
Schirm  weg,  so  ist  die  gelbbeleuchtete  Scheibe  kaum  mehr  gelblich,  sondern 
vorwiegend  weiß. 

Es  wird  also  auch  die  Farbigkeit  einer  Beleuchtung  in  Rücksicht  gezogen  und 
bis  zu  einem  gewissen  Grade  hinwegkorrigiert. 

Alle  angegebenen  Versuche  ermöglichen  eine  mehr  oder  weniger  genaue  Messung 
der  Korrektur  und  damit  eine  quantitative  Verfolgung  derselben  bei  verschie- 
denen Altersstufen,  bei  verschiedenen  Individuen  usw.  Katz  hat  Stichproben 
angestellt  und  fand  die  Korrektur  bereits  bei  Kindern  bis  zu  3  Jahren  hinab 
voll  entwickelt.   Gilt  das  allgemein  ?    Auch  für  Schwachbegabte  ? 

Die  Korrektur  ist  für  verschiedene  Beleuchtungsarten  und  Beleuchtungs- 
stärken verschieden.  Tritt  sie  bei  allen  Beleuchtungen  und  überall  gleichstark 
auf?  Die  Beleuchtmig  muß  doch,  wenn  auch  nur  instinktiv,  verstanden  sein. 
Vielleicht  versteht  das  Kind  nur  gewisse  Beleuchtungen?  Woran  erkennt  es 
die  Beleuchtung  ?  Wann  wirkt  sie  am  stärksten  (auch  für  Bilddarstellung  wichtig)  ? 

Durch  Übung  tritt  die  Korrektur  zurück.  Wie  sehen  die  Maler,  Ästhe- 
tiker ?  Für  die  Pädagogik  ergibt  sich  nun  das  Problem :  In  welchem  Sinne  soll  der 
Schüler  „sehen"  lernen?  Soll  er  Gedächtnisfarben  sehen?  Oder  soll  er  zum 
natürlichen  Sehen  zurückkehren,  wie  es  dem  physikalischen  Reiz  entspricht  und 
wie  vermutlich  Maler  sehen  (oder  wenigstens  sehen  können)?  Dazu  kommt 
eine  dritte  Möglichkeit.  Die  Gedächtnisfarben  kompensieren  die  schlechte  Be- 
leuchtung, aber  nicht  ganz.  Sie  stehen  zwischen  den  zwei  Wirklichkeiten 
der  physikalischen  und  der  Eigenfarbe.  Sollte  man  vielleicht  eine  vollstän- 
dige Kompensierung,  das  Sehen  der  Eigenfarbe  anstreben?  Wenn  diese  auch 
nicht  im  sinnfälligen  Eindruck  erreichbar  ist,  sollte  man  nicht  wenigstens 
Wert  darauf  legen,  daß  das  Kind  sie  genau  abschätzen  kann? 

Für  den  Maler  und  Schattierer  treten  ebenfalls  Probleme  auf.  Die  Wand 
hinten  im  Zimmer  ist,  physikalisch  betrachtet,  fast  schwarz,  ihre  Eigenfarbe  ist 
weiß,  wir  sehen  sie  aber  hellgrau.  Was  soll  nun  der  Maler  malen?  Die  Photo- 
graphie bildet  natürlich  physikalisch  ab,  sie  macht  die  Wand  schwarz.  Allein 
wenn  die  Wand  in  natura  aufgehellt  wird,  wird  sie  es  auch  auf  dem  Bild. 
Wenn  ja,  so  muß  der  Maler  physikalisch  sehen  lernen  und  entsprechend 
darstellen.  Vielleicht  erleichtert  es  aber  die  Auffassung,  wenn  die  Gedächtnis- 
farbe gemalt  wird,  wenn  das  Bild  dem  auffassenden  Sehen  Arbeit  wegnimmt. 
Oder  soll  die  Axbeit  ganz  weggenommen  und  die  Eigenfarbe  gemalt  werden, 
so  wie  es  das  Kind  tut,  das  die  Kirsche  gleichmäßig  rot  malt,  weil  sie  ,, in  Wirk- 
lichkeit" überall  gleichmäßig  rot  ist,  unbekümmert  um  die  zufälligen  Schatten? 

Die  Fragen  sind  kaum  aufgeworfen,  geschweige  denn  gelöst.  Für  die  Pädagogik 
ist  es  schon  von  Wert,  wenn  die  Probleme  gestellt  sind,  wenn  es  klare  mid  über- 
zeugende Versuche  zur  Demonstration  und  Untersuchung  derselben  gibt. 


Zum  Schluß  seien  noch  einige  Versuche  und  Materialien  über  Glanzfarben 
angegeben. 

Glanzpapier  und  Glanzstoffe.  Papiere  und  Stoffe  von  verschiedenem 
Glanz   (Hochglanz,  Mattglanz,  Seidenglanz)  und  verschiedener  Farbe  (Silber, 

Zeitschrift  f.  pAdagog.  Psychologie.  8 


114  Probleme  tmd  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Gold,  Kupfer,  Schwarz  usw.).  Die  Papiere  sind  auf  Karton  gespannt  und  können 
so  aufgestellt  werden,  daß  sie  eine  schwache  Krümmung  wie  eine  Säule  bilden. 
Man  kann  deutlich  die  verschiedenen  Reflexwirkungen  sehen  und  vergleichen. 

Wesentlich  ist  nun  folgender  Versuch.  Man  blickt  durch  einen  Schirm  mit 
einem  passenden  Loch  so,  daß  das  Loch  gleichmäßig  von  Farbe  ausgefüllt  ist. 
Wenn  man  dabei  auch  die  hellsten  Stellen  heraussucht,  erscheinen  sie  doch 
(vorausgesetzt,  daß  sie  gleichmäßig  sind),  nicht  glänzend,  sondern  bestenfalls 
leuchtend  oder  durchleuchtet.  Bei  schwarzer  Seide  oder  schwarzem  Samt  er- 
geben die  glänzenden  Stellen  ein  ziemlich  dunkles  Grau. 

Man  ersieht  daraus,  daß  das  Spezifische  von  Glanzfarben  nicht  in  dieser  oder 
jeher  Farbe,  nicht  in  den  hellen  ,, glänzenden"  Stellen  allein  liegt,  sondern  in 
der  Zusammensetzung:  Silber,  Gold  z.  B.  sind  keine  neuen  Farben  gegenüber 
denen  der  früher  erwähnten  Pyramide,  sondern  nur  zusammengesetzte 
Farben.  Eine  spezifische,  ganz  bestimmte  Art  der  Zusammensetzung  (die  auch 
von  der  Beleuchtung  abhängig  ist),  gehört  zum  Wesen  dieser  Farben.  Es  ist 
schwierig,  sich  von  der  populären  Auffassung,  daß  Silber  eine  ebenso  einfache 
homogene  Farbe  sei,  wie  z.  B.  Rot,  freizumachen. 

Versuche  mit  dem  Nuancierungsapparat  über  Glanz.  Eine  Glas- 
platte ist  mit  mattem,  sehr  gleichmäßigem  Silberpapier  bezogen.  Man  blickt 
durch  den  Schirm :  bei  keiner  Neigung  erscheint  das  Papier  glänzend,  auch  nicht 
bei  der  Neigung,  wo  es  am  hellsten  ist.  Dagegen  tritt  sofort  der  Eindruck  des 
Glänzens  auf,  wenn  man  das  Papier  bewegt,  so  daß  helle  und  dunkle  Stellen 
schnell  wechseln.  Also  wieder  erweist  sich  Silber  als  zusammengesetzt;  nur 
diesmal  sukzessiv  zusammengesetzt. 

Dabei  ist  ganz  homogenes  Papier  Voraussetzung.  Ist  das  Papier  uneben  oder 
kömig,  so  erkennt  man  auch  bei  ruhiger  Lage  das  Silberartige. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik 

und  Psychologie. 

Von  Gustav  Deuchler. 

I. 

1.  Wenn  man  innerhalb  der  organischen  Wissenschaften  von  Korrelation 
spricht,  so  setzt  man  im  allgemeinen  zwei  relativ  selbständige  Merkmale 
eines  Gebildes  voraus,  die  in  gewisser  gegenseitiger  Abhängigkeit  vonein- 
ander stehen.  Im  Wortsinn  des  Ausdrucks  Korrelation  freilich  liegt  diese 
relative  Selbständigkeit  nicht  begründet;  denn  dieser  deutet  lediglich  auf 
eine  gegenseitige  Beziehung  hin,  und  darum  kann  der  Ausdruck  Korrelation 
auch  in  einem  viel  weiteren  Sinn  gebraucht  werden,  als  dies  gewöhnlich  in 
der  biologischen  und  psychologischen  Wissenschaft  geschieht.  Wenn  man 
in  der  Anthropologie  und  Psychologie  von  einer  Korrelation,  z.  B.  von  einer 
gegenseitigen  Beziehung  zwischen  der  Länge  der  Arme  und  der  Länge  der 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnimg  in  der  Pädagogik  usw.        115 

Beine  oder  zwischen  der  mathematischen  und  der  musikahschen  Begabung 
des  Menschen  und  dergleichen  spricht,  so  sind  die  beiden  in  Beziehung  ge- 
setzten Merkmale  oder  Fähigkeiten  als  Teile,  die  einer  relativ  selbständigen 
Betrachtung  oder  Untersuchung  fähig  sind,  gedacht.  Wie  der  Zusammenhang 
zwischen  den  Merkmalen  oder  den  Fähigkeiten  geartet  ist,  kommt  bei  der 
Konstatierung  einer  Korrelation  nicht  weiter  in  Betracht.   Erst  gilt  es  einmal 
zu  untersuchen,  ob  dieser  gegenseitige  Zusammenhang  ein  engerer  oder  loserer 
ist ;  anders  ausgedrückt :  wie  groß  der  Grad  der  gegenseitigen  Abhängigkeit 
oder  der  Grad  der  Korrelation  ist.^)    Aber  ebenso  gut  wie  ich  nach  der 
Korrelation  zwischen  mathematischer  und  musikalischer  Begabung  fragen 
kann,  kann  ich  natürlich  auch  nach  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  zwischen 
den  Merkmalen  eines  Dreiecks  oder  den  Druck-  und  Volumgrößen  des  Gay- 
Lussacschen  Gasgesetzes  fragen.    Die  mathematischen  Methoden,  die  es  er- 
möglichen, Korrelationen  zahlenmäßig  zu  formulieren,  sind  nun  auch  ganz 
unabhängig  von  der  speziellen  inhaltlichen  Ausprägung  des  Korrelationsbe- 
griffes.   Sie  lassen  sich  darum  auch  gewinnen,  wenn  man  von  dem  allge- 
meinsten Begriff  der  Korrelation  ausgeht,  wie  er  sich  im  Anschluß 
an  den  Wortsinn  ergibt.  Das  soll  für  die  folgenden  Betrachtungen  maßgebend 
sein.     Wir  definieren  daher  Korrelation  als  den  gegenseitigen  Zu- 
sammenhang   oder    die    gegenseitige    Abhängigkeit   der   Merk- 
male eines  Gegenstandes  irgendwelcher  Art,  gleichviel  ob  man 
diese  gegenseitige  Beziehung  sich  positiv  oder  negativ  denkt, 
ob   also   mit  dem  Dasein  oder  Fehlen  des  einen  Merkmals  das 
Dasein  oder  Fehlen  des  anderen  gegeben  ist,  oder  ob  mit  der 
Veränderung     des    einen    Merkmals    eine    gleichsinnige     oder 
entgegengesetzt    gerichtete    Veränderung    des     anderen     ver- 
bunden ist.^) 

2.  Wir  können  uns  die  Eigenart  des  Korrelationsproblems  noch  dadurch 
deutlicher  machen,  daß  wir  es  in  Gegensatz  stellen  zu  den  Fragen,  die  in 
der  heutigen  Psychologie  noch  hauptsächlich  im  Vordergrund  stehen,  als 
deren  eine  Weiterführung  aber  das  Korrelationsproblem  erscheint.  Die Mehr- 


')  Da  es  sich  bei  Betrachtungen  korrelationsstatistischer  Art  nicht  um  etwas  real 
Einfaches  und  Letztes  handeln  kann,  wenn  man  von  Merkmalen  spricht,  so  ist  es 
wohl  ein  Irrtum,  wenn  W.  Stern  (Differentielle  Psychologie,  S.  281)  meint,  der  Zu- 
sammenhang habe  keine  Grade.  Der  Zusammenhang  kann  ja  ein  engerer  oder 
loserer  sein. 

')  Verschiedene  Fassungen  des  Korrelationsbegriffes  habe  ich  diskutiert  in  meiner 
Schrift:  Die  Methoden  der  Rang-  und  Orduungskorrelationen  und  ihre 
Anwendungen ;  5.  Heft  der  ,Wiss.  Beiträge  zur  Pädagogik  und  Psychologie',  hrsg.  von 
G.  Deuchler  und  D.  Katz.  Der  Wahrscheinlichkeitsbegriff  hat  meiner  Ansicht  nach 
keine  spezifische  Bedeutung  für  den  Korrelationsbegriff,  wie  es  Stern  (a.  a.  O.  S.  280  f.) 
anzunehmen  scheint.  Auch  lassen  sich  sämtliche  Koeffizienten  formulieren  ohne 
Kekiirs  auf  denselben;  denn  sie  sind  ja  weiter  nichts  als  Spezialprobleme  der  so- 
genannten algebraischen  Logik.  Und  wenn  man  die  gegenseitigen  Bezlehxmgen, 
die  in  zwei  korrelierten  Versuchsreihen  vorliegen,  mit  Hilfe  von  Koeffizienten 
präzis  formuliert,  charakterisiert  man  lediglich  einen  Tatbestand,  keine  Wahrschein- 
f  lichkeit.  Zur  Wahrscheinlichkeitsbestimmung  wird  das  Resultat  erst,  wenn  man  es 
als  Repräsentanten  allgemein  vorhandener  Beziehungen  auffaßt.  Wie  weit  man 
dazu  berechtigt  ist,  darüber  entscheiden  die  Streuungswerte  (vgl.  auch  unten  S.  120  ff.). 

8* 


116        Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

zahl  der  Arbeiten  innerhalb  der  reinen  und  angewandten  Psychologie  könnte 
man  unter  den  allgemeinen  Titel  bringen :  Untersuchungen  der  Beziehungen 
subjektiver  Verhaltungsweisen  zu  den  objektiven  Ordnungsmerkmalen  und 
Maßkontinuen.     So  stellt  man  die  Art  und  Häufigkeit  der  Sprachfehler 
in  ihrer  Abhängigkeit  vom  Alter,  vom  Geschlecht  oder  der  Art  der  Dar- 
bietung der  Sprache  usw.  fest ;  man  untersucht  den  Verlauf  des  Vergessens 
in  der  Zeit;  die  Abhängigkeit  der  Lernleistung  von  der  Anzahl  der  Darbie- 
tungen; die  Modifikationen,  welche  einfache  Willenshandlungen  unter  ver- 
schiedenen Vorbereitungsformen  erleiden ;  die  Abhängigkeit  der  Unterschieds- 
schwelle  von  der   Intensität   und    Qualität    der  Empfindung,    von   dem 
Spannungsgrad  der  Aufmerksamkeit  usw.    Immer  handelt  es  sich  hier  um 
die   Gesetzmäßigkeiten  eines  bestimmten  Verhaltens.    Um  den  formalen 
Gegensatz  zum  Problem  der  Korrelation  auch  im  Wort  zum  Ausdruck  zu 
bringen,  können  wir  sagen:  es  handelt  sich  um  die  Feststellung  der  Rela- 
tionen.    Freilich  ist  dieser  Begriff  recht  vieldeutig;  aber  in   ordnungs- 
und  maßtheoretischen  Betrachtungen  vermag  er  doch  recht  gut  diese  an- 
gedeutete Problemgruppe    zu  bezeichnen  und  gegenüber  den  Fragen  der 
Korrelation  abzugrenzen.    Diese  bauen  sich  also  auf  jenen  auf  und  bilden 
zugleich  ihnen  gegenüber  eine  Fortsetzung  des  Problemkreises  innerhalb 
der  psychologischen  Forschung.    Für  die  Behandlung  der    Korrelationen 
erhalten  wir  daraus  ein  wichtiges  allgemeines  Ergebnis:  die  Darstellung 
der  Abhängigkeit  einer  psychischen  Funktion  von  irgendwelchen  ordnen- 
den   oder   messenden   Koordinaten    schließt    sich    im  allgemeinen  an  ein 
eindimensionales  Gebilde  (Gerade,  Zahlenreihe)  an.    Dies  wird  zum  Träger 
der  Maß  werte  oder  der  ordnenden  Merkmale,  denen  wü-  dann  die  ent- 
sprechenden  Häufigkeiten    zuordnen.     Wo    wir  es  mit   Korrelationen  zu 
tun  haben,  brauchen  wir  immer  zum  mindesten  zwei  ordnende  Dimen- 
sionen; denn  der  einfachste  Fall  liegt  da  vor,  wo  wir  die  gegenseitige  Ab- 
hängigkeit zwischen  zwei  Merkmalen  untersuchen;  wir  brauchen  drei,  wenn 
wir  den  gegenseitigen  Zusammenhang  di*eier  Merkmale  behandeln  wollen; 
vier  Merkmale  erfordern  vier  Dimensionen  usf.;  kurz:  wir  brauchen  zur 
Behandlung  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  von  n  Merkmalen 
zum  mindesten  ein  n-dimensionales  Ordnungssystem;  dabei  sehen 
wir  noch  von  der  Häufigkeit  des  Auftretens  des  einzelnen  Merkmales  ab. 
Für  die  folgende  Betrachtung  kommt  nur  die  Korrelation  zwischen  zwei 
Merkmalen  in  Frage.  —  Wenn  Reihen  zum  Zweck  der  Korrelationsbestim- 
mung einander  zugeordnet  sind,  so  soll  das  als  Konstellation  bezeichnet 
werden. 

3.  Nachdem  wir  den  Gegenstand  der  Korrelationslehre  formal  so  um- 
schrieben haben,  besinnen  wir  uns  noch  auf  die  sachlichen  Aufgaben 
dieser  Disziplin.  Da  die  Korrelation  nichts  aussagt  über  die  Art  der  gegen- 
seitigen Abhängigkeit,  sondern  ledigHch  den  Grad  des  gegenseitigen  Zu- 
sammenhangs ausdrückt,  so  ist  die  erste  und  allgemeinste  Aufgabe  der 
KoiTelationsmethode  die,  gegenseitige  Zusammenhänge  bekannter  Art  ihrem 
Grade  nach  exakt  zu  formulieren.  Wenn  es  aber  die  allgemeine  Aufgabe 
wissenschaftlicher  Forschung  insbesondere  auf  unserem  Gebiet  ist,  die  Art 
der  Zusammenhänge  aufzudecken,  und  wenn  die  Bestimmung  der  Art  der 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.         117 

Zusammenhänge  leichter  geschehen  kann  im  Anschluß  an  eine  bestimmte 
Formulierung  des  Grades  dei^  Abhängigkeit,  so  können  wir  der  Korre- 
lationsmethode eine  zweite  Aufgabe  zuschreiben,  nämlich  die:  noch  un- 
bekannte gegenseitige  Beziehungen  zunächst  einmal  zu  präzisieren  und  da- 
durch bestimmte  Anhaltspunkte  für  die  Erforschung  der  Art  des  Zu- 
sammenhangs zu  geben.  Wir  sehen  also,  die  Korrelationsmethode 
stellt  sich  allgemein  als  ein  Denkmittel  dar,  das  ermöglicht,  eine 
Mehrheit  gegenseitiger  Beziehungen  zu  erfassen  und  in  einen  exakten 
Ausdruck  zu  bringen. 

4.  Diesen  Aufgaben  wird  nun  die  Kon'elationsmethode  gerecht,  wenn  sie 
1)  Berechnungsmethoden  ausbildet,  die  gestatten,  die  gegenseitigen 
Beziehungen,  die  in  Versuchsmateriahen  oder  in  statistischen  Erhebungen 
zum  Ausdruck  kommen,  genau  zu  bestimmen,  also  in  einer  präzisen  Sprache 
darzustellen.  Insoweit  untersteht  dann  die  Korrelationsmethode  einem 
deskriptiven  Zweck.  Über  diesen  geht  sie  hinaus,  wenn  2)  die  Fi*age 
nach  der  Allgemeinheit  dieser  Abhängigkeitsbeziehungen  ins  Auge  gefaßt 
und  demgemäß  gewisse  theoretische  Grrößen  formuliert  werden,  auf 
welche  die  empirisch  gewonnenen,  aus  dem  Material  berechneten  Abhängig- 
keitsbestimmungen zu  beziehen  sind,  falls  diese  einen  allgemeineren  Sinn  be- 
kommen sollen.  Diese  theoretischen  Größen  geben  Kriterien  der  gegen- 
seitigen Abhängigkeit  und  der  Sicherheit,  bezw.  der  Unsicherheit  der  Be- 
stimmung ab;  man  kann  sie  deshalb  auch  als  kritische  Werte  be- 
zeichnen. 

5.  Historisch  hat  sich  nun  die  Methode  der  Korrelationsrechnung  zuerst 
an  Merkmalen  ausgebildet,  die  durch  Maßwerte  charakterisiert  sind.  Erst 
als  sich  der  Korrelationsgedanke  auch  mit  psychologischen  Problemstellungen 
vorband,  versuchte  man  energischer,  auch  gegenseitige"  Beziehungen  zwischen 
solchen  Merkmalen  zu  formulieren,  die  nicht  meßbar,  sondern  bloß  der  unbe- 
stimmten Ordnung,  oder  wie  man  auch  sagt,  der  Rangierung,  oder  aber  bloß 
der  Spezialisierung,  fähig  sind.  Man  unterscheidet  heute  auch  demgemäß 
bereits  Maßkorrelationen  und  Rangkorrelationen.  Maßkorrelationen  liegen 
also  innerhalb  des  psychologischen  Gebietes  überall  da  vor,  wo  die  einzel- 
nen Leistungen  der  zu  korrelierenden  Funktionsgebiete  durch  Maßwerte 
charakterisiert  sind ;  so  z.  B.  wenn  die  durch  die  Zeit  oder  die  Anzahl  der 
Aufgaben  gemessene  Additionsfähigkeit  mit  der  ebenfalls  durch  die  Zeit 
Ofler  durch  die  Anzahl  der  Aufgaben  gemessenen  Fähigkeit  des  Multipli- 
zierens korreliert  wird.  Rangkorrelationen  erblickt  man  da,  wo  man  eine 
Reihe  von  Individuen  hinsichtlich  ihrer  Leistungen  auf  irgendwelchen  Gebieten 
bloß  nach  einem  Mehr  oder  Weniger,  Besser  oder  Schlechter  beurteilt  und  an- 
ordnet, um  dann  aus  diesen  Rangordnungen  die  gegenseitige  Abhängigkeit  zu 
gewinnen.  Wenn  manz.  B.  die  Schüler  einer  Klasse  nach  iliren  Leistungen  in  zwei 
Gebieten  loziert,  so  kann  man  daraus  die  gegenseitige  Abhängigkeit  beider 

[Funktionsgebiete  bestimmen;  ebenso  ist  dies  möglich  auf  Grund  der  Zen- 

juren    oder    der    Zeugnisse    in   beiden    Gebieten.     Solche    Bestimmungen 

sind    formal    richtig;   ob  sie  die   gegenseitigen  Beziehungen  der  beiden 

iOistungsgebiete     wirklich     zum     Ausdruck     bringen,     hängt    natürlich 

^on    der    Richtigkeit    und    Soi'gfalt    der    Lozierung    und    Bezeugnissung 


118       Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

ah})  Bisher  fast  gar  nicht  oder  ungenügend  beachtet  wurde  der  Umstand,  daß 
sich  zwischen  die  Rang-  und  Messungsreihen  die  Reihen  der  bestimmten 
Ordnung  einfügen;  diese  stehen  zwar  den  Maßreihen  in  der  Behandlung  sehi' 
nahe,  haben  aber  doch  eine  selbständige  Bedeutung  und  sind  für  die  Psycho- 
logie außerordentlich  wichtig.  Wir  werden  im  folgenden  zuerst  die  Rangkorre- 
lationen betrachten,  weil  sie  methodisch  am  einfachsten  sind.  Dabei  werde 
ich  zunächst  zwei  Koeffizienten  für  Rangordnungen  behandeln,  die  bisher 
noch  nicht  allgemein  im  Gebrauch  sind,  dann  erst  auf  die  Methoden  für 
Rangordnungen  eingehen,  die  bisher  fast  allgemein  angewandt  wurden; 
weiter  berühre  ich  kurz  die  sogenannten  Kontingenzbestimmungen ;  zum 
Schluß  erörtere  ich  die  Korrelationsberechnungen  auf  Grund  von  Reihen 
mit  bestimmter  Ordnung  und  bringe  der  Vollständigkeit  halber  noch 
den  bekannten  Bravaisschen  Koeffizienten  für  Maßkorrelationen. 

II. 

1.  Die  Formeln,  welche  zur  Berechnung  von  Korrelationen  angewandt 
werden,  haben  im  allgemeinen  eine  solche  Form,  daß  sie  gleich  + 1  werden, 
wenn  die  gegenseitige  Abhängigkeit  in  beiden  Leistungsgebieten  eine  voll- 
kommene und  gleichmäßige  ist,  wenn  also  eine  hohe  oder  gute  Leistung  auf 
einem  Gebiet  eine  hohe  oder  gute  auf  dem  andern  zur  Folge  hat ;  sie  werden 
gleich  —  1,  wenn  die  gegenseitige  Abhängigkeit  eine  zwar  vollkommene  aber 
entgegengesetzte  ist,  wenn  also  hohe  oder  gute  Leistungen  auf  dem 
einen  mit  niedrigen  oder  schlechten  auf  dem  andern  Gebiet  zusammen- 
fallen, und  sie  werden  gleich  0,  wenn  die  beiden  Leistungsgebiete  gegen- 
einander gleichgültig  sind,  wenn  also  mit  jeder  Leistung  auf  dem  einen,  jede 
Leistung  auf  dem  anderen  verknüpft  sein  kann.  Durch  die  zwischen  + 1 
und  —  1  liegenden  Werte  sind  sämtliche  Grade  der  gegenseitigen  Abhängig- 
keit charakterisiert  und  zwar  durch  die  Größen  zwischen  -\- 1  und  0  die  der 
gleichsinnigen  oder  positiven,  durch  die  Größen  zwischen  0  und  —  1  die 
der  entgegengesetzt  gerichteten  oder  negativen.  Es  ist  nicht  nötig,  daß 
man  Korrelationen  in  dieser  Weise  zu  präzisieren  versucht;  aber  dieser 
Modus  ist  für  die  Vergleichung  zweckmäßig,  und  darum  wird  man  ihn 
überall  anstreben,  wo  er  möglich  ist.^)  Wichtiger  ist,  einmal  daß  die  posi- 
tiven und  negativen  Werte  einander  spiegelbildlich  entsprechen  —  denn  nur 
dann  hat  es  z.  B.  Sinn,  mehrere  Werte,  worunter  auch  negative  sein  können,  zu 
einem  resultierenden  Wert  nach  der  Regel  des  arithmetischen  Mittels  zu- 
sammenzufassen —  und  zum  andern,  daß  der  Koeffizient  mit  um  so  größerer 
Sicherheit  auf  eine  gewisse  Abhängigkeit  hinweist,  je  größer  sein  Betrag  ist.^) 


^)  Auf  den  Streit  über  die  Berechtigting  der  Rangkorrelationen  gehe  ich  hier  nicht 
ein;  man  vergleiche  dazu  die  Ausführungen  in  meiner  oben  genannten  Schrift.  Nur 
so  viel  sei  bemerkt ;  es  kann  sich  gar  nicht  um  die  Alternative,  Maßkorrelationen  oder 
Rangkorrelationen  handeln;  die  Devise  muß  vielmehr  lauten:  Ausbildung  der  not- 
wendigen Korrelationsmethoden;  die  notwendigen  Methoden  aber  sind  diirch  das 
zu  verarbeitende  Material  und  seine  Beziehxjngen  bestimmt. 

')  Über  die  Bedingungen,  die  bei  Maßkorrelationen  erfüllt  sein  müssen,  vergleiche 
vmten  bei  VI. 

')  Über  weitere  Kriterien  zur  Beurteilung  der  Güte  eines  Koeffizienten  vergleiche 
»Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.',  Kap.  V. 


k 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.        119 

2.  Den  ersten  Koeffizienten  entwickeln  wir  im  Anschluß  an  ein  bestimmtes, 
allgemein  gehaltenes  Problem.^  Die  Unterschiede,  die  die  Leistungen  zweier 
Schülergruppen  Ä(u)  und  B{v)  aufweisen,  lassen  sich  meist  nicht  durch 
Maßwerte  ausdrücken;  aber  wir  können  sagen,  ob  je  zwei  Leistungen  als 
gleich  oder  verschieden  anzusehen  sind.  Unser  Urteil  wird  den  objektiv 
vorhandenen  Sachverhalt  umso  genauer  treffen,  je  einfacher  die  Leistungen 
sind;  bei  komplexen  Leistungen  trifft  er  nur  dann  immer  das  Richtige,  wenn 
die  Verschiedenheiten  eine  gewisse  Größe  erreicht  haben.  Für  die  folgenden 
Betrachtungen  kommen  diese  Dinge  nicht  weiter  in  Frage.  Sind  die  Ver- 
schiedenheiten in  einer  Hinsicht  vergleichbar,  d.  h.  bieten  sie  sich  als  Unter- 
schiede wenn  auch  unbestimmter  Art  dar,  so  erhalten  wir  entweder  das 
Urteil  A  >B  oder  Ä  <B  oder  A  =  B.  Die  u  Schüler  der  Gruppe  Ä  sollen 
ebenso  wie  die  v  der  Gruppe  B  nicht  weiter  voneinander  unterschieden  werden ; 
dagegen  sollen  die  Merkmale  Ä  und  B  den  Schülern  der  betreffenden  Gruppen 
spezifisch  sein;  es  mögen  z.B.  zur  Gruppe  Ä  nur  besser  begabte,  zur  Gruppe  B 
nur  weniger  begabte  Schüler  gehören.  Nun  kann  ich  nach  der  gegenseitigen 
Abhängigkeit  der  Leistung  und  Begabung  fragen.  Praktische  Probleme 
dieser  Art  liegen  ja  immer  da  vor,  wo  man  die  Versuchspersonen 
in  zwei  distinkte  Gruppen  {Ä  und  B)  einteilen  kann  und  wo  dann  immer 
eine  der  einen  mit  einer  der  anderen  Gruppe  in  Vergleich  kommt  (z.  B. 
bei  allen  Leistungen,  die  die  Form  des  Zweikampfes  haben  oder  deren  Resul- 
tate nur  in  einer  zweigliedrigen  Vergleichung  näher  charakterisiert  werden). 
Ist  das  Verhältnis  der  zwei  vergleichenden  Leistungen  so,  daß  das  Urteil 
Ä  >  B  herauskommt,  so  mag  ein  Pluszeichen  markiert  werden;  wird  das 
Urteil  aber  A  <  B,  so  sei  Minus  verzeichnet,  und  ist  A  =  B,  so  schreiben 
wir  0.  Das  Zeichen  0  können  wir  zur  Hälfte  zu  den  Plus-  und  zur  Hälfte  zu 
den  Minuszeichen  rechnen.  Dann  besteht  vollkommene  Übereinstimmung 
zwischen  der  höheren  Begabung  und  der  höheren  oder  größeren  Lei- 
stung, wenn  ich  lauter  +  zu  verzeichnen  habe;  die  Übereinstimmung  wird 
umso  geringer,  je  mehr  —  an  Stelle  der  H-  treten;  sind  nur  —  vorhanden, 
so  stehen  Begabungshöhe  und  Leistungshöhe  im  vollkommenen  Gegensatz. 
Die  Anzahl  der  Pluszeichen  soll  mit  i,  die  der  Minuszeichen  mit  k  bezeichnet 
werden.  Wir  haben  dann  in  der  Gleichung  (1)  und  ihren  auf  der  Relation 
t=  i  +k  sich  aufbauenden  Umformungen, 

i—k                  2  k           2  i 
r=^— -j-  =  l = 1,  (1) 

t+k  t  t  ' 

die  Definitionsgleichungen  eines  Koeffizienten  mit  den  erwünschten  Eigen- 
schaften. Er  bewegt  sich  symmetrisch  zu  0  zwischen -fl  und — 1  und  drückt  die 
Grade  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  in  ihrer  positiven  oder  negativen  Form 
dadurch  aus. 

3.  Wir  müssen  noch  einen  Augenblick  bei  der  Anzahl  der  Vergleichungen 
verweilen.  Es  ist  klar,  daß  man  das  dem  objektiven  Tatbestand  am  besten 
entsprechende  Resultat  dann  erhält,  wenn  man  a  1 1  e  Vergleichungen  voll- 
zieht, die  möglich  sind;  d.h.  wenn  man  jeden  Schüler  der  Gruppe  A  zu 
jedem  der  Gruppe  B  in  Vergleich  bringt.    Die  Anzahl  der  Vergleichungen 


120        Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 


und  somit  die  Gesamtzahl  (0  der  zu  notierenden  Zeichen  ist  dann  durch 
die  Gleichung  (2)  definiert 

t=i-hk  =  uv;  (2) 

oder  wenn  u  =  v  ist,  was  zwar  nicht  sein  muß,  aber  doch  wünschenswert  ist, 
durch  die  Gleichung  (3) 

f  =  4  +fc  =  w2  =  i;2.  (3) 

Sind  die  beiden  Gruppen  gleich  groß,  so  kann  man  ja  auch  noch  daran  denken, 
die  Vergleichung  in  der  Weise  durchzuführen,  daß  man  die  u  =  v  Schüler 
in  u  =  V  Paare  ordnet  und  lediglich  u  =  v  Vergleichungen  ausführt.  Zur 
Bestimmung  des  endgültigen  Resultates  wird  man  immer  die  zuerst  betrach- 
tete, voll  ständige  Vergleichung  benützen  und  das  zweite  Verfahren  nur  da 
anwenden,  wo  es  nicht  anders  geht  (solche  Fälle  gibt  es  Ja  auch)  oder  wo 
man  nur  einen  vorläufigen  Einblick  haben  will;  denn  das  erste  Verfahren 
gibt  unter  sonst  gleichen  Bedingungen  einen  viel  sichereren  Wert,  wenn 
auch  die  Größe  des  r  in  beiden  Fällen  sich  nicht  viel  oder  gar  nicht  unter- 
scheidet. 

4.  An  einem  Beispiel  sollen  beide  Arten  der  Bestimmung  von  r  illustriert 
werden^).  Vier  besser  begabte  und  vier  weniger  begabte  Schüler  {Ai  A^  A^ 
A^  bzw.  Bx  B2  B3  B4)  der  gleichen  Klasse  haben  die  gleichen  Fragen  zu 
beantworten;  die  Art  der  Fragen  und  Antworten  sind  so,  daß  man  zweck- 
mäßigerweise immer  nur  die  Leistung  eines  begabteren  Schülers  mit  der 
eines  weniger  begabten  vergleicht.  Führen  wir  dies  im  Sinne  der  vollstän- 
digen und  der  abgekürzten  Vergleichung  aus,  so  erhalten  wir  die  beiden 
Schemata  I  und  II. 


(I) 


AiA^A^A^ 

Bi  +  +  0  + 
B2  +  +  0  -f 

B3— +— + 

B4  +  +  0  +  J 


^^12,5      3,5^     ^ 

16  ' 


A^AzAqA^ 

MM 

B1B2B3  B^ 

+  +— + 


3—1 

/t  =——=  +  0,60 


Eine  gegenseitige  Abhängigkeit  zwischen  den  beiden  Begabungsstufen  und 
der  Höhe  der  Leistungen  scheint  danach  zu  bestehen,  wenigstens  ist  der  Kor- 
relationsgrad im  vorliegenden  Fall  0,56  bzw.  0,50. 

5.  Mit  einer  einzigen  Bestimmung  dieser  Art  wird  man  sich  aber  nicht 
zufrieden  geben,  wenn  man  ein  allgemeines  Urteil  über  die  bestimmte  Größe 
des  Grades  fällen  will.  Gewiß  kann  Ja  auch  dieses  Resultat  bereits  als  Re- 
präsentant eines  allgemeinen  Urteils  angesehen  werden,  aber  nicht  eines 
solchen  über  die  bestimmte  Größe  der  gegenseitigen  Abhängigkeit,  sondern  nur 
etwa  über  die  Gleichsinnigkeit  derselben :  eine  höhere  Begabung  prädestiniert 
meistens  zu  einer  höheren  Leistung  solcher  Art.  Will  man  aber  über  die 
bestimmte  Größe  der  Korrelation  ein  zuverlässiges  allgemeines  Urteil  er- 
halten, so  muß  man  durch  wiederholte  Bestimmungen  oder  Versuche  der 


^)  Das  Beispiel  ist  der  Arbeit  von  J.  Sehrenk,  Über  das  Verständnis  für  bild- 
liche Darstellung  bei  Schulkindern,  Heft  6,  S.  72ff.  der  ,,Wiss.  Beiträge  zur  Pädag.  u. 
Psychol.''  entnommen,  und  zwar  sind  es  die  Leistungen  der  2  ><(  4  Schüler  des 
V.  Schuljahres  bei  der  Fragegruppe  D. 


über  die  Methoden  der  Korrölationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.         121 

gleichen  Art  eine  größere  Anzahl  (m)  solcher  r- Werte  zu  bekommen  suchen, 
um  aus  ihnen  einen  resultierenden  Wert  r^  zu  berechnen.  Als  solchen  wählt 
man  am  besten  das  arithmetische  Mittel  der  einzelnen  r- Größen,  das  dann 
definiert  ist  durch  die  Gleichung  (4) 


ti+ra+tsH hr. 


m 


(4) 


Der  durchschnittliche  Betrag  r^  repräsentiert  die  einzelnen  Beträge,  indem 
er  sie  zusammenfaßt.  Um  aber  die  Abweichungen  der  Einzelbeträge  vom 
Durchschnitt  zu  charakterisieren,  berechnet  man  am  besten  noch  die  mittlere 
quadratische  Abweichung  oder  den  Streuungswert  q  nach  der 
Gleichung  (5) 


Vi:h- 


•r..)^  +  (r,-ig^+---  +  (r„-g^ 


(5) 


Die  Streuung  q  wird  umso  kleiner,  je  näher  die  Einzelwerte  beim  Durch- 
schnitt liegen.^) 

6.  Je  größer  nun  m,  d.  h.  die  Anzahl  der  einzelnen  r  ist,  desto  größer  ist 
die  Wahrscheinlichkeit,  daß  alle  Konstellationen,  die  unter  den  gegebenen 
Verhältnissen  bei  den  t  Vergleichungen  möglich  sind,  erschöpft  sind  und 
daß  infolgedessen  r^  den  , wahren'  Mittelwert  der  Konstellationen  ausdrückt. 
Dann  kann  man  die  Abweichungen  der  einzelnen  r- Werte  auch  als  Fehler 
auffassen  und  q^  als  den  quadratischen  Mittel  fehler  oder  —  miß- 
verständlicher freilich  —  als  den  mittleren  Fehler  der  Einzelwerte 
bezeichnen.  Hier  hat  also  q^  oder  l:qs  die  Bedeutung  eines  Sicher- 
heitsmaßes: ein  einzelner  Wert  hegt  dem  , wahren'  Mittelwert  umso  näher 
und  kann  für  ihn  umso  eher  eingesetzt  werden,  je  kleiner  q  ist.  Doch  es  ist 
nicht  nur  das ;  wir  gewinnen  mit  Hilfe  von  q  sofort  noch  eine  andere  Relation. 
Da  Tg  dem  wahren  Mittelwert  erst  bei  unbegrenzt  großem  msich  völlig  annähert, 
so  ist  es  bei  endlichem  m  im  Hinblick  auf  jenes  natürlich  immer  noch  mit 
einem  durchschnittlichen  Fehler  (m)  behaftet,  der  zwar  mit  wachsendem  m 
kleiner  und  kleiner  wird.  Es  läßt  sich  nun  zeigen^)  —  das  soll  hier  nicht 
weiter  geschehen;  denn  es  ist  ja  auch,  wie  die  Lehre  vom  arithmetischen 
Mittel  und  vom  Streuungswert,  nicht  für  die  Korrelationsmethode  spezi- 
fisch — ,  daß 

m  =  -^  (6) 

ist;  d.  h.  der  mittlere  Fehler  des  Durchschnittswertes  von  m  Einzel- 
werten ist  sowohl  von  der  Größe  q^  wie  auch  von  m  abhängig;  er  sinkt  um 
80  eher  unter  einen  vorgegebenen  Betrag,  je  kleiner  q^  und  je  größer  mist. 
(Man  beachte  den  Unterschied  des  mittleren  Fehlers  des  Mittelwertes 


')  Vgl.  auch  meinen  Aufsatz:  Über  absolute  und  relative  Streuungswerte;  diese 
Zeitschrift  Bd.  XIV,  Heft  6,  S.  305ff. 

•)  Vgl.  z.  B.  Die  Methoden  der  R-  n.  O.-Korr.,  Kap.  VI,  oder  W.  Johannsen, 
Elemente  der  exakten  Erblichkeitelehre,  2.  Aufl.,  S.  92ff. 


122        Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

(bzw.  sämtlicher  Konstellationen)  vom  mittleren  Fehler  des  Einzel- 
wertes  (bzw.  einer  Konstellation).) 

7.  Wir  haben  nuD  die  Berechnungsformeln  dieser  Korrelationsmethode 
entwickelt  und  auch  die  Präge  der  Verallgemeinerung  des  Durchschnitts- 
werts diskutiert.  Zur  Behandlung  bleibt  uns  noch  das  Problem  der  All- 
gemeinheit des  einzelnen  r- Wertes  und  das  der  Kriterien  der  Abhängigkeit. 
Wir  wenden  uns  zunächst  der  zweiten  Frage  zu  und  beginnen  damit, 
das  theoretische  arithmetische  Mittel  (to)  und  den  dazu  gehörigen  theore- 
tischen Streuungswert  (qo)  im  Fall  der  Unabhängigkeit  zu  bestimmen.  Theo- 
retisch sind  diese  Werte,  weil  sie  eine  unbegrenzte  Wiederholung  desselben 
Versuches  unter  den  gleichen  Bedingungen  voraussetzen,  was  ja  nur  gedank- 
lich möglich  ist,  nicht  aber  weil  sie  praktisch  bedeutungslos  sind.  Denn  ihr 
praktischer  Wert  besteht  gerade  darin,  daß  sie  Normen  für  die  empirischen 
Ergebnisse  abgeben.  Der  Index  o  soll  zugleich  andeuten,  daß  diesen  theo- 
retischen Größen  keinerlei  Unsicherheit  mehr  anhaftet.         '^ 

Unabhängigkeit  bedeutet,  daß  man  bei  unbegrenzter  Wiederholung  der 
t  Vergleichungen  alle  möglichen  Resultate  hinsichtlich  der  Konstellationen 
in  gleicher  Anzahl  erhält.  Dabei  durchläuft  i  die  Werte  t,  t — 1,  f — 2, 
•••« — >^,  •••,  2,  1,0,  während  h  gleichzeitig  die  Werte  0,  1,  2,  •••X...( — i,  t 
annimmt.  Wir  brauchen  daher  nur  die  fe- Werte  zu  berücksichtigen;  sie  ge- 
nügen ja  auch  zur  Berechnung  von  r.    Jeder  fe-Wert  kann  aber  nach  den 

Regeln  der  Kombinatorik  auf  f  M  =  ^0— 1)  (<— 2)-- •  • -0— >- +1)  ^^^^^ 

\X/  1*2'3*...*A 

Weise  zustande  kommen,  so  daß  wir  bei  einmaligem  gleichmäßigem  Aus- 
schöpfen aller  Möglichkeiten  —  und  darauf  können  wir  uns  beschränken, 
weil  die  Wiederholung  nichts  Neues  bietet  —  zu  den  fc- Werten  folgende 
Häufigkeitsziffern  (z)  erhalten: 

k=    0,         1,        2,         3,    •••     X,     •  •  .,    t— 2,        f— 1,       t  (7) 

Da  nach  Gleichung  (1)  jedem  fc-Wert  ein  bestimmter  r-Wert  entspricht,  so 
berechnen  wir  zunächst  das  durchschnittliche  fe  und  gehen  dann  zu  t  über. 
Das  durchschnittliche  h  —  es  sei  Z  benannt  —  bekommen  wir,  wenn 
wir  die  übereinanderstehenden  k-  und  2- Größen  multiplizieren  und  die  Summe 
sämtlicher  Produkte  durch  die  Summe  aller  2- Größen,  also  durch  2'  divi- 
dieren.   Es  ist  also 

^=Q  (9) 


*)  Die  Werte  für  z  erhält  man  also  auch,  wenn  man  {a-}-6)'  nach  den  Regeln  des  bino- 
mischen Satzes  entwickelt  und  dann  a—b  =  l  setzt;  kürzer  ausgedrückt,  wenn  man 
2'  =  (1  -}-  1)<  entwickelt.  Mit  Hilfe  dieser  Relation  wird  die  Bestimmung  des  arith- 
metischen Mittels  tmd  der  Streuungswerte  einfacher,  wenn  man  eine  andere  Me- 
thode anwendet,  deren  Gebrauch  allerdings  ein  wenig  Differentialrechnung  voraus- 
setzt.   Vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  VI. 


' 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.        123 


Den  Ausdruck  in  der  Klammer  können  wir  etwas  umlormen:  der  gemein- 
same Faktor  t  kann  vor  die  Klammer  gesetzt  werden;  die  Größe  vor  jedem 
Glied  hebt  sich  gegen  den  höchsten  Faktor  im  Nenner;  wir  erhalten  dann 

^""2'^^     1     ^         1-2         ^      ^1.2-3.. .0—1);      S'        2^^"^ 

Da  das  arithmetische  Mittel  aller  fe- Werte  gleich  ^e  ist,  so  wird  mit  Rück- 

2  .1/    f 
sieht  auf  Gleichung  (1)  r^,  =  1 -l-  =  i— i  =  o.  (11) 

V 

Nun  berechnen  wir  die  mittlere  quadratische  Abweichung  der 
einzelnen  fc- Werte  vom  Durchschnitt  K;  sie  sei  Q  benannt.  Wir  gewinnen 
Q^,  indem  wir  von  jedem  einzelnen  fc-Wert  '^Ut=^  K  abziehen,  die  Differenz 
quadrieren,  mit  der  entsprechenden  Häufigkeitsziffer  multiplizieren  und 
die  Gesamtheit  der  Produkte  wieder  durch  2<  dividieren.    Es  ist  also 

k- 


1^0 


=h20-^'- 


(12) 


l  .t\       I/o  „t         „  f(f— 2)  t(f— l)(f— 2) 

Nunist^^'^  h2^fc^-^+^"T+^^  Vr+^^      1.2-3 


x=o 


t  (         i—\         (f— 1)(<— 2)    .     t— l(t-2)(t-3) 


2'\'        1      '  1-2  1-2-3 


Den  Ausdruck  in  der  Klammer  schreiben  wir  nun  zweimal  in  entgegen 
gesetzter  Reihenfolge  hin;  dann  bekommen  wir 

Da  (  ^  )  =  (   T,  )  ist,  so  sind  in  den  übereinanderstehenden  Gliedern  die 

zweiten  Faktoren  immer  gleich.  Wenn  wir  dann  den  durch  Addition  erhaltenen 
gemeinsamen  Faktor  (<+l)  herausstellen,  so  erhalten  wir 


124        Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

Der  fragliche  Ausdruck  in  der  Klammer  oben  ist  dann  gleich  der  Hälfte,  also 
gleich  0+1)  2'-^    Somit  wird,  da  Z2=  — ist, 


' 

4        ' 

f       t^  +  t 
4           4 

4  ~ 

t 

(13) 

daraus  folgt:  Q'=±jl^t'  (14) 

Wenn  wir  nun  von  hier  aus  den  zu  to  gehörigen  Streuungswert  q^  bestimmen 
wollen,  so  müssen  wir  bedenken,  daß  Q  und  qo  lineare  Größen  sind,  die  im 
gleichen  Verhältnis  stehen  müssen  zu  den  Ausdehnungsgebieten,  die  sie 
charakterisieren.    Es  ist  also 

qo:Q  =  2:t  oder  q«  =  ?^.  (15) 

Daraus  ergibt  sich  infolge  der  Gleichung  (14) 

^o=-±YJ-  (16) 

Das  theoretische  arithmetische  Mittel  und  der  theoretische 

Streuungswert   sind   bei    t  Vergleichungen   durch   die    Doppel- 

1 
gleichung  ro+qo  =  OHh— -=  gegeben. 

•  y  t 

Es  liegt  somit  Unabhängigkeit  vor,  wenn  bei  einer  häufig 
genug  ausgeführten  Wiederholung  der  t  Vergleichungen  das 
arithmetische  Mittel  r^  und  die  mittlere  quadratische  Ab- 
weichung qs  die  Doppelgleichung  r3  +  qs  =  ro  +  qo  hinreichend  be- 
friedigen. Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  haben  wir  Abhängigkeit  vor  uns. 
Diese  müssen  wir  noch  etwas  betrachten ;  wir  wollen  aber  zuerst  das  anschau- 
lichere Problem  der  theoretischen  Häufigkeits-  und  Wahrscheinlichkeits- 
kurve behandeln. 

8.  Wenn  wir  in  den  Gleichungen  (7)  und  (8)  für  (  eine  bestimmte  Größe, 
z.  B.  6,  einsetzen,  so  erhalten  wir  für  k  und  2  die  folgenden  Werte: 


(III) 


Beigefügt  sind  noch  die  aus  den  einzelnen  k  folgenden  r- Werte.  Tragen 
wir  die  Beträge  für  k  (oder  für  r)  auf  einer  Abszisse  ab,  auf  den  Ordinaten 
die  entsprechenden  Beträge  von  z  und  verbinden  wir  die  Spitzen  der  Ordi- 
naten so,  als  ob  2  eine  stetig  sich  ändernde  Größe  wäre,  so  bekommen  wir 
eine  stetige  Häufigkeitskurve  —  hier  in  diesem  Fall  die  theoretische 
Häufigkeitskurve  für  t—G.  Da  die  Häufigkeitszahlen  hier  mit  Hilfe  der 
Binomialformel  darzustellen  sind,  so  sollen  diese  Kurven  kurz  Binomial- 


k-=  0 

1 

2 

3       4 

5 

6 

0=1 

6 

15 

20     15 

6 

1 

r  -=  1 

2 

T 

1 

o-i- 

2 

— 1 

über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw,        125 

kurven^)  oder  einfach  J5-Kurven  heißen.  Dividieren  wir  die  einzelnen  Be- 
träge der  z  durch  die  Gesamtsumme  der  0,  d.  h.  bilden  wir  den  Quotienten 

z       z 
/i  =  -x7  =  rg,  so  erhalten  wir  die  relativen  Häufigkeiten  der  einzelnen  it 

Werte  und  demnach  auch  der  einzelnen  r- Werte.  Die  relative  Häufigkeit 
eines  Wertes  ist  aber  gleich  der  Wahrscheinlichkeit  seines  Auftretens.  Da 
es  gleichgültig  ist,  ob  ich  die  Kurve  auf  Grund  der  absoluten  {£)  oder  der 
relativen  Qn)  Häufigkeiten  zeichne  —  denn  es  kommt  ja  immer  noch  der 
zur  Abszisse  relevante  Maßstab  in  Betracht  —  so  kann  die  Häufigkeitskurve 
zugleich  als  Wahrscheinlichkeitskurve  angesprochen  werden.  Nehmen 
wir  anstatt  f  =  6  ein  immer  größeres  t  und  zeichnen  auf  der  gleichen  Basis 
weitere  Häufigkeitskurven,  die  den  gleichen  Flächeninhalt  wie  die  erste 
einschließen  2),  so  steigen  diese  steiler  und  steiler  an,  d.  h.  der  Haupt- 
teil des  immer  gleichen  Flächeninhalts  schiebt  sich  immer  mehr  der  Sym- 
metrieachse entlang  in  die  Höhe;  die  Glockenform  behält  die  Kurve  bei. 
Wächst  t  unbegrenzt,  so  schrumpft  die  Glockenform  zur  Symmetrieachse 
zusammen.  Das  gleiche  ergibt  sich  aus  der  Betrachtung  des  Streuungswertes 
q^j,  der  ja  mit  ständig  wachsendem  X  kleiner  und  kleiner  wird  und  sich 
schließlich  der  0  nähert.  Für  die  Binomialkurve  gibt  es  nun  eine  bekannte 
Näherungsformel,  die  um  so  genauer  wird,  je  größer  i  ist,  nämlich  die,  die 
das  sogenannte  Gaußsche  Fehlergesetz  ausdrückt.  Ich  setze  sie  mit  den 
Größen  des  vorliegenden  Problems  hierher,  ohne  auf  ihre  Ableitung  weiter 
einzugehen.3)  Für  die  relative  Häufigkeit  ^  der  einzelnen  fe- Werte  gilt,  wenn 
x  =  0  mit  dem  arithmetischen  Mittel,  d.  h.  hier  zugleich  mit  der  Symmetrie- 
achse zusammenfällt, 

1        _  A  •  1  X* 


*)  Die  Kurve  Ä  (n=5)  der  Fig.  1  unter  IV  kann  gut  als  Abbildung  der  Binomialkurve 
für  <  =  6  dienen,  da  sie  fast  vollständig  mit  dieser  übereinstimmt.  Vgl.  Die  Methoden 
der  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  VIII. 

•)  Bezüglich  der  basis-  und  inhaltskonstanten  Häufigkeitskurven  vgl.  man  den  Auf- 
satz :  Über  absolute  und  relative  Streuungswerte,  diese  Zeitschrift,  Bd.  XIV,  Heft  6, 
S.  316ff.  Die  Anwendung  auf  den  speziellen  Fall  hier  vgl.  die  Meth.  d.  R.-  u.  O.-Korr. 
Kap.  VIII.  Sind  ;  die  Abszissenschritte,  l  die  entsprechenden  Ordinaten,  so  gelten  für 
die  auf  dem  Ausdehnungsgebiet  von  r  abgebildeten  Binomialkurven  die  Gleichungen 
.       2  t 

)  Die  Formel,  die  das  Gaußsche  Fehlergesetz  ausdrückt,  kann  in  verschiedener 
Weise  gewonnen  werden.  Die  zwei  deduktiven  Ableitvmgen  findet  man  z.  B.  im 
I.  Bd.  von  Czubers  Wahrscheinlichkeitsrechnung.  So  schön  diese  Ableitungen  sind 
und  soviel  Reiz  sie  für  den  mathematisch  Geschulten  besitzen,  in  Darstellungen,  die 
sich  an  Nicht-Mathematiker  wenden  tmd  die  dann  auch  nur  den  Zweck  haben  können, 
eine  Formel  verständlich  zu  machen,  sollte  man  die  einfacheren,  wenn  auch  weniger  all- 
gemeinen Methoden  nicht  ignorieren.  Eine  solche  findet  sich  z.B.  in  Navier  s 
Lehrbuch  der  Differential-  und  Integralrechnimg  1875,  Bd.  II,  S.  312ff.  Ohne 
Infinitesimalrechnung  bringt  diese  Formel  Uduy  Yule,  Introduotion  to  the  theory 
of  statistics'  S.  301  ff.  dem  Verständnis  nahe.  Ähnlich  ist  sie  in  den  Methoden  d. 
R.-   u.   O.-Korr.,  Kap.  VHI  gegeben. 


126        Über  die  Methoden  der  Korrelationsreohniing  in  der  Pädagogik  usw. 

worin  t  und  Q  die  Größen  der  Gleichung  (14)  und  ±  x  die  von  der  Mitte  aus- 
zurechnenden Werte  des  Ausdehnungsgebietes  von  fc  sind.  Für  die  Wahr- 
scheinhchkeitskurve  der  r- Werte  lautet  diese  Näherungsformel  vermöge  des 
anderen  Ausdehnungsgebietes 


JL__.^' 


l^_=—^=e^,\ 


In (17)  und(18)iste=2,718281... und  ;:=  3,14152...!    (18) 


Dabei  bedeutet  qo  dasselbe  wie  in  Gleichung  (16),  also  gleich  -—  und  +x 

VI       - 

die  laufenden  Abszissenwerte  von  0  bis  +1. 

9.  Wir  sahen :  die  Häufigkeitsverteilung  in  den  Gleichungen  (7)  und  (8) 
sowie  die  daraus  folgenden  Gleichungen  für  das  arithmetische  Mittel,  der 
Streuungswert  und  die  Näherungsformel  für  die  Häufigkeits-  und  Wahr- 
scheinlichkeitskurven schließen  sich  an  die  Entwicklung  (1  + 1)'  an.  Dies 
ist  also  der  Ausdruck  dafür,  daß  bei  dem  einmaligen  völligen  Ausschöpfen 
aller  Fälle,  die  bei  ( Vergleichungen  möglich  sind,  im  Durchschnitt  auf  1 
Plus  1  Minus  kommt.  Wenn  nun  statt  dessen  bei  den  t  Vergleichungen  im 
Durchschnitt  auf  i  Pluszeichen  fc  Minuszeichen  kommen,  wenn  also  Ab- 
hängigkeit vorhanden  ist,  so  gibt  das  Binom  {i  +  /<;)',  von  dem  das  frühere 
nur  ein  Spezialfall  ist,  die  Grundlage  für  die  theoretischen  Betrachtungen 
ab.  Wir  können  in  i  und  k  auch  das  Verhältnis  der  Chancen,  die  in  jeder 
einzelnen  Vergleichung  für  Plus  und  Minus  bestehen,  erblicken.  In  zwei 
aufeinanderfolgenden  Vergleichungen  mit  dem  gleichen  Chancenverhältnis 
erhalten  wir  dann  für  das  Auftreten  der  Plus-  und  Minuszeichen  {i  +  k). 
{i+h)  Chancen,  da  jede  Chance  bei  der  zweiten  Vergleichung  mit  jeder  der 
ersten  zusammentreten  kann,  also  i^  Chancen  für  Plus-Plus,  i-k  im  Plus- 
Minus,  fc- 1  für  Minus-Plus  und  F  für  Minus-Minus ;  bei  t  Vergleichungen  haben 

wir  dann  entsprechend  (i  +  fc)' =  i'+ T  *)i'-i.ä;+ Q)i'T2/c2_^.-.-f-M   Y 

tfe'-i  +  fe'  Chancen,  daß  t  Plus  und  0  Minuo,  t — 1  Plus  und  1  Minus, 
t — 2  Plus  und  2  Minus 1  Plus  und  t — 1  Minus,  0  Plus  und  t  Minus  auf- 
treten. Wir  brauchen  also  wieder  nur  Plus  oder  nur  Minus  zu  berücksich- 
tigen, wenn  wir  die  Verteilung  der  Chancen  anschreiben  wollen.  Und  da  sich 
bei  einmaligem  Ausschöpfen  aller  Möglichkeiten  der  Vergleichungen  diese 
Chancen  ihren  Relationen  entsprechend  gelten  machen  würden,  so  haben  wir 
in  dieser  Chancenverteilung  zugleich  die  Verteilung  der  Häufigkeiten  der 
Minus-  oder  Pluszeichen.  Dies  ist  entsprechend  den  Gleichungen  (7)  und  (8) 
dargestellt  in  den  Gleichungen  (19)  und  (20) 

fe=  0    1  2  3  "•  t—1,  t      I 


Z  =  X 

oder  kürzer 


■*,Q)i'-fc^Q>'-'fc'---(,J.JiJ.'-',(J)«:' 


i^TV  [X  =  0,  1,  2,  ...«] 


(20) 


i 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.        127 

Das  arithmetische  Mittel  (K)  aller  k  und  die  entsprechende  mittlere  qua- 
dratische Abweichung  (Q)  gewinnt  man  auf  ähnlichem  "Weg  wie  früher.  Man 
erhält  für 

K  =  k  (21) 

und  für  z^»      *  •  fc  ,    . 

Nun  gehen  wir  wieder  zum  r-System  über.  Wenn  bei  unbegrenzter  Wieder- 
holung der  t  Vergleichungen  im  Durchschnitt  K  =  k  Minus  zu  verzeichnen 
sind,  so  ist  der  Grad  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  durch  die  Gleichung 

2K  2k 

ausgedrückt.    Die  zu  Xq  gehörige  mittlere  quadratische  Abweichung  qo  ergibt 

20 
sich  aus  der  Gleichung  (15)  q^  =  — ;  es  ist  also 


2}/ik  }/i'k 


qo=^r    T=^y  ~F  <24) 

Nach  Gleichung  (1)  ergibt  sich  aber  für  t=  — ^ -und  für  k  =— . 

Setzen  wir  diese  Beträge  in  Gleichung  (24)  ein,  so  bekommen  wir 

„=j/iEi:.^iEi.  (.5) 

Somit    ist    der    dem   Durchschnitt    der    %  Plus-    und    k  Minus- 
zeichen entsprechende  Grad  der  Abhängigkeit  durch  die  Dop- 

l/l  —  r2 
pelgleichung  :„  4-  qo  =  ^  4- f   charakterisiert. 

Es  liegt  also  ein  bestimmter  Grad  (r)  gegenseitiger  Abhängig- 
keit vor,  wenn  bei  genügend  häufiger  Wiederholung  der  i  Ver- 
gleichungen durch  die  Mittelwerte  r«  und  q«  aus  allen  Fällen 
die  Doppelgleichung  r,  j^  q«  =  to  +  qo  hinreichend  befriedigt  wird. 

10.  Wenn  wir  für  i  einen  bestimmten  Wert  einsetzen,  so  können  wir  mit 
Hilfe  der  Gleichungen  (19)  oder  (20)  die  jedem  resultierenden  theoretischen 
T-Wert  entsprechende  Häufigkeits-  oder  Wahrscheinlichkeitskurve  be- 
stimmen. In  der  Übersicht  IV  sind  die  Ordinatenwerte  (Hj)  der  Häufig- 
keitskurven für  die  fe- Werte  3,  2, 1  und  0  bzw.  die  theoretischen  Korrelations- 
werte 0,0;  0,33;  0,67  und  1  vergleichbar  dargestellt,  wenn  t=6  ist.  Die  Ver- 
gleichbarkeit konnte  hier  beim  immer  gleichen  i  einfach  dadurch  erreicht  wer- 


128        Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  ixsw. 


den,  daß  die  relativen  Häufigkeitswerte  bestimmt  wurden  und  zwar  der  Über« 
sichtlichkeit  wegen  in  prozentuellen  Häufigkeiten.    Es  ist  also  immer 


2;    100 


XJ 

'        S^ 

^;     1^0  +  qo 

K-^ 

0 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

r.-^ 

+  1 

-f  0,67 

+  0,33 

0,0 

—  0,33 

—  0,67 

—  1 

3;  0,00  +  0,4082 

Ho,^ 

1.56 

9.37 

23.44 

31.24 

23.44 

9.37 

1.56 

2;  0,33  +  0,3849 

■"0,33 

8.78 

26.34 

32.92 

21.95 

8.23 

1.64 

0.14 

1;  0,67  +  0,3043 

^0,^ 

33.49 

40.19 

20.10 

5.36 

0.80 

0.06 

0.00 

0;  1,00  +  0,0000 

^1.^ 

100.00 

0.00 

0.00 

0.00 

0.00 

0.00 

0.00 

(26) 


(IV) 


Wir  sehen  aus  dieser  Übersicht,  wie  mit  dem  Übergang  von  der  Unabhängig- 
keit zu  einer  bestimmten  Korrelationsgröße  die  Häufigkeitskurve  immer 
asymmetrischer  und  ihr  Ausbreitungsgebiet  immer  kleiner  wird ;  das  letztere 
ist  ja  auch  aus  den  nebenstehenden  Mittelwerten  zu  erkennen.  Für  die 
entsprechenden  negativen  Werte  erhalten  wir  dasselbe  Bild,  nur  im  Spiegel 
gesehen. 

Auch  für  die  asymmetrischen  Verteilungen  läßt  sich  für  größere  t  eine 
hinreichende  genaue  Näherungsformel  angeben.  Doch  will  ich  darauf 
hier  nicht  weiter  eingehen;  sie  hat  ja  auch  für  die  Theorie  wie  für  die 
Praxis  keine  große  Bedeutung.^) 

11.  Die  theoretischen  Mittelwerte  to  und  q^  kennzeichnen  diejenige  Form 
der  Abhängigkeit,  die  den  Gesetzen  der  binomialen  Verteilung  folgt.  Ob 
(i  +  ky  der  richtige  Ausdruck  für  die  Chancen  bei  t  Vergleichungen  ist, 
hängt  zunächst  davon  ab,  ob  das  Chancenverhältnis  für  sämtliche  Verglei- 
chungen dasselbe  bleibt.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  tritt  an  Stelle  des  Pro- 
duktes {i  -f  hy,  das  ja  nur  gleiche  Faktoren  enthält,  ein  anderes,  in  dem 
gleiche  und  verschiedene  Faktoren  gemischt  sind,  je  nachdem  das  Chancen- 
verhältnis bei  den  einzelnen  Vergleichungen  dasselbe  bleibt  oder  sich  ver- 
ändert. Sodann  ist  die  binomiale  Verteilung  der  Chancen  an  die  Bedingung 
geknüpft,  daß  sich  die  Chancen  nach  Maßgabe  ihrer  Größe  uneingeschränkt 
verbinden  können.  Diejenige  Form  der  Abhängigkeit,  bei  der  das 
Chancenverhältnis  oder  der  Wahrscheinlichkeitsbestand  in 
jedem  Versuch  der  gleiche  ist  und  bei  dem  keine  einschränken- 
den Bedingungen  für  das  Zusammenbestehen  der  Chancen  in 
den  einzelnen  Versuchen  vorliegen,  mag  als  reguläre  bezeichnet 
werden.    In  dieser  Bestimmung  sind  bereits  die  Wege  angedeutet,  wie  das 


1)  Vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Kprr.,  Kap.  VI. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  visw.        129 

Vorliaiidensein  regulärer  Abhängigkeit  geprüft  werden  kann.  Offenbar  muß 
bei  einer  hinreichend  großen  Zahl  von  Versuchen  die  empirische  Häufig- 
keitsverteilung der  theoretischen  sich  angleichen,  und  der  Durchschnittswert 
darf  sich  bei  einer  Vermehrung  der  Versuche  nicht  wesentlich  und  nicht  in 
einer  bestimmten  Richtung  ändern,  d.  h.  die  partiellen  Durchschnittswerte, 
die  sich  durch  Praktionierung  der  Versuche  von  je  t  Vergleichungen^)  ergeben, 
dürfen  keine  Sukzessionsabhängigkeit  besitzen;  dies  ist  aber  nur  mög- 
lich, wo  sich  der  Wahrscheinlichkeitsbestand  im  Laufe  der  Versuche 
nicht  ändert. 

12.  Die  theoretischen  Streuungswerte  zeigen  sich  nur  von  t  und  r  abhängig. 
Das  legt  nun  den  Gedanken  nahe,  für  eine  einzelne  empirisch  gegebene  Kon- 
stellation der  Varianten,  die  ja  immer  ein  bestimmtes  t  voraussetzt  und  zu 
einem  bestimmten  r  hinführt,  ebenfalls  einen  Streuungswert  zu  berechnen; 
wir  wollen  ihn  den  hypothetischen  Streuungswert  nennen  und  mit 
q/t  bezeichnen.  Wir  kommen  dabei  auf  das  Problem  zurück,  das  wii'  sogleich 
am  Anfang,  als  von  der  Verallgemeinerung  die  Rede  war,  berührten.  Die 
Bedeutung  des  hypothetischen  Streuungswertes  ist  mehr  die  eines  Sicher- 
heits-  oder  besser  Unsicherheitsmaßes  als  die  eines  eigentlichen  Streuungs- 
maßes ;  denn  wo  man  nur  einen  Einzelwert  hat,  kann  man  natürlich  schlecht 
von  einer,  Streuung'  sprechen;  diese  wird  viel  mehr  hypostasiert.  Aber  es 
ist  ganz  natüi'lich,  daß  ein  bestimmter  Wert,  aus  t  Vergleichungen  gewonnen, 
um  so  zuverlässiger  wird,  je  größer  man  dieses  t  selbst  nimmt,  und  das  haupt- 
sächlich soll  der  hypothetische  Streuungswert  ausdrücken.  Wenn  man  sich 
das  Wesen  dieses  Streuungswertes  klar  machen  will,  so  geht  man  am  besten 
vom  theoretischen  Streuungswert  und  der  ihm  entsprechenden  Wahrschein- 
lichkeits-  oder  Häufigkeitskurve  aus.  Der  theoretische  Streuungswert,  vom 
arithmetischen  Mittel  nach  rechts  und  links  abgetragen,  schneidet  auf  der 
Abszisse  der  Häufigkeitskurve  ein  bestimmtes  Stück  heraus,  auf  dem  eine 
größere  Anzahl  der  Einzelwerte  liegen  als  auf  den  übrigbleibenden  Stücken. 
Die  Masse  der  Einzelwerte,  die  innerhalb  des  theoretischen  Streuungswertes 
liegt,  verhält  sich  zu  der,  die  außerhalb  liegt,  etwa  wie  2  zu  1  oder  etwas 
genauer  wie  68  zu  32.  Ich  kann  also  2  gegen  1  wetten,  daß  irgendein  be- 
liebiger Einzel  wert  in  den  Streuungsbereich  hineinfällt.  Je  kleiner  nun 
der  Streuungswert  ist,  desto  eher  liegt  die  Mehrzahl  der  Einzel- 
werte  in  der  Nähe  des  Durchschnittswerts,  desto  mehr  wird 
auch  ein  Einzelwert  befähigt  sein,  diesen  Mittelwert  zu  re- 
präsentieren. Wir  können  nun  den  Einzelwert  r  als  das  Resultat  hypothe- 
tischer Konstellationen,  die  den  Gesetzen  der  binomialen  Verteilung  folgen, 
d.  h.  als  den  Durchschnittswert  von  hypothetischen  Einzelwerten  auffassen. 
Da  diese  der  Annahme  nach  genau  so  streuen  wie  die  theoretischen,  so  ist 
auch  der  hypothetische  Streuungswert  genau  nach  der  Formel 
des  theoretischen  zu  berechnen,  d.h.  man  setzt  in  der  Formel  für  r 
<len  empirisch  bestimmten  Betrag,  sowie  für  (  die  Anzahl  der  Vergleichungen 
»in  und  gewinnt  so  den  zu  r  gehörigen  hypothetischen  Streuungswert.     Mit 


')  Wo  ein  hinreichend  großes  t  vorHegt,  kann  man  natürlich  auch  mit  Erfolg  Frak- 
tionierungen  der  Vergleichimg  dvirchführen. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  P8ychologie.  9 


130        Über  die  Methoden  der  Korrelationarechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

einem  der  hypothetischen  Einzelwerte  würde  nun  auch  das  wirkhche  arith- 
metische Mittel  zusammenfallen,  das  ich  erhielte,  wenn  ich  den  gleichen  Versuch 
wiederholt  ausführte  und  den  resultierenden  Wert  bestimmte.  Es  gilt  somit 
für  dieses  arithmetische  Mittel  derselbe  Satz  über  den  Streuungswert  (s.  o.), 
der  für  die  theoretischen  Einzelwerte  gilt,  daß  ich  nämlich  2  gegen  1  wetten 
kann  darauf,  daß  es  innerhalb  dieses  Streuungsgebietes  liegt  und  daß  es 
infolgedessen  dem  Einzelwert  r  um  so  näher  liegt,  je  kleiner  dessen  hypothe- 
tischer Streuungswert  ist.  Nur  muß  die  Voraussetzung  berechtigt  sein,  daß 
die  hypothetischen  Konstellationen  der  binomialen  Verteilung  folgen.  Die  Be- 
rechtigung aber  dieser  Annahme  läßt  sich  prüfen,  und  das  ist  wichtig  —  denn 
Hypothesen,  die  einer  Prüfung  nicht  zugänglich  sind,  sind  schlecht.  Es  läßt 
sich  zeigen,  daß  eine  hinreichend  große  Zahl  von  Wiederholungen  des  gleichen 
Versuches  etwa  die  gleiche  Verteilung  ergeben  muß,  wie  die  angenommene, 
wenn  sie  auch  keine  direkte  Verifizierung  derselben  ist.^)  Soweit  das  hypo- 
thetische Streuungsmaß.  Es  gibt  uns,  falls  die  Annahme  begründet  ist,  ein 
Maß  in  die  Hand,  das  gestattet,  mit  einer  bestimmten  Wahrscheinlichkeit 
zu  sagen,  wie  nahe  das  arithmetische  Mittel  t^,  das  wir  bei  weiteren  Versuchen 
erhalten  würden,  dem  Einzelwert  r  liegt  und  ermöglicht  uns  so  ein  Urteil 
über  die  Unsicherheit,  die  besteht,  wenn  der  Einzelwert  r  als  Repräsentant 
des  wahren  Wertes,  d.  h.  des  arithmetischen  Mittels  aus  unendlich  vielen 
Bestimmungen  unter  den  gleichen  Verhältnissen  angesehen  werden  soll. 

Für  diesen  hypothetischen  Streuungswert  wollen  wir  trotz  der  formalen 
Gleichheit  mit  dem  theoretischen  nun  noch  die  Formel  anschreiben  und  auf 
unser  früheres  Beispiel  anwenden.   Es  ist  also 


C{h 


= ytiii.  (27) 


Für  das  Beispiel  aus  den  Schrenkschen  Untersuchungen  ergeben  sich 
für  die  Koeffizienten  r  und  r'  die  hypothetischen  Streuungswerte 

<„  =  [/i^  =  0.21  bzw.  ,'.  =  K^=0.*3. 

Der  Korrelationsgrad  ist  dann  in  dem  gegebenen  Fall  charakterisiert  durch 
x±qh  =  0,56  ±  0,21  bzw.  x'  +  (\h  =  0,50  ±  0,43.  Gemäß  der  Bedeutung 
von  qh  als  Unsicherheitsmaß  wird  (man  also  das  erste  (vollständige)  Ver- 
gleichsverfahren vorziehen,  da  bei  diesem  die  Unsicherheit  der  Größe  r  als 
eines  allgemeinen  Wertes  viel  geringer  ist. 

13.  Als  hypothetisches  Streuungsmaß  benützt  man  nun  meist  nicht  diesen 
hier  betrachteten  Streuungswert,  sondern  den  sogenannten  wahrschein- 
lichen Fehler;  er  bezeichnet  diejenige  Abweichungsgröße,  die  auf  der 
Abszisse  von  dem  Hauptwert  (etwa  xj  aus  nach  rechts  und  links  abgetragen 
ein  solches  Stück  der  Abszisse  herausschneidet,  daß  gerade  die  halbe  Masse 


»)  Vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.,    Kap.  IV. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechniing  in  der  Pädagogik  usw.        131 

der  Einzelwerte  darauf  zu  liegen  kommt;  man  kann  also  1  gegen  1  wetten, 
daß  ein  Einzelwert  in  das  Fehlergebiet  hineinfällt.  Grund  zu  seiner  Verwendung 
liegt  freilich  selten  oder  fast  gar  nie  vor;  im  Gregenteil,  er  erfordert  meist  eine 
kompliziertere  Berechnung.  Wo  binomiale  Verteilung  vorliegt,  wie  in  dem 
gegenwärtigen  Fall  ist  die  Berechnung  verhältnismäßig  einfach;  denn  hier 
ist  der  wahrscheinliche  Fehler  ziemlich  genau  durch  j  •  q^  gegeben  und  wird 
demgemäß  auch  mit  Hilfe  von  qn  bestimmt.^)  (Der  genaue  Wert  bei  sehr 
großem  t  ist  0,67449  •  qa.)  Da  der  Begriff  des  wahrscheinlichen  Fehlers  nichts 
Besonderes  besagt  und  seine  Bestimmung,  wie  angedeutet,  meist  umständ- 
lich ist,  so  genießt  er  auch  nicht  mehr  auf  allen  Gebieten,  wo  mit  statistischen 
Methoden  gearbeitet  wird,  die  gleiche  Achtung  wie  noch  in  manchen  psycho- 
logischen Darstellungen;  von  bedeutenden  Vertretern  der  Kollektivmaß- 
lehre und  WahrscheinUchkeitsrechnung  wird  er  bereits  in  die  „Sammlung 
historischer  Altertümer"  verwiesen.^)  In  der  Korrelationslehre  wird  dem 
wahrscheinlichen  Fehler  immer  ein  Satz  beigegeben,  der  im  Extrem  dahin 
lautet,  daß  Korrelationen,  die  den  wahrscheinlichen  Fehler  nicht  um  das 
Fünffache  übersteigen,  als  nicht  existierend  anzusehen  sind.  Die  ständige 
Wiederkehr  dieses  Satzes,  wenn  auch  in  abgeschwächten  Varianten,  läßt 
vermuten,  daß  der  Respekt  vor  ihm  wesentlich  größer  ist  als  die  Einsicht  in 
seinen  Sachverhalt.  Im  Grunde  genommen  läuft  er  ja  auf  das  gleiche  hinaus 
wie  die  aus  der  Methode  ,Corriger  la  fortune'  füeßende  Regel,  daß  man 
Extremwerte  bei  der  Berechnung  des  Durchschnitts  vernachlässigen  soll. 3) 
Man  wird  darum  auch  besser  fahren,  wenn  man  an  Stelle  dieses  Satzes  die 
Forderung  setzt,  daß  eine  bestimmte  Korrelationsgröße  nur  dann  als  all- 
gemein gültig  angesehen  werden  könne,  wenn  sie  das  Resultat  einer  einwand- 
freien Mittelwertbildung  aus  einer  hinreichend  großen  Zahl  von  zusammen- 
gehörigen Einzelversuchen  ist. 

Ich  habe  die  wichtigsten  allgemeinen  Betrachtungen  über  die  Korre- 
lationskoeffizienten und  ihre  Streuungsmaße  im  Zusammenhang  mit  dem 
m.  W.  neuen  Koeffizienten  r  erörtert.  Die  allgemeinen  Grundsätze  bei  den 
folgenden  Koeffizienten  zu  wiederholen,  ist  nicht  nötig,  sie  sind  ja  dieselben 
wie  hier ;  darum  können  wir  im  Folgenden  wesentlich  kürzer  sein.  Es  genügt, 
wenn  die  Methode  der  Bestimmung  charakterisiert,  die  theoretischen  Mittel- 
werte und  die  daraus  folgenden  Kriterien  der  Unabhängigkeit  und  Abhängig- 
keit formuliert,  die  Gleichungen  für  die  Wahrscheinlichkeitskurven  und  die 
hypothetischen  Streuungswerte  angegeben  werden.  (Fortsetzung  folgt.) 


*)  Mit  Recht  kennzeichnet  W.  Betz  in  seinem  Sammelreferat  (Über  Korrelationen, 
Leipzig  1911,  S.  21)  die  Berechnung  des  wahrsch.  Fehlers,  da  sie  fast  durchweg  mit 
Hilfe  des  Streuungswertes  geschehen  muß,  lediglich  als  eine  Sitte,  für  welche  keine 
eigentlich  begründenden  Motive  mehr  vorhanden  sind. 

*)  Vgl.  z.  B.  H.  Bruns,  Wahrscheinlichkeitsrechnung  und  Kollektivmaßlehre 
1906,  S.   123. 

»)  Vgl.  dazu  Die  Methode  der  R.-  u.  O.-Korr.   Kap.  VIII. 


9* 


132  Kleine  Beiträge  und  Mitteiltmgen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Zur  Psychologie  der  Rechtschreibungsf  ehler  bei  Schulkindern.  Als  ich  in 

der  Mitte  des  Schuljahres  ein  Kind  in  meine  Klasse  aufnahm,  fand  ich  dasselbe 
Diktat  in  seinen  Heften  zweimal  vor.  Bei  der  zweiten  Arbeit,  die  ein  Jahr  später  ge- 
schrieben worden  war,  kamen  nun  ganz  andere  Fehler  vor.  Das  veranlaßte  mich, 
auf  die  Beständigkeit   der   orthographischen   Fehler  zu  achten. 

Ich  lasse,  um  die  Rechtschreibung  zu  üben,  viel  an  die  Watidtaf  el  schreiben.  So- 
bald demKinde  ein  Fehler  ,, unterlaufen"  ist,  melden  sich  unaufgefordert  andere 
durch  Handheben.  Durch  das  verursachte  Geräusch  aufmerksam  gemacht,  er- 
kennt und  verbessert  es  den  Fehler;  meist  weiß  es  sich  selbst  zu  helfen,  nur  ganz 
selten  bedarf  es  fremder  Hilfe.  Wenn  die  Kinder  ihre  Aufsätze  und  Diktate 
zurückbekommen,  können  sie  fast  immer  die  angestrichenen  Fehler  ohne  weiteres 
verbessern,  und  sie  geben  mir  immer  zu,  daß  sie  alles  richtig  geschrieben  hätten, 
wenn  sie  aufmerksamer  gewesen  wären.  Bei  der  Rechtschreibung  handelt  es  sich 
also  weniger  um  das  Wissen  oder  Nichtwissen,  sondern  mehr  um  die  Aufmerk- 
samkeit. Der  Lehrer  wird  immer  die  besten  Erfolge  in  der  Rechtschreibung 
haben,  dem  es  gelingt,  die  Schüler  zur  größten  Aufmerksamkeit  zu  bringen.  Wer 
viel  korrigiert  hat,  dem  ist  es  eine  bekannte  Tatsache,  daß  manche  gut  vorbereitete 
Arbeit  durchgängig  sehr  schlecht  ausfiel ;  es  lag  dann  offenbar  an  irgendwelchen 
äußeren  Umständen,  die  die  Aufmerksamkeit  beeinflußten:  bevorstehende  oder 
verflossene  Feste,  Wetter,  Lage  der  Stunde  u.  a.  Heute  schreibt  das  Kind  falsch, 
was  ihm  ein  andermal  nicht  passiert.  Die  Richtigkeit  dieser  meiner  Anschauung 
über  die  Ursache  mangelhafter  Erfolge  im  Rechtschreibungsunterricht  er- 
probte ich  nun  durch  den  folgenden  Versuch. 

Ich  ließ  von  11 — 12  jährigen  Mädchen  aus  dem  Gedächtnis  den  Spruch  auf- 
schreiben: Matth.  11,  28 — 30:  Kommet  her  zu  mir  alle,  die  ...  Er  war  schon  vor 
einem  halben  Jahre  gelernt  worden,  durch  öfteres  unauffälliges  Wiederholen 
sorgte  ich  dafür,  daß  er  allen  geläufig  war,  doch  vermied  ich  dabei,  daß  er  ge- 
lesen wurde.  Die  Versuche  wurden  dreimal  ausgeführt  mit  einem  Zwischenraum 
von  14  Tagen.  Die  Kinder  saßen  einzeln,  so  war  ein  Absehen  unmöglich.  Auch 
nach  dem  Versuch  war  jede  Unterhaltung  und  das  Nachsehen  in  den  Spruch - 
büchern  verhindert.  Es  schloß  sich  sofort  der  Unterricht  an,  und  in  der  Pause 
wurde  durch  Atemübungen  für  Ablenkung  gesorgt.  Mehrere  Wochen  nach  diesen 
drei  Versuchen  diktierte  ich  mit  nachlässiger  Aussprache  lediglich  die  falsch  ge- 
schriebenen Wörter;  vorher  ermahnte  ich  zu  größter  Aufmerksamkeit. 

Die  Niederschriften  hatten  folgende  Ergebnisse: 


38  F. 


II 


38  F. 


III 


32  F. 


IV 


24  F. 


Die  Fehlerzahlen  der  drei  in  Betracht  kommenden  Versuche  differieren  nur 
wenig;  wie  steht  es  aber  mit  der  Beständigkeit  der  Fehler?  Nach  den  an- 
gegebenen Zahlen  scheint  es,  als  hätten  die  Kinder  ziemlich  gleichmäßig  ge- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


133 


arbeitet.  Die  Summen  sind  in  zwei  Fällen  gleich  und  in  einem  Falle  wenig  ab- 
weichend, doch  setzen  sie  sich  ganz  verschieden  zusammen.  Am  besten  ersieht 
man  das  aus  der  Fehlerübersicht,  die  bei  der  Schülerin  St.  folgendermaßen 
aussieht : 


I 

II 

III 

IV 

müselig 

r. 

r. 

r. 

nemet 

dgl. 

dgl. 

r. 

r. 

seit 

r. 

r. 

r. 

(de)müdig 

(de)mühdig 

r. 

r. 

r. 

last 

r. 

r. 

r. 

r. 

euhre 

r. 

r. 

r. 

erquicken 

Sa. 

2 

3 

4 

2 

Die  Schülerin  St.  hat  im  Durchschnitt  3  Fehler,  und  es  kommen  doch  siebenerlei 
Fehler  vor;  nur  einer  ist  beständig,  der  bei  IV  auch  noch  verschwindet;  hier 
treten  2  Fehler  auf,  die  dreimal  vermieden  worden  waren.  Ähnlich  ist  es  bei  den 
andern  Kindern.  Von  den  38  Fehlern  des  I.  Versuches  blieben  beim  II.  Versuch 
nur  17  dieselben,  21  traten  neu  auf.  Die  32  Fehler  des  III.  Versuches  setzen  sich 
wie  folgt  zusammen :  10  Fehler  wie  bei  I,  8  Fehler  wie  bei  II,  14  Fehler  neu.  End- 
lich unter  den  nach  Diktat  geschriebenen  Wörtern :  3  Fehler,  die  beständig  waren, 
3  Fehler  von  I,  die  in  II  bzw.  III  vermieden  worden  waren,  8  Fehler,  die  in  II 
bzw.  III  neu  auftraten,  10  Fehler  neu. 

Es  ist  erstaunlich,  wie  sehr  die  Fehler  wechseln,  wie  wenig  beständig  sie  sind. 
Bei  dem  3.  Versuch  ist  nur  V^ geblieben,  und  doch  ist  die  Summe  nicht  wesentlich 
gefallen.  Wenn  man  die  Klassen-  und  besonders  die  Prüfungsarbeiten  ansieht, 
so  findet  man,  daß  die  Durchschnittszahlen  nicht  wesentlich  schwanken.  Die 
Kinder  sind  einer  ihrem  Alter  und  ihrer  physischen  und  psychi- 
schen Beschaffenheit  entsprechenden  Aufmerksamkeit  fähig,  nach 
der  sich  die  Sicherheit  in  der  Rechtschreibung  richtet.  Beim 
Schreiben  ist  bald  dieses,  bald  jenes  Wort  von  der  Aufmerksamkeit  weniger 
begünstigt,  und  daher  kommt  die  Unbeständigkeit  der  Fehler.  Wenn  ein  Wort 
falsch  geschrieben  wird,  so  liegt  es  seltener  an  dem  falschen  Wortbild,  sondern 
viel  öfter  an  einem  augenblicklichen  Sichgehenlassen,  deswegen  tritt  eben  der 
Fehler  bald  an  dieser,  bald  an  jener  Stelle  auf;  er  ist,  wie  man  sagt,  unterlaufen; 
er  ist  nicht  mit  Bewußtsein,  sondern  aus  Versehen  geschehen.  Ich  habe  gefunden, 
daß  manche  Kinder  ganz  plötzlich  fehlerlos  arbeiteten;  da  sind  nun  nicht  mit 
einemmal  alle  falschen  Wortbilder  korrigiert  worden,  sondern  der  Höchstgrad  der 
Aufmerksamkeit  war  erreicht ;  die  sprunghafte  Entwicklung  ist  dem  Psychologen 
und  dem  Pädagogen  eine  bekannte  Tatsache.  In  den  Stilarbeiten  wird  immer 
besonders  viel  gegen  die  Rechtschreibung  gesündigt,  denn  hier  sind  die  Gedanken 
auf  den  Inhalt  konzentriert ;  ganz  besonders  fällt  das  bei  der  ersten  Niederschrift 
ins  Tagebuch  auf.  Auch  in  den  untersten  Schuljahren  kann  man  beobachten, 
daß  die  Rechtschreibung  bekannter  Wörter  bald  eingeprägt  ist  und  daß  in  kleinen 


134  Kleine  Beiträge  iind  Mitteilungen. 

Diktaten  nicht  allzu  Schlechtes  geleistet  wird;  doch  wenn  die  Kinder  ihre  Gre- 
danken  niederschreiben,  sind  die  Wörter  kaum  zu  entziffern. 

Mein  Versuch  will  zeigen,  daß  man,  wenn  die  Kinder  in  Mittel-  und  Ober- 
klassen noch  nicht  in  der  Rechtschreibung  sicher  sind,  nicht  dadurch  hilft, 
daß  man  nun  über  diese  und  jene  Schwierigkeit  noch  einige  Stunden  länger  unter- 
richtet, sondern  daß  man  vor  allem  auch  die  Ausdauer  in  der  Aufmerksamkeit  übt. 

Chemnitz  i.  Sa.  Otto  Schreyer. 

Über  Kinder-  und  Jugendselbstmorde  veröffentlicht  Geh.  Medizinalrat  Prof. 
Dr.  A.  Eulenburgi),  der  schon  in  früheren  Arbeiten  bedeutsame  Aufschlüsse 
über  den  freigewählten  Tod  im  jugendlichen  Alter  gegeben  hat,  die  Bearbeitung 
einer  Sammlung  von  323  aus  den  letzten  4  Jahren  stammenden  Fällen.  Die  Ver- 
teilung auf  Alter  und  Geschlecht  ergibt  folgendes  Bild: 


I 


Altersstufe 

männlich 

weiblich 

im  ganzen 

bis   10  Jahre 

12 

7 

19 

11—15  Jahre 

78 

35 

113 

16—20  Jahre 

101 

90 

191 

191 

132 

323 

Im  ganzen  ergibt  sich  darnach  (mit  dem  Verhältnis  von  1,45  :  1)  ein  Überwiegen 
des  männlichen  Geschlechtes,  das  besonders  im  Altersraum  vom  11. 
bis  zum  15.  Jahr  grell  hervortritt,  während  in  der  darauffolgenden  Stufe,  wie  dies 
auch  die  frühere  Statistik  zeigte,  eine  auffallende  Annäherung  der  Zahlen  statt- 
findet. 

Wie  in  der  Häufigkeit,  so  weisen  die  Geschlechter  auch  in  den  Motiven  be- 
deutende Unterschiede  auf.  Bei  den  Selbstmorden  der  weiblichen  Jugend  steht 
obenan  alles,  was  mit  Liebesgeschichten  zusammenhängt:  Liebeskummer,  un- 
glückliche Liebe,  verschmähte  Liebe,  Widerstand  der  Eltern,  Verlassenwerden, 
Verfehlung  usf.  Daneben  spielen  Furcht  vor  Strafe,  lieblose  Behandlung,  Zer- 
würfnis in  der  Familie  oder  im  Dienst,  schwerere  Gemütsaffekte  (Schmerz,  Angst, 
Verzweiflung,  Empfindlichkeit,  Trotz  und  auch  unheilbare  Erkrankung  eine 
im  ganzen  seltenere,  aber  doch  immerhin  beachtenswerte  Rolle.  Dagegen  herrscht 
bei  den  männlichen  jugendlichen  Selbstmördern  mit  40,8  %  die  Furcht  vor  Be- 
strafungen, vor  schlechten  Zeugnissen,  Nichtversetzung,  verbunden  mit  Schul- 
überdruß, entschieden  vor.  Hinzu  treten  Angst  und  Reue  bei  Veruntreuung, 
Unterschlagimg,  Diebstahl,  ferner  Aufnötigmig  eines  mißliebigen  Berufes,  harte 
Behandlung  und  ähnliches.  Nur  in  28  Fällen,  d.  i.  bei  14,6  %,  werden  Liebes- 
vorkommnisse als  Ursache  angeführt;  seltener  findet  sich  —  und  dann  auf  geistige 
Defekte  hindeutend  —  Trübsinn,  Lebensüberdruß,  Trunkenheit,  hochgradige 
Nervosität  angegeben;  es  dürfte  aber  nach  anderen  Feststellungen  Eulenburgs 
bei  gegen  10  %  eine  zugrunde  liegende  Geistesstörung  anzunehmen  sein. 


^)   Sammlung  zwangloser  Abhandliingen  aus  dem  Gebiete  der  Nerven-  und  Geistes- 
krankheiten.    X.  Bd,  Heft  6,  Halle  a.  S.  1914. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


135 


Von  differentiell-psychologischem  Interesse  ist  schließlich  auch  Eulenburgs 
Aufstellung  über  den  Weg,  den  die  Jugendlichen  beim  Scheiden  aus  dem 
Leben  wählen: 


Todesart 


männlich       weiblich 


im  ganzen 


Überfahren  durch  Eisenbahnzug    .   .   . 

Vergiftung     

Sturz  aus  dem  Fenster 

Erhängen    

Ertränken 

Erschießen 

Verschieden  und  unbekannt  geblieben 


7 
15 
12 
47 
20 
82 


3 
34 

26 

5 

40 

18 

6 


10 
49 
38 
52 
60 
100 
14 


191 


132 


323 


Bemerkenswert  erscheint  das  verhältnismäßig  häufige  Vorkommen  des  ge- 
meinsamen Selbstmordes  bei  Jugendlichen.  Eulenburg  stellte  66  Fälle 
fest,  darunter  29  männliche  und  37  weibliche  (einmal  4  weibliche  und  einmal 
3  männliche)  und  16  Liebespaare. 

Zur  Frage  der  rangmäßigen  Schulplätze  äußert  sich  bemerkenswert  Wirkl. 
Geh.  Rat  Dr.  Bernhard  Dernburg  in  der  Voss.  Zeitung.  Anlaß  bietet  ihm  die 
Verordnung  der  obersten  Schulbehörde,  nach  der  wegen  verschiedener  betrüb- 
licher Vorfälle  —  gemeint  sind  Schülerselbstmorde  —  das  Setzen  der  Schüler 
nach  dem  Grade  ihrer  Leistung  untersagt  wird.  Er  schreibt:  Zweck  der  Schule 
ist,  auf  das  Leben  vorzubereiten.  Das  Leben  aber  ist  ein  Kampf  mit  Widerständen 
imd  Hemmungen,  die  in  der  eigenen  Natur,  in  dem  Wettbewerb  mit  anders  Gear- 
teten oder  besser  Konstituierten  und  mit  den  äußeren  Umständen  liegen,  geführt 
werden  muß.  Diesen  Tatsachen  muß  die  Vorbereitung  entsprechen.  Die  Schule 
darf  nicht  nur  belehren,  sie  soll  Charaktere  erziehen.  Auch  das  ist  nur  möglich  im 
Kampf.  Deswegen  ist  es  richtig  und  nötig,  daß  dieser  Kampf  auch  bereits  in  der 
Schule  einsetzt.  Es  ist  billig  und  richtig,  daß  der  fleißige,  aufmerksame  und  be- 
gabte Schüler  den  Lohn  dieser  Eigenschaften  erhalte ;  es  ist  nötig,  daß  der  faule 
und  träge  angestachelt,  daß  der  minderbegabte  die  Resignation  übe  und  lerne, 
daß  er  nur  zu  einer  mittleren  Leistung  berufen  ist. 

Es  ist  im  Interesse  des  Unterrichts,  der  Frische  und  der  Freudigkeit  von  Lehrern 
und  Schülern  wichtig,  daß  ein  Wettbewerb  stattfinde  und  daß  allen  die  Ver- 
besserung der  Leistungen  und  die  vollständige  Beherrschung  des  Lehrplanes  als 
ein  selbstverständliches  Ziel  gesteckt  werde.  Geschieht  das  nicht,  so  werden 
nicht  frisch-fröhliche  Männer  mit  gesundem  Ehrgeiz,  großer  Absichten  und  bereit 
für  den  Kampf  der  Geister  aus  den  Schulen  entlassen,  sondern  bestenfalls  mittel- 
mäßige Subalterne,  die  ihren  Anspruch  auf  Stellung  in  der  Welt  auf  die  Anzahl 
der  abgedienten  Jahre  und  versessenen  Hosenpaare  gründen.  Ich  bin  der  An- 
sicht, daß  wir  von  diesem  Geist  doch  wohl  bei  uns  reichlich  genug  haben  und 
daß  eine  solche  Richtung  bei  der  fortschreitenden  Bureaukratisierung  und  Ver- 
beamtung  unseres  Vaterlandes  heute  schon  einen  größeren  Raum  einnimmt  als 
heilsam  ist. 


136  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Wer  immer  den  Versuch  gemacht  hat,  besonders  begabte  Menschen  über  die 
Köpfe  anderer  hinweg  an  die  Stelle  zu  bringen,  wo  sie  zu  voller  Leistung  kommen 
können,  wird  das  ohne  weiteres  unterschreiben.  Es  ist  ja  sehr  verständig  und 
warmherzig  gedacht,  wenn  man  junge  Menschen  nicht  leiden  lassen  will  für  Dinge, 
für  die  sie,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  „nichts  können";  aber  das  ist  doch  verhältnis- 
mäßig selten  der  Fall,  Gewöhnlich  kann  bei  den  herabgeschraubten  Anforde- 
rungen, die  die  Schule  heute  stellt,  ein  wirklich  gewissenhafter  Schüler  das  Pensum 
ohne  weiteres  erreichen.  Daß  der  Ehrgeiz  nicht  überspannt  und  das  Ziel  nicht 
zu  weit  gesteckt  wird,  dafür  müssen  verständige  Schulleiter  und  kluge  Lehr- 
pläne sorgen. 

Wenn  trotzdem  die  auch  von  uns  schwer  beklagten  Unglücksfälle  von  Zeit  zu 
Zeit  eintreten,  so  wird  vermutlich  die  Schule  in  den  seltensten  Fällen  dafür  ver- 
antwortlich gemacht  werden  dürfen.  Sehr  viel  öfter  liegt  der  Fehler  sicherlich 
im  Haus,  bei  ehrgeizigen  Eltern,  die  übertriebene  Anforderungen  stellen,  den 
Wert  der  Zensur  und  des  Platzes  überschätzen,  dem  gedrückten  Kinde  nicht 
rechtzeitig  zu  Hilfe  kommen  mit  gutem  Rat  und  der  Lehre  der  Selbstbescheidung 
gegenüber  dem  Unmöglichen,  die  nicht  in  Fühlung  sind  mit  der  Stellung  ihrer 
Kinder  und  für  ihre  geistige  und  körperliche  Diät  nicht  hinreichend  sorgen. 
Es  ist  traurig,  wenn  ein  begabtes  Menschenkind  glaubt,  aus  dem  Leben  scheiden 
zu  müssen,  weil  es  statt  des  ersten  Platzes,  auf  den  es  Anrecht  zu  haben  glaubt, 
nur  den  zweiten  erhält;  solch  ein  Fall  ist  kürzlich  vorgekommen.  Aber  deshalb 
den  Wettstreit  in  Schule  und  Spiel,  im  Kampf  der  Greister  und  Körper  ausscheiden 
zu  wollen,  nimmt  der  Schule  vielleicht  das  Beste,  was  sie  für  die  Charakter- 
erziehung aufzubringen  vermag. 

Was  sie  an  positiven  Kenntnissen  dem  Kinde  mitgibt,  ist  gegenüber  den  An- 
forderungen des  modernen  Lebens  außerordentlich  gering.  Im  wesentlichen  lehrt 
man  in  der  Schule,  wie  man  lernen  soll.  Charakterbildung  durch  Anregung  des 
gesunden  Ehrgeizes,  durch  Verweisung  auf  die  Beispiele  der  Großen  aller  Zeiten, 
die  im  Kampf  mit  Not  und  Mißgunst  gegen  Ungerechtigkeit  und  Druck  dem 
Vaterlande  große  Dienste  geleistet  haben,  ist  vielleicht  das  wertvollste  Gut,  das 
die  Schule  mitgibt.  Ich  fürchte,  daß  der  betreffende  Erlaß  zum  mindesten  in 
seiner  Tendenz  nicht  das  Richtige  trifft,  daß  Schwachherzige,  Rückgratschwache 
und  Indolente  einen  zweifelhaften  Nutzen,  der  ganze  Schulbetrieb  aber  einen 
dauernden  Schaden  davon  haben  wird. 

Nun  ist  ja  wohl  anzunehmen,  daß  die  verschiedenen  Lehrkörper  vor  Erlaß  der 
Maßnahme  ausreichend  gehört  sind.  Wer  sicher  nicht  gehört  ist,  sind  die  Eltern. 
Schule  und  Haus  aber  teilen  sich  in  die  Erziehung;  der  Gegenstand  der  Erziehung 
ist  bei  beiden  verschieden ;  die  Tendenz  muß  die  gleiche  sein.  Wäre  es  nicht  richtig, 
nunmehr  noch  nachträglich  eine  Enquete  auch  über  die  Meinung  der  Eltern  zu 
eröffnen,  von  der  ich  überzeugt  bin,  daß  sie  trotz  der  Misere,  die  besonders  in  der 
Großstadt  mit  der  Erziehung  dieser  besonders  gearteten  Jugend  verknüpft  ist, 
auf  die  Seite  des  hier  entwickelten  Gedankenganges  treten  wird? 

Aus  amerikanischen  Koedukationsschulen  berichtet  in  der  ,, Deutschen 
Schule"  Dr.  Charles  L.  Henning,  Denver,  auf  Grund  eines  fast  fünfzehn- 
jährigen Studiums  Tatsachen  über  das  Gemeinschaftsleben  zwischen  Knaben 
und    Mädchen,     die    vielfach     den    Mitteilungen    unserer     deutschen    Päda- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  137 

gogen,  die  Studienreisen  nach  Amerika  unternommen  haben,  widersprechen. 
Er  schreibt:  ^ 

„Es  ist  eine  jedem  Beobachter  amerikanischer  Schulzustände  bekannte  Tat- 
sache, daß  schon  in  der  Publicschool  jedes  „girl"  ihren  „boy"  und  jeder  „boy" 
sein  ,,girr'  hat.  Kinder  von  10  oder  11  Jahren  machen  kein  Hehl  aus  ihren 
„sweethearts",  und  diese  jugendlichen  Verliebten  geben  durch  Austausch 
von  Geschenken,  Zuckerzeug  und  dergleichen  ihrer  gegenseitigen  Zuneigung  be- 
redten Ausdruck,  Der  „boy"  betrachtet  es  als  ,,gentlemanlike",  seiner  jungen 
Angebeteten  dadurch  seine  Aufmerksamkeit  zu  bezeugen,  daß  er  sie  in  die  in 
jeder  Stadt  massenhaft  vorhandenen  Wandelbildertheater  (moving  picture-  oder 
nickel  shows)  mitnimmt,  mit  ihr  tanzt,  sie  zu  Hause  besucht  u.  a.  m.  In  den 
Highschools  finden  dann  diese  Aufmerksamkeiten  und  ihre  Liebesbezeugung 
ihre  potenzierte  Fortsetzung,  und  das  in  der  Publicschool  noch  verhältnismäßig 
harmlose  Tändeln  wächst  allmählich  in  Leidenschaft  aus.  Es  genügt,  Gesprächen 
von  jungen  Highschool-boys  und  -girls  in  einem  Straßenbahnwagen,  bei  öffent- 
lichen Gelegenheiten  oder  auch  während  der  Schulpausen  zuzuhören,  um  sich 
zu  überzeugen,  daß  es  sich  dabei  um  ganz  andere  Dinge,  als  um  Algebra,  Cäsar 
oder  Livius  handelt.  Anzüglichkeiten  unzweifelhafter  Natur,  um  nicht 
zu  sagen,  Obszönitäten,  werden  laut  hörbar  ausgesprochen,  und  die  Freiheit 
des  Verkehrs  der  beiden  Geschlechter  kommt  dabei  mehr  als  nötig  zu  ihrem 
Recht.  Daß  dieses  Anknüpfen  und  Unterhalten  von  Liebschaften  dem  zu  Stu- 
dienzwecken die  Highschool  besuchenden  jungen  Mädchen  oder  Jüngling  nicht 
förderlich  sein  kann,  liegt  auf  der  Hand.  Wie  kann  ein  Junge,  der  dieselbe  Klasse 
mit  seiner  Angebeteten  teilt,  Interesse  am  Unterricht  haben,  wenn  seine  Ge- 
danken sich  mit  seinem  wenige  Schritte  entfernt  sitzenden  ,,girl"  beschäftigen! 
Wie  kann  eine  Schülerin  dem  Lehrgegenstand  Interesse  entgegenbringen,  wenn 
sie  beständig  daran  denkt,  daß  sie  heute  abend  von  ihrem,  ihr  nahesitzenden 
,,boy"  ins  Theater  geleitet  oder  zur  Tanzhalle  geführt  wird!  Die  Moral  wird 
also  in  erster  Linie  durch  die  Koedukation  nicht  gefördert.  Hierzu  kommt 
noch  folgendes.  Es  ist  eine  in  den  Vereinigten  Staaten  weit  bekannte  Tat- 
sache, die  durch  viele  Beispiele  belegt  werden  kann,  daß  auf  Grund  des  überall 
herrschenden  sehr  freien  Verkehrs  der  Geschlechter,  sei  es  innerhalb 
oder  außerhalb  der  Schulräume,  sehr  häufig  ,, etwas  vorkommt",  d.  h.  daß  junge 
schulpflichtige  Mädchen  (auch  schon  in  den  Publicschools)  sich  in  gesegneten 
Umständen  befinden  und  dann  einige  Wochen  irgendwo  ,,der  Ruhe  pflegen". 

Ferner  sind  die  sog.  „Fraternities"  oder  „Sororities",  geheime  Gesell- 
schaften und  Vereinigungen,  deren  Versammlungen  stets  hinter  verschlossenen 
Türen  abgehalten  werden  und  die  an  sehr  vielen  Highschools  bestehen  (in  einigen 
Staaten  sind  diese  Verbindungen  allerdings  streng  verboten,  bestehen  aber  trotz- 
dem im  geheimen),  jedenfalls  nicht  geeignet,  die  in  Amerika  bei  jeder  offiziellen 
oder  nichtoffiziellen  Gelegenheit  mit  besonderm  Nachdruck  betonte  ,, Moral" 
zu  fördern,  und  die  Enthüllungen,  die  ab  und  zu  in  die  Öffentlichkeit  dringen, 
sind  derart,  daß  man  darüber  lieber  des  Sängers  Höflichkeit  schweigen 
läßt.  Die  betreffenden  Klubs  nennen  sich  nach  Buchstaben  des  griechischen 
Alphabets,  wie  „Alpha-,  Beta-Sorority",  „Omega-,  Lambda-Fraternity"  usw. 

Aus  einem  überaus  sorgfältig  abgefaßten  Bericht,  der  von  einem  Komitee 
der  Young  Men's  Christian  Association  (Y.  M.  C.  A.)  über  die  genannten  Frater- 


138  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

nities  und  das  soziale  Leben  an  den  Highschools  kürzlich  erstattet  wurde,  geht 
hervor,  daß  sie  ,, exklusiv,  selbstsüchtig  und  gemeinschädlich"  sind. 
Nach  einem  älteren  Bericht  derselben  Stelle  über  dieMoralität  der  Jugend 
in  Detroit,  Mich.,  sind  dort  die  jungen  Mädchen  ebenso  verkommen  wie 
die  Jungen.  Die  Knaben  besuchen  in  großer  Zahl  sogenannte  ,,poolrooms", 
lesen  ausgiebig  schlüpfrige  Literatur  und  setzen  obszöne  Bilder  in  Umlauf  (be- 
sonders in  den  Highschools),  besuchen  verrufene  Häuser  oder  sogar  ,,boarding 
houses"  zu  unsittlichen  Zwecken.  Der  Bericht  gibt  als  Alter  der  Besucher  der- 
artiger Lokale  das  14.  bis  17.  Lebensjahr  an  und  betont,  daß  75  Prozent  der  High- 
school-Jugend  Gewohnheitsraucher  und  -trinker  sind.  Hierzu  bemerkte  der 
Jugendrichter  Ben  Lindsey  in  Denver,  daß  ähnliche,  wenn  nicht  noch 
schlimmere  Zustände  in  Denver  bestehen,  eine  Wahrnehmung,  die  ich  auf  Grund 
einer  achtjährigen  Erfahrung  in  dieser  Stadt  bestätigen  kann.  Und  wie  es  in 
Detroit  und  Denver  mit  „Jung-Amerika"  bestellt  ist,  so  ist  es  von  Küste 
zu  Küste. 

Ereignet  sich  nun  der  Fall,  daß  ein  Highschoolgirl  oder  -boy  von  der  Schule 
ausgeschlossen  wird,  dann  bleibt  auf  der  Stelle  die  ganze  Klasse,  zu  welcher 
der  oder  die  Exmittierte  gehört,  vom  Unterricht  so  lang  weg,  bis  die  Betreffenden 
wieder  ,,zu  Gnaden"  angenommen  werden. 

Zahllos  sind  ferner  die  Durchbrennereien  (elopements)  von  Highschool- 
boys  mit  -girls,  die  dann  von  der  jederzeit  zur  Enthüllung  eines  Skandals  —  je 
schmutziger,  desto  besser  —  bereiten  Sensationspresse  aufgegriffen,  möglichst 
breit  getreten  und  —  als  ,, Liebesromanzen"  verherrlicht  werden." 

Die  internationale  Regelung  der  Kinderarbeit  ist  durch  eine  vorberatende 
Arbeitsgemeinschaft,  die  im  September  vorigen  Jahres  in  Basel  zusammen- 
trat, ein  wesentliches  Stück  gefördert  worden.  An  den  Verhandlungen  nahmen 
außer  den  Abgeordneten  der  Landesgruppen  innerhalb  der  internationalen 
Vereinigung  auch  eine  Anzahl  von  Vertretern  der  verschiedenen  Staatsregierungen 
teil.  In  den  Beratungen  traten  deutlich  die  weit  auseinandergehenden  An- 
schauungen der  verschiedenen  Nationen  zutage  und  die  sich  daraus  für  eine  inter- 
nationale Regelung  ergebenden  Schwierigkeiten. 

Man  einigte  sich  schließlich  auf  folgende  Vorschläge,  die  im  Herbste  1914 
der  Hauptversammlung  der  Internationalen  Vereinigung  für  gesetzlichen  Ar- 
beiterschutz zur  Verhandlimgsgrundlage  dienen  sollen: 

,,Die  Verwendung  von  Kindern  zur  Erwerbsarbeit  vor  dem  vollendeten 
12.  Lebensjahre  oder,  falls  die  Schulpflicht  länger  dauert,  bis  zur  Vollendung 
der  Schulpflicht,  soll  verboten  sein.  Nicht  mehr  schulpflichtige,  über  12  Jahre 
alte  Kinder  dürfen  höchstens  4  Stunden,  in  der  Landwirtschaft  höchstens 
6  Stunden  beschäftigt  werden.  In  der  Landwirtschaft  dürfen  auch  schulpflichtige 
Kinder  von  mehr  als  10  Jahren  zu  leichten  Arbeiten  verwendet  werden,  jedoch 
höchstens  3  Stunden  an  Schultagen  und  6  Stunden  an  schulfreien  Tagen.  Sonn- 
tags- und  Nachtarbeit  sind  verboten.  Als  Nachtarbeit  hat  die  Arbeit  von  8  Uhr 
abends  bis  8  Uhr  morgens,  in  der  Landwirtschaft  von  8  Uhr  abends  bis  6  Uhr 
morgens  zu  gelten.  Ausnahmen  sollen  nur  bei  unaufschiebbaren  Arbeiten  ge- 
stattet sein.  Familienfremde  Kinder  sind  vor  der  Zulassung  zur  Erwerbsarbeit 
einer  amtsärztlichen  Untersuchung  zu  unterwerfen.    Die  Gewerbeaufsicht  kann 


Kleine  Beiträge  und  Mitteiliingen.  139 

auch  bei  den  in  der  Familie  erwerbstätigen  Kindern  auf  ärztliche  Prüfung  der 
hygienischen  Verhältnisse  dringen,  Beschäftigungen  mit  gewissen  behördlich 
zu  bezeichnenden  gesundheits-  und  sittlichkeitsschädlichen  Verrichtungen 
sollen  verboten  werden,  ebenso  der  Straßenhandel,  die  Beschäftigung  imGast- 
gewerbe  und  bei  Schaustellungen."  Weitere  Wünsche  betrafen  die  Schadlos- 
haltung bedürftiger  Eltern  durch  Fürsorgemaßnahmen,  Errichtung  von  Mindest- 
lohnämtem  in  der  Heimarbeit,  Verbot  der  Verabreichung  geistiger  Getränke 
an  Kinder  während  der  Arbeit  und  als  Lohn;  Bekanntmachung  der  Eltern 
oder  gesetzlichen  Vertreter  mit  den  Vorschriften  über  Kinderschutz,  Verschär- 
fung der  Gewerbeaufsicht  für  Kinder,  endlich  die  Einleitung  statistischer  Erhe- 
bungen verschiedener  Art,  insbesondere  über  Zahl  der  Gesetzesübertretungen, 
den  Arbeitsverdienst  der  Eltern  erwerbstätiger  Schulkinder  sowie  den  Verdienst 
verwaister  und  ausländischer  Kinder. 

Eine  Umfrage  über  die  Wirkungen  des  Kindergartens  veranstaltet  Fräulein 
Nelly  Wolffheim.    Sie  bittet  um  Beantwortung  folgender  Fragen^): 

1.  Wie  sieht  der  Kindergarten  in  der  Rückerinnerung  der  ehemaligen  Kinder- 
gartenzöglinge aus? 

a)  Welcher  Art  sind  die  Erinnerungen  und  Vorstellungen,  die  der  Erwachsene 
vom  Kindergarten  behalten  hat?  Wiegen  heitere  oder  trübe  Momente 
vor? 

b)  Welchen  Platz  nimmt  die  Kindergärtnerin  in  der  Erinnerung  ein? 

c)  Welche  Rolle  spielen  die  Fröbelschen  Beschäftigungen  und  ähnliche 
Handfertigkeiten  in  der  Erinnerung? 

d)  Sind  Erinnerungen  an  andere  im  Kindergarten  vorgenommene  Beschäf- 
tigungen oder  Spiele  in  der  Erinnerung  geblieben? 

2.  Welcher  nachhaltige  Einfluß  in  erziehlicher  Hinsicht  wurde  dem  Erwach- 
senen später  deutlich? 

a)  Sind  Erinnerungen  darüber  vorhanden,  ob  und  in  welcher  Weise  der 
Besuch  des  Kindergartens  die  erste  Schulzeit  beeinflußt  hat,  sowohl  in 
bezug  auf  den  Unterricht  als  auch  auf  das  Leben  in  der  Schule,  den 
Verkehr  mit  den  Mitschülern?  Wurde  der  Unterschied  in  der  Hand- 
habung der  Disziplin  empfunden  und  wie? 

b)  Hat  der  Kindergarten  irgendeinen  Einfluß  auf  die  Beziehimgen  des 
Kindes  zu  seiner  Familie  ausgeübt,  insbesondere  zur  Mutter  ? 

Eine  bedeutungsvolle  Preisaufgabe  hat  die  Psychologische  Gesell- 
schaft zu  Berlin  gestellt.  Das  Thema  lautet:  ,, Beziehungen  zwischen 
der  intellektuellen  und  moralischen  Entwicklung  Jugendlicher". 
Der  Umfang  der  Arbeit  soll  14  Bogen  nicht  überschreiten.  Sollten  jedoch  die 
Untersuchungstabellen  besonders  umfangreich  werden,  so  ist  ein  Überschreiten 
dieser  Grenze  zulässig.  Die  Arbeiten  müssen  bis  zum  1.  Juni  1915  abgeliefert 
sein ;  die  Ablieferung  hat  stattzufinden  bei  dem  Vorsitzenden  der  Psychologischen 
Gesellschaft,  Herrn  Sanitätsrat  Dr.  Albert  Moll,  Berlin  W.  15,  Kur- 
fürstendamm 45.    Die  Arbeiten  sollen  an  der  Spitze  ein  Stichwort  enthalten. 


*)  Einsendung  nach  Berlin-Charlottenburg,  Roscherstraßo  9. 


140  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Dieses  ist  mit  der  genauen  Adresse  des  Bearbeiters  in  einem  versiegelten  Kuvert 
der  Arbeit  beizufügen.  Die  Arbeiten  müssen  mit  Scbreibmascbine  geschrieben 
sein.  Der  ausgesetzte  Preis  beträgt  750  Mark;  eine  Verteilung  der  Summe  auf 
mehrere  Arbeiten  ist  zulässig.  Preisrichter  sind  die  Herren  Professor  Dr.  Meu- 
mann  in  Hamburg,  Sanitätsrat  Dr.  Albert  Moll  in  Berlin  und  Professor 
Dr.  William  Stern  in  Breslau.  Die  Preisverteilung  findet  nach  Mehrheits- 
beschluß statt,  doch  steht  in  besonderen  Fällen  jedem  Preisrichter  ein  Veto- 
recht zu.  Die  Psychologische  Gesellschaft  hat  das  Recht,  die  Arbeit  oder  die 
Arbeiten,  denen  ein  Preis  zuerkannt  ist,  in  ihr  Eigentum  übergehen  zu  lassen 
und  in  ihren  Gesellschaftsschriften  zu  publizieren. 

Unter  Jugendlichen  sind  nicht  nur  junge  Leute  von  etwa  14  bis  18  oder 
20  Jahren,  d.  h.  solche  jenseits  des  eigentlichen  Kindesalters,  zu  verstehen; 
es  ist  vielmehr  das  eigentliche  Kindheitsalter  eingeschlossen.  Es  ist  auch  statt- 
haft, bei  sonst  fehlendem  Untersuchungsmaterial  die  Untersuchungen  aus- 
schließlich bei  Kindern  bis  zu  14  Jahren  vorzunehmen.  Immerhin  wäre  es 
wünschenswert,  daß  auch  die  der  eigentlichen  Kindheit  folgenden  Jahre  berück- 
sichtigt werden. 

Was  die  Methoden  der  Untersuchung  betrifft,  so  werden  bestimmte  Vor- 
schriften über  die  Wahl  der  Methode  nicht  gemacht.  Um  den  Grad  der  intellek- 
tuellen Entwicklung  festzustellen,  sei  auf  folgendes  hingewiesen:  Es  wird  sich 
empfehlen,  verschiedene  Methoden  anzuwenden,  besonders  sich  nicht  auf  die 
Prüfung  einer  einzigen  intellektuellen  Fähigkeit,  z.  B.  die  Kombinations- 
methode oder  die  Ebbinghaus'sche  Ergänzungsmethode  zu  beschränken,  weil 
sonst  die  Gefahr  vorliegt,  daß  die  Prüfung  der  intellektuellen  Entwicklung 
einseitig  wird. 

Auch  die  Prüfung  der  moralischen  Entwicklung  soll  nach  möglichst  mannig- 
faltigen Methoden  erfolgen.  Wünschenswert  ist  es,  sich  nicht  nur  auf  die  Be- 
antwortung der  Fragen  zu  stützen,  die  dem  Kinde  vorgelegt  werden,  obwohl 
die  Fragemethode  berücksichtigt  werden  kann.  Es  ist  zu  empfehlen,  wenn 
möglich  auch  Beobachtungen  über  die  objektive  Handlungsweise  des  Jugend- 
lichen und  über  das  gesamte  Benehmen  der  Kinder  bei  der  Prüfung  zu  sammeln 
und  zu  verarbeiten;  doch  muß  es  dem  Bearbeiter  überlassen  bleiben,  nach  den 
zur  Verfügung  stehenden  Untersuchungsmöglichkeiten  die  Methoden  zu  be- 
stimmen. Im  ganzen  hat  die  Prüfung  der  moralischen  Entwicklung  sich  mög- 
lichst zu  erstrecken  auf  die  sittlichen  Gefühlsreaktionen,  die  sittlichen  Urteile 
(die  sittliche  Einsicht),  das  sittliche  Wollen  und  wenn  möglich  das  sittliche 
Handeln  des  Jugendlichen. 

Selbstverständlich  ist  eine  Untersuchung  normaler  Jugendlicher  gewünscht; 
es  sind  höchstens  zu  Vergleichszwecken  Befunde  von  abnormen  und  kriminellen 
Jugendlichen  anzureihen. 

Eine  „Gesellschaft  für  Psychologie  und  Hygiene"  ist  mit  starker  Mitglied- 
schaft, in  der  sich  mit  Ärzten,  Juristen,  Geistlichen  und  Lehrern  auch  die  Ver- 
treter anderer  am  Leben  der  Jugend  interessierten  Kreise  vereinigen,  in  Essen 
gegründet  worden.  Bezweckt  wird  die  Fortbildung  in  allen  psychologischen  und 
hygienischen  Fragen  des  Kindes-  und  des  Jugendalters.  An  Veranstaltungen 
sind  geplant  Ausbildungs-  und  Fortbildungskurse  mit  Übungen  und  Aussprache, 


Literaturbericht.  141 


außerordentliche  (akademische)  Vorträge  anerkannter  Gelehrter,  Einriclitimg 
einer  Bibliothek,  eines  Museums  und  eines  Laboratoriums  (als  Listitut  für  Kinder- 
heilkunde gedacht). 

Nachrichten:  1.  Der  I.  Internationale  Kongreß  für  experimentelle 
Phonetik  wird  in  Hamburg  in  der  Zeit  vom  19. — 22.  April  1914  abgehalten. 

2.  Ein  allrussischer  Kongreß  für  Experimentalpädagogik  hat 
Mitte  Januar  in  Petersburg  stattgefunden ;  ihm  war  eine  Ausstellung  für  Appa- 
rate und  Diagramme  angegliedert. 

3.  Der  katholische  Lehrer  verband  des  Deutschen  Reiches  wird  gelegentlich 
seiner  Jubel- Versammlung  zu  Ostern  1914  in  Essen  mit  Unterstützung  der  Stadt- 
verwaltung die  Jugendpflege  in  einer  eigenen  Ausstellung  zur  Veranschau- 
lichung bringen.  Der  Plan  sieht  folgende  Gruppen  vor:  1.  des  Kindes  Heimat; 
2.  des  Kindes  Gesundheit;  3.  des  Kindes  Erziehung;  4.  Jugendpflege;  5.  das 
Kind  in  der  Kunst.  —  Die  Ausstellung  soll  nicht  nur  während  der  Versammlungs- 
tage, sondern  mehrere  Monate,  voraussichtlich  Mai  und  Juni,  dem  allgemeinen 
Besuche  offenstehen. 

4.  Die  Deutsche  Lehrerversammlung  in  Kiel  zu  Pfingsten  d.  J.  wird  an 
den  Haupttagen  folgende  Vorträge  bieten:  I.  Die  nationale  Einheitsschule. 
Vortragender:  Herr  Oberstudienrat  Dr.  Kerschensteiner,  Stadtschulrat  in 
München;  II.  Der  Deutsche  Lehrerverein  und  die  pädagogische  Wissenschaft. 
Vortragender:  Herr  Seminardirektor  Dr.  Seyfert  in  Zschopau  i.  Sa.;  III.  Droht 
unserer  Schularbeit  die  Gefahr  der  Veräußerlichung  und  wie  ist  ihr  zu  begegnen  ? 
Vortragender:  Herr  Lehrer  Brunotte,  Redakteur  der  Hannoverschen  Schul- 
zeitung, Hannover. 

5.  Am  14.  Januar  d.  J.  starb  Alfred  Lichtwark,  der  Direktor  der 
Hamburger  Kunsthalle,  einer  der  bedeutendsten  Anreger  und  Führer  der 
kunstpädagogischen  Bewegung. 


Literaturbericht. 

Heinrich   Baumgartner,   Psychologie  oder   Seelenlehre  mit  besonderer 
Berücksichtigung  der    Schulpraxis  für   Lehrer  und   Erzieher.    Fünfte, 
vielfach  umgearbeitete  Auflage  von  Karl  Müller,  Professor  an  der  Kantonsschule 
in  Zug.     Freiburg  im  Breisgaii  1913.     Herdersche  Verlagsbuchhandlung.     155  S. 
Geb.  2,30  M. 
Es  will  uns  unglaublich  erscheinen,  daß  ein  im  Inhalte  und  in  der  Gestaltung  so 
rückständiges  Buch  wie  das  vorliegende  noch  immer  dem  Psychologieunterrichte  an 
Lehrerseminaren  dienen  soll.     Sich  in  den  Anschauungen  der  Vermögenspsychologie 
bewegend,  führt  es  die  zukünftigen  Erzieher  zurück  in  eine  völlig  überlebte  Welt. 
Die  moderne  psychologische  Forschung  wird  nebenbei  in  ein  paar  Redenstu'ten  bei 
den  ,, Quellen  der  Psychologie"  erwähnt  —  noch  dazu  unzutreffend;  von  ihren  Me- 
thoden und  Ergebnissen  ist  durchaus  nichts  zu  spüren,  nicht  einmal  —  was  sich  heute 
selbst  der  bescheidenste  psychologische  Leitfaden  leistet  —  in  der  Lehre  vom  Ge- 
dächtnis.   Gegen  die  seichte  Art,  wie  auf  knapp  vier  Seiten  das  „Sprach vermögen"  — 
mit  Psychologie  hat  dieser  Abschnitt  fast  gar  nichts  zu  tun  —  erledigt  wird,  würde 
ich  die  Empörung  der  Schüler  befürchten.     Um  den  didaktischen  Geist  des  Buches 
zu  kennzeichnen,  nur  dies  eine:   Der  I.  Abschnitt  „Vom  Leben  der  Seele  im  allge- 
meinen" beginnt  mit  einem  Bibeltexte  als  Deduktionsquelle,  und  den  Beschluß  des 
Buches  bilden  196  Wiederholungsfragen. 


1 42  Literaturbericht. 


Bücher  dieser  Art  schädigen  das  Ansehen  des  Lehrerstandes.  Nach  ihnen  bildet 
der  Femerstehende  häufig  genug  sein  Urteil  über  die  Höhe  der  Seminarbildtmg,  und 
es  ist  dann  z.  B.  —  wie  wir  es  immer  wieder  erleben  —  nicht  zu  verwimdern,  wenn 
Dozenten,  die  vor  Lehrervereinen  sprechen,  in  gut  gemeinter,  aber  durchaus  ver- 
fehlter Absicht  das  ABC  ihrer  Wissenschaft  vorbringen.  Wir  dürfen  versichern,  daß 
in  den  uns  bekannten  deutschen  Seminaren,  besonders  den  sächsischen,  der  Psycho- 
logieunterricht einen  solch  wissenschaftlichen  und  didaktischen  Zug  hat,  daß  daselbst 
ein  Lehrbuch  wie  das  von  Baumgartner  glattweg  unmöglich  wäre. 

Leipzig.  Otto   Scheibner. 

Erich  Wulffen,  Das  Kind.  Sein  Wesen  und  seine  Entartung.  Verlegt  bei 
Dr.  P.  Langenscheidt,  Berlin  W.  57.     Preis  12  M.,  geb.  15  M. 

Verf.  weist  in  der  Einleitung  mit  Recht  darauf  hin,  daß,  „trotz  einer  reichen  Lite- 
ratur, trotz  zahlreicher  Vereine  und  Kongresse  für  die  Interessen  der  Jugend,  doch 
selbst  der  Gebildete  vom  wahren  Wesen  des  Kindes,  von  seiner  innersten  Entwicke- 
lung  sowie  von  den  Grundsätzen  seiner  Erziehung  im  wissenschaftlichen  Zusammen- 
hange noch  nicht  zu  viel  weiß".  Er  meint,  ,,von  der  bekannten  Abneigung  abgesehen, 
einer  anscheinend  rein  praktischen  Angelegenheit  sich  auch  von  der  Seite  der  Theorie 
zu  nähern,  fehlte  es  vielleicht  auch  an  geeigneten  Hilfsmitteln,  den  systematischen 
Weg  zu  erleichtern  und  erfreulich  zu  machen".  Ein  solches,  begrüßenswertes  Hilfs- 
mittel stellt  das  vorliegende  Buch  dar,  welches  die  Altersstufen  des  herannahenden 
Schulbesuches  bis  über  die  vollendete  Schulzeit  hinaus  in  das  15.  imd  17.  Lebensjahr 
umfaßt  mit  gelegentlichen  Ausblicken  in  die  reifere  Jugend  bis  zum  20.  Lebensjahr, 
\ind  dessen  einzelne  Kapitel  behandeln:  Das  Vorstellxuigsleben,  das  Gemütsleben, 
das  Sexualleben  des  Kindes,  Gebrechen,  Krankheiten  und  Geistesstörungen  im 
Kindesalter,  die  sittliche  Erziehung,  die  strafrechtliche  Behandlung  des  Kindes. 
Selbstverständlich  bringt  der  Verf.  nicht  avif  allen  diesen  Einzelgebieten  eigene  Be- 
obachtvmgen  und  Erfahrungen,  er  stellt  vielmehr  in  sehr  übersichtlicher  imd  verständ- 
licher Weise  einheitlich  geordnet  das  einschlägige  Material  der  bisher  vorliegenden 
Forschungsergebnisse  zusammen;  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Jugendstrafrechts- 
pflege macht  sich  die  eigene  kriminalpsychologische  Erfahrung  des  Verf.,  der  imter 
gebührender  Heranziehung  der  entsprechenden  Einrichtimgen  des  Auslandes  den 
Entwurf  zu  einer  neuen  deutschen  Strafprozeßordnung  kritisch  berücksichtigt  und 
wertvolle  praktische  Anregtmgen  gibt,  wohltuend  geltend.  Das  Buch  kann  zur 
Einführung  vmd  raschen  Information  und  zvir  Unterstützung  bei  praktischer  Be- 
tätigung empfohlen  werden. 

München.  Dr.  E.  Levy. 

Giese,  Fritz,  Das  freie  literarische  Schaffen  bei  Kindern  und  Jugend- 
lichen, 7.  Beiheft  ztir  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische 
Sammelf orschxmg,  herausgegeben  von  Willam  Stern  und  Otto  Lipmann.  2  Teile, 
Leipzig  1914,  Verlag  von  Johann  Ambrosius  Barth,  XIV,  220  S.;  IV,  242  S.  und 
3  Tafehi.    Brosch.  14.—  M. 

G.  hat  mit  der  vorliegenden  Arbeit  zum  ersten  Male  in  großem  Stile  ein  Gebiet 
der  praktischen  Psychologie  erforscht,  das  bisher  —  wenige  mehr  feuilletonistische 
kleine  Arbeiten  abgerechnet  —  so  gut  wie  unbeachtet  dalag  und  das  luis  doch  eigent- 
lich bedeutend  leichter  tiefere  Einblicke  in  die  Entwicklung  der  kindlichen  und  jugend- 
lichen Seele  verschaffen  kann  als  etwa  die  Kinderzeichnimg.  Während  man  seit 
langem  und  mit  vielem  Erfolge  in  kulturhistorischen  und  psychologischen  Instituten 
Kinderzeichnungen  systematisch  sammelt,  hat  man  die  Produkte  jugendhcher 
„Dichter"  und  „Schriftsteller"  meist  nur  aus  literarischen  Interessen  irgendwo 
angehäuft  und  publiziert. 

G.  unterscheidet  drei  Gruppen  kindlicher  und  jugendlicher  literarischer  Erzeug- 
nisse. „Eine  erste  Gruppe  muß  solche  Erzeugnisse  vunfassen,  die  noch  einen  be- 
stimmten Zusammenhang  haben  mit  den  traditionellen  Übungen  tmd  Arbeiten,  wie 
sie  auf  der  Schule  getrieben  werden.  „Es  ist  die  Gruppe  bestellter  freier  Schulauf- 
sätze und  Schuldichtungen."  Es  gibt  dann  solche  Arbeiten,  die  abseits  von  der  Schule 
entstehen  und  doch  einen  gemeinsamen  äußeren  Anlaß  besitzen.     Endlich  schafft 


Literatlirbericht.  143 


auch  schon  die  Jugend  „ohne  bestimmtes  Thema,  ohne  Anreiz,  ohne  Schule,  ohne 
Zwang".  G.  hat  besonders  das  Material  der  zweiten  und  dritten  Gruppe  bearbeitet, 
also  die  wirkUchen  freien  literarischen  Schöpfimgen.  Woher  bekam  er  das  Material  ? 
1400  bestellte  kleine  Geschichtchen  lieferte  ihm  die  Zeitschrift  „Allgemeiner  Weg- 
weiser", die  Weihnachten  1912  ein  Preisausschreiben  für  Kinder  veranstaltet  hatte. 
Dichtungen  kindlicher  und  jugendlicher  Autoren  boten  reichhch  die  Jugendzeit- 
schriften: Junge  Geister,  redigiert  von  Dr.  R.  Strecker  in  Naviheim.  Das  vier- 
blättrige Kleeblatt,  Zeitschrift  der  Christallerskinder.  Anfang,  Zeitschrift  für 
kommende  Kirnst  und  Literatur.  Der  Quell,  Zeitschrift,  später  mit  dem  Anfang 
vereinigt.  Der  Monat,  eine  hektographierte  Obersekundanerzeitschrift.  Dann 
eine  Reihe  von  Klassenzeitschriften:  Kunstbanausische  Zeitschrift,  Die 
Schülerwelt.  Nicht  weniger  wurden  Ejieipzeitungen  und  Abschiedskommersblätter 
ausgebeutet.  Desgleichen  wurden  dem  Autor  die  Sammlungen  der  Stern'schen  und 
Dyroff 'sehen  Kinderdichtungen  überleissen,  sowie  die  Sammlung  eines  Fräulein  Käthe 
Seil  und  der  Zentrale  für  Jugendfürsorge.  Arbeiterdichtungen  lieferte  Levinstein  in 
Berlin.  Aus  G.s  Buch  erfährt  man  auch,  daß  die  deutsche  Literatur  eine  ganze  Reihe 
,, gedruckter  Dichter  und  Dichterinnen"  besitzt.  Außerdem  haben  eine  große  Zahl 
von  ICnaben  und  Mädchen  der  verschiedensten  deutschen  Gaue  dem  Bearbeiter  ihre 
gereimten  oder  ungereimten  „Herzensergüsse"  zur  Verfügung  gestellt;  völlige  Dis- 
kretion war  ihnen  ja  zugesichert.  So  hat  G.  eine  derartig  tunfangreiche  Material- 
sammlimg  bekommen,  daß  der  2.  Teil  des  Buches  mit  seinen  502  Proben  nur  eine 
Auswahl  der  die  einzelnen  wissenschaftlichen  Folgerungen  am  besten  beweisenden 
Erzeugnisse  darstellt.  Es  ist  ein  literarischer  Reiz  eigentümlicher  Art,  vom  Zwei- 
zeiler „Die  Uhr  die  klingt,  die  Hilde  winkt"  eines  5,8  jährigen  Mädchens  über  aller- 
liebste klappernde  Verschen  der  10-  und  12  jährigen  zu  den  tief  tragischen  schweren 
Jamben  oder  Tagebuchsätzen  der  Stürmer  und  Dränger  sich  hindurchzulesen. 

Bearbeitet  wurde  das  Material  nach  „statistischen  Methoden".  G.  tmtersuchte 
zunächst  die  Formgebimg,  die  Themata,  dann  den  Stimmungscharakter,  die  beein- 
flussenden Faktoren,  das  Schaffen  des  Einzelnen,  die  Differenzen  der  Geschlechter, 
die  Altersunterschiede  und  endlich  speziell  die  Erotik.  Es  seien  noch  kurz  einige 
Hauptergebnisse  erwähnt: 

Die  Dichtung  von  Knaben  und  Mädchen  ist  formal  wie  inhaltlich  verschieden. 
Der  Knabe  dichtet  mehr  Poesie,  das  Mädchen  mehr  Prosa.  Haupttendenz  inhaltlicher 
Art  sind  beim  Knaben  und  beim  männlichen  Jugendlichen  alle  philosophischen,  alle 
logischen  Momente.  Das  Mädchen  ist  mehr  für  das  Emotionale  eingenommen.  Alle 
Werke  sind  im  ganzen  viel  einheitlicher,  als  man  meint.  Die  männliche  Dichtung  verrät 
persönliche  Produktion,  Originalität;  die  weibliche  nach  Form  und  Inhalt  Anhäng- 
lichkeit an  das  Traditionelle. 

Der  Knabe  liebt  dabei  das  Ernste,  das  Mädchen  das  Heitere.  Hauptthemata  des 
männlichen  Dichters  sind:  Philosophie,  Erotik,  Natur;  des  weiblichen  Natur,  Erotik, 
Religion.  In  der  Prosa  bevorzugen  beide  fast  gleichmäßig  Selbsterlebnis  und  Mär- 
chenwelt. 

Die  Formen  der  Poesie  sind  Jamben,  die  Reime  einfach;  in  der  Prosa  Bericht,  Er- 
zählung und  Märchen. 

Lektüre  und  Milieu  spielen  bei  der  Jugenddichtung  eine  große  Rolle, 

Auf  den  verschiedenen  Altersstufen  findet  ein  Wechsel  der  Formen  und  Inhalte 
statt;  besonders  einschneidend  wirkt  die  Pubertät.  Sie  führt  in  den  Bann  der  Erotik, 
Religion,  Natur  imd  Philosophie ;  mit  ihr  beginnt  das  eigentliche  Dichten.  Rasse  und 
Religion  spielen  eine  untergeordnete  Bedeutung.  Die  Jugend  ist  sich  der  Unvoll- 
kommenheiten  ihres  Dichtens  klarer  bewußt,  als  man  meint.  Als  Erlebnis  wird  die 
Jugenddichtung  wahrscheinlich  dem  Dichten  Erwachsener  gleichen. 

Aus  den  Tabellen  imd  Tafeln  sind  leicht  die  differenzierteren  Eigentümlichkeiten 
und  Unterschiede  oder  Ähnlichkeiten  des  literarischen  Schaffens  von  Knaben  und 
Mädchen  zu  ersehen.  Aber  gerade  hier  scheint  mir  ein  Angriffspunkt  gegen  die  ver- 
wandte Methode  zu  liegen.  Man  kann  sich  des  Gedankens  nicht  erwehren,  daß  bei 
der  Aufstelltmg  der  Rubriken,  wie  heiter,  froh,  ernst,  traurig,  düster  usw.,  vmd  der 
Zuordnung  der  einzelnen  Erzeugnisse  zu  diesen  Rubriken  ein  gewisser  Subjektivismus 


144  Literattirbericht. 


als  bedenkliche  Fehlerquelle  einschleicht.  Und  dann,  wie  schwer  ist  es  zu  sagen,  ob 
ein  oder  auch  zwei  eingeschickte  Gedichte  als  wirklich  eigenes,  freies  Produkt  an- 
gesehen werden  können.  Man  denke  nur  daran,  mit  welchem  Raff inement  von  13-  und 
14jährigen  und  älteren  Schülern  oft  Aufsätze  zusammengestohlen  werden.  Sollte 
das  nicht  auch  für  Gedichte  möglich  sein  ? 

Trotzdem  bleibt  die  Tatsache  bestehen,  daß  die  Kinderpsychologie  durch  G.s 
Untersuchung  an  mancher  Stelle  durch  interessante  neue  Einblicke  in  die  Psyche 
des  Kindes  und  Jugendlichen  bereichert  worden  ist. 

Leipzig.  Joh.   Handrick. 

August    Scheindler,    Methodik    des    Unterrichts    in    der    lateinischen 
Sprache.    Wien  1913.    A.  Pichlers  Verlag.     312  S. 

Der  Verf.  handelt  in  Verbind\xng  mit  anderen  Fachmännern  über  das  Ziel  vmd 
die  dadurch  bedingte  Methode  des  Lateinunterrichts  und  faßt  dabei  in  erster  Linie 
die  Verhältnisse  der  österreichischen  Gymnasien  ins  Auge.  Seine  Ausführungen 
finden  jedoch  analoge  Anwendxmg  auf  die  deutschen  humanistischen  Lehranstalten. 
Wenn  er  nun  dem  Normallehrplan  der  österreichischen  Gymnasien  entsprechend  als 
Lehrziel  die  durch  gründliche  Lektüre  erworbene  Bekanntschaft  mit  dem  Bedeutend- 
sten aus  der  römischen  Literatur  und  dadurch  Einführung  in  das  Verständnis  des 
römischen  Kultvirlebens  feststellt,  so  betont  er  mit  Recht,  daß  diese  Forderung  zu- 
gleich eine  aktive  Beherrschung  des  grammatischen  Stoffes  einschließt,  ohne  die 
eine  eindringende  den  Unterschied  der  lateinischen  und  deutschen  Sprache  berück- 
sichtigende Lektüre  nicht  möglich  ist.  Die  methodischen  Winke,  die  er,  gestützt  auf 
umfassende  Kenntnis  der  einschlägigen  Fachliteratur,  über  die  Durchführung  der 
grammatischen  Lehraufgabe  auf  den  einzelnen  Stufen  darbietet,  sind  gewiß  geeignet, 
zur  Vertiefung  imd  Befruchtung  des  Unterrichts  außerordentlich  viel  beizutragen. 
Bei  der  Darlegung  der  Methode  der  Lektüre  werden  die  Gesichtspimkte  aufgestellt, 
welche  zur  erschöpfenden  Behandlung  des  Inhaltes  dienen,  die  auf  Herausarbeitung 
des    ethischen,    ästhetischen    und    realen  Bildimgsertrages    gerichtet  ist. 

Was  uns  vom  Standpunkt  der  pädagogischen  Psychologie  besonders 
interessiert,  ist  der  Umstand,  daß  sich  in  Werken,  die,  wie  das  vorliegende,  der  Lehr- 
praxis zu  dienen  bestimmt  sind,  mehr  tmd  mehr  die  psychologische  Betrachtimgsweise 
durchsetzt.  Wenn  der  Verf.  aber  (S.  If.)  die  vorwiegende  Lehrmethode  des  Latei- 
nischen als  auf  „Apperzeption",  diejenige  des  neusprachlichen  Unterrichts  als  auf  „Asso- 
ziation" beruhend,  also  mit  Avisdrücken,  die  der  Elementarpsychologie  entlehnt  sind, 
glaubt  kennzeichnen  zu  können,  so  ist  dagegen  zu  bemerken,  daß  der  Stoff  der  fremd- 
sprachlichen Grammatik  nach  logischen  Gesichtspunkten  bearbeitet  worden  ist  luid 
daß  wir  demnach  logischer  Begriffe  bedürfen,  um  die  Art  der  komplizierten  geistigen 
Vorgänge,  wie  sie  die  Lehrmethode  umfaßt,  festzvistellen.  So  würden  Ausdrücke, 
wie  systematisch,  intellektualistisch  oder  deduktiv  den  vorherrschenden  Unterrichts- 
betrieb des  Lateinischen,  empirisch,  genetisch  oder  induktiv  denjenigen  der  neueren 
Sprachen  begrifflich  zu  fassen  geeignet  scheinen.  Erst  indem  die  an  sich  abstrakten 
Denkformen  im  Bewußtsein  der  Schüler  beim  Unterricht  konkrete  Gestalt  gewinnen, 
werden  sie  Gegenstand  der  pädagogisch-psychologischen  Untersuchung.  —  Für  den 
Ausdruck  „logische  Schulung  des  Geistes",  die  nach  den  Worten  des  Verf.  (S.  5) 
einen  wesentlichen  Bildungsertrag  des  Unterrichts  in  der  lateinischen  Sprache  dar- 
stellt, sollte,  um  ein  Mißverständnis  zu  vermeiden,  derjenige  ,, sprachlich-logische 
Schulung"  gewählt  werden.  Es  sind,  psychologisch  ausgedrückt,  spezifische  beharrende 
Übungsdispositionen,  welche  die  Beherrschung  des  formal-grammatischen  Stoffes 
begründen. 

Überall  macht  die  Schrift  es  sich  so  zur  Avifgabe,  die  reichen  Bildungselemente, 
die  der  Lateinvmterricht  vimfaßt,  in  ihrer  Gesamtheit  klarzustellen,  um  sie  in  der 
unterrichtlichen  Praxis  zur  Geltung  zu  bringen. 

Heidelberg.  A.  Huther. 


fH^^ 


Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik 

und  Psychologie. 

Von  Gustav  Deuchler. 

(Fortsetzung.) 
IIL 

1.  Bedeutet  r  den  Korrelationsgrad,  aus  einer  zweigliedrigen  Rangierung 
gewonnen,  so  soll  mit  91  der  Korrelationsgrad  aus  mehrgliedrigen 
Rangordnungen  bezeichnet  werden.  Der  Bestimmung  dieses  9^  wollen 
wir  uns  jetzt  zuwenden. 

Wir  gehen  von  einem  Beispiel  aus.  Fünf  Schüler  A,  B,  C,  D,  E,  mögen 
nach  ihren  Leistungen  in  Arithmetik  die  Rangordnung  C  >  A'>  D^  B^  E 
oder  (die  Rangordnung  durch  Indices  angedeutet  und  das  Leistungsgebiet 
mit  a  bezeichnet)  a  =  Ci-^a  Dz  B^E^,  in  Geometrie,  durch  ß  symbolisiert, 
dagegen  die  Rangordnung  ^  =  A3  B^CiD^Ei  bilden.  Wollen  wir  beide 
Rangordnungen  zugleich,  also  ihre  Konstellation  anschreiben,  so  mag  es  in 
folgender  Weise  geschehen  (aß)=  A23  ^45  C^  D34  E^z',  dabei  steht  der  erste 
Index  für  das  erste,  der  zweite  für  das  zweite  Leistungsgebiet.  Man  kann 
nun  nach  dem  Grad  der  Übereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung 
dieser  beiden  Rangordnungen  fragen.  Will  man  diese  Frage  lösen,  so  muß 
man  den  Fortgang  der  Rangordnung  eines  jeden  Schülers  mit  jedem  folgen- 
den auf  beiden  Leistungsgebieten  vergleichen  und  die  Übereinstimmung 
oder  den  Gegensatz  im  Fortgang  der  Rangbildung  notieren.  Eine  solche  Ver- 
gleichung  liegt  im  Wesen  der  Rangordnung.  Die  Resultate  der  Vergleichung 
sollen  wieder  +,  wenn  Übereinstimmung  des  Fortschreitens,  — ,  wenn  gegen- 
sätzliches Verhalten  bei  den  beiden  Rangreihen  zu  verzeichnen  ist,  heißen. 
Wir  bekommen  dann  im  ganzen  genau  so  viel  Zeichen,  als  wir  Paare  von 
einer  der  beiden  gleichlangen  Rangreihen  bilden  können. 

Zur  Bestimmung  der  Anzahl  der  Paare  folgende  Überlegung:  Nehmen  wir 
an,  wir  hätten  n  Schüler  und  würden  jeden  mit  jedem  anderen  vergleichen,  so 
bekämen  wir  gerade  n{n  —  1)  Paare.  Da  wir  aber  jeden  nur  mit  jedem  folgen- 
den vergleichen  sollen,  nicht  auch  mit  dem  vorausgehenden,  so  bekommen 
wir  nur  die  Hälfte  davon,  mithin  bloß -|n(n — 1)  Paare  und  infolgedessen 
auch,  wenn  i  wieder  die  Plus-,  k  die  Minuszeichen  bedeuten, 

t +fc  =  i.n(n—l).  (28) 

Zeitschrift  f.  pftdagog.  Psychologie.  10 


146     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

Nach  dieser  Regel  sei  die  Konstellation  (aß)  behandelt;  es  ist  dann,  wenn 
wir  bloß  die  Indicespaare  anschreiben: 

a=24  21  23  26  41  43  45  13  15  35 

ß  =  35  31  34  32  51  54  52  14  12  42        (V) 

+   +   +—   +   +—   +   +  — 

Die  Plus-  und  Minuszeichen  lassen  sich  auch  einfacher  gewinnen  als  nach 
Schema  V.  Wir  werden  zweckmäßigerweise  so  vorgehen,  daß  wir  die  eine 
Reihe  (entweder  a  oder  ß)  zunächst  gut  ordnen,  d.  h.  die  Schüler  in  die 
Reihenfolge  bringen,  die  die  eine  Rangordnung  vorschreibt ;  die  andere  Rang- 
reihe ordnen  wir  dann  immer  dieser  gutgeordneten  zu.  Dadurch  erhalten  wir 
bei  der  gutgeordneten  Reihe,  wenn  wir,  was  ja  durchaus  genügt,  bloß  die 
Zahlenwerte  berücksichtigen,  die  Reihe  der  natürlichen  Zahlen.  Bei  der  an- 
deren, der  zugeordneten  Reihe  dagegen  eine  bestimmte  Permutation  der  ersten 
Reihe.  Ob  die  beiden  Rangreihen  miteinander  übereinstimmen  oder  nicht, 
erkennen  wir,  wenn  wir  untersuchen,  wie  weit  die  zweite,  die  zugeordnete 
Reihe,  mit  der  natürlichen  Zahlenreihe  übereinstimmt.  Wir  vergleichen  also 
jede  Zahl  mit  jeder  folgenden  oder,  was  dasselbe  ist,  jede  Zahl  mit  jeder  vor- 
ausgehenden und  notieren  ein  Plus,  wenn  sie  in  natürlicher  Folge  gegeben  sind, 
ein  Minus,  wenn  sie  invertierte  oder  umgekehrte  Anordnung  aufweisen. 
Stimmen  die  Reihen  vollständig  überein,  so  bekommen  wir  lauter  Pluszeichen; 
verhalten  sie  sich  völlig  gegensätzlich,  lauter  Minuszeichen ;  die  dazwischen- 
liegenden Grade  der  Übereinstimmung  oder  des  Gegensatzes  sind  durch  das 
Verhältnis  der  Plus-  und  Minuszeichen  charakterisiert.  Wegen  der  Gleichung 
(28)  genügt  zur  Bestimmung  des  Grades  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  die 
Auszählung  der  Minuszeichen  oder  die  der  Pluszeichen.  Berücksichtigen 
wir  dies,  so  haben  wir  in  der  Gleichung  (29) 

^      i — Ic  2fc  4fc  2i  4i  ,    ^ 

i +fc  ~n{n — 1)  n{n — 1)      -^nin — 1)  n{n — 1) 

einen  Wert,  der  die  von  einem  Koeffizienten  geforderten  Eigenschaften  besitzt. 
Die  zuletzt  angedeutete  einfache  Bestimmung  der  Minus-  oder  Plus- 
zeichen sei  noch  an  unserem  Beispiel  kurz  dargestellt ;  dabei  wählen  wir  das 
eine  Mal  a  als  gut  geordnete  Reihe,  das  andere  Mal  ß ;  beidemal  kommt 
natürlich  dasselbe  heraus,  eben  ein  Ausdruck  der  gegenseitigen  Abhängigkeit : 

(ßa)=l  5_234  =  162   3    4^      (aß)=l  3  4  5  2=1   3452 

1    1    1'  +  +  -!-{-  12   2   1 

9i(ßa)  =  l-^=+0,4;  SR(«ß)  =  ii-l=+0,4. 

2.  Wir  müssen  noch  einiger  Eigenheiten  gedenken,  die  sich  bei  der  Her- 
stellung einer  gut  geordneten  Reihe  und  bei  der  Zuordnung  zu  derselben 
zeigen.  Wir  wollen  annehmen,  es  kommen  in  einer  Rangreihe  zwei  gleiche 
Rangwerte  vor.  Wenn  wir  diese  Rangordnungen  nach  derjenigen  Reihe 
ordnen,  die  keine  gleichen  Rangwerte  besitzt,  so  ergeben  sich  weiter  keinerlei 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      147 

Schwierigkeiten.  Es  kommen  dann  nur  auf  zwei  verschiedenen  Rangstufen 
zwei  gleiche  Rangwerte  zu  stehen.  Bei  der  Vergleichung  hat  man  einfach  so 
zu  verfahren,  daß  man  hier  eine  Null  schreibt ;  denn  die  beiden  verglichenen 
Paare  schreiten  ja  hier  weder  im  ungleichen  Sinne  noch  im  entgegengesetzten 
fort,  sondern  das  eine  bleibt  auf  der  gleichen  Stufe,  während  das  andere 
fortschreitet.  Die  entstehenden  0-Fälle  werden  dann  wieder  zur  Hälfte  als 
Minus-,  zur  Hälfte  als  Plusfälle  gerechnet  (vgl.  unten  das  Beispiel  ay). 

Etwas  anders  ist  es,  wenn  wir  die  Rangwerte  nach  derjenigen  Reihe  ordnen, 
bei  der  eine  Rangstufe  sich  wiederholt ;  konkreter  gesprochen :  bei  der  mehrere 
Schüler  denselben  Platz  haben.  Hier  entsteht  vor  allem  die  Frage,  welchen 
Rangwert  der  zugeordneten  Reihe  müssen  wir  hier  an  die  erste  Stelle  dieser 
Rangstufe,  welchen  an  die  zweite  usw.  setzen.  Die  Antwort  darauf  lautet: 
das  ist  gleichgültig;  denn  diese  verschiedenen  Rangwerte  auf  der  gleichen 
Rangstufe  kommen  ja  alle  nebeneinander  zu  stehen,  und  bei  der  Vergleichung 
haben  wir  nach  derselben  Regel  wie  vorhin  zu  verfahren;  wir  müssen  näm- 
lich Null  verzeichnen,  wenn  eine  Rangreihe  fortschreitet  und  die  andere  auf 
der  gleichen  Stufe  bleibt.  Praktisch  zweckmäßig  ist  es,  die  Zahlen,  die  auf 
der  gleichen  Rangstufe  stehen,  durch  eine  Klammer  zusammenzufassen,  damit 
man  bei  der  Bestimmung  nicht  so  leicht  Fehler  macht.  Auch  diese  Schwierig- 
keit ist  gelöst. 

Zur  Verdeutlichung  diene  das  Beispiel  (o'--x)  =  Ai^B2bC2sDa2Esi.  Es  ist  dann 

3 

ay  =  5   4   2   1    2  und   9f?(aY)  =  — — 1  =— 0,7; 

0  ^" 

+ 

—  3 

Ya  =  4  5  3   2   1  und   9^(Ya)  =  — — 1=— 0,7. 

+  0  ^^ 

Aber  es  ist  noch  eine  dritte  Komplikation  möglich.  Es  können  sehr 
wohl  auch  auf  der  gleichen  Rangstufe,  die  wiederholt  vorhanden  zu 
denken  ist,  gleiche  Rangwerte  auftreten.  Dieser  Fall  verwirklicht  sich,  wenn 
mehrere  Schüler  den  gleichen  Platz  haben  oder  die  gleiche  Zensur  im  einen 
Leistungsgebiet,  wobei  sie  im  anderen  Gebiet  zwar  andere,  unter  sich  aber 
wieder  alle  dieselben  Plätze  oder  dieselben  Zensuren  haben  mögen.  Es  soll  z.  B. 
die  Korrelation  aus  folgender  Rangkonstellation  bestimmt  werden: 

(oS)  =  1    2  2    4    5  ]  .^ 

3     4-4     1     2!  =  ^     ;^_i    1 


Wenn  wir  hier  die  Vergleichung  ausführen,  so  treffen  wir  den  Fall  an,  wo 
wir  nicht  nur  auf  derselben  Rangstufe  bleiben,  wenn  wir  von  einem  Schüler 
zum  anderen  übergehen,  sondern  auch  noch  bei  dem  gleichen  Rang- 
wert. Hier  liegt  also  bei  den  beiden  Rangordnungen,  die  mit- 
einander verglichen  werden  sollen,  ein  Fortschreiten  überhaupt 

10* 


148      Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

nicht  vor,  und  darum  verläuft  die  Vergleichung  resultatlos. 
Wir  haben  hier  also  nichts  zu  verzeichnen,  nicht  etwa  Null.  In  diesem  Fall 
gilt  natürlich  auch  nicht  mehr  die  Gleichung  (28) ;  denn  wir  haben  hier  nicht 
mehr  jn(n  —  1)  Zeichen,  weil  wir  auch  nicht  mehr  ^  n  (n  —  1)  Verglei- 
chungen  haben.  Wenn  die  Gleichung  wieder  eine  richtige  werden  sollte,  so 
müßte  man  von  -|  n  (n  —  1)  die  Anzahl  der  resultatlos  verlaufenden  Ver- 
gleichungen  abziehen. 

Weitere  Komplikationen  als  diese  können  bei  dieser  Art  von  Korrelations- 
bestimmungen nicht  mehr  auftreten.  Wir  sind  damit  in  die  Lage  versetzt, 
aus  Zensuren  oder  aus  Lokationen  für  irgendwelche  Leistungsgebiete  der 
Schüler  die  Korrelationen  zu  bestimmen. 

3.  Hat  man  eine  Reihe  von  Individuen  hinsichtlich  ihrer  Rangordnungen  zu 
vergleichen,  so  wird  trotz  des  an  sich  nicht  komplizierten  Verfahrens  eine  noch 
weitergehende  Vereinfachung  willkommen  sein.  Eine  solche  wird  möglich 
mit  Hilfe  einer  Regel,  die  der  Mathematiker  Gordan  zur  Bestimmung  der  Zahl 
der  Inversionen  in  einer  Permutation  —  das  sind  unsere  Minusfälle  hier  — 
formuliert  hat.^)  Ich  will  sie  hier  bloß  an  einem  einfachen  Beispiel  verdeut- 
lichen. 2)  Es  soll  aus  der  Konstellation  (yS)  =  lg  2^  3^  44  5i  63  7^  die  Korre- 
lation bestimmt  werden.    Es  ist  dann 


P  q 

»^2     6     7  I  4     1     3     6 
~  11 


ha-=  0  kb=  2 

2     3     2     2 


kc='9 

Man  teilt  die  Reihe  in  zwei  beliebige  Teile  p  und  q  und  bestimmt  bloß  die 
Minusfälle  der  beiden  Teile  (ka  und  Tcb ) ;  dagegen  ergeben  sich  die  Minusfälle 
kc ,  die  durch  Vergleichung  der  Glieder  des  ersten  Teils  mit  denen  des  zweiten 
herauskommen  —  hier  sind  sie  der  Kontrolle  halber  angeschrieben  —  durch 
eine  Formel:  man  addiert  die  p  Glieder  vor  dem  Strich  (2  +  6  +  7  =  15) 
und  zieht  davon  die  Summe  der  Ordnungszahlen  der  Glieder  (1+2+3 

=  Y  •  3  •  4  =  6)  ab  (also  15  —  6  =  9).  Es  ist  allgemein  dann  analog  diesem 
Beispiel 

^c  ==Pi+P2  +  ---pA  — tM>^  +!)•  (30) 

Die  Gesamtzahl  der  Minusfälle  ist  also 

k  =  ka  +  kb+kc.  (31) 

In  unserem  Beispiel  ist  also  fc  =  0+2  +  9  =  ll  und  vi=  1  —  21  =  —  0,05. 

')  Vgl.  P.  Gordan,  Vorlesungen  über  Invariantentheorie,  hrsg.  von  G.  Kerschen- 
Bteiner,  Bd.  I,  S.  2f. 

")  Vgl.  die  Darstellung  in  den  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  IV. 
Dort  sind  auch  die  für  unsere  Zwecke  nötigen  weiteren  Ausgestaltungen  (für  die 
Pluszeichen,  für  die  Nullfälle  und  resultatlosen  Vergleiche)  entwickelt. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      149 

4.  Wir  wollen  nun  noch  zwei  Beispiele  behandeln,  die  sich  als  Anwendungen 
der  vorausgehenden  Ausführungen  darstellen.  Das  erste  entnehme  ich  dem 
Aufsatz  von  H.  Damm,  Zur  Einführung  in  die  Korrelationsstatik.^)  Korre- 
liert werden  da  Leistungen  in  der  Geschwindigkeit  des  Addierens  (a)  und 
des  Rückwärtszählens  (ß).  Das  Beispiel  zeigt  deutlich  die  Einfachheit  der 
hier  benützten  Methode,  wenn  man  die  Gordansche  Regel  mit  verwendet. 
Es  waren  28  Vpn.   Die  Reihe  ß  ist  der  Reihe  a  zugeordnet ;  also  ist 


ß„  =  2  6  3  4  10  14  1  27  8  9  7  23  11  19 


18  16  12  17  24  20  15  5  25  20  13  22  26  28 


11 


6       335    13    2 


12    1 


157        2U    8    2 


fca=  26;  h  =  291/2 ;  fcc  =  144—  7  •  15  =  39;  also  fe  =  93  Vz 

2  •  93  5 
^  ""  ^  ~"  14    27  ^  +Q'^^  (genauer  0,5053). 

Die  Korrelation  hat  also  eine  Größe  von  0,51.  Der  hypothetische  Streu- 
ungswert (vgl.  unten  S.  155)  ist  ±  0,12.  Nach  der  von  Damm  angewandten 
Methode^),  die  durch  Spearman  verbreitet  wurde,  kommt  0,662  heraus  mit 
einem  hypothetischen  Streuungswert  von  +.  0,14.  (Bei  Damm  ist  der  wahr- 
ßcheinhche  Fehler  (0,10)  angegeben.) 

Das  zweite  Beispiel  ist  fingiert.  Es  soll  die  Gewinnung  der  Korrelation 
aus  Zensuren  repräsentieren.  Die  Schulklasse  ist  aus  Gründen  der  Platz- 
ersparnis —  hier,  nicht  in  der  Schule  —  nur  aus  12  Schülern  bestehend  ge- 
dacht. In  beiden  Fächern  0-  und  g  kommt  nur  eine  dreistufige  Zensurskala 
zur  Anwendung.  Die  Rangstufen  im  Fach  &•  sind  denen  des  Faches  S  zu- 
geordnet. Der  Deutlichkeit  halber  ist  kein  abgekürztes  Verfahren  verwendet. 


'3i{&O  =  —J^  =  -0A2. 


d^t=  332       31  221-1 

Ö       0  — 

0       0  — 

H 0     0 

+  +00 
0  0 
0     0 

Auch  hier  sind  die  Schwierigkeiten  nicht  unüberwindlich,  wenn  die  Bestim- 
mung auch  nicht  so  glatt  vor  sich  geht,  wie  da,  wo  wir  genau  soviel  Rang- 
stufen haben  als  Individuen.  Übrigens  läßt  sich  auch  in  diesem  Fall  durch 
das  abgekürzte  Verfahren  die  Arbeit  wesentlich  verringern. 

6.  Über  die   Gewinnung  des  Durchschnitts-  und  Streuungswertes    aus 
einer  größeren  Reihe  von  Einzelbestimmungen  ist  hier  nichts  weiter  zu  be- 


')  Vgl.  Archiv  für  Pädagogik  II.  Teil,  1.  Jahrgang,  S.  301  ff.  Die  Frage,  ob 
die  Korrelation  besser  mit  Hilfe  der  Maßwerto  berechnet  worden  wäre,  bleibt  hier 
außer  Betracht;  vgl.  dazu  die  Methoden  d.  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  XIII. 

»)  Vgl.  dazu  unten  S.  156  ff. 


150     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

merken.  Es  gelten  hier  dieselben  Regeln  wie  für  die  übrigen  Korrelations- 
koeffizienten oder  wie  für  die  Mittelbildung  überhaupt.  Dagegen  stellt  diese 
Bestimmung  der  theoretischen  Mittelwerte,  insbesondere  die  des  theoretischen 
Streuungs wertes,  ein  neues  Problem  dar. 

Zunächst  wollen  wir  den  Durchschnitt  und  die  Streuung  für  den  Fall  der 
Unabhängigkeit  berechnen.  Wenn  eine  Rangreihe  von  einer  anderen  völlig 
unabhängig  ist,  so  muß  bei  unbegrenzt  wiederholter  Ausführung  des  ganzen 
Versuches  diese  Rangreihe  alle  Permutationen,  die  gebildet  werden  können, 
gleichmäßig  durchlaufen.  Wir  haben  nun  zu  sehen,  wieviel  Minus  bzw. 
Plus  bei  einem  gegebenen  n  auftreten  können  und  mit  welcher  Häufigkeit  ein 
einzelnes  jeweils  vorkommt.  Dabei  können  wir  wieder  von  der  Annahme 
ausgehen,  daß  gerade  alle  Möglichkeiten  einmal  ausgeschöpft  werden 
sollen;  dies  geschieht,  wenn  die  eine  der  Rangreihen  jede  Permutation  gerade 
einmal  durchläuft,  während  die  andere  unverändert  bleibt.  Bestimmen  wir 
dann  von  jeder  einzelnen  Permutation  die  Minus-  oder  Pluszeichen,  so  können 
wir  alle  möglichen  Korrelationen,  also  alle  theoretischen  Einzelwerte  be- 
rechnen. Hierbei  können  wir  uns  wieder  an  die  Minuszeichen,  d.  h.  an  die 
Bestimmung  der  fc-Werte  und  ihrer  Häufigkeiten  anhalten,  um  dann  zu 
dem  fH-System  überzugehen. 

Haben  wir  nur  eine  zweigUedrige  Rangreihe,  so  können  wir  bloß  2  Permu- 
tationen 1  2  und  2  1  herstellen,  wovon  die  erste  keinen  Minusfall,  die  zweite 
einen  solchen  aufweist.  Eine  dreigliedrige  Rangreihe  gibt  6  Permutationen; 
1  Permutation  mit  0,  2  mit  1,  2  mit  2  und  1  mit  3  Minus;  eine  viergHedrige 
Rangreihe  gibt  bereits  24  Permutationen;  die  Anzahl  der  Minus  bewegen 
sich  zwischen  0  und  \n(n — 1)  =  6;  die  dazugehörigen  Häufigkeitsziffern 
ersehe  man  aus  der  Übersicht  VI,  welche  die  einem  bestimmten  n  und  fc 
entsprechende  Anzahl  der  Permutationen  bis  n  =  5  enthält. 


k  = 

0 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

10     .      . 

n  =  2 

1 

1 

3 

1 

2 

2 

1 

4 

1 

3 

5 

6 

5 

3 

1 

5 

1 

4 

9 

15 

20 

22 

20 

15 

9 

4 

1 

(VI) 


Aus  dieser  Übersicht  läßt  sich  auch  eine  allgemeine  Reduktionsformel  zur 
Bestimmung  dieser  Häufigkeitsziffern  ablesen.  Bezeichnet  Z'J^  die  Häufig- 
keitsziffer der  Tc  Minuszeichen  einer  n-gliedrigen  Permutation,  Z^^ü.^  die 
unmittelbar  vorausgehende  dieser  Permutation,  Zjf  ~^^  und  Z^^JT»^  die  Häu- 
figkeitsziffern der  den  Indices  entsprechenden  Minusfälle  der  (n  —  1)  -glie- 
drigen  Permutation,  so  gilt  allgemein  die  Gleichung^)  1 1  | 

ZP^Zi}"^!  +^r-'^-^?-n'  (32) 


^)  Dabei  ist  natürlich  Z^^_„'  so  lange  gleich  0,  als  k — n  einen  negativen  Wert  hat. 


1 

1 
1  1 

1  1 

(1-2)         11 

1   1 

12  2  1 
(1  •  2  •  3)    12  2  1 

12  2   1 
12   2  1 

1   2   2   ij 

Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      151 

Die  Häufigkeitsziffern  können  wir  aber  auch  noch  auf  anderem  Wege 
erhalten,  nämlich  dadurch,  daß  wir  das  Produkt 

i?  =  li  (14-1),  (1+1+1)3(14-1+1+1)4(1+.. .  +  1)6. ..(1+1+ •••  +  !)* 


(1  •  2  •  3  •  4)  usw.        (33) 

13  5  6  6  3  1 

ausmultiplizieren  und  die  Einzelprodukte  nach  dem  Staffelprinzip  unterein- 
ander schreiben^),  um  sie  dann  zu  addieren. 

Wir  sehen,  dieses  Produkt  hat  ganz  dieselbe  Bedeutung  für  die  Gewinnung 
der  Häufigkeiten  bei  mehrgliedrigen  Rangordnungen  wie  der  Ausdruck  (1  +1)' 
bei  zweigliedrigen.  Wir  können  diesem  Produkt  auch  eine  ganz  ähnhche 
Deutung  geben  wie  dem  Binomialausdruck.  Hier  in  dem  vorliegenden  Fall 
haben  wir  Rangplätze  zu  verteilen.  Diese  Rangplätze  sind  uns  gegeben 
durch  die  Verschiedenheit  der  Leistungen  auf  dem  einen  Gebiet ;  die  Ver- 
teilung soll  nun  erfolgen  auf  Grund  der  Leistungen  in  dem  andern.  Besteht 
nun  keine  Abhängigkeit  zwischen  den  Leistungen  beider  Gebiete,  so  werden  die 
Chancen  eines  jeden  Schülers  für  jeden  der  zu  verteilenden  Rangplätze  die- 
selben sein;  darum  sind  auch  die  einzelnen  Posten  in  den  Faktoren  des  Pro- 
duktes gleich.  Habe  ich  nur  einen  Rangplatz  (I)  und  einen  Schüler  (1), 
so  ist  der  Ausfall  der  Verteilung  völlig  eindeutig;  tritt  ein  weiterer  Rang- 
platz (II)  und  ein  weiterer  Schüler  (2)  hinzu,  so  können  die  beiden  Rang- 
plätze (I II)  ebensogut  mit  1  2  als  mit  2  1  besetzt  werden.  Die  Vergleichung 
liefert  dann  0  bzw.  1  Minuszeichen.  Tritt  ein  dritter  Rangplatz  (III)  und 
ein  dritter  Schüler  hinzu,  so  kann  dieser  ebensogut  auf  den  III.  als  auf  den 
IL  oder  I.  Rangplatz  zu  sitzen  kommen ;  bei  der  Vergleichung  kämen  dem- 
nach durch  ihn  allein  ebensogut  0  als  1  oder  2 Minuszeichen  zustande.  Jede 
dieser  drei  Möglichkeiten  kann  sich  aber  mit  jeder  der  beiden  durch  die  in- 
folge der  übrigbleibenden  Rangplätze  vorhandenen  Möglichkeiten  kombinieren. 
Das  kommt  in  der  Produktenbildung  1  (1  + 1)  (1  + 1  +  1)  zum  Ausdruck. 
Bei  weiteren  Rangplätzen  und  Schülern  ist  die  Überlegung  die  gleiche.  Da 
wh*  aber  jetzt  nicht  nur  wissen,  daß  die  gleichgroßen  Posten  gleiche  Chancen 
darstellen,  sondern  auch  die  Wirkung  der  Träger  dieser  gleichen  Chancen 
auf  das  Resultat  kennen,  so  vermögen  wir  uns  auch  den  Sinn  des  Staffelprinzips 
klar  zu  machen.  Zu  diesem  Zweck  schreiben  wir  uns  nochmals  das  Produkt 
R  au  und  setzen  als  Index  an  jeden  Posten  der  einzelnen  Faktoren  die  An- 
zahl der  von  ihm  bewirkten  Minuszeichen.  Die  Chancen  dieser  Anzahl  sind 
ja  im  Verhältnis  zu  dem  der  anderen  durch  den  Wert  des  Postens  (hier 
durch  1)  ausgedrückt.  Wir  erhalten  dann 

B=lo-(lo+ll)'(lo+ll+l2)-(lo+ll+l2+l3)-(lo+ll+l2+l3+l4)-....   (33a) 

Multiplizieren  wir  dieses  Produkt  aus,  so  gibt  uns  die  Indic es  summe 
eines  jeden  Teilproduktes  die  Anzahl  der  Minus  an,  die  dieses  Teilprodukt 

*)  Die  Staffeln  sind  hier  aus  Platzökonomie  nach  jeder  Multiplikation  abgebrochen 
und  rechts  davon  weitergeführt.      t 


152     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

zur  Gesamtanzahl  beiträgt;  denn  die  einzelnen  Indices  bezeichnen  ja  den 
Beitrag  der  Einzelfaktoren.  Fassen  wir  also  diejenigen  in  den  Teilproduk- 
ten dargestellten  Chancen,  welche  die  gleiche  Anzahl  Minuszeichen  hervor- 
bringen, in  eine  Zahl  zusammen,  so  führt  uns  dies  zu  dem  Staffelprinz 'p 
in  der  Anordnung  dieser  Teilprodukte,  wie  die  Ausführung  der  Multiplikation 
ohne  weiteres  zeigt.    Es  ist  z  B. 


(lo  +  li)(lo+li+l2)=lo-lo+lo-li+lo-li  +  li-li  +  lol2+li-l2=l+2+2+l. 

Das  arithmetische  Mittel  (K)  aller  Werte  läßt  sich  leicht  aus  der  Verteilung 
ablesen.  Diese  ist  symmetrisch,  und  infolgedessen  liegt  das  arithmetische 
Mittel  auf  der  Mitte  der  Abzisse.  Das  ganze  Ausdehnungsgebiet  hat  den 
Betrag  \n{n  —  1) ;  infolgedessen  ist 

^  =  jn(n-;i).  (34) 

6.  "Weniger  einfach  ist  die  deduktive  Bestimmung  des  mittleren  Abwei- 
chungsquadrates aus  den  allgemeinen  Voraussetzungen.  Darauf  kann  ich 
in  diesem  Zusammenhang  nicht  weiter  eingehen.^)  Aber  ich  will  eine  ganz 
einfache  und  leicht  verständliche  Methode,  die  sich  allgemein  zur  Bestim- 
mung der  theoretischen  Mittelwerte  eignet,  wenn  diese  bloß  von  n  abhängig 
sind,  hier  kurz  darlegen.  Der  Grundgedanke  dieser  Methode  ist,  auf  den 
Fall  der  Unabhängigkeit  angewandt,  folgender :  Da  die  Verteilung  aller  mög- 
lichen Einzelwerte  im  Fall  der  Unabhängigkeit  sich  immer  aus  dem  Wesen 
der  Unabhängigkeit  ergibt,  so  können  wir  die  theoretischen  Mittelwerte 
(Arithm.  Mittel  und  Streuung)  für  ein  spezielles  n  immer  berechnen,  also 
auch  fürn  =  0, 1,  2,  3, .  . .  .  Die  erhaltenen  Beträge  müssen  eine  arithmetische 
Reihe  von  derselben  Ordnung  bilden,  von  der  der  Grad  des  allgemeinen 
Ausdrucks  für  den  theoretischen  Mittelwert  ist.  Denn  hätten  wir  diesen 
allgemeinen  Ausdruck,  so  könnten  wir  für  n  =  0,  1,  2,  3, . . .  setzen  und 
müßten  dann  dieselben  Werte  erhalten,  die  wir  auf  dem  anderen  Wege  aus- 
gerechnet haben.  Wir  brauchen  also  nur  das  allgemeine  Glied  der  berech- 
neten arithmetischen  Reihe  zu  bestimmen,  so  haben  wir  zugleich  den  all- 
gemeinen Ausdruck  für  den  theoretischen  Mittelwert.  Mit  Hilfe  dieser 
,Methode  der  Reihenbildung'  lassen  sich  alle  die  hier  betrachteten 
theoretischen  Mittelwerte,  die  arithmetischen  Mittel  sowohl  wie  die  Streu- 
ungswerte, gewinnen. 

Diese  Methode  sei  kurz  an  dem  hier  vorliegenden  Fall  illustriert.  Die  zu 
den  einzelnen  n- Werten  gehörenden  arithmetischen  Mittel  K  und  mittleren 
Abweichungsquadrate  Q^  sind  aus  den  entsprechenden  Häufigkeitsver- 
teilungen durch  Rechnung  gewonnen  und  in  der  Übersicht  VII  zusammen- 
gestellt. K  ist  dabei  mit  2,Q^  mit  12  multipliziert,  um  Bruchzahlen  inner- 
halb der  Reihen  zu  vermeiden.    Unter  der  Reihe  für  2K  bzw.  für  12Q^  sind 


>)  Vgl.  die  Methoden  d.  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  VI.  Die  Ableitimg  des  mittleren 
Abweichirngsquadrates  für  die  A;- Werte  im  Fall  der  Unabhängigkeit  ist  bereits  von 
G.  F.  Lipps  (Die  Bestimmvmg  der  Abhängigkeit  zwischen  den  Merkmalen  eines 
Gegenstandes,  1905,  S.  31  f.)  gegeben  worden;  allerdings  erscheint  bei  ihm  das 
Resultat  noch  an  die  Verwendung  eines  mathematischen  Ktinstgriffes  gebunden. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      153 

zugleich  die  dazu  gehörigen  Differenzenreihen  in  kleinen  Ziffern  angedeutet, 
um  die  Berechnung  zu  veranschaulichen. 

n       =012345.. 
2ä:=001       3       6     10.. 

0        12  3  4  .  . 

11  1  1  .  .  (YJJN 

12Q''  =  0     0     3     11     26     50      .     .  ^       ^ 

0        3        8  15         24 

3        5  7  9.. 

2        2  2  , 

Setzt  man  nun  in  der  Formel  für  das  allgemeine  Glied  einer  arithmetischen 
Reihe   rter   Ordnung      yn=  yo+(i)^i+ (2)^2+ (gjc^a  +  •  •  • +  (^)^r 

wobei  yo  das  Anfangsglied  der  Hauptreihe,  d^,  d^,  d^^-  --  dr  die  Anfangs- 
glieder der  ersten,  zweiten,  dritten,  .  . .  rten  Differenzenreihe  sind,  so  erhält 
man  für  das  arithmetische  Mittel  die  uns  schon  bekannte  Gleichung  (34) 

K  =  t(o)  =  t^(^  —  1)  ^^^  ^^  ^^3  mittlere  Abweichungsquadrat  die 
Gleichung 

Q'  =  i^[(2)-3+(3)-2]  =  4^(^-l)(2n+5),  (35) 

woraus  sich  durch  Erweiterung  mit  2  und  Wurzelziehung  ergibt,  daß  der 
theoretische  Streuungswert  für  die  einzelnen  k  im  Fall  der 
Unabhängigkeit 

Q  =  — /2n(n— l)(2n+5)  (36) 

1^ 

ist. 

Gehen  wir  nun  zu  den  9l-Werten  über,  so  brauchen  wir  nur  in  der  Glei- 
chung (29)  für  k  =  ^n(n — 1)  zu  setzen,  und  wir  erhalten  dann  für  das 
theoretische  durchschnittliche  9?o  bei  gegenseitiger  Unabhängigkeit  beider 
Rangreihen 

^  n(n — ^1)     ^  ,    , 

9*0=1 7 7T  =  0.  (37) 

n{n — 1) 

Zur  Formulierung  der  zu  9f?o  =  0  gehörigen  theoretischen  Streu- 
ungswerte Po  müssen  wir  die  Proportion  benützen 

Q:%  =  \n(n—l):l        oder         %  =  ^^^_^y  (38) 

Daraus  ergibt  sich  dann  mit  Rücksicht  auf  den  Wert  für  Q  in  Gleichung  (36) 

o  '      n{n — 1) 

^)  Als  Koeffizienten  der  Sukzessionsabhängigkeit  habe  ich  im  Anschluß  eui  die  von 
G.  F.  Lipps  a.  a.  O.  gegebenen  Entwicklungen  {R  und  qo  (für  den  Fall  der  Unab- 
hängigkeit) bereits  in  einer  früheren  Arbeit  (Beiträge  zur  Erforschung  der  Reak- 
tionsformen I  in  W.  Wundta  Psych.  Stud.,  Bd.  IV,  S.  418)  formtüiert. 


154     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

Die    gegenseitige    Unabhängigkeit      zweier     Rangreihen     ist 


,^^^^V.^(2n+5) 


somit    durch   die   Doppelgleichung  9f?o±^o  =  0±:rr    —h r-  clia- 

o  '      n{n — 1) 

rakterisiert. 

Es  besteht  demnach  Unabhängigkeit  zwischen  zwei  nach 
Rangordnungen  abstufbaren  Leistungsgebieten,  wenn  die  aus 
einer  genügend  großen  Zahl  von  Versuchen  gewonnenen  Mittel- 
werte ^g  und  Qs  die  Doppelgleichung  9ls±qs  =  0±qo  hinreichend 
befriedigen. 

7.  Mit  der  gleichen  Strenge  und  ganz  analog  dem  Fall  der  Unabhängig- 
keit lassen  sich  auch  die  theoretischen  Mittelwerte  für  jeden  beliebigen  Grad 
der  Abhängigkeit  entwickeln.  Doch  kann  ich  darauf  hier  nicht  näher  ein- 
gehen.i)  d^^  Ableitungen  schließen  sich  ebenfalls  an  das  oben  gegebene 
Produkt  an;  nur  sind  natürlich  die  Chancen  bei  der  Verteilung  der  Rang- 
plätze dann,  wenn  beide  Rangreihen  in  gegenseitiger  Abhängigkeit  stehen, 
nicht  mehr  gleich,  sondern  in  bestimmter  Weise  abgestuft,  je  nach  dem  Grad 
der  Abhängigkeit  verschieden.  Die  Produktenformel  entspricht  auch  insofern 
dem  Binom  {i+ky,  als  sie  ebenfalls  die  Bedingungen  für  die  reguläre  Abhängig- 
keit ausdrückt.  Die  Abstufung  der  Chancen  in  den  einzelnen  Faktoren  des 
Produktes  muß  so  beschaffen  sein,  daß  der  Durchschnittswert  für  die  Plus- 
oder Minuszeichen  durch  das  Hinzutreten  eines  weiteren  Faktors  nicht  ver- 
ändert wird;  denn  nur  so  bleibt  natürlich  der  Wahrscheinlichkeitsbestand 
bei  der  Platzverteilung  derselbe.  Darum  sind  aber  auch  hier  dieselben  Kri- 
terien für  die  Existenz  regulärer  Abhängigkeit  gültig,  die  wir  bei  dem  zuvor 
betrachteten  Koeffizienten  formulierten.  Wir  bekommen  deshalb  auch  für 
die  theoretischen  Mittelwerte  hier  ganz  analoge  Gleichungen  wie  dort.  Es 
ist  nun  der  Durchschnitt  aus  allen  möglichen  Einzelwerten  bei  einer 
gegenseitigen  Abhängigkeit  von  der  Größe  ^  bestimmt  durch 

9i„=i_-^-_^=i-^— — -=m.  (40) 

"  ^n{n — 1)  Y^Cn — 1) 

Der  zu  9^0  =  3^1  gehörige  Streuungswert  ist  dann 


..4K 


6(1— 9l^)(2n+5-|-^(2n— 1))  .^^. 

n{n—l)iB-\-m) 

Stehen  zweiRangreihen  in  gegenseitigerAbhängigkeitvomGrade 
fH,   so   ist  die   Gesamtheit   aller    möglichen  Einzelkorrelationen 

^        0,^-   -n           ,1-1,          «>-4_          cvjo.  il/6(l-9t')(2n+5+3t(2n-l)) 
durchdieDoppelgleichung  9lo±qo  =  3l±|f/  -^^ yt(n— 1)(3  +^) 

gekennzeichnet. 

Zwei  nach  Rangordnungen  abgestufte  Leistungsgebiete  weisen 
den  Korrelationsgrad  9fl  auf,  wenn  die  aus  einer  genügend  großen 
Zahl  von  Versuchen  gewonnenen  Mittelwerte  %  und  q^  die 
Doppelgleichung  9^si:^s=^oii'qj  hinreichend  befriedigen. 


^)  Vgl.  Die  Methoden  der  R,-  u.  O.-Korr.    Kap.  X. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      155 


Da  der  hypothetische  Streuungswert  einfach  dadurch  gewonnen 
wird,  daß  man  in  der  Formel  für  den  theoretischen  Streuungswert  an  Stelle 
des  ,wahren  Mittels'  oder  des  theoretischen  Durchschnittswertes  den  empi- 
risch gefundenen  Einzelwert  9fi  setzt,  so  ist  der  einem  empirischen  9t  ent- 
sprechende hypothetische  Streuungswert  (qA)  durch  den  Ausdruck 

""'-sV  ^(n_i)(3+3l) '3  »^  ~^r-  ^  ^^^^ 

dargestellt. 

8.  Wenn  wir  die  Häufigkeitszahlen  der  Übersicht  (VI)  betrachten,  so  er- 
kennen wir  sofort,  daß  hier  keine  Binomialzahlen  vorliegen.  Jedenfalls 
stimmen  die  Binomialkurven  oder  B-Kurven  eines  bestimmten  t  mit  den 
Häufigkeitskurven  der  k-  oder  Üt-Werte  hier,  oder  kurz  mit  den  R- Kurven, 
deren  n=  t  ist,  nicht  überein.  Gleichviel  lassen  sich  immer  solche 
B-Kurven  angeben,  die  mit  den  R- Kurven  nahezu  zusammenfallen.  Es  sind 
diejenigen,  deren 

*-2(2n  +  5)  ^^^^ 

ist ;  wir  müssen  aber  natürlich  die  Kurven  so  zeichnen,  daß  die  Basis  und 
der  Flächeninhalt  der  Kurven  gleich  bleibt.^)  Das  läßt  ja  allerdings  schon 
vermuten,  daß  die  R-Kurven  ebenso  wie  die  B-Kurven  durch  die  Expo- 
nentialformel  oder  das  Gaußsche  ,Fehlergesetz'  näherungsweise  dargestellt 
werden  können.  Es  läßt  sich  aber  auch  exakt  nachweisen,  daß  mit  unbe- 
grenzt wachsendem  n  die  R-Kurven  in  Exponential-  oder  Gaußsche  Fehler- 
kurven übergehen.  Die  Ordinaten  der  zu  einem  bestimmten  Korrelations- 
grad 9t  gehörenden  Wahrscheinlichkeitskurve  sind  dann  durch  die  Nähe- 
rungsformel 

1  (x—m)* 

l,  =  —T=e       2q2  (44) 

qoV  27C 

gegeben.  Wird  91  =  0,  d.  h.  besteht  Unabhängigkeit  zwischen  den  beiden 
Reihen,  so  geht  diese  Gleichung  über  in 

qoV  2  t: 

In  diesen  Ausdrücken  bedeutet  x  wieder  die  laufende  Koordinate  zwischen 
—  1  und  +  1,  Qo  das  theoretische  (oder  das  hypothetische)  Streuungsmaß  im 
Fall  der  Unabhängigkeit,  also  der  Wert  aus  der  Gleichung  (39). 

Wenn  man  also  die  Rangkorrelationen  dem  Wesen  der  Rang- 
bestimmung und  Rangverteilung  entsprechend  behandelt,  so  folgt 

*)  Der  Näherungswert  wird  bei  kleinem  n  nicht  allzu  genau;  es  empfiehlt  sich 
darum  die  erste,  völlig  exakte  Formel  zu  benutzen.  Übrigens  wird  die  in  meinen 
Untersuchungen  beigegebene  Tafel  der  hypothetischen  Streuungs werte  die  Berech- 
nung für  die  am  häufigsten  vorkommenden  n  teils  überflüssig  machen,  teils  wesent- 
lich vereinfachen. 

*)  Vgl.  deizu.  die  oben  gemachten  Bemerkungen  6.  125. 


156     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 


die  Verteilung  der  Einzelwerte  bei  Unabhängigkeit  und  regu- 
lärer Abhängigkeit  exakt  den  Relationen  des  Gaußschen  Fehler- 
gesetzes —  was  zugleich  besagt,  daß  dieses  allgemeinerer  Natur  ist,  als 
häufig  angenommen  wird. 

IV. 

1.  Bisher  hat  man  fast  allgemein  die  Korrelationen  aus  Rangreihen  in 
anderer  Weise  bestimmt.  Man  ging  von  dem  Gedanken  aus,  daß  zwei  Rang- 
reihen um  so  mehr  übereinstimmen,  je  geringer  die  Differenzen  der  Rang- 
werte sind.  Im  Anschluß  an  die  Überlegung  sind  die  beiden  von  Ch.  Spear- 
man  formulierten  und  verbreiteten  Koeffizienten  R  und  p  entstanden;  unter 
diesen  beiden  schließt  sich  wieder  der  zweite  (p)  in  seiner  mathematischen 
Form  eng  an  den  von  Bravais  bereits  aufgestellten,  allgemein  mit  r  bezeich- 
neten an;  er  läßt  sich  auch  direkt  aus  ihm  herleiten.^)  Die  beiden  Koeffi- 
zienten sind  durch  die  Gleichungen  (46)  und  (47)  definiert.   Es  ist  nämlich 


R  =  l 


und 


62^ 

Sfir           ^      Söf_ 

M—llg 

n^—1 

Un'-l)             ^ 

'      M 

6Sd2 

1      ln(n2— 1)      ^ 

6 

(46) 


(47) 


Wir  wollen  Sie  an  einem  Beispiel  verständlich  machen.  Es  mögen  ß  und  y 
die  zwei  zu  korrelierenden  Fähigkeiten  sein,  wobei  die  zur  Untersuchung 
herangezogenen  sieben  Versuchspersonen  die  Rangordnungen  der  Über- 
sicht VIII  aufweisen. 


Ä  B  C  D  E  F  G 
ß=1234567 
Y=452  7163 
g  =  1  4    0    4 

d^=9     9     1     9  16     0  16 
h  =  2  4     14 


9 
60 
11 


R=  1  — 
P  =  l  — 


6  -9 
48 
6-60 
7-48 
211 
21 


—  0,125 

—  0,071       (VIII) 

—  0,048 


Wie  aus  dieser  Übersicht  hervorgeht,  bedeutet  g  die  einfache  positive  Diffe- 
renz der  beiden  Rangwerte  und  T>g  die  Summe  derselben  —  die  negativen 
haben  den  gleichen  Summenbetrag  und  können  deshalb  ignoriert  werden. 
Weiter  bedeutet  d^  das  Differenzenquadrat,  n  die  Anzahl  der  rangierten 
Personen;  die  Anzahl  der  Minusfälle  (k)  ist  zurVergleichung  beigegeben.  Der 
Nenner  in  der  Gleichung  für  R,  also  M  =  ^  (n^  —  l)  ist  der  bei  völliger 
Unabhängigkeit  im  Durchschnitt  zu  erwartende  Wert  von  Xg,  während  der 
Nenner  der  Gleichung  fürp,  also  (j(.=-5-n(n^—l)  das  halbe  M  aximum  von  Sci^  ist; 


1)  Vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  V. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.      157 

dieser  Betrag  wird  von  I-Sd^  im  Falle  völligen  Gegensatzes  der  beiden 
Reihen  erreicht.^) 

2.  Der  Koeffizient  R  hat  nun  einige  merkwürdige  Eigenheiten,  die  nicht 
nur  das  Gefühl  für  Symmetrie  mathematischer  Ausdrücke  empfindlich 
stören,  sondern  auch  sachliche  Bedenken  hervorrufen.  Zunächst  gibt  er  für 
gerade  und  ungerade  n  den  Korrelationsgrad  verschieden  an.  Die  Korre- 
lationswerte aus  je  zwei  völlig  inversen  Reihen  z.  B.  mit  geradem  und  un- 
geradem n  werden  nicht  gleich,  wie  man  erwarten  sollte.  Der  Unterschied 
ist  allerdings  um  so  geringer,  je  größer  n  ist;  er  beträgt  für  n  =  6,  wie  man 
leicht  finden  kann,  immer  noch  0,0628.  Außerdem  ist  R  gänzHch  unsym- 
metrisch, indem  die  Werte  zwischen  +  1  und  0,  den  Werten  zwischen  0  und 
—  0,5  (von  der  soeben  gerügten  Ungleichheit  abgesehen)  entsprechen.  Diese 
Asymmetrie  ist  aber  nicht  nur  durch  den  als  Nenner  höchst  unzweckmäßigen 
Wert  M  hervorgebracht,  vielmehr  ist  auch  die  Verteilung  der  Häufigkeiten 
auf  der  Abszisse  schon  im  Fall  der  Unabhängigkeit  asymmetrisch.  Zur 
Illustration  setze  ich  aus  meinen  Untersuchungen  die  Häufigkeiten  (z)  der 
theoretischen   Korrelationswerte    (JRo)  für  ögliedrige  Rangreihen  hierher. 

Ro  =  1,00    0,75     0,50    0,25     0,00    —0,25    —0,50 
2=1  4        12        24       35  24  20 

Spearman  hat  zwar  in  der  genannten  Abhandlung  angemerkt,  daß  bei  stark 
inversen  Reihen  die  eine  umzukehren  und  der  dann  gefundene  Wert 
mit  —  1  zu  multiplizieren  sei.  Aber  eine  genauere  Betrachtung  zeigt,  daß 
diese  Hilfsregel  nicht  genügt.  2)  Außerdem  wird  durch  diese  Regel  das  Aus- 
dehnungsgebiet des  Koeffizienten  plötzlich  ein  ganz  anderes;  es  erstreckt 
sich  nun  von  + 1  über  0  bis  —  1.  An  sich  wäre  das  nicht  schlimm;  aber  der 
von  Spearman  bestimmte  theoretische  Streuungswett  gilt  bloß  für  das 
erstgenannte  Ausbreitungsgebiet  von  +1  bis  —  0,5,  nicht  für  das  neue. 
Solange  also  der  Koeffizient  R  von  den  genannten  Mängeln 
nicht  befreit  ist,  kann  man  ihn  aber  auch  nicht  anwenden.  Daß 
er  relativ  wenig  Rechenarbeit  erfordert,  ist  kein  stichhaltiger  Grund  gegen- 
über diesen  Bedenken.  Übrigens  hat  der  Hinweis  auf  die  Zeitersparnis  nur 
so  lange  Sinn,  als  man  R  und  p  einander  gegenüberstellen  will.  Der  Koeffi- 
zient di  dürfte  sogar  noch  ein  geringeres  Quantum  von  Rechnungsarbeit 
benötigen  als  R. 

3.  Der  Koeffizient  p  zeigt  solch  plumpe  Mängel  nicht:  sein  Verlauf  ist 
völlig  symmetrisch  zu  0;  denn  er  bewegt  sich  von  + 1  über  0  bis  —  1.  Auch 
ordnen  sich  die  Häufigkeiten  im  Fall  der  Unabhängigkeit  (vgl.  Fig.  1,  Kurve 
D(n=5)  und  die  Übersicht  IX)  symmetrisch  an,  und  die  Umkehrung  der 
einen  der  beiden  Reihen  erzeugt  den  selben  Korrelationsbetrag  nur  mit  —  1 


')  über  die  Ableitung  dieser  Ausdrücke  vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr., 
Kap.  V;  sie  lassen  sich  natürlich  auch  mit  Hilfe  der  »Methode  der  Reihenbildung'  ge- 
winnen. Die  Spearmansche  Ableitung  von  M  sowie  die  des  theoret.  Streuungswertes 
von  R  ist  etwas  umständlich;  sie  findet  sich  im  II.  Bd.  des  British  Journal  of  Psycho- 
logy,  S.  89ff. 

•)  Vgl.  die  Ausführvmgen  im  V.  Kap.  meiner  Untersuchungen,  wo  zugleich  die 
Verbesserungsmöglichkeiten  behandelt  sind. 


158     Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnting  in  der  Pädagogik  usw. 

multipliziert.  Er  erfordert  zwar  etwas  viel  Arbeit  bei  der  Berecbnung;  aber 
dies  ist  ein  nebensäcbliclier  Gesichtspunkt.  Das  theoretische  Streuungsmaß 
ist  in  einer  brauchbaren  Annäherung  bekannt  in  der  Form  des  wahrschein- 
lichen Fehlers.^)     Soweit  ist  also  die  Sache  in  Ordnung.  Bedenken  steigen 


I  I  I  I  I  I  I  I  I  I  I      —^^T^  I  1  I  I  J  I  J  I 

-1,0     -Ci     -4i     -(?;     -iS    -0!     -«♦     -0,1     -a/i     -V       U       »       ttl      09       tif      il       CS       07      äS       V       tt 

Fig.  1.  Kurven  der  Wahrscheinlichkeit  oder  relativen  Häufigkeit  der  Koeffizienten 
werte  91  [Kurve  i2  (n  =  5)]  und  q  [Kurve  D  {n  =  5)]  bei  gegenseitiger  Unabhängig- 
keit der  beiden  korrelierten  Reihen. 

uns  erst  auf,  wenn  wir  dieWahrscheinlichkeitskurve  desKoeffizienten, 
insbesondere  die  für  den  Fall  der  Unabhängigkeit  studieren.  Diese  ist  für 
n=  5  in  Figur  1  abgebildet ;  es  ist  die  punktiert  gezeichnete  Kurve  D  (n=  5). 
Sie  ist  dadurch  gewonnen  worden,  daß  die  gutgeordnete  Reihe  mit  den  120 
Permutationen  von  1  2  3  4  5  in  Korrelation  gebracht,  T>d^  bestimmt  und  p 
dann  berechnet  wurde.  Die  120  Werte  von  Hd^  ordnen  sich  den  Größen 
0,  2,  4. .  .  bis  40  in  der  Weise  zu,  wie  dies  die  Übersicht  IX  bei  s  zeigt  und 
die  Kurve  D(w=5)  abbildet: 


I]d^=     0        2        4   6    8   10   13   14 
»=14    36    76    4   10 

16 
6 

18 
10 

30 
6 

Q    =  1,0   0,9   0,8   0,7   0,6   0,5   0,4   0,3 

1:^2  =   23   34   36   38   30   33   34 
«=10    6   10    4    6    7    6 

0,3 

36 
3 

0,1 

38 
4 

0,0 

(IX) 
40 
1 

Q           0,1   0,3   0,3   0,4   0,5   0,6   0,7 

-0,8  - 

-0,9  - 

-1,0 

Von  einem  guten  Korrelationskoeffizienten  erwartet  man  aber 
nicht  nur,  daß  im  Falle  der  Unabhängigkeit  der  theoretische 
Durchschnittswert  aus  allen  möglichen  Einzelkorrelationen 
gleich  0  ist,  sondern  daß  er  in  diesem  Fall  auch  relativ  am  häu- 
figsten ist  und  daß  die  relative  Häufigkeit  oder  die  Wahr- 
scheinlichkeit der  Einzelwerte  ständig  abnimmt,  je  mehr  man 
sich  vom  Durchschnitt  (d.  h.  hier  von  0)  entfernt.  Dies  ist  der 
Fall  bei  ffi  [man  vergleiche  die  beigegebene  Kurve  R(n=  5)],  sowohl  für 
71  =  5  als  auch  für  andere,  nicht  dagegen  bei  p,  wie  die  Kurve  D(n=5) 
zeigt.    (Analogen  Verlauf  zeigen  übrigens  auch  4-  und  6gliedrige  Rang- 


^)  Vgl.  Die  Methode  der  R.-  u.  O.-Korr.,  Kap.  VII  und  die  folgende  Seite  hier. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechniing  in  der  Pädagogik  usw.      159 

reihen.)!)  Ein  Korrelationswert,  nach  der  p-Methode  bestimmt, 
deutet  also  keineswegs  um  so  sicherer  auf  einen  bestimmten 
Grad  der  gegenseitigen  Abhängigkeit  hin,  je  mehr  er  von  0  ab- 
weicht —  bei  5ghedrigen  Rangreihen  ist  im  Fall  der  Unabhängigkeit 
ein  Korrelationsbetrag  von  0,30  oder  0,60  viel  eher  oder  eher,  ein  solcher 
von  0,70  in  gleicher  Weise  zu  erwarten  wie  der  Wert  O!  —  und  darum 
empfiehlt  es  sich,  diese  Methode  der  Bestimmung  von  Rang- 
korrelationen der  Vergessenheit  anheimzugeben.  Sie  hat  ihre 
Dienste  getan  und  mitgeholfen,  uns  an  den  Korrelationsgedanken  zu  ge- 
wöhnen. Nun  es  einwandfreiere  Methoden  gibt,  die  zugleich  zweck- 
mäßiger   sind,    wird   man   sicher   sich   ihrer  nicht  mehr  bedienen.     Der 

i/l— pa 
wahrscheinliche  Fehler  des  Koeffizienten  ist  näherungsweise^)  0,706  y . 

'         n 

Er  ist  also  auch,  entsprechend  der  breiter  ausladenden  Häufigkeitskurve, 
größer  als  der  von  5R,  und  zwar  ist  dieser  etwa  nur  %  von  jenem  (vgl.  d. 
hyp.  Streuungswert  S.  155;  q^  mit  0,67449  multipliziert  gibt  den  wahr- 
scheinlichen Fehler). 

Zur  Orientierung  über  die  Größenbeziehung  von  9?  und  p  bemerke  ich  noch 
daß  p  im  Durchschnitt  größer  als  9t  ist;  im  einzelnen  können  die 
Unterschiede  nach  beiden  Seiten  gehen  und  recht  beträchtlich  sein.^)  Zur 
Illustration  des  durchschnittlichen  Unterschiedes  und  seiner  Abhängigkeit 
von  der  Größe  der  Korrelation  gebe  ich  zum  Schluß  dieses  Abschnittes  die 
Übersicht  X  bei.  Sie  enthält  die  9?- Werte  aller  möglichen  Rangbildungen  fünf- 
gliedriger  Reihen;  dazu  die  entsprechenden  Häuf igkeits Ziffern  Z.  Von  den 
jeweils  Z  Konstellationen  sind  auch  die  einzelnen  p-Werte  und  der  Dm'ch- 
schnitt  aus  diesen  berechnet. 


Z=      1          4         9         15         20 

22 

20 

15 

9 

4 

1 

«R  =  _1,0    -0,8  -0,6   -0,4   -0,2 

0,0 

0,2 

0,4 

0,6 

0,8 

1.0 

p=-l,0    -0,90-0,73-0,52-0,21 

0,0 

0,21 

0,52 

0,73 

0,9 

1,0 

_«R=:  _0,00  —0,10—0,13  —0,12  —0,01 

0,0 

0,01 

0,12 

0,13 

0,10 

0,0 

(X) 

Wir  sehen  aus  dieser  Übersicht,  daß  die  stärksten  durchschnittlichen  Ab- 
weichungen um  den  Betrag  9R= 0,6  herum  auftreten.  Daß  p  im  allgemeinen 
einen  höheren  Betrag  hat,  besagt  natürhch  nichts ;  jedenfalls  ist  es  keinerlei 
Empfehlung  für  ihn.  Denn  man  kann  mit  Hilfe  einer  Kreisfunktion  jeden 
Koeffizienten  so  verändern,  daß  er  das  Ausdehnungsgebiet  und  den  allge- 
meinen Verlauf  beibehält,  im  einzelnen  aber  von  dem  früheren  Betrag  in 
ähnlicher  Weise  abweicht  wie  p  von  3?.  (Fortsetzung  folgt.) 

>)  Vgl.  Die  Meth.  d.  R.-  u.  O.-Korr.  Kap.  VI. 

•)  Für    den    theoretischen    Streuungswert,   also   die  mittlere  quadratische   Ab- 

1 
•weichung,  ergibt  sich  nur  im  Fall  der  Unabhängigkeit  der  Wert  q^  —Tr^^f  (vgl. 

das  VI.  Kap.  meiner  Untersuchungen). 

*)  Weiteres  darüber  in  meinen  Untersuchungen,  Kap.  V;  vgl.  dort  auch  Tab.  I. 


160  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen 
von  taubstummen  Schülern. 

Von  Rudolf  Lindner. 

Taubstumme  Kinder  sind  reiner,  unverfälschter  in  ihrem  Handeln  als 
hörende.  Sie  sind  der  Sprache  entrückt,  und  Mahnungen,  Warnungen  und 
Belehrungen  über  Böse  und  Gut,  über  Recht  und  Unrecht,  die  das  Handeln 
der  hörenden  Kinder  fortwährend  begleiten  und  beeinflussen,  treffen  sie 
nicht.  Sie  bleiben  mehr  unerzogen,  ihren  Erziehern  mehr  entrückt,  sind  fast 
Kinder  der  Natur.  Wenn  Sully  vom  normalen  Kinde  redet  als  einem  ,, Er- 
innerungszeichen seiner  Rasse  und  gewissermaßen  einem  Schlüssel  zu  ihrer 
Geschichte",  so  gilt  das  in  viel  höherem  Maße  vom  taubstummen.  Mehr 
als  das  normale  Kind  spiegelt  es  zweifellos  für  uns  „den  wahrscheinlichen 
Zustand  des  ursprünglichen  Menschen  in  einer,  wenn  auch  schwachen,  ver- 
zerrtenWeise  wieder".  Die  Seele  des  Hörenden  untersteht  dem  stetig  wachsenden 
Einfluß  der  Sprache,  die  seine  Gedanken  ordnet  und  richtet,  einem  Einfluß, 
den  wir  in  seiner  Tragweite  kaum  abzuschätzen  vermögen. 

Gewiß  wirkt  das  Vorbild  der  Eltern  und  Geschwister  auch  auf  taub- 
stumme Kinder  ein,  arbeitet  die  Gewohnheit  auch  an  ihnen;  doch  so  lange 
die  Umwelt  nicht  mit  ihnen  zu  reden  vermag,  ihnen  unsere  Gewohnheiten 
und  Gebräuche,  unsere  Sitten  nicht  erklären  kann,  bleibt  es  bei  ihnen  bei 
mechanisch  nachgeahmten  Handlungen,  die  das  Innere  des  Kindes  nicht 
tief  treffen  und  bilden  können.  Der  Uneingeweihte  wird  aber  sofort  an  die 
Gebärdensprache  denken,  da  allgemein  die  Anschauung  verbreitet  ist,  man 
könne  sich  in  den  Zeichen  dieser  Sprache  in  der  gleichen  Weise  unterhalten 
wie  in  Lauten:  Ein  großer  Irrtum!  Wie  das  „Lexikon"  dieser  Gebärden- 
sprache arm  an  Zeichen  ist,  so  arm  sind  auch  die  darin  darstellbaren  Ge- 
danken. Als  Unterrichtsmittel  kommt  diese  Sprache  der  Wortsprache  gegen- 
über kaum  in  Betracht. 

Aber  es  bleibt  das  Lesen  und  Schreiben,  hört  man  allgemein  einwenden. 
Gewiß  greift  die  Taubstummenschule  zu  diesen  Darstellungsmitteln  der 
Sprache.  Die  taubstummen  Kinder  lernen  sogar  auch  reden  und  verstehen, 
indem  sie  die  Sprechbewegungen  vom  Munde  ablesen  und  nachahmen.  Aber 
wo  der  Sinn  des  Unterrichts,  wie  Aristoteles  das  Ohr  genannt  hat,  fehlt,  stößt 
die  Erlernung  der  Lautsprache  auf  tausenderlei  Schwierigkeiten,  die  diesen 
Unterricht  zum  schwierigsten  alles  Unterrichts  machen  und  nur  ganz  lang- 
sam Erfolge  gewinnen  lassen.  Nahezu  rein  bis  zum  Schulanfang  und 
dann  noch  weitere  vier,  fünf  Jahre,  ehe  die  wachsende  Sprache  auch  diese 
Seelen  veredelt  hat,  zeigt  uns  das  taubstumme  Kind  den  Zustand  des  natür- 
lichen Menschen,  des  natürlichen  Empfindens  und  Wollens. 

Das  Handeln  der  taubstummen  Kinder  selbst  zu  registrieren,  ist 
außerordentlich  schwierig,  da  sich  das  Ursprünglich-Eigentümliche  nur  zu 
leicht  den  Blicken  der  Erzieher  entzieht,  da  auch  das  Handeln  dieser  Kinder 
gefälscht  wird  unter  dem  Druck  der  Umgebung,  und,  wie  ihre  Taubheit  sie  den 
Einflüssen  der  Sprache  entzieht,  so  macht  es  das  fehlende  Gehör  geradezu 
unmöglich,  durch  Fragen  bis  an  die  Wurzeln  ihres  Handelns  vorzudringen. 


Moralpsychologische  Auswertimg  freier  Kinderzeiclinungen  usw.  161 

Ihre  Gefühle,  das  Sittliclie  in  ihnen,  das,  wie  sie  handeln  möchten  und  han- 
deln würden  ohne  allen  Zwang,  ihre  ethischen  Maße:  sie  lernen  wir  nun 
aber  recht  gut  aus  ihren  freien  Zeichnungen  kennen. 

Wir  dürfen  um  so  mehr  unsere  Schlüsse  aus  ihren  Kinderzeichnungen 
ziehen,  als  diese  —  wenn  auch  nicht  das  tatsächliche  Handeln  —  so  doch 
ilu"  innerstes  Streben  und  Wollen  verraten,  als  sie  uns  sagen, 
wie  diese  Kinder  handeln  würden,  wenn  dem  Wünschen  das  Können  ent- 
spräche. Soweit  sich  die  freien  Willensäußerungen  an  taubstummen  Kindern 
beobachten  ließen,  stimmen  sie  durchaus  mit  der  Ethik  in  ihren  Zeichnungen 
überein.  Vergl.  hierüber  meine  Ausführungen  in:  ,,Über  kindliche  Sitte 
und  Sitthchkeit  nach  Beobachtungen  an  taubstummen  Schülern"  (Zeit- 
schrift für  pädagogische  Psychologie,  1911). 

Gewiß  sind  die  Kinder  auch  in  ihren  Zeichnungen  beeinflußt  von  allerlei 
Bildern  und  Geschichten;  wir  werden  aber  sehen,  wie  gerade  die  Wahl,  die  sie 
aus  dem  ihrer  Nachahmung  gebotenen  Material  treffen,  auf  das,  was  ihnen  zu- 
sagt und  ihrer  Entwicklungsstufe  entspricht,  das  hellste  Licht  wirft.  Wie  der 
Weizen  seit  Jahrtausenden  im  Boden,  der  ihntrug,  immer  den  Kali  fand,  den  er 
brauchte,  noch  ehe  ihn  der  gewitzigte  Mensch  einstreute,  so  sucht  das  Kind 
aus  der  Flut  der  Geschichten,  Bilder  und  Beispiele  das  aus,  was  sein  Wachs- 
tum erfordert,  auch  ohne  Erziehung,  ja  trotz  der  Erziehung.  Gerade  was 
unsere  Kinder  aussuchen,  lehrt  erkennen,  was  sie  brauchen. 

Nun  läßt  sich  eine  Handlung  nur  schwer  in  den  Rahmen  eines  Bildes 
zwängen.  Es  drückt  viel  zu  sehr  nur  eine  Stimmung  aus,  aber  nicht  das,  was 
wir  suchen,  einen  Gefühlsverlauf,  eine  Handlung,  und  wir  würden  wieder 
verschlossene  Türen  finden,  wenn  unsere  taubstummen  Schüler  nicht  auf  die 
glückliche  Idee  gekommen  wären,  Serien  von  Bildern  zu  zeichnen,  die  nach 
Art  der  Münchner  Bilderbogen  eine  ganze,  meist  selbst  erfundene  Geschichte 
darstellen. 

Taubstumme  zeichnen  gern  und  viel  und  auch  durchschnittlich  besser 
als  ihre  hörenden  Altersgenossen.  Ihrem  gegenständlichen  Denken,  gepflegt 
und  entwickelt  durch  ihre  Gebärdensprache,  liegt  der  bildende  Ausdruck 
näher  als  dem  normalen  Kinde,  das  schon  vorzeitig  durch  die  Sprache  zu 
inhaltsarmen  Abstraktionen  verführt  wü-d.  Der  Sprachunterricht  hat  sich 
schon  an  vielen  Taubstummenanstalten  die  Begabung  der  taubstummen 
Schüler  für  den  zeichnenden  Ausdruck  zunutze  gemacht  und  seine  schwie- 
rigen Aufgaben  damit  zu  erleichtern  versucht.  Auch  die  hier  besprochenen 
Zeichnungen  sind  nicht  etwa  aus  dem  Zeichenunterrichte  hervorgegangen, 
sondern  sind  im  Anschluß  an  Aufgaben  des  Sprachunterrichts  entstanden. 
Gewöhnlich  wurden  die  Schüler  aufgefordert,  am  Sonntag  irgend  etwas  zu 
zeichnen  und  dann  zu  beschreiben.  Wieviel  dabei  der  sprachliche  Ausdruck 
hinter  dem  bildenden  zurückbleibt  und  zugleich,  welche  Schwierigkeiten  die 
Sprache  den  Kindern  macht,  wird  man  aus  dem  Unvermögen  sehen,  die  ,, Ge- 
schichten in  Bildern"  zugleich  auch  sprachlich  zu  gestalten. 

Die  Sprache  bleibt  weit  hinter  dem  Gedanken  zurück.  Die  Phantasie 
Sprachbegabter  geht  durchaus  andere  Wege,  schmückt  eine  Situation  in 
ganz  anderer  Weise  aus,  als  die  Phantasie  der  Augenmenschen.  Man  be- 
trachte z.  B.  auf  Seite  162  die  Geschichte,  die  ein  lOjähriger  taubstummer 

Zeitschrift  f.  pAdagog.  Psychologie.  11 


162  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kanderzeichnungen  usw. 

Knabe  „gedichtet"  hat.  Zweifellos  wurde  er  dazu  angeregt  durch  eines  der 
häufigen  Bilder,  wo  ein  Adler  das  Kind  vor  den  Augen  der  entsetzten  Mutter 
in  die  Lüfte  entführt.  Er  hat  um  ein  solches  Bild  eine  Geschichte  gewoben, 
die  ganz  folgerichtig  durchdacht  ist.  Sprachlich  hat  er  sie  aber  nicht  zu 
fassen  gewußt.  Die  Bilder  beweisen,  wie  mächtig  die  Phantasie  des  kleinen 
Künstlers  angeregt  worden  ist  und  wie  auch  seine  Phantasie  von  der  Ver- 
nunft geleitet  wird.  Nur  die  schwierigen  Formen  der  Sprache  sind  schuld, 
wenn  es  ihm  nicht  gehngen  wollte,  seine  Gedanken  in  einer  uns  Hörenden 
geläufigen  Form  darzustellen.  Es  ist  bei  Taubstummen  —  und  ich  glaube, 
auch  oft  genug  bei  Hörenden  —  immer  falsch,  von  ihrer  Sprache  auf  ihr 
Inneres  schließen  zu  wollen. 


Bild  1 — 4  ist  das  Herauf  liegen  des  Adlers  geschildert.  Bild  5  sehen  wir  ihn  über 
einem  Hause,  wo  eine  Frau  gerade  das  Fenster  öffnet.  Bild  6  zeigt  das  vorn  geöffnete 
Haus.  An  Flinte,  Pulverhorn,  Jagdtasche  und  Uniform  an  der  Wand  erkennen  wir 
das  Jägerheim,  Der  Adler  ist  hineingeflogen.  Bild  7.  Mit  dem  Kindlein  im  Schnabel 
fhegt  er  wieder  davon.  Bild  8.  Wir  sehen  die  entsetzte  Mutter  an  der  leeren  Wiege. 
Auch  der  Jäger  ist  nach  Hause  gekommen.  Bild  9.  Der  Jäger  geht  mit  der  Flinte,  den 
Adler  zu  erlegen.  —  Der  Versuch,  seineGedanken  in  Worte  zu  fassen,  führte  denSchüler  zu 
folgenden  xmzulänglichen,  den  eigentlichen  Inhalt  gar  nicht  treffenden  Sätzen:  „Der 
Adler  kommt.  Die  Walde  stehen.  Der  Adler  fliegt.  Das  Haus  steht.  Das  Haus  ist 
aus  Stein.  Das  Haus  ist  groß.  Die  Frau  kommt.  Der  Jäger  kommt.  Das  Mädchen 
steht.  Die  Frau  steht.  Die  Frau  weint.  Der  Knabe  steht.  Der  KJiabe  weint.  Das 
Mädchen  weint." 

Wie  die  Kinder  auf  den  Gedanken  kamen,  solche  Geschichten  in  Bildern  zu 
„schreiben"?    Stückchen  von  Films,  wie  sie  durch  den  Kinematographen 


Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw.  163 

laufen,  sind  aucli  bis  in  unsere  Anstalt  gedrungen.  Die  Kinder  haben  längst 
den  Sinn  erfaßt  und  in  die  ^cken  ihrer  Notiz-  und  Skizzenbücher  Reihen 
von  Bildern  gezeichnet,  die  beim  schnellen  Umblättern  richtige  lebende 
Bilder  ergeben:  einen  Turner  am  Reck  oder  Barren,  einen  Hund,  der  durch 
einen  Reifen  springt,  oder  ähnliches.  Auch  mögen  Münchner  Bilderbogen 
auf  sie  eingewirkt  haben.  Solche  nur  abgezeichnete  Bilder  sind  hier  grund- 
sätzhch  ausgeschieden.  Im  folgenden  werden  nur  eigene  „Dichtungen"  und 
„Nach-  oder  ümdichtungen"  behandelt.  Wo  der  Hergang  der  Geschichte 
gegeben  war,  etwa  imLesebuch  oder  in  der  bibhschen  Geschichte  —  der  Schüler 
also  nur  die  Illustrationen  dazu  lieferte  — wird  es  besonders  vermerkt  werden. 
Bezeichnend  bleibt  in  solchen  Fällen  für  uns  immer  noch  die  Wahl  des  Stoffes 
und  die  Wahl  der  Szenen  aus  dem  Gang  der  Ereignisse. 

Nurgends  aber  wurde  von  selten  des  Lehrers,  was  Stoff  und  Form  an- 
belangt, auf  die  Kinder  eingewirkt.  Die  einzige  Einwirkung  des  Lehrers 
bestand  darin,  daß  er  durch  Lob  und  Tadel  den  Eifer  für  das  Zeichnen 
solcher  Geschichten  zu  erhalten  suchte  und,  wie  sonst  schon  gewohnt, 
alles  Gezeichnete  für  den  Sprachunterricht  auszuwerten  suchte,  indem 
er  an  die  Kinder  die  Anforderung  stellte,  das  Dargestellte  auch  sprachlich 
auszudrücken. 

Ich  habe  im  Laufe  eines  Jahres  nicht  weniger  als  64  solcher  Ge- 
schichten in  Bildern  sammeln  können.  Sie  stammen  aus  einer  Klasse 
taubstummer,  gutbefähigter  Schüler  des  4.  Schuljahres  im  Alter  von 
10  Jahren.  Die  Klasse  umfaßte  11  Schüler,  9  Knaben  und  2  Mäd- 
chen, die  alle  bis  auf  einen  Beiträge  zu  meiner  Sammlung  geliefert 
haben.  Dieser  eine,  geistig  wohl  auch  einer  der  Schwächsten  in  der 
Klasse,  der  sich  aber  im  Zeichenunterrichte  die  Note  1  erworben  hat, 
hat  überhaupt  noch  nichts  rechtes  dieser  Art  geleistet.  Er  hat  Geschich- 
ten zu  dichten  noch  nicht  gelernt  und  ahmt  jene  Kinostreifen  sklavisch  nach, 
stellt  oft  auch  Bilder  ohne  jede  tiefere  Beziehung  einfach  nebeneinander, 
z.  B.  zwei  Bilder  mit  einer  Hundehütte,  das  eine,  wo  daneben  steht  „der 
Hund  ist  nicht  da",  das  andere  mit  dem  Vermerk  „der  Hund  ist  da";  oder 
er  hat  in  4  Bildern  dargestellt,  wie  zwei  Männer  eine  Straße  passieren,  oder 
den  Sprung  eines  Knaben  in  1  Phasen  usf.  Solche  leere  Begebenheiten  hat 
auch  hie  und  da  der  eine  oder  andere  seiner  Mitschüler  gezeichnet,  z.  B.  der 
Knabe  A  ein  Tintenfaß  6  mal,  wo  auf  jedem  Bilde  der  Stöpsel  eine  andere 
Lage  hat,  oder  der  Knabe  E,  der  in  9  ausführlichen  Bildern  darstellt,  wie  ein 
Mann  auf  einen  Baum  klettert  und  wieder  herunter. 

Unter  den  64  gesammelten  Geschichten  in  Bildern  befinden  sich  nur 
8  Boschreibungen  mehr  gleichgültigen  Inhaltes.  In  sämtlichen  andern  geht 
es  meist  recht  dramatisch  zu. 

„Max  und  Moritz"  hat  im  Vergleich  z.  B.  zu  den  biblischen  Geschichten 
natürlich  eine  gewaltige  Wirkung  gehabt.  Das  ist  ein  Buch  nach  dem  Herzen 
unserer  taubstummen  Schüler.  Obwohl  nur  wenige  im  glücklichen  Besitze 
des  Buches  sind,  kennen  es  alle.  Max  und  Moritz  wird  nicht  nur  oft  ge- 
zeichnet, sondern  auch  fleißig  gemimt.  Mit  dem  Abzeichnen  hat  sich  der 
Knabe  C  nicht  begnügt,  er  hat  umgedichtet :  Der  Müller,  der  Max  und  Moritz 
beim   Säckeaufschneiden  erwischt,  begnügt  sich  nicht  damit,  die  bösen 

11* 


164  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

Buben  statt  der  Körner  in  die  Mühle  zu  schütten,  sondern  er  bindet  sie  an 
die  Flügel  der  Windmühle. 

Von  den  biblischen  Geschichten,  die  doch  schon  seit  dem  3.  Schul- 
jahre in  den  Händen  der  Kinder  sind,  hat  nur  die  Sündflut  einen  tieferen 
Eindruck  gemacht.  Nur  einmal  wurde  das  Bild  vom  Sündenfall  gezeichnet, 
wogegen  die  Sündflut  öfter  wiederkehrt.  Sie  ist  auch  oft  in  andere  Geschichten 
verwoben  worden. 

Ein  erster  moralpsychologischer  Befund  in  den  freien  Erzählzeichnungen 
ist  nun  das  Hervortreten  der  Grausamkeit,  ein  Zug,  der  sich  schon  in  jener 
Umdichtung  von  Max  und  Moritz  wie  in  der  Wahl  der  dargestellten  biblischen 
Geschichten  zeigt,  bei  weitem  deutlicher  aber  und  oft  in  geradezu  krasser 
Weise  in  den  „freien  Dichtungen". 

Drei  der  gesammelten  Geschichten  handeln  von  unglücklichen  Luft- 
schiffern, die  aus  ihrem  Ballon  stürzen,  dreimal  auch  werden  Menschen  von 
der  Eisenbahn  zermalmt.  Zwei  Zeichnungen  berichten  vom  Ertrinken,  drei 
vom  Hängen,  wenn  auch  das  eine  Mal  der  Erhängte  wieder  herabgeholt  und 
geheilt  wird,  und  einmal  vom  Verbrennen  bis  zum  verkohlten  Gerippe.  Ein- 
mal sehen  wir  den  Schutzmann  zwei  sich  Streitende  sofort  totstechen  und 
einmal,  wie  ein  Mörder  ein  Opfer  erdolcht.  Wir  sehen  ferner  Leute  stürzen :  sechs- 
mal ins  Wasser,  dann  die  Treppe  hinab  oder  von  den  Bergen  herunter.  Das  eine 
Mal  fhegt  einer  bei  einer  Pulverexplosion  mit  in  die  Luft,  ein  anderer  bricht 
bei  einem  harmlosen  Fall  den  Hals  und  wieder  andere  verunglücken  bei 
einem  Automobilzusammenstoß.  Im  ganzen  sind  es  34  blutrünstige  Ge- 
schichten. Als  Beispiel  sei  die  Geschichte  des  M.  K.  gegeben  (Abbildung 
S.  165). 

Bei  der  klösterlichen  Abgeschiedenheit  des  Internatslebens  unserer 
Taubstummenanstalt  kann  es  nicht  die  Wirklichkeit  sein,  die  diesen  jungen 
Herzen  solche  Schreckbilder  einprägte.  Sie  können  solche  Einflüsse  nur  von 
Bildern  haben  oder  aus  der  freischaffenden  Phantasie.  Wir  sehen  die  Kinder 
mehr  das  Fürchterliche  und  Schreckliche  ergreifen  und  darstellen  als  das 
rein  Sachliche  und  Beschauliche,  mehr  Roheit  als  Zartheit  in  ihrem  Emp- 
finden. 

Als  Beispiel  dafür,  wie  die  Kinder  die  Sündflut  in  ihre  Geschichten  ver- 
weben, möge  folgende  Geschichte  des  Knaben  A  gelten,  zugleich  ein  Beispiel 
für  eine  der  häufigen  „Dichtungen",  in  denen  der  Blitz  ein  Menschenleben 


Bild  1.  Ein  Mann  geht  im  Sonnenschein  spazieren.  Bild  2.  Ein  Liiftschiff  fährt 
vorüber.  Der  Mann  winkt  mit  seinem  Taschentuch  hinauf,  und  Kinder  grüßen  aus 
dem  Luftschiff  herab.  Bild  3.  Das  Luftschiff  schwebt  höher  in  den  blauen  Himmel. 
Bild  4.  Der  Himmel  ist  schwarz  imd  sprüht  zuckende  Blitze ;  das  Luftschiff  explodiert ; 
kopfüber  stürzen  die  Insassen  herab,  und  am  Boden  häufen  sich  Blut  und  Leichen. 
Bild  5.  Der  Beobachter  geht  ins  Krankenhaus.  Bild  6.  In  einer  Stube  steht  dort  eine 
Wanne,  in  der  die  Leichen  von  Staub  und  Blut  gereinigt  werden  sollen.  Bild  7.  In  der 
Stube  sind  die  Leichen  aufgebahrt.  Bild  8.  Großes  Begräbnis.  Bild  9.  Himmel- 
fahrt der  Verunglückten ;  sie  steigen  aus  den  Gräbern  als  Engel  empor  in  den  Himmel, 
der  wie  eine  Falltür  axifgeklappt  ist.  Bild  10 — 11.  Zwei  zusammengehörige  Bilder: 
ein  Überlebender,  der  nach  den  Engeln  eine  lange  Nase  zieht. 


m  jsk  ii»kii4 


166  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

fordert.   Das  Gewitter  scheint  auch  auf  diese  Kinder  einen  tiefen  Eindruck 
gemacht  zu  haben  (Abbildung  S.  167). 

In  diesem  Hang  der  taubstummen  Jugend  zur  Grausamkeit  finden  wir 
eine  Parallele  zur  Menschheitsentwicklung.  Das  Mitleid  ist  eine  späte  Blüte 
der  Kultur.  Schon  ein  flüchtiger  Blick  in  die  Strafmittel  der  Justiz  zeigt, 
wie  einem  früheren  Zeitalter  Grausamkeiten  —  ich  möchte  sagen  —  natür- 
licher waren  als  unserem  Zeitalter.  Ich  brauche  nur  an  die  Folterkammern 
Nürnbergs  zu  erinnern.  Oder  man  denke  an  Herodots  Berichte  von  den 
Strafmitteln  und  Schandtaten  der  Tyrannen  und  vergleiche  damit  das  Be- 
streben unserer  Zeit,  die  Strafen  zu  mildern  und  mehr  zu  bessern  als  zu 
strafen.  F.Nietsche  bemerkt,  daß  bei  den  Griechen  das  ,, Verlangen  nach  dem 
Häßlichen,  zum  tragischen  Mythus,  zum  Bilde  alles  Furchtbaren,  Bösen, 
Rätselhaften,  Vernichtenden,  Verhängnisvollen  auf  dem  Grunde  des  Daseins 
der  Zeit  nach  früher  hervortrat,  als  das  Verlangen  nach  Schönheit,  nach 
Festen,  Lustbarkeiten,  neuen  Kulten  . .  ." 

Psychologisch  sind  uns  Roheiten  in  der  Kindheit  der  Menschen  und 
Völker  schließlich  erklärlich:  Wie  alle  Sinne  zuerst  die  stärksten  Eindrücke 
aufnehmen,  das  Auge  die  grellen  Farbenunterschiede,  die  groben,  großen 
Massen,  das  Ohr  die  schrillen,  aufdringlichen  Laute,  ehe  sie  die  feineren 
Unterschiede  gewahren,  so  das  Gemüt  erst  die  stärksten  Eindrücke:  Mord 
und  Tod,  Feuer-  und  Wassersnot.  Zarte  Gefühle,  feines  sittHches  Empfinden 
muß  den  Kleinen  fernUegen.  Eine  gewisse  Roheit  im  Kindesalter  ist  natürlich. 

An  solche  blutige  Dramen  schließen  sich  Geschichten  an  mit  nicht  so 
fürchterlichen  Folgen,  die  mehr  derbe  Spaße  sind  als  Unglücksfälle,  aber 
immer  eine  Schadenfreude  des  Beobachters  und  Dritter  bekunden.  Der 
Spaß  muß  natürlich  auch  faustdick,  derb  sein,  wenn  ihn  das  Kind  verstehen 
soll.  So  z.  B.  die  Geschichte  des  Schülers  A.  Ein  Mann  geht  eine  Treppe 
hinauf,  bricht  durch  und  fällt  in  den  Keller.  Ein  Maurer  kommt  und  mauert 
das  eben  entstandene  Loch  zu.  Wir  sehen  dann  den  durchgefallenen  Mann 
am  Fuße  der  Treppe  liegen,  die  eben  der  Maurer  herabkommt.  Dieser  tritt 
dann  auf  den  unten  liegenden  Mann,  daß  das  Blut  nur  so  herausspritzt. 

Ein  andrer  Schüler,  der  Knabe  B,  verlegt  eine  ähnliche  Geschichte  in  eine 
Windmühle  aus  dem  Lande  der  Zwerge,  die  aus  einem  Ei  hergestellt  ist. 
Ein  Zwerg  schleppt  einen  Sack  Mehl  hinein.   Als  er  ihn  auf  dem  Oberboden 


Bild  1.  Ein  Radfahrer  kommt  auf  einsamer  Landstraße  daher.  Bild  2  und  3.  Er 
nähert  sich.  Bild  4.  Er  stößt  an  einen  Meilenstein.  Bild  5.  Die  Leiche  zwischen  den 
Trümmern  des  Rades ;  ein  Htmd  nähert  sich.  Bild  6.  Der  Hund  frißt  den  Toten  auf. 
Bild  7.  Ein  Luftballon  senkt  sich  herab.  Bild  8.  Ein  Schutzmann  steht  vor  dem  Rade 
und  schreibt  den  Fall  auf.  Bild  9.  Es  regnet  in  Strömen;  der  Schutzmann  entfernt 
sich.  Bild  10.  Es  regnet  weiter;  der  Ballon  ist  wieder  aufgestiegen.  Bild  11.  Der 
Blitz  fährt  in  den  Ballon ;  ein  Feuerstrahl  lodert  gen  Himmel ;  drei  Luftschiffer  stürzen 
herab.  Bild  12.  Das  Wasser  bedeckt  alles;  tief  unten  schwimmen  die  Trümmer  des 
Ballons  und  die  Verunglückten;  über  das  Wasser  aber  gleitet  dvirch  den  immer  noch 
strömenden  Regen  die  Arche.  Bild  13.  Die  Arche  schwimmt  vorüber;  die  Leichen 
sinken  tiefer.  Bild  14.  Die  Sonne  lächelt  wieder;  das  Wasser  ebbt  zurück;  die  Land- 
straße wird  wieder  frei.  Bild  15.  Die  Erde  ist  wieder  trocken;  auf  der  Landstraße 
Trümmer  und  Leichen. 


i 


168  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

niedersetzen  will,  bricht  er  durch  und  fällt  in  den  im  Untergeschoß  stehenden 
Backtrog. 

Ein  anderer  schildert,  wie  einer  mit  Tischen  und  Stühlen  umfällt  —  ein 
beliebtes  Thema,  das  in  verschiedenen  Variationen  dreimal  behandelt  worden 
ist.  Ein  anderer  erzählt,  wie  einer  von  der  Leiter  fällt,  weil  der  zu  schwache 
Baum  bricht,  gegen  den  sie  gelehnt  war;  wieder  ein  anderer,  wie  ein  sehr 
dicker  Mann  gegen  ein  anfahrendes  Automobil  rennt,  so  daß  es  zertrümmert. 
Oder  es  wird  berichtet,  wie  sich  einer  die  Nase  blutig  stößt,  cder  wie  sich  einer 
einen  Zahn  ziehen  läßt,  oder  wie  einer  auf  einen  Baum  geklettert  ist  und 
ein  anderer  so  heftig  dagegenfährt,  daß  der  Kletterer  von  seinem  Baume  her- 
unterfällt, natürlich  gerade  dem  anderen  in  die  Schubkarre,  so  daß  ihn 
dieser  triumphierend  wegfahren  kann. 

Rechnen  wir  diese  10  Geschichten,  in  denen  es,  wenn  nicht  gerade 
Tote,  so  doch  Verwundete  gibt,  zu  den  vorigen,  so  stehen  44  blutige  Ge- 
schichten den  9  Beschreibungen  gegenüber. 

Schon  aus  diesem  Verhältnis  geht  zur  Genüge  deutlich  hervor,  daß  die 
Kinder  mehr  zu  Erzählungen  als  zu  Beschreibungen  hinneigen,  mehr  Lust 
an  raschen  Taten  als  an  Zuständen  zeigen,  eine  Erscheinung,  die  mit  der 
allgemeinen  Erfahrung  der  Vorliebe  normaler  Kinder  zum  Märchen  voll- 
ständig übereinstimmt.  In  den  Erzählungen  ist  es  nicht  das  Alltägliche, 
was  ihnen  die  Anregung  zu  ihrer  Erfindung  gab,  sondern  gerade  das  Außer- 
gewöhnliche, das  Ungeheure  und  Fürchterliche  ist  es,  was  ihr  freies  Denken 
beschäftigt. 

Von  all  den  Ereignissen,  die  den  Helden  einem  tragischen  Ende  ent- 
gegenführen, greifen  wir  die  heraus,  wo  das  Unglück  verschuldet  worden  ist 
entweder  vom  Helden  selbst  oder,  wo  er  ein  Opfer  des  ,, Bösen"  geworden 
ist.  Dabei  verrät  sich  mehr  Freude  an  allem  Unheil  als  Mitgefühl.  Das  zeigt 
sich  einmal  darin,  daß  der  Erzähler  mehr  mit  dem  „Bösen"  sympathisiert 
und  den  Dieb  und  Mörder  mehr  verherrlicht  als  den  „Gerechten",  zum 
andern  darin,  daß  selbst  da,  wo  niemand  das  Unglück  verursacht  hat,  eine 
gewisse  Schadenfi-eude  zu  bemerken  ist.  So  z.  B.  in  der  Geschichte  des 
Knaben  E.  Eine  große  Menge  Neugieriger  ist,  um  Zeppehn  zu  sehen,  auf  den 
Gipfel  eines  Berges  gestiegen.  Das  Luftschiff  erscheint,  stößt  an  den  Gipfel. 
Dieser  bricht  ab  und  stürzt  mit  allen,  die  daraufstanden,  in  die  Tiefe.  Neben 
das  letzte  Bild  ist  ausdrückhch  geschrieben  worden:  „Zeppelin  freut  sich''. 
Sehr  oft  war  es  die  Unvorsichtigkeit,  die  den  Untergang  des  Helden  herbei- 
führte, was  dann  gewöhnlich  zu  Anmerkungen  wie:  „Nicht  Vorsicht"  oder 
,, Vorsicht  muß"  oder  ähnlichem  veranlaßt. 

Den  tiefsten  Einblick  in  das  sittliche  Fühlen  unserer  Kinder  gewähren 
uns  aber  die  Geschichten,  wo  Menschen  gegeneinander  handelnd  auftreten. 

Bild  1  zeigt  uns  in  seiner  einsamen  Kammer  einen  Schläfer.  Die  Decke  ist  abge- 
hoben \md  „des  Himmels  Wölken  schauen  hoch  hinein".  Bild  2  sehen  wir  den 
„schwarzen  Mann"  über  die  Wand  klettern.  Bild  3.  Er  ist  herabgekommen  und  steht 
hoch  aufgerichtet  am  Bett.  Bild  4.  Er  wirft  sich  über  den  Schläfer  und  stößt  ihm 
den  Dolch  in  die  Gurgel.  Bild  5.  Wir  sehen  ihn  am  Türgebälk  wieder  emporklettern. 
Bild  6u.7.  Jetzt  ist  nur  noch  der  Arm,  jetzt  nur  noch  der  Kopf  sichtbar.  Bild  8.  Die 
Schatten  der  Nacht  sind  verflogen,  der  Morgen  graut,  und  der  Spuk  ist  ver- 
schwunden. 


170  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen,  tisw. 

Bei  einigen  Mordgeschicliten  bleiben  wir  auch  da  noch  über  die  Motive  zur 
Tat  im  Unklaren.  Da  ist  z.B.  die  Geschichte  des  Knaben  E,  die  selbst  für 
einen  Erwachsenen  etwas  wirklich  Unheimliches,  Dämonisches  hat  (Abbil- 
dung S.  169).  Zwei  andere  Geschichten  berichten,  wie  einer  am  Seil  in 
einen  Luftballon  klettern  will,  wie  aber  die  Insassen  aus  nicht  ersichtlichen 
Gründen  das  Seil  durchschneiden,  so  daß  der  Emporstrebende  herunter- 
stürzt. Einmal  wird  geschildert,  wie  ein  Knabe  zwei  Mädchen  auf- 
hängen will.    Auch  hier  werden  wir  über  die  Motive  nicht  aufgeklärt. 

Die  List  findet  den  vollen  Beifall  unserer  Kleinen.  Wir  sehen  auch  darin 
eine  Parallele  zur  Menschheitsgeschichte.  Wie  die  Märchen  beweisen  und 
die  Sagen,  und  wie  uns  am  Bilde  Odysseus  besonders  deuthch  wird,  war 
List  und  Überlisten  ein  beliebtes  Thema  auch  der  Alten.  Auch  in  ihrem 
sonstigen  Verhalten  zeigen  taubstumme  Kinder  länger  als  andere  eine  un- 
bändige ITreude  daran,  einen  anderen  ,, hineinzulegen".  Der  1.  März  und 
der  1.  April  werden  dadurch  für  sie  zu  reinen  Festtagen.  Die  Lust,  den 
Nächsten  zu  verspotten,  führt  in  der  Zeichnung  zur  Karikatur.  Ihre  feine 
Beobachtungsgabe  kommt  ihnen  dabei  sehr  zu  statten.  Als  Beispiel  mögen 
die  folgenden  Karikaturen  dienen,  mit  denen  der  Knabe  I  ganz  trefflich  Mit- 
schüler und  Lehrer  charakterisiert  hat. 


Nr.  2  ein  Lehrer  der  Anstalt,  mit  starkem  Bart  und  kurzem  Haupthaar,  ganz 
treffend  charakterisiert;  er  hat  es  auch  in  der  Gewohnheit,  ein  Auge  zuzukneifen. 
Nr.  3.  Das  Original  hatte  zur  Z6it  des  Zeichnens  den  Schnupfen.  Nr.  4  ist  durch 
die  Schädelform  gut  getroffen;  er  litt,  worauf  die  Karikatur  anspielt,  an  einem 
Kopfausschlag.  Nr.  5  hat  wirklich  die  dargestellte  üble  Angewohnheit,  und  auch 
Nr.  6  ist  mit  seinen  dicken  Backen  und  der  Stupfnase  treffend  karikiert. 


I 


Moralpsychologische  Aviswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw.  171 

Die  liebenswürdigste  „Dichtung"  vom  Überlisten  stammt  von  dem 
Mädchen  K.  Es  hat  mir  mehrfach  versichert,  daß  es  die  Geschichte  nicht 
nachgezeichnet,  sondern  selbst  erdacht  hat.  In  12  ausführlichen  Bildern 
schildert  sie:  Ein  kranker  Knabe  liegt  im  Bett.  Durch  die  geöffnete  Tür 
sieht  man  die  Mutter  Medizin  in  einen  Löffel  gießen.  Da  bindet  der  Knabe 
schnell  einem  Hunde  ein  Tuch  um  die  Ohren  und  steckt  ihn  in  das  Bett, 
während  er  selbst  darunter  l^iecht.  Jetzt  kommt  die  Mutter  mit  dem  Löffel 
und,  da  sie  meint,  den  Knaben  vor  sich  zu  haben,  gibt  sie  die  Medizin  dem 
Hunde.  Der  Knabe  zieht  ihr  eine  lange  Nase  hinterdrein,  wirft  den  Hund 
heraus  und  schläft  vergnügt  weiter. 

Roher  geht  es  bei  den  Knaben  her.  Z.  B.  der  Knabe  F,  der  auch 
in  seinen  sonstigen  Leistungen  unlogisches,  sprunghaftes  Denken  zeigt,  hat 
folgende  verworrene  Geschichte  zusammengezeichnet:  Gegen  einen  Baum, 
der  auf  der  einen  Seite  mit  einer  Stange  gestützt  ist,  lehnt  eine  Leiter.  Ein 
Mann  ist  hinaufgestiegen.  Da  kommt  einer  geschlichen  und  nimmt  die  Stütze 
weg.  Der  Baum  fällt  um  und  gerät  aus  nicht  angegebenen  Gründen  in  Brand. 
Die  Feuerwehr  kommt,  doch  vermag  sie  den  Mann  nicht  zu  retten.  Auf  dem 
letzten  Bilde  sehen  wir  ihn  zum  Gerippe  verbrannt  liegen. 

Wie  klar  und  reinlich  ist  dagegen  der  Knabe  D  in  seinem  Denken.  Zeigt 
auch  seine  Geschichte  eine  wüste  Phantasie,  sind  die  Akteure  auch  voller 
Mordlust,  Bosheit  und  Schadenfreude,  so  ist  die  Handlung  doch  durchaus 
folgerichtig  durchgeführt  (Abbildung  S.  173). 

Fünf  der  Geschichten  handeln  vom  Diebstahl.  Der  Diebstahl  wird 
von  diesen  Kindern  kaum  als  unmoralisch  gewertet.  Es  ist  mehr  die  Freude 
daran,  einen  anderen  zu  überlisten,  einem  anderen  Schaden  zuzufügen,  als 
die  Sucht,  etwas  für  sich  zu  erwerben,  was  zum  Stehlen  veranlaßt.  Und  öfter 
sympathisiert  der  „Dichter"  mit  dem  Dieb,  als  daß  er  ihn  der  gerechten 
Strafe  zuführte.  Dreimal  triumphiert  der  schlaue  Dieb.  Als  Beispiel  folgende 
Geschichte.  Wir  sehen  die  Landstraße  ein  Auto  daherkommen.  Jetzt  hält 
es,  und  auf  dem  nächsten  Bilde  hat  es  der  Führer  verlassen.  Ein  Knabe  er- 
scheint und  stiehlt  die  Andrehkurbel  des  Autos  und  verschwindet  schleunigst 
damit.  Der  Führer  kommt  zurück.  Wir  sehen  ihn  entsetzt  und  ratlos  vor 
seinem  Auto.  Auf  dem  nächsten  Bilde  hat  er  ein  Pferd  vor  sein  Auto  ge- 
spannt, und  wir  sehen,  wie  aus  dem  langsam  fahrenden  Auto  Würste  heraus- 
fallen, die  der  Dieb  voll  Freude  aufhebt. 

Nur  zweimal  wird  der  Dieb  von  der  Strafe  ereilt :  das  eine  Mal  schreibt 
der  Schutzmann  den  Knaben  auf,  der  Äpfel  gestohlen  hat;  das  andere  Mal 
ist  es  ein  Pferdedieb,  den  der  Häscher,  das  ist  bei  taubstummen  Kindern 
immer  der  Schutzmann,  ereilt  und  am  Galgen  aufhängt. 

Auch  in  dieser  laxen  Beurteilung  des  Diebstahles  finden  wir  die  Parallele 
zur  Menschheitsent Wickelung  wieder,  Schurtz  berichtet  uns  in  seiner  be- 
kannten Völkerkunde,  Leipzig  1903,  S.  61:  „Auch  wo  sich  festere  Begriffe 
über  Privateigentum  entwickeln,  wird  der  Diebstahl  meist  sehr  mild  beurteilt 
(so  noch  im  alten  Sparta)". 

Für  Recht  und  Unrecht  hat  sich  bei  diesen  Kindern  noch  kein  Ver- 
ständnis und  kein  Maß  gebildet.  Die  Strafen  stehen  in  keinem  Verhältnis 
zum  Vergehen.    Entweder  wh-d  das  Vergehen  gar  nicht  bestraft,  oder  die 


172  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

Strafe  ist  viel  zu  hocli  bemessen.  So  werden  in  6  Geschichten  die  schwersten 
Verbrechen  nicht  bestraft,  während  zwei  Männer,  nur  weil  sie  sich  zanken, 
sofort  vom  Schutzmann  in  den  Bauch  gestochen  werden,  daß  das  Blut  gen 
Himmel  spritzt  und  sie  ins  Krankenhaus  getragen  werden  müssen.  Oder 
weil  ein  armer  Radfahrer  das  Mißgeschick  hat  hinzufallen,  wird  er  erhängt. 
Weil  ein  Junge  eine  Pistole  findet  und  nach  Hause  bringt,  wird  er  vom  Vater 
verhauen,  ebenso  wie  einer  verhauen  wird,  weil  er  seinen  ins  Wasser  gefallenen 
Bruder  nur  als  Leiche  herausziehen  konnte.  Diese  letzte  Geschichte  vom 
Knaben  D  erdacht,  würde  in  kurzen  Worten  ungefähr  so  lauten :  Zwei  Brüder 
gehn  angeln.  Der  eine  sitzt  am  Ufer  mit  der  Angel,  der  andere  auf  dem  Steg 
und  sieht  dem  Angler  zu.  Da,  ein  Fisch!  Mit  einem  Ruck  fliegt  die  Angel 
heraus,  allerdings  so  hoch  geschleudert,  daß  sich  die  Schnur  in  der  Weide 
am  Ufer  verfängt.  Jetzt  zieht  der  kleine  Angler  aus  Leibeskräften.  Plötz- 
lich bricht  der  Baum,  und  Angler,  Fisch  und  Baum  fallen  ins  Wasser.  Der 
Bruder  springt  herbei  und  zieht  seinen  Bruder  pudelnaß  ans  Land.  Leider 
zu  spät.  Der  Bruder  fällt  um  und  ist  mausetot.  Jetzt  kniet  der  andere  da- 
neben und  weint.  Dann  läuft  er  nach  Hause,  holt  den  schon  mehrfach  er- 
wähnten Handwagen,  ladet  seinen  toten  Bruder  darauf  und  fährt  nach 
Hause.  Da  steht  nun  der  Vater  mit  in  die  Seite  gestemmten  Armen  und  vor 
ihm  der  Ertrunkene  und  der  arme  Sünder,  der  doch  eigentlich  gar  nichts  dafür 
kann  und  seine  Schuldigkeit  getan  hat.  Nichtsdestoweniger  bekommt  er 
mächtige  Hiebe,  und  auf  dem  Schlußbilde  sehen  mr  ihn  die  Hände  ringen 
und  weinen. 

Nur  einmal  scheint  die  Strafe  einem  wirklichen  Erlebnisse  zu  entsprechen. 
Da  wird  ein  Junge  aufgeschrieben,  weil  er  die  Anlagen  „außerhalb  der  ge- 
bahnten Wege"  betreten  hat. 

Wie  wenig  die  Kinder  die  Strafe  nach  dem  unserer  Sitte  entsprechen- 
den Strafmaß  abzumessen  verstehen,  ist  am  besten  gekennzeichnet  darin. 

Der  Künstler  hat  die  Bilder  selbst  mit  Text  versehen.  Seine  eignen  Worte  mögen 
liier  mit  allen  Fehlern,  wie  er  sie  niederschrieb,  mit  folgen.  Zu  Bild  1 :  ,,Da  kommt  der 
Knabe,  Der  Baima  steht  auf  der  Erde.  Die  Sonne  scheint.  Die  Sonne  ist  gelb."  (Wir 
sehen  auf  einer  Landstraße  einen  Radfahrer  daherkommen.)  Zu  Bild  2.  ,,Der 
Knabe  sitzt  auf  dem  Fahrrad.  Die  andere  Knaben  lachen.  Der  Wagen  ist  groß". 
(In  der  Ferne  tauchen  zwei  Knaben  mit  einem  Handwagen  auf.)  Zu  Bild  3.  ,,Die 
andere  Knaben  sind  schlecht.  Die  andere  Knaben  gehen."  (Die  Beiden,  näherge- 
kommen, haben  sich  mit  Hacke  und  Spaten  bewaffnet.)  Zu  Bild  4.  ,,Der  ander  Knabe 
hackt."  (Die  Beiden  fangen  an,  inmitten  der  Straße  eine  Grube  auszuschachten.) 
Zu  Bild  5.  „Der  andere  Knabe  steigt  an  die  Leite."  (Die  Grube  ist  schon  so  tief  ge- 
worden, daß  der  eine  der  Beiden  bereits  mit  einer  Leiter  hinabsteigen  muß.)  Zu  Bild  6. 
,,Die  andere  Knaben  bringen  die  Eimern."  (Wir  sehen  die  Knaben  die  Grube  voll 
Wasser  schütten.)  Zu  Bild  7.  ,,Das  Wasser  ist  tief."  Zu  Bild  8.  „Das  Fahrrad  fälirt". 
(Wir  sehen  den  arglosen  Radfahrer  sich  der  Grube  nähern.)  Zu  Bild  9.  ,,Der  Knabe 
sieht  das  Haus."  (Will  sagen:  Der  Knabe  sieht  in  die  Ferne  nach  einem  Hause  und 
achtet  nicht  auf  den  Weg).  Zu  Bild  10.  „Der  Knabe  schrie  laut.  Das  Fahrrad  fällt 
in  das  Wasser."  Zu  Bild  11.  „Der  Hut  liegt  auf  dem  Wasser".  (Wir  sehen  außerdem 
den  Radfahrer  mit  dem  Tode  ringen.)  Zu  Bild  12.  „Der  Kjiabe  ertrinkt."  Zu  Bild  13. 
„Die  andere  Knaben  sind  froh.  Die  andere  Knaben  lachen."  (Wir  müssen  die  Sünder 
triumphieren  sehen.  Der  eine  klatscht  vor  Freuden  in  die  Hände,  der  andere  zeigt 
lachend  auf  den  Hut,  der  als  einziger  trauriger  Zeuge  auf  dem  Wasser  schwimmt.) 
Zu  Bild  14.  „Die  andere  Knaben  gehen  nach  Hause." 


174  Moralpsychologische  Auswertting  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

wie  sie  unser  Strafmaß  auffassen  und  abändern.  —  Wir  haben  aus  E.  Reu- 
schert, „Kleine  Erzählungen  für  Kinder",  Nr.  45,  „Hundetreue"  behandelt. 
Da  will  ein  unbarmherziger  Mann  s£inen  alten  Hund  ersäufen,  fährt  mit 
ihm  aufs  Wasser  und  stößt  ihn  hinein.  Dabei  fällt  der  Mann  aber  selbst 
hinein,  und  der  Hund  ist  es,  der  ihn  rettet.  Diese  Geschichte  war  zu  illu- 
strieren. Der  Knabe  F  begnügt  sich  nicht  damit.  Er  führt  die  Geschichte 
weiter.  Er  zeigt  uns,  wie  der  Mann  mit  seinem  Hunde  wieder  nach  Hause 
geht.  Dann  sehen  wir  eine  Wanne  mit  einer  mächtigen  Brause,  wo  sich  der 
Mann  offenbar  vom  Schlamme  reinigt,  dann  einen  gedeckten  Kaffeetisch, 
und  zuletzt  das  merkwürdige  Ende:  Es  bekommt  einer  Backpfeifen,  daß 
er  bald  in  die  Kniee  sinkt.  Ich  nahm  natürlich  an,  daß  das  der  Unbarmherzige 
sei,  der  hier  von  einem  andern  für  seine  Roheit  bestraft  würde,  wurde  aber 
vom  „Dichter"  dahin  aufgeklärt,  daß  es  einer  sei,  der  den  ins  Wasser  Ge- 
fallenen gefoppt  hat,  und  daß  es  der  Hundebesitzer  ist,  der  sich  für  den 
Schimpf  in  der  dargestellten  Weise  rächt. 

Wir  sehen,  wie  unser  sittliches  Empfinden,  das  dem  Unbarmherzigen 
eher  eine  solche  Strafe  wünscht  und  das  die  Geschichte  in  den  Kindern 
wecken  sollte,  von  diesen  nicht  geteilt  wird.  Im  Gegenteil  sehen  wir  den, 
der  sich  —  unserm  Empfinden  nach  mit  Recht  —  darüber  freut,  daß  der 
Böse  bei  seiner  Schandtat  ins  Wasser  fiel,  bestraft. 

Auch  in  diesem  Mißverhältnis  der  Strafen  zu  den  Vergehen  konstatieren 
wir  eine  Parallele  zur  Geschichte  der  Menschheit.  Ich  führe  wieder  zum  Be- 
weis den  Dr.  Schurtz  an:  ,,Über  die  Bedeutung  und  den  Zweck  der 
Strafe  sind  sich  selbst  die  Rechtsgelehrten  der  Kulturvölker  nicht  einig; 
bald  soll  sie  den  Verbrecher  bessern,  bald  andere  von  gleichen  Vergehen 
abschrecken,  bald  die  gestörte  Rechtsordnung  wiederherstellen,  bald  die 
Gesellschaft  beruhigen  usf.  Bei  den  Naturvölkern  ist  noch  viel  weniger 
von  einer  bewußten,  der  Schwere  des  Vergehens  angemessenen  Strafe  die 
Rede:  Die  schhmmsten  Verbrechen  bleiben  oft  ungestraft,  während  Kleinig- 
keiten mit  furchtbarer  Grausamkeit  gesühnt  werden.  In  vielen  Fällen 
kann  man  überhaupt  von  einer  Strafe  nicht  reden,  obwohl  die  Härte 
des  Verfahrens  dies  annehmen  ließe ;  überzählige  Kinder  und  abgelebte  Greise 
werden  lebendig  begraben,  Menschenopfer  zu  Tode  gequält  und  dergleichen. 
Hier  übt  die  Lust  an  der  Grausamkeit,  einer  der  unheimlichsten  Züge  der 
Menschennatur,  ihren  verhängnisvollen  Einfluß." 

Eines  eigentümlichen  Zuges  der  Kinder  müssen  wir  hier  noch  gedenken, 
der  wohl  auch  allgemein,  aber  nirgends  in  so  krasser  Weise  auftritt  als  bei 
Taubstummen.  Es  ist  jener  Zug,  einen  anderen  dadurch  treffen  und  kränken 
zu  wollen,  daß  man  sich  selbst  irgendein  Leid  antut,  jenes  Ver- 
halten, das  etwa  in  dem  Scherzwort  seinen  Ausdruck  findet:  „Es  geschieht 
meinem  Vater  ganz  recht,  daß  ich  an  die  Finger  friere;  warum  kauft  er 
mir  keine  Handschuhe!"  Ich  habe  in  dem  schon  erwähnten  Aufsatze  über 
kindliche  Sitte  einige  Fälle  solcher  für  den  ersten  Augenblick  unnatürlich 
erscheinender  Affektäußerungen  berichtet.  Da  sticht  sich  z.  B.  ein  13  jäh- 
riges Büblein  mit  seinem  Taschenmesser  zentimetertief  in  den  Bauch:  er 
wollte  sich  dafür  „rächen",  daß  es  nicht  zur  Eisbahn  ging,  wie  es  versprochen 
war.    Zwei  andere  12jährige  Bengel  bringen  sich,  jeder  selbst,  fingerlange 


Moralpsychologische  Auswertxing  freier  Kinderzeichnungen  usw. 175 


Schnitte  im  Gesicht  bei,  um  sich  auf  diese  Weise  an  einem  dritten  zu  rächen, 
der  nicht,  wie  zugesagt,  sie  ahholen  gekommen  war.  Diese  eigentümhche 
,, sittliche  Anschauung"  findet  auch  in  der  folgenden  Zeichnung  ihren 
Ausdruck. 

Bild  1.  Ein  Zwerg  steht  vor  einem  aus  den  Hölzern  eines  Baukastens  errichteten 
Hause.  Bild  2.  Wir  sehen  ihn  auf  dasselbe  zugehen.  Bild  3.  Er  reißt  das  Haus  ein  und 
läi3t  es  sich  dabei  auf  die  Nase  fallen.  (Der  Künstler  hat  ausdrücklich  dazu  ge- 
schrieben: „Absicht  will  kranken."  Grund:  links  sieht  man  aus  dem  Fenster  eines 
anderen  Hauses  eine  Frau  drohen;  „soll  verboten"  ist  daneben  geschrieben.)  Bild  4. 
Der  Zwerg  geht  weinend  und  mit  blutender  Nase  davon. 


Die  Geschichte  ist  vom  Zeichner  selbst  mit  folgenden  dem  Uneingeweihten  z.  T. 
unverständlichen  Worten  erläutert:  „Der  Zwerg  will  stehen  und  gehen.  Der  Zwerg  will 
Haiis  zerbrechen.  Mutter  soll  den  Zwerg  verboten.  Der  Zwerg  ist  weinen.  Der  Zwerg 
schüttelt  den  Haus.  Mutter  ärgert  sich.  Der  Zwerg  will  kranken.  D&a  Haus  fällt." 
„Der  Zwerg  will  kranken"  soll  heißen:  Er  will  sich  krank  machen,  was  noch  deutlicher 
durch  die  Worte  auf  Bild  3  zum  Ausdruck  gebracht  ist  durch  den  ausdrücklichen 
Vermerk,  daß  es  die  „Absicht"  des  kleinen  Mannes  ist,  wenn  er  das  Haus  auf  sich 
fallen  läßt. 

Auch  ZU  diesem  uns  widernatürlich  erscheinenden  Zuge  finden  wir  eine 
Parallele  in  der  Jugendzeit  der  Völker.  Wenn  auch  nicht  in  der  ausge- 
sprochenen Absicht,  sich  an  irgendwem  zu  rächen,  so  finden  wir  doch  auch 
bei  ihnen  dieses  sinnlose  Wüten  gegen  die  eigene  Person,  eine  Eigentü  lich- 
keit,  die  sich  mit  der  Zeit  wohl  sehr  abgeschwächt,  aber  nicht  verloren  hat. 


176  Moralpsychologische  Auswertung  freier  Kinderzeichnungen  usw. 

Herodot  berichtet,  daß  sich  die  Skyten  bei  Trauerfällen  ein  Stück  Ohr  ab- 
schnitten und  einen  Pfeil  durch  die  linke  Hand  stießen.  Reisende  berichten, 
daß  sich  Australneger  heute  noch  in  solchen  Fällen  in  ähnlicher  Weise  ver- 
stümmeln, z.  B.  ganze  Fingerglieder  abschneiden.  Die  Alten  zerrissen  ihre 
Kleider.  Und  leidenschaftliche  Naturen  raufen  sich  heute  noch  die  Haare 
und  ringen  die  Hände. 

Nach  alledem,  was  sich  in  unseren  Zeichnungen  offenbart,  können  wir 
nicht  erwarten,  daß  sich  diese  Kinder  für  die  Christenpflicht,  den  Feind  zu 
lieben,  besonders  erwärmen.  Den  vielen  Mordgeschichten,  Diebstählen  und 
Körperverletzungen,  allein  16  Stück,  gegenüber  finden  sich  sogar  auffallend 
wenig  Beweise  von  helfender  Nächstenliebe. 

Das  Gr3fühl  dafür,  daß  der  Bruder  dem  Bruder  zu  helfen  hat,  ist  vor- 
handen nach  der  schon  erwähnten  Geschichte  des  Knaben  D,  wo  beim 
Angeln  einer  ins  Wasser  fällt  und  ihn  sein  Bruder  herauszieht.  Allerdings 
wird  er  dafür  nicht  belohnt,  sondern  verhauen.  Ebenso  erzählt  uns  der 
Knabe  I  die  G-eschichte  einer  Errettung  aus  Wassersnot.  Bild  1.  Ein  Kahn, 
schwer  mit  Säcken  beladen,  strebt  ans  Land.  Bild  2.  Ein  Sturm  erhebt  sich, 
daß  einem  am  Ufer  Stehenden  der  Hut  vom  Kopfe  fliegt  und  das  Meer  hohe 
Wellen  schlägt.  Bild  3.  Der  Kahn  ist  umgeworfen,  und  Insasse,  Ruder 
und  Säcke  treiben  auf  dem  Wasser.  Bild  4.  Vom  Baum  am  Ufer  aus  wird 
alles  ans  Land  gefischt. 

Bei  der  dritten  —  das  ist  zugleich  die  letzte  G-eschichte  einer  helfenden 
Tat  —  ist  es  ebenso  sehr  der  Trieb,  der  Freundin  zu  helfen,  als  Lust,  einen 
andern  zu  überlisten.  Sie  würde  in  Worten  ungefähr  so  lauten :  Bild  1  und  2. 
Zwei  Mädchen  gehen  spazieren.  Bild  3  und  4.  Ein  Knabe  kommt  gesprungen, 
fängt  eines  der  Mädchen  und  knebelt  es  und  hängt  es  an  den  Galgen.  Dann 
eilt  er  fort,  das  andere  Mädchen  auch  noch  zu  fangen.  Unterdessen  ist  dieses 
zurückgekommen,  hat  die  Gehängte  vom  Galgen  herabgeholt  und  entflieht 
mit  der  Ohnmächtigen.  Der  Knabe  kommt  zurück  und  muß  beide  Galgen 
leer  sehen.  Zu  Hause  bekommt  die  Ohnmächtige  etwas  ein,  und  auf  dem 
letzten  Bilde  sehen  wir  beide  Mädchen  vor  Freude  tanzen. 

Ein  einziges  Mal  ist  eine  Geschichte  gezeichnet  worden,  wo  eines  einem 
andern  eine  Freude  bereitet,  indem  es  heimlich  einen  Blumenstrauß  auf  den 
Tisch  stellt,  um  seine  Dankbarkeit  zu  bezeugen.  Das  ist  unter  den  64  Ge- 
schichten alles,  was  für  Mitleid  und  Mitgefühl  spricht. 

Wir  übertreiben  also  keineswegs,  wenn  wir  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
daß  Roheiten  und  Grausamkeiten  der  Kindesnatur  näher  liegen  als  Mitleid 
und  Mitgefühl,  eine  Erscheinung,  die  der  Kinderpsychologie  für  das  erste 
Lebensalter  des  Kindes  nicht  unbekannt  ist.  Wir  sehen  hier  bei  Taubstummen 
diesen  Zug  länger  erhalten,  und,  entsprechend  der  vorangeschrittenen  Kraft, 
krasser  zutage  treten.  Beeinflussung  von  außen  kann  nicht  die  Veranlassung 
davon  sein;  denn  die  Gehörlosigkeit  schützt  die  taubstummen  Kinder  vor 
der  Verführung  durch  rohe  und  gemeine  Redensarten.  Man  kann  auch 
nicht  annehmen,  daß  sie  durch  Bilder  dahin  gebracht  würden,  denn 
zweifellos  gehen  ihnen  mehr  Bilder  guten  Inhaltes  durch  die  Hände  als  andere. 
Daß  aber  gerade  die  wenigen  anderen  ihre  Phantasie  so  mächtig  erregen, 
beweist,  was  sie  in  sich  tragen,  was  ihrem  Denken  und  Fühlen  entspricht. 


Ziir  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der  Schule.      177 


Eine  Zusammenstellung  sämtlicher  „Dichtungen"  möge  das  Gesagte 
noch  einmal  veranschaulichen: 

Unter  den  64  gesammelten  Geschichten  eines  Jahres  befinden  sich  29 
Geschichten  mit  tödlichem  Ausgang,  15  Geschichten  vom  Stürzen  und  Fallen, 
wo  es  Verwundete,  mindestens  aber  Hiebe  gibt,  zusammen  44  blutige  Ge- 
schichten. Diesen  stehen  nur  20  unblutige  Geschichten  gegenüber,  die  sich 
zusammensetzen  aus  3  Diebstählen  ohne  blutiges  Gericht,  1  Arretierung, 
5  Ulkgeschichten,  1  Überraschung  mit  einem  Blumenstrauße,  8  Beschrei- 
bungen, 2  zusammenhangslosen  Geschichten. 

Deuten  diese  Kinderzeichnungen  auf  eine  Gefühlsskala,  die  wir  uns 
nicht  einfach  genug  denken  können,  so  muß  auch  das  Wollen  dieser  Kinder 
entsprechend  sein.  Anders  als  ein  Mensch  fühlt,  kann  er  nicht  handeln. 
Den  einfachen  und  rohen  Gefühlen  entspricht  ein  einfaches  und  rohes 
Handeln,  ein  einfaches  und  rohes  Gewissen. 

Es  braucht  wohl  kaum  ausgesprochen  zu  werden,  daß  damit  kein  Vor- 
wurf gegen  die  Kinder  erhoben  werden  darf.  Es  wird  uns  aber  diese  Er- 
kenntnis vor  einer  ungerechten  Beurteilung  und  Behandlung  der  Jugend 
schützen  müssen.   Wer  das  Kind  führen  will,  muß  es  erst  suchen. 


Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der  Schule/ ) 

Von  Johannes  Duck. 

Seelische  Vorgänge  stehen  in  der  Regel  mit  einer  ganzen  Reihe  körperlicher 
bzw.  materieller  Momente  überhaupt  in  innigem  Zusammenhang  und  in  reger 
Wechselwirkung.  Allerdings  werden  wir  uns  dessen  nicht  immer  bewußt,  am 
leichtesten  dann,  wenn  eine  Störung  in  der  einen  Richtung  auch  auf  dem  anderen 
Gebiete  Wirkungen  äußert,  so  daß  wir  manchmal  beinahe  verwundert  auf  den 
Zusammenhang  aufmerksam  werden.  So  ist  es  eine  bekannte  Tatsache,  daß  der 
freudig  erregte  Mensch  eine  ganz  andere  Art  der  Bewegung  zeigt  als  der  traurige ; 
beim  ersteren  finden  wir  einen  Reichtum  und  eine  Freude  an  Bewegungen  (plaisir 
de  mouvement),  beim  letzteren  eine  gewisse  Armut  daran  und  auch  einen  viel  lang- 
sameren Ablaufsmodus.  Aber  auch  umgekehrt  bewirkt  z.  B.  eine  gelungene  Turn- 
oder Sportsübung  eine  starke  Hebung  des  Selbstbewußtseins  im  allgemeinen,  also 
auch  in  geistiger  Hinsicht,  und  das  sogar  oft  recht  rasch,  wie  jeder  Turner  be- 
stätigen kann,  der  einmal  verstimmt  gewesen  und  dann  bald  durch  einige  turne- 
rische Übungen  auch  sein  seelisches  Gleichgewicht  wieder  gefimden  hat.  Das 
hat  zweifellos  nicht  bloß  die  Ablenkung  bewirkt,  sondern  die  Übertragung  des 
wohltätigen  Eindrucks  des  Erfolgs  von  einem  Gebiet  auf  das  andere.  Vielleicht 
die  feinste,  jedenfalls  aber  die  unmittelbarste  äußere  Reaktion  auf  seelische  Vor- 
gänge  ist   aber   neben   dem  Mienenspiel   die    Sprache.     Wie    außerordentlich 


*)  Anmerkung  der  Schriftleitung:  Diese  Abhandlung  Dück's  war  bereits  vor  dem 
jüngstem  Erlaß  des  österr.  Ministers  für  Kultus  und  Unter r.  über  die  Pflege  des 
fr<>ien  Vortrags  in  der  Schule  eingegangen. 

Zeitschrift  f.  i)Adagog.  Psychologie,  12 


178      Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der   Schxile. 

mannigfach  ist  doch  die  Modulationsfähigkeit  dieses  Ausdrucksmittels:  Stimm- 
stärke, Klangfarbe,  Geschwindigkeit,  Tonhöhe,  Abwechslung  oder  Einförmig- 
keit des  Ausdrucks  wirken  zusammen,  um  beinahe  für  jede  seelische  Regung 
eine  bestimmte  Nuance  dieser  Ausdrucksbewegung  zu  geben,  die  vom  feinfühligen 
Hörer  sofort  empfunden  und  meist  auch  richtig  gedeutet  wird.  Gerade  dieser 
Umstand  bringt  es  naturgemäß  mit  sich,  daß  Leute,  auf  welche  man  besonders 
zu  schauen  gewohnt  ist,  die  ihrer  Stellung  nach  der  Maßstab  für  einige  oder  gar 
viele  andere  sind,  mit  Bewußtsein  und  aller  Kraft  sprachliche  Selbstbeherrschung 
zu  üben  versuchen;  ja  man  kann  sagen,  daß  man  in  der  Beherrschung  der  Sprech- 
werkzeuge den  vornehmsten  Gradmesser  der  Selbstbeherrschung  überhaupt 
erblicken  kann.  Auch  aus  einer  andern  Ausdrucksbewegung,  der  Schrift,  kann 
der  Geübte  sehr  gut  einen  berechtigten  Rückschluß  auf  den  Grad  der  Selbst- 
beherrschung ziehen ;  aber  bis  etwas  geschrieben  wird,  vergeht  in  der  Regel  einige 
Zeit;  man  kann  sich  sammeln  und  die  etwa  verlorene  Selbstbeherrschung  wieder 
gewinnen.  Anders  bei  der  Sprache.  Hier,  besonders  in  der  Wechselrede,  erfolgt 
die  Äußerung  unmittelbar,  und  die  Reaktion  gibt  ein  deutliches  Bild  des  Seelen- 
zustandes;  wir  brauchen  also  augenblickliche  Selbstbeherrschung  und  zwar 
in  doppeltem  Sinne:  einmal,  daß  jemand  nicht  allzu  temperamentvoll  reagiert, 
dann  aber  auch  in  dem  Sinn,  daß  er  durch  die  Angriffe  von  außen  nicht  sein 
Selbstbewußtsein  verliert  und  in  das  so  verderbliche  Gefühl  der  Minder- 
wertigkeit gedrängt  wird.  „Die  Erziehung  muß  dem  Kind  die  Möglichkeit  neh- 
men —  sei  es  wegen  seiner  Schwäche,  Kleinheit  oder  Unkenntnis  —  ein  Gefühl 
der  Minderwertigkeit  aufkommen  zu  lassen."^)  Selbstbeherrschung  in  diesem 
doppelten  Sinn  ist  eine  der  allerwichtigsten  Eigenschaften,  die  wir  unsern  jungen 
Freunden  an  den  höheren  Schulen  beizubringen  haben,  denn  Selbstbeherrschung 
ist  die  Grundlage  der  Autorität  andern  gegenüber,  und  aus  unsern  höheren  Schulen 
sollen  ja  die  ,, herrschenden  Kreise"  hervorgehen.  Glücklicherweise  kann  man 
diese  so  notwendige  Eigenschaft  anerziehen  und  ausbilden,  natürlich  nicht  bei 
jedem  Individuum  in  gleichem  Grade.  Es  gibt  nun  meiner  Ansicht  nach  kein 
besseres  Mittel  in  der  Schule,  um  Selbstbeherrschung  einzupflanzen  und  zu  er- 
höhen, als  den  freien  Vortrag. 

Was  uns  nottut,  sind  vor  allem  ,, Terminarbeiter",  d.  h.  Leute,  die  die 
nötige  Kraft  aufbringen,  allen  inneren  und  äußeren  Hemmungen  zum  Trotz  in 
der  dafür  bestimmten  Zeit  eine  bestimmte  Arbeit  fertig  zu  stellen.  Schon  diese 
Forderung  einer  inneren  Selbstzucht  wird  durch  den  freien  Vortrag  in  besonderem 
Maße  erfüllt.  Allerdings  muß  auch  bei  geschriebenen  Hausarbeiten  ein  Termin 
eingehalten  werden;  aber  wie  leicht  kann  da  eine  Umgehung  vorkommen.  Eine 
Rechenaufgabe  oder  eine  Übersetzung  wird  im  letzten  Moment  abgeschrieben, 
eine  Aufsatzübung  in  den  letzten  Stunden  schluderhaft  angefertigt.  Beim  münd- 
lichen, freien  Vortrag  geht  eine  solche  Verschiebung  auf  den  letzten  Augenblick 
einfach  nicht.  Wer  den  Vortrag  nicht  ordentlich  vorbereitet  hat,  blamiert  sich 
vor  allen  Mitschülern ;  er  empfindet  diese  Blamage  auch  viel  unmittelbarer,  wenn 
er  aller  Augen  auf  sich  gerichtet  sieht  und  die  Empfindung  hat,  daß  er  auf  sich 
allein  angewiesen  ist.   Gewiß  wird  es  auch  hier  manchmal  vorkommen,  daß  durch 


^)  A.  Adler,    „Trotz  und  Gehorsam"    in   den  Monatsheften  für  Pädagogik  \ind 
Schulpolitik,  1910.     9.  Heft. 


Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der   Schxile.      179 

vorgescliützte  Krankheit  usw.  der  Termin  nicht  eingehalten  wird,  aber  im  ganzen 
und  großen  empfinden  die  Schiller  doch  einen  ungewöhnlich  starken  Anreiz,  zum 
richtigen  Termin  fertig  zu  werden.  Dieses  Hinausschieben  mancher  Schüler  hat 
übrigens  seinen  letzten,  meist  unbewußten  Grund  in  dem  Gefühl  einer  irgendwie 
auf  den  Vortrag  bezüglichen  Minderwertigkeit;  man  muß  daher  alles  tun,  um 
zunächst  dieses  hemmende  Gefühl  bei  den  Schülern  zu  besiegen  und  zu  beseitigen. 
Ich  spreche  daher  stets  zu  Beginn  des  Jahres  von  Beispielen,  welche  den  Erfolg 
der  Willensstärke  dartun  (Demosthenes),  verweise  auf  die  Ergebnisse  der 
sogen.  Volksbildungsabende  u.  dgl.,  weiter  lasse  ich  das  Thema  möglichst  frei 
wählen,  hebe  bei  der  Besprechung,  wenn  ich  nur  guten  Willen  sehe,  hier  mehr 
als  bei  andern  Grelegenheiten  alles  Lobenswerte  hervor,  um  dem  jungen  Kedner 
das  wertvolle  Selbstvertrauen  beizubringen,  das  aus  dem  Gedanken  entspringt: 
Es  ist  das  erstemal  besser  gegangen,  als  ich  selbst  geglaubt  habe. 

Es  besteht  psychologisch  und  pädagogisch  ein  wesentlicher  Unterschied,  ob 
ein  Schüler  von  der  Bank  aus  nur  die  Fragen  des  Lehrers  beantwortet,  oder  vom 
Katheder  aus  auch  nur  einige  Minuten  lang  zu  einer  „Zuhörerschaft"  spricht. 
Im  ersteren  Falle  fühlt  er  sich  gewissermaßen  wohltuend  geschützt,  von 
seinen  Mitschülern  umgeben,  er  sieht  nur  die  Augen  des  Lehrers  auf  sich  ge- 
richtet, und  kann  mit  Recht  darauf  hoffen,  jederzeit,  wenn  er  aufhört,  durch 
eine  Zwischenfrage  des  Lehrers  wieder  neu  angeregt  zu  werden .  Im  letzteren  Falle 
aber  fühlt  er  sich  nicht  bloß  allein  und  herausgerissen  aus  der  Klasse,  sondern 
sogar  in  einen  gewissen  Gegensatz  dazu  gestellt,  einige  Dutzend  Augenpaare 
sind  erwartungsvoll  auf  ihn  gerichtet,  und  er  weiß,  er  soll  nun  ohne  Stockung, 
ohne  Nachhilfe  den  ganzen  Vortrag  zu  Ende  bringen.  Es  ist  außerordentlich 
notwendig,  daß  einer  schon  in  der  Schule  dieses  „Lampenfieber"  überwinden 
lernt,  daß  er  sich  nicht  durch  seine  Zuhörer  beeinflussen  läßt,  sondern  sie  von 
etwas  überzeugen  will  (das  nei&eiv  des  Aristoteles),  sie  zu  seiner  Ansicht  be- 
kehren will.  Es  ist  natürlich  Sache  des  geschickten  Pädagogen,  Mut  und  Selbst- 
vertrauen in  die  jungen  Seelen  zu  pflanzen.  Allerdings  wird  man  auch  hier  schon 
wirkliche  Redekunst  von  hohler  Geschwätzigkeit  unterscheiden  müssen,  wie  sie 
manchen  Leuten  im  Verein  mit  Mangel  an  Zurückhaltung  schon  von  Natur  aus 
eigen  zu  sein  scheint;  solche  Schwadroneure  und  Frechdachse  wird  man  natür- 
lich statt  zu  ermuntern,  zur  Selbstzucht  anzuhalten  haben.  Die  weitaus  größere 
Zahl  der  jungen  Leute  aber  kann  einen  Zuwachs  an  Selbstvertrauen  und  Selbst- 
bewußtsein recht  gut  brauchen,  wie  denn  auch  im  praktischen  Leben  Mangel  an 
diesen  Eigenschaften  oft  ein  arges  Hemmnis  besonders  für  ihre  Verwendung  im 
öffentlichen  Dienst  für  sonst  recht  brauchbare  Geister  ist. 

Endlich  soll  noch  auf  eine  Sache  von  großer  Wichtigkeit  hingewiesen  werden ! 
Der  freie  Vortrag  in  der  Schule  bildet  nämlich  gewissermaßen  ein  wertvolles 
Ventil  für  den  Drang  zur  aktiven  Betätigung,  der  in  vielen  Kindern 
liegt.  Es  ist  die  „Einstellung  auf  Trotz",  „der  männliche  Protest"  (Adler),  Er- 
scheinungen, die  besonders  bei  solchen  Schülern  vorhanden  sind,  die  wegen  ihrer 
geringeren  Leistungen  oft  getadelt,  ja  vielleicht  von  Mitschülern  gehänselt  werden ; 
diese  Leute  haben  einen  Heißhunger  darnach,  auch  einmal  ,, eine  Rolle  zuspielen" 
und  zu  zeigen,  daß  sie  nicht  so  minderwertig  sind,  wie  die  Mitschüler  und  die 
Lehrer  annehmen.  Sie  ergreifen  daher  gern  diese  Gelegenheit,  weil  sie  in  dem 
freien  und  vor  allem  frei  gewählten  Vortrag  eben  ein  Mittel  erblicken,  diesen 

12* 


180      Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der  Schule. 

ihren  „männliclien  Protest"  mit  Erfolg  zum  Ausdruck  zu  bringen;  der  Schüler 
weiß  nämlich,  daß  er  ein  Thema  behandelt,  das  seiner  innersten  Überzeugung 
entspricht,  und  daß  er  seinen  Gedankengang  5  oder  10  Minuten  lang  ungehindert 
und  ungestört  entwickeln  kann.  Der  Schüler  fühlt  sich  hier,  vielleicht  zum  ersten 
mal  in  seinem  Leben  produktiv,  nicht  nur  reproduktiv  tätig;  jedenfalls  zu 
seinem  Heil !  So  ein  gelungener  Vortrag  wirkt  manchmal  befreiend  und  heilend  wie 
eine  Art ,, Psychoanalyse";  wenn  der  Lehrer  vollends  die  daran  geknüpfte  Wechsel- 
rede strenge  überwacht  und  anerkennt,  was  irgendwie  anzuerkennen  ist,  so  ist 
von  einem  solchen  Schüler  der  Bann  gewichen  und  die  ,, Einstellung  auf  Gehor- 
sam" neben  dem  so  fruchtbaren  Selbstvertrauen  erreicht.  Ich  habe  erst  kürzlich 
bei  einem  Schüler,  einem  starken  Stotterer,  durch  Aufmunterung  und  Hebung 
seines  Selbstvertrauens  dadurch,  daß  ich  ihn  trotz  seines  Stotterns  nicht  vom 
freien  Vortrag  dispensierte,  „weil  ich  überzeugt  sei,  daß  ihm  der  Vortrag  gelingen 
werde",  ein  überraschendes  Ergebnis  erzielt.  Er  hielt  nämlich  einen  beinahe 
10  Minuten  langen  Vortrag,  zwar  nicht  ganz  ohne  Stocken,  aber  ganz  auffallend 
besser,  als  er  sonst  sprach,  und  stieg  dann  mit  allen  Zeichen  innerer  Befriedigung 
über  seine  Leistung  vom  Katheder  herab. 

Durch  die  freie  Wahl  des  Vortragsstoffes  —  natürlich  stets  imter  einer  gewissen 
Aufsicht  durch  den  Lehrer  —  wird  erreicht,  daß  jeder  ein  Lieblingsthema  wählen, 
also  auch  aus  innerer  Überzeugung  heraus  sprechen  kann.  Werden  die 
Themen  zwangsweise  verteilt,  so  stellt  sich  nicht  bloß  der  Übelstand  ein,  daß  ein 
Schüler  ein  ihm  gänzlich  gleichgültiges  oder  gar  unsympathisches  Thema  erhält, 
sondern  das  noch  viel  schwerer  wiegende  Neidgefühl,  das  dem  Besitzer  eines 
etwa  selbst  gewünschten  Themas  entgegengebracht  wird.  Neid  aber  ist  stets  die 
Reaktion  wirklicher  oder  eingebildeter  Minderwertigkeit  (Benachteiligung),  und 
das  Minderwertigkeitsgefühl  ist  es  ja,  das  wir  vor  allem  bekämpfen  sollen  und 
wollen.  Der  wirklich  Tüchtige  braucht  nicht  neidisch  zu  sein  imd  ist  es  auch 
nicht;  daher  sehen  wir  auch  im  Leben,  daß  einer  um  so  lieber  das  Wissen  und 
die  Verdienste  anderer  anerkennt,  je  reicher  an  Wissen  und  Verdiensten  er  selber 
ist.  Erst  wenn  jemand  fühlt,  daß  er  das  nicht  mehr  ist,  was  er  war,  beginnt  wieder 
die  Zeit  des  Neides.  Übrigens  ist  eine  starke  Reaktion  immer  ein  Zeichen,  daß 
etwas  gut  ist:  ,,Viel  Feind,  viel  Ehr."  Wenn  sich  eine  recht  lebhafte  Besprechung 
an  einen  Schülervortrag  anknüpfte,  so  habe  ich  stets  eher  ein  Gefühl  der  Be- 
friedigung beim  angegriffenen  Vortragenden  wahrgenommen,  als  wenn  sich  nie- 
mand zur  Besprechung  meldete;  die  Schüler  fühlen  eben  die  Richtigkeit  des 
Kritikergrundsatzes:  „Von  einem  schlechten  Schriftsteller  spricht  man  nicht, 
mit  einem  mittelmäßigen  ist  man  nachsichtig,  mit  einem  guten  aber  unbarm- 
herzig." Es  ist  also  entschieden  nötig,  dem  jugendlichen  Neide  das  wertvolle 
Ventil  eines  Erfolges  durch  einen  freien  und  frei  gewählten  Vortrag  zu  öffnen. 
Auch  im  späteren  Leben  würde  vieles  besser  gehen,  wenn  wir  solch  ein  Abzugs- 
rohr hätten,  vielleicht  entspringt  die  Vereinsmeierei  zum  Teil  einem  ähnlichen 
unbewußten  oder  wenigstens  uneingestandenen  Verlangen.  Das  Schlagwort  vom 
„Neid  der  besitzlosen  Klasse"  hat  eine  viel  allgemeinere  Gültigkeit,  als  man  in 
der  Regel  annimmt;  es  gilt  nicht  bloß  vom  materiellen  Besitz,  sondern  mindestens 
ebenso  gut  vom  geistigen;  auch  der  Don  Juan  wird  am  bissigsten  von  demjenigen 
verfolgt,  der  selbst  kein  Glück  bei  schönen  Frauen  hat.  Das  liegt  einmal  in  der 
Natur  des  Menschen,  und  jede  Erziehung,  welche  auf  eine  so  unbedingte  Unter- 


Zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der   Schule.      181 

werfung  hinarbeitet,  daß  das  Selbstbewußtsein  und  die  Selbstwertschätzung 
dabei  künstlich  erstickt  wird,  ist  daher  als  unnatürlich  von  vornherein  abzu- 
lehnen. Was  wir  brauchen,  sind  Leute,  die  an  der  Stelle,  an  der  sie  stehen,  voll- 
kommen entsprechen  und  so  —  in  diesem  begrenzten  Sinn,  —  sich  einer  ge- 
wissen Höchstleistung  mit  Befriedigung  bewußt  sind.  Diese  Leute  werden  dann 
auch  imstande  sein,  neidlos  die  Verdienste  anderer  anzuerkennen.  Auch  die  ver- 
schiedenen Sportarten  und  der  Sammeleifer  bieten  gesunde  Möglichkeiten  zu 
selbstbefriedigenden  Höchstleistungen,  während  die  Vereinsmeierei  sehr  wenig 
geeignet  erscheint,  den  Neid  und  die  Mißgunst,  diese  versteckten  Krankheiten 
unserer  Zeit,  hintanzuhalten,  da  sie,  in  den  germanischen  Ländern  wenigstens, 
nur  allzu  leicht  zu  allgemeinem  Raisonnieren  am  Wirtshaustisch,  zu  politischer 
Kannegießerei  und  somit  zu  neuen  Mißhelligkeiten  führt. 

Auch  für  den  Lehrer  bieten  die  freien  Vorträge  der  Schüler  mancherlei  Ge- 
legenheit, wertvolle  psychologische  Aufschlüsse  über  die  Eigenart  der  jungen 
Leute  zu  bekommen,  die  ihm  sonst  wenig  oder  gar  nicht  geboten  wird.  So  zeigt 
sich  manchmal  bei  der  Besprechung  durch  die  Mitschüler,  daß  sich  einer  durch 
eine  offenbar  ganz  allgemein  gedachte  Stelle  des  Vortrags  betroffen  fühlte.  Ein 
Sprichwort  sagt  aber:,, Man  sucht  niemand  hinterm  Ofen,  wenn  man  nicht  selber 
dahinter  gesteckt  hat,"  und  der  Lehrer  wird  mit  Fug  und  Recht  in  einer  solchen 
Reaktion  ein  Stückchen  Selbstverrat  erblicken  können.  Übrigens  bietet  sich  da 
willkommene  Gelegenheit,  den  Schülern  den  Geeist  der  Kameradschaftlichkeit  und 
des  feinfühligen  Taktes  beizubringen,  sei  es,  daß  sie  sich  in  der  Rolle  des  Vor- 
tragenden oder  in  der  des  Zuhörers  befinden.  Dies  ist  um  so  wichtiger,  als  unsere 
Parlamentsberichte  nicht  selten  von  recht  wenig  taktvollem,  dafür  aber  um  so 
gewalttätigerem  Benehmen  der  Zuhörer  zu  erzählen  wissen;  und  die  Zeitungen 
werden  ja  heute  von  jedermann  gelesen. 

Und  nun  noch  einiges  zur  Methodik  des  freien  Vortrags  an  höheren  Schulen. 

Wir  werden  den  Hauptwert  darauf  legen  müssen,  daß  der  Schüler  begreift, 
wodurch  sich  der  Vortrag  von  einem  nur  mündlich  reproduzierten,  d.  h.  „auf- 
gesagten" Aufsatz  unterscheidet;  der  Schüler  muß  sich  daran  gewöhnen,  als  Vor- 
tragender wenigstens  ein  bißchen  die  unmittelbaren  Beziehungen  zwischen  sich 
und  den  Zuhörern  herzustellen,  zum  mindesten  wird  er  zu  diesem  Zweck  mehrmals 
seine  Zuhörer  direkt  anzureden  haben.  Man  wird  mit  Rücksicht  auf  diesen  Haupt- 
zweck auch  nicht  allzu  streng  darnach  streben,  nur  Eigenbau  zu  erhalten;  ja  in 
den  untern  Klassen  wird  man  von  eigenen  Produkten  in  der  Regel  besser  ganz 
absehen.  Ich  bin  dafür,  daß  man  schon  ziemlich  früh  mit  den  freien  Vorträgen 
beginne ;  in  den  untersten  3  Klassen  wird  man  allerdings  am  besten  nur  Memorier- 
stoffe in  gebundener  Sprache  vortragen  lassen,  wozu  sich  am  ehesten  Balladen 
eignen ;  man  kann  so  das  Ohr  allmählich  an  den  Rhythmus  der  Sprache  gewöhnen, 
auf  sinnvollen  Vortrag  dringen  und  eine  dialektfreie,  klangschöne  Aussprache 
der  einzelnen  Wörter  erzielen.  Der  letztere  Punkt  scheint  mir  grundlegend  für 
den  Vortrag  überhaupt;  deshalb  darf  man  sich  die  Schwierigkeiten  nicht  ver- 
drießen lassen  und  muß  mit  unendlicher  Geduld  und  Ausdauer  imd  vor  allem 
mit  gutem  Beispiel  das  Ziel  zu  erreichen  suchen.  In  der  4.  und  5.  Klasse  wird  man 
dann  mit  Prosastücken  beginnen  und  zwar  sorgfältig  nur  solche  Stücke  aus- 
wählen, die  sich,  auch  ohne  eigentlich  Reden  zu  sein,  ihrem  ganzen  Aufbau  nach, 
zum  Vortrag  eignen;  dabei  sei  stets  unser  Grundsatz:  Kurz  und  gut!   Es  gibt  ja 


182      Ztir  Psychologie  iind  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der   Schule. 

viele  Lesestücke,  die  aus  Vorträgen  hervorgegangen  sind  und  sich  also  besonders 
eignen;  in  dieser  Beziehung  scheinen  mir  ganz  ausgezeichnet  einige  Werke 
des  bekannten  Kulturhistorikers  W.  H.  Riehl,  welche  in  passender  Auswahl 
auch  in  Schulausgaben  bei  Cotta  erschienen  sind.  Ich  nenne  da  vor  allem:  „Die 
bürgerliche  Gesellschaft",  „Land  und  Leute",  und,  besonders  für  höhere  Mädchen- 
schulen passend,  ,,Die  Familie",  welche  nicht  nur  sprachlich  hervorragend  ge- 
eignet erscheinen,  sondern  auch  einen  kerngesunden,  lebenswahren,  von  allen 
Extremen  gleichweit  entfernten  Inhalt  aufweisen.  Man  braucht  nicht  zu  fürch- 
ten, daß  der  Stoff  allzu  schwer  ist  und  kann  im  übrigen  auch  mit  Vorteil  das 
vorzubereitende  Stück  vorher  durchnehmen  und  erklären.  Man  wird  dabei  gut 
tun,  der  Abwechslung  halber  nicht  allen  Schülern  das  gleiche  Stück  aufzugeben, 
sondern  Gruppen  zu  je  3  zu  bilden ;  dadurch  wird  ein  Vergleich  der  verschiedenen 
Vortragsarten  und  Vortragsfehler  ermöglicht,  der  mehr  als  bloße  Worte  zur  Ver- 
besserung anregt. 

In  der  6.  und  7.  Klasse  wird  man  schon  darauf  dringen  können,  daß  die  Schüler 
ein  frei  gewähltes  Thema  selbst  behandeln.  Sie  sind  da  etwa  16 — 17  Jahre  alt 
und  fühlen  erfahrungsgemäß  einen  besonderen  Betätigungstrieb.  Bei  der  Ge- 
nehmigmig  der  vorgeschlagenen  Themen  wird  man  natürlich  individuell  vorgehen 
müssen,  doch  wird  man  gern  ein  Auge  zudrücken,  wenn  die  Schüler  Themen 
wählen,  die  fernab  von  den  ausgefahrenen  Gleisen  liegen.  Die  Hauptsache  ist 
und  bleibt,  daß  der  Vortragende  sich  selbst  für  die  Sache  inter- 
essiert und  daher  auch  mit  voller  Begeisterung  für  seine  Sache 
eintritt,  denn  dann  wird  er  auch  den  überzeugenden  Ton,  d.  h.  den  richtigen 
Rednerton  finden.  Besonders  zu  empfehlen  sind  wirtschaftliche  Themen.  Die 
Schüler  zeigen  auch  im  allgemeinen  großes  Interesse  dafür,  und  man  wird  gut 
daran  tun,  ihr  Augenmerk  darauf  zu  richten.  Stoff  findet  sich  genug,  z.  B.  in 
den  verschiedenen  Jahrbüchern  der  Entdeckungen  und  Erfindungen,  die  ja 
wohl  in  allen  Bibliotheken  höherer  Lehranstalten  zu  finden  sind;  stehen  Zeit- 
schriften den  Schülern  zur  Verfügung,  dann  natürlich  desto  besser.  Man  wird 
auch  die  Söhne  von  Industriellen,  Handel-  und  Gewerbetreibenden  über  etwas 
sprechen  lassen  können,  was  sie  aus  dem  elterlichen  Betrieb  kennen,  soweit  sie 
sich  selbst  dazu  melden  und  das  Thema  von  Interesse  ist.  In  den  höheren  Han- 
dels- und  Gewerbeschulen  natürlich  werden  diese  Themen  erst  recht  am  Platze 
sein  und  durch  den  Unterricht  in  den  entsprechenden  Fächern,  Handels-  und 
Verkehrsgeographie,  Handelsgeschichte,  Volkswirtschaftslehre  usw.  gefördert 
werden.  Man  wird  aber  immer  nachsichtig  sein  müssen,  wenn  sich  ein  Schüler- 
vortrag inhaltlich  ziemlich  stark  an  fremde  Erzeugnisse  anlehnt,  besonders  da, 
wo  man  schlechterdings  eine  ganz  selbständige  Bearbeitung  nicht  verlangen  kann. 
Es  empfiehlt  sich  auch,  den  Schülern  bei  der  Beschaffung  der  nötigen  Behelfe  an 
die  Hand  zu  gehen  und  ihnen  Bücher  aus  der  Lehrerbibliothek  oder  auch  aus  der 
eigenen  Bücherei  leihweise  zur  Verfügung  zu  stellen.  Musikalische  Schüler  wird 
man  zu  musikalischen  Themen,  Turner  und  Sportsleute  zu  entsprechenden  Vor- 
trägen anregen  dürfen.  Die  Hauptsache  ist  und  bleibt  eben  immer,  daß  sich  der 
Vortragende  so  in  die  Sache  hineingelebt  hat,  daß  er  überzeugt  und  überzeugend 
spricht. 

In  der  obersten  Klasse  wird  man  natürlich  schon  größere  Anforderungen  an 
die  selbständige  Bearbeitung  auch  bezüglich  des  Inhalts  stellen  dürfen.    Immer 


Zxir  Psychologie  und  Pädagogik  des  freien  Vortrags  in  der  Schule.      183 

aber  muß  man  im  Auge  behalten,  daß  es  schon  ein  Verdienst  ist,  wenn  ein  Schüler 
neben  der  sprachlich  selbständig^durchgeführten  Bearbeitung  die  eine  oder  andere 
eigene,  originelle  Idee  bringt;  im  Durchschnitt  kann  und  muß  man  mit  der 
sprachlich  selbständigen  Verarbeitung  fremder  Ideen  wohl  zufrieden  sein.  Natür- 
lich wird  man  da  gern  auch  vaterländische  Themen  zulassen ;  man  wird  sich  aber 
auch  erinnern  müssen,  daß  wir  zur  Vermeidung  von  Einseitigkeit  auch  allgemein 
menschliche  Themen  erwünscht  finden;  die  Wahrheit  ist  ja  international!  Auf 
dieser  Stufe  kann  man  recht  wohl  auch  schon  hygienische  Themen  an- 
regen und  z.  B.  die  Gefahren  des  Alkohols  von  mehreren  Schülern  be- 
handeln lassen;  während  der  eine  die  wirtschaftlichen  Schädigungen 
bespricht,  kann  ein  anderer  mehr  auf  die  gesundheitlichen  eingehen.  Gerade 
solche  Themen  bieten  dem  Lehrer  Gelegenheit,  selbst  manches  aufklärende 
Wort  einzustreuen. 

Ebenso  wertvoll  als  der  eigentlichefreie  Vortrag  ist  die  daran  geknüpfte  Wechsel- 
rede; zuerst  läßt  man  diejenigen  sprechen,  die  sich  freiwillig  melden;  sollte  sich 
niemand  melden,  so  bestimmt  man  einen  oder  mehrere  der  besseren  Schüler  zur 
Besprechung.  Auch  kann  es  nur  nützen,  wenn  man  sich  streng  an  die  parlamen- 
tarische Form  hält  und  dem  Vortragenden  als  ,, Referenten"  das  Schlußwort 
gibt,  bevor  man  selbst  eine  zusammenfassende  Besprechung  des  Vortrags  und 
der  daran  geknüpften  Wechselrede  hält. 

In  den  höheren  Klassen  genügt  es,  wenn  jeder  Schüler  in  jedem  Semester  einen 
solchen  Vortrag  ausarbeitet;  derselbe  kann  dann  auch  zugleich  eine  deutsche 
Hausarbeit  vertreten,  wobei  man  noch  den  Vorteil  hat,  auf  jeden  Fall  eine  persön- 
lichere Leistung  zu  bewerten,  als  vielleicht  bei  einer  von  einem  Nachhilfelehrer 
verfaßten  schriftlichen  Hausarbeit. 

Sprache  ist  von  Sprechen  nun  einmal  nicht  zu  trennen.  Die  mündliche  Be- 
tätigung ist  daher  der  beste  und  vornehmste  Weg  zu  ihrer  Erlernung.  Die  Sprache 
ist  aber  auch  eine  der  wichtigsten  Lebensäußerungen  des  Menschen  überhaupt; 
wir  halten  Auswanderer  für  ihr  altes  Volk  für  verloren,  wenn  sie  ihre  Mutter- 
sprache abgelegt  haben.  Und  mit  Recht !  Mit  der  Sprache  hängt  eben  aufs  innigste 
das  ganze  Wesen  zusammen.  Selbstverständlich  ist  das  mustergültige  Beispiel 
des  Lehrers  in  ^bezug  auf  den  freien  Vortrag  besonders  wichtig,  denn 
,, nirgendwo  ist  der  Nachahmungstrieb  so  gewaltig  wie  in  der  Sprache". 
(Meringer.)  Sobald  Menschen  zusammenkommen,  üben  sie  gegenseitig  Ein- 
fluß auf  einander  aus ;  der  allereinflußreichste  aber  ist  eben  der  Meister  des 
gesprochenen  Wortes. 

Im  übrigen  schließe  ich  meine  Ausführungen  mit  den  Worten  Sad- 
gers:  „Der  richtige  Lshrer  weiß  ganz  genau,  daß  das  Kind  nur  dann 
ihm  sein  Allerbestes  hergibt  und  eifrigst  lernt,  wenn  er  zuvor  dessen  Neigung 
gewonnen."^) 


*)  Diskussionen  des  Wiener  psychoanalytischen  Vereins,  I.  Heft,  Über  den  Selbst- 
mord, insbesondere  den  Schülerselbstmord.   Wiesbaden  1910.    S.  28. 


184  Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis. 

Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis. 

Erwiderung  auf  die  „Bemerkungen"  Brederekes. 

(Vergleiche  Jahrgang  1913  dieser  Zeitschr.    Heft  IV,  V  u.  XII.) 

Von  0.  Hasserodt. 

Da  Bredereke  Fragen  von]  prinzipieller  Bedeutung  ansclmeidet,  kann  auf 
eine  Entgegnung  nicht  verzichtet  werden.  Auf  alle  Einzelheiten  der  Kritik  Bre- 
derekes einzugehen,  erübrigt  sich  aber.  Ich  werde  dafür  einige  Punkte  heraus- 
greifen und  sie  etwas  ausführlicher  behandeln. 

1.  B.  befindet  sich  in  vorteilhafter  Position.  Er  stellt  sich  von  vornherein  auf 
den  Standpunkt  des  Kunsterziehungstages  von  1901  und  verwirft  von  hier  aus 
ohne  weiteres  jede  Bemühung  in  der  von  mir  eingeschlagenen  Richtung.  Ich 
aber  durfte  keinerlei  vorgefaßten  Standpunkt  einnehmen,  sondern  mußte  gemäß 
den  Prinzipien  der  experimentell-pädagogischen  Maxime,  die  auf  Voraussetzungs- 
losigkeit  beruht,  feststellen,  was  ist  und  was  nicht  ist,  was  man  Kindern  zutrauen 
darf  und  was  nicht,  und  mit  welchen  Mitteln  man  an  ihr  Inneres  herankommt. 
Und  da  bin  ich  eben  zu  den  von  mir  vorgetragenen  Ansichten  und  Ergebnissen 
gelangt.  Das  Heitere  dabei  aber  ist,  daß  B.  den  Kern,  um  den  es  sich  damals 
auf  dem  Dresdener  Kunsterziehungstage  drehte,  nicht  erkannt  hat.  Sonst  hätte 
er  die  Art  und  Weise,  wie  ich  die  Bilder  an  die  Kinder  heranzubringen  versucht 
habe,  nicht  mit  den  Praktiken  in  einen  Topf  geworfen,  vor  denen  man  dort  — 
und  mit  Recht  —  so  eindringlich  gewarnt  hat.  Ausgerechnet  der  Bildhauer  Prof. 
0 brist,  dessen  beschwörende  Worte  er  ohne  weiteres  auf  mich  anwenden  zu 
dürfen  glaubt,  schreibt  mir  als  Antwort  auf  meine  Arbeit  (das  Original  dieses  und 
der  andern  Künstlerbriefe,  die  ich  erhalten  habe  und  zu  meiner  Verteidigung 
hier  anführen  muß,  haben  der  Schriftleitung  vorgelegen):  „Nach  langjähriger 
Beobachtung  (und  hier  in  München  wird  man  mit  Kunsterziehungsfragen 
geradezu  überfüttert),  kann  ich  nur  immer  wieder  darauf  hinweisen,  daß  der 
von  Ihnen  begangene  Weg  der  Kunstunterweisung  (der  einzige 
überhaupt  gangbare)  immer  nur  von  ganz  vereinzelten,  besonders  künst- 
lerisch und  pädagogisch  veranlagten  Lehrern  begangen  werden  kann.  Diese 
werden  nicht  nur  nichts  verderben,  sondern  Erfolge  erzielen; 
diese  sind  auch  unsere  Freunde."  Und  an  anderer  Stelle  seines  temperament- 
vollen Briefes,  in  dem  er  an  Beispielen  die  Misere  der  Schulmeisterei  in  Kunst- 
erziehungsdingen bespricht,  sagt  er  nochmals  ausdrücklich:  ,,Ich  hatte  von 
Ihren  Ausführungen  den  Eindruck,  daß  Experimente  von  Ihnen  persönlich 
oder  einem  Kollegen  in  sehr  sympathischer  Weise  durchgeführt  werden.  Aber 
nur  von  Ihnen  und  so  lange  Sie  die  Hand  darauf  behalten!  ...."!  (Die  ge- 
sperrt gedruckten  Worte  sind  von  ihm  unterstrichen.)  Man  verzeihe,  daß  ich 
dies  Lob  so  hierhersetze !  Aber  es  geht  schließlich  um  meine  Ehre  als  Pädagoge, 
die  ich  in  diesem  Falle  zu  verteidigen  habe. 

Also  Hermann  Obrist  rechnet  mich  nicht  zu  denen,  von  denen  er  die  ,, furcht- 
bare Gefahr"  kommen  sieht,  daß  sie  das  „Element  der  Methodik,  des  Systems, 
des  Beibringens,  des  Verekebis"  wieder  in  das  „unbeschreiblich  Heilige,  Herr- 
liche, Freudige  und  Fröhliche  der  Kunst"  einführen  werden.    Das  genügt  mir. 


Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis.  185 

Übrigens  habe  ich  auf  S.  290  meiner  Arbeit  ausdrücklich  betont,  daß  auf  .die 
Persönlichkeit  des  Lehrers  alles  ankomme.  Ich  habe  es  auch  in  anderen 
Publikationen  betont.  Und  sicher  hat  Obrist  recht,  wenn  er  an  anderer  Stelle 
seines  Briefes  meint,  daß,  „wenn  alles,  was  auf  den  Schulen  mit  Kunstunter- 
weisung zu  tun  hat,  rein  fakultativ  und  nichts  als  fakultativ  im  Nebenamte 
dem  einen  Manne  aus  dem  ganzen  Kollegium  —  wenn  überhaupt  einer  da  ist, 
der  das  mit  Wonne  macht  —  überlassen  bliebe  und  desgleichen  den  Schülern", 
daß  dann  „gar  nichts  dagegen  zu  sagen  wäre:  im  Gegenteile!" 

Und  ich  füge  hinzu:  Gott  schütze  Kunst,  Kind  und  Künstler  vor  einem 
Bildenmterricht,  der  ähnliches  im  Schilde  führen  sollte  wie  der  frühere  Litera- 
turunterricht schlimmen  Andenkens,  wo  der  trockene  Philologe  über  ein  Ge- 
dicht herfiel  wie  der  Botaniker  über  eine  Blüte  und  nun  ein  Zerlegen  anhub, 
daß  den  Schülern  Sehen  und  Hören  verging !  Ach  nein,  das  habe  ich  mit  meiner 
Arbeit  nicht  sagen  wollen.  Hat  sie  B.  so  flüchtig  gelesen,  daß  ihm  gar  nicht 
aufging,  es  mit  einem  pädagogischen  Experiment  zu  tun  zu  haben?  Hat  er 
nicht  beachtet,  daß  sie  eine  Weiterführung  zweier  wissenschaftlicher 
Arbeiten  ist,  die  den  Pimkt,  um  den  es  sich  drehte  und  den  jene  offen  gelassen 
hatten,  zum  Gegenstand  einer  Untersuchung  hatte?  Dann  lese  er  nochmals 
S.  212  die  ganz  präzise  Aufgabestellung :  „Es  muß  daher  von  größtem  Interesse 
sein"  usw.  bis  „worauf  es  bei  der  künstlerischen  Wirkung  des  Bildes  ankommt". 
Ich  mußte  deshalb  —  ebenfalls  in  Anlehnung  an  Fechners  Theorie  von  den 
direkten  und  indirekten  ästhetischen  Faktoren  —  ausdrücklich  auf  das  Formal- 
ästhetische eingehen.  Ich  habe  es  aber  nicht  im  Tone  trockener  Gelehrsamkeit 
getan,  sondern  —  so  gut  ich 's  konnte  —  in  einer  der  geistigen  Reife  der  Kinder 
angemessenen  Weise.  (Der  Ordinarius  war  zugegen.)  Nim,  und  Obrist  findet 
diese  Weise  sympathisch.  Das  beruhigt  mich.  Ob  es  andere  besser  oder  nicht 
besser  oder  schlechter  machen,  kam  für  meinen  Fall  gar  nicht  in  Frage.  Auf 
keinen  Fall  aber  scheint  mir  B.  berechtigt  zu  sein,  aus  der  Tatsache,  daß  meine 
Arbeit  veröffentlicht  worden  ist  (es  geschah  auf  den  ausdrücklichen  Wunsch 
von  Prof.  Meumann)  den  Schluß  zu  ziehen,  als  predige  ich  nun  die  allgemeine 
Ausübung  solcher  Versuche.  Hat  er  übersehen,  daß  ich  auf  S.  288  ausdrück- 
lich sage:  ,, Solche  Versuche  setzen  allerdings  einen  psychologisch  interessierten 
und  geschulten  Zeichenlehrer  voraus"?  Und  ich  setze  jetzt  hinzu:  auch  einen 
ästhetisch  interessierten  und  geschulten!  Wer  die  Ideen  eines  Vischer,  Vol- 
kelt, Lipps,  Wundt,  Külpe,  Dessoir,  Meumann  u.  ä.  Ästhetiker  nicht  kennt  und 
nicht  selbst  sich  in  experimentell-ästhetischen  Untersuchungen  versucht  hat, 
kann  mit  der  bloßen  Psychologie  wenig  oder  gar  nichts  anfangen.  —  Übrigens 
habe  ich  mich  in  meiner  Arbeit  vor  allem  an  ,, künstlerisch  hinreichend 
vorgebildete  Zeichenlehrer"  gewendet  (S.  288  unten).  Zum  künstlerischen 
rechne  ich  aber  selbstverständlich  das  Vertrautsein  mit  kunstwissenschaftlichen 
Problemen,  —  Problemen,  die  der  ausübende  Künstler  instinktiv  löst,  also 
wissenschaftlich  nicht  zu  beherrschen  braucht,  die  aber  der  Zeichenlehrer 
als  solcher  kennen  muß. 

2.  Das  bringt  mich  auf  die  abfällige  Kritik,  die  B.  meinen  Bildinterpreta- 
tionen zuteil  werden  läßt.  Er  sagt:  „Wie  wenig  klar  selbst  bei  solchen  Er- 
wachsenen, die  sich  mit  derartigen  Dingen  öfter  (!)  beschäftigen,  diese  Pro- 
bleme sind,  zeigt  uns  H.  in  seinem  eigenen  Bilderunterricht."  Und  nun  klammert 


186  Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bild  Verständnis. 

er  sich  an  die  Worte  des  Gedichtes  vom  Postillon  „und  die  Rosse  hielt  er 
an"  und  behauptet,  daß  man  aus  der  Haltung  der  Pferde  statt  des  Trabens 
ebensogut  ein  „unruhiges  Stehen"  heraussehen  könne.  Armer  Künstler! 
Hast  du  so  schlecht  gezeichnet,  daß  selbst  ein  Kunsterzieher  wie  B.  sogar  im 
Unklaren  darüber  sein  muß  ?  Ach  nein !  Der  Künstler  kann  ruhig  sein.  Ich 
habe  vielen  Versuchspersonen  nachträglich  die  Frage  vorgelegt:  ,, Stehen  die 
Pferde  unruhig  oder  traben  sie?"  Keine  einzige  sah  ein  wenn  auch  noch  so 
unruhiges  Stehen  in  ihnen.  Alle  sahen  deutlich  ein  Traben.  Ja,  sie  schienen 
belustigt  über  die  sonderbare  Frage.  Es  ist  mir  unbegreiflich,  wie  jemand  ein 
Bild  so  auffassen  kann.  Aber  lassen  wir  den  Künstler i)  selbst  sprechen.  Auch 
er  antwortet  sehr  ausführlich  und  stellt  meinem  Versuche  das  Zeugnis  aus, 
daß  er  ihn  ,, durch  feines  Kunstverständnis  erfreut  hat",  daß  er  in  den  ,, Zög- 
lingen den  Sinn  für  das  Schöne  erwecke  und  pflege",  und  daß  er  ,,eine  gelungene 
Analyse  des  Bildes"  gebe.  Über  den  fraglichen  Punkt  aber  spricht  er  sich  fol- 
gendermaßen aus:  ,, Der  Bildinhalt  muß  sich  mit  dem  Gedichtinhalte  zu  irgend- 
einem Zeitpunkte  decken.  Aber  nur  einen  Teil  des  im  Gedicht  Dargestellten 
kann  der  Maler  im  Bilde  bringen.  Im  Gedicht  ist  an  drei  Stellen  vom  ,, Halten" 
gesprochen.  Das  Gefährt  muß  also  stillegestanden  haben.  Allein  aus  künst- 
lerischen Gründen  schien  es  nicht  angebracht,  inmitten  all  der 
Ruhe  auch  noch  das  Fuhrwerk  ruhend  zu  bringen,  wo  doch  im 
Gedicht  selbst  Leben  und  Bewegung  enthalten  ist.  Das  Gedicht 
erforderte  nicht,  das  Fuhrwerk  ruhend  darzustellen,  und  die  stehenden 
Pferde  würden  die  Bildwirkung  beeinträchtigen.  Es  ist  daher  der 
folgende  Moment  dargestellt:  Der  Postillon,  der  die  Zügel  nicht  aus  der  Hand 
gelassen  hatte,  hat  sein  Stückchen  geblasen,  das  Echo  ist  verklungen,  der  Postil- 
lon hat  sein  Hörn  vom  Munde  abgesetzt,  die  Pferde  haben  schon  ange- 
zogen, und  nun  traben  sie  wieder  auf  dem  ihnen  so  wohlbekannten  Wege, 
der  etwas  Fall  hat.  Die  Bewegung  der  Räder  ist  bemerkbar,  aber  es 
mußte  undeutlich  dargestellt  werden  bei  dem  ungewissen  Mondlichte,  zumal 
sich  das  Gespann  im  Schatten  befindet,  wodurch  es  sich  von  der  mondbeschie- 
nenen Landschaft  abhebt.  Das  alles  auszudrücken,  schwebte  dem  Maler  vor. 
Daß  es  ihm  gelungen,  geht  daraus  hervor,  daß  Sie  es  herausgelesen  haben." 
—  Es  wird  noch  hinzugefügt,  daß  die  „schwierige  Wiedergabe  des  Origi- 
nals durch  das  Lichtdruckverfahren  vorzüglich  gelungen"  und  daß  die 
Reproduktion  vom  Künstler  selbst  überwacht  worden  ist. 

Ich  füge  das  hier  an,  weil  B.  in  falsch  verstandener  Warnung  vor  der  Be- 
nutzung von  Reproduktionen  nur  die  Behandlung  von  Original  werken  zulassen 
will,  was  aufs  schärfste  bekämpft  werden  muß.  Ich  werde  auf  diese  Frage  später 
zurückkommen,  denn  sie  ist  wichtiger,  als  es  auf  den  ersten  Blick  scheint. 

In  den  Zusammenhang  mit  dem  vorigen  gehört  es  aber,  wenn  ich  auch  den 
dritten  Künstler  zitiere,  der  sich  zu  meiner  Arbeit  geäußert  hat.  Es  ist  Prof. 
Robert  von  Hang.  Er  verweist  zunächst  auf  sein  größeres  Bild  „Im  Morgenrot" 
(Dresdener  Galerie),  wo  manches  deutlicher  und  stärker  zum  Ausdruck  komme 
als  auf  der  Steinzeichnung,  wobei  ihm  nur  eine  beschränkte  Anzahl  von  Steinen 
zu  Gebote  gestanden  habe,  imd  fährt  dann  fort:   „Sie  haben,  wie    ich    nach 


^)  Müller- Wachsmut. 


Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bild  Verständnis.  187 

wiederholtem  Durchlesen  Ihrer  Ausführimgen  sagen  muß,  das,  was  ich  mit 
dem  Bilde  wollte,  ganz  richtig  verstanden  und  sachgemäß  gedeutet.  Die  Haupt- 
sache ist  dem  Maler  freilich  immer  die  Raumverteilung  im  Bilde  und  die  Wahl 
der  Farben.  Was  Sie  in  dieser  Richtung  gesagt  haben,  ist  aber  auch  nicht  im- 
zutreffend.  Nur  hätte  ich  da  einiges  mehr,  einiges  weniger  betont."  ,,Daß 
es  jetzt  Mode  ist,  alles,  was  über  die  beiden  zuletzt  genannten  Punkte 
hinausgeht,  als  ,, literarisch"  und  nicht  zur  Malerei  gehörend  zu  be- 
zeichnen, werden  Sie  ja  auch  schon  gehört  haben.  Wir  müssen  uns  eben  damit 
abfinden.  Ihnen  aber  wiederhole  ich  noch  einmal,  daß  Sie  das  in  meinem 
Bilde  gesehen  haben,  was  ich  wollte.    Ich  freue  mich  darüber." 

In  diesem  Briefe  ist  mir  außer  der  Beruhigung,  daß  ich  mir  auch  bei  diesem 
Bilde  über  formalästhetische  Bildprobleme  im  ganzen  doch  klar  geworden  bin, 
besonders  das  interessant  gewesen,  daß  es  durchaus  nicht  jedem  Künstler  wider- 
strebt, seine  Bilder  nach  solchen  Gesichtspunkten  betrachtet  zu  sehen,  und  daß 
Haug  ebenfalls  das  ganz  unzutreffende  Wort  ,, literarisch"  dafür  ablehnt.  Es 
ist  dies  darum  wichtig,  weil  B.  meinen  Satz  vom  „Widerwillen  der  Künstler 
vor  ästhetischen  Erörterungen"  falsch  ausnutzt.  Was  ich  mit  diesem  Wider- 
willen habe  sagen  wollen,  ist  nämlich  nichts  anderes  als  dies:  Künstler  haben 
eine  natürliche  und  darum  gesunde  Scheu,  sich  selbst  zu  analysieren.  Sie 
fühlen,  die  Kraft  des  Triebhaft- Genialen,  das  sie  sicherer  leitet,  als  die  exakteste 
Regel  es  vermöchte,  könnte  von  ,,des  Gedankens  Blässe  angekränkelt" 
werden.  Auch  mögen  sie  nicht  Selbstverständlichkeiten  breittreten.  —  Aber 
sonst  sind  sie  dankbar  für  ein  Gespräch  über  ihre  Kunst,  wenn  sie  es  mit  einem 
ernsthaften  Menschen  zu  tun  haben.  Verdrießlich  werden  sie  erst,  wenn  sie 
hohle  Schwätzer  vor  sich  haben,  denen  allerlei  Kunstgelehrsamkeit  angeflogen 
ist  und  die  sich  dann  mit  hochgezogenen  Augenbrauen  breitbeinig  vor  ihr  Werk 
stellen  und  nun  anfangen:  1.  Komposition,  2.  Linienführung,  3.  Kontraste  usw. 
und  das  arme  Kunstwerk  skelettieren,  bis  die  weißen  Rippen  hervorsehen. 

Doch  ich  will  diesen  Punkt  verlassen  und  zu  dem  Zitieren  obiger  Künstler- 
briefe nochmals  bemerken,  daß  es  mir  höchst  peinlich  gewesen  ist,  es  tun  zu 
müssen.  Aber  es  war  sachlich  notwendig,  weil  in  diesem  Falle  das  Urteil  der  in 
Frage  kommenden  Autoritäten  doch  wohl  ausschlaggebend  ist. 

Und  aus  dieser  meiner  Verteidigungsstellung  heraus  möchte  ich  mir  eine 
Anregung  erlauben.  Wie  wäre  es,  wenn  wir  in  Deutschland  einen  pädagogischen 
Kunstausschuß  ins  Leben  riefen?  Einen  Ausschuß,  der  die  Frage  des  Scluil- 
wandschmuckes,  des  Anschauungsbildes,  der  Kunst  fürs  Volk  überhaupt  vom 
psychologisch-pädagogischen  Gesichtspunkte  aus  in  Angriff  nähme  ?  Einen  Aus- 
schuß, der  ähnlich  organisiert  würde,  wie  der  Jugendschriftenausschuß?  Er 
könnte  wirklich  Segen  stiften.  Nur  dürften  ihm  beileibe  nicht  nur  Lehrer 
angehören!  Nein,  vor  allem  auch  Künstler,  Kunstwissenschaftler,  Psychologen 
und  auch  gebildetes  Elternpublikum.  Ich  habe  nämlich  den  Eindruck,  als 
ob  sich  gegenwärtig  ein  gewisses  Epigonentum  in  Kimsterziehungsf ragen 
etabliert  habe.  Aus  dem  Obristschen  Briefe  klang  eine  tiefe  Verdrossenheit 
heraus,  Haug  schlägt  einen  ähnlichen  Ton  an,  und  es  kann  in  der  Tat  bedenklich 
stimmen,  wenn  man  sieht,  wie  einem  Teil  der  Lehrerschaft  das  Augenmaß  für 
die  richtige  Beurteilung  derjenigen  Ursachen  abhanden  gekommen  zu  sein 
scheint,  die  seinerzeit  die  ganze  Kunsterziehungsbewegung  nötig  machten.    Da- 


188  Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis. 

mals  —  vor  zwanzig  und  auch  vor  zehn  Jahren  noch  —  gab  es  etwas  zu  kämp- 
fen. Allerhand  Widerstände  mußten  niedergerungen  werden.  Das  scheint  heute 
wahrlich  nicht  mehr  nötig.  Vielmehr  sind  Sammlung,  Kleinarbeit,  Ausbau  des 
Neuen  am  Platze.  Und  als  solche  hatte  ich  auch  meine  Versuche  aufgefaßt. 
Nun  fällt  mir  B.  in  den  Arm,  weil  er  meine  ganze  Art  für  eine  Sünde  gegen  den 
heiligen  Geist  des  ersten  Kunsterziehungstages  hält.  Das  sieht  ja  beinahe  so 
aus,  als  ob  ein  neuer  Terrorismus  den  alten  ablösen  wollte,  als  ob  ein  kleiner 
Kreis  von  Lehrern  (ich  vermute,  daß  B.  im  Einverständnis  mit  einem 
engeren  Kreise  gegen  mich  aufgetreten  ist)  sich  in  die  Rolle  einer  Art  Jury, 
einer  f Art  künstlerischen  Klerus  hineingewöhnt  hätte,  der  seine  eigenen 
Ansichten  mit  dem  Ansprüche  apodiktischer  Gültigkeit  verkünden  zu  dürfen 
glaubt.  Denn  anders  kann  man  seine  Mahnungen  ,,man  lasse",  ,,man  soll"  usw. 
nicht  auffassen. 

Und  weil  ich  mit  Obrist  der  Meinung  bin,  daß  nicht  jeder  aus  dem  bloßen 
Grunde,  weil  er  Lehrer  ist,  nmi  auch  Kunsterzieher  sein  dürfe;  weil  ich  ferner 
der  Meinung  bin,  daß  wir  Lehrer  allein  in  den  Fragen  des  Schulwandschmuckes 
usw.  gar  nicht  kompetent  sind,  sondern  dringend  des  wissenschaftlichen  und 
künstlerischen  Beirats  bedürfen:  darum  halte  ich  eine  Organisation  wie  die 
obige  für  notwendig.  Aber  auch  diese  dürfte  sich  das  Mandat  eines  Klerus  nicht 
anmaßen,  sondern  etwa  die  Tendenz,  die  der  vorzüglich  funktionierende  Bund 
für  Schulreform  befolgt,  sich  zu  eigen  machen.  Er  könnte  vielleicht  eine  Sektion 
desselben  bilden. 

3.  Ich  komme  nun  zu  den  psychologisch-pädagogischen  Kernfragen, 

B.  gibt  zu,  daß  der  Zeichenunterricht  am  besten  geeignet  ist,  Bildverständnis 
zu  erwecken,  nur,  daß  er  dem  hinführenden  Unterricht  den  Vorzug  gibt. 
Nun,  dieser  Gedanke  ist  keineswegs  neu.  Im  regulären  Zeichenunterricht  be- 
folgen wir  ihn  sozusagen  stündlich.  Wir  stellen  das  Kind  vor  eine  Aufgabe, 
lassen  es  diese  auf  seine  Weise  bewältigen  und  zeigen  ihm  dann  an  guten  Meister- 
bildern, wie  ein  Künstler  sie  gelöst  hat.  Ich  mußte  aber  den  umgekehrten  Weg 
gehen,  und  ich  behaupte,  daß  ich  mich  in  der  von  mir  geschilderten  Weise  durchaus 
an  die  produktiven  Vorstellungskräfte  der  Kinder  gewendet  habe.  Ich  hatte 
mir  als  Hauptproblem  die  Verständlichmachung  der  Bewältigung  einer  bild- 
mäßigen Beleuchtung  gestellt  und  leitete  die  Kinder  so  an,  daß  vor  ihrem 
inneren  Blick  die  Gestalten,  Farben  und  Schatten  der  alles  verschleiernden 
Nacht  lebendig  wurden.  B.  führt  Lichtwarck  an.  Nim,  ich  kenne  dessen  Schriften 
genau.  Lichtwarck  spricht  davon,  daß  er  die  Kinder  ,,mit  dem  Auge  arbeiten" 
läßt.  (,, Übungen  in  der  Betrachtung  von  Kunstwerken.")  Was  ist  das  anderes, 
als  an  ihre  apperzeptiven  Kräfte  appellieren  ?  Das  nennt  B.  aber  aufpfropfen. 
Ach  nein,  das  ist  kein  Aufpfropfen,  was  ich  in  meinen  Versuchen  schildere,  dies 
Suchen-,  Entdecken-  und  Findenlassen,  das  ist  Arbeit  von  innen  heraus,  genau 
so  intensiv,  als  wenn  man  den  umgekehrten  Weg  geht.  Darin  besteht  ja  über- 
haupt ein  großer  Teil  dessen,  was  wir  Lehrkunst  nennen. 

Es  sind  zwei  total  verschiedene  Dinge,  jemanden  durch  eigene  Tätigkeit 
zum  Nachempfinden  dessen  hinzuleiten,  was  ein  Künstler  gemacht  hat,  oder 
ihm  etwas  Unverstandenes  aufzupfropfen;  das  letztere  ist  ein  autoritatives  Mit- 
teilen von  etwas,  das  nicht  geistiges  Eigentum  geworden  ist.  Das  erstere  ist 
der  Weg,  der  allein  zum  erschöpfenden  Verständnis  des  Kunstwerks  führen 


Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis.  189 


kann,  und  zwar  ein  Weg,  den  der  Erwachsene  ebenso  beschreiten  muß  wie  das 
Kind,  wenn  er  ein  Kunstwerk  n^ch  allen  Seiten  seiner  künstlerischen  Werte 
auffassen  und  genießen  will.  Es  ist  der  Weg,  der  dem  Dilettantismus  im  Sinne 
Lichtwarcks  seine  eigentümliche  Bedeutung  verleiht,  und  ich  habe  ihn  beschritten, 
indem  ich  die  Kinder  suchen,  finden  und  nachschaffend  darstellen  lasse,  was 
der  Künstler  vor  ihre  Sinne  gestellt  hat.  Ich  glaube,  daß  er  geeignet  ist,  ein 
Bild,  so  weit  überhaupt  möglich,  zu  ihrem  geistigen  Eigentum  zu  machen. 

Wer  das  ,,  Auf  pfropfen"  nennt,  ist  außerstande,  zwei  prinzipiell  verschiedene 
Dinge  auseinander  zu  halten.  —  Nun  meint  B.  weiter,  daß  man  mit  solchen 
Besprechungen  sparsam  sein  müsse,  ein-  oder  zweimal  genüge  vollkommen. 
Aber  wo  in  aller  Welt  sage  ich,  daß  ich  sie  öfter  will?  Daß  ich  einen  systema- 
tischen Bilderunterricht  will?  Sorgt  nicht  das  Zeichnen  mit  seinen  Ausdrucks- 
raitteln  (Techniken)  von  selbst  für  Gelegenheiten  genug,  das  Kind  vor  solche 
Aufgaben  zu  stellen,  so  daß  langatmige  Besprechungen  überflüssig  werden?  — 
Ein  anderes  ist  es  freilich,  wenn  man  eine  experimentell-pädagogische  Unter- 
suchung anstellt.  Dann  muß  die  Besprechung  eben  so  gründlich  sein,  wie  die 
Punkte,  die  es  zu  klären  gibt,  es  nötig  erscheinen  lassen.  In  dieser  Lage  befand 
ich  mich  aber. 

4.  Was  B.  besonders  verdrießt,  ist  die  von  mir  wiederholte  Behauptung^),  daß 
das  unbeeinflußte  künstlerische  Bildurteil  der  Kinder  auf  einer  sehr  tiefen 
Stufe  stehen  soll.  —  B.  ist  völlig  entgangen,  daß  ich,  wie  alle  unten  genannten 
Versuchsvorgänger,  einen  Unterschied  mache  zwischen  Gefühl  und  Urteil. 
Denn  daß  Kinder  Freude  an  Bildern  haben,  also  mit  ihrem  Gefühlsleben  stark 
dabei  beteiligt  sind,  bestreitet  niemand  von  uns.  Aber  es  fragt  sich,  woran  die 
Freude  des  Kindes  —  psychologisch  gesprochen:  der  Lustaffekt  —  anknüpft. 
Danach  gibt  es  aber  einen  sehr  verschiedenen  Inhalt  und  verschiedene 
Entwicklungsstufen  auch  innerhalb  der  bloßen  Freude  am  Kunstwerk.  Auf 
diese  feine,  aber  eminent  wichtige  Unterscheidung  zuerst  hingewiesen  zu  haben, 
ist  das  Verdienst  Meumanns.  Und  nur  von  dieser  Fragestellung  aus  kann  Klar- 
heit kommen  über  das  gesamte  Kapitel  ,,Kind  und  Kunst".  —  Wir  behaupten 
also:  trotz  der  großen  Freude  am  Bilde  im  allgemeinen  steht  das  kindliche  Ur- 
teil über  dasjenige,  was  es  auf  dem  Bilde  alles  sieht,  was  das  Bild  erzählen  will, 
sehr  tief.  Und  es  steht  selbst  dann  noch  sehr  tief,  wenn  das  Kind  vollkommen 
zwanglos,  in  unbefangenster  Plauderstimmung  über  das  Bild  plaudern  darf, 
was  ihm  in  den  Kopf  kommt,  also  wenn  man  sein  Urteil  ,, erlauscht",  wie  B. 
wünscht.  Siehe  Schmidt,  der  seine  Versuche  daraufhin  angelegt  hat,  daß 
jedes    Kind    auf    ganz    vertrauliche   Mitteilsamkeit'   eingestellt    war.      Nichts 

anderes  meint  auch  Lichtwarck,  wenn  er  sagt:  ,, das  Kind  hat  reichlich 

zu  tun  mit  der  Beobachtung  und  Aneignung  des  sachlichen  Inhalts,  dessen  Be- 
wältigung die  Voraussetzung  des  künstlerischen  Genusses  bildet."  Und  an 
anderer  Stelle  fordert  Lichtwarck  direkt,  daß  der  Punkt,  den  B.  einfach  als 
Tatsache  bezeichnet,  nämlich  ob  das  Kind  künstlerisch  genußfähig  sei,  noch 
ungeklärt  sei  und  untersucht  werden  müsse.  (Lichtwarck,  ,, Übungen  in  der 
Betrachtung  von  Kunstwerken",  8.  Auflage,  S.  21.)  Nun,  diese  Untersuchungen 

*)  Siehe  die  Untersuchungen  von  Schmidt  (Würzburg),  Müller  (Bielefeld),  Dohning 
(Leipzig),  Albien  (Königsberg),  Meiunann  (Leipzig). 


190  Zu  den  experimentellen  Untersuchvingen  über  Bild  Verständnis. 

sind  im  Gange  und  scheinen  zu  ergeben,  —  und  das  ist  der  Kernpunkt  unserer 
Gegnerschaft  zu  B.  und  seinem  Anhang  —  daß  der  künstlerische  Genuß  beim 
unbeeinflußten  Durchschnittskinde  nicht  vorhanden  ist  und  nicht  vorhanden 
sein  kann,  ja  daß  er  bei  manchem  —  selbst  gebildeten  —  Erwachsenen  noch 
nicht  vorhanden  ist,  und  schwerlich  auftreten  wird,  wenn  die  individuellen 
Voraussetzungen  überhaupt  nicht  oder  noch  nicht  gegeben  sind  (siehe  Müllers 
Untersuchungen).  Zu  diesen  Voraussetzungen  gehören  vor  allem  die  angeborene 
Anlage  zur  künstlerischen  Empfänglichkeit  und  anerzogenes  oder  sonstwie 
erworbenes  Interesse.  Jene  kennzeichnet  beispielsweise  den  Kunstfreund  und 
Dilettanten,  dieses  beispielsweise  den  irgendwie  beruflich  oder  technisch  mit 
Kunsterzeugnissen  beschäftigten  Gewerbetreibenden.  Keine  der  vorhandenen 
Voraussetzungen  kann  aber  der  Entwicklung  und  Förderung  entraten;  sonst 
verkümmern  sie.  Vor  allem  muß  Gelegenheit  zur  spontanen  Betätigung  ge- 
boten werden.  Damit  soll  aber  schon  die  Schule  beginnen,  indem  sie  die  gegebenen 
Möglichkeiten  ausnutzt.  Zu  diesen  Möglichkeiten  gehören  Besprechung  (durch 
geeignete  Personen)  und  Zeichnen. 

5.  B.  wird  natürlich  obige  Behauptungen  über  die  künstlerische  Genußfähig- 
keit des  Durchschnittsmenschen  ganz  energisch  weiter  bekämpfen.  Dann  möchte 
ich  ihm  aber  den  Eat  geben,  es  nicht  so  unpsychologisch  zu  tun,  wie  er  es  in 
seinen  ,, Bemerkungen"  tut.  B.  scheint  eine  seltsame  und  —  er  verzeihe  — 
laienhaft-psychologische  Ansicht  vom  Wesen  des  Künstlerischen  und  des 
Kunsturteils  überhaupt  zu  haben.  Er  spricht  oft  vom  Gefühlsmäßigen,  vom 
Gefühlston  usw.  Von  dem  bloßen  Vorhandensein  dieses  Gefühlsmäßigen  scheinen 
ihm  sowohl  Kunsturteil  wie  Kunstgenuß  abhängig  zu  sein.  Ja,  er  bringt  es 
fertig,  das  Interesse  am  Formalästhetischen  mit  dem  Interesse  am  Inhalt  in 
einen  Topf  zu  werfen  und  beides  stofflich  zu  nennen,  und  an  anderer  Stelle 
sagt  er,  es  sei  etwas,  das  dem  Kunstwerk  nur  äußerlich  anhafte  (sie!).  So  ein- 
fach ist  die  Sache  nun  doch  nicht,  und  seine  ganze  Auffassungsweise  zeigt, 
daß  er  zum  Kern  des  Problems  noch  gar  nicht  vorgedrungen  ist. 

Für  den  Tieferdringenden  fragt  es  sich  (wie  unter  4  schon  angedeutet  wurde), 
woran  das  Gefühl  anknüpft,  —  an  den  Stoff  (den  literarischen  Inhalt, 
wie  B.  sonderbarerweise  sagt)  oder  daran,  wie  der  Künstler  ihn  gemeistert  hat. 
Bei  diesem  Anknüpfen  sind  vier  Möglichkeiten  zu  unterscheiden.^)  Erstens: 
das  Gefühl  kann  anknüpfen  an  das  dargestellte  Objekt  als  solches  (Gegen- 
stand, Begebenheit,  Situation  usw.),  wobei  dieses  eben  rein  als  solches  gefällt 
und  sozusagen  vom  Kunstwerk  losgelöst  wird.  Beweis  dafür  ist,  daß  der 
Gedanke  an  den  Künstler  und  das  Bild  als  Kunstwerk  noch  ganz  fehlt.  Nebenbei 
sei  bemerkt,  daß  auch  für  das  Kind  ein  nur  minimales  sprachliches  Ausdrucks- 
vermögen erforderlich  sein  würde,  wenn  es  bekunden  möchte,  daß  es  an  den 
Künstler  gedacht  hat.  Etwa  so:  ,,Der  das  Bild  gemacht  hat,  kann  aber  fein 
malen."  B.  kann  sich  also  nicht  dahinter  verschanzen,  daß  die  Kinder  viel- 
leicht doch  an  das  Kunstwerk  als  solches  dächten,  dies  aber  nicht  auszudrücken 
vermöchten.  Zweitens:  Es  kann  anknüpfen  an  den  Inhalt  des  Kunstwerks, 
wobei  aber  der  Gedanke  an  den  Künstler  und  die  Kunst,  die  im  Bilde  steckt, 
gleichsam  im  Hintergründe  steht.    Das  ist  die  Stufe,  zu  der  sich  Kinder  nach 


^)  Nach  Meumann. 


Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis.  191 

Anleitung  durch  geeignete  Erwachsene  erheben  und  über  die  die  meisten  un- 
gebildeten Erwachsenen  nicht  hinauskommen.  Drittens:  Das  Gefühl  kann 
an  die  wirklich  künstlerischen  Elemente  des  Kunstwerks  anknüpfen  (eben  die 
formal-ästhetischen).  Das  ist  immer  erst  ein  Ergebnis  einer  wirklich  künstle- 
rischen Veranlagung  (die  wenige  besitzen)  oder  ein  Ergebnis  teils  der  analy- 
sierenden Betrachtimgsweise  von  Kunstwerken,  —  sie  ist  z.  B.  dem  sogenannten 
Kunstkenner  eigen,  —  teils  der  subjektiven  Beschäftigung  mit  der  Kunst  bzw. 
ihrer  technischen  Seite  (Künstler,  Dilettanten,  Kunsthandwerker  usw.).  Vier- 
tens: das  Gefühl  kehrt  gleichsam  zum  Inhalt  wieder  zurück,  nachdem  das  Ge- 
fallen die  formalen  Elemente  in  sich  aufgenommen  hat,  und  genießt  nun  den 
Inhalt  (Gehalt)  im  Lichte  imd  in  dem  Sinne  der  formalen  Durcharbeitung,  mit 
der  ihn  der  Künstler  gestaltet  hat.  Dies  ist  zugleich  die  höchste,  ge- 
diegenste Art  der  Kunstbetrachtung  und  des  Kunstgenusses. 

Wie  bedenklich  es  ist,  sich  mit  der  bloß  gefühlsmäßigen  Wirkung  eines  Kunst- 
werks an  sich  zu  begnügen,  einerlei,  wovon  sie  ausgeht,  zeigen  ja  das  Kino- 
Schauerdrama  und  der  gesamte  literarische  Schund.  Wahrlich,  sie  wirken  gar 
zu  oft  ,,tief  imd  nachhaltig".  Und  angesichts  der  ganzen  Jugendschriften-  und 
Kinoreformbewegung,  die  doch  im  Grunde  auch  nur  auf  die  Stoff-  und  Form- 
frage hinausläuft,  ist  es  ganz  imbegreiflich,  wie  B.  (der  in  Hamburg  trotz  seiner 
Jugend  eine  Führerstellung  in  Kunsterziehungsfragen  einzunehmen  scheint) 
bisher  blind  geblieben  ist  gegen  die  Notwendigkeit,  zwischen  dem  Was  und  Wie 
in  Kunstdingen  zu  scheiden. 

Nein,  wir  kommen  nicht  herum  um  diese  Frage;  wir  müssen  —  theoretisch 
und  praktisch  —  Scheidungen  vornehmen,  um  das  zu  finden,  was  am  Kunst- 
werk ,, Kunst"  ist.  Der  Gefühlston  sagt  lediglich,  daß  und  wie  stark  ein  Werk, 
aber  nicht,  was  an  ihm  gewirkt  hat.  Das  aber  muß  beantwortet  werden  können, 
wenn  man  überhaupt  etwas  entscheiden  will. 

Wir  müssen  also  fragen:  Erstens:  wann  ist  ein  Bild  ein  Kunstwerk,  bzw. 
woran  erkennen  oder  fühlen  wir  es?  Zweitens:  Woran  erkennen  wir  es,  ob 
und  wann  ein  Kind  das  Künstlerische  im  Bilde  herausfühlt,  oder  wie  vorhin 
ausgedrückt,  woran  das  Gefühl  des  Kindes  angeknüpft  hat?  (Denn  wenn  es 
nicht  an  das  Künstlerische  angeknüpft  hat,  dann  kann  auch  der  Genuß  kein 
künstlerischer  gewesen  sein.) 

Es  ist  nötig,  einen  Augenblick  bei  diesen  beiden  Fragen  zu  verweilen.  Frage  1. 
Sie  ist  gewiß  nicht  leicht,  ja  in  gewisser  Hinsicht  überhaupt  nicht  zu  be- 
antworten. Ebenso  wenig  wie  die  Frage :  Was  ist  Bildung,  Wahrheit  usw.  ?  Alles 
tirf^ innige  Fragen.  Der  Tor  beantwortet  sie  oft  unbedenklich,  der  Weise 
schweigt.  —  Aber  in  normativer  Fassung  und  in  ihrem  tiefsten  Sinn  soll  hier 
die  erste  Frage  gar  nicht  beantwortet  bzw.  aufgerollt  werden.  Sondern  gemeint 
ist  folgendes:  Wenn  in  einem  Bilde  Kunst  steckt,  dann  muß  es  sich  an  irgend 
etwas  Greifbarem,  Aufzeigbarem,  in  Worten-verständlich-zu-machendem  doku- 
mentieren. Wir  sind  uns  doch  meist  sofort  darüber  klar,  was  offenbarer  Schund 
oder  sogenannter  konventioneller  Kitsch  und  dergleichen  ist.  Wir  können  es 
auch  sofort  mit  Worten  klar  machen,  warum  es  das  ist.  So  pflegt  auch  das  wirk- 
liche Kunstwerk  für  den  Sachverständigen  schon  den  Adel  des  Künst- 
lerischen sozusagen  an  der  Stirn  zu  tragen.  Und  so  arm  ist  die  Sprache 
keineswegs,  daß  es  sich  nicht  verdeutlichen  ließe.  — Was  soll  das  ewige,  süßliche 


192  Zu  den    experimentellen  Untersuchungen  über  Bild  Verständnis, 

Gerede  vom  Gefühlsmäßigen  und  Unaussprechlichen  des  „inneren  Erlebnisses" 
und  „Nacherlebens"  und  wie  die  schönen  Worte  alle  heißen!  —  Wer  will  denn 
das  Letzte,  Seligste,  Restlose  aus  den  Kindern  heraushaspeln?  Wer  verlangt, 
daß  überhaupt  Gefühle  beschrieben  werden  sollen?  Nein,  was  wir  zu  erfahren 
wünschen,  ist  im  Grunde  ziemlich  einfach ;  es  ist  nichts  weiter,  als  ein  Reagieren 
auf  ganz  bestimmte  Dinge,  die  man  vorher  verständlich  macht,  so  daß  das  Kind 
merkt,  was  man  von  ihm  will.  Und  das  sind  die  Bildmomente,  die  z.  B.  Müller 
unter  Anlehnung  an  Fechners  ästhetische  Theorie  von  den  direkten  und  in- 
direkten Faktoren  mit  den  Kindern  besprochen  hat  und  die  auch  ich  zum  Teil 
verwendet  habe. 

In  diesen  Momenten  ist  nun  tatsächlich  das  inbegriffen,  was  am  Kunstwerk 
„Kunst"  ist.  Daß  B.  es  bestreitet  und  es  sogar  als  etwas  äußerlich  Anhaften- 
des auffaßt,  ändert  daran  nichts.  (Siehe  die  Künstlerbriefe.)  Jeder,  der  sich 
mit  Kunstkennern  oder  Künstlern  über  ein  Bild  unterhalten  hat,  wird  bestätigen, 
daß,  sobald  die  Rede  auf  das  Schöne,  auf  die  Feinheiten,  das  Packende,  kurz,  auf 
das  spezifisch  Künstlerische  kam,  es  sich  immer  um  etwas  drehte,  was  in  obigen 
Faktoren  angedeutet  ist.  Also  es  wird  doch  wohl  so  sein :  Was  an  einem  Kunst- 
werk ,, Kunst"  ist,  oder,  wie  ich  in  meiner  Arbeit  sagte,  die  ,, Kunst  als  solche" 
dokumentiert  sich  tatsächlich  in  diesen  Faktoren. 

Nun  zur  zweiten  Frage:  Woran  knüpft  das  Gefühl  des  Kindes  an?  —  B. 
gibt  zu,  daß  es  außerästhetisch  interessiert  ist.  Was  gibt  es  aber  dann  noch  außer 
dem  Stofflichen  ?  Ich  könnte  mir  also  alle  weitere  Beweisführung  sparen.  Aber 
B.  führt  ein  Beispiel  an,  aus  dem  ersichtlich  ist,  was  er  meint,  wenn  er  behauptet, 
daß  hinter  dem  kindlichen  Bildurteil  trotzdem  noch  genug  künstlerisches  Wohl- 
gefallen schlummere.  Er  spricht  von  den  spontanen  Kinderausrufen:  ,,all  die 
roten  Schuhe",  „wie  weit",  ,,wie  schön  gelb".  Diese  müßten  doch,  so  meint  er, 
als  Affekte  künstlerischen  Empfindens  angesprochen  werden.  —  Sind  sie  es 
wirklich  ?  Ich  sage  nein.  Denn  man  muß  auch  hier  eine  scharfe  psychologische 
Unterscheidung  machen,  und  ich  glaube,  daß  gerade  diese  den  wundesten  Punkt 
der  B.schen  Auffassung  vom  kindlichen  Kunstempfinden  berührt.  Gemeint  ist 
dies:  das  Kind  freut  sich  über  die  schönen  roten  Schuhe,  das  weite  gelbe  Korn- 
feld. Das  ist  gewiß  an  sich  ein  ästhetischer  Affekt.  Aber  ist  es  auch  ein  Affekt, 
der  mit  der  Kunst  des  Bildes  etwas  zu  tun  hat?  Nein.  Denn  solche  Urteile 
zeigen  gerade  deutlich,  daß  das  Kind  die  Schuhe  und  das  Kornfeld  losgelöst 
vom  Kunstwerk  betrachtet.  Es  hat  Gefallen  am  roten,  gelben  Objekt,  das 
es  zum  Kunstwerk  apperzipiert,  aber  nicht  an  der  Farben  wähl  des  Künstlers. 
Es  sieht  sozusagen  wirkliche  Schuhe  auf  dem  Bilde,  die  wirklichen  Objekte 
würden  ihm  genau  so  gut  oder  noch  besser  gefallen.  Alle  Attribute,  die  Kinder 
Bildern  beilegen:  entzückend,  süß,  niedlich,  häßlich,  böse,  öde  usw.  gelten,  wie 
zahlreiche  Untersuchungen  deutlich  ergeben  haben,  nicht  dem  Bilde  als  s  olchem , 
sondern  den  dargestellten  Objekten  als  solchen.  Ja,  sie  lehnen  Bilder  direkt 
ab,  die,  obwohl  von  ausgesprochenem  Kunstwert,  Personen,  Tiere  oder  Vor- 
gänge enthalten,  die  ihr  Mißfallen  erregen.  Sie  stecken  also  so  tief  im  Stoff- 
lichen, sie  sind  noch  so  unfähig,  ein  Bild  anders  als  stofflich  auf  sich  wirken  zu 
lassen,  daß  man  von  künstlerischem  Empfinden  nicht  sprechen  darf.  Ihre  ganze 
Anlage,  ästhetisch  zu  empfinden,  steht,  wie  in  allen  Gefühlsdingen,  auf  durch- 
aus kindlicher  Stufe.    Es  sind  im  besten  Falle  die  sogenannten  ästhetischen 


Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis.  193 

Elementargefühle,  die  ein  Bild  bei  ihnen  auslöst.  Dahin  gehört  vor 
allem  die  Farbe.  — Erst  allmählich,  etwa  um  die  Pubertätszeit  herum,  werden 
solche  ästhetischen  Elementargefiihle  von  ästhetischem  Wohlgefallen  höherer 
Ordnimg  abgelöst.  Alle  Bemühungen,  es  früher  zu  wecken,  sind  frucht- 
los. Das  Kind  fällt  immer  wieder  in  seine  alte  Betrachtungsweise  zurück.  Und 
das  ist  gut  so,  weil  es  natürlich  ist.  Man  lasse  doch  das  Kind  Kind  sein,  solange 
die  Natur  es  in  diesem  Zustande  beläßt!  Und  wenn  das  Schlagwort  vom  Kinde 
als  Künstler  überhaupt  einen  Sinn  haben  soll,  so  kann  es  nur  den  haben,  daß 
es  auch  als  Künstler  Realist  ist.  Sachen  und  nochmals  Sachen,  d.h.  Leben 
mid  Handlung  interessieren  das  Kind.    Die  Kunst  ist  ihm  Hekuba. 

Nun  könnte  man  sagen:  ,,Aber  schließlich  ist  es  doch  gleichgültig,  ob  das 
Kind  künstlerisch  empfindet  (in  unserm  Sinne)  oder  nicht.  Hauptsache  ist,  daß 
es  überhaupt  lebhaft  reagiert."  Gewiß,  im  Hinblick  auf  den  pädagogischen 
Zweck  ist  das  vollkommen  gleichgültig.  Aber  wenn  wir  die  Frage  entscheiden 
wollen,  ob  im  Kinde  wirklich  das  Künstlerische  steckt,  das  ihm  gewisse  Ver- 
treter der  Kunsterziehungsbewegung  so  gern  imputieren,  so  ist  das  die  wichtigste 
Frage.  Und  soweit  ich  den  Stand  der  psychologischen  Forschung  überschaue, 
spricht  alles  dagegen,  aber  auch  alles.  Ich  erinnere  nur  an  das  klassische  Experi- 
ment von  Müller  (das  B.  nicht  zu  kennen  scheint) :  Warum  wird  das  künstlerisch 
schlimme  Bild  (konventioneller  Kitsch)  des  Kaisers  Friedrich  dem  prachtvollen 
Rembrandt  ,,Mann  mit  dem  Helm"  vorgezogen  ?  Weil  ersterer  ein  schöner  Mann 
ist;  der  andere  ist  ihnen  zu  häßlich.  Am  Stoff,  am  Objekt  hängen  sie;  nur  er 
wirkt;  das  Bild  als  Kunstwerk  ist  nicht  für  sie  da.^) 

6.  Welchen  Sinn  soll  es  aber  haben,  edle  Bildkunst  noch  vor  das  Kind  hinzu- 
stellen, wenn  es  so  hoffnungslos  um  das  kindliche  Kunstverständnis  bestellt  ist? 

Die  Antwort  kann  nur  lauten:  Nicht  trotzdem,  sondern  gerade  deshalb  soll 
«'S  geschehen.  Und  zwar  aus  psychologisch-pädagogischen  Gründen.  Denn 
wenn  es  auch  eine  ganz  natürliche  Entwicklungserscheinung  ist,  daß  das  Kind 
vor  dem  Pubertätsalter  nicht  auf  das  künstlerische  Moment  reagieren  kann, 
so  besteht  doch  wiederum  die  andere  psychische  Tatsache  der  Gewöhnung, 
die  wir  überall  da  in  Anspruch  nehmen,  wo  das  Kind  noch  nicht  zu  begreifen 
imstande  ist,  warum  wir  dies  und  jenes  tun.  So  muten  wir  ihm  zu  zu  gehorchen, 
auch  wo  es  die  Notwendigkeit  des  Gebots  oder  Verbots  noch  nicht  begreift, 
und  so  werden  wir  auch  auf  die  günstige  Wirkung  guter  Bilder  rechnen  dürfen, 
die  wir  ihm  darbieten.  Diese  günstige  Wirkung  besteht  aber  darin,  daß  sich  die 
kindliche  Psyche  mit  guten  Eindrücken  sozusagen  vollsaugt,  daß  also  der  Schund 
dagegen  nicht  aufkommen  kann  und  daß  ihm,  so  vertrauen  wir,  der  Geschmack 
am  Miserabeln  gründlich  verdorben  wird.  —  Von  einem  Beibringen  des  Künst- 
lerischen durch  verfrühtes  Eingehen  auf  die  spezifischen  Momente  desselben 
wird  kein  vernünftiger  Mensch  etwas  wissen  wollen.  Ebensowenig  aber  darf 
man  sich  auf  die  stille  Wirkung  verlassen.  In  der  Volksschule  wird  man  gut 
tun,  vor  dem  dreizehnten  Lebensjahre  nur  den  Bildinhalt  zu  behandeln.  Im 
letzten  Schuljahre  möge  eine  geeignete  Lehrkraft  —  wenn  eine  da  ist  —  ver- 
liehen, auch  das  Kunstmoment  an  die  Kinder  heranzubringen.  Leider  ver- 
lassen uns  die  Kinder,  wenn  eben  die  Seele  des  Erwachsenen  in  ihnen  erwacht. 


h;  meisten  niclit  künstlerisch  gebildeten    Ilrwuchsenen  urteilten  so. 
i>ädagog.  P»iychulogie.  13 


194  Zu  den  experimentellen  Untersuchungen  über  Bildverständnis. 

Sonst  sollte  es  noch  hinausgeschoben  werden.  Die  höhere  Schule  braucht  aber 
in  keinem  Falle  darauf  zu  verzichten,  —  vorausgesetzt,  daß  auch  hier  ,, einer 
da  ist,  der  es  kann  und  mit  Wonne  macht",  wie  Obrist  sagt. 

Man  sieht  also,  wir  sind  mit  B.  im  Pädagogischen  völlig  einig.  Die  psycho- 
logischen Überzeugungen  nur  sind  andere.  Für  die  meinigen  darf  ich  aber  in  An- 
spruch nehmen,  daß  sie  mit  den  Ergebnissen  der  exakten  psychologischen  For- 
schung im  Einklänge  stehen,  und  ich  hoffe  die  Zeit  kommen  zu  sehen,  wo  die 
jetzt  noch  so  überaus  verschwommene  Vorstellung  ,,vom  Kinde  als  Künstler" 
einer  Auffassung  Platz  macht,  die  den  Sinn  dieses  Schlagwortes  auf  seine  wahre 
Bedeutung  einschränkt.  Denn  allmählich  dämmert  doch  wohl  in  der  Mehrzahl 
der  Lehrer  die  Erkenntnis  auf,  daß  mit  diesem  Schlagwort  im  allgemeinen  ein 
greulicher  Mißbrauch  getrieben  worden  ist,  und  zwar  in  dem  Sinne,  als  ob  in 
jedem  Kinde  ein  Stück  von  jenem  Künstlertume  schlummere,  das  wir  sonst  nur 
in  wenigen  Auserwählten  zu  erblicken  gewohnt  sind  und  das  durch  die  heutige 
böse  Schule  unterdrückt  werde  und  verloren  gehe. 

Aber  ich  möchte  nicht  mißverstanden  werden.  Ich  bin  der  letzte,  der  etwas 
gegen  diejenigen  Kunsterziehungsbestrebungen  sagen  möchte,  die  ihre  intellek- 
tuellen Urheber  verfochten  haben.  Diese  waren  so  nötig,  wie  irgendetwas 
nur  sein  kann.  Es  stand  zu  traurig  um  den  Zeichenunterricht,  um 
die  Behandlung  der  Dichtwerke,  um  die  Pflege  der  Kunst  in  jeglicher 
Gestalt.  Aber  das  ist  jetzt  anders,  der  Wille  zum  Bessern  ist  jedenfalls 
überall  vorhanden.  —  Wogegen  Front  gemacht  werden  muß,  ist  lediglich 
das  Epigonentum. 

7.  Wenn  ich  es  mir  versagen  muß,  hiermit  zu  schließen,  so  geschieht 
es,  weil  noch  ein  Wort  zu  der  von  B.  geforderten  Benutzung  von  Ori- 
ginalen gesagt  werden  muß  und  weil  noch  ein  bemerkenswerter  psycho- 
logischer Irrtum  B.s  nicht  unbesprochen  bleiben  darf.  —  Ich  nehme 
letzteren  vorweg. 

B.  sucht  die  Tatsache  zu  entschuldigen,  daß  meine  Selektanerinnen  das  Wand- 
schmuckbild vom  Postillon  monatelang  gänzlich  ignoriert  hätten.  Er  sagt,  dies 
habe  nichts  zu  tun  mit  mangelnder  Kunstempfänglichkeit,  sondern  diese  Tat- 
sache falle  ins  Gebiet  der  Aufmerksamkeit.  —  Was  soll  man  dazu  sagen!  Man 
sollte  es  nicht  für  möglich  halten,  daß  einem  Lehrer  die  Psychologie  der  Auf- 
merksamkeit so  fremd  geblieben  sein  könnte.  Denn  nur  so  ist  es  zu  erklären, 
daß  B.  den  Mädchen  Kunstempfänglichkeit  zuschreibt  und  sie  trotzdem  das 
Bild  ,, übersehen"  läßt,  weil  sie  ,,im  Unterricht  nicht  hinsehen  dürfen  und  weil 
sie  in  den  Pausen  andere  Dinge  im  Kopfe  haben".  Ich  erlaube  mir  darauf  hinzu- 
weisen, daß  es  nicht  nur  eine  passive,  sondern  auch  eine  aktive  Aufmerksamkeit 
gibt,  eine  Aufmerksamkeit,  der  vor  allem  das  nicht  entgehen  kann, 
wofür  besondere  Empfänglichkeit  vorhanden  ist.  Empfänglichkeit 
und  aktive  Aufmerksamkeit  in  diesem  Falle  voneinander  zu  trennen,  geht  doch 
wohl  nicht  an.  Bei  solchen  Ansichten  ist  eine  psychologische  Verständigung 
unmöglich.  Ganz  abgesehen  davon,  daß  auch  schon  die  passive  Aufmerksam- 
keit ein  monatelanges  Übersehen  schlechterdings  nicht  zuläßt.  —  Aber  man 
sieht,  das  Postulat  der  künstlerischen  Empfänglichkeit  des  Kindes  wird  mit 
den  unmöglichsten  Argumenten  gestützt.  Die  Aufmerksamkeit  muß  herhalten, 
wo  die  mangelnde  Empfänglichkeit  schuld  ist. 


Der  Jugendsport  vom   Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie.      195 

Und  nun  zu  der  Benutzung  von  Originalen.  B.  wird  sich  hier  auf  Lichtwarck 
berufen.  Dieser  fordert  in  den  „Übiingen"  „aiisschließliches  Ausgehen  von  Original- 
werken". Wenn  man  aber  Seite  29  bis  34  seines  Buches  aufmerksam  liest,  merkt 
man  bald,  daß  er  lediglich  Hamburger  Kinder,  und  zwar  besonders  die  der  höheren 
Stände  im  Auge  hat,  ferner,  daß  er  von  Photographien  und  Gipsabgüssen  „in 
ihrer  Massenhaftigkeit  und  Unzulänglichkeit"  spricht,  die  zur  ,, oberflächlichen 
Betrachtung  eines  Raffael  oder  Michelangelo  führten"  und  die  nötige  Unbe- 
fangenheit derjenigen  zerstöre,  die  persönlich  nach  Italien  kämen. 

Nun,  nach  Italien  kommen  gewiß  nicht  alle  Deutschen  und  in  berühmte  Ga- 
lerien auch  nicht.  Auch  wird  niemand  eine  Photographie  bevorzugen,  wenn 
es  eine  gute  farbige  Reproduktion  gibt.  Und  die  gibt  es  dank  der  immer  mehr 
vervollkommneten  Reproduktionstechnik  genug. 

Wer  also  Originale  nicht  zu  sehen  bekommt,  muß  sich  schon  mit  Reproduk- 
tionen begnügen.  Sie  sind  doch  besser  als  gar  nichts.  Die  Lichtwarcksche  Forde- 
rung, die  für  Hamburg  und  jede  große  Stadt  einen  durchaus  berechtigten  Sinn 
hat,  sollte  also  nicht  so  rigoros  ausgelegt  werden.  Wohin  kämen  wir  sonst  I  Und 
überdies:  Kann  ein  wirkliches  Kunstwerk  so  ,, totgemacht"  werden,  daß  auch 
nicht  ein  Abglanz  seiner  Pracht  in  einer  Reproduktion  übrig  bliebe  ?  Aber  auch 
hier:  Es  macht  sich  vorteilhaft,  es  zeugt  von  eminenter  Kennerschaft,  wenn 
man  nur  Originale  fordert,  „und  seien  die  farbigen  Reproduktionen  noch  so 

gut".  -  .  .        . 

Auch  hier  möchte  ich  einem  Künstler  das  Wort  geben.  Prof.  Hang  schreibt 
mir:  „Schon  lange  werden  so  ausgezeichnete  Nachbildungen  hergestellt 
(die  nur  durch  nähere  Untersuchung  von  den  Originalen  zu  unterscheiden  sind), 
neuerdings  auch  Farbendrucke,  daß  es  nicht  zu  begreifen  wäre,  wenn 
jemand  an  ihrer  Stelle  lieber  ein  minderwertiges  Original  an  seinen  Wänden 
aufhinge"  und  er  findet  es  ,,doch  selbstverständlich,  lieber  die  Reproduktion 
eines  Meisterwerks  als  ein  nichtssagendes  Original  anzuschauen",  nur  müsse  sie 
gut  sein.    Er  wünsche  gerade  solchen  Bestrebungen  guten  Erfolg. 

Damit  will  ich  schließen. 


Der  Jugendsport  vom  Standpunkte  der  pädagogischen 

Psychologie. 

Von  A.  Huther. 

Der  Deutsche  neigt  sehr  zur  Nachahmung  fremden  Wesens.  Geschah  dies 
früher  hinsichtlich  französischen  Geschmacks  und  französischer  Sitten,  so  ist 
es  in  unserer  Zeit  die  englische  Erziehungsweise,  die  in  steigendem  Maße  als  vor- 
bildlich betrachtet  wird,  und  zwar,  zumal  da  sie  sich  der  Gunst  einflußreicher 
Stellen  erfreut,  ohne  daß  immer  die  nötige  Kritik  geübt  zu  werden  pflegt,  die  zu 
berücksichtigen  hat,  daß  die  englische  Methode  auf  andrem  Boden  erwachsen 
ist,  als  derjenige  ist,  auf  dem  die  deutsche  ruht.  Im  Gegensatze  nun  zu  der  weit- 
verbreiteten dilettantischen  Art,  die  immer  nur  einseitige  Ziele  ins  Auge  faßt, 
wird  es  die  Aufgabe  der  pädagogischen  Psychologie  sein,  einen  allgemeineren 

13* 


196      Der  Jugendsport  vom  Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie. 

Beurteilungsstandpunkt  den  hier  in  Frage  kommenden  Veranstaltmigen  gegen- 
über zu  gewinnen  zu  suchen. 

Gewiß  haben  diese  letzteren  ihre  erfreulichen  Seiten.  Körperliche  Frische 
und  Gewandtheit,  Ausdauer  und  Unternehmungssinn  in  praktischen  Dingen, 
Eigenschaften,  die  man  unter  den  Begriff  militärischer  Ertüchtigung  zu  fassen 
pflegt,  dazu  willige  Unterordnung  des  Einzelnen  unter  die  Führung  zu  einem 
gemeinsamen  Zwecke  sind  augenfällige  Vorzüge,  die  sie  mit  sich  bringen.  Und 
wer  sollte  nicht  das  frohe  Selbstgefühl  nacherleben,  das  die  Jungen  beseelt, 
wenn  sie  straff  in  Reih  und  Glied  unter  den  Klängen  ihres  eigenen  Trommler- 
und  Pfeiferkorps  zu  ihrer  Übung  ausziehen  oder  nach  vollbrachtem  Tagewerk 
zurückkehren,  gehoben  von  dem  Bewußtsein,  einer  wichtigen,  vaterländischen 
Sache  zu  dienen! 

Für  unsere  Betrachtung  handelt  es  sich  jedoch  darum,  umfassendere,  aus 
den  allgemeinen  Zielen  der  Erziehung  herzuleitende  Gesichtspunkte  aufzustellen, 
die  eine  allseitige  Würdigung  der  fraglichen  Einrichtung  ermöglichen. 

Da  ist  es  nun  freilich  der  völlige  Mangel  an  statistischem  Stoffe,  der  eine 
dahingehende  Kritik  erschwert.  Gleichwohl  muß  von  irgendeiner  Seite  der 
Anfang  gemacht  werden,  und  in  diesem  Sinne  will  der  nachstehende  Versuch, 
der  sich  allerdings  auf  einen  nur  beschränkten  Kreis  von  Beobachtungen  stützt, 
aufgefaßt  sein. 

Die  Feststellung,  daß  die  planmäßige  Pflege  des  Sports  die  Leistungen  der 
Zöglinge  an  höheren  Schulen  nicht  beeinträchtige,  kann  in  dieser  Beziehung 
nicht  als  durchschlagend  anerkannt  werden.  Denn  da  vorwiegend  die  Jungen 
aus  wohlhabenden  Familien  in  Betracht  kommen,  so  pflegen  die  Eltern  aus 
der  Beteiligung  ihrer  Söhne  am  Sport  eigens  den  Anlaß  zu  strengerer  häuslicher 
Überwachung  ihrer  Schulaufgaben  zu  nehmen,  und  es  könnte  sich  insofern  nur 
um  den  Nachweis  handeln,  daß  mit  gesteigerten  Zwangsmitteln  trotz  der  durch 
die  körperlichen  Übungen  bedingten  Ablenkung  die  vorgeschriebenen  Ziele 
sich  erreichen  lassen.  Es  kommt  uns  vielmehr  darauf  an,  wie  weit  die  systema- 
tischen sportlichen  Unternehmungen  die  allgemeine  geistige  Entwicklung  zu 
beeinflussen  geeignet  sind.  Von  wenig  psychologischem  Einblick  zeugt  auch  die 
mir  von  einem  Gymnasialdirektor  gemachte  Bemerkung,  daß  er  den  Sport  unter 
den  Zöglingen  seiner  Anstalt  auf  jede  Weise  befördere  und  doch  keine  größere 
Frische  in  der  Beteiligung  am  Unterrichte  beobachtet  habe.  Körperliche  Frische, 
wie  sie  durch  Übung  der  körperlichen  Organe  erzielt  wird,  bildet  allerdings 
eine  Bedingung  für  frische  Betätigung  auf  geistigem  Gebiet.  Indessen  ist  eine 
direkte  Übertragung  auf  letzteres  nicht  zu  erwarten,  da  auf  diesem  ganz  andere 
Motive  in  Wirksamkeit  treten  als  bei  der  Übung  der  körperlichen  Funktionen. 

Der  Einfluß,  der  vom  Sport  auf  die  allgemeine  geistige  Entwicklung  der 
Jugend  ausgeht,  wird  je  nach  der  Individualität  der  Betreffenden  ein  verschie- 
dener sein.  Für  die  Sonderung  der  Individualitäten  nun  bieten  sich,  wenn  wir 
von  den  komplexen  Eigenschaften  der  Charakter-  und  Temperamentsveran- 
lagung absehen,  die  psychologischen  Typen  dar.  Wir  haben  hier  den  sonst 
geläufigen  Begriff  der  Vorstellungstypen  absichtlich  mit  dem  der  psychologischen 
Typen  vertauscht,  der  eine  durch  den  Zweck  unserer  Ausführungen  bedingte 
Umbildung  bzw.  Erweiterung  des  ersteren  bedeutet.  Zunächst  der  visuelle. 
Derselbe  bedingt  ein  vorzugsweise  aufs  Äußere  gerichtetes  geistiges  Verhalten, 


Der  Jugendsport  vom   Standpvinkte  der  pädagogischen  Psychologie.      197 

wie  es  bei  vorwiegend  mechanischer  Begabung  für  den  Arbeiter  und  Handwerker, 
bei  höherer  Bildung  für  den  technischen  Beamten  und  Industriellen,  den  Offizier, 
den  nach  induktiver  Methode  arbeitenden  Naturforscher  und  verwandte  Berufs- 
arten zur  Geltung  gelangt.  Für  diesen  Typus  kann  die  systematische  Pflege 
des  Sports,  der  ein  gewecktes  "Wesen  in  bezug  auf  Sinnestätigkeit  befördert  — 
sofern  dabei  die  entsprechende  Pflege  des  Innenlebens  nicht  versäumt  wird  — 
nur  vorteilhaft  sein. 

Der  auditive  Typus,  der  nicht,  wie  der  visuelle,  aufs  Äußere  geht,  ist 
seiner  Natur  nach  speziell  für  gehörsmäßige  Eindrücke,  auch  solche  belehrender 
Art,  empfänglich.  Hierzu  sind,  da  die  gedruckten  Buchstaben  die  akustisch- 
motorischen Vorstellungen,  welche  die  mündliche  Belehrimg  vermitteln,  nur 
sjTTibolisieren,  auch  literarisch  bildende  Einflüsse  zu  rechnen.  Der  fragliche 
Typus  wird,  je  nach  dem  Grade  der  mit  ihm  verbundenen  intellektuellen  Fähigkei- 
ten diese  Eindrücke,  eben  bei  der  mangelnden  Ablenkung  nach  außen,  um  so 
eindringlicher  und  nachhaltiger  in  sich  verarbeiten  und  ist  daher  geneigt,  sich 
vorwiegend  zu  einer  nach  innen  gerichteten,  sinnigen,  gegebenenfalls  träumerischen 
Individualität  zu  entwickeln.  Für  ihn  wird  der  Sport,  soweit  dieser  ihn  nicht 
etwa  durch  Übertreibungen  seiner  Eigenart  zu  entfremden  geeignet  ist,  eine  wohl- 
tätige Ergänzung  seines  geistigen  Wesens  zur  Folge  haben. 

Ganz  anders  gestaltet  sich  der  Einfluß  auf  den  motorischen  Typus.  Der 
letztere  kennzeichnet  sich  durch  die  ausgeprägte  Anlage,  Bewegungs Vorstellun- 
gen in  sich  nachzuerzeugen,  die  sich  dann  leicht  in  die  entsprechende  praktische 
Betätigung  umsetzen  und  so  die  spezifische  Eigenschaft  praktischer  Geschick- 
lichkeit begründen.  In  dieser  Hinsicht  stellt  der  motorische  Typus  das  Gegen- 
teil zu  dem  auditiven  dar,  der  sich  nicht  selten  mit  Unbehilflichkeit  paart. 
Ob  freilich  die  Aneignungsfähigkeit  für  motorische  Funktionen  bei  jenem  Typus 
allgemeiner  Art  ist  oder  sich  auf  bestimmte  körperliche  Gebiete  beschränkt, 
läßt  sich  nur  durch  die  Beobachtung  feststellen.  Bei  der  Entwicklung  desselben 
wirkt  in  allen  Fällen  ein  zentralmotorischer  Faktor  mit.  Denn  da  der  Typus 
seiner  phylogenetischen  Anlage  nach  lediglich  eine  spezifische  Entwicklungs- 
möglichkeit bezeichnet,  so  ist  anzunehmen,  daß  die  fertige  Eigenschaft  das  Er- 
gebnis einer  praktischen  Einübung  der  besonderen  Bewegungen  bildet.  Wir 
fassen  hier  übrigens  den  motorischen  Typus  nicht  in  dem  abnormen  Sinne  auf, 
wie  dies  zuweilen  geschehen  ist,  insofern  man  den  als  speziellen  Vertreter  des- 
selben bezeichnet  hat,  der  z.  B.  die  Umrisse  eines  geographischen  Landschafts- 
bildes sich  nur  dadurch  deutlich  vorzustellen  vermochte,  daß  er  sie  mit  dem 
Finger  nachbildete,  sondern  als  Inbegriff  leichter  Auffassung  körperlicher 
Bewegungen  überhaupt.  In  diesem  Sinne  verstanden,  ist  der  in  Frage  stehende 
Typus  sehr  verbreitet;  denn  die  meisten  frischen  und  gesunden  Jungen  zeigen 
eine  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Anlage  der  bezeichneten  Art,  wenn 
sich  auch  mannigfache  Gradunterschiede  in  dieser  Beziehung  finden.  Die  Leich- 
tigkeit nun,  mit  der  bei  ihnen  die  motorischen  Funktionen  von  statten  gehen 
(so  beim  Turnen  und  bei  Freiübungen,  beim  Radfahren,  beim  Werfen  und 
Fangen  des  Balles  bzw.  beim  Stoßen  desselben  mit  dem  Fuße,  beim 
Tennisspiel,  beim  Schwimmen  und  Rudern,  bei  der  Auffassung  der  auf  Er- 
kundung der  örtlichkeit  bezüglichen  Bewegimgsvorstellungen,  wie  sie  die  Findig- 
keit bei  den  militärischen  Übungen  der  Pfadfinder  bedingen,  sowi^  beim  kunst- 


198      Der  Jugendsport  vom   Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie. 

vollen  Schlittschulilaufen)  ruft  ein  starkes  Lustgefühl  hervor,  das  sich  dauernd 
mit  diesen  Funktionen  kompliziert  und  dadurch  zum  Motiv  für  dieselben  wird, 
das  bei  systematischer  Übung  der  verschiedenen  Seiten  des  Sports  leicht  einen 
Grad  annimmt,  daß  geistige  Interessen,  die  doch  gerade  auf  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Altersstufe  begründet  werden  sollen,  nicht  dagegen  aufkommen 
können.  Hierdurch  erwachsen  Hemmungen  für  den  auf  geistige  Bildung  abzielen- 
den Unterricht.  Denn  Geistesbildung  beruht  auf  beharrenden  psychischen  Dis- 
positionen, die  eine  innere  Aktivität  des  geistigen  Lebens,  also  ein  eigenes  Innen- 
leben begründen,  welches  mit  fortschreitender  geistiger  Reife  das  Übergewicht 
über  äußere  Einflüsse  zu  üben  bestimmt  ist,  ein  Ergebnis,  das  freilich  bei  der 
Schuljugend  nur  in  elementarem  Maße  erreicht  werden  kann.  Der  Begriff  der 
Bildung  ist  bei  der  obigen  Erklärung,  dem  Zusammenhang  entsprechend,  in 
rein  theoretischem  Sinne  gefaßt.  Nach  der  praktischen  Seite  würde  er  dahin 
zu  ergänzen  sein,  daß  Dispositionen  praktischer  Art  erzeugt  werden  sollen, 
welche  das  Subjekt  in  den  Stand  setzen,  die  Umgebung  nach  seinen  Zwecken 
zu  gestalten.  Durch  den  Sport  aber  wird  bei  ausgedehntem  Betriebe  leicht  ein 
Mißverhältnis  zwischen  körperlichen  und  geistigen  Funktionen,  zwischen  der 
Richtung  des  jugendlichen  Sinnes  nach  außen  und  innen  geschaffen.  Das  sinnige 
Wesen,  das  an  manchen  Zöglingen  schon  früh  hervortritt,  geht  hierbei  verloren. 
Und  dies  Mißverhältnis,  das  die  Körperpflege  nicht  als  Mittel  für  geistige  Zwecke 
erscheinen  läßt,  sondern  als  Selbst-  und  Hauptzweck,  kann  sich  für  die  betreffen- 
den Zöglinge  bis  zu  dem  Grade  steigern,  daß  die  sportlichen  Übungen  —  zumal 
wenn  noch  künstliche,  den  Ehrgeiz  anstachelnde  Reizmittel  wie  Preise,  öffentliche 
Wettspiele  und  sogar  von  den  Schülern  bei  letzteren  veranstaltete  Wetten  hinzu- 
treten —  geradezu  einen  leidenschaftlichen  Charakter  annehmen.  Dieser  Umstand 
ist  umsomehr  zu  bedauern,  als  manche  der  motorisch  Veranlagten,  bei  der  ihnen 
eigenen  kräftigen  Funktion  des  Herzmuskels,  eine  besondere  Empfänglichkeit, 
eine  Impulsivität  für  geistige  und  gemütliche  Regungen  zu  zeigen  pflegen, 
die  indessen  bei  dem  einseitigen  Übergewicht  des  körperlichen  Bewegungs- 
triebes keiner  Ausdauer  fähig  sind.  Um  diese  zu  erzielen,  müssen  Zwangsmittel 
angewandt  werden,  mit  denen  sich  aber  der  Begriff  der  Geistesbildung,  wie 
er  oben  bezeichnet  wurde,  nicht  verwirklichen  läßt.  Auf  die  hierbei  vorzugsweise 
in  Betracht  kommenden  Zöglinge,  welche  bei  gleichzeitiger  guter  intellektueller 
Begabung  zu  den  wertvollsten  gehören,  müssen  die  sportlichen  Veranstaltungen 
nach  alledem  einen  verflachenden  Einfluß  ausüben. 

Dieses  Moment  darf  insbesondere  bei  der  Kritik  der  eine  kriegsmäßige  Vor- 
bildung bezweckenden  Übungen  nicht  unberücksichtigt  bleiben.  Die  wissen- 
schaftliche Ertüchtigung  der  Jugend  ist  nicht  weniger  wichtig  als  die  militärische. 
Die  mit  Deutschland  in  Wettbewerb  tretenden  Völker  machen  die  größten  An- 
strengungen, es  auf  dem  Gebiete  der  Kulturarbeit  aus  dem  Felde  zu  schlagen, 
und  seine  frühere  unbedingte  Überlegenheit  erscheint  schon  jetzt  in  Frage  ge- 
stellt. Ich  weise  in  dieser  Hinsicht  nur  auf  den  einen  Punkt  hin,  nämlich  die 
Rückständigkeit  der  deutschen  Universitäten  in  bezug  auf  eigene  pädagogische 
Fachprofessuren,  von  denen  ein  autoritatives  Urteil  über  grundsätzliche  Fragen, 
wie  die  hier  zur  Erörterung  stehende,  ausgehen  könnte. 

Dazu  kommen  Begleiterscheinungen  bedenklicher  Art,  die  speziell  mit  demPfad- 
f indertum  verbunden  sind.  Es  finden  sich  während  der  den  militärischen  Übungen 


Der  Jugendsport  vom   Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie.       199 

gewidmeten  Ferienzeit  ganze  Tage,  an  denen  die  Jungen  wegen  der  Ungunst 
der  Witterung  sich  in  ihre  Zelte  eingeschlossen  sehen;  sie  suchen  dann  ihre 
Unterhaltung  in  Beschäftigungeii,  die  mit  den  militärischen  Übungszwecken 
nichts  zu  tun  haben;  das  sind  Kartenspielen  und  Rauchen,  worin  die  z.  T.  erst 
dreizehnjährigen  Jungen  schon  eine  gewisse  Meisterschaft  erzielen;  sie  bringen 
so  Unsitten  mit  nach  Hause,  die  dann  in  der  Folgezeit  an  entlegenen  Orten 
weitergepflegt  werden. 

Ein  besonders  bedenklicher  Umstand  ist  es,  daß  das  ungebundene  Lagerleben 
eine  lebhafte  Steigerung  des  Selbstgefühls  und  dadurch  bedingte  ausgelassene 
Stimmung  zur  Folge  hat,  die  die  Beteiligten  üblen  Einflüssen  von  selten  älterer, 
sittlich  unzuverlässiger  Kameraden  allzuleicht  zugänglich  macht.  Einzelne 
verdorbene  Elemente,  die  sich,  wo  nicht  besonders  günstige  Verhältnisse  obwalten, 
wohl  an  allen  höheren  Lehranstalten  finden,  können  so  die  ganze  Schar  verderben. 

Die  angedeuteten  Gesichtspunkte  sind  es,  die  mir  vom  Standpunkte  der 
pädagogischen  Psychologie  aus  scheinen  hervorgehoben  werden  zu  müssen, 
um  weiteren  Beobachtungen  zur  Grundlage  dienen  zu  können.  Ein  abschließen- 
des Urteil  läßt  sich  natürlich  erst  fällen,  wenn  ein  genügender,  möglichst  sta- 
tistisch bearbeiteter  Stoff  gesammelt  worden  ist.  Zu  beachten  würde  in  dieser 
Richtung  sein,  ob  sich  mit  der  Beteiligung  am  Sport  nach  seinen  verschiedenen 
Seiten  der  Anfang  einer  freien  individuellen  Betätigung  geistiger  Interessen, 
wie  die  Übung  einer  schönen  Kunst,  selbstgewählte  Lektüre,  Vertiefung  in  ein 
einzelnes  Lehrfach,  Sinn  für  belehrende  Unterhaltung  und  gelegentliche  An- 
regimgen  nebst  der  Neigung,  an  das  Gesehene  oder  Gehörte  eigene  Fragen  und 
Einwürfe  zu  knüpfen,  vereinigt  findet,  ob  sich  Interesse  für  Sammlungen  von 
künstlerischem  oder  wissenschaftlichem  Werte  u.  dgl.  m.,  aber  auch  die  Neigung 
erkennen  läßt,  im  Gegensatz  zu  der  oberflächlich  zerstreuenden  Geselligkeit, 
die  die  gemeinsamen  sportlichen  Veranstaltungen  mit  sich  bringen,  sich  gelegent- 
lich einer,  die  innere  Verarbeitung  der  gewonnenen  Eindrücke  begünstigenden 
ruhigen  Beschaulichkeit  hinzugeben,  die  die  Voraussetzung  ebenso  sehr  für  die 
Entwicklung  schöpferischer  Begabung  wie  für  sittliche  Selbsteinkehr  bildet. 
Diese  Neigung  pflegt  sich  freilich  erst  in  reiferem  Alter  herauszustellen.  Ihr 
wird  aber  von  vornherein  der  Boden  entzogen,  wenn  die  Zöglinge  sich  in  frühen 
Jahren  gewöhnen,  einer  Spiel-  und  Sportsucht  nachzuhängen,  die  sie  zu  wenig 
zur  Ruhe  und  Besinnung  gelangen  läßt. 

Der  Ausfall  der  deutschen  Aufsätze  auf  der  obersten  Stufe  übrigens  weist 
nach  meiner  Erfahrung  auf  eine  außerordentlich  verflachende  Wirkung  des 
systematisch  betriebenen  Sports  in  bezug  auf  geistiges  Leben  hin.  Und  wenn 
neuerdings  noch  ausdrücklich  über  einen  Rückgang  der  wissenschaftlichen 
Lsistungen  an  den  höheren  Lehranstalten  geklagt  wird,  so  wird  zu  prüfen  sein, 
wie  weit  der  an  denselben  betriebene  Sport  hierfür  verantwortlich  zu  machen  ist. 
Natürlich  kann  ein  maßvoll  betriebener  Sport  —  die  Schule  trifft  ja  übrigens 
in  dieser  Hinsicht  durch  die  Veranstaltung  von  Turn-  und  Spielstunden  schon 
die  nötige  Fürsorge  —  nur  vorteilhaft  in  bezug  auf  die  Körperpflege  wirken. 
Dabei  wird  aber  stets  der  Überblick  über  die  allgemeine  Entwicklung  eines 
Zöglings  im  Auge  zu  behalten  sein.  Wenn  also  ein  Knabe  —  um  an  ein  kon- 
kretes, einen  ausgeprägten  Motoriker  betreffendes  Beispiel  anzuknüpfen  —  infolge 
übermäßig  ausgedehnter  Spiel-  und  Sportübungen  bzw.  Wanderungen  ein  so 


200      Der  Jugendsport  vom   Standpunkte  der  pädagogischen  Psychologie. 

zappliges  Wesen  erkennen  läßt,  daß  er,  sofern  er  nicht,  wie  es  im  Unterricht  und 
bei  der  pflichtmäßigen  häuslichen  Arbeit  geschieht,  sich  zum  Stillhalten  genötigt 
sieht,  kaum  imstande  ist,  eine  Viertelstunde  ruhig  zu  sitzen,  und  nicht  die  Aus- 
dauer zeigt,  ein  Buch  zu  Ende  zu  lesen,  so  ist  es  die  höchste  Zeit,  die  sportlichen 
Übungen  abzubrechen  oder  doch  so  weit  zu  beschränken,  um  der  Pflege  geistiger 
Interessen  Raum  zu  schaffen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Vergleichende  Pädagogik.  Unter  dem  Titel :  ,,Die  Aufgaben  einer  ver- 
gleichenden Pädagogik"  habe  ich  im  Januarheft  des  „Archivs  für  Pädagogik" 
eine  Untersuchung  über  eine  wichtige,  bisher  noch  wenig  ausgebaute  Forschungs- 
methode der  pädagogischen  Wissenschaft  veröffentlicht.  Die  Arbeit,  deren  we- 
sentliche Gedankengänge  ich  auf  Wunsch  der  Schriftleitung  dieser  Zeitschrift 
hier  kurz  darstellen  will,  weist  auf  folgende  Tatsachen  hin.  In  der  naturwissen- 
schaftlichen Literatur  spielt  die  Vergleichung  bereits  seit  vielen  Jahrzehnten 
eine  ganz  hervorragende  Rolle,  so  z.  B.  in  der  Physiologie,  Anatomie,  Ent- 
wicklungsgeschichte. Sie  ist  hier  sogar  älter  als  die  experimentelle  Forschung, 
geht  aber  mit  ihr  völlig  Hand  in  Hand,  so  daß  gegenwärtig  Werke  über  ver- 
gleichende und  experimentelle  Botanik,  Zoologie  etc.  ziemlich  häufig  geworden 
sind.  Auch  in  der  Psychologie  hat  die  Vergleichung  bereits  allgemeine  An- 
erkennung gefunden.  W,  Wundt  hat  ihren  Wert  für  die  Völkerpsychologie 
hervorgehoben,  und  in  der  englischen  und  amerikanischen  Literatur  ist  seit 
Darwin  die  ,,comparative  psychology"  eine  durchaus  bekannte  Erscheinung. 
Ist  nun  bei  uns  in  Deutschland  die  experimentelle  Pädagogik  emporgewachsen, 
so  taucht  von  selbst  die  Frage  auf,  ob  für  die  Lösung  der  pädagogischen 
Probleme  sich  nicht  auch  die  vergleichende  Methode  als  brauchbar  erweisen  ließe. 
In  der  Tat  wird  sich  kaum  leugnen  lassen,  daß  sie  für  das  Experiment  eine  recht 
wertvolle  Ergänzung  bieten  und  die  pädagogische  Tatsachenforschung  wesentlich 
bereichern  wird.  Wie  in  der  Naturwissenschaft  das  Lehrbuch  der  vergleichenden 
und  experimentellen  Botanik  und  Zoologie  mit  Freude  begrüßt  worden  ist,  so 
wird  sicherlich  auch  für  den  Lehrer  und  Erzieher  die  Zukunft  nicht  allzu  fern 
sein,  da  ein  Lehrbuch  der  experimentellen  und  vergleichenden  Pädagogik  die 
Zusammengehörigkeit  .beider  Forschungsmethoden  schon  äußerlich  zeigt,  da 
vielleicht  gar  ein  Institut  für  experimentelle  und  vergleichende  Pädagogik  sich 
mit  der  Pflege  beider  Methoden  planmäßig  befaßt.  Natürlich  darf  und  soll  nicht 
verkannt  werden,  daß  beide  Wege  der  Forschung  ganz  bedeutend  voneinander 
abweichen.  Die  Eigenart  des  Experiments  besteht  darin,  einen  Vorgang  will- 
kürlich zu  erzeugen  und  unter  beliebig  zu  verändernde  Bedingungen  zu  stellen. 
Die  Vergleichung  vermag  dies  nicht,  sie  kann  sich  nur  an  die  empirisch  klar  er- 
kennbare Tatsache  halten  und  das,  was  tatsächlich  schon  vorhanden  ist,  durch- 
forschen und  untersuchen.  Doch  liegt  schließlich  gerade  darin,  daß  sie  einen 
Vorgang  nicht  beeinflußt,  sondern  bloß  anschaut  und  beobachtet,  ein  nicht  zu 
unterschätzender  Vorteil  für  die  wissenschaftliche  Erkenntnis.  Außerdem  hat 
das  Experiment  eine  natürliche  Grenze;  Erscheinungen,  die  der  Vergangenheit 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  201 


angehören  und  eben  als  vergangene  betrachtet  werden  sollen,  sind  ihm  nicht  mehr 
zugänglich;  hier  muß  die  historische  Methode  als  unentbehrlicher  Bestandteil 
der  vergleichenden  Forschung '  einsetzen  und  dem  Experiment,  das  nur  mit 
lebenden  Wesen  der  Gegenwart  arbeiten  kann,  zu  Hilfe  eilen.  Als  Tatsachen- 
methode kann  sich  also  die  vergleichende  Methode  nur  insoweit  an  die  Erziehung 
heranwagen,  als  diese  im  Einzelfall  vollendete  Tatsache  ist ;  mit  anderen  Worten : 
Sie  ist  zunächst  nicht  ein  Hilfsmittel  der  praktischen,  d.  h.  auf  die  nächste  Zu- 
kunft gerichteten  Pädagogik,  sondern  der  empirischen  Pädagogik.  Hier  aber 
eröffnet  sie  dem  Forscher  ein  außerordentlich  weites  und  fruchtbares  Feld  der 
Betätigung.  Sie  stellt  das  Kind  der  Gegenwart,  soweit  es  unter  erziehlichen  Ein- 
flüssen steht,  dem  Kinde  früherer  Generationen  und  Jahrhunderte  gegenüber, 
zieht  also  die  historische  Pädagogik  für  die  Zwecke  der  Erkenntnis  heran.  Die 
Biographien  des  Mittelalters  und  der  beginnenden  Neuzeit  versprechen  hier 
reiche  Ausbeute;  besonders  reich  an  Lebensbeschreibungen  und  persönlichen 
Jugenderinnerungen  ist  ja  auch  das  18.  Jahrhundert.  Die  Vergleichung  setzt 
weiterhin  räumlich  voneinander  weit  entfernte  Individuen  zu  einander  in  Be- 
ziehung, indem  sie  das  Kind  unserer  hohen  Kultur,  soweit  es  erzogen  wird,  dem 
Kinde  anderer  Kulturen,  so  dem  Japaner-,  Indianer-  und  Negerkinde  gegenüber- 
stellt; sie  bedarf  mithin  der  ethnologischen  Pädagogik.  Dieser  Zweig  ist 
gegenwärtig  leider  recht  wenig  fruchtbar ;  die  Engländer  sind  uns  vorläufig  noch 
voraus,  in  der  deutschen  Literatur  finden  wir  im  allgemeinen  nur  gelegentliche 
Hinweise  und  kurze  Bemerkungen  unserer  Ethnologen,  die  von  den  Pädagogen 
nicht  weiter  beachtet  werden.  Und  doch  ist  das  wenige,  was  wir  über  die  Er- 
ziehung der  Naturvölkerkinder,  über  ihre  Sprache,  ihr  Spielen  und  Arbeiten 
wissen,  für  die  allgemeine  pädagogische  Erkenntnis  höchst  lehrreich  und  spornt 
zu  weiteren  Nachforschungen  an.  Der  Vergleich  ist  schließlich  auch  möglich 
für  die  verschiedenen  Bedingungen,  unter  denen  das  Kind  imserer  Gegenwarts- 
kultur aufwächst  und  die  Bildung  rezipiert.  Die  komparative  Forschung  kann 
ihre  Aufmerksamkeit  lenken  auf  das  sozial  höher  stehende  und  das  sozial  tiefer 
stehende  Kind,  auf  den  normalen  und  den  abnormalen  Zögling,  schließlich  auch 
auf  die  verschiedenen  Veranlagungsmöglichkeiten  bei  dem  normalen  Individuum. 
Die  Vergleichung  vermag  also  auch  das  Material  der  pädagogischen  Sozio- 
logie, Pathologie  und  Psychologie  gewinnbringend  zu  verwerten  und  zwar 
in  dem  Sinne,  daß  sich  durch  die  Heranziehung  aller  Spezialgebiete  der  empirischen 
Pädagogik  wertvolle  allgemeingiltige  Tatsachen  und  Gesetze  als  Forschungs- 
ergebnisse gewinnen  lassen,  die  dann  zuletzt  für  die  praktische  Pädagogik  von 
erheblicher  Bedeutung  sein  müssen.  Sicherlich  wird  sich  dann  hinsichtlich  der 
Bildungsziele  und  -methoden  manche  neue  wichtige  Erkenntnis  gewinnen  lassen; 
lassen  sich  doch  selbst  über  die  Organisation  des  Erziehungswesens  in  den  ver- 
I  hiedenen  Kulturstaaten  vergleichende  Untersuchungen  anstellen,  die  den 
Blick  für  das  nationale  Bildungswesen  zweifellos  klären  und  schärfen  müssen. 
Noch  fehlt  es  freilich  sehr  an  Vergleichsmaterial.  Infolge  unseres  allzusehr  auf 
die  Bedürfnisse  der  praktischen  Erziehung  gerichteten  Interesses  läßt  die  Pflege 
der  empirischen  Pädagogik  noch  viel  zu  wünschen  übrig,  und  es  wird  erst  der 
planmäßigen  Organisation  der  Forscherarbeit  bedürfen,  um  dieses  Tatsachen- 
material herbeizuschaffen.  In  den  bereits  bestehenden  Sammlungen  von  päda- 
gogischen Beobachtungen,  von  freien  Kinderzeichnungen  und  -aufsätzcn,    in 


202 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


Kriminalakten  etc.,  liegen  ja  bereits  verheißungsvolle  Ansätze  vor.  Welche  Pro- 
bleme sich  mit  Hilfe  solchen  Materials  lösen  lassen'  werden,  versuche  ich  in 
meiner  Arbeit  eingehender  nachzuweisen.  Ich  versuche  den  Nachweis  zu  erbringen, 
,daß  der  vergleichenden  Pädagogik  eine  vierfache  Bedeutung  beizumessen  ist: 
Sie  ersetzt  1.  den  philosophischen  Ausgangspunkt  der  bisherigen  Pädagogik 
durch  einen  empirisch-wissenschaftlichen  Ausgangspunkt;  sie  erweitert  2.  den 
Bereich  der  pädagogischen  Forschung  durch  die  Trennung  der  Kulturentwicklung 
des  Kindes  von  der  Kinderpsychologie;  sie  erweitert  3.  das  Gebiet  der  päda- 
gogischen Untersuchung  durch  die  Erforschung  der  Bildungsziele;  sie  ergänzt 
4.  das  pädagogische  Experiment  auf  dem  Gebiete  der  Erziehungsmethoden  und 
Bildungsmittel'. 

Leipzig.     *  Johannes  Kretzschmar. 

Gegen  die  „Warnung  vor  den  Übergriffen  der  Jugend-Psychoanalyse«,  die 

von  Vertretern  der  wissenschaftlichen  Jugendkunde  auf  dem  Breslauer  Kongreß 
des  Bundes  für  Schulreform  abgefaßt,  unterzeichnet  und  veröffentlicht  wurde, 
hat  eine  Reihe  von  Pädagogen,  zumeist  in  der  Schweiz  tätig,  eine  ,, Verwahrung" 
eingelegt.  Beide  Erklärungen  seien  nebeneinandergestellt,  um  erkennen  zu 
lassen,  wie  die  Entgegnung  sich  gegen  Einwände  verwahrt,  die  in  Breslau  nicht 
erhoben  oder  auch  nur  angedeutet  worden  sind,  und  wie  dabei  leichten  Sinnes 
und  unbedenklich  den  Unterzeichnern  der  ,, Warnung"  —  es  sind  darunter 
Führer  der  jugendkundlichen  Forschung  und  der  pädagogischen  Bewegung  — 
eine  unzulängliche  Orientierung  über  die  Fragen,  zu  denen  sie  Stellung  genommen 
haben,  vorgeworfen  wird. 

Eine  Verwahrung   gegen  irrtüm- 
liche   Beurteilung    der    Jugend- 
Psychanalyse. 

Die  unterzeichneten  Pädagogen  er- 
klären gegenüber  der  auf  irrtümlichen  und 
einseitigen  Annahmen  beruhenden  in 
Breslau  beschlossenen  „Warnung  vor  den 
Übergriffen  der   Jugend- Psychanalyse" : 

1.  Mit  den  beiden  Hauptsätzen  der  Er- 
klärung sind  vsdr  einverstanden.  Wir  be- 
trachten die  psychanalytische  Methode 
von  jeher  lediglich  als  eine  Methode  neben 
anderen  und  verwerfen  ihre  direkte  An- 
wendung am  normalen  Kinde,  sofern 
sie  zu  einer  ,, Entharmlosung"  (Stern) 
führen  kann. 

2.  Dagegen  halten  wir  eine  vorsichtig 
angewendete  Psychanalyse  gewisser 
kranker  Kinder  durch  den  taktvollen  und 
kundigen  Arzt  oder  unter  seiner  Leitung 
durch  den  besonders  ausgebildeten  Er- 
zieher für  ein  höchst  wertvolles  Mittel 
zur  Heilimg  und  ,, Verharmlosung",  zu- 
mal wo  ein  Kind  unter  bewußten  oder  un- 
bewußten häßlichen  Vorstellungen  be- 
reits leidet;  vor  dilettantischer  Kinder- 
analyse ist  zu  warnen. 


Erklärung. 

Die  unterzeichneten  MitgUeder  der 
Sektion  für  Jugendkunde  im  Bunde  für 
Schulreform  halten  es  für  ihre  Pflicht, 
die  Freunde  der  Jugend  und  die  pädago- 
gische Welt  auf  die  Gefahren  hinzuweisen, 
die  aus  der  neuerdings  versuchten  An- 
wendung der  psychoanalytischen  Me- 
thode auf  Kinder  und  Jugendliche  ent- 
stehen. 

Ohne  zu  der  wissenschaftlichen  Be- 
deutimg der  psychoanalytischen  Grund- 
gedanken und  zu  der  therapeutischen 
Anwendung  der  Methode  auf  Erwachsene 
Stellung  zu  nehmen,  erklären  die  Unter- 
zeichneten : 

1.  Die  Behauptung,  daß  die  psycho- 
analytische Methode  die  bisherige  Kinder- 
forschung als  irrig  erweise  und  daß  erst 
durch  sie  die  einzig  wissenschaftliche 
Kindespsychologie  möglich  geworden  sei, 
ist  tmgerechtfertigt. 

2.  Die  Freigabe  der  psychoana- 
lytischen Methode  zur  Anwendving 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


203 


in  der  Praxis  der  normalen  Er- 
ziehung ist  verwerflich.  Denn  das 
Psychoanalysieren  kann  zu  einer  i  dauern- 
den psychischen  Infektion  des  Betroffe- 
nen mit  verfrüliten  Sexualvorstellungen 
und  -gefühlen  und  somit  zu  einer  „Ent- 
harmlosung" führen,  die  eine  schwere 
Gefahr  für  unsere  Jugend  darstellt.  Die 
etwaigen  von  den  Psychoanalytikern 
behaupteten  Erziehungserfolge  der  Me- 
thode stehen  in  keinem  Verhältnis  zu 
dem  verheerenden  Scheiden,  der  durch 
sie  in  der  unentwickelten  Seele  ange- 
richtet wird. 

Dr.  G.  Anschütz,  Privatdozent,  Ham- 
burg; Dr.  Gertrud  Bäumer,  Berlin;  Dr. 
Otto  Bobertag,  Kleinglienicke ;  Dr.  Max 
Brahn,  Privatdozent,  Leipzig;  Dr.  Fritz 
Chotzen,  Oberarzt  an  der  städtischen 
Irrenanstalt,  Breslau;  Dr.  Jonas  Cohn, 
Universitätsprofessor,  Freiburg;  Dr.  Th. 
Elsenhans,  Hochschulprofessor,  Dresden; 
Dr.  Aloys  Fischer,  Privatdozent,  Mün- 
chen; P.  Hoff  mann,  Volksschullehrer, 
Breslau;  E.  Hylla,  Volksschullelirer, 
Breslau;  Dr.  H.  Keller,  Oberlehrer,  Chem- 
nitz; O.  Kosog,  Mittelschullehrer,  Bres- 
lau; Dr.  Otto  Lipmann,  Kleinglienicke; 
Dr.  W.  Matz,  Breslau;  W.  J.  Ruttmann, 
Sominarlehrer,  Marktsteft;  O.  Scheibner, 
Seminaroberlehrer,  Leipzig;  Dr.  H. 
Scheifler,  Oberlehrer,  Görlitz;  Dr.  W. 
Stern,  Universitätsprofessor,  Breslau ;  Dr. 
Th.  Valentiner,  Oberlehrer,  Bremen. 

Der  obigen  Erklärung  schließen  sich  an : 

Carl  Götze,  Volksschullehrer,  Ham- 
burg; Dr.  J.  Hacks,  Stadtschulrat,  Bres- 
lau; Dr.  G.  Kerschensteiner,  Oborstudien- 
rat,  München;  Marie  Klug,  Direktorin, 
Breslau;  Dr.  Rudolf  Lehmann,  Hoch- 
schulprofessor, Posen;  H.  Th.  Matth. 
Meyer,  Schulinspektor,  Hamburg;  K. 
Möller,  Turninspoktor,  Altona;  Schulrat 
K.  Muthesius,  Seminardirektor,  Weimar; 
Dr.  Neuendorff,  Oberrealschuldiroktor, 
Mühlheim;  Prof.  Dr.  Rehkuh,  Stadt- 
schulrat, Braunschweig;  Clara  Stern, 
Breslau;  Prof.  Dr.  K.  Umlauf,  Seminar- 
direktor, Hamburg, 

Breslau,  am  6.  Oktober  1913. 


3.  Die  Pädagogik  hat  ein  starkes  Inter- 
esse an  der  Ausbildung  der  wissenschaft- 
lichen Pädanalyse,  sofern  die  an  kranken 
Kindern  tmd  Jugendlichen,  sowie  an  Er- 
wachsenen gewonnenen  Analysen  wich- 
tige Rückschlüsse  auf  die  psychologischen 
Vorgänge  und  die  pädagogische  Beein- 
flussung normaler  Kinder  zulassen. 

4.  Die  Unterzeichner  der  Breslauer  Er- 
klärung kennen  nur  die  eine  Seite  der 
Psychanalyse:  die  Untersuchung  und 
Aiifdeckung  der  Sexualität.  Wir  sehen 
jedoch  in  der  Psycho- Analyse,  der  Be- 
deutung des  Wortes  entsprechend,  nicht 
nur  dies.  Denn  wir  sind  überzeugt,  daß 
auch  diejenigen  Kräfte  des  unbewußten 
Seelenlebens  zu  erkennen  sind,  die  den 
Menschen  seiner  höchsten  Bestimmung 
zuführen.  Somit  wird  die  Psychanalyse 
ganz  besonders  auch  bewußt  zu  machen 
haben,  welche  unbewußten  Hemmtmgen 
zu  beseitigen  und  welche  persönlichen 
Lebensaufgaben  zu  erfüllen  sind.  In 
wissenschaftlicher  Hinsicht  soll  die  Päd- 
analyse denjenigen  Interpretationen  den 
Vorzug  geben,  die  den  Normen  der  In- 
duktion entsprechen. 

H.  Baur,  Pfarrer  in  Basel;  G.  Blatt- 
mann, Lehrer  in  Luino  (Italia) ;  Univer- 
sitätsprof .  Dr.  P.  Bovet,  Dir.  d.  „Ecole  des 
Sciences  de  l'Education",  Genf;  Prof.  Dr. 
med.  E.  Claparöde,  Red.  d.  ,,Archives  de 
Psychologie",  Genf;  E.  Etter,  Pfarrer  in 
Rorschach;  Th.  Flournoy,  Univers.-Prof . 
d.  Psych.,  Genf;  U.  Heller,  Pfarrer  a.  D., 
Dir.  d.  Knabeninstit.  Rorschach;  R.  Heu- 
ßer,  Lehrer  in  Zürich ;  Adolf  Keller,  Pf  eirrer 
in  Zürich;  Prof.  Dr.W.  Klinke,  Seminarl. 
f.  Pädag.,  Zürich;  Ernst  Linde,  Lehrer  u. 
Schriftleiter,  Gotha;  A.Lüthi,  Seminarl. 
f.  Päd.,  Küsnacht  ;Dr.  phil.  O.  Mesendieck, 
Lehrer  a.  Sanatorium  Dr.  Bircher,  Zürich ; 
Prof.  Dr.O.Messmer,  Seminarl.  f. Päd.,  Ror- 
schach ;  J. Niedermann,  päd.Leiter  d.  ärztl. 
Landeserziehungsheims  Breitenstein,  Er- 
matingen;  Ad.  Pf  ister,  Lehrer  in  Zürich ; 
Dr.  phil.  O.  Pfister,  Pfarrer  u.  Seminarl., 
Zürich ;  Dr.F.Pinkus,  Schrif  tleit.  d.Ztschr. 
f.  Jugenderziehung  U.Jugendfürsorge,  Zü- 
rich ;  Dr.  E.  Schneider,  Dir.  d.  kant.  Ober- 
seminars, Bern;  Dr.  phil.  E.  Sokolnicka, 
Zürich ;  J.  Stelzor,  Sekundarlehror,  Meilen ; 
H.  Steiger,  Sekimdarlehrer,  Zürich;  A. 
Waldburger,  Irronhausgeistlicher,  Ragaz. 


Eine  Ausstellung  der  pädagogischen  Fachpresse  der  Welt  wird  zum  ersten 
Male  auf  der  diesjährigen  „Intern.  Ausstelhmg  für  Buchgewerbe  und  Graphik" 


204  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

in  Leipzig  innerhalb  der  Abteilung  „Scbule  und  Buchgewerbe"  versucht  werden. 
Wenn  man  bedenkt,  daß  allein  die  pädagogische  Presse  deutscher  Zunge  gegen 
450  Zeitschriften  der  verschiedensten  Art  aufweist,  so  darf  man  wohl  erwarten, 
daß  bei  Berücksichtigung  des  gesamten  Auslandes  eine  sehr  interessante  und 
lehrreiche  Veranstaltung  zustande  kommt.  Um  auch  den  historischen  Gesichts- 
punkt zu  berücksichtigen,  werden  aus  der  Entwickelung  der  pädagogischen 
Fachpresse  charakteristische  Beispiele  in  Originalen  und  Reproduktionen  dar- 
geboten werden.  Dabei  wird  Bedacht  darauf  genommen  werden,  solche  Nummern 
auszustellen,  die  historisch  bedeutsame  Aufsätze,  Reden  und  Beiträge  hervor- 
ragender Pädagogen  der  Vergangenheit  enthalten.  Eingehend  wird  dann  die 
internationale  Fachpresse  der  Gegenwart  zur  Darstellung  kommen.  Im  be- 
sonderen soll  an  einzelnen  Gruppierungen  gezeigt  werden,  in  welch  weitgehender 
Weise  die  pädagogische  Fachpresse  differenziert  ist:  Zeitschriften,  die  speziell 
der  weiblichen  Bildung  dienen,  den  Arbeitsschulgedanken  vertreten,  sich  in  den 
Dienst  eines  einzelnen  Unterrichtsfaches  stellen  usw.,  werden  zusammengestellt 
werden.  Soweit  die  pädagogische  Fachpresse  des  Auslandes  zu  erreichen  ist, 
wird  sie  nach  Ländern  geordnet  ausgestellt  werden.  Li  Tabellen,  Veranschau- 
lichungen und  Abbildungen  wird  versucht  werden,  eine  Statistik  der  päda- 
gogischen Presse  zu  geben  in  bezug  auf  Umfang,  Gliederung,  Verbreitung,  Ent- 
wickelung u.  dgl.  m.  Schließlich  wird  die  Literatur  ausgestellt  werden,  die  sich 
mit  der  pädagogischen  Presse  befaßt,  sei  es  historisch,  bibliographisch  oder  in 
anderer  Weise.  Mitarbeit,  Zusendung  von  Einzelnummern  und  anderem  Ma- 
terial, besonders  der  Nachweis  von  ausländischen  pädagogischen  Zeitschriften 
nach  Titel  und  Erscheinungsort,  ist  sehr  erwünscht.  Die  Leitung  und  Ausge- 
staltung der  Gruppe  ist  dem  Lehrer  und  Redakteur  Max  Döring  in  Leipzig-Li., 
Uhlandstr.  29,  übertragen  worden. 

Die  erste  Einzelerinnerung  ist  von  Prof.  Dr.  W.  KammeP)  zum  Gegen- 
stand einer  sehr  gründlichen  Untersuchung  gemacht  worden.  Er  bearbeitete 
die  334  Niederschriften,  die  er  nach  einer  vorsichtigen  Arbeitsanweisung  von 
Realschülern  erlangte,  unter  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  und  er- 
hielt dabei  u.  a.  die  folgenden  Ergebnisse. 

L  Das  der  ersten  Einzelerinnerung  unserer  Versuchspersonen  zugrunde  liegende 
Ereignis  oder  Ding  ist  nur  relativ  als  „bedeutend"  zu  bezeichnen;  für  Kinder 
können  ganz  belanglose  Vorkommnisse  und  Gegenstände  große  Bedeutung  haben. 

2.  Die  Außenwelt  beschäftigte  unsere  Versuchspersonen,  als  sie  noch  kleine 
Kinder  waren,  mehr  ajs  ihre  eigene  Person. 

3.  Der  Erinnerungsinhalt  muß  nicht  stets  von  sehr  kurzer  Dauer  sein ;  er  kann 
sich  über  Stunden,  Tage  und  sogar  Wochen  erstrecken. 

4.  Die  früheste  erste  Einzelerinnerung  unserer  Versuchspersonen  datiert  aus 
dem  zweiten,  die  späteste  aus  dem  neunten  Lebensjahre,  das  Durchschnitts- 
alter aller  Erinnerungen  fällt  gegen  das  Ende  des  vierten  Jahres.  In  die  Zeit 
vor  der  Geschlechtsreife  fallen  in  das  zweite  und  dritte  Lebensjahr  relativ  nicht 
so  viele  Einzelerinnerungen  wie  während  und  nach  derselben. 


^)  Vgl.  Kammel,  Die  erste  Einzelerinnerving.     Leipzig  1913.    Verlag  Quelle  u. 
Meyer. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteiliingen.  205 

5.  Unter  den  Sinnestypen  ist  der  visuelle  Typus  am  stärksten  vertreten. 

6.  Die  Ereignisse,  welche  deii  168  Schüleraufzeiclinungen  mit  einer  Äußerung 
des  Gemütslebens  zugrunde  liegen,  sind  in  der  Mehrzahl  von  den  Kindern  als 
erregende  Tatsachen  aufgefaßt  worden. 

7.  Unter  diesen  168  gemütsbetonten  Elaboraten  sind  die  unangenehmen  Ge- 
mütszustände zahlreicher  als  die  angenehmen.  Während  des  zweiten  mid  dritten 
Lebensjahres  ist  die  Anzahl  der  Einzelerinnerungen  mit  einer  Äußerung  des 
Gremütslebens  vor  dem  Eintritte  der  Greschlechtsreife  bedeutend  geringer  als 
während  und  nach  derselben. 

Eine  Elternbelehrung  über  die  Versuchsklassen  im  Elementarunterrichte 

hat  in  gemeinverständlicher  Form  der  Preßausschuß  des  Dresdner  Lehrervereins 
abgefaßt  und  verbreitet;  sie  lautet: 

Arbeit  oder  Spielerei? 

In  verschiedenen  Orten  Deutschlands  hat  man  Versuchsklassen  einge- 
richtet, in  denen  die  kleinen  Schulneulinge  im  Sinne  der  ,, Arbeitsschule"  unter- 
richtet werden.  Die  Kinder  müssen  nicht  gleich,  lesen  und  schreiben,  sondern  sie 
werden  vor  allem  mit  Malen,  Zeichnen,  Formen,  Ausschneiden,  Papierfalten  und 
Stäbchenlegen,  mit  dem  Erzählen  von  Geschichten,  mit  dem  Lernen  von  Kinder- 
reimen und  Kinder] iedchen  beschäftigt;  sie  betrachten  Bilder,  sie  spielen  im 
Schulhofe,  bauen  im  Sande,  verrichten  kleine  Arbeiten  im  Schulgarten  und 
haben  auch  sonst  viel  Unterricht  im  Freien. 

Nun  hört  man  nicht  selten  das  Urteil:  das  alles  ist  weiter  nichts  als  ein  Zu- 
geständnis der  Pädagogik  an  die  moderne  Humanitätsduselei,  diese  Art  des 
Unterrichts  ist  nicht  ernste  Arbeit,  sondern  Spielerei.  Wer  die  ganze 
Sache  nur  von  außen  her  betrachtet,  kann  auf  solche  Gedanken  wohl  kqmmen. 
Wer  jedoch  das  Wesen  dieses  Unterrichtsbetriebes  genauer  kennt,  der  weiß,  daß 
es  sich  dabei  nicht  um  Spielerei  handelt,  sondern  um  allergründlichste  Lern- 
arbeit. 

Alle  Grundvorstellungen,  Grundbegriffe  und  Grundfertigkeiten  des  Sprechens, 
Singens,  Lesens,  Schreibens,  Rechnens  und  Denkens  werden  dabei  gewonnen, 
nur  auf  einem  anderen  Wege :  nicht  so  wie  früher,  wo  Wort  und  Bild  den  ganzen 
Unterricht  beherrschten,  sondern  durch  steten  Umgang  mit  den  Dingen 
selbst.  Die  Dinge  werden  angeschaut,  begriffen,  benannt,  beschrieben,  gemalt, 
geformt,  zerlegt,  zusammengesetzt,  aneinandergereiht,  geteilt,  gezählt,  verviel- 
fältigt und  auf  alle  mögliche  Art  verwertet  und  verwendet.  Am  Ende  des  zweiten 
oder  dritten  Jahres  ist  man  an  demselben  Ziele  wie  früher.  Das  Kind  lernt  viel- 
leicht nicht  so  viel  auf  einmal  wie  bisher,  vielleicht  auch  nicht  so  rasch,  dafür 
aber  gründlicher  und  vor  allem  natürlicher  und  kindlicher.  Der  größte 
Teil  der  Kenntnisse  ist  nicht  äußerlich  angelernt,  sondern  durch  eigenes  Be- 
obachten, Untersuchen  und  Darstellen  tatsächlich  erlebt,  erfahren,  er- 
arbeitet. Obwohl  sich  die  Versuche  mit  diesem  ,, schaffenden  Lernen"  erst 
über  wenige  Jahre  erstrecken,  ist  doch  schon  deutlich  erkennbar,  daß  das  Ver- 
hältnis zwischen  Lehrern  und  Schülern  viel  vertraulicher  ist,  daß  sich  die  Kinder 
durchschnittlich  besser  entwickeln  und  die  Zahl  der  Sitzenbleiber  auffällig 
zurückgeht. 


206  Kleine  Beiträge  tind  Mitteilungen. 

Auch  in  anderer  Beziehung  ist  dieser  neue  Elementarunterricht  von  größter 
Bedeutung  für  das  Kind.  Bisher  war  der  Übergang  vom  Spiel  zur  Schularbeit, 
von  der  größten  Beweglichkeit  des  Körpers  und  Geistes  zum  Stillsitzen,  zum 
Aufmerken  und  Zuhören,  vom  Umgang  mit  lebendigen  Dingen  zur  Beschäftigung 
mit  toten  Zahlen,  Buchstaben,  Begriffen  und  schweren  Sprüchen  viel  zu  un- 
natürlich, zu  sprunghaft,  zu  unvermittelt.  Und  das  schadete  vielen  Kindern 
nicht  selten  an  der  Gesundheit;  Störungen  in  Ernährung,  Blutumlauf,  Wachs- 
tum, Schlaf  und  Nerventätigkeit  traten  auf.  Die  Arbeitsschule  stellt  den 
natürlichen  Übergang  vom  freien  Spiel  zu  geregelter  Arbeit  her 
durch  engste  Anknüpfung  des  Unterrichts  an  die  bisherige  Lebens-,  Anschau- 
ungs-  und  Denkweise  des  Kindes.  Und  so  wird  sich  die  Arbeitsschule  nicht  bloß 
für  die  geistige  Entwicklung,  sondern  auch  für  die  körperliche  Gesundheit  des 
Kindes  als  ein  segensreicher  Fortschritt  erweisen. 


Literaturbericht. 

Schriften   zur  Soziologie   der    Kultur.     Herg.  von  Alfred  Weber,  Heidel- 
berg.    Verlegt  bei  Eugen  Diederichs,  Jena. 

I.  Band.  Hans  Staudinger:  Individuum  und  Gemeinschaft  in  der  Kultiu*- 
organisation  des  Vereins.  1.  Teil:  Formen  imd  Schichten,  dargestellt  am  Werdegang 
der  musikalisch-geselligen  Organisation.  2.  Teil:  Schichten  und  Welten  heutiger 
Zeit.    1913.  VIu.  173  S.,  br.  3,50  M.,  geb.  4,70  M. 

n.  Band.  P.  A.  Glasen:  Der  Salutismus.  Eine  sozialwissenschaftliche  Mo- 
nographie über  General  Booth  und  seine  Heilsarmee.  1913.  XX  u.  329  S.,  br. 
4,50  M.,  geb.   5,70  M. 

III.  Band.  Emilie  Altenloh:  Zur  Soziologie  des  Kino.  Die  Kinounter- 
nehmung und  die  sozialen  Schichten  ihrer  Besucher.  1914.  102  S.,  br.  2,50  M., 
geb.  3,50  M. 

Wenn  ich  diese  Schriften  zur  Soziologie  der  Kultur  in  einer  pädagogischen  Zeit- 
schrift anzeige  tmd  bespreche,  so  möchte  ich  damit  der  Ansicht  Ausdruck  geben, 
daß  eine  Kenntnisnahme  dieser  Schriften  vom  Standpunkt  des  Erziehers  aus  sehr 
wünschenswert  ist.  Sicherlich  geht  die  Absicht  dieser  Sammlung  nicht  auf  Unter- 
suchungen, die  unmittelbar  pädagogische  Einsichten  liefern,  aber  unter  zwei  Gesichts- 
punkten sind  diese  Bände  doch  für  den  Erzieher  von  Wichtigkeit.  Einmal  nämlich 
fallen  tatsächlich  in  allen  drei  Schriften  bedeutsame  Einsichten  pädagogischer  Art 
ab  für  denjenigen,  der  sie  zu  finden  weiß.  So  finden  wir  im  ersten  Bande  eine  Analyse 
der  Arbeitersphäre,  die  demjenigen,  der  sich  erzieherisch  mit  Kindern  dieser  Schicht 
zu  befassen  hat,  nicht  miwichtige  Aufschlüsse  geben  wird.  Wir  finden  im  zweiten 
Bande  eine  Untersuchung  über  die  Gründe  des  Erfolges  der  Heilsarmee,  und  aus  der 
von  ihr  angewandten  Methode  ergeben  sich  wieder  pädagogische  Einsichten ;  und  der 
Kinematograph  endlich  ist  in  der  Gegenwart  so  sehr  ein  pädagogisches  Problem, 
daß  es  keines  besonderen  Hinweises  auf  die  Wichtigkeit  dieser  Schrift  für  den  an 
erzieherischen  Fragen  Interessierten  bedarf.  Der  wichtigere  Gesichtspunkt  aber 
scheint  mir  der  zweite  zu  sein,  auf  den  ich  jetzt  hinweisen  will.  Denn  daß  sich  un- 
mittelbare pädagogische  Lehren  in  diesen  Schriften  finden  ist  ein  Zufall  der  Thema- 
wahl. Es  werden  sicher  auch  Bände  folgen,  die  solche  Einsichten  nicht  bringen. 
Was  aber  allen  diesen  Schriften  gemeinsam  sein  wird,  das  ist,  daß  sie  Licht  ver- 
breiten über  diejenigen  Gebilde,  mit  denen  sich  jeder  Mensch  in  seinem  Leben  aus- 
einanderzusetzen hat.  Und  wenn  man  die  Pädagogik  nicht  nur  unter  dem  Gesichts- 
punkt der  Schulpädagogik  treibt,  so  ist  es  wohl  eine  ihrer  wesentlichen  Aufgaben, 
selbst  zu  den  Kulturfaktoren  der  Zeit  Stellung  zu  nehmen  und  den  Zöglingen  eine 


Literaturbericht.  207 


solche  Stellungnahme  zu  ermöglichen.  iVIindestens  so  wichtig  wie  die  Kenntnis  der 
pädagogischen  Methoden  ist  das  Wissen  um  die  Ziele  der  Erziehung,  iind  zu  einer 
begründeten  Stellungnahme  in  diesen  Fragen  können  uns  die  vorliegenden  Schriften 
verhelfen.  Gleich  der  erste  Band  hat  es  mit  einem  Thema  zu  tvm,  das  von  sehr  we- 
sentlicher Bedeuttmg  ist  für  alle  Erziehung.  Welche  Stellung  kommt  dem  Individuum 
der  Gemeinschaft  gegenüber  zu  ?  Der  Verfasser  vertritt  den  Standpunkt,  daß  die 
Kultur  des  Individualismus  nur  eine  vorübergehende  ist,  die  den  Todeskeim  in  sich 
trägt  und  wieder  abgelöst  werden  wird  von  einer  Kultvu",  in  der  die  Gemeinschaft  den 
Einzelnen  mit  seinem  ganzen  Denken  und  Trachten  umfassen  wird.  Am  zweiten 
Bande  erscheint  mir  das  Wichtigste  und  Interessanteste  die  eigentliche  Verbtmden- 
heit  von  Religion  und  sozialer  Wirksamkeit  in  der  Heilsarmee.  Diese  Verbindung  ist 
ja  nicht  selten,  aber  in  dieser  Organisation  hat  sie  eine  Ausprägung  erhalten,  die 
gewiß  nicht  alltäghch  ist.  Glasen  versteht  es  auch,  seiner  Darstellung  eine  Lebendig- 
keit zu  geben,  die  die  Lektüre  dieses  Buches  zu  einem  besonderen  Genuß  macht. 
Erstaunlich  ist  dabei  seine  weitgehende  Belesenheit  auf  dem  Gebiet  des  Salutismus, 
die  nicht  nur  aus  dem  Literaturverzeichnis  hervorgeht,  sondern  auch  dem  Text  zugute 
gekommen  ist.  Zu  einem  begründeten  Urteil  über  die  Heilsarmee  berechtigt  ihn  wohl 
besonders  der  Umstand,  daß  er  Gelegenheit  gehabt  hat,  nicht  nur  persönUch  an  den 
Veranstaltungen  der  Armee  teilzunehmen  und  ihre  Einrichttingen  zu  besuchen, 
sondern  auch  in  der  Uniform  eines  Heilsarmeeoffiziers  an  den  Streifzügen  teilzu- 
nehmen, die  diese  Pioniere  der  Barmherzigkeit  in  Gegenden  und  Häuser  führt,  die 
der  nicht  zu  den  Verbrecherkreisen  zählende  Mensch  sonst  ängstlich  vermeidet. 
Hier  hat  er  Gelegenheit  gehabt,  an  Ort  und  Stelle  Tätigkeit  vmd  Wirksamkeit  der 
Salvation-Army  zu  studieren. 

Die  Soziologie  des  Kinos  bringt  uns  im  wesentlichen  Aufklärungen  über  den  Zu- 
sammenhang des  Geschmacks  der  Kinobesucher  und  des  Programms  der  Lichtspiel- 
theater. Es  hat  sich  gezeigt,  daß  die  Wünsche  der  Kinobesucher  durchaus  verschieden 
sind.  Ziehen  bei  den  einen  mehr  die  Räuberstücke,  so  sind  es  bei  den  anderen  die 
Asta-Niolsendramen ;  es  sind  aber  auch  ganz  äußerliche  Faktoren,  die  am  Kino  ge- 
schätzt werden.  So  scheint  es,  daß  der  verdunkelte  Raiun  auf  die  jüngeren  Besucher, 
die  meistens  „in  Begleitung"  in  den  Kino  gehen,  eine  nicht  geringe  Anziehungskraft 
ausübt,  und  auch  die  mehr  oder  minder  große  Bequemlichkeit  der  Einrichtvmg  des 
Lichtspieltheaters  scheint  für  den  Besuch  ausschlaggebend  zu  sein.  Im  Großen  und 
Ganzen  liegt  die  Sache  wohl  so,  daß  nur  in  einem  gewissen  jugendlichen  Draufgänger- 
alter, und  zwar  besonders  bei  den  Knaben,  der  Kino  Selbstzweck  ist.  Für  die  älteren 
Leute  scheint  es  sich  mehr  um  eine  leichte  Unterhaltung  zu  handeln,  die  sie  suchen 
imd  für  die  der  lüno  nur  deshalb  in  Betracht  kommt,  weil  er  eben  am  bequemsten 
imd  billigsten  zugänglich  ist. 

Auf  Einzelheiten  kann  ich  hier  nicht  weiter  eingehen.  Aber  die  Wichtigkeit  des 
ganzen  Unternehmens  möchte  ich  noch  einmal  betonen,  das  Untersuchungen  bringt, 
an  denen  niemand  gleichgültig  vorübergehen  darf,  der  eine  selbständige  Stelhmg  zu 
den  Kulturerscheinungen  xmserer  Zeit  sucht,  am  wenigsten  also  der  Pädagoge,  der 
sogar  andere  zu  einer  solchen  Stollvmgnahme  befähigen  will. 

]\Tr;n(hon.  Dr.  Werner  Bloch 

Ladislaus  Nagy,  Psychologie  des  kindlichen  Interesses,  Übersetzung  aus  dem 
Ungarischen.  Pädag.  Monographien,  Bd.  IX.  L.  1912.  IV  u.  191  S.  Preis  geh. 
5,80  M.,  geb.  7,30  M. 

Der  Verf.  vmtorsxicht  den  Begriff  des  Interesses  nach  seinem  Wesen  und  seiner 
Bedeutung  für  die  Erziehung  und  den  Unterricht  und  handelt  so  nacheinander 
1)  über  Theorie  des  Interesses;  2)  Entwicklung  des  Interesses  nach  ihren  besonderen 
Stufen;  3)  Motive  des  Interesses;  4)  da«  Interesse  des  Kindes  und  der  Unterricht, 
6)  die  Individualität  des  Kindes  und  das  Interesse. 

Von  den  auf  gründlichen  Studien  und  reicher  praktischer  Erfahrung  beruhen- 
den Atisführungen  kommt  \mtor  dem  Gesichtspunkt  der  pädagogischen  Psychologie 
hauptsächlich  der  erste  Abschnitt  in  Betracht,  in  dem  der  Verf.  den  Begriff  des  Inter- 
esses festzustellen  sucht.     Nach  einem  geschichtlichen  Überblick  über  die  diesen 


208  Literaturbericht. 


Begriff  betreffenden  Theorien  (ältere  Pädagogen,  Kant,  Herbart,  Rein,  Kern,  Oster- 
raann,  Fehneri,  Claparede,  Alexander  Peres)  bietet  er  eine  eigene  zusammenfassende 
Definition  des  Interesses. 

Als  grundlegend  bezeichnet  er  für  den  Begriff  des  Interesses  nicht  die  darin 
enthaltenen  Vorstellungs-  und  Willenselemente,  sondern  (nach  dem  Vorgange  von 
Ostermann)  das  Gefühl,  in  dem  die  unmittelbare  Offenbarung  der  Energie 
geistigen  Lebens  zu  erkennen  ist.  Genauer  gesagt,  kennzeichnet  dies  Gefühl  sich 
dadurch,  daß  es  mit  dem  Selbstbewußtsein  innerhch  verknüpft  erscheint.  „Von  all 
dem,  was  uns  interessiert,  fühlen  wir,  daß  es  mit  unserem  Ich  aufs  innigste  verbunden 
ist."  Biologisch  (nach  Claparede)  ausgedrückt,  läßt  sich  dieser  innere  Zusammen- 
hang als  durch  eine  Bedürfnisempfindung  bedingt  erklären.  Im  Unterschiede  von 
andern  qualitativen  Gefühlen  charakterisiert  sich  das  Interessegefühl  durch  die  an 
dasselbe  anknüpfenden  Werturteile.  Zu  dem  Gedanken  der  Wertschätzung 
muß  aber,  wenn  er  das  Gefühl  des  Interesses  begründen  soll,  das  Moment  der  Kau- 
saUtät  hinzutreten.  ,,Was  uns  interessiert,  halten  wir  nicht  nur  für  wertvoll,  sondern 
momentan  auch  für  ursächlich,  indem  es  unser  Bedürfnis  zu  stillen  vermag."  Und 
zwar  ist  Bedürfnis  hier  vorzugsweise  im  geistigen  Sinne  zu  verstehen,  im  Sinne  der 
Bereicherung  unseres  Selbstbewußtseins. 

Es  fragt  sich  mm,  wie  das  Verhältnis  des  so  bestimmten  Interesses  zvmi  Willen 
zu  denken  ist.  Die  Wirkung  auf  denselben  kann  sich  in  zwiefacher  Richt\ing  äußern, 
in  einer  äußeren  vmd  inneren  Betätigung.  Je  nachdem  imterscheidet  der  Verf.  eine 
aktive  (praktische  ?)  und  eine  geistige  (theoretische  ?)  Form  des  Interesses.  Letztere, 
die  für  uns  vornehmlich  in  Frage  kommt,  bekundet  sich  darin,  daß  ,,die  während 
des  Interesses  entspringenden  Empfindungen,  Vorstellungen  und  Vorstellungsver- 
knüpfungen auf  eine  möglichst  hohe  Stufe  der  Klarheit  hinanstreben".  Weiter  wird 
eine  unmittelbare  und  mittelbare  Form  des  Interesses  gesondert,  von  denen  die 
erstere  nach  der  Lehre  des  Verf.  auf  einer  äußerlichen,  die  letztere  auf  einer  inneren 
Betätigung  beruht. 

Als  höchste  Entwicklungsformen  des  Bewußtseins  werden  schUeßlich  neben  der 
ausgebildeten  Richtung  des  Interesses  noch  der  Charakter  und  der  Geist  aufgeführt, 
ohne  daß  in  dieser  Beziehung  eine  streng  methodische  Ableitxong  versucht  wird. 

Wir  können  in  der  hier  gebotenen  Darlegung  allerdings  eine  scharfsinnige  er- 
kenntnistheoretische Erörterung  des  Begriffs  des  Interesses  erkennen,  indem  dieser 
Begriff  nach  seinem  gesamten  Inhalte  klargestellt  wird.  Es  fragt  sich  indessen,  wie 
alle  die  verschiedenen  Elemente,  die  jener  Begriff  umfaßt,  sich  zu  der  einheitlichen 
komplexen  Bewußtseinserscheinung  zusammenschheßen  sollen,  wie  sie  das  Interesse 
als  aktuelle  Bewußtseinsfunktion  doch  darstellt.  Wie  dies  zu  denken  ist,  könnte  nur 
in  der  Weise  nachgewiesen  werden,  daß  wir  das  Interesse  psychologisch  aus  seinem 
Grundfaktor  unter  Berücksichtigung  seiner  einzelnen  Entwicklungsmomente  abzu- 
leiten suchen.  Dabei  müßte  auch  die  Entwicklungslehre,  die  der  Verf.  bei  der  Er- 
örterung der  verschiedenen  den  Gegenstand  behandelnden  Theorien  unbeachtet  läßt, 
mit  herangezogen  werden.  Bei  einer  derartigen  psychologischen  Ableitung  wird  für 
uns  gerade  die  Psychologie  Wundts  in  Betracht  kommen. 

In  welcher  Richtung  sich  jedoch  eine  solche  Ableitung  zu  bewegen  hätte,  mag 
an  einer  anderen  Stelle  dargelegt  werden. 

Heidelberg.  A.  Hut  her. 

H.  Siercks,  Jugendpflege.  Leipzig  1913,  Sammlung  Göschen  Nr.  714.  127  S, 
Dies  Bändchen  ist  von  einem  Autor  verfaßt,  der  jalirelang  in  der  Praxis  der 
Jugendpflege  gestanden  hat.  Es  berichtet  kurz  über  die  Notwendigkeit  der  Jugend- 
pflege, ihren  allgemeinen  Charakter  und  ihre  besonderen  Aufgaben  und  ausführlicher 
über  deren  bisherige  Lösungsversuche  mit  besonderer  Hervorhebung  der  Gegenwart. 
Das  Schriftchen  ist  eine  treffliche  Einführung. 

Leipzig.  Johannes  Kühnel. 


"LO^ 


Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusammenhang 

mit  der  Aufklärung. 

Von  Ernst  v.  Aster. 

Johann  Gottlieb  Fichte  gehört  zu  denjenigen  Persönlichkeiten,  die 
für  den  engen  Zusammenhang  von  Pädagogik  und  Philosophie  bedeutsam 
und  lehrreich  sind.  Daß  sein  Name  in  der  Geschichte  der  Pädagogik  nicht 
übergangen  werden  darf,  ist  klar,  aber  ebenso,  worin  seine  Bedeutung  für 
die  Pädagogik  liegt  und  worin  sie  nicht  liegt:  Es  sind  nicht  pädagogische 
Einzelfragen,  Probleme  der  Didaktik  oder  der  Erziehungskunst,  in  denen  er 
Neues  und  Wichtiges  geleistet  hätte,  sondern  es  ist  ein  neues  Erziehungs- 
ideal, eine  neue  Fassung  des  allgemeinen  Erziehungsziels,  die  er  seinerzeit 
vor  Augen  stellt  und  durch  die-  er  der  Pädagogik  neue  und  unverlierbare 
Gesichtspunkte  gegeben  hat.  Dies  Erziehungsideal  aber  hängt  aufs  engste 
mit  seiner  Philosophie  zusammen;  es  ist  eine  unmittelbare  Konsequenz 
seiner  Auffassung  von  der  Bestimmung,  der  Aufgabe  des  Menschen,  der 
Stellung  der  Persönlichkeit  zur  Umwelt,  zur  Welt  der  Objekte  und  Mit- 
menschen. Es  ist  die  neue  Ansicht  vom  Wesen  der  Persönlichkeit  und  ihrem 
Verhältnis  zur  Gesellschaft,  die  das  neue  Erziehungsideal  in  sich  schließt; 
der  Umschwung  in  der  philosophischen  Weltansicht,  der  der  Pädagogik 
ihren  neuen  Gesichtspunkt  gibt. 

Damit  ist  freilich  nicht  gesagt,  daß  Fichte  der  alleinige  Urheber  dieses 
Umsch^vungs  in  philosophischer  und  pädagogischer  Hinsicht  ist  —  in  beiden 
Hinsichten  haben  wü*  mit  ihm  zusammen  vor  allen  Dingen  Kant,  in  letz- 
terer, um  nur  einen  zu  erwähnen,  auch  Pestalozzi  zu  nennen.  Aber  die 
neue  Auffassung  von  Individuum  und  Gesellschaft  und  das  neue  Erziohungs- 
ideal  findet  m.  M.  n.  nirgends  so  scharf  und  klar  umrissen  ihre  begriffliche 
Formulierung  als  bei  Fichte. 

Das  wesentlich  Neue  der  Fichteschen  Anschauung  vom  Wesen  und  der 
Aufgabe  der  Persönlichkeit  nun  tritt  am  deutlichsten  zutage,  wenn  wir  sie 
mit  derjenigen  der  vorausgegangenen  Periode,  also  mit  der  Philosophie  der 
Aufklärung  vergleichen,  wenn  wir  sie  uns  in  ihrem  Gegensatz  zur  Auf- 
klärung vergegenwärtigen.  Die  Art,  wie  Fichte  selbst  die  Aufklärung  und 
sein  Verhältnis  zu  ihr  ansieht,  zeigt  bekanntlich  eine  merkwürdige  Wand- 
lung. In  seinen  Jugendschriften  —  in  den  Schriften  zur  Verteidigung  und 
Verherrlichung  der  französischen  Revolution  etwa  —  sieht  Fichte  in  der 
Aufklärung  durcliaus  eine  wertvolle,  erfreuliche  Erscheinung.  Er  steht  hier 
ganz  auf  dem  Standpunkt,  den  Kant  zeitlebens  festgehalten  hat:  Die  Auf- 

ZeiUchrift  f.  p&dagog.  Psychologie.  14 


210     Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusanunenhang  usw. 

klärung  ist  ebenso  wie  die  französische  Revolution  eines  der  Zeichen,  daß 
die  Entwicklung  der  Menschheit  im  Aufsteigen  begriffen  ist,  daß  es  einen 
historischen  Fortschritt  gibt;  sie  ist  also  selbst  eine  Epoche,  in  der  der 
menschliche  Geist  einen  Schritt  aufwärts  und  vorwärts  getan  hat.  In  den 
Schriften  der  Spätzeit  —  in  den  ,,  Grundzügen  des  gegenwärtigen  Zeitalters" 
etwa  —  wird  die  Aufklärung  zur  Zeit  des  Niederganges,  des  Tiefstandes 
der  Entwicklung,  zur  Zeit  der  Zerstörung,  des  Negativismus,  zur  Zeit  der 
,, Freiheit  im  leeren  Sinn".  Freilich  ist  auch  diese  Epoche  wie  jede  Epoche 
ein  notwendiger  Durchgangspunkt  der  Entwicklung  der  Menschheit, 
aber  eben  nur  als  Durchgangspunkt  sinnvoll;  für  sich  genommen  stellt 
die  Aufklärung  im  damaligen  Fichteschen  Sprachgebrauch  den  Gegner  dar, 
den  Hauptgegner,  gegen  den  er  sich  wendet. 

Woher  dieser  merkwürdige  Wechsel?  Es  ist  sicher  zum  Teil  der  alte 
tiefe  Gegensatz  zwischen  Aufklärung  und  Romantik,  der  hier  aus  Fichte 
spricht,  der  Einfluß  des  Romantiker kreises,  unter  dem  er  seit  seinem  Weg- 
gang von  Jena  steht.  Aber  es  ist  sicherlich  nicht  ausschließlich  dieser  Ein- 
fluß: Er  würde  nicht  in  dieser  scharfen  Form  zutage  getreten  sein,  wenn 
der  Gegensatz  nicht  latent  von  Haus  aus  in  der  Fichteschen  Philosophie 
gelegen  hätte.  Auf  der  andern  Seite  aber  ist  jener  anfängliche  Anschluß 
Fichtes  an  die  Aufklärung  auch  nicht  nur  auf  eine  äußere  Einwirkung  etwa 
Kants  oder  auf  die  packende  Wirkung  der  französischen  Revolution  zurück- 
zuführen, sondern  er  weist  darauf  hin,  daß  eben  auch  —  trotz  aller  späteren 
leidenschaftlichen  Bekämpfung  —  gewisse  Wurzeln  der  Fichteschen  Philo- 
sophie in  der  Aufklärung  stecken.  — 

Wirft  man  einen  flüchtigen  Gesamtblick  auf  die  Art,  wie  sich  für  die 
Philosophie  und  Wissenschaft  der  Aufkläi'ung  —  ich  nehme  das  Wort  hier 
zunächst  in  dem  weitesten  Sinn,  in  dem  es  die  im  Grunde  so  einheitlich  ver- 
laufende ganze  philosophische  Entwicklung  vom  Anfang  des  17.  bis  zum 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  bezeichnet  —  das  staatliche,  soziale,  gesellschaft- 
liche und  historische  Leben  darstellt,  so  drängt  sich  ein  gemeinsamer  cha- 
rakteristischer Zug  auf:  Die  Neigung,  alle  staatlichen,  sozialen  und  gesell- 
schaftlichen Gebilde  in  eine  Summe  von  Individuen  aufzulösen.  Diese  In- 
dividuen haben,  letzten  Endes  durch  Willkürhandlungen,  die  staatlichen 
Institutionen,  die  gesellschaftlichen  Verbände  geschaffen  —  man  denke  an 
die  Theorie  des  Gesellschafts  Vertrages,  durch  den,  letzten  Endes  aus  ver- 
standesmäßigen Überlegungen  heraus,  die  Menschen  dem  ursprünglichen 
gesetzlosen  Zustand  des  Kampfes  aller  gegen  alle  ein  Ende  gemacht  haben. 
Das  Ineinandergreifen  ihrer  Handlungen  macht  das  Ganze  der  Geschichte 
aus,  die  Geschichte  ist  nichts  anderes  als  ein  Verlauf  menschlicher  Hand- 
lungen, die  eben  Handlungen  einzelner  Individuen  sind.  Diese  Individuen 
selbst  aber  sind  durchgehend  gleichartig,  nach  demselben  Schema  gebaut; 
ihre  Handlungen  entspringen  überall  denselben  Motiven,  sie  sind  die  überall 
gleichartigen  Elemente  des  geistigen  Lebens. 

Es  läßt  sich  unschwer  zeigen,  sei  jedoch  an  dieser  Stelle  nur  angedeutet, 
daß  diese  Theorie  des  gesellschaftlichen  und  historischen  Lebens  in  der 
Aufklärung  mit  ihrem  allgemeinen  Erkenntnisideal  zusammenhängt.  Alles 
Erkennen  verlangt  dem  zu  erkennenden  Gegenstand  gegenüber  nach  der 


Fichtes  Auffassung  vom  Erziehiuigsziel  und  ihr  Zusammenliang  usw.     211 

Auffassung,  die  man  vom  Wesen  der  Erkenntnis  hat,  zweierlei:  Zunächst 
ein  Zerlegen  derselben  in  seine  letzten  Elemente,  die  nicht  weiter  zerlegbar, 
nicht  weiter  zurückführbar  sind  (analgetisches  Verfahren),  und  dann  ein 
Aufbauen  des  Gebietes  aus  diesen  Elementen,  ein  Verstehen  des  Ganzen 
aus  dem  Zusammenwirken  seiner  letzten  klar  unterscheidbaren  Elemente 
(synthetisches  Verfahren),  Kennen  wir  die  Elemente  und  ihre  Beziehungen 
vollständig,  so  muß  es  möglich  sein,  das  Ganze  ,,klar  und  deutlich"  durch- 
schaubar zu  machen,  alle  Verworrenheit  aus  seiner  Auffassung  zu  entfernen, 
seine  Eigenschaften  so  restlos  und  einsichtig  zu  erkennen,  wie  wir  die  Eigen- 
schaften einer  Zahl  restlos  erkennen,  indem  wir  sie  als  bestimmte  Summe 
einer  Anzahl  von  Einheiten  denken:  Die  Mathematik  ist  ja  das  Vorbild, 
das  Muster  der  Klarheit  und  Deutlichkeit.  Das  Ganze  enthält  nicht  mehr 
als  die  Summe  der  Teile:  Dieser  für  die  Aufklärung  selbstverständliche 
Grundsatz  enthält  im  Kern  den  Gegensatz,  der  zwischen  der  Erkenntnis- 
theorie der  Aufklärung  und  der  dialektischen  Methode  der  Nach- Kantischen 
Philosophen  besteht.  Der  Sinn  der  dialektischen  Methode  liegt  eben  darin, 
daß  sie  aus  der  vorausgesetzten  Thesis  und  Antithesis  in  der  Synthesis  ein 
Neues,  Etwas,  das  ein  Mehr  enthält,  einsichtig  entstehen  lassen  will. 

Aus  dieser  Auffassung  des  gesellschaftlichen  und  historischen  Lebens 
in  der  Aufklärung  aber  ergibt  sich  nun  selbstverständlich  eine  individua- 
listische Ethik.  Gibt  es  im  Grunde  in  Staat,  Gesellschaft  und  Geschichte 
nichts  weiter  als  menschliche  Individuen,  so  kann  auch  der  Sinn  und  Zweck 
des  Lebens  nur  im  Individuum  hegen,  in  der  Ausgestaltung  des  individuellen 
Lebens  der  einzelnen  Persönlichkeit,  das  die  ethische  Überlegung  daher 
auch  allein  zum  Gegenstand  der  Untersuchung  macht.  Im  wesentlichen 
verkörpert  sich  nun  diese  individualistische  Ethik  der  Aufklärung  in  zwei 
entgegengesetzten  Richtungen.  Von  der  einen  Seite  wird  der  Begriff  der 
Glückseligkeit,  der  ,, wahren",  ,, wirklichen"  Glückseligkeit  in  den  Mittel- 
punkt gestellt.  Als  Ziel  erscheint  ein  Leben  mit  möglichst  viel  Lust  und 
wenig  Unlust,  das  Ziel  unseres  Strebens  kann  nur  Lust  und  ein  Leben  mit 
möglichst  viel  Lust,  aber  nur  erfüllt  von  solcher  Lust  sein,  der  keine  Unlust, 
keine  Ernüchterung,  keine  Reue  folgt.  Von  der  andern  Seite  wird  der  Be- 
griff der  Vollkommenheit  zum  ethischen  Grundbegriff  gemacht:  Das 
Ziel  des  Lebens  ist,  seine  Anlagen  möglichst  vollkommen  zu  entwickeln, 
ein  harmonisches  Ganzes  aus  seinen  Motiven,  Strebungen,  Gefühlen  zu 
machen.  Für  beide  Formen  der  Aufklärungsethik,  den  individualistischen 
Eudämonismus  und  der  Vollkommenheitsethik,  entsteht  nun  eine  unver- 
meidliche t>age:  Wenn  in  dieser  Weise  das  Ziel  des  Handelns  und  Wollens 
lediglich  in  das  eigene  individuelle  Leben  hineinverlegt  wird,  kann  es  dann 
Pflichten  gegen  andere  geben  ?  Die  Pflichten  gegen  andere  müssen  irgendwie 
auf  Pflichten  des  Menschen  gegen  sich  selbst  zurückgeführt  werden.  Diese 
Rückführung  geschieht  zum  Teil  auf  dem  Wege  plump  egoistischer  Über- 
legung, wie  sie  etwa  in  der  Idee  des  Hobbes'schen  Staatsvertrages  uns  ent- 
gegentritt: Ich  taste  Gut  und  Leben  des  Andern  nicht  an,  damit  er  mir 
nicht  das  Gleiche  tut;  zum  Teil  in  verfeinerter  Form  auf  dem  Umweg  über 
die  Sympathie  und  Mitleidsgcfühlc  des  Menschen,  die  so  gut  wie  die  egoisti- 
schen Triebe  nach  „Befriedigung"  verlangen,  deren  NichtVerletzung  zum 

14* 


212    Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusammenhang  usw. 


Glück  gehört ;  teils  endlich  durch  den  G-edanken,  daß  die  erstrebte  dauernde 
Lust  und  Vollkommenheit  gerade  am  besten  im  Zusammenstreben  mit 
andern  erreicht  wird.  In  jedem  Fall  ist  es  eine  angenommene  Harmonie; 
der  Begriff  der  Harmonie,  des  harmonischen  Ineinandergreif ens  der 
elementaren  Ursachen  ist  der  zweite  durchgehende  Grundbegriff  der  Auf- 
klärungsphilosophie neben  dem  Begriff  des  Elements  —  zwischen  der  Wohl- 
fahrt des  Einzelnen  und  der  Gesamtheit,  die  das  Problem  lösen  soll:  Wer 
für  sein  eigenes  Glück  klug  und  vorsichtig  sorgt,  wird  auch  von  selbst  für 
das  der  andern  sorgen,  wer  für  das  der  Andern  eintritt,  damit  zugleich  für 
das  eigne  arbeiten. 

Mit  alledem  sind  zugleich  die  Punkte  bezeichnet,  in  denen  sich  Fichtes 
Kritik  hauptsächlich  gegen  die  Aufklärung  wendet:  Die  Ersetzung  der 
echten  Gebote  der  PfÜcht  durch  eine  egozentrische  Klugheitsmoral  und 
die  flach  optimistische  Auffassung  sind  es,  die  er  ihr  vor  allem  zum  Vor- 
wurf macht. 

Aber  ehe  wir  zu  Fichte  selbst  übergehen,  müssen  wir  einen  Blick  auf  die 
Persönhchkeit  werfen,  die  zwischen  Fichte  und  der  Aufklärung  in  der  Mitte 
steht  und  ohne  die  Fichtes  Ethik  und  ganze  Philosophie  nicht  möglich  gewesen 
wäre:  auf  Kant.  Kant  teilt  mit  der  Aufklärung  die  Überzeugung,  daß  nur 
die  individuelle  Persönlichkeit  gut  sei,  d.  h.  einen  unbedingten  Wert  repräsen- 
tiere, End-  oder  Selbstzweck,  anstatt  bloßen  Mittels  sein  kann.  „Es  ist  nichts 
in  der  Welt,  ja  auch  außerhalb  derselben  zu  denken  möghch,  das  ohne  Ein- 
schränkung für  gut  könnte  gehalten  werden,  als  allein  ein  guter  Wille." 
Tote  Dinge  oder  Einrichtungen  und  Ordnungen  können  Mittel  zu  wertvollen 
Zwecken,  aber  nicht  Selbstzwecke,  gut  wozu,  aber  nicht  gut  an  sich  sein; 
ihre  Verwirklichung  kann  in  hypothetischen,  aber  nicht  in  einem  katego- 
rischen Imperativ  geboten  sein.  Auf  der  anderen  Seite  aber  wehrt  sich  Kant 
gegen  die  Vollkommenheits-,  wie  gegen  die  eudämonistische  Ethik  und  setzt 
nun  an  die  Stelle  des  Glücks eligkeits-  wie  des  Vollkommenheitsbegriffes 
einen  neuen  Begriff,  um  das  eigentliche  Ziel,  das  eigentlich  Wertvolle  der 
menschlichen  Persönlichkeit  zu  bezeichnen.  Dieser  Begriff  ist  der  Begriff 
der  Freiheit.  Freiheit  bedeutet  hier  natürhch  nicht  Zügellosigkeit  oder 
Gesetzlosigkeit,  sondern  Selbstbestimmung,  Selbstgesetzgebung,  Autono- 
mie, Beherrschung  der  eigenen  Strebungen  und  Handlungen  durch  feste, 
selbst  gewollte  Grundsätze.  Frei  also  ist  diejenige  Persönhchkeit,  die  ihre 
einzelnen  Handlungen  nach  allgemein  gültigen  Grundsätzen  reguliert,  d.  h. 
nach  solchen  Gesetzen,  von  denen  sie  will,  daß  sie  allgemein  und  für  jeder- 
mann Geltung  besäßen,  bei  der  der  bloße  Umstand,  daß  sie  etwas  allgemein, 
von  jedermann  befolgt  wissen  will,  bestimmende  Kraft  auch  für  das  eigene 
Wollen  besitzt.  Ein  bekanntes  Kantsches  Beispiel  kann  das  verdeutlichen. 
Ich  bin  in  Not  und  kann  mir  aus  dieser  Not  helfen,  indem  ich  ein  Versprechen 
gebe  (z.  B.  das  Versprechen  der  Rückgabe  eines  Darlehns),  von  dem  ich 
bestimmt  weiß,  daß  ich  es  nicht  werde  halten  können.  Darf  ich  ein  solches 
Versprechen  geben?  Um  diese  Frage  zu  beantworten,  richte  ich  an  mich 
selbst  die  Frage,  was  ich  in  diesem  Fall  allgemein  will.  Nun  ist  klar,  daß, 
wenn  jeder  Behebige  ein  Versprechen  geben  würde,  gleichgültig,  ob  er  es 
halten  will  oder  nicht,  es  sehr  bald  keine  Versprechen  mehr  geben  würde. 


Fichtes  Atiffasstmg  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusammenhang  usw.     213 

Ich  kann  also  allgemein  nur  entweder  wollen,  daß  es  überhaupt  keine  Ver- 
sprechen gibt :  Dann  darf  ich,  in  diesem  Fall  auch  keines  geben.  Oder  daß 
derjenige,  der  ein  Versprechen  gibt,  es  auch  ehrlich  halten  will.  Bestimme 
ich  mein  Handeln  im  einzelnen  Fall  aus  einer  solchen  allgemeinen  Überlegung 
heraus,  dann  ist  mein  "Wollen  ein  Wollen  aus  moralischer  Selbstgesetzgebung, 
ein  freies  Wollen.  Die  Freiheit  unterscheidet  zugleich  den  Menschen  vom 
Tier,  denn  das  Wollen  des  Tieres  bleibt  stets  ein  durch  den  momentanen 
Eindruck  hervorgerufenes  und  bestimmtes  Begehren  (ein  Wollen  „aus  Nei- 
gung"). Das  Tier  besitzt  keine  Vernunft  und  damit  kein  Bewußtsein  all- 
gemeiner Gesetze.  Endlich  —  und  damit  verankert  sich  Kants  Ethik  in  den 
letzten  prinzipiellen  Grundlagen  seiner  Philosophie  überhaupt  —  ist  es  die 
Freiheit,  die  Autonomie,  die  den  Menschen,  d.  h.  die  selbstbewußte  wollende 
Persönhchkeit  von  der  Welt  der  Dinge,  von  der  Natur,  das  Subjekt  vom 
Objekt  unterscheidet.  Die  Natur  ist  ein  in  sich  geschlossener  Kausalzu- 
sammenhang, d.  h.  jeder  Naturvorgang  ist  durch  die  ihm  vorausgehenden 
Bedingungen  eindeutig  und  unabänderlich  bestimmt,  ist  eine  Funktion  der 
Bedingungskonstellation,  unter  der  er  gerade  steht,  ist  abhängig  von  seiner 
raumzeitlichen  Umgebung.  Hier  gibt  es  nur  Kausalität  durch  Naturnot- 
wendigkeit, d.  h.  Bestimmtsein  durch  äußere  Faktoren,  nicht  Kausalität 
durch  Freiheit,  d.  h.  Selbstbestimmung.  Indem  also  der  Mensch  sich  zur 
Freiheit  erhebt,  realisiert  er  sein  von  allen  Naturdingen  innerlich  verschie- 
denes Wesen. 

Der  Freiheitsbegriff  steht  für  Fichte  von  Anfang  an  im  Mittelpunkt  der 
Kantschen  Philosophie,  wie  er  sie  betrachtet;  sie  ist  ihm,  so  lautet  eins 
seiner  ersten  Worte  über  Kant,  die  erste  Philosophie,  die  ihm  die  Fi'eiheit 
bemesen  hat.  Der  Gegensatz  von  Freiheit  und  Notwendigkeit,  von  Sub- 
jekt und  Objekt,  Person  und  Sache,  gibt  ihm  den  Gesichtspunkt,  unter 
dem  er  die  Kantische  Philosophie  betrachtet.  Seine  eigene  aber  soll  zunächst 
nichts  weiter  sein,  als  eine  Interpretation  und  Systematisierung  der  Lehre 
Kants. 

Und  in  der  Tat  stellt  die  Fichtesche  Freiheitsidee  und  die  auf  ihr  basierende 
Ethik  in  gewisser  Hinsicht  die  konsequente  Fortsetzung  der  Lehre  dar. 

In  drei  verschiedenen  Formen  kann  sich  das  menschliche  Wollen  der  Welt 
der  Objekte  gegenüberstellen,  drei  Stufen  kann  es  genauer  gesagt  ihr  gegen- 
über durchlaufen.  Die  unterste  Stufe  ist  die  des  bloßen  Begehrens  oder  des 
Tii(  lis,  (li<  Stufe,  auf  der  der  Mensch  nur  seinem  augenblicklichen  Be- 
dürfnis folgt,  dem  Begehren,  das  durch  den  Reiz  des  zufällig  in  seinen  Ge- 
sichtskreis Irctf'iiden  Objekts  hervorgerufen  wird.  Als  einziges  Lebensziel 
kennt  er  auf  dieser  Stufe  den  Genuß;  jedes  Begehren  ist  ein  Streben  nach 
Genuß,  das,  kaum  befriodiü-t,  oinem  neuen  Streben  Platz  macht.  Auf  dieser 
Stufe  gibt  es  offenbar  weder  Frcilieit  noch  Persönliclik(  ii  im  eigentlichen 
Sinn:  !).  !■  Mensch  ist  in  s  im m  Wollen  völlig  abhängig  von  dem  einzelnen 
(Hl),  kl  ;  sein  ganzes  Lehen  erhält  seinen  Inhalt  nur  durch  das  r\u'Av]w'  7,u- 
f.illn/  ihm  begegnende  olijeht.  Die  zweite  Stufe  ist  die  der  ,,Willlun",  d.  h. 
d'  IIS  nach  .M,.(  ht,  n.n  h   Ih  i ischaft.    An  diu  Stelle  des  bloßen  P.e- 

•r' ii'    I.      .echselndcr  (im  ;  sucbuns  nnch   Genuß,  nach  Befriedigung 

der  je\\i  lügen  Bedürfnis..'  ,  ,,ts  eine  Zi.  1  (h  r  lleiTscdialt  uln  v  die  Welt 


214:     Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusanamenhang  usw. 

der  Objekte.  Auf  dieser  Stufe,  die  sich  für  Fichte  später  in  der  Persönlich- 
keit Napoleons  gleichsam  verkörpert,  scheint  der  Mensch  als  freie  Persön- 
lichkeit über  dem  Objekt  zu  stehen.  Aber  in  der  Tat  hat  er  sich  doch  nur 
vom  einzelnen  Objekt  unabhängig  gemacht,  nicht  vom  Objekt,  vom  Nicht- 
Ich  als  solchem,  dessen  Besitz,  nur  dessen  unumschränkter  Besitz  im  Ganzen, 
nach  wie  vor  den  einzigen  Inhalt  seines  Wollens  ausmacht.  Soll  er  die  dritte 
Stufe,  die  Stufe  des  wirklich  freien  Wollens  erreichen,  so  muß  er  jedes  vom 
Objekt  herkommende  Streben,  nicht  nur  die  einzelne  Begierde  nach  Genuß, 
zu  beherrschen  imstande  sein.  So  muß  er  von  sich  aus  auch  seinem  Streben 
nach  Besitz,  nach  Macht  Schranken  setzen.  Diese  Schranke  aber  muß 
eine  freigesetzte  Schranke  sein:  Also  kein  Zwang,  der  dem  Wollen  von 
außenher  angetan  wird,  sondern  ein  Recht,  das  der  Wollende  sich  gegen- 
über anerkennt.  In  der  Anerkennung  also,  daß  sich  in  der  mich  umgebenden 
Welt  nicht  nur  Dinge,  die  zu  meinem  Genuß  und  Besitz  bestimmt  sind, 
sondern  auch  freie  und  gleichberechtigte  Personen  befinden,  die  ich  als 
solche  behandeln  muß,  besteht  das  Wesen  der  freien,  aus  reiner  Selbst- 
bestimmung erfolgenden  Handlung. 

Wie  eng  im  Grunde  die  Fichteschc  Bestimmung  mit  dem  Kantschen  Frei- 
heitsbegriff zusammenhängt,  zeigt  Kants  zweite  Formulierung  seines  obersten 
Sittengesetzes,  des  kategorischen  Imperativs:  Handle  so,  daß  „die  Mensch- 
heit in  Dir  und  Anderen"  niemals  bloßes  Mittel,  sondern  jederzeit  zu- 
gleich Zweck  und  höchster  Zweck  sei,  —  was  dasselbe  besagt:  Behandle 
jeden  Menschen  als  Person,  nicht  als  Sache,  achte  in  ihm  die  PersönUchkeit, 
die  wie  Du  selbst  zur  Freiheit  bestimmt  ist.  Freilich  erfährt  diese  erste  For- 
muherung  bei  Fichte  eine  ganz  allmähliche  Verschiebung:  Soll  ich  die  mich 
umgebenden  Menschen  als  freie  PersönHchkeiten  achten  und  behandeln,  so 
müssen  sie  zunächst  als  solche  Persönlichkeiten  existieren  können ;  es  müssen 
jedem  Menschen  die  Bedingungen  einer  solchen  Existenz,  die  Bedingungen 
eines  wirklich  menschenwürdigen  Daseins,  es  muß  ein  Zustand  der  Gesell- 
schaft gegeben  sein,  der  für  jeden  diese  Grundlage  seiner  Existenz  bietet. 
Und  ich  meinesteils  habe  daher  die  Pflicht,  soviel  an  mir  liegt,  dazu  beizu- 
tragen, daß  ein  solcher  Zustand  der  Gesellschaft  entsteht,  ein  Staat,  in  dem 
es  keinen  Notleidenden  und  keinen  Müßiggänger  mehr  gibt.  So  wird  aus 
der  Anerkennung  des  Rechtes  der  Andern  die  positive  Arbeit  für  das  soziale 
Ganze  und  seine  Reform  im  Sinne  des  Ideals. 

Und  nun  vergleiche  man  einen  Augenblick  dieses  Kant-Fichtesche  Frei- 
heitsideal mit  dem  Glückseligkeits-  und  Vollkommenheitsideal  der  Auf- 
klärung. Es  wurde  schon  hervorgehoben,  daß  die  Aufklärungsethik  rein 
das  Individuum  für  sich  ins  Auge  faßt.  Daß  das  einzelne  Individuum  in 
den  Zusammenhang  einer  Gesellschaft  hineingestellt  ist,  ist  für  die  Auf- 
klärungsethik streng  genommen  etwas  durchaus  Sekundäres,  denn  seine 
Vollkommenheit  und  Glückseligkeit  muß  und  kann  der  Einzelne  befördern, 
ganz  gleichgültig,  ob  er  von  Anderen  umgeben  ist  oder  nicht.  Da  es  nun 
einmal  andere  Menschen  gibt,  müssen  wir  freilich  im  Interesse  unserer  eigenen 
Glückseligkeit  auf  sie  Rücksicht  nehmen,  aber  daß  es  sie  gibt,  ist  kein  für 
die  ethische  Forderung  selbst  wesentlicher  Umstand.  Die  Forderung,  für 
seine  Glückseligkeit  oder  Vollkommenheit  zu  sorgen,  behält  auch  für  Robinson 


Fichtes  Auffassung  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusammenhang  usw.     215 

auf  seiner  einsamen  Insel  vollkommen  ihren  Sinn.  Dagegen  fordert  die 
Fichtesche  Freiheitsidee  das  Dasein  fremder  Persönlichkeiten ;  Freiheit  kann 
es  nur  geben,  freies  Wollen  sich  nur  realisieren,  wo  der  Mensch  im  Zusammen- 
hang der  Gesellschaft  lebt.  Daher  „deduziert"  Fichte  aus  dem  Sittengesetz 
das  Dasein  anderer  Persönlichkeiten  als  Bedingung  der  Möglichkeit  einer 
Freiheit,  als  Bedingung  dafür,  daß  die  Forderung  des  Sittengesetzes  sinnvoll 
und  erfüllbar  ist.  Dieser  selbe  Gegensatz,  der  uns  in  der  Ethik  entgegentritt, 
spielt  auch  in  charakteristischer  Form  in  die  Pädagogik  hinein.  Die  Klassiker 
der  Aufklärungspädagogik  —  ein  Locke,  ein  Rousseau  —  betrachten  mit 
einer  gewissen  Selbstverständlichkeit  als  Ideal  einer  Erziehung  die  Er- 
ziehung des  einzelnen  Schülers  durch  den  einzelnen  Hofmeister;  die  Er- 
ziehung in  der  Schule  erscheint  ihnen  bestenfalls  als  ein  Notbehelf,  als  ein 
notwendiges  Übel.  Fichte  betont,  im  Verein  mit  und  im  Anschluß  an  Pesta- 
lozzi, nichts  schäi'fer,  als  die  Notwendigkeit  einer  Erziehung  durch  das  Ge- 
meinschaftsleben, durch  die  der  Zögling  vor  allen  Dingen  lernen  soll,  sich  als 
Glied  einer  solchen  Gemeinschaft  zu  fühlen. 

Tritt  nun  in  diesen  Dingen  der  Gegensatz  zwischen  Fichte  und  der  Auf- 
klärung deutlich  in  die  Erscheinung,  so  ruht  er  doch  auf  der  andern  Seite 
auf  einer  gewissen  Gemeinsamkeit.  Diese  gemeinsame  Grundlage  wird, 
scheint  mir,  am  deutlichsten,  wenn  wir  Fichte  noch  mit  einer  andern  Per- 
sönlichkeit aus  der  Geschichte  der  Philosophie,  diesmal  mit  einem  seiner 
Nachfolger,  mit  Hegel,  vergleichen. 

Für  Hegel  ist  die  individuelle  Persönlichkeit  in  keiner  Weise  mehr  ein 
Letztes  und  Unbedingtes,  ein  ,, Element"  der  Gesellschaft  und  des  histo- 
rischen Geschehens  im  Sinn  der  Aufklärung.  Über  dem  psychischen  Indi- 
viduum, dem  ,, subjektiven  Geist",  stehen  Staat,  Recht  und  Gesellschaft, 
der  „objektive  Geist",  steht  endlich  der  Kulturzusammenhang  der  Mensch- 
heit in  seinen  verschiedenen  Manifestationen  (Wissenschaft,  Kunst,  Reli- 
gion) als  selbständige  Gebilde  geistiger  Natur,  die  nicht  als  bloße  Produkte 
menschlicher  Handlungen  aufgefaßt  und  durch  die  isoliert  gedachten  Indi- 
viduen und  ihr  Zusammenwirken  entstanden  gedacht  werden  können.  Sie 
haben  ihre  eigne  Geschichte,  die  als  ein  einheitlicher  Strom  aufgefaßt  werden 
muß,  der  nach  eignen  Innern  Gesetzen  abläuft  und  sein  eignes  inneres  Leben 
führt.  Das  einzelne  Individuum  ist  vielmehr  ein  Produkt  der  geschicht- 
lichen und  gesellschaftlichen  Entwicklung,  als  daß  es  sie  schafft,  weshalb 
auch  die  Individuen  nicht,  wie  in  der  Aufklärung,  als  schematisch  überall 
gleichartige  letzte  Gebilde  vorausgesetzt  werden  dürfen.  Nun  schaltet  frei- 
lich Hegel  die  Persönlichkeit  als  historisch  wirksamen  Faktor  nicht  ganz 
aus;  daß  große  Männer  durch  die  Kraft  ilires  Wollens  das  politische  Welt- 
bild umgestalten  können,  war  für  ihn,  den  Zeitgenossen  Napoleons,  doch 
eine  gar  zu  handgreifliche  Tatsache.  Aber  gerade  die  Art,  wie  er  das  Wirken 
dieser  MännfT,  eines  Alexander,  Cäsar,  Napoleon,  in  Einklang  bringt  mit 
seiner  Lolu-e  von  der  imnianonten  Logik  der  geschichtlichen  Entwicklung, 
ist  bezeichnend  für  seine  Auffassung  vom  Individuum:  in  fast  mystisch 
khugender  Wendung  führt  er  aus,  daß  gleichsam  durch  diese  Persönlich- 
keiten hindurch  der  „Weltgeist"  handle,  sagt  er  von  dem  Anblick  Napo- 
leons, es  sei  ein  eigentümliches  Gefühl  gewesen,  gewissermaßen  „die  Welt- 


216    Fichtes  Auffasstmg  vom  Erziehungsziel  und  ihr  Zusammenhang  usw. 

Seele  zu  Pferde"  zu  sehen  —  keineswegs  eine  bloße  Phrase,  sondern  ein  Aus- 
druck, der  aus  dem  Zusammenhang  des  Hegeischen  Systems  heraus  gedacht 
ist  —  und  das  heißt :  daß  hier  der  objektiv  notwendige  Gang  der  Geschichte 
durch  eine  bestimmte  Persönlichkeit  hindurchführt,  sich  ihrer  als  Mittel 
bedient.  So  erscheint  auch  die  historisch  bedeutende  Persönlichkeit  nur  als 
Mittel  und  Durchgangspunkt  der  staatlichen  und  Kulturentwicklung.  Es 
ist  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  gesehen  nur  folgerichtig,  daß  aus  der 
Hegeischen  Schule  auch  die  beiden  bedeutendsten  Theoretiker  des  modernen 
Sozialismus  hervorgegangen  sind.  Und  wenn  speziell  Marx  sich  der  Wen- 
dung bedient,  daß  die  in  der  Entwicklung  des  "Wirtschaftslebens  wirksamen 
Faktoren  zu  Motiven  in  der  Psyche  des  Einzelnen  werden,  so  ist  hier  das 
Verhältnis  des  Einzelnen  zum  Ganzen  der  Geschichte  im  wesentlichen  (vom 
Geschichtsmaterialismus  freilich  abgesehen)  durchaus  im  Sinne  Hegels 
gedacht. 

Damit  aber  sind  wir  zugleich  bei  der  Teleologie  und  der  Art,  wie  sich 
Hegel  wertend  der  Persönlichkeit  gegenüberstellt.  Das  Höchste,  dasjenige, 
in  dem  die  ganze  Weltentwicklung  gipfelt,  ist  schließlich  das  objektive,  über- 
persönliche Gebilde  der  einheitlichen  Kultur,  die  sich  als  einheitlich  wachsen- 
des Gebilde  durch  das  Bewußtsein  der  einzelnen  Menschen  nur  hindurch- 
zieht, in  ihren  verschiedenen  Formen  —  der  einen  Philosophie  z.  B.,  die 
dieselbe  Philosophie  nur  in  verschiedenen  Entwicklungsphasen  ist,  wenn 
sie  einmal  als  Platonische,  einmal  als  Kantische,  einmal  als  Hegeische  Philo- 
sophie erscheint.  Die  einzelne  Persönlichkeit  aber  ist  nur  durch  das  wert- 
voll, was  sie  für  die  Entwicklung  der  Staaten  und  der  Kultur  leistet  — 
eine  bedeutende  Persönlichkeit  im  letzten  und  eigentlichen  Sinn  ist  diejenige, 
durch  die  der  Gang  der  historischen  Entwicklung  sich  hindurchzieht. 

Es  ist  unverkennbar,  daß  durch  die  Hegeische  Welt-  und  Geschichts- 
betrachtung eine  Fülle  neuer  und  fruchtbarer  Gesichtspunkte  erst  ermög- 
licht wurden,  die  in  ihrer  Eigenart  am  deutlichsten  hervortreten,  wenn  wir 
sie  mit  der  Aufklärung  wiederum  vergleichen.  Die  Auffassung  des  Menschen 
als  eines  Milieuprodukts  etwa  wäre  für  die  Aufklärung  mit  ihrem  überall 
gleichartigen  abstrakten  Menschenschema  noch  unmöglich  gewesen.  Vor 
allem  aber:  die  Art,  wie  hier  der  Einzelne  in  einen  überpersönlichen  Zu- 
sammenhang hineingestellt,  wie  ihm  eine  mehr  oder  minder  große  Bedeutung 
im  Dienst  großer  welthistorischer  Zwecke  zugewiesen  wird,  hat,  so  sehr 
auch  (oder  vielleicht  auch :  gerade  weil)  das  Individuum  hinter  jenen  Zwecken 
verschwindet,  etwas  Großzügiges  und  Befriedigendes  gerade  gegenüber  der 
immer  etwas  flach  und  kleinlich  erscheinenden  Klugheitsmoral  der  Auf- 
klärung. Auf  der  andern  Seite  aber  wird  uns  die  Hegeische  Einschätzung 
der  Persönlichkeit  nie  voll  befriedigen  können:  es  wird  sich  immer  das  Ge- 
fühl in  uns  dagegen  sträuben,  dem  Nietzsche  so  leidenschaftlich  Ausdruck 
gegeben  hat,  daß  doch  der  Mensch  nicht  durch  das  wertvoll  ist,  was  er  leistet, 
was  er  als  Erfolg  seines  Daseins  hinterläßt,  sondern  durch  das,  was  er  ist. 

Stellen  wir  nun  Fichte  in  die  Mitte  zwischen  Hegel  und  die  Aufklärung, 
so  erscheint  uns  seine  Freiheitslehre  als  der  Versuch  einer  Synthese  zwischen 
beiden  Gedankenreihen.  Mit  der  Aufklärung  und  mit  Kant  sieht  Fichte  das 
einzig  unbedingt  Wertvolle  in  der  Persönlichkeit.    Aber  das,  was  den  Wert 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  217 

der  Persönlichkeit  ausmacht,  ist  ihre  „Freiheit"  und  damit  der  die  ganze 
Persönlichkeit  in  allen  ihren  einzelnen  Willensakten  und  Handlungen  be- 
herrschende Wille,  das  Recht  jedes  Menschen  zu  achten,  seine  Unantastbar- 
keit zur  obersten  Richtschnur  zu  machen.  Und  schließlich  noch  mehr:  Aus 
dieser  Freiheit  wird  die  freie  Hingabe  der  Persönlichkeit  mit  allen  ihren 
Kräften  an  die  Idee  dieses  Rechtes,  die  Arbeit  für  seine  Realisierung,  für 
den  Staat,  der  die  Gemeinschaft  frei  wollender  Menschen  darstellt.  Wert- 
voll wird  die  Persönlichkeit,  nicht,  indem  sie  nach  Möglichkeit  der  Unlust 
klug  aus  dem  Wege  geht  oder  sorgsam  auf  die  Ausmerzung  der  Dissonanzen 
im  eignen  Ich  und  eignen  Leben  bedacht  ist,  sondern  indem  sie  sich  ganz  in 
den  Dienst  eines  jenseits  der  einzelnen  Persönlichkeit  und  ihres  Lebens 
liegenden  Zweckes  stellt.  Dabei  aber  ist  nicht  dieser  Zweck  das  Wertvolle 
und  die  Persönlichkeit  das  bloße  Mittel,  sondern  das  Wertvolle  ist  die  für 
diesen  Zwec^  arbeitende  Persönlichkeit,  wie  ebenso  auf  der  andern  Seite 
der  Zweck  selbst  ja  erst  durch  den  Wert  der  freien  Persönlichkeit  seinen 
Wert  bekommt,  denn  das,  wofür  der  Einzelne  arbeitet,  ist  ja  die  Gemein- 
schaft frei  wollender  Menschen. 

Schließlich  ist  es  kein  Zufall,  daß  wir  gerade  bei  Fichte  diese  Synthese 
beider  Gedankenreihen  finden,  denn  sein  ganzes  Leben  stellt  eine  solche 
Synthese  dar.  In  seinem  persönlichen  Empfinden  verband  sich  das  starke 
Gefühl  für  den  Wert  der  Persönlichkeit,  das  entwickelte  Selbstbewußtsein 
und  der  Stolz  des  freien  Mannes,  der  jeden  Eingriff  in  seine  Rechte  und  in 
seine  persönliche  Freiheit  mit  dem  schärfsten  Widerstand  beantwortet,  mit 
dem  leidenschaftlichen  Bedürfnis  zu  wirken,  ein  sozialer  und  geistiger  Refor- 
mator, ein  Führer  der  Menschheit  zu  werden. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hans  Rupp. 

(Fortsetzung.) 

II.  Gruppe :  Raumwahrnchmungcn. 

Der  Psychologieunterricht,  auch  der  elementare,  hat  das  Wichtigste  über  die 
Abbildung  eines  Objektes  auf  der  Netzhaut  zu  bringen.  Vielfach  nimmt 
der  Physikuntcrricht  diese  Aufgabe  ab. 

Tiefer  in  die  Psychologie  greift  die  weitere  Frage,  ob  wir  das  Objekt  so  sehen, 
wie  es  sich  auf  der  Netzhaut  abbildet.  Wenn  das  Objekt  (hin ,  nicht  zu  groß  und 
senkrecht  zur  Blickrichtung  orientiert  ist,  so  können  wir  den  psychischen  Ein- 
druck als  geometrisch  ähnlich  dem  Netzhautbild  ansehen.  Von  den  kleinen  Ab- 
\vti(  hin:L^'ii  iiiii  rlialb  jedes  Auges  und  von  der  Inkongruenz  der  Augen  unter- 
einander wird  tUr  elementare  Unterricht  abschen. 


218 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


Apparat  zur  Demonstration  der  Akkommodation,  Brillenkorrek- 
tion, des  Scheiner-Versuches  und  der  Pupillenwirkung  nach  Rupp 
(Mechaniker  Marx,  Berlin). 

Die  weiße  Kugel  A  veranschaulicht  das  Auge,  Sie  trägt  vorne  eine  Linse  L, 
hinten  eine  Mattscheibe  N,  auf  welcher  das  umgekehrte  Bildchen  des  Objektes  0 
zu  sehen  ist.    Es  können  3  Linsen  eingesetzt  werden;  damit  man  sie  schnell 

wechseln  kann,  sind  sie  in  einem  Schieber 


Jifitii 


befestigt.    Die  Linse  L3  ist  so  gewählt, 


rOChD- 


Qi 

JL 


daß  sie  ein  fernes  Objekt  scharf  abbildet. 
Der  Abstand  der  Mattscheibe  ist  also 
gleich  ihrer  Brennweite,  Schiebt  man  die 
zweite  Linse  L^  ein,  so  wird  das  Objekt  0 
an  der  Marke  II  scharf  abgebildet. 
Schiebt  man  die  dritte  Linäe  L-^  ein,  so 
wird  das  Objekt  scharf  gesehen,  wenn 
es  bis  zur  Marke  I  genähert  wird. 
Die  Mattscheibe  iV  stellt  die  Netzhaut  dar,  L  die  Augenlinse  mit  ihren  3  Wöl- 
bungen Lj  L^  L3.  Ist  Ly  die  stärkste  Wölbung,  deren  ein  Auge  fähig  ist,  dann 
stellt  die  Entfernung  I  den  Nahpunkt  dar.  Weitsichtige  Menschen  können  die 
Linse  nicht  so  stark  wölben ;  es  ist  z,  B.  L^  die  stärkste  Wölbung.  Der  Nahpunkt 
liegt  also  bei  IL  Durch  Vorsetzen  der  einen  Brille  By,  kann  aber  auch  das  nahe 
Objekt  auf  Marke  II  scharf  gesehen  werden.  Bei  Kurzsichtigen  kann  die  Linse 
nicht  genug  abgeflacht  werden.  Die  Wölbung  L^  ist  schon  die  flachste.  Sie 
sehen  also  Objekte,  die  femer  sind  als  II,  unscharf;  II  ist  derFernpunkt.  Durch 
die  zweite  Brille  Bk  werden  aber  auch  die  fernen  Objekte  scharf  abgebildet. 

Der  dritte  Träger  dient  dazu,  unmittelbar  vor  das  Auge  einen  Schieber  mit 
verschiedenen  Blenden  zu  bringen  und  so  die  Wirkung  der  Pupille  zu  erläutern. 
Bei  der  größeren  Blende  wird  das  Bild  unscharf,  bei  der  kleineren  scharf,  freilich 
auch  lichtschwächer. 

In  denselben  Schieber  sind  auch  verschiedene  Öffnungen  für  den  Scheine r- 
schen  Versuch  geschnitten.     Als  Objekt  dient  ein  heller  Punkt;  es  wird  eine 

schwarze  Scheibe  mit  feinem  Loch 
eingesetzt  und  der  Apparat  gegen 
das  Fenster  gerichtet,  Linse  2, 
Objekt  auf  Marke  I;  das  Ob- 
jekt wird  also  unscharf,  in  einem 
ziemlich  großen  Zerstreuungskreis  gesehen.  Schiebt  man  die  einzelnen  Blenden 
vor,  so  macht  das  Objekt  alle  Änderungen  mit:  es  wird  doppelt,  dreifach  gesehen, 
als  vertikaler  oder  horizontaler  Strich,  Das  geht  aber  nur  so  lange,  als  sich  das 
Objekt  ohne  Blende  unscharf  abbildet,  z.  B.  näher  als  der  Nahpunkt  liegt. 
Die  Änderungen  schwinden,  sowie  man  den  Nahpunkt  II  erreicht.  Man  kann  so 
den  Nahpunkt  feststellen.  ■ —  Umgekehrt  kann  man  auch  den  Fernpunkt  finden, 
Linse  I,  Objekt  auf  Marke  II,  Jetzt  ist  das  Objekt  unscharf  abgebildet,  weil 
zu  fern   liegt.    Es  treten  wieder  dieselben    den    Blenden  entsprechenden 


0 

0 

0 
0 

0 
0    0 

es 


Änderungen  ein.  Rückt  man  das  Objekt  näher  gegen  II,  so  rücken  die 
Doppelbildchen  usw.  immer  mehr  zusammen,  bis  bei  II  das  Objekt  ganz 
scharf  abgebildet  wird,     II  ist  für  Linse  1  der  Fernpunkt. 


Probleme  und  Apparate  ziir  experimentellen  Pädagogik.  219 

Die  Brillen-,  Pupillenwirkung  und  das  Scheinersclie  Phänomen  kann  man 
mittels  des  Apparates  auch  direkt  beobachten :  an  Stelle  des  künstlichen  tritt 
das  Auge  des  Beobachters. 

Der  Scheiner- Versuch  hat  praktische  Bedeutung.  Man  kann  den  Nahpunkt 
feststellen  und  kann  den  Einfluß  der  Ermüdung  auf  die  Akkommodation  be- 
obachten :  in  der  Ermüdung  können  wir  nicht  so  nahe  akkommodieren.  Die  Er- 
scheinung kann  zur  Messung  der  Ermüdung  verwendet  werden,  freilich  nur, 
soweit  sie  sich  in  der  Akkommodation  äußert. 

Handapparat  zur  Bestimmung  des  Nahpunktes  und  zur  Demon-    Nr.  2. 
stration  der  Pupillenwirkung  nach  Ludwig  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig). 
Wie  der  vorige  Apparat,  nur  ohne  Auge  und  kleiner.    (Der  vorige  ist  z.  T.  dem 
Ludwig'schen  Apparat  nachgebildet.) 

Sehproben  nach  Snellen,  Sehproben  nach  Cohn.  Der  Lehrer  kann  Nr.  3. 
den  Augenarzt  nicht  ersetzen;  aber  er  soll  das  außerordentlich  einfache  Prinzip 
der  Sehproben  kennen  und  anwenden.  Er  wird  die  Schüler  darnach  setzen,  den 
schlecht  sehenden  zum  Arzt  weisen.  Er  wird  die  Erfahrungen,  die  er  beim  Ver- 
such macht,  verwerten  in  der  Größe  der  Schrift  auf  der  Tafel  imd  wird  sich  ein 
richtiges  Urteil  über  den  Einfluß  der  Beleuchtung  bilden. 

Ringfeder    zur    Erläuterung    des   Akkommodations-Mechanismus    Nr.  4 
nach    Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Elliptischer   Ring   aus 
einer  Stahlfeder.     Er  stellt  den  Querschnitt  der  Linse  dar,  wenn 
sie  sich  in  Ruhe      befindet,  wo  sie  durch  die  Zonulafasern  ganz  /\      A 

flach    auseinandergezogen    ist    (Ermüdung,     Schlaf,    verlorener  \j      y 

Blick).     Bei  Akkommodation    auf    die    Nähe    wird   durch    den      j  | 

von  allen  Seiten  drückenden  Ciliarmaskel   die  Linse  vom  Zug 
der  Zonulafasernbefreit,  sie  geht  in  ihre  natürliche,  gewölbte  Form  über.  Man 
kann    die  Wirkung  durch    Zusammendrücken  der  Feder  in   der   Hand    ver- 
anschaulichen. 

Über  das  Zusammenwirken  der  2  Augen  wird  der  Physikunterricht  kaum  be- 
richten. Der  elementare  Psychologieunterricht  kann  die  wichtige  und  interessante 
Frage  nicht  übergehen.  Jedes  Auge  liefert  ein  Bild,  aber  die  Bilder  decken  sich 
bei  natürlicher  Stellung  der  Augen  meist.  Verschiebt  man  ein  Auge,  indem  man 
es  mit  dem  Finger  drückt,  so  merkt  man  sofort  das  Doppelbild.  Freilich  können 
sich  nie  die  Bilder  aller  Punkte  des  Raumes  decken.  Die  Augen  nehmen  aber  doch 
solche  Stellungen  ein,  daß  möglichst  viele  Punkte  sich  decken  (Prinzip  des  größt- 
möglichen Horopters)  und  daß  die  wichtigsten  Konturen  sich  decken,  vor  allem  das 
fixierte  Objekt,  horizontale  Linien,  z.  B.  Druckzeilen.  Auf  die  Gesetze  der  Augen- 
stellungen wird  der  elementare  Unterricht  kaum  eingehen.  (Über  sehr  anschau- 
liche Demonstrationsapparate  vergl.  den  Katalog  von  Mechaniker  Marx,  Berlin). 

Handapparat  zur  Demonstration   des  Gesetzes  der  iden-         \  /       Nt.  6. 
tischen    Sehrichtungen   nach    Rupp   (Mechaniker  Marx,    Berlin). 
Blicken  beide  Augen  auf  einen  Punkt  F,  so  bildet  er  sich  in  den  Netz- 
hautmitten /j  /g  ab.     Jedes  Auge  liefert  ein   Bild,  aber  die  Bilder 
decken  sich,  die  Netzhautmitten  sind  „Deckpunkte". 

Nicht  allein  die  beiden  Bilder  von  F  decken  sich,  sondern  alle  Bilder,  die  auf 
/i  und  /j  fallen,  also  die  Bilder  aller  Objekte,  die  auf  den  Strahlen  f^  F  und  f^F 


/> 
I  \ 

I  \ 


\  1  9  r 

\     / 

\  /     r 

\  / 

1     \ 

/    \ 
/     \ 

^r\^ 

220  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

liegen:  die  beiden  Strahlen  legen  sich  für  unser  Sehen  in  eine  einzige  „Seh"- 
Richtung  zusammen.    Deckpunkte  haben  „identische  Sehrichtungen". 

Der  Apparat,  der  das  erläutern  soll,  besteht  aus  einem  Stereoskopkasten  ohne 
Gläser  und  aus  einer  längeren  Schiene  für  die  Bildträger.    Beim  einen  Versuch 

wird  der  Fixationspunkt  auf  der 
Schiene  möglichst  hinausgerückt. 
Zwischen  ihm  und  dem  Auge  wird 
eine  Glasplatte  mit  2  roten  Strichen 
I   \  \i^  eingesetzt,    wie  sie  die    obere  der 

zwei  kleinen  Figuren  links  zeigt. 
Die  Glasplatte  kann  so  verschoben 
werden,  daß  beim  Fixieren  von  F 
die  2  Striche  übereinander  liegen, 
sich  also  mit  dem  Fixationspunkt 
decken ;  vgl.  die  untere  linke  Figur. 
Beim  zweiten  Versuch  liegt  der  Fixationspunkt  nahe  (Glasplatte  mit  Marke). 
Möglichst  weit  dahinter  wird  ein  Karton  mit  Baum  und  Esse  eingesetzt  (vgl. 
die  obere  der  zwei  kleinen  Figuren  rechts).  Bei  entsprechender  Verschiebung 
von  F  decken  sich  wieder  F,  Baum  und  Esse;  vgl.  die  untere  rechte  Figur. 

Denken  wir  uns  ein  zweidimensionales,  senkrecht  zur  Blickrichtung  orientiertes 
Objekt.  Die  Strahlen  gelangen  zur  Netzhaut,  diese  leitet  den  Reiz  weiter  zum 
Gehirn,  und  dort  werde  ein  geometrisch-ähnliches  psychisches  Bild  ausgelöst. 
Damit  ist  die  Arbeit  des  Sehens  noch  nicht  vollendet,  es  beginnt  erst  die  geistige 
Verarbeitung,  das  Erfassen,  Verstehen,  das,  was  wir  im  prägnanten  Sinne 
als  ,,Sehen"  bezeichnen,  was  Anschauungs-  und  Zeichenunterricht  entwickeln 
sollen. 

Die  Netzhaut  liefert  ein  geistloses  Nebeneinander,  ein  Chaos  von  Farben- 
flecken, wie  wir  es  auf  der  Palette  vor  uns  haben.  Der  erfassende  Verstand  hebt 
das  Zusammengehörende  gemeinsam  heraus.  So  heben  wir  einen  Buchstaben 
aus  dem  verwickelten  Monogramm  heraus;  so  faßt  der  Lehrer  von  dem  in  der 
Bank  sitzenden  Schüler  den  Oberkörper  und  die  Füße  zusammen,  während  die 
zwischen  liegende  Bank  unbeachtet  bleibt.  Die  so  vereinigten  Stücke  hängen 
aber  wieder  für  unsere  entwickelte  Auffassung  sehr  verschieden  innig  zu- 
sammen. Aus  dem  Ganzen  heben  sich  Teile  als  kleinere  Ganze  heraus 
(z.  B.  Beine)  oder  diese  Teile  sind  ganz  selbständig,  wie  bei  Gruppen  (z.  B. 
mehrere  Schüler).  Innerhalb  dieser  kleineren  Ganzen  kann  sich  das  Spiel 
wiederholen,  die  Teilchen  können  verschieden  fest  zusammenhängen,  bis  wir 
schließlich  zu  letzten  Ganzen  kommen,  die  nur  mehr  künstlich,  sozusagen 
durch  einen  Gewaltakt  zu  trennen  sind.  Ihre  Teilchen  hängen  eben  besonders 
innig  zusammen,  die  einheitliche  Auffassung  zwingt  sich  uns  besonders  auf. 
Wir  pflegen  von  Analyse,  Herausfassen  und  Zusammenfassen  zu 
sprechen. 

An  dem  herausgefaßten  Gegenstand  erkennen  wir  die  Form,  die  charakte- 
ristische Zusammensetzung,  Anordnung  der  Teile.  Die  Formen  als  Ganze  können 
wir  vergleichen.  Wir  kennen  trotz  verschiedener  Größe,  Lage,  trotz  kleiner  Ab- 
weichungen, wie  sie  die  Gegenstände  der  Umwelt  stets  zeigen,  dieselbe  Form 
wieder;  ja  wir  sehen  trotz  großer  Abweichungen  gemeinsame  Grundformen.    So 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  221 

erkennen  wir  schließlich  Stab,  Walze,  Trommel,  Rad  mid  Scheibe  als  eine  Reihe. 
Endlich  erkennen  wir  in  solchen  Reihen  gewisse  Formen  als  ausgezeichnet,  so 
das  Quadrat  unter  den  Rechtecken,  den  Kreis  unter  den  Ellipsen. 

An  den  Formen  erkennen  wir  außerdem  die  Größe,  die  Lage  und  Neigung 
bzw.  Richtung. 

Wenn  wir  Größen  vergleichen,  erkennen  wir  nicht  bloß  ihre  Gleichheit  und 
Verschiedenheit,  sondern  im  Falle  der  Verschiedenheit  auch  das  genauere 
Verhältnis.    Wir  können  dasselbe  schätzen  oder  auch  messen. 

Die  Formen,  die  zunächst  einheitlich  sind,  zerlegen  wir,  erst  in  ihre  natür- 
lichen Teile,  dann  trennen  wir  künstliche  Teile  ab  imd  suchen  die  komplizierteren 
Formen  durch  die  Formen  und  Beziehungen  ihrer  Teile  zu  charakterisieren.  So 
gelangen  wir  schließlich  zu  den  elementaren  Teilen  der  Geometrie.  Diese  Analyse 
ist  das  Produkt  langer  Entwicklung,  sowohl  der  Menschheit,  wie  auch  des  ein- 
zelnen Individuums. 

Zugleich  vollzieht  sich  eine  andere  Verarbeitung.  Augen  und  Körper  bewegen 
sich  beständig,  der  Sehraum  ist  bald  von  diesem,  bald  von  jenem  Stück  des 
objektiven  Raumes  erfüllt.  Wir  dürfen  nicht  alles  innerlich  sozusagen  über- 
einanderlegen, sondern  müssen  die  Bilder  trennen  und  richtig  aneinanderreihen. 
Wir  müssen  die  Bewegung  auf  unserer  Netzhaut,  die  durch  wirkliche  Bewegimg 
des  Gegenstandes  entsteht,  und  die  Bewegung,  die  bei  ruhendem  Gegenstand 
nur  durch  Bewegung  unserer  Augen  entsteht,  wohl  auseinanderhalten.  Die  Stel- 
lung und  Bewegung  der  Augen  muß  in  Abrechnung  gebracht  werden.  Wir  pflegen 
zu  sagen:  Nicht  allein  die  relative  Lage  und  Bewegung  der  Teile  innerhalb 
des  Sehraumes,  sondern  auch  die  absolute  Lage  und  Bewegung  des  Sehraumes 
muß  erfaßt  werden. 

Auch  damit  ist  die  Verarbeitung  nicht  vollendet.  Formen  werden  betastet, 
die  Lage  und  Richtung  gezeigt  usw.  Ist  diese  Verbindung  hergestellt,  so  können 
Tast-  und  Bewegungsempfindungen  oder  die  entsprechenden  Vorstellungen  das 
visuelle  Bild  beleben.  Das  gleiche  kann  auch  von  den  Bewegungen  des 
Zeichnens  gelten,  wenn  sie  sehr  geläufig  geworden  sind. 

Dazu  kommen  mechanische  Erfahrungen.  Die  Kugel  rollt  nach  allen 
Richtungen,  die  Walze  nach  einer,  der  Würfel  steht  auf  jeder  Seite  fest.  Bei 
vertikaler  Lage  ist  der  Körper  „stehend",  bei  horizontaler  „liegend"  usw. 
Wir  kennen  die  verschiedenen  Wirkungen  der  Formen,  Lagen,  Neigungen,  wir 
fühlen  uns  oft  selbst  in  sie  hinein  und  beleben  so  wieder  das  Gesichtsbild. 

Endlich  sind  die  mannigfaltigen  ästhetischen  Wirkungen  der  Formen 
und  ihrer  Anordnungen  zu  berücksichtigen. 

Diese  skizzenhafte  Aufzählung  mag  genügen,  um  zu  zeigen,  in  wie  vielfacher 
Weise  das  vom  Auge  gelieferte  Bild  verarbeitet  werden  kann.  Das  Auge,  der 
Sinn,  liefert  nur  das  Rohmaterial.  Bei  der  Verarbeitung  wirken  oft  auch 
andere  Sinne  mit.  Wenn  wir  dennoch  von  Formen-„Sinn"  Raum-„Sinn" 
sprechen,  gebrauchen  wir  das  Wort  in  viel  höherer  Bedeutung.  Es  liegt  ein 
großes  und  bewundernswertes  Stückintelligenz  in  diesen  Leistungen  enthalten; 
sie  werden  mit  Recht  auch  als  Intelligenzproben  (neben  vielen  anderen) 
verwendet. 

Eine  besondere  Art  der  Verarbeitung  gehört  eigentlich  nicht  mehr  zum  „Sehen" : 
das  Zeichnen.    Es  tritt  nicht  von  selbst  zur  visuellen  Auffassung  hinzu,  es 


222  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

ordnet  sich  nicht  der  visuellen  Erfassung  unter,  geht  nicht  in  ihr  gleichsam 
auf,  sondern  es  bedeutet  einen  eigenen,  künstlich  hinzugefügten  Akt.  Das 
gleiche  ist  bei  den  Tastbewegungen  der  Fall,  wenn  sie  ausdrücklich  beab- 
sichtigt sind.  Freilich  können,  wie  früher  erwähnt,  beide  Bewegungen  sich 
dem  Sehakt  so  unterordnen,  daß  man  sie  mit  zur  visuellen  Erfassung,  zum 
Sehen  im  weiteren  Sinne  des  Wortes  rechnen  wird. 

Wenn  das  Zeichnen  auch  ein  eigener  Akt  ist,  so  kann  es  doch  vielfach 
über  das  ,, Sehen"  Aufschluß  geben.  Handelt  es  sich  aber  um  genaues 
Erfassen,  um  das,  was  man  als  gutes  Augenmaß  bezeichnen  kann, 
scheint  die  Prüfung  und  Erziehung  auf  dem  Umwege  des  Zeich- 
nens nicht  sehr  geeignet.  Es  ist  eine  Kirnst,  eine  gerade  Linie,  einen 
Kreis,  einen  Ring  zu  zeichnen;  die  Zeichnung  wird  meist  sehr  unvollkommen 
ausfallen.  Viel  leichter  ist  es,  Fehler  in  einer  schon  vollendeten  Zeichnung  zu 
sehen.  Wenn  wir  aber  das  Sehen  auf  dem  Umwege  über  das  Zeichnen  üben 
und  prüfen,  entwickeln  wir  es  nicht  bis  zu  der  Vollkommenheit,  deren  der 
Schüler  fähig  ist.  Er  könnte  viel  genauer  sehen;  aber  es  spielt  doch  keine 
Rolle,  weil  seine  technische  Fertigkeit  beim  Zeichnen  mit  dieser  Grenauigkeit 
nicht  Schritt  halten  kann. 

Hier  können  unsere  Versuche  und  Apparate  die  Lücke,  die  der 
Zeichenunterricht  in  der  Entwickelung  des  Sehens  läßt,  aus- 
füllen. Sie  ermöglichen  eine  Herstellung  von  einfacheren  For- 
men, Größen,  Neigungen  bis  auf  größte  Genauigkeit,  sie  ermög- 
lichen ein  Nachbilden  von  einfach  geformten  Gegenständen  ihrer 
Größe,  Form  und  Neigung  nach  (Fenster,  Kreuz,  Münzen  usw.), 
ohne  daß  irgendwie  erhebliche  technische  Schwierigkeiten  ent- 
stünden. Hier  wird  die  Fähigkeit  zu  genauester  Erfassung  wirk- 
lich wachgerufen  und  entwickelt;  denn  hier  hat  sie  Wert. 

Freilich  sind  die  Apparate  und  Versuche  zunächst  für  exakte  Prüfungen 
erdacht  worden.  Bei  der  Verwertung  zur  Übung  des  Augenmaßes  werden 
noch  manche  Vereinfachungen  vorzunehmen  sein,  und  es  sind  vor  allem  die 
Methoden  unter  pädagogischen  Gesichtspunkten  auszuwählen.  Aber  die 
bisherigen  psychologischen  Versuche  und  Apparate  werden  sicher  viel  An- 
regungen geben  können. 

Ich  gehe  nun  zur  spezielleren  Besprechung  der  Probleme  und  Apparate  über. 
Nicht  alle  angedeuteten  Probleme  sind  durch  Apparate  und  ähnliche  Hilfsmittel 
zu  untersuchen,  nicht  alle  sind  in  so  einfacher  Weise  zu  untersuchen,  daß  ihre 
Besprechung  in  diesen  Zusammenhang  passen  würde. 

Ich  führe  absichtlich  für  verwandte  Fragen  mehrere  technische  Methoden  an, 
damit  man  je  nach  den  Umständen  wählen  kann.  Bei  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen, bei  exakter  Prüfung,  braucht  man  andere  Mittel  als  zur  Übung  des 
Augenmaßes  im  Unterricht.  Und  wenn  die  Methoden  in  der  Schule  eingeführt 
werden  sollten,  wird  eine  Wahl  unter  mehreren  Mitteln,  ein  Überblick  über 
die  Wege  willkommen  sein. 

Ich  bespreche  zuerst  das  Augenmaß  für  die  Größen,  zunächst  für  die  Größe 
der  geometrisch  einfachsten  Form,  der  geraden  Strecke,  dann  für  die  Größe 
einiger  komplizierterer  Formen. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  223 

Wie  feine  Unterschiede  von  ^trecken  (und  anderen  Größen)  werden  erkannt  ? 
Wie  fein  ist  also  die  Unterscliiedsempfindlichkeit  ?  Wie  bei  größeren,  kleineren 
Strecken  (Weber  Gesetz)  ?  Wie  bei  vertikalen,  horizontalen,  schrägen  Strecken  ? 
Wie,  wenn  beide  Strecken  fern,  wie,  wenn  beide  nahe  sind?  Wie,  wenn  beide 
Strecken  (auf  dem  Hintergrund  oder  der  Unterlage)  nahe  aneinander  gerückt 
oder  weiter  voneinander  entfernt  sind?  Wie,  wenn  beide  getrennt  sind,  und 
wie,  wenn  sie  aneinander  stoßen  und  eine  größere  Strecke  bilden,  die  durch  die 
Grenzmarke  halbiert  werden  soll?  Wie,  wenn  beide  Strecken  die  gleiche  Nei- 
gung haben,  und  wie,  wenn  die  eine  z.  B.  vertikal,  die  andere  horizontal,  oder 
wenn  beide  verschieden  schräg  liegen  ?  Wie  endlich,  wenn  beide  Strecken  neben- 
einander oder  übereinander  oder  schräg  liegen? 

Das  Ergebnis  hängt  auch  vom  subjektiven  Verhalten  ab.  Wie  genau  ur- 
teilen wir  bei  fixiertem  Blick,  wie  genau  bei  Augenbewegungen?  Wie  genau 
bei  schnellem  Überblick,  wie  bei  peinlichem  Ausmessen?  usw. 

Wie  ist  die  Unterschiedsempfindlichkeit,  wenn  die  Strecken  nicht  gleich- 
zeitig, sondern  nacheinander  gegeben  werden  ?  Indem  wir  die  Pause  vergrößern, 
prüfen  wir  auch  das  Gedächtnis.  Dadurch,  daß  der  Schüler  die  erste  Strecke 
gut  behalten  soll,  ist  er  gezwungen,  sie  sehr  genau  zu  betrachten,  sehr  intensiv 
zu  verarbeiten. 

Grewisse  Größen,  die  Maßeinheiten,  sollen  dauernd  eingeprägt  werden.  Wie 
genau  werden  sie  eingestellt?  In  den  unten  angeführten  Serien  sind  häufig 
solche  Größen  als  Hauptreize  verwendet,  so  daß  durch  die  Versuche  zugleich 
das  absolute  Gedächtnis  gefördert  wird. 

Die  Fälle  können  sich  nicht  nur  durch  Unterschiedsempfindlichkeit  unter- 
scheiden, sondern  in  einigen  Fällen  treten  Täuschungen,  konstante  Fehler  auf: 
so  erscheint  die  vertikale  oder  steile  Strecke  kürzer  als  die  horizontale  oder  stark 
geneigte,  die  obere  kleiner  als  die  untere.  So  sind  Fälle  beobachtet,  daß  längere 
Strecken  in  der  Erinnerung  gekürzt,  kurze  verlängert  werden,  während  mittlere 
richtig  aus  dem  Gedächtnis  getroffen  wurden. 

Solche  Größentäuschungen  treten  vor  allem  dann  auf,  wenn  die  Strecken 
nicht  isoliert  gegeben,  sondern  in  andere  Figuren  sozusagen  eingebettet  sind. 
Der  Einfluß  der  „Nebenreize"  ist  bald  stärker,  bald  schwächer.  Bei  großer 
Übung  gelingt  es,  die  Strecken  von  den  Nebenreizen  herauszulösen,  sie  zu  analy- 
sieren; die  Täuschung  schwindet  oder  tritt  zurück.  Das  Maß  der  Täuschung 
zeigt,  wie  vollkommen  die  Analyse  gelungen  ist.  Wir  können  sie  künstlich  z.  B. 
durch  verschiedene  Färbung  fördern. 

In  der  Praxis  des  Zeichnens  und  des  Messens  kommen  solche  Täuschimgen 
oft  vor.    Es  hat  für  den  Lehrer  und  Schüler  Wert  und  Interesse,  sie  zu  kennen. 

Stab-Serien,    a)    kleine    Serie.     (Lehrmittelhandlung  Gebrüder  Höpfel,  nt.  ?»• 
Berlin.)    Dünne  Streifen  aus  Flacheisen  oder  Flachmessing,  8 — 12  cm  lang,  je 
2  mm  Differenz;  jeder  Stab  doppelt,  also  im  ganzen  42  Stäbchen. 

Man  legt  irgendeinen  Stab  (z.  B.  10  cm)  als  „Hauptreiz"  vor  und  legt  da- 
neben einen  zweiten,  gleichen  oder  verschiedenen  Stab.  Wird  der  Unterschied 
richtig  erkannt?  Oder  man  läßt  zum  vorgelegten  Streifen  aus  der  Serie  den 
gleichen  suchen. 

Alle  oben  erwähnten  Variationen  der  Lage,  Neigung,  Entfernung  lassen 
sich  ausführen. 


224  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

^^■'^^-  b)  Große  Serie  (Lebrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin),  für  größere 
Dimensionen  und  Demonstrationen.  Holzleisten  40 — 60  cm,  je  1  cm  Differenz, 
jede  Länge  doppelt. 

Man  kann  natürlich  andere  Dimensionen  und  Abstufungen  wählen,  je  nach  Be- 
darf. —  Es  liegt  nahe,  runde  Stäbchen  zu  verwenden,  Stricknadeln  oder  Holzstäb- 
chen. Sie  haben  den  Nachteil  des  Rollens;  auch  stört  bei  genaueren  Schätzungen 
der  runde  Querschnitt  an  den  Enden.  Aus  dem  gleichen  Grunde  sind  die  Leistchen 
möglichst  flach  gewählt.  —  Kartonstreifen  haben  den  Nachteil,  daß  sie  sich  zu  leicht 
verbiegen. 
Nr,  8a.  Stabvariator,  nach  Rupp,  a)  kleine  Dimension  (Lehrmittelhandlung  Gebr. 

Höpfel,  Berlin).  An  Stelle  einer  Serie  ist  das  Prinzip  des  Variators  verwendet, 
ein  einziger  Stab  (Leiste)  kann  seiner  Länge  nach  kontinuierlich  variiert  werden, 
indem  er  aus  einem  ihn  verdeckenden  Halter  mehr  oder  weniger  herausgeschoben 
wird.  Der  Stab  ist  aus  Messing  und  kann  bis  20  cm  hervorgeschoben  werden ; 
der  Halter  ist  geschwärzt,  so  daß  sich  der  vorgeschobene  Messingstab  hinreichend 
abhebt.  Auf  der  unteren  Seite  des  Halters  kann  ein  Maßstab  angebracht  werden, 
an  dem  die  Länge  des  vorgeschobenen  Teiles  abzulesen  ist. 

Bei  Vergleichungsversuchen  verwendet  man  2  Instrumente;  auf  einem  wird 
eine  Länge,  z.  B.  die  Maßeinheit  10  cm,  vorgegeben,  mittelst  des  andern  wird 
die  gleiche  Länge  aufgesucht.  Oder  man  läßt  mittelst  eines  einzigen  Instrumentes 
die  Maßeinheit  oder  die  Länge  eines  (länglichen)  Gegenstandes  (Bleistift,  Taschen- 
messer, Finger  usw.)  einstellen. 

Innerhalb  gewisser  Grenzen  kann  die  Entfernung,  Neigung  und  gegenseitige 
Lage  der  2  Strecken  variiert  werden. 

Der  Vorzug  gegenüber  den  Serien  ist,  daß  jede  Strecke  hergestellt  werden 
kann,  damit  man  die  Strecke  kontinuierlich  variieren  kann. 
Nr.  8b.  ]^^  Derselbe,  größere  Dimension.     (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel, 

Berlin.)  Halter  90  cm  lang,  Stab  60  cm  weit  vorzuschieben.  Aus  Holz.  Für 
größere  Strecken  und  für  Demonstrationen. 

Strich- Serien  nach  Giering  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin). 
Bisher  waren  die  Größen  selbständige  Gegenstände;  hier  sind  es  nur  Konturen 
auf  anderen  Körpern,  Linien  auf  einem  Papier.  Kinder  haben  nach  den  Beob- 
achtungen Gierings  Schwierigkeit,  die  Linien  zu  erfassen. 

a)  Auf  Papierblättern,  beiläufig  in  Oktavformat,  sind  Striche 
gedruckt,  25 — 35  mm,  von  ^2.  ^^V^  ^'^  abgestuft,  auf  jedem 
Blatt    I    Strich;    das    Blatt    mit    dem    Hauptreiz    30    mm    ist 


Nr.  9. 


doppelt  vorhanden. 

Die  Beize  können  simultan  oder  sukzessiv  gegeben  werden;  innerhalb  ge- 
wisser Grenzen  lassen  sich  Lage,  Neigung,  Entfernung  variieren. 

b)  Die  beiden  zu  vergleichenden  Striche  sind  auf  demselben  Papier  gedruckt 
und  zwar  aneinanderstoßend.    Man  urteilt,  ob  die  Marke  die  Strecke  halbiert 
oder  nicht.    Die  eine  Strecke  ist  stets  30  mm,  die  andere  25  bis 
35  mm.     Je  nach  der  Lage   des   Blattes  liegt  die  Hauptdistanz 
rechts    oder   links.       Die  Neigung    beider    Strecken    kann    be- 


liebig gewählt  werden. 

c)  Die  2  Strecken  sind  wieder  auf  demselben  Blatt  gedruckt, 
aber  in  anderer  Lage:  untereinander,  die  eine  über  die  andere  auf 
einer   Seite  vorstehend.     Alles   übrige  wie  bei  b). 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  225 


d)   Wie    c),    nur    steht    die    eine    Strecke   auf  beiden    Seiten 
über  die    andere   vor. 

Strichvariator  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Nr. lo. 
An  Stelle  der  Serie  von  diskreten  Strichen  tritt  das  Prinzip  der  kontinuierlichen 
Variation.  Auf  einem  länglichen  Brett  ist  ein  Papier  mit  einem  horizontalen 
Strich  befestigt.  Über  den  Strich  schieben  sich  von  beiden  Seiten  her  in  ent- 
sprechenden Führungen  2  Streifen  aus  dem  gleichen  Papier,  die  den  Strich  mehr 
oder  weniger  abdecken  und  so  gestatten,  ihn  länger  oder  kürzer  zu  machen. 
Damit  die  Streifen  sich  gut  anlegen,  ist  eine  Glasplatte  über  das  Brett  gelegt. 

Die  Verwendung  ist  genau  dieselbe  wie  beim  Stabvariator  (8). 

Bei  Vergleichungsversuchen  kann  man  die  Anwendung  zweier  Apparate 
umgehen,  sofern  man  die  Strecken  aneinanderstoßend  wählt.  Es  wird  auf  dem 
Grundbrett  ein  Papier  mit  einem  Strich  und  einer  Marke  in  der  Mitte  befestigt. 
Der  eine  Streifen  begrenzt  die  eine,  der  andere  die  zweite  Strecke.  Vgl.  die 
Strichserie  9b. 

Strichvariator,  transparent,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Nr.  n. 
Höpfel,  Berlin).  Die  Ränder  der  seitlichen  Streifen  im  vorigen  Modell  könnten 
stören.  Bei  dieser  Anordnung  sind  sie  kaum  zu  merken.  An  Stelle  des  Holz- 
brettes ist  eine  Glasplatte  verwendet,  welche  bis  auf  einen  schmalen  Strich  mit 
schwarzem,  lichtdichtem  Papier  beklebt  ist.  Darüber  werden  wieder  die  2  Streifen 
aus  dem  gleichen  schwarzen  Papier  gelegt,  zur  Abdeckung  des  Striches.  Und 
über  das  Ganze  ist  eine  zweite  Glasplatte  gelegt,  die  den  Zweck  hat,  die  Streifen 
gut  anzudrücken.  Der  Apparat  wird  so  gegen  das  Fenster  (oder  die  künstliche 
Lichtquelle)  gestellt,  daß  die  Vorderseite  dunkel  bleibt;  eventuell  wird  eine 
abblendende  Kappe  vorgesetzt,  ähnlich  wie  sie  die  Photographen  verwenden. 
Die  Ränder  des  Streifens  sind  dann  kaum  zu  sehen.  Damit  der  transparente  Strich 
gleichförmig  ist  und  damit  er  zugleich  nicht  blendet  und  irradiiert,  legt  man 
hinter  den  schräg  gestellten  Apparat  ein  gleichförmig  graues  Papier. 

Die  Neigung  des  Striches  läßt  sich  hier  nur  variieren,  wenn  man  den  Appa- 
rat entsprechend  schräg  befestigt.  Um  bei  Vergleichungsversuchen  die  Be- 
nutzung zweier  Apparate  zu  umgehen,  kann  man  wieder  eine  Marke  in  der  Mitte 
des  Striches  verwenden ;  es  läßt  sich  leicht  ein  dünner  Streifen  aus  dem  gleichen 
schwarzen  Papier  in  der  Mitte  befestigen. 

Fadenvariator  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin;  Nr.  12. 
Mechaniker  Marx,  Berlin).  Das  Prinzip  dieses  Variators  ist  folgendes:  Auf 
schwarzem  Grund  ist  ein  Faden  ausgespannt,  der  von  irgendeiner  Stelle  des 
Grundes  durch  ein  Loch  hervortritt  und  zu  einer  Stelle  des  Randes  geführt 
wird.  Der  Faden  ist,  vom  Loch  aus  gerechnet,  erst  weiß;  von  einer  Stelle  an 
ist  er  geschwärzt.  Das  schwarze  Stück  hebt  sich  vom  schwarzen  Grund  nicht 
ab  und  bleibt  unbeachtet;  es  ist  also,  wie  wenn  nur  ein  Stück  weißer  Faden 
ausgespannt  wäre.  Die  Länge  des  weißen  Fadens  läßt  sich  nun  variieren, 
indem  man  den  Faden  herauszieht  oder  von  hinten  anfassend  in  das  Loch 
hineinzieht.  Die  Grenzen  des  weißen  Stückes  sind  nicht  ideal  scharf:  weder 
die  Umbiegungsstelle,  noch  die  Stelle,  wo  die  schwarze  Färbimg  beginnt.  Für 
die  meisten  Versuche  reicht  aber  die  Genauigkeit  der  Grenzen  aus. 

a)  Kleines  Modell  A.    Die  Anordnung  ist  vielseitig.    Ich  bespreche  zunächst  Nr.12». 
nur  die  hierher  gehörige  Verwendung.    Karton  18X15  cm.    Aus  dem  Loch  in 

ZeitacbrUt  f.  pftcUgog.  Psychologie.  16 


226  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

der  Mitte  treten  4  Fäden,  zunächst  weiß,  die  äußeren  Hälften  geschwärzt. 
Jeder  Faden  geht  zu  einer  am  Rande  verschiebbaren  Klammer,  durch  welche 
er  niedergedrückt  wird,  so  daß  er  in  der  Spannung,  in  die  man  ihn  gebracht 
hat,  bleibt.  Auch  das  hintere  Ende  wird  von  derselben  Klammer  festgehalten. 
Der  Druck  der  Klammer  ist  so  schwach,  daß  sich  der  Faden,  ohne  zu  reißen, 
verschieben  läßt. 

Zur  Vergleichung  zweier  Strecken  werden  nur  2  Fäden  verwendet,  in  be- 
liebiger Richtung  zueinander,  aber  natürlich  vom  gleichen  Punkte  (Loch)  aus- 
gehend. Man  stellt  den  einen  Faden  so  ein,  daß  er  gleich  dem  andern  erscheint. 
Der  Apparat  eignet  sich  besonders  zur  Bestimmung  gewisser  Täuschungen: 
eine  vertikale  Strecke  erscheint  länger  als  eine  horizontale ;  von  zwei  überein- 
anderliegenden Strecken  erscheint  die  obere  länger. 

Nr.i2b.  b)  Derselbe  Apparat  in  größerer  Ausführung,  für  Strecken  mit  größeren 
Dimensionen  oder  zur  Demonstration. 

Nr.i2c.  c)  Derselbe  Apparat,  Modell  C.  (Mechaniker  Marx,  Berlin.)  Metallscheibe 
von  30  cm  Durchmesser,  an  welcher  sich  die  Halter  der  Fäden  verschieben 
lassen.  Gradteilung  zur  genauen  Einstellung  der  Halter  und  damit  der  gegen- 
seitigen Richtung  der  Fäden.  Die  Spannung  wird  durch  Gewichtchen  erzeugt, 
die  so  angeordnet  sind,  daß  sie  beim  Pendeln  sich  nicht  verwickeln  können. 
Die  Metallscheibe  steht  auf  3  Füßen. 

xr.i2d.  d)  Derselbe  Apparat,  Modell  D.  Zum  Unterschied  von  den  vorigen  Appa- 
raten sind  hier  2  Löcher  in  die  Grundfläche  gebohrt.  Die  beiden  von  ihnen 
ausgehenden  Fäden  stoßen  also  nicht  aneinander.  Die  Grundfläche  wird  durch 
ein  Reißbrett  gebildet.  Die  Fäden  werden  wieder  durch  verschiebbare  Klam- 
mern am  Rande  des  Brettes  festgehalten. 

Nr.  13.  Punktdistanzen,  durch  Blechscheibchen  hergestellt.  (Lehrmittel- 
handlung Gebr.  Höpfel,  Berlin;  Mechaniker  Marx,  Berlin.)  Ich  habe  zuerst  von 
länglichen  Körpern,  Stäben,  dann  von  Strichen  gesprochen;  die  Fäden  sind 
vielleicht  ein  Mittelding  zwischen  beiden,  sie  werden  bald  als  Linien,  bald  als 
selbständige  Gegenstände  aufgefaßt.  Noch  unreeller  wie  Striche,  Konturen 
sind  leere  Distanzen.  Sie  werden  von  Kindern  (nach  Giering)  besonders 
schwer  erfaßt.  Innerhalb  der  Distanzen  gibt  es  wieder  Stufen:  die  begren- 
zenden Gebilde  sind  selbständige  Körper  (Scheibchen,  Perlen,  Steine  usw.) 
oder  sind  selbst  Konturen  (Punkte,  Striche). 

Vielseitig,  auch  für  andere  Zwecke  verwertbar,  sind  lose  Punkte.  Die  beiden 
zu  vergleichenden  Distanzen  können  in  jeder  Größe,  Lage,  Neigung  und  Ent- 
fernung geboten  werden,  sie  sind  außerdem  kontinuierlich  variierbar. 

Karton-  oder  gar  Papierscheibchen  als  Punkte  haben  sich  nicht  gut  bewährt,  da 
sie  durch  den  Luftstrom  beim  Atmen  oder  Sprechen  weggerissen  werden.  Ich  habe 
daher  zu  kleinen  Blechscheibchen  (3  oder  5  oder  8  mm  Durchmesser)  gegriffen. 

Nr.  14.  Perlen-Distanzvariator  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel, 
Berlin;  Mechaniker  Marx,  Berlin).  Die  Punkte  sollen  in  jeder  Lage,  in  die  man 
sie  bringt,  gehalten  werden,  auch  wenn  man  den  Apparat  vertikal  stellt.  Dies 
wird  durch  folgendes,  auch  bei  späteren  Apparaten  verwendete  Prinzip  erreicht : 
Ein  Brett  (50X20  cm)  ist  mit  schwarzem,  gleichmäßigem  Tuch  überzogen.  Über 
dem  Tuch  ist  ein  kräftiger,  schwarzer  Faden  ausgespannt,  an  welchem  weiße 
Perlen  zu  verschieben  sind.    Alle  Perlen  sind  genau  gleich  groß  und  mit  einer 


Probleme  xind  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  227 

solchen  Bohrung  versehen,  daß  sie  infolge  Reibung  an  jeder  Stelle  des  Fadens 
bleiben,  an  die  man  sie  schiöbt.  Der  schwarze  Faden  ist  auf  dem  schwarzen 
Grund  kaum  zu  sehen,  jedenfalls  achtet  man  nicht  auf  ihn.  Man  darf  also  wohl 
von  einer  Beurteilung  von  leeren  Distanzen  sprechen. 

Man  kann  4  Perlen  auf  demselben  Faden  verwenden  und  die  2  Distanzen 
(innerhalb  gewisser  Grenzen)  in  beliebiger  Größe,  Entfernung  und  Neigung  ver- 
gleichen lassen.  Wenn  man  3  Perlen  verwendet,  kann  man  die  Mitte  einstellen, 
die  äußere  Distanz  halbieren  lassen.  Verwendet  man  endlich  2  Bretter,  so  läßt 
sich  auch  die  gegenseitige  Lage  und  Neigung  der  2  Distanzen  variieren.  Wie 
bei  der  vorigen  Anordnung  können  die  Distanzen  kontinuierlich  variiert  werden. 

Leiste  mit  Marken  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.Höpfel,  Berlin),  Nr.  i5. 
für  größere  Distanzen  und  zur  Demonstration. 

Für  größere  Distanzen  versuchte  ich  zunächst  das  Prinzip  der)  russischen  Rechen- 
maschine. Allein  die  Kugeln  sind  meist  nicht  sehr  regelmäßig  gedreht  und  sitzen  nicht 
fest  genug ;  ferner  stört  die  unscharfe  Begrenzung  hier  mehr  als  bei  den  kleinen  Perlen, 
namentlich  wenn  man  beschattete  Teile  der  Kugeln  sieht.  Ich  zog  daher  folgende 
Einrichtung  vor. 

Auf  einer  1  m  langen  schwarzen  Leiste  werden  parallelepipedische  Steine, 
ähnlich  den  Dominosteinen,  aufgesetzt  und  nach  Bedarf  verschoben.  Die  Steine 
sind  auf  der  Vorderseite  weiß,  hinten  und  an  den  Seiten  geschwärzt.  Es  hebt 
sich  also  nur  die  Vorderseite  ab. 

Serie    von    Punktdistanzen    nach   Giering   (Lehrmittelhandlung    Gebr.  ^r.  le. 
Höpfel,  Berlin).     Hier  ist  die  Distanz  durch  Konturen,   durch  aufgedruckte 
Punkte  gebildet.     Die  Ausführung  ist  ähnlich  wie  bei  den  Strichserien  Nr.  9. 


a)  Auf  jedem  Blatt  eine  Distanz. 

b)  Auf  jedem  Blatt  zwei  Distanzen,  aneinanderstoßend. 


Bisher  war  von  linearen  Strecken  oder  Distanzen  die  Rede.  Wir  können 
auch  nichtlineare  Gebilde  ihrer  Größe  nach  beurteilen.  Wir  schätzen  und  ver- 
gleichen die  Breite  eines  Streifens,  ohne  an  verschiedenen  Stellen  die  linearen 
Abstände  herauszugreifen,  die  Höhe  eines  Dreiecks,  ohne  an  die  geometrische 
Höhenlinie  zu  denken,  die  Länge  irgendeines  länglichen  (Gegenstandes,  ohne 
eine  Linie  oder  eine  Pimktdistanz  herauszufassen.  Die  Geometrie  und  Meß- 
kunst gebrauchen  nur  lineare  Strecken  oder  Distanzen.  Wir  lassen  uns  leicht 
verleiten,  das  Gleiche  von  dem  subjektiven  Schätzen,  dem  Sehen  anzunehmen. 
Der  ursprünglichste,  vielleicht  auch  für  uns  Erwachsene  noch  der  häufigste 
Fall  ist  der,  daß  wir  nichtlineare,  aber  dennoch  in  einer  einzigen  (ge- 
wöhnlich geraden)  Richtung  sich  ausbreitende  Ausdehnungen 
unmittelbar  erfassen. 

Die  Ausdehnung  kann  sich  auch  in  mehreren  Richtungen  ausbreiten.  Beim 
Quadrat  kann  man  die  Ausdehnung  nach  4,  beim  Kreis  nach  allen  Richtungen 
auffassen.  Wenn  wir  2  Quadrate  oder  Kreise  vergleichen,  greifen  wir  bei  natür- 
licher Betrachtung  meist  nicht  eine  Seit«  oder  Diagonale  oder  einen  Durch- 
messer heraus,  sondern  vergleichen  mit  einem  Blick  die  allseitige  Aus- 
dehnung, Größe. 

15* 


228  Probleme  \ind  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Es  erheben  sich  nun  neue  Fragen :  Wie  genau  ist  in  den  eben  besprochenen 
Fällen  die  Vergleichung  ?  Beurteilen  wir  die  ganze  Breite  eines  Streifens  ebenso 
genau  oder  vielleicht  genauer  als  den  Breitenabstand  an  einer  Stelle  oder  als 
eine  Punktdistanz?  Beurteilen  wir  die  Größe  eines  Kreises  ebenso  genau  oder 
vielleicht  genauer,  wenn  wir  die  allseitig  ausgedehnte  Größe,  als  wenn  wir  nur 
den  Höhen-  oder  Breitendurchmesser  betrachten?  Und  wie  verhält  sich  das 
Kind  ?  Vielleicht  kann  es  nur  die  ganze  Ausdehung  erfassen  und  ist  der  künst- 
lichen Analyse  von  linearen  Ausdehnungen  unfähig  oder  schlecht  fähig? 

Ich  gebe  einige  einfache  Anordnungen  zur  Prüfung  dieser  Fragen  an.  Frei- 
lich bestimmt  die  Anordnung  allein  das  Verfahren  noch  nicht;  es  kommt  darauf 
an,  wie  sich  der  Urteilende  verhält. 
Nr- 17.  Serie  von  Strichdistanzen  nach  Giering  (Lehrmittelhandlung  Gebr. 
Höpfel,  Berlin).  Hier  kann  die  ganze  Breite  zwischen  den  Strichen  beurteilt 
werden.    Die  Serie  ist  analog  der  Punktserie  Nr.  16  zusammengesetzt. 


a)  Auf  jedem  Blatt  eine  Strichdistanz. 


b)  Auf  jedem  Blatt  zwei  Strichdistanzen,  aneinanderstoßend. 
Nr.  18.       Serie    von.  Streifen    (Lehrmittelhandlung    Gebr.  Höpfel,     Berlin).      In 
der  vorigen  Serie  kann  man  die  begrenzenden  Rechtecke  auffassen  |      |   |        | 

und  auf  Grund  der  Form  dieser  Rechtecke  (stehend,  liegend  usw.)  die  Distanzen 
vergleichen.  Diesen  fremden  Faktor  kann  man  vermeiden,  wenn  man  sehr  lange 
Striche  oder  Streifen  verwendet. 

Die  vorliegende  Serie  besteht  aus  ca.  60  cm  langen  Kartonstreifen  von 
18 — 22  cm  Breite,  von  '^/^  zu  '^U  ^^  abgestuft.  Der  Hauptstreifen  von  20  cm 
Breite  ist  doppelt  vorhanden.  Zum  Vergleich  dient  eine  Serie  von  schmalen, 
den  Linien  nahekommenden  Kartonstreifen  in  den  gleichen  Dimensionen. 

Nr.  19.  Serie  von  Quadraten  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin),  aus 
Karton,  von  18 — ^22  cm  Seite,  in  ^/^  cm  abgestuft,  das  Hauptquadrat  von  20  cm 
Seite  ist  doppelt  vorhanden. 

Mittels  der  Serie  läßt  sich  auch  die  bekannte  Täuschung  bei  Vergleichung 
eines  stehenden  und  eines  liegenden  Quadrates  verfolgen. 

Nr.  20.  Serie  von  Kreisen  (Lehrmittelsammlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin),  aus 
Karton,  18 — 22  cm  Durchmesser,  in  '^/^  cm  abgestuft,  der  Kreis  20  cm  ist  doppelt 
vorhanden. 

In  Verbindung  mit  der  Quadratserie  kann  man  die  Täuschung  bei  Ver- 
gleichung eines  Kreises  und  Quadrates  verfolgen. 

Nr.  21.  Serie  von  Scheibchen  nach  Rupp  (Lehrmittelsammlung  Gebr.  Höpfel, 
Berlin;  Mechaniker  Marx,  Berlin,  wie  auch  Nr.  10  u.  11),  aus  Karton.  10 
bis  50  mm,  in  mm  abgestuft.  Die  den  deutschen  und  österreichischen  Münzen 
entsprechenden  Scheibchen,  sowie  die  Scheibchen  mit  den  Durchmessern  1,  2, 
3,  4,  5  cm  sind  doppelt  vorhanden. 

Sie  dienen  nicht  allein  zur  Prüfung  und  Schärfung  der  Unterschiedsempfind- 
lichkeit für  Größen,  sondern  auch  dazu,  die  praktisch  wichtigen  Größen  der 
Münzen  einzuprägen.  (Fortsetzimg  folgt.) 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnimg  in  der  Pädagogik  usw.     229 

Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  In  der  Pädagogik 

und  Psychologie. 

Von  Gustav  Deuchler. 

(Schluß.) 

V. 

1.  Im  zweiten  Abschnitt  unserer  Betrachtungen  wurde  die  Frage  behandelt, 
wie  man  aus  dem  einfachen  Urteil  des  Mehr  oder  Weniger  des  einen  Schülers 
gegenüber  dem  anderen  die  gegenseitige  Abhängigkeit  zweier  Leistungs- 
gebiete bestimmen  kann,  wenn  die  beiden  Schüler  zwei  verschiedenen 
Gruppen  A  und  B  angehören.^)  Diese  beiden  Gruppen  wollen  wir  nun  zu- 
nächst bestehen  lassen;  aber  wir  wollen  jetzt  nicht  mehr  die  Leistungen 
zweier  Schüler  A^  und  By  mit  einander  vergleichen,  sondern  wir  wollen 
die  Leistung  eines  jeden  Schülers  auf  eine  objektive  Forderung  beziehen, 
und  zwar  soll  diese  Forderung  so  beschaffen  sein,  daß  sie  entweder  erfüllt 
wird  oder  nicht.  Realisiert  ist  dieser  Fall  z.  B.  da,  wo  wir  einen  Alternativtest 
in  der  Weise  zu  eichen  versuchen,  daß  wir  zwei  in  dem  in  Frage  stehenden 
Gebiet  deutlich  von  einander  unterschiedene  Gruppen  von  Versuchspersonen 
(Schüler)  damit  prüfen.  Die  Gruppe  A  soll  die  leistungsfähigere  sein.  Ergibt 
nun  die  Prüfung,  daß  sämtliche  u  Schüler  der  Gruppe  A  der  Forderung  ge- 
nügen, dagegen  sämtliche  v  Schüler  der  Gruppe  B  nicht,  so  ist  der  Test 
ausgezeichnet  zur  Scheidung  der  Schüler  in  zwei  Abteilungen  von  dem 
Befähigungsunterschied  der  Gruppen  ^undB —  vorausgesetzt,  daß  u  und  v 
hinreichend  groß  sind.  Aber  der  Fall  kann  auch  da  verwirklicht  sein,  wo  ich 
nach  dem  gegenseitigen  Zusammenhang  zweier  Fähigkeiten,  etwa  zwischen 
der  Allgemeinbegabung  und  der  besonderen  Leistung  (oder  allgemeiner 
zwischen  zwei  Merkmalen),  frage.  Wenn  nämlich  die  zwei  Gruppen  deutlich 
in  der  Weise  unterschieden  sind,  daß  der  einen  eine  Fähigkeit  zukommt, 
der  andern  nicht,  so  kann  ich  jede  Gruppe  gesondert  auf  das  Dasein  oder 
Fehlen  einer  zweiten  Fähigkeit  hin  untersuchen.  Das  Fehlen  dieser  Fähig- 
keit kann  dabei  auch  das  Vorhandensein  einer  andern  Fähigkeit  bedeuten. 

Wenn  nun  in  Gruppe  A  die  zweite  Fähigkeit  bei  einem  Schüler  vorhanden 
(D)  ist,  so  soll  ein  Plus  notiert  werden,  wenn  nicht  (F),  dann  ein  Minus; 
dagegen  verzeichnen  wir  ein  Plus,  wenn  diese  Fähigkeit  in  Gruppe  B  nicht 
vorhanden  (F),  ein  Minus,  wenn  sie  vorhanden  (D)  ist.  Die  Anzahl  der 
Pluszeichen  der  Gruppe  A  sei  durch  a,  die  der  Gruppe  B  durch  5,  die  An- 
zahl der  Minuszeichen  der  Gruppe  A  durch  ß  und  die  der  Gruppe  B  durch 
y  bezeichnet. 

Dann  lassen  sich  die  Versuche  in  der  Übersicht  XI  darstellen. 


A  (Dasein)  !  B  (Fehlen) 

D 
(DAoein) 

a 

Y 

F 

(Fehlen) 

ß 

d 

(XI) 


»)  Vgl.  oben  S.  119  ff. 


230    Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechrning  in  der  Pädagogik  uaw. 

Da  sich  in  der  Gruppe  Ä  gerade  u,  in  der  Gruppe  B  gerade  v  Schüler  be- 
finden, so  ergeben  sich  uns  die  beiden  Gleichungen  (48)  und  (49) 

a+  ß=u  (48) 

Y-\-  ö  =  v  (49) 

Da  die  beiden  Gruppen  Ä  und  B  gegeneinander  selbständig  sind,  so  setzt 
sich  die  gegenseitige  Abhängigkeit  von  Leistung  und  Befähigung  einfach 
zusammen  "aus  der  Abhängigkeit  der  Erfüllung  der  Forderung  von  dem 
Vorhandensein  der  entsprechenden  Befähigung  (Ä)  und  der  Abhängigkeit 
des  Versagens  von  dem  Fehlen  der  Befähigung  (B).  Beide  Abhängigkeiten 
kann  man  so  formulieren,  daß  bei  vollständiger  positiver  Korrelation  beide 
Mal  +  1,  bei  Unabhängigkeit  0,  bei  völlig  negativer  Abhängigkeit  —  1 
herauskommt.  Dies  ist  der  Fall,  wenn  man  die  Abhängigkeitskoeffizienten 
Ci  und  C2,  dem  früheren  r  entsprechend  (vgl.  S.  19),  definiert  als 

°^— ß       °^— ß        .        2ß       2a 

Ci    =    r—^  =  =1 -  = 1  (50) 

,,^|=I  =  ^^  =  a_?I  =  Ü_i  (51) 

Die  beiden  letzten  Formen  in  diesen  Gleichungen  ergeben  sich  mit  Rück- 
sicht auf  (48)  und  (49). 

Die  gegenseitige  Abhängigkeit  oder  Korrelation  (c)  wird  dann  durch  die 
Gleichung  (52)  ausgedrückt: 

Die  zwei  letzten  Gleichungen  zeigen  uns,  daß  wir  bloß  zwei  von  den  vier 
Größen  zur  Bestimmung  von  c  brauchen^) ;  auch  hätten  wir  durch  eine  ein- 
fachere Überlegung  zur  Gleichung  für  c  kommen  können.  Das  gegenseitige 
Zusammentreffen  von  Befähigung  (Ä)  und  Leistung  (D)  ist  offenbar  umso 
vollkommener  (c  nähert  sich  um  so  mehr  + 1),  je  größer  die  relative  Häufig- 

a  /  6  \  y  f  ß  \ 

keit  —    bzw.  -    und  je  kleiner  die  relative  Häufigkeit  -    bzw.  -    ist;  und 
u\  V  J  V  \  u / 

Befähigung  und  Leistung  schließen  sich  umso  vollkommener  gegenseitig  aus, 

a/  ö\ 

(c  nähert  sich  um  so  melir  —  1),   je  kleiner-!  bzw.  -j  und   je   größer 

y  f  ß\ 

-    bzw.  —     ist;  daraus  ergibt  sich  dann  ohne  weiteres  die  Defimtions- 

V  \  uj 

gleichung  für  c. 


^)  Von  den  Nummern  wird  dabei  abgesehen,  da  es  auch  wünschenswert,  daß 
die  gleich  sing  (vgl.  die  folgende  Seite). 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.     231 

Die  Ableitung  der  theoretischen  Mittelwerte  schließt  sich  analog  den 
früheren,  auf  x  bezüglichen  Betrachtungen  (S.  126 f.)  an  den  Ausdruck 
(a  +  ^)"  •  (5  4-  yy>  an.i)  Man  berechnet  wieder  die  Werte  erst  für  die  Minus- 
bzw. Pluszeichen  und  geht  dann  zu  den  c- Werten  über.  Liegt  eine  Korre- 
lation von  der  Größe  c  vor,  so  ergibt  sich  für  das  theoretische  arithmetische 
^Mittel  Co  die  Gleichung 

Co  =  c  (53) 

und  für  den  entsprechenden  theoretischen  Streuungswert  %  und  demgemäß 
auch  für  den  hypothetischen  Streuungswert  q^  der  Ausdruck 

hJ  =  ^° = ^  — w+^' — ■  ^  ^ 

Da  die  Unsicherheit  der  Bestimmungen  c^  und  Cg  so  lange  verschieden  ist, 
als  u  und  v  verschieden  sind,  so  ist  es  wünschenswert,  daß 

u  =  V  =  t  (55) 

ist;  dann  wird  der  Ausdruck  (54)  einfacher;  wir  erhalten  nämlich 


[,,]  =  ,.=^/T±iIE!5.^ 


4t 


(56) 


Den  Betrag  für  den  hier  angegebenen  Näherungswert  erhält  man,  wie  man 

ohne  weiteres  sieht,  völlig  exakt,  wenn  die  relativen  Häufigkeiten  der  Plus- 

a       ö 
fälle  beide  Male  gleich  groß  werden,  also  -  =  -;  dies  ist  zugleich  auch  die  Be- 

dingung  dafür,  daß  die  gegenseitigen  Beziehungen  durch  einen  einzigen 
Wert  völlig  eindeutig  charakterisiert  werden  können. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen:  Wo  die  c-Methode  anwendbar 
ist,  gibt  der  Doppelausdruck  für  CoJiC\o  eine  Charakteristik 
der  Korrelation  von  der  Größe  c.  Es  liegt  demnach  gegen- 
seitige Abhängigkeit  von  der  Größe  c  vor,  wenn  die  aus  einer 
genügend  großen  Anzahl  von  Versuchen  gewonnenen  resul- 
tierenden Werte  c,±qg  die  Doppclgleichung  c,  ±  q,  =  Cq  ±,  c\o 
hinreichend  befriedigen.'') 

Sind  die  Häufigkeiten  dem  Schema  XI  entsprechend  gegeben  durch  (onfto) 

80  ist  der  Korrelationswert  und  die  dazu  gehörige  hypothetische  Streuung 
c±qk=  -f  0,6  +  0,004;  sind  sie  durch  (0x^0)  dargestellt,  so  ist  c  +  q* 

=  +  0,66  ±  0,0039,  und  sind  sie  (oa!a)'  so  ist  c±q*  = —0,4  +  0,0046. 
\  80  40  / 

*)  Vgl.  Die  Math.  d.  R.-  u.  O.-Korr.  Kap.  XI;  dort  auch  die  entsprechenden  Häufig- 
koitskiirvon. 

•)  Über  Möglichkeit,  die  Richtungsuntersehiede  von  c  darzustellen,  wenn  Ci  4-.  o» 
ist,  vgl.  Die  Methoden  der  R.-  u.  O.-Korr.  Kap.  XI.  Der  Koeffizient  c  ist  übrigens 
identisch  mit  dem  vonO.F.  Lipps  (Die  psych.  Maßm.  S.  117,  Gl.  78)  angegebenen  ö'. 


232    Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

2.  Eine  andere  Behandlung  erfordert  das  Beispiel,  wenn  wir  nicht  in  der 
Lage  sind,  unsere  Versuchspersonen  oder  unser  Versuchsmaterial  in  bezug 
auf  das  eine  Merkmal  oder  die  eine  Fähigkeit  von  vornherein  in  zwei  deut- 
lich unterschiedene  Gruppen  zu  teilen,  sondern  diese  Teilung  erst  auf  Grund 
der  Prüfung  vornehmen  können.  Würde  freilich  eine  hinreichend  oft  durch- 
geführte Prüfung  dann  jeweils  die  gleiche  Gruppierung  ergeben,  so  wäre 
das  ein  Beweis  für  eine  im  Versuchsmaterial  von  vornherein  vorliegende 
unvermittelte  Gruppierung ;  wir  hätten  dann  die  Resultate  nach  Schema  XI 
zu  behandeln.  Aber  diese  Erfahrung  werden  wir  im  allgemeinen  nicht  oft 
machen;  vielmehr  wird  die  Wiederholung  des  Versuches  an  einem  zunächst 
noch  nicht  unterschiedenen  Merkmalskomplex  immer  wieder  etwas  andere 
Gruppierungen  ergeben. 

Wir  wollen  das  allgemeine  Problem  in  eine  spezielle  Frage  einkleiden. 
Wir  wollen  den  Zusammenhang  zwischen  geometrischer  (Z)  und  zeichne- 
rischer (Y)  Begabung  prüfen;  der  Versuch  habe  die  Form  eines  doppelten 
Alternativtests,  so  daß  also  jede  der  n  Versuchspersonen  in  jedem  der 
beiden  Gebiete  die  Probe  besteht  oder  nicht  besteht.  Die  bestandene  Probe 
drückt  das  Dasein  der  betreffenden  Befähigung  (durch  X^  und  Y^  ange- 
deutet), die  nicht  bestandene  das  Fehlen  (Xg  bzw.  Yg) aus.  Bei  jeder  Versuchs- 
person ist  nun  ein  vierfacher  Ausfall  der  Probe  (eigentlich  der  Doppelprobe) 
möglich ;  nämlich  Xi  Yi,  Xi  Yg,  Xg  Yi  und  Xg  Yg.  Wir  notieren  uns  dann 
bzw.  die  Zeichen  +,  ||,  =  und — ;  sodann  soll  die  Anzahl  der  +  mit  a,  die 
der  II  mit  ß,  die  der  =  mit  y  und  die  der  —  mit  ö  bezeichnet  werden,  Haben 
wirnVpn.  geprüft,  so  können  wir  das  Resultat  in  die  Übersicht  XII 
bringen : 


(XII) 


^1 

X, 

1^1 

« 

(+) 

7 

(=) 

a+Y 

Y, 

ß 

(ii) 

(-) 

ß+S 

a+ß 

Y+S 

Auch  ergibt  sich  uns  dann  sofort  die  Relation 

a-\-ß-\-y-{-^  =  n 


(57) 


Als  Korrelationskoeffizienten  für  das  Schema  XII  hat  man  u.  a.  auch  die 
Gleichung  (58)  vorgeschlagen: 

aö — ßö 

aö  +  ßö  (58) 


A  = 


Man  sieht  ohne  weiteres,  daß  der  Wert  A  sich  zwischen  den  Grenzen  4- 1 
und  —  1  bewegt.  Auch  wird  er  0,  w^enn  keine  Abhängigkeit  besteht ;  denn 
Unabhängigkeit  liegt  ja  offenbar  dann  vor,  wenn  die  Häufigkeiten  unter  Xj 
(oder  bei  Yi)  in  demselben  Verhältnis  fortschreiten  wie  die  unter  Xg  (bzw. 
bei  Yg),  wenn  also  die  Proportion  a:  ß  =  y.ö  und  infolgedessen  die  Gleichung 


aö  —  ßy^O 


(59) 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnttng  in.  der  Pädagogik  usw.    233 

besteht.^)  Trotzdem  ist|  A  als  Korrelationskoeffizient  niclit 
zu  gebrauchen,  da  er  bloß  ein  Relations-  oder  wie  Udny  Yule^)  ihn 
nennt,  ein  Assoziationskoeffizient  ist.  Der  Wert  A  wird  nämlich 
nicht  nur  + 1,  wenn  sämtliche  X,  zugleich  Yi  und  sämtliche  Xg  zugleich 
Yi  sind,  wie  dies  der  Begriff  der  vollkommenen  Korrelation  verlangt,  sondern 
auch  dann,  wenn  nur  sämtliche  X^  zugleich  Yi  oder  wenn  sämtliche  X2 
zugleich  Y2  sind;  ebenso  ist  es  mit  —  1.  Es  gehören  also  zu  jedem  der  beiden 
Extremwerte  je  drei  Fälle  von  sachlich  verschiedener  Bedeutung: 

zu  +  1  zu  —  1 

(ö°)'  (öO'""^G^)'       Go)(m)""'*Go)- 

Dem  Mangel  der  Größe  A  läßt  sich  abhelfen;  man  braucht  nur  einen  an- 
deren Nenner  zu  wählen;  der  zwar  auch  so  beschaffen  ist,  daß  die  Extrem- 
werte dann  -f-  1  und  —  1  werden,  aber  nur  in  den  Fällen,  wo  die  Korrelation 
vollkommen  ist.  Den  Anforderungen  genügt  die  Größe  d  der  Gleichung 
(60) 

aö  —  ß  y 
^  ^  y  (a  +ß){a+  y)  {ö  +  ß)  {ö  +  y)  '  W 

wie  man  sich  durch  Verifikation  leicht  überzeugt.^) 

Der  Koeffizient  d  läßt  sich  übrigens  leicht  aus  dem  bekannten  Bravais- 
schen  Koeffizienten  (vgl.  unten  S.  236  ff.)  durch  Transformation  gewinnen.*) 

Auf  die  kritischen  Werte  der  Koeffizienten  A  und  d  will  ich  hier  nicht 
weiter  eingehen.*)  Für  die  zu  A  gehörenden  kritischen  Größen  hat  G.  F. 
Lipps  die  Ableitung  (a.a.O.)gegeben;  sie  sind  nur  in  der  bis  jetzt  vorgebrachten 
Form  etwas  umständlich.  Johannsen  benutzt  als  hypothetischen  Streuungs- 
wert den  von  Pearson  und  Filon  entwickelten  mittleren  Fehler  des  Bra- 

1  —  d2 
vaischen  Koeffizienten  also  qf^=    —  _-. 

V  n 

Der  Wert  d  kann  natürlich  die  Beziehungen  zwischen  den  4  Größen  des 
Schemas  XII  nicht  eindeutig  darstellen;  denn  d  kann  den  gleichen  Wert 
besitzen,  auch  wenn  a  und  S  oder  ß  und  y  ihre  Beträge  vertauschen.  Eine 
solche  Vertauschung  bedeutet  aber  in  der  Gesamtkonstellation  der  vier 
Größen  sachlich  verschiedenes;  dies  läßt  sich  an  dem  Korrelationswert  d 
durch  Indices  ausdrücken,  die  mit  Rücksicht  auf  das  geometrische  Bild, 
das  die  Indicesgebung  in  eine  Figurenregel  bannt,  Quadrantenindices  genannt 


»)  Vgl.  G.  F.  Lipps,  Die  psycliischen  Meßmethoden  S.  119  (Gleichung  86)  und 
Die  Bestimmung  der  Abhängigkeit  usw.  S.  15  (Gleichung  53);  auch  W.  Storn  (Diffe- 
rentiolle  Psychologie  S.  313)  nennt  J  unter  den  Koeffizienten  der  (qualitativen) 
Korrelation, 

•)  Vgl.  An  Introduction  to  the  Theorie  of  the  Statistics.    S.  37f. 

•)  Vgl.  Die  weitere  Diskussion  der  Koeffizienten  ^  und  d  in  meinen  Untersuchungen 
Kap.  XII. 

*)  Vgl,  auch  W.  Johannsen*  a.a.O.  S.  343ff.  und  Udny  Yule  a.a.O.  216f, 

*)  Vgl.  Das  XII.  Kap.  meiner  Untersuchungen. 


234    Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

werden  können.  Auf  diese  Weise  erhält  der  Wert  d  jeweils  eine  bestimmte 
Richtung  (natürlich  läßt  sich  auch  die  Größe  A  durch  Richtungsindices 
noch  näher  charakterisieren,  vgl.  meine  Untersuchungen  Kap.  XII). 

Ohne  weiter  auf  die  Richtungsbestimmung  einzugehen,  seien  noch  als  Bei- 
spiele die  Werte  d+q/,  aus  der  Konstellation  (  ]  berechnet;  es  ist   hier 

14-72  — 7-17       1—0,422 

d+qh=    r  ±   /  =  +  0,4165  +  0,0752. 

y  21  •  31  •  79  •  89      y    110  ~" 

3.  Die  in  diesem  Abschnitt  behandelten  Korrelationsbestimmungen  werden 
zuweilen  auch  als  Kontingenzbestimmungen  bezeichnet,  wobei  man 
unter  Kontingenz  oder  Deckungsgrad  die  gegenseitige  Abhängigkeit  zweier 
(oder  mehrerer)  Merkmale  versteht,  deren  Varianten  nicht  in  quantitativer 
Abstufung,  sondern  in  qualitativer  Gruppierung  gegeben  sind.^)  Es  liegt  für 
uns  kein  Grund  vor,  den  Begriff  der  Kontingenz  dem  der  Korrelation  gegen- 
überzustellen, wie  das  zuweilen  auch  geschieht.^)  Es  wäre  sogar  unrichtig; 
denn  er  ordnet  sich  ja  völlig  unserer  allgemeinen  Begriffsbestimmung  unter 
(vgl.  oben  S.  115),  da  diese  sowohl  quahtativ  wie  quantitativ  abstufbare 
Merkmale  umfaßt.  Hält  man  aber  an  der  allgemeinen  Bestimmung  des 
Korrelations-  und  infolgedessen  auch  des  Kontingenzbegriffes,  der  gegen- 
seitigen Abhängigkeit  nämlich,  fest,  so  fallen  freilich  Sterns  Bemühungen 
um  die  Gewinnung  von  gerichteten  Kontigenzen  3)  außerhalb  des  Korre- 
lations- und  darum  auch  des  Kontingenzbegriffes,  weil  es  nur  Zuordnungs- 
oder  Relationskoeffizienten  sind,  was  Stern  in  diesem  Zusammenhang  for- 
muliert. Die  Fragen,  um  die  es  sich  dabei  dreht,  gehören  in  das  Gebiet  der 
,, partiellen  Korrelationen",  auf  die  ich  in  einer  besonderen  Abhandlung 
zurückkommen  möchte;  ich  gehe  darum  auch  auf  die  Sternschen  Formeln 
hier  nicht  weiter  ein. 

VI. 

1.  Die  bisherigen  Betrachtungen  schlössen  sich  immer  an  bestimmte  Pro- 
bleme an;  der  systematische  Zusammenhang  blieb  dabei  mehr  oder  weniger 
im  Hintergrund;  darauf  wollen  wir  nun  für  einen  Moment  unsere  Aufmerk- 
samkeit lenken,  natürlich  unter  Besclu-änkung  auf  die  Hauptzüge  und 
Exemplifizierung  an  einfachen  Fällen. 

Die  Koeffizienten  x  und  91  charakterisieren  Korrelationen,  die  sich  auf  der 
Vergleichung  der  einen  Leistung  gegenüber  der  anderen  hin- 
sichtlich eines  Mehr  oder  Weniger  aufbauen.  Sowohl  bei  der  zwei- 
gliederigen als  auch  bei  der  mehrgliedrigen  Vergleichung  fehlt  die  Beziehung 
auf  ein  objektiv  Bestimmbar-  oder  Definierbares;  darum  haben  auch  alle 
Rangzahlen  nur  interrelative  Bedeutung;  man  macht  nur  von 
der  Zahl  als  permutierbarer  Mannigfaltigkeit  Gebrauch.  Diese  zwei  Merk- 
male sollen  bestimmend  sein  für  den  Begriff  der  Rangkorrelation.   Die  Be- 


1)  Vgl.  z.  B.  W.  Stern,  a.  a.  O.  S.  308. 
^)  Vgl.  W.   Betz,   a.  a.  O.    S.  38. 
»)  a.  a.  O.   S.  310f£. 


über  die  Methoden  der  KorrelationsrechnurtS:  in  der  Pädagogik  usw.     235 

deutung  dieser  Festsetzung  Wird  sofort  klar.  Nicht  immer  ist  nämlich  der 
Rangbegriff  so  präzisiert;  denn  häufig  spricht  man  auch  da  von  Rangord- 
nungen, wo  man  tatsächlich  eine  Ordnung  vor  sich  hat,  die  an  absoluten  Merk- 
malen orientiert,  also  exterrelativ  ist.  Wenn  wir  eine  Notenliste  in  die  Hand 
nehmen,  so  bemerken  wir  oft,  daß  in  dem  einen  Fach  alle  Zensurabstufungen 
vertreten  sind,  in  dem  zweiten  fehlt  die  erste  Stufe,  in  dem  dritten  die  letzte 
und  vielleicht  auch  die  vorletzte,  in  dem  vierten  sogar  die  erste  und  letzte  usw. 
Sehen  wir  von  der  bei  der  Beurteilung  oft  zutage  tretenden  Tendenz  der  ,Medi- 
anisierung'  ab,  so  ist  der  Grund  eines  solchen  Resultates  ledighch  darin  zu 
suchen,  daß  bei  der  Verteilung  der  Zensuren  absolute  Maßstäbe  im  Gegensatz 
zur  schlichten  Vergleichung  der  einen  Leistung  mit  der  andern  mitwirken,  wenn 
nicht  gar  bestimmend  sind.  Die  Zensuren  sind  meist  das  Produkt  zweier  Prin- 
zipien, von  denen  jedes  eigentlich  ziemlich  rein  zur  Anwendung  kommen 
könnte :  nach  dem  ersten  ordnet  man  die  Schüler  in  so  viele  Gruppen  als 
Stufen  vorhanden  sind  und  gibt  den  Schülern  der  ersten  Stufe  die  beste 
Zensur,  denen  der  zweiten  die  nächste  usw. ;  nach  der  anderen  teilt  man  die 
Mannigfaltigkeit  der  Abweichungen  von  den  gestellten  Forderungen  in  Stufen 
ein  und  ordnet  dann  die  Schüler  je  nach  dem  Grade,  in  dem  sie  die  Forde- 
rungen erfüllen,  den  einzelnen  Stufen  zu. 

Man  sieht,  nur  im  ersten  Fall  haben  wir  Rangordnungen  in  unserem  Sinne 
und  nur,  wo  sich  die  Bezeugnissung  diesem  Verfahren  nähert, 
sind  wir  ohne  weiteres  berechtigt,  die  Korrelation  nach  der 
9l-Methode  aus  den  Noten  zu  berechnen.^)  Im  zweiten  Fall  haben 
wir  gar  keine  Rangfolgen  im  obigen  Sinne,  sondern  eine  in  ilu'em  Anfang  und 
Fortgang  ganz  bestimmt  fest  gelegte  Stufenordnung;  dasbekundet  sich  dann 
auch  bei  der  Zuordnung  der  einzelnen  Schüler  zu  den  entsprechenden  Stufen; 
CS  brauchen  eine  oder  melu'ere  Stufen  nicht  besetzt  zu  sein,  wälirend  andere 
mi'lu'fach  eingenommen  sein  können.  Korrelationen,  die  aus  einem  Material, 
welches  das  Prinzip  der  bestimmten  Stufenordnung  von  einem  festen  Aus- 
gangspunkt aus  oder  kurz  das  Prinzip  der  bestimmten  Ordnung  zum  Ausdruck 
bringen,  sollen  als  Ordnungskorrelationen  bezeichnet  werden. 

Es  ist  nun  ersichtlich,  daß  wir  es  bei  der  c-undd-Methode(vgl.obenS.229f. 
u.  S.  232  f.)  mit  einfachen  Ordnungskorrelatiouen  in  diesem  Sinne  zu  tun  haben ; 
nur  ist  (Vv  Anzahl  der  Stufen  die  kleinstmöglichc,  nämlich  zwei.  Die  bei  den 
( M<lmiiiLiskorr(;lationen  in  Frage  kommenden  Stufen  können  ebensogut  Spe- 
zialisierungen als  qualitative  oder  quantitative  Abstufun^'fii  sein;  wichtig  ist 
nur,  daß  für  die  Stufenanordnung  ein  bestimmtes  Pi'inzip  fustgL  hallen  wird  und 
(laß  die  Ordnung  der  Stufen  einen  festen  Ausgangspunkt  besitzt.  Wir  ver- 
wriidfii  demnach  bei  den  Ordnungskorrelationen  die  Zahl  nicht  bloß  als 
P'  riiiuiKTbare,  sondern  als  bestimmt  geordnete  Mannigfaltigkeit. 

<  ;•  hen  die  Art-,  Qnalitäts- oder  Quantitätsunterschiede  ineinander  über, 

80  triif  an  St.  II.'  d.  r  Stuf.nfolge  das  Maßkontinuum,  und  wii-  )••  iiiitz.ii  dann 
bei  d.ii  Ma  l.'.k'.n.  la  I  Kiiieu  die  Zalil  als  stetige  Groß»'.  iK-v  Itiri^ang 
Viiü  (Irr  diskr.'tciiZaliK  di.'  .  iii.'  h.st immt.'  Stufe  charakterisiert,  zur  Zahl  als 


*)  Auf  S.  149,  Znilo  10  von  unten  (llrtt  '..'>}  iat  ein  Schreibfehler  stehen  geblieben: 

OS  iiinÜ  <l..rt  9  Scliul'i-  h.  iL;.ii  statt  12. 


236     Über   die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

einer  stetigen  Größe  ist  in  diesem  Zusammenhang  von  geringer  Bedeutung; 
um  so  mehr  dagegen  der  Übergang  vom  Gebrauch  der  Zahl  als  bloß 
permutierbarer  Mannigfaltigkeit  zur  Zahl  als  bestimmt  geordneter 
Mannigfaltigkeit. 

Vonhier  aus  ergeben  sich  zwei  verschiedeneFormen  derVariabilität. 
Wo  Rangordnungen  vorliegen,  untersteht  die  Veränderung  einer  Reihe  gegen- 
über einer  anderen  den  Bedingungen  der  Vertauschung  und  Verschiebung, 
wie  dies  unter  dem  Bild  der  Rangplatzverteilung  gekennzeichnet  wurde^) 
(nach  jeder  Verteilung  vermindert  sich  die  Zahl  der  Rangplätze  um  1 !).  Wo 
hingegen  bestimmt  geordnete  Stufen-  oder  auch  Maßgrößen  vorUegen,  erfolgt 
die  Veränderung  einer  Reihe  gegenüber  einer  anderen  bloß  durch  Verschiebung 
der  einzelnen  Ordnungs-  oder  Maßgrößen ;  dabei  bleibt  die  Zahl  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Stufen  immer  die  gleiche.  Hier  ist  dann  die  Größe  der  Ver- 
schiebung unter  den  gleichen  Verhältnissen  um  so  wahrscheinlicher,  je  mehr 
der  Betrag  von  der  wahren  Größe  der  Verschiebung  abweicht.  Die  Abstands- 
oder Differenzenbildung  gibt  hier  also  ein  richtiges  Bild,  im  ersten  Fall  nicht. 
Da  die  möglichen  Varianten  im  ersten  Fall  durch  Permutation,  im  zweiten 
Fall  durch  Kombination  gefunden  werden,  so  mögen  die  beiden  Formen  der 
Variabilität  als  permutatorische  und  kombinatorische  einander  gegen- 
übergestellt werden.    Die  Häufigkeitsverteilung  schließt  sich  bei  der  ersten 

Form  an  das  Produkte  =a(a+  ß){a-\-  ß -\-  y). •  (a  +  ß -\-  7  +  ...  +  V), 

bei  der  zweiten  an  die  Entwicklung  des  Polynoms  P=  {a-\-ß  +  7  +  . . .)"  an.^) 

2.  Zum  Schluß  sei  noch  die  Korrelationsbestimmung  nach  dem  r- Verfahren 
erläutert.  Es  wird  immer  da  angewandt,  wo  es  sich  darum  handelt,  aus 
Messungsreihen  die  gegenseitige  Abhängigkeit  zu  gewinnen;  unsere  voraus- 
gehenden Betrachtungen  zeigen  jedoch,  daß  die  r-Methode  nicht  bloß  auf 
Maßwerte  im  strengen  Sinne  anwendbar  ist,  sondern  auch  auf  die  Stufen- 
und  Ordnungsgrößen,  sofern  die  Bedingungen  der  kombinatorischen  Variabi- 
lität erfüllt  sind. 

Ein  Beispiel  von  H.  Damm^)  mag  als  Ausgangspunkt  genommen  werden: 
man  ließ  18Vpn.  15^®°  lang  möghchst  viel  Punkte  auf  ein  Blatt  Papier  mar- 
kieren ;  der  Versuch  wurde  zweimal  ausgeführt ;  die  Zeit  zwischen  dem  ersten 
und  zweiten  Versuch  betrug  14  Tage;  man  kann  nun  nach  dem  Grad  der 
Übereinstimmung  der  beiden  Reihen  fragen,  wobei  der  Unterschied  im  Durch- 
schnitt der  beiden  Ergebniszahlen  außer  Betracht  bleibt.  Wenn  man  die 
Zahl  der  markierten  Punkte  als  Maß  der  Leistung  ansehen  kann,  so  bringt 
er  im  wesentlichen    den    Betrag    der    nachwirkenden   Übung   zum   Aus- 


1)  Vgl.  oben  S.   151. 

*)  Die  weiteren  Ausführungen  dieser  Fragen  finden  sieh  im  XIII.  Kap.  meiner 
Untersuchungen.  Übrigens  sei  hier  noch  angemerkt,  daß  die  permutatorische  Variabi- 
lität nicht  an  die  schlichte  oder  unbestimmte  Vergleichxing  zweier  Varianten  geknüpft 
ist,  wie  auch  z.B.  G.  F.  Lipps  (Die  psych.  Maßmeth.  S.  120  ixnd  Die  Bestimmung  der 
Abhängigkeit  usw.,  S.  29f.)  anzvinehmen  scheint,  sondern  ausschließlich  an  die  Be- 
dingungen der  Rangplatzverteilung;  dieses  Bild  kann  aber  unter  Umständen  auch  da 
gefordert  sein,  wo  ganz  bestimmte  Varianten  vorliegen. 

=>)  Vgl.  Archiv  f.  Pädag.  S.  316ff. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.    237 

druck. ^)  Die  Resultate  sind  in  der  Übersicht  XIII  wiedergegeben;  zu- 
gleich sind  die  zur  Berechnung  von  r  nötigen  Hilfsoperationen  darin  dar- 
gestellt, so  daß  die  Übersicht  XIII  als  Muster  zur  Berechnung  von  r 
dienen  kann,  wenn  die  Anzahl  der  Fälle  (hier  der  Vpn.)  klein  ist. 


XIII. 

Muster 

zur  Berechnung  von 

r  bei  kleinem 

n. 

Zahl  d.  markierten 

Abweichungen 

Produkte  der 

Punkte  im 

vom  Durchschn.  d. 

Abweichungen 

Abweichiings- 

Vpn. 

1. 

2, 

1. 

2. 

quadrate*) 

Versuch 

Versuch 

Versuchs 

Versuchs 

xy 

iX) 

(Y) 

X 

y 

positiv 

negativ 

x« 

y' 

A    , 

104 

127 

0 

—    5 

25 

B    , 

95 

115 

—    9 

—  14 

153 

81 

289 

c   , 

89 

122 

—  15 

—  10 

150 

225 

100 

D    , 

120 

135 

+  16 

+     3 

48 

256 

9 

E      5 

102 

122 

—    2 

—  10 

20 

4 

100 

F    . 

114 

151 

+  10 

+  19 

190 

100 

361 

O    , 

106 

128 

+    2 

—    4 

8 

4 

16 

H    , 

100 

133 

—    4 

+  1 

4 

16 

1 

J    . 

96 

111 

—    8 

—  21 

168 

64 

441 

^  10 

119 

151 

+  15 

+  19 

285 

225 

361 

L  X, 

103 

130 

—    1 

—    2 

2 

1 

4 

M,, 

106 

135 

+    2 

+     3 

6 

4 

9 

^1. 

120 

149 

+  16 

+  17 

272 

256 

289 

0  I« 

90 

132 

—  14 

0 

196 

P    15 

110 

135 

+     6 

.    +     3 

18 

36 

9 

Q  1. 

100 

126 

—    4 

—    6 

24 

16 

36 

R    17 

114 

157 

+  10 

+  25 

250 

100 

625 

S    X, 

86 

118 

—  18 

—  14 

252 

324 

196 

103,8  =  6r 

I32,l=by 

—  0,2==Ca- 

+  o.i=Cf, 

1826' 

^Y^xy 

1908:=;Sa;» 

2871~i;y» 

Man  schreibt  also  zu  jeder  Vp.  die  beiden  Versuchswerte  X  und  Y,  be- 
rechnet die  arithmetischen  Mittel 


=  -{X,-{-X,+ 


undh,=--[Y^+  Y2+  •  •  •  Y« 


weiter  die  einfachen  Abweichungen  der  einzelnen  Vcrsuchswcrtc  vom  arith- 
metischen Mittel 

X  =X  —  hx  und  y  =  Y  —  hy, 

^)  Ob  es  notwendig  oder  zweckmäßig  ist,  die  ursprünglichen  Zahlen  in  Rangplätze 
umzuwandeln,  wie  dies  Damm  tut,  bleibt  hier  ganz  außer  Betracht.  Da  die  von 
Damm  verwendete  e- Methode  im  Resultat  kaum  von  der  r- Methode  abweicht,  so 
hätte  sich  das  Danun  schenken  können;  zur  Bestimmung  von  wirklichen  Rang- 
korrelationen ist  ja  die  ß-Methode  auch  nicht  brauchbar  (vgl.  oben  S.  156  ff.). 

•)  Die  Quadratzahlen  braucht  man  natürlich  nicht  auszurechnen,  da  sie  den 
größeren  Logarithmentafeln  zumeist  beigegeben  sind;  empfehlen  kann  ich  beson- 
ders die  (fünfstolUge)  von  A.  Greve;  sie  enthält  eine  größere  Anzalil  von  recht 
brauchbaren  Hilfstafeln. 


238    Über  die  Methoden  der   Korrelationsrechntzng  in  der  Pädagogik  usw. 

die  Produkte  der  Differenzen  und  die  Differenzenquadrate,  also 

xy,  x^  und  if\ 
daraus  endlich 

^xy,  Hx^  und  2y^. 

Der  Koeffizient  r  ist  dann  durch  die  Gleichung  (61)  definiert: 

^~YZx^-2:y^' 


(61) 


Den  Verlauf  der  Größe  r  wollen  wir  kurz  diskutieren.  Es  ist  leicht  deutüch 
zu  machen,  daß  r  =  +  1  wird,  wenn  die  beiden  Reihen  der  Versuchswerte 
YölHg  übereinstimmend  fortschreiten,  wenn  also  zwischen  den  beiden  Mes- 
sungswerten nur  ein  konstanter  Unterschied  vorliegt.  Es  wird  nämlich  dann  in 
unserem  Beispiel  jeweils  x  =y  und  infolgedessen  der  Zähler  gleich  dem 
Nenner.  Dieses  Resultat  erhält  man  aber  nicht  bloß,  wenn  die  Y-Werte  nur 
um  eine  additive  Konstante  von  den  X- Werten  verschieden  sind,  sondern 
auch  wenn  Y  ein  Jeweils  konstantes  Produkt  von  X  ist  (oder  wenn  beides  zu- 
sammentritt);  der  Proportionahtätsfaktor  (x)  kann  dabei  von  beliebiger 
Größe  sein.  Denn  in  diesem  Falle  ist  natürlich  y  ein  Produkt  von  x, 
und  da  der  Faktor  y.  im  Nenner  unter  der  Wurzel  quadriert  vorkommt, 
hebt  er  sich  gegen  seine  erste  Potenz  im  Zähler. 

Es  ist  aber  weiter  auch  leicht  verständlich  zu  machen,  daß  der  Wert  kleiner 
als  -fl  wird,  wenn  die  X-  und  Y-Werte  von  diesem  Idealfall  abweichen.  Der 
Zähler  (Z)  muß  also  hier  kleiner  werden  als  der  Nenner  (N),  d.  h.  es  ist 
N —  Z  >  0  oder  allgemein  N^ — Z^>  0.  Wir  führen  das  fürn  =  2  durch  (füi- 
ein  größeres  n  ist  es  dann  selbstverständlich).  In  diesem  Falle  wird  der 
Zähler  =  Xiyi+  x^,  2/2,  der  Nenner  =  V{xx'^-\-x^^)  {.y^-^y^^)  und  die  Differenz 
m—Z^^x^^  y-^^+x^^  ^2^+0^2^  yx^  +  x^^  y^—  {x^  2/i^+2a;i  y^  x^  y^-\rx^  y^) 
=  x-^  y^  +  x^  y^  —  2xx  y^  X2  yx  —  {xx  2/2  —  x^  yxY-  Dies  ist  aber  immer 
eine  positive  Größe,  so  daß  der  Nenner  tatsächhch  größer  ist  als  der  Zähler, 
solange  nicht  der  Idealfall  eintritt. 

Tritt  bei  einer  Änderung  der  einen  Reihe  an  Stelle  der  gleichsinnigen  Ände- 
rung die  entgegengesetzt  gerichtete,  so  erhalten  wir  dem  Betrage  nach  die 
gleichen  x-  und  t/- Werte.  Der  Ausdruck  ^xy  wird  dann  negativ  und  im 
Extremfall  erhält  r  den  Wert  —  1.  Treten  häufig  negative  x  und  positive  y 
zusammen  und  umgekehrt,  so  kann  l^xy  und  darum  auch  r  sehr  nahe  oder 
gleich  0  werden. 

Als  hypothetisches  Streuungsmaß  des  Koeffizienten  r  pflegt  man  den 
Wert  q^  aus  der  Gleichung  (62)  zu  verwenden^): 

1— r2 

^h~-7=-  (62) 

V    n 


1)  Vgl.  z.  B.  W.  Johannsen  a.  a.  O.  S.  330.  Wie  genau  dieser  angenäherte  Wert  für  q^ 
an  den  exakten  herankommt,  konnte  ich  bis  jetzt  noch  nicht  feststellen;  auch  konnte 
ich  die  in  Frage  stehende  Originalabhandlung  (von  Pearson  und  Filon)  leider  noch 
nicht  erreichen. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnxing  in  der  Pädagogik  usw.    23^ 

3.  Nun  gelienwir  über  zui'Berechnung  unseresBeispiels.  Dabei  wollen 
wir  zugleich  auf  einige  Re^henvorteile  aufmerksam  machen.  Die  arith- 
metischen Mittel  aus  den  Versuchswerten  sind  &a;=  103,8  und  &y=  132,1. 
Man  sieht  nun,  daß  die  Abweichungen  nicht  genau  vom  Durchschnitt  ge- 
nommen sind.  Dies  geschah  aber  nicht  deshalb,  weil  hier  tatsächlich  die 
kleinen  Unterschiede  vernachlässigt  werden  können,  sondern  weil  man  auch 
auf  diese  Weise  die  völlig  exakten  Beträge  bestimmen  und  darum  sich  eine 
Menge  Rechenarbeit  ersparen  kann;  wir  hätten  übrigens  die  Abweichungen 
gerade  so  gut  auch  von  100  bzw.  130  aus  bestimmen  können  oder  von  andern 
Werten  aus. 

Ist  allgemein  h  das  arithmetische  Mittel  einer  Reihe  von  (n)  Zahlen  (z), 
ö  der  Abstand  der  Einzelwerte  vom  arithmetischen  Mittel  h  (also  z  —  h  =  ^), 
ist  weiter  üq  ein  beliebiger  Ausgangswert,  von  dem  dann  die  Einzelwerte  um 
den  Abstand  d  (also  z  —  üq  =  cf)  entfernt  sind,  ist  ferner  C  die  Differenz 
t  —  ctoi  ^^  das  gesuchte  mittlere  Quadrat  der  Abweichungen  ( 6)  vom  genauen 
Durchschnittswert  &,  und  v^  das  mittlere  Quadrat  der  Abweichungen  (d) 
von  ÜQ,  so  gelten  die  für  die  Rechenpraxis  wichtigen  Relationen 


h=ao+C;    C  =- ^d;    d  =  S-f-C;| 


e2=  —Zö^: 
n 

r2_     ^2 


V'—C' 


Zd" 


(63) 


Haben  wir  sodann  zwei  Reihen  von  Zahlenwerten  also  eine  x-  und  eine 
2/- Reihe  und  schreiben  wir  8,  statt  x  und  Sj,  statt  y,  so  ergibt  sich  uns 


2:d^-dy  =Zö^'öy  —  n!:^-Cy 


Z^=^Zb\  =zd^^  —  nK\ 


(64) 


Die  Gleichungen  (64)  benützen  wir  nun  bei  der  exakten  Berechnung  des  r 
aus  der  Tafel  XIII.    Es  ist 


103,8;    Ca:  =  —  0,2 
132,1;    Cj,  =  +  0,1 


«xo  =104;    h^ 
ttyo  =132;    hy 
folglich  ist  genau 

i:xt/=  1826  —  18  •  (—  0,2)  •  (+  0,1)  =  1826,36 
1:7?  =  1908  —  18  •  0,22  ^  1907,28 
i:y^  =  2871  —  18  •  0,1*  =  2870,82 


und  daraus 


1826  •  36 


r  = 


q»  = 


y  1907,28  •  2870,82 
1  —  0,78* 


=  +  0,7805 


■/li 


=  +  0,09419. 


240    Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw. 

Die  Übereinstimmung  der  beiden  Reihen  wäre  danach  durch  die 
Gleichung  r  Ji  q^  =+ 0,78  i:  0,0942  charakterisiert.  Hervorgehoben  sei 
noch,  daß  die  angenäherten  Werte,  wie  sie  in  der  Tafel  XIII  zu  finden 
sind,  beinahe  das  gleiche  r  ergeben,  nämlich  0,7804.  Dies  besagt, 
daß  wir  bei  solch  kleinen  Abweichungen  die  Korrektur  auch  unterlassen 
können. 

4.  Hat  man  eine  große  Anzahl  von  Versuchen,  so  ist  das  Verfahren  nach  der 
Tafel  XIII  nicht  zweckmäßig;  man  stellt  dann  aus  dem  ursprünglichen 
Zahlenmaterial  ein  Häufigkeitsfeld  her.  Dies  geschieht  auf  folgende  Weise : 
man  schreibt  eine  Reihe  gleichgroßer  Intervalle,  die  für  die  Varianten  der 
einen  Art  von  Bestimmungen  geeignet  sind,  wagrecht  an ;  dazu  senkrecht 
eine  zweite  Reihe  von  Intervallen,  die  für  die  andere  Art  von  Bestimmungen 
passen ;  dann  trägt  man  in  die  dadurch  entstandenen  einzelnen  Teilfelder  die 
entsprechenden  Häufigkeitszahlen  ein.  Die  Übersicht  XIV  gibt  in  dieser 
Weise  das  Zahlenmaterial  der  Tafel  XIII  in  einem  solchen  Häufigkeitsfeld 
wieder. 


XIV.  Muster  zur  Ordnung  des  Zahlenmaterials  bei  großem  n 

(Häufigkeitsfeld). 


X > 

80-89 

90—99 

100—109 

110-119 

120—129 

y  110—119 

1 

2 

3 

20—29 

1 

4 

5 

30—39 

1 

3 

1 

1 

6 

40—49 

1 

1 

150—159 

3 

3 

2 

3 

7 

4 

2 

18 

Wir  denken  uns  nun  die  zu  jedem  Teilfeld  gehörigen  Werte  gleichmäßig 
auf  dieses  verteilt,  so  daß  wir  bei  der  Mittelberechnung  die  Mitte  des  Intervalls 
nehmen  können.  Als  Ausgangswerte  verwenden  wir  die  Mitten  der  hervor- 
gehobenen Intervalle  100 — 109  bzw.  130 — 139,  also  a^o  =104;  ayo  =134. 
Da  die  Intervallgröße  konstant  und  gleich  10  ist,  so  wird  mit  Rücksicht  auf 


die  Gleichung  C  =  -^d  aus  (63) 

n 


10 
18 


Cx=4R-'20-2)  +  (— 10-3)+10-4  +  20-2l=  ir(4— 3)-10  +  (2— 2)20l  = 
18  L  J      18L  J 

^y=^[(— 20-3)+(— 10-5)+l-10+3-10|=i[(3-3)-20+(l— 5)-10l=-|^ 


40 
18 


und  infolgedessen  nC^^-Cy  =  —  —  =  —  22,22. 


über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik  usw.    241 

Bei  der  Berechnung  von  2dxdg  haben  wir  die  Abstände  der  Teilfeldmitten 
von  den  Ausgangswerten  Mteinander  und  mit  den  entsprechenden  Häufig- 
keitswerten zu  multiplizieren ;  es  ist  also 


v^  ^  _  (  1  •  (—20)  (—20)  +  1  •  (—20)  (—10)  -\-2  •  (—20  (—10)  +  1  •  10  •  20 
^  «'       1  100  (4  +  2  +  4*  +2 

+  3.20.10  1       ,„^^ 

Um  die  Summe  der  Abweichungsquadrate  zu  berechnen,  hat  man  bloß 
die  Abweichungen  vom  Ausgangswert  zu  quadrieren  und  mit  der  Häufigkeit 
ihres  Vorkommens  zu  multiplizieren ;  es  ist  somit 

-TdJ  =  2  •  20«  +  3 .  102  +  4  •  10^+ 2  •  20"  =  100  (4- 2*  +  7- 1*)  =  2300 
und        i:dj=3  -202  +  5  •  102+1-102+  3  •  202  =  100  (6  •  22  + 6  •  l2)  =3000. 

Daraus  ergibt  sich  auf  Grund  von  (64) 

100 
Zx^  =  2300  —  TS"  =  2294,44 
18 


,       ,                     1600 
und  i:2/2  =  3000 — -  =  2911,12 

lo 


80  daß  wir  bekommen 

1822,22 
r=    ^  =  0,7215. 

•/2294,44  •  2911,12 

Infolge  des  kleinen  n  bringen  die  durch  die  Zuordnung  zu  den  Intervallen 
bewirkten  Veränderungen  der  gegebenen  Werte  eine  nicht  unwesentliche 
Änderung  der  Korrelationsgröße  hervor.  Diese  Art  der  Berechnung  wird 
man  auch  nur  bei  großem  n  anwenden.  Genauer  wäre  der  Wert  geworden,  wenn 
wir  die  Intervallgröße  kleiner  gewählt  hätten ;  aber  es  sollte  ja  auch  nur  das 
Verfahren  dadurch  gezeigt  werden. 

5.  Wenn  eine  Vielheit  solcher  Zahlenwerte  hinsichtlich  ihrer  gegenseitigen 
Abhängigkeit  durch  r,  also  durch  einen  einzigen  Wert  charakterisiert  werden 
soll,  so  muß  eine  Bedingung  zum  mindesten  annähernd  erfüllt  sein:  die 
Korrelation  muß  linear  oder  geradlinig  sein;  d.  h.  die  Zu- oder  Ab- 
nahme der  Größe  derX-Varianten  muß  im  Durchschnitt  linear  proportional  der 
Zunahme  der  Größe  der  Y- Varianten  sein.  Man  erkennt  dies  an  den  arith- 
metischen Mitteln  der  in  einem  jeden  Intervall  vorkommenden  Einzclwcrte 
(es  handelt  sich  also  um  die  b,- Werte  eines  jeden  Y-Intervalls  und  um  die 
hy  eines  jeden  X-Intervalls).  Werden  diese  bestimmt  und  in  die  Übersicht 
richtig  eingetragen,  so  liegen  die  b,-  und  b^-Werte  bei  geradliniger  Kor- 
relation je  auf  einer  geraden  Linie  (oder  wenigstens  annähernd^   Das  n  der 

Zaitschrlft  f.  pkdagoir.  Pnychologie.  16 


242    Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechniing  in  der  Pädagogik  usw. 

Tafel  XIV  ist  zu  klein,  um  eine  Aussage  über  die  Linearität  der  Korrelation 
zu  gestatten. 

Ist  die  Korrelation  nicht  linear,  so  können  einstweilen  die  so  gewonnenen 
Durchschnittswerte  und  die  ihnen  entsprechenden  Streuungsgrößen  zur 
Charakteristik  der  gegenseitigen  Zusammenhänge  verwendet  werden. 

Mit  diesen  Betrachtungen  will  ich  meine  Übersicht  über  die  Methoden  der 
Korrelationsrechnung  zunächst  einmal  schheßen.  Es  ist  ungefähr  das,  was 
nicht  nur  einfach  in  seiner  Anwendung,  sondern  auch  einigermaßen  durch- 
sichtig ist.  Das  hier  an  brauchbaren  Mitteln  Gebotene  dürfte,  wenn  noch  nicht 
heute,  so  doch  bald  zum  eisernen  Bestand  der  Korrelationsrechnung  gehören. 
Daß  man  aber  darum  keine  Fehler  bei  der  Verwendung  dieser  rechnerischen 
Hilfsmittel  machen  kann,  ist  damit  nicht  gesagt ;  auch  sind  diese  Berechnungs- 
methoden keinerlei  Zaubermittel,  mit  denen  man  wunderbare  Resultate  von 
seltener  Exaktheit  aus  schlechtem  Versuchsmaterial  hervorbringen  kann, 
sondern  schlichte  Werkzeuge  zur  Ordnung,  Klärung,  Ausdeutung  und  Präzi- 
sierung guter  Versuchsergebnisse  und,  richtig  angewandt,  zur  Prüfung 
schlechter.  Man  vergesse  indessen  über  den  Korrelationsgrößen  nicht  die 
in  gegenseitiger  Beziehung  stehenden  Stücke  und  deren  Beschaffen- 
heit, und  man  übersehe  ferner  nicht,  daß  die  beste  Vorarbeit  zur  Heraus- 
arbeitung allgemeiner  Korrelationen  die  sorgfältige  phänomenologischeAnalyse 
der  vorliegenden  Tatbestände  ist. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Kerschensteiners  Leitsätze  über  „Die  nationale  Einheitsschule"  für  die 

Verhandlungen   der  Deutschen   Lehrerversammlung  in   Kiel   (Pfingsten  1914) 
haben  den  folgenden  Wortlaut: 

1.  Die  Erziehung  (im  engeren  Sinne)  ist  jener  Kulturakt  einer  Gemeinschaft, 
der  bestimmte  Kulturgüter  (der  Religion,  der  Moral,  des  Wissens,  der  Kunst, 
der  Technik,  der  gesellschaftlichen  Sitten  und  Gebräuche)  so  an  den  Zögling  heran- 
bringt, daß  sie  nach  Maßgabe  seiner  Veranlagung  in  ihm  jene  besondere  Kultur- 
energie für  die  Zwecke  der  Gemeinschaft  auslösen,  deren  er  fähig  ist.  (Erziehungs- 
begriff.) 

2.  Das  wesentliche  Instrument,  dessen  sich  dieKulturgemeinschaft  für  Durch- 
führung der  systematischen  Erziehung  ihrer  minderjährigen  Mitglieder  bedient, 
ist  die  öffentliche  allgemeine  Schule.    (Erziehungsinstrument.) 

3.  Die  allgemeine  öffentliche  Schule  im  Rechtsstaate,  d.  i.  jenem  Staate,  der 
die  Beziehungen  seiner  Mitglieder  autonom  nach  den  Grundsätzen  der  Gerechtig- 
keit und  Billigkeit  regelt,  muß  jedem  Kinde  ohne  Ausnahme  jene  Erziehung  er- 
möglichen, auf  die  es  nach  Maßgabe  seiner  Veranlagimg  Anspruch  erheben  kann. 
(Erziehungsrecht. ) 

4.  Umgekehrt  ist  im  Kulturstaate,  d.  i.  in  jenem  Staate,  der  alle  allgemeinen 
Zwecke  der  Kultur  in  seinen  Zweck  aufgenommen  hat,  jedes  Kind  verpflichtet, 
von  jenen  öffentlichen  Erziehungseinrichtungen  so  lange  Gebrauch  zu  machen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  243 

als  es  zur  Ausbildung  eines^  nützlichen  Mitgliedes  der  Kulturgemeinschaft  not- 
wendig erscheint.    (Erziehungspflicht.) 

5.  Will  dieser  Erziehungspflicht  durch  private  Einrichtungen  außerhalb  der 
allgemeinen  öffentlichen  Schule  genügt  werden,  so  hat  die  Staatsgemeinschaft 
die  Erlaubnis  hierzu  zu  erteilen,  a)  solange  und  soweit  die  privaten  Erziehungs- 
absichten nicht  dem  Gesamtwohle  der  Gremeinschaft  zuwiderlaufen,  b)  soweit  die 
privaten  Erziehungseinrichtungen  mindestens  das  gleiche  leisten,  wie  die  öffent- 
lichen, c)  solange  die  Mitglieder  keine  öffentlichen  Mittel  für  ihre  nicht  allen  gleich- 
mäßig zugänglichen  Einrichtungen  verlangen.    (Erziehungsfreiheit.) 

6.  Die  Lasten  der  allgemeinen  öffentlichen  Pflichtschulen  sind  aus  allgemeinen 
öffentlichen  Einnahmen  und  nicht  durch  besondere  Schulgelder  zu  decken.  Muß 
in  höheren  öffentlichen  Schulen  für  freiwilligen  Besuch  mangels  hinreichender 
öffentlicher  Mittel  besonderes  Schulgeld  erhoben  werden,  so  ist  jeder  mittellose 
Begabte  hiervon  zu  befreien.  Die  Zahl  der  so  Befreiten  ist  nicht  auf  einen  be- 
stimmten Prozentsatz  der  Gesamtschülerzahl  zu  beschränken.  Mittellosen  Eltern 
besonders  begabter  Schüler  sind  Erziehungsbeiträge  aus  öffentlichen  Mitteln  zu 
gewähren.    (Schulgeldfreiheit  und  Erziehungsbeihilfen.) 

7.  Die  Gewährung  von  allgemeiner  Lehrmittelfreiheit  ist  mehr  eine  Frage  der 
Zweckmäßigkeit  als  eine  innere  Notwendigkeit.  Sie  bringt  ebenso  Erziehimgs- 
nachteile  mit  sich,  wie  sie  Erziehungs vorteile  gewährt.  In  allen  öffentlichen  Schu- 
len aber  sind  mittellosen  Schülern  die  Lehrmittel  unentgeltlich  zur  Verfügung 
zu  stellen.    (Lehrmittelfreiheit.) 

8.  Es  widerspricht  dem  Geiste  des  Rechts-  und  Kulturstaates,  parallel  den 
Pflichtschulen  andere  Schulen  unter  dem  Vorwande  einer  erweiterten  Bildung 
zu  unterhalten,  die  nur  einzelne  nach  Maßgabe  ihrer  besseren  wirtschaftlichen 
Lage  auf  Grund  besonderen  Schulgeldes  an  Stelle  der  Pflichtschule  besuchen 
können.  Jede  Differenzierung  der  öffentlichen  Schule  nach  ökonomischen  oder 
sozialen  Rücksichten  ist  eine  Verletzung  des  Rechts-  und  Kulturstaates.  (Soziale 
Differenzierung.) 

9.  Die  allgemeine  öffentliche  Schule  bedarf  aber  der  Differenzierung  aus  psycho- 
logischen und  pädagogischen  Gründen.  Sie  ist  geboten  a)  durch  die  Wachstums- 
reife des  Zöglings,  b)  durch  dessen  Veranlagung  für  einzelne  Kulturgebiete, 
c)  durch  die  Methoden  der  Vermittlung  der  Kulturgüter  nach  dem  Zwecke  der 
Schule.    (Psychologisch-pädagogische  Differenzierung.) 

10.  Die  Fundamentalforderung  aller  Differenzierung  ist,  daß  jeder  Schüler 
in  der  allgemeinen  öffentlichen  Schule  jene  Bildungswerte  vorfindet,  die  seiner 
Veranlagung  gemäß  sind.  Von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  einer  der  größten 
Fehler  des  öffentlichen  Schulwesens,  daß  es  heute  noch  keine  Unterrichtsein- 
richtungen zur  Betätigung  und  intellektuellen  Entwicklung  der  besonders  im 
Kindes-  und  Knabenalter  vorwiegenden  praktischen  Interessen  hat.  (Funda- 
mentalsatz der  Differenzierung.) 

11.  Die  Erziehung  durch  planmäßigen  Unterrichtsollnicht  vor  dem  Abschluß 
der  eigentlichen  Kindheit,  d.  h.  vor  dem  ersten  Abschluß  der  physiologischen 
Reife  der  Assoziationsbahnen  beginnen.  Diese  ist  im  allgemeinen  nicht  vor  dem 
vollendeten  sechsten  Lebensjahre,  also  dem  Beginn  des  siebenten  Lebens- 
jahres zu  erwarten.   (Beginn  der  Erziehung  durch  planmäßigen  Unterricht.) 

12.  Die  erste  Differenzierung  der  allgemeinen  öffentlichen  Schule  hat  mit  dem 

16* 


244:  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Zeitpunkte  zu  erfolgen,  zu  dem  eine  Trennung  der  spekulativen  von  den  prak- 
tischen Interessen  sich  deutlicher  bemerkbar  macht,  die  zweite  mit  der  deutlichen 
Entwicklung  bestimmter  durch  die  Einzelveranlagung  bedingter  Berufsinteressen. 
Der  erste  Zeitpunkt  fällt  im  allgemeinen  nicht  vor  das  zehnte,  der  zweite  nicht 
vor  das  vierzehnte  Lebensjahr,  von  Ausnahmen  abgesehen.  (Sukzessive  Differen- 
zierung.) 

13.  Neben  der  sukzessiven  Differenzierung  wird  aber  auch  eine  simultane  nötig, 
die  teils  durch  Begabungsabteilungen,  teils  durch  Versetzungsbeschleunigung, 
teils  durch  Wahlfreiheit  des  Unterrichtes,  teils  durch  besondere  Schultypen  be- 
friedigt werden  kann.  (Simultane  Differenzierung.) 

14.  Die  durch  die  Differenzierung  des  allgemeinen  öffentlichen  Schulwesens 
entstandenen  Zweige  wahren  aber  nur  dann  den  Charakter  der  Einheitsschule, 
wenn  ihre  Organisation  den  Übergang  von  einem  Zweige  zu  einem  anderen  dem 
entsprechend  begabten  Schüler  ohne  allzu  große  Opfer  (wenn  nötig  durch  Über- 
gangsschulen) ermöglicht.   (Einheit  in  der  Mannigfaltigkeit.) 

15.  Den  Charakter  der  nationalen  Einheitsschule  bewahren  sodann  alle 
Zweige  des  Schulwesens  nur  dann,  wenn  ihr  Unterricht  und  ihre  sonstigen  Er- 
ziehungseinrichtungen vom  Geiste  der  Staatsgesinnung  vollständig  erfüllt  sind. 
Nicht  der  Unterrichtsstoff  macht  die  nationale  Einheitsschule,  sondern  die  sozio- 
logische Auffassung  des  Stoffes.   (Einheit  in  der  Staatsgesinnung.) 

16.  Die  Gestaltung,  Verwaltung  und  Beaufsichtigung  der  allgemeinen  öffent- 
lichen Schule  ist  ausschließlich  Angelegenheit  der  Staatsgemeinschaft,  die  ihre 
Lasten  trägt  imd  in  deren  Dienst  die  Schule  als  Erziehungsinstrument  arbeitet. 
(Staatsaufsicht.) 

17.  Es  liegt  aber  im  höchsten  Interesse  des  Kultur-  und  Rechtsstaates,  das 
Organisations-  und  Verwaltungsrecht  für  keine  Gattung  der  öffentlichen  Schule 
zu  zentralisieren,  sondern  es  in  möglichst  weitgehender  Autonomie  unter 
Aufstellung  von  Mindestforderungen  den  untergeordneten  öffentlich  rechtlichen 
Korporationen  zu  überlassen.    (Dezentralisation.) 

18.  Es  liegt  weiter  im  Interesse  des  Kultur-  imd  Rechtsstaates,  in  die  kor- 
porativen Organisations-,  Verwaltungs-  und  Aufsichtsorgane  der  Schule  voll- 
berechtigte Vertreter  derjenigen  Kulturgemeinschaften  aufzunehmen,  deren  Zweck 
die  Pflege  eines  der  großen  fünf  Kulturgebiete  (Religion,  Moral,  Wissenschaft, 
Kunst,  Technik)  ist,  die  in  der  Schule  als  Erziehungsmittel  aufgenommen  sind. 
(Schulbehörden.) 

Über  die  Alkoholkriminalität  der  Jugendliehen  macht  der  bekannte  Land- 
gerichtsrat Rupprecht-München  auf  Grund  der  Erhebimgen,  die  das  bayrische 
Justizministerium  als  erste  und  bisher  einzige  deutsche  Justizverwaltung  über 
den  Einfluß  des  Alkoholgenusses  auf  die  Häufigkeit  und  Erscheinungsformen  der 
Verbrechen  ausübt,  die  folgenden  Mitteilungen^): 

Von  8864  im  Jahre  1910  wegen  Vergehen  und  Verbrechen  gegen  die  Reichs- 
gesetze in  Bayern  verurteilten  Personen,  die  die  Straftat  im  Zustande  der  Trunken- 
heit verübt  haben,  waren  166  oder  1,9%  noch  nicht  18  Jahre  alt;  im  Jahre  1911 


^)  Zeitschrift  f.  Kinderschutz  u.   Jugendfürsorge.      1914,  Heft  1  u.   2. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  245 

kamen  auf  7695  wegen  Trunkenlieitsdelikten  Verurteilte  178  oder  2,3%  Jugend- 
liche, im  Jahre  1912  auf  8629  überhaupt  Verurteilte  231  oder  2,7%  jugendliche 
Trinker.  Die  Zahl  der  jugendlichen  Trunkenbolde  wuchs  somit  von  Jahr  zu 
Jahr  nicht  bloß  absolut,  sondern  auch  relativ,  und  zwar  relativ  (das  heißt  im 
Verhältnis  zur  Gesamtzahl  der  verurteilten  Trinker)  im  gleichen  Maß  (0,4%). 
Diese  Steigerung  der  Zahl  jugendlicher  Alkoholdelinquenten  ist  absolut  und  relativ 
höher  als  die  Steigerung  der  Zahl  der  wegen  Verbrechen  und  Vergehen  verurteilten 
Jugendlichen  überhaupt,  letztere  betrug  im  Jahre  1910  6024  oder  9,3%,  im  Jahre 

1911  6117  oder  9,5%  der  Gesamtzahl  aller  verurteilten  Personen.  Die  Zunahme 
der  verurteilten  jugendlichen  Personen  überhaupt  machte  also  nur  0,2%  aus 
gegenüber  0,4%  Zunahme  der  verurteilten  jugendlichen  Trinker.  (Für  1912  sind 
Angaben  noch  nicht  veröffentlicht.)  Diese  Ziffern  erhalten  ihre  besondere  Be- 
deutung, wenn  man  weiter  berücksichtigt,  daß  von  den  sämtlichen  wegen  Ver- 
brechen und  Vergehen  gegen  die  Reichsgesetze  verurteilten  Personen  im  Jahre 
1910  8864  oder  13,6%,  im  Jahre  1911  7695  oder  11,9%  und  im  Jahre  1912  8629 
oder  12,3  %  die  zur  Verurteilung  führende  Straftat  im  Zustande  der  Trunkenheit 
verübt  haben.  Die  Zahl  der  Alkoholexzedenten  überhaupt  ist  somit  von  1910 
auf  1911  um  1,7%  gefallen,  von  1911  auf  1912  um  0,4  %gestiegen,  hat  aber  auch 
in  diesem  Jahre  die  Höhe  des  Jahres  1910  weder  absolut  noch  relativ  erreicht; 
dagegen  zeigen  Verurteilungen  jugendlicher  Trinker  von  Jahr  zu  Jahr  eine  gleich- 
mäßige absolute  und  relative  Zunahme. 

Auch  die  weitere  Tatsache,  die  sich  aus  den  Erhebungen  feststellen  läßt,  ist 
nicht  ohne  wesentlichen  Wert  für  die  Würdigung  der  Frage,  wie  dem  Alkohol- 
genuß der  jugendlichen  Personen  in  gesetzlicher  und  fürsorgerischer  Art  entgegen- 
getreten werden  soll  und  kann.  Nicht  in  den  großen  Städten  —  wie  man  wegen 
der  günstigeren  und  zahlreicheren  Gelegenheit  und  der  früheren  und  besseren 
Erwerbsmöglichkeit  anzunehmen  geneigt  sein  könnte  —  finden  sich  die  jugend- 
lichen Alkoholverbrecher,  sondern  in  den  vorwiegend  ländliche  Bezirke  umfassen- 
den Landgerichtsbezirken.  So  wurden  wegen  im  Zustande  der  Trunkenheit  ver- 
übten Verbrechen  und  Vergehen  verurteilt:  im  Landgerichts  bezirke  München  I, 
der  fast  ausschließlich  die  Stadt  München  in  sich  begreift,  1911  1  Jugendlicher, 

1912  deren  2,  im  Landgerichtsbezirke  Nürnberg,  der  ebenfalls  nur  geringe  länd- 
liche Bevölkenmg  mit  einschließt,  1911  9,  1912  gleichfalls  9,  in  Augsburg  1911  8, 
1912  13,  dagegen  in  dem  fast  ganz  ländlichen,  nur  mit  wenigen  Städten  von  nicht 
besonders  starker  Einwohnerschaft  besiedelten  Landgerichtsbezirk  München  II, 
1011  6,  1912  20,  in  Passau  1911  8,  1912  10,  in  Kaiserslautern  1911  17,  1912  15, 
in  Bamberg  1911  14,  1912  8,  in  Weiden  1911  12,  1912  14,  in  Neuburg  1911  15. 
V.H'2  10  usw.  Berücksichtigt  man  überdies,  daß  die  strafmündige  Zivilbevöl- 
kerung und  damit  auch  die  Zahl  der  zwischen  12  und  18  Jahren  stehenden  Jugend- 
lichen in  den  mehr  städtischen  Landgerichtsbezirken  bedeutender,  oft  um  das 
Vicifacho  höher  ist  als  die  Bevölkerung  der  mehr  oder  minder  ländlichen  Land- 
^'.  rir!ifsl>(zirk(  f.MiindK  ti  I  zählt  508  314,  Nürnberg  348  632,  Augsburg  236  162, 
München  11  232  102,  Passau  149  798,  Kaiserslautern  140  570,  Bamberg  190  505, 
Weiden  124  322,  Neuburg  142  477  Einwohner  strafmündigen  Alters),  so  läßt 
sich  ni(  lil  v.  rkennen,  daß  die  Gefährdung  Jugoinüic  !  '  (luirh  den  Alkohol  und 
dif  V  ,,|g  zu  Alkohol'  '-'-^n  in  den  kleinstädlisclitn  und  ländlirhon  Bo/irkon 
b  eh  größer  ist ..  a  großen  Städten. 


246  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Die  Vertretung  der  Pädagogik  auf  der  Internationalen  Ausstellung  für 
Buchgewerbe  und  Graphik  in  Leipzig  1914  ist  in  einer  Sonderausstellung 
„Schule  und  Buchgewerbe"  so  umfangreich  und  wissenschaftlich  geplant,  wie  es 
bisher  noch  nirgends  geschehen  ist.  Vor  allem  wird  hier  auch  die  pädagogische 
Psychologie  im  vollen  Maße  ihrer  Bedeutung  in  die  Erscheinung  treten.  Ein 
großer  Stab  von  Mitarbeitern,  dem  Lehrer  aller  Schulgattungen,  Ärzte,  Kauf- 
leute, Künstler  und  Gelehrte  angehören  und  dem  Privatdozent  Dr.  Brahn  als 
erster  Vorsitzender  vorsteht,  ist  an  der  Arbeit,  ein  ungeheures  Material  zu  sam- 
meln und  in  ausstellungsmäßige  Form  zu  bringen.  Der  Plan  geht  auf  alle  Ge- 
biete aus,  in  denen  sich  die  Art  und  die  Entwicklung  des  kindlichen  Ausdrucks 
zeigt.  Richtlinien  sind  dabei  zu  zeigen,  1)  wie  sich  das  Kind  den  graphischen 
Ausdruck  erwirbt,  2)  wie  es  sich  zur  Benutzung  buchgewerblicher  Erzeugnisse 
entwickelt,  3)  wie  die  buchgewerblichen  und  graphischen  Erzeugnisse  in  der 
allgemein  bildenden  Schule,  einschließlich  der  Lehrerbildungsanstalten,  zu 
pädagogischen  Zwecken  Verwendung  finden,  4)  wie  Schulverhältnisse  aller  Art«n 
und  Zeiten  auf  graphischem  und  buchgewerblichem  Gebiete  zum  Ausdruck  ge- 
bracht werden.  Wie  reichhaltig  die  Sonderausstellung,  die  in  drei  Gebäuden: 
dem  Schulhaus,  der  Schulbaracke  und  dem  Wandererheim  untergebracht  wird, 
ausgestattet  werden  soll,  mag  eine  verkürzte  Übersicht  der  einzelnen  Abteilungen 
zeigen. 

Psychologische  Mittel-Gruppe: 

In  der  psychologischen  Abteilung  soll  erstmalig  gezeigt  werden,  welche  Ergeb- 
nisse die  neue  experimentelle  Forschungsweise  in  der  Kinderpsychologie  und  Pädagogik 
erreicht  hat.  Es  wird  besonders  Wert  darauf  gelegt  werden,  zu  zeigen,  dai3  dieser 
Weg  geeignet  ist,  unsere  Kenntnis  vom  Kinde  wesentlich  zu  bereichern  und  die  Formen 
des  Unterrichtens  und  des  Erziehens  auf  einen  naturgemäßeren  Boden  zu  stellen. 
A.  Die  allgemeine  körperliche  Entwickliing  des  Kindes  und  des  Jugendlichen,  sowie 
die  wichtigsten  Apparate  und  Wege  zu  ihrer  Untersuchung :  a)  Apparate,  b)  Anato- 
mische Präparate,  c)  Kurven,  Bilder,  Photographien,  Personalbogen  usw.  d)  Die 
körperliche  Leistungsfähigkeit  und  Ermüdbarkeit,  e)  Die  Entwicklung  des  abnor- 
malen Kindes,  f)  Die  Intelligenzuntersuchungen,  g)  Typische  Krankheiten  des 
Kindesalters,  die  besonders  die  geistige  Entwicklung  hemmen.  —  B.  Das  Wesen  und 
die  Entwicklung  der  geistigen  Fähigkeiten  des  Kindes  und  des  Jugendlichen.  — 
C.  Die  psychologischen  Grundlagen  des  Zeichnens:  a)  Die  taktile,  motorische,  optische 
Seite  des  Zeichen  Vorganges,  b)  Die  prodiiktive  Seite  des  Zeichnens:  Die  Kinder- 
zeichnung als  psychologische  Äußerung,  c)  Die  ästhetische  Seite  des  Zeichnens, 
d)  Psychologie  des  Farbensinnes.  —  D.  Die  Psychologie  des  Schreibvorganges: 
a)  Die  Schreibbewegung,  b)  Der  eigentliche  psychologische  Schreibvorgang,  c)  Blin- 
denschrift. —  E.  Die  Psychologie  des  Lesens:  a)  Der  Akt  der  Auffassung,  b)  Das 
Lesen  zusammenhängender  Texte,  c)  Einige  Versuche,  die  die  psychologischen  Fak- 
toren des  Lernens  zeigen,  d)  Einiges  aus  der  Psychologie  des  Rechnens,  e)  Zahlbild 
und  Notenbild.  —  F.  Die  Psychologie  des  Sprechens  und  Singens:  a)  Die  psycho- 
logischen und  anatomischen  Grundlagen  der  Sprache,  b)  Die  Entwicklung  der  kind- 
lichen Sprache,  c)  Die  mimische  und  pantomimische  Äußerung  beim  Sprechen, 
d)  Die  psychologischen  und  anatomischen  Grundlagen  des  Singens.  e)  Die  Entwick- 
lung der  musikalischen  Fähigkeiten  der  Kinder.  Eine  Reihe  bedeutender  Firmen 
und  wissenschaftUcher  Institute  haben  ihre  Teilnahme  zugesagt.  Ein  besonderer 
Vorführ im.gssaal  steht  zur  Verfügim^g  und  wird  eine  Hauptanziehung  bilden.  Er  ist 
im  Mittelbau  des  Haupthauses  gelegen. 

1.   Gruppe.  Zeichnen: 
Die  psychologischen  Grundlagen  des  Zeichnens.   Siehe  den  Arbeitsplan  der  psycho- 
logischen Abteiliing.  —  B  1.  Die  freie  Kinderzeichnung  soll  als  Untersuchungs- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  247 

mittel  benutzt  werden.  Es  sollen  möglichst  alle  Methoden  zvir  Darstellring  gebracht, 
aber  nicht  das  Gresamtgebidt  bearbeitet  oder  erschöpft  werden,  sondern  nur 
ausgewählte  Beispiele  aus  der  Arbeit  der  Untersuchung  der  Kinderzeichnung.  1.  Die 
Kinderzeichnimg  ist  ein  Teil  des  Gesamtausdruckes.  Verbindung  mit  sprachlichen, 
schriftlichen,  mimischen  oder  sonstigen  begleitenden  Ausdrucksäußerungen.  2,  Ent- 
wicklungsreihen von  einzelnen  Eandern  (Längsschnitt).  3.  Die  Kinderzeichnung 
auf  verschiedenen  Entwicklungsstufen  (Querschnitt).  Beispiele:  Entwicklung  der 
Darstellung  der  Handlung,  des  Raimaes,  der  Menschen,  der  Tiere,  der  Pflanzen, 
von  Dingen,  Liebhabereien.  4.  Die  Kinderzeichnung  als  Mittel,  den  Vorstellungs- 
schatz kennen  zu  lernen.  5.  Besondere  Bedingungen,  die  auf  die  Kinderzeichnung 
einwirken :  a)  Im  Ivinde  liegende  besondere  Bedingungen,  b)  In  der  Umwelt  liegende 
Einflüsse,  c)  In  Material  und  Technik  liegende  Einflüsse.  Es  handelt  sich  um  Vor- 
führung von  Kinderzeichnungen,  in  denen  sich  zeitweise  oder  dauernde  Störungen, 
Hemmungen,  Förderungen  zeigen.      6.   Geschlechtsunterschiede. 

B  2.  Zeichnen  im  Heere.  Der  durchschnittliche  zeichnerische  Bestand  der  Er- 
wachsenen überhaupt. 

C.  Zeichnen  in  der  Schule.  1.  Vor  dem  planmäßigen  Zeichenunterrichte.  2.  Aus 
dem  planmäßigen  Zeichenunterrichte:  a)  Zeichnen  nach  der  pädagogisch-psycho- 
logischen Seite  betont,  b)  Die  Entwickkmg  der  Raumform- Vorstellung,  des  Form- 
gefühls, c)  Geschmacksbildung  durch  Farbübungen,  d)  Geschmacksbildung  durch 
Flächenschmuck,  e)  Technische  Kultur  als  Ausdruckssteigerung.  3.  Zeichnen  in  den 
anderen  Unterrichtsfächern.  4.  Sonderentwicklungen  innerhalb  des  Unterrichts, 
besondere  Begabungen,  Neigungen.  5.  Zur  Methodik  des  Zeichnens  im  Seminar. 
6.  Zeichnerische  und  malerische  Betätigung  des  Lehrers.  7.  Geschichte  des  deutschen 
Zeichenunterrichts . 

D.  Werkstattarbeit  für  Knaben  und  Mädchen.  Knabenhandarbeit,  Mädchenhand- 
arbeit als  Ausdruck. 

2.  Gruppe.    Schreiben: 

A.  Die  psychologischen  Grundlagen  des  Schreibens.  Siehe  den  Arbeitsplan  der 
psychologischen  Abteilung. 

B.  Die  Schrift.  1.  als  Leseobjekt:  Bedingungen  der  Leserlichkeit.  Zurückführung 
auf  Grundformen.  Betonung  der  Ecken  und  Enden  als  Gegenwirkung  zur  natür- 
lichen Irradiation.  Schwarz  auf  Weiß,  Weiß  auf  Schwarz.  Günstigste  Schriftgröße. 
Farbige  Schrift  ?  Das  Wortbild,  Satzbild  als  Anfang  oder  Ende  der  Schrifterfassung. 
Die  Anpassung  an  geläufige  Zeitformen.  Macht  der  Gewohnheit.  2.  als  Bewegungs- 
linie: Bedingungen  der  Geläufigkeit.  Die  Grundformen  sowie  ihre  Verbindungs- 
möglichkeiten, Schwünge,  Schleifen  usw.  Einfluß  des  Schreibmaterials  auf  die  Ge- 
läufigkeit, Abschleifen  der  Schrift  unter  der  Forderung  der  Schnelligkeit.  Persön- 
liche und  Duktusentwicklung.  3.  als  Ausdruck:  Schriftideale,  Normalalphabete. 
Verirrung  und  Gesundung  des  Geschmacks:  a)  Materialausdruck,  b)  Zweckausdruck, 
e)  Persönlichkeitsausdruck.  Charakterschriften,  graphologische  Erklärungen.  Aus- 
prägung des  Charakters.    Steigerung  zur  Kunstschrift. 

C.  Die  Entwicklung  der  Schrift.  1.  Freie  Entwicklung:  a)  Aus  der  Kinderzeich- 
nung: Begriffsschrift,  Zahlbild  und  Ziffer,  b)  Aus  gegebener  Form,  c)  Aus  dem 
Schroibwerkzeug.  2.  Das  Schreibenlernen:  Laute  und  Lautzeichen.  Bildorschrift- 
methoden,  analytisches  und  synthetisches  Verfahren.  Erstes  Schreiben  imd  Lesen. 
Vorwiegen  des  optischen  Aktes,  Wege  der  Schriftanordnung,  3.  Die  Schreibübung: 
Methoden  zur  Automatisierung.  Vorwiegen  des  motorischen  Aktes,  bis  zur  mecha- 
nischen Rechtschreibung.  Die  ausgeschriebene  Handschrift  und  die  Kunstschrift: 
a)  Verzicht  auf  besondere  optische  Kontrolle,  b)  Aufbau  auf  den  erworbenen  Ele- 
menten unter  bewußter  Auswahl. 

D.  Schul-  und  Schülerschrifton  verschiedener  Zeiten  und  Länder.  Sonderfragen: 
Was  und  wie  die  Stände  schreiben  ?  Schülorgeheimschrifton.    Das  korrigierte  Heft. 

E.  Einzelarbeiten.  Druck-  und  Schreibschrift,  Latein-Deutsch.  Schreiben  unter 
Gemütsdruck,  Erregimg.  Alkohol.    Kindes-  und  Altorsschrift  usw.  — 

F.  Lehr-  und  Lernmittel. 


248  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

3.  Gruppe.    Sprechen,  Singen,  Musik: 

1.  Grundlagen.  A.  Tonbildungsapparate  vmd  Hörorgan:  Anatomie  tmd  Physiologie 
des  Sprechapparates.  Tonbildvmgsinstrumente,  die  Grundsätzliches  zeigen.  Anatomie 
und  Physiologie  des  Hörorgans.  Gehirnzentren.  B.  Tonbildung:  1.  Der  Vorgang. 
2.  Der    Klang    als   Untersuchungsobjekt.     C.  Das  Akustische  im  geistigen  Leben: 

1.  Musikalische  und  sprachliche  Elemente:  a)  Sprachmelodie  und  Sprachrhythmus, 
b)  Der  Rhythmus,  c)  Das  Harmonische.  2.  Das  musikalische  und  sprachliche  Pro- 
dukt: a)  Das  Volkslied,  b)  Musikalische  Formen  in  ihrer  Entwicklung,  c)  Instru- 
mente als  musikalische  Ausdrucksmittel,  d)  Graphische  Darstellung  des  Sprach- 
lichen und  Musikalischen.     3.  Kindliche  Entwicklung  und  erziehliche  Einwirkung. 

A.  Vorschulalter:     1.     SprachUche  Entwicklung.        2.   Musikalische   Entwicklung. 

B.  Sprachliche  und  musikalische  Erziehung  in  der    Schulzeit:    1.    Stimmbildung. 

2.  Physikalische  Schülerarbeiten.  3.  Einführiuig  ins  Sprachmelodische  und  Sprach- 
rhythmische. 4.  Rhythmische  Erziehimgsmittel.  5.  Harmonielehre.  6.  Einführxmg 
in  die  musikalischen  Formen.  7.  Tonveranschaulichungsmittel.  8.  Die  musikalische 
Schulliteratur.  9.  Musikinstrimiente.  10.  Singschulen  und  Kinder konzerte.  C.  Nach 
der  Schule:  Volksmusikschulen,  -bibliotheken,  -konzerte. 

4.  Gruppe.    Sprechen,  Lesen,  Lernen. 

Vorbemerkung:  Die  Grundlage  des  Lesens  besteht  einmal  in  der  bewußten  Sprach- 
bildung, zum  anderen  in  der  Bildung  des  Auges.  Die  physiologische  Seite  der  Sprach- 
bildung wird  bereits  in  Gruppe  3,  die  Bildung  des  Auges  in  Gruppe  1  zur  Darstellung 
gebracht.  Es  bleiben  für  Gruppe  4  übrig:  A.  Die  sprachliche  Entwicklung  des  Kindes 
bis  zum  Schuleintritt.  Dieser  Verlauf  soll  dargestellt  werden  durch  Veranschau- 
lichung der  sprachlichen  Entwicklung  eines  gut  beanlagten  und  natürlich  sich  ent- 
wickelnden Kindes.  —  B.  Sprachliche  und  phonetische  Bildung  des  Kindes  vor  dem 
Leseunterricht.  —  C.  Das  Lesenlernen.  Die  Leselernmethoden,  charakterisiert  durch 
sinnenfällige  Beispiele.  Verschiedene  Hilfsmittel:  Der  Lese-  oder  Setzkasten;  Bei- 
spiele. Die  Lesemaschine.  —  D.  Der  Lesestoff.  Die  Fibel;  die  Entwicklung  der  Fibel 
von  der  ältesten  bis  ziir  Gegenwartsfibel;  auch  außerdeutsche.  Die  gegenwärtige 
Fibel  nach  Inhalt,  Bild,  Ausstattimg.  Lesestoff,  der  in  gemeinsamer  Arbeit  von 
Lehrern  und  Schülern  geschaffen  wtirde.  Mittel  zur  Vervielfältigim^g.  —  E.  Lesen 
im  weiteren  Unterrichte.  Die  Psychologie  des  Lesens.  Das  Lesebuch  nach  Inhalt 
und  Ausstattung,  Entwicklung  des  Lesebuches.  Die  Jugendschrift.  Anhangsweise: 
Kinderzeitschrift,  Kinderverse,  Kinderlieder.  —  F.  Der  deutsche  Sprachunterricht 
und  die  sprachliche  Entwicklung.  —  G.  Der  fremdsprachliche  Unterricht.  Englisch, 
Französisch.  Alte  und  neue  Sprachen.  Esperanto.  —  H.  Die  sprachliche  Entwick- 
lung und  das  Lesen  anormaler  Kinder.  Lesen  der  Blinden.  Der  Ausdruck  und  seine 
Entwicklung  bei  den  Taubstvimmen.  Hilfsschule.  —  J.  Lehrer-  und  SchülerbibUothek. 
Mustergültige  Lehrerbibliotheken  für  Lehrer  aller  Schulgattxmgen.  K.  Lesesaal. 
Enthält  die  hervorragendsten  pädagogischen  Werke.  —  M.  Angegliedert  eine  Lehr- 
mittelausstellung. 

5.  Gruppe.    Die  Photographie  in  der  Schule: 

A.  Das  Bild  als  Mittel  zur  Charakteristik  modernen  Schullebens,  a)  Organisation 
und  gesim^dheitliche  Fürsorge.  Aufteilung  größerer  Schulen,  Hilfsklassen,  Hilfs- 
schulen. Unterrichtsgänge,  Waldschule,  Erholungsheime,  Ferienkolonien,  Hygiene 
des  Schulhauses,  Grimdsätze  z\u"  Verteilung  in  den  Lehrplänen,  Schule  und  Eltern- 
haus, Aufklärungsarbeit  der  Schule,  Elternabende  usw.,  Schulspeisungen,  Schul- 
bäder, Pausenturnen  usw.  b)  Moderne  Unterrichtsformen.  Die  Ausstattungsfrage: 
Klassenzimmer  mit  Einrichtungen  zur  Herstellung  von  Plastilina-,  Papp-  und  Holz- 
arbeiten, Aufbewahrung  von  angefangenen  Arbeiten,  Sammlungs-  resp.  Ausstellungs- 
räume, Schülerwerkstatt,  der  Schulgarten,  Sandhaufen  und  Sandkasten,  Räume 
für  den  naturwissenschaftlichen  Unterricht,  Schülerlaboratorium  usw.  Häusliche 
Beschäftigung  als  Fortsetzung  oder  Anregung  der  Tätigkeit  in  der  Schule,  der  Schüler 
als  Sammler,  als  Photograph. 


Kleine  Beiträge  vmd  Mitteilungen.  249 

B.  Das  Bild  als  Lehrmittel.  Entsprechend  dem  besonderen  Programm  der  Aus- 
stellung soll  gezeigt  werden,  wie  der  photographierende  Lehrer  (Schüler,  Schülereltern) 
Anschauungsmaterial  herbeischaffen  kann,  das  den  Heimatsunterricht  im  weitesten 
Sinne  des  Wortes  auf  ganz  neue  Grundlagen  stellt.  —  Aus  einer  bereits  zur  Verfügung 
gestellten  Bildersammlung  einer  Schule  soll  ein  Beispiel  herausgegriffen  werden: 
Unterrichtsgänge  5.  Schuljahr:  Erarbeitxuig  der  geologischen  Karte.  Drei  zwei- 
stündige Ausflüge.  Wegskizzen  mit  eingetragenen  Rastpvmkten.  Profile  der  Höhen- 
rücken, nach  Photographie  gepaust.  Das  Aufsuchen  der  Gesteine,  anstehend,  Bruch- 
wände, Lesesteine,  Eintragen  ins  Meßtischblatt.  Vergleich  mit  der  geologischen 
Sektion.  Schriftliche  und  zeichnerische  Berichte.  Vorbereitung  und  nachfolgende 
Besprechung  durch  Aufnahmen  unterstützt.  Aufbauende  und  abtragende  Arbeit 
des  Dorfbaches,  alte  und  neue  Brücken,  Bäume  im  Sommer-  und  Winterkleide.  Die 
Birke:  Arten,  Wachstum,  Zweige,  Widerstandsfähigkeit,  Krankheiten,  Bestände, 
ästhetische  Wirkiuig.  Herrschende  Gesteinsarten  in  unserer  Heimat.  Basaltkuppen 
in  Nah-  und  Fernsicht  usw.  Das  Beispiel  soll  zeigen,  wie  die  photographische  Technik 
zur  Herstellung  von  wertvollen  Anschauungsreihen  angeregt  hat,  läßt  aber  auch 
erkennen,  wie  gerade  das  naturgetreue  Bild  neue  Wege  zur  Organisation  selbstän- 
diger Schülerarbeit  in  den  verschiedensten  Unterrichtszweigen  bietet.  Wie  so  wert- 
voller Besitz  der  Schule  ausgewertet  wird  oder  werden  kann,  um  die  Jugendpflege 
zu  beleben,  die  Eltern  so  zu  interessieren,  wäre  einer  besonderen  Darstellung  wert. 
C.  Wie  die  Schule  in  das  Verständnis  der  physikalischen  und  chemischen  Grund- 
lagen der  Photographie  einführt.  Lehrgänge  der  photographischen  Techniken,  soweit 
sie  als  Bestandteil  naturwissenschaftlicher  Schülerübungen  oder  in  besonderen  Kursen 
behandelt  werden.  Physik  der  Kamera,  Vergrößerungs-  und  Projektionsapparate. 
Kinematograph.  Platte  als  Hilfsmittel  zur  Veranschaulichung  und  Untersuchxing 
rasch  verlaufender  Vorgänge  vmd  als  Mittel  der  Erweiterung  unserer  Sinnesempfin- 
dungen. Kamera  und  Auge,  das  beidäugige  Sehen,  stereoskopischer  Effekt.  Das 
Farbensehen,  farbige  Naturaufnahmen,  Lichtempfindlichkeit  und  Farbenempfind- 
lichkeit. D.  Die  photographischen  Techniken  als  Hilfsmittel  für  die  mathematischen 
und  die  naturwissenschaftlichen  Schülerübungen,  a)  Festhalten  von  Kontiu-en  und 
Hauptlinien  des  Aufbaues  von  Pflanzen  luid  Pflanzenteilen,  sowie  tierischem,  dvirch- 
scheinendem  oder  durchsichtigem  Gewebe.  Diu-chkopieren.  Vorbereitungen  für 
mikroskopische   Übungen   usw.      b)    Die   Lochkamera. 

6.    Gruppe.    Kind,    Lehrer    und   Schule    in    Kunst    und    Karikatur: 

a)  Das  Kind  in  der  künstlerischen  Darstellung,  auch  in  der  Karikatur,  b)  Der 
Lehrer  als  Gegenstand  der  Kunst  und  Karikatur,  c)  Die  Schule,  das  Schulleben  in 
Kunst  und  Karikatur.  —  Das  Ganze  wird  eine  kleine  Kunstausstellung. 

7.  Gruppe.    Schulgeschichte,  Statistik  und  Presse: 

A.  Schulgeschichte.  1.  Entwickelnde  Darstellung  der  geschichtlichen  Beziehungen 
zwischen  Schule,  Graphik  und  Buchgewerbe :  a)  Alterttun  und  Mittelalter,  b)  Huma- 
nismus und  Reformation  (Err.smus,  Luther,  Melanchthon,  Comenius).  c)  Pietismus 
und  Aufklärung  (Locke,  Rousseau,  Basedow,  Pestalozzi),  d)  19.  Jahrhundert  (Diester- 
weg,  Herbart,  Ziller).  2.  Sonderdarstellungen:  a)  Buchgeschichten  des  Doctrinale 
des  Alexander  de  Villa-Dei  und  des  Orbis  pictus  des  Comenius.  b)  Geschichte  ein- 
7.1'lnor  Schulen  des  In-  und  Auslandes  in  ihrer  graphischen  und  buchgewerblichon 
Ausprägung,  c)  Kind  und  Schulbuch  im  Wandel  der  Zeiten.  —  B.  Die  pädagogische 
Presse.  1.  Beispiele  aus  der  Entwicklung  der  pädagogischen  Fachpresse.  2.  Die 
pädagogische  Fachpresse  in  der  Gegenwart:  a)  Die  pädagogische  Presse  deutscher 
Zunge:  Die  bedeutendsten  deutschon  Zeitungen  und  Zeitschriften.  Beispiele  von 
Zeitschriftengruppen  für  einzelne  Gebiete:  Lehrerbildung,  höheres  Schulwesen,  Fort- 
bildungsschule, weibliche  Bildung,  Arbeitsschulgedanke  usw.  b)  Die  pädagogische 
F-'  -  rosse  des  Auslandes:  Europa,  Amerika,  Asien,  Afrika,  Australien.  3.  Statistik 
lagogischen  Fachpresse.  4.  Ausstattung.  5.  Literaturnachweise.  — C.  Schul- 
Hiatistik.    Dieselbe  wird  sich  auf  graphische  Darstellungen  der  Roichsschulstatistik 


250  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

vom  Jahre  1911  beschränken.  Auswärtige  Statistiken  werden  nur  so  weit  heran- 
gezogen, als  besondere  charakteristische  Gesichtspunkte  hervorzuheben  sind.  Es 
wird  versucht  werden,  darzustellen,  wie  die  Dichtigkeit  der  Bevölkerung  einwirkt 
auf  die  Beschulung,  auf  die  Zahl  der  Schulen,  Schüler  und  Lehrer  und  auf  die  Höhe 
des  Schulaufwandes. 

Die  große  Masse  der  ausgestellten  Gegenstände  bringt  es  mit  sich,  daß  er- 
fahrungsgemäß vieles  nur  flüchtig  betrachtet  wird,  andres  ganz  unbesehen  bei- 
seite bleibt.  Um  solchem  oberflächlichen  Beschauen  einigermaßen  entgegenzu- 
treten, werden,  wie  in  der  Hauptausstellung,  auch  in  der  Sonderveranstaltung 
,,  Schule  und  Buchgewerbe"  Vorträge  und  Führungen,  Versuche  mit  Erwachsenen 
und  Kindern,  Erklärungen  und  Vorführungen  von  Instrumenten  und  Apparaten 
usw.  durch  Fachmänner  stattfinden,  und  so  wird  manches  zu  besonderer  aufmerk- 
samen Betrachtung  herausgehoben  werden. 

Zur  Erreichung  des  Zieles  ist  die  Beteiligung  auch  der  kleinsten  Schulgemeinde 
wie  privater  Unternehmungen  zunächst  durch  Darbietimg  besonders  wichtigen 
Ausstellungsmateriales  erwünscht.  Zuschriften  in  dieser  Beziehung  sind  zu 
richten  an  Herrn  Walter  Krötzsch  in  Leipzig,  Brand  vor  werkstraße  39. 

Preisausschreiben.  Auf  die  beste  Abhandlimg  über  die  Anwendbarkeit  der 
Pearsonschen  Formeln  auf  psychophysische  Probleme  ist  ein  Preis  von  100  Dol- 
lars ausgesetzt  worden.  Die  Gesichtspunkte  für  die  Behandlung  des  Problems 
sind  im  allgemeinen  durch  William  Brown  formuliert  worden,  so  daß  nur 
noch  zu  zeigen  ist,  1)  wie  diese  spezieller  zu  formulieren  sind,  und  2)  wie  sich 
ihre  Anwendung  in  der  Praxis  gestaltet.  Man  soll  (mit  Rücksicht  auf  die  Praxis) 
mit  einem  Minimum  von  Rechnung  auskommen  und  eventuell  dartun,  wie  die 
Rechenarbeit  durch  neue  Tabellen  zu  erleichtern  ist.  Verlangt  werden  numerische 
Rechenbeispiele,  doch  nicht  notwendig  aus  eigenen  Versuchsergebnissen.  In 
Ermangelung  neuen  Materiales  sind  F.  M.  Urbans  Experimente  über  die  Ver- 
gleichung  gehobener  Gewichte  (alle  7  Beobachter)  oder  Kellers  akumetrische 
Versuche  (alle  Resultate  eines  Beobachters  in  beiden  Zeitlagen)  zu  benützen. 
Die  Arbeiten  werden  bis  spätestens  zum  31.  Dezember  1914  von  Herrn  Prof. 
E.  B.  Titchener,  Cornell  Heights,  Ithaca,  N.  Y.  U.  S.  A.  in  der  für  Preisarbeiten 
üblichen  Form  angenommen.  Preisrichter  sind  die  Professoren  William  Brown, 
E.  B.  Titchener  und  F.  M.  Urban,  die  den  Namen  des  preisgekrönten  Bewerbers 
am  1.  Juli  1915  bekannt  geben  wollen. 

Nachrichten :  1.  Der  Bund  für  Schulreform  hat  von  den  zuständigen  Behörden 
fast  aller  deutschen  Bundesstaaten  die  Genehmigung  erhalten,  an  eine  Anzahl 
von  Volksschulen  Fragebogen  zu  verteilen,  durch  deren  Beantwortung  eine 
Übersicht  über  den  gegenwärtigen  Stand  des  mathematischen, 
naturwissenschaftlichen  und  geographischen  Unterrichts  gewonnen 
werden  soll. 

2.  Mit  dem  Plan  der  Errichtung  eines  heilpädagogischen  Seminares 
in  Berlin,  wie  ein  solches  in  Essen  bereits  eröffnet  worden  ist  und 
durch  den  Prüfungszwang  für  Lehrer  an  Hilfsschulen  nun  auch  in  der 
Reichshauptstadt  notwendig  wird,  beschäftigt  sich  zurzeit  das  preußische 
Kultusministerium. 


Kleine   Beiträge  und  Mitteilungen.  251 

3.  Die  Kaiser-Wilhelm- Stiftung  zur  Förderung  der  Wissenschaften  plant 
die  Errichtung  zweier  weiterer  Institute,  wovon  das  eine  der  Psychologie, 
das  andere  der  Hirnforschung  gewidmet  sein  soll. 

4.  Auf  der  XXIII.  Hauptversammlung  des  Vereins  zur  Förderung 
des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  — 
in  der  Pfingstwoche  1914  zu  Braunschweig  —  soll  das  Thema:  ,,Was  können 
Mathematik  und  Naturwissenschaften  auf  unseren  höheren  Schulen  für  eine 
philosophische  Vorbildung  leisten  ?"  von  den  Herren  Schulrat  Prof.  Dr.  Wernicke- 
Braunschweig  (Mathematik  und  Philosophie),  Prof.  Dr.  Poska-Berlin  (Physik 
und  Philosophie)  und  Prof.  Dr.  Bastian  Schmid-Zwickau  (Biologie  und  Philo- 
sophie) behandelt  werden. 

5.  Ein  Hilfsschulkurs  wird  vom  30.  April  bis  zum  20.  Mai  d.  Js. 
in  Breslau  abgehalten.  Er  will  ebensowohl  der  ersten  Einführung  in  die  Arbeit 
der  Hilfsschule  wie  auch  der  Fortbildung  und  Vertiefung  auf  den  verschiedenen 
Gebieten  der  Heilpädagogik  dienen.  Sein  Arbeitsplan  entspricht  den  Anforde- 
rungen, die  in  der  Prüfungsordnung  für  Hilfsschullehrer  (vom  1.  Oktober  1913) 
gestellt  werden.  U.  a.  halten  Vorträge  Prof.  Dr.  William  Stern  aus  der  Kinder- 
psychologie und  Dr.  Chotzen  aus  der  Psychopathologie.  Anmeldungen  sind 
zu  richten  an  die  Schulverwaltung  der  Stadt  Breslau;  der  Teilnehmerbeitrag 
beträgt  50  Mk. 

6.  Der  Deutsche  Verein  für  Schulgesundheitspflege  wird  seine  dies- 
jährige Versammlung  vom  2.  bis  5.  Juni  in  Stuttgart  halten.  Von  den  Vor- 
trägen seien  erwähnt:  Heilerziehungsheime  für  psychopathische  Kinder.  (Geh. 
Medizinalrat  Prof.  Dr.  Ziehen,  Wiesbaden.)  Soll  der  Anfangsunterricht  mit 
Antiqua  oder  Fraktur  beginnen?  (Privatdozent  Dr.  Cords,  Bonn,  und  Rektor 
Otto  Schmidt,  Berlin.)  Die  gesundheitliche  und  pädagogische  Bedeutung  der 
Schulstrafen.    (Dr.  Moses,  Mannheim,  und' Schulrat  Dr.  Mosapp,   Stuttgart.) 

7.  In  der  Frauenhochschule  zu  Leipzig  wird  die  Pädagogik  im  Som- 
merhalbjahr 1914  folgendermaßen  vertreten  sein:  Pädagogische  Theorien  und 
Erziehungswesen  von  Rousseau  bis  zur  Gegenwart  (Pädagogik  II.  Teil),  Prof. 
Dr.  E.  Spranger.  Experimentelle  Pädagogik,  Privatdozent  Dr.  M.  Brahn. 
Historisch  pädagogische  Übungen,  I.  Teil:  Amos  Comenius'  ,,Orbis  pictus"  und 
,,Didactica  magna",  Prof.  Dr.  P.  Gedan.  Friedrich  Fröbels  pädagogische 
Schriften  von  1836  bis  1844  (mit  schriftlichen  und  mündlichen  Übungen,  Ver- 
waltungsdirektor Prüfer.  Übungen  zur  experimentellen  Pädagogik  und  an- 
gewandten Psychologie,  Privatdoz.  Dr.  M.  Brahn.  (Im  Institut  für  experimentelle 
Pädagogik,  a)  für  Fortgeschrittene:  Vorstellungs-  und  Phantasieleben  des 
Kindes,  b)  Einführungskurs.)  Übungen  zur  vergleichenden  Kinderforschung. 
{Die  Gresetzmäßigkeit  in  der  Entwicklung  der  kindlichen  Verzierungskunst.)  Ober- 
lehrer Dr.  J.  Kretzschmar.  (Im  Institut  für  Kultur-  und  Universalgeschichte.) 
Methodisch -praktische  Übungen  über  ausgewählte  Kapitel  der  Kinderpsychologie, 
Verwaltungsdirektor  Dr.  J.  Prüfer.    (Im  Institut  für  Erziehungskimde.) 

8.  Die  diesjährigen  Kurse  des  Deutschen  Vereins  für  Knabenhandarbeit 
und  Werkunterricht,  die  am  Seminar  in  Leipzig  abgehalten  werden,  sind 
dieses  Jahr  auf  die  Zeit  vom  7.  Juli  bis  22.  August  und  vom  3.  November  bis 
19.  Dezember  gelegt  worden. 


252  Literattirbericht. 


Literaturbericht. 

Bechterew,  Prof.  Dr.  O.  v.,  Objektive  Psychologie  oder  Psychoreflexo- 

logie,  die  Lehre  von  den  Assoziationsreflexen.   Autorisierte  Übersetzung 

aus  dem  Russischen.     37  Fig.  und  5  Tafeln.    Verlag  von  G.  B.  Teubner,  Leipzig 

1913.     8«,  VIII  u.  468  S.    Brosch.  16,00  M.,  geb.  18,00  M. 

B.  will  seine  neue  Psychologie  den  xuizulänglichen  alten  Psychologien  entgegen- 
stellen. Diese  neue  Lehre  von  den  seelischen  Vorgängen  nennt  er  objektive  Psycho- 
logie, und  ihre  Grundlagen  bilden  die  Assoziationsreflexe.  Warum  kann  die  bis- 
herige subjektive  Psychologie  nicht  ausreichen  ?  ,,Wenn  wir  über  die  psychische 
Tätigkeit  eines  fremden  Menschen  iirteilen,  zumal  wenn  dieser  seine  Erlebnisse  nicht 
durch  Worte  ausdrückt,  sind  wir  stets  zu  Annahmen  geneigt,  die  sich  aus  unserer 
subjektiven  Welt  ableiten  und  die  auf  Selbstbeobachtung  beruhen.  Unwillkürlich 
schreiben  wir  unseren  Mitmenschen  die  gleichen  Erlebnisse  zu,  die  wir  selbst  unter 
analogen  Umständen  erfahren;  wir  vergessen,  daß  die  neuropsychische  Tätigkeit 
das  Material  ausschließlich  unter  dem  Einflüsse  der  persönlichen  Erfahrung  schafft 
und  daß,  sofern  die  persönliche  Erfahrung  des  Menschen  unter  ungleichen  äußeren 
Bedingungen  verlävift,  auch  die  Ergebnisse  dieser  Erfahrungen,  die  in  den  Zentren 
als  belebungsfähige  Spviren  zurückbleiben,  bei  den  verschiedenen  Menschen  ver- 
schieden sind."  Nvm  setzte  sich  ja  fast  jeder  Psychologe  bei  der  Darstellxmg  seines 
Systemes  mit  diesem  Einwände  gegen  die  Berechtigung  des  Verallgemeinems  eigener 
psychischer  Verlaufsformen  und  der  daraus  abgeleiteten  Gesetzmäßigkeit  ausein- 
ander, und  diese  Deduktionen  sind  zu  bekannt,  als  daß  ich  darauf  einzugehen 
mich  verpflichtet  halte.  B.  ist  aber  durch  keine  überzeugt  worden;  er  zieht  die 
Konsequenz  und  verzichtet  gänzlich  auf  die  Selbstbeobachtung.  Daraus  ergibt 
sich  nun  eine  ganz  andere  Umgrenzung  und  Definition  des  Begriffes  Psychologie. 
Wenn  man  bisher  unter  Psychologie  die  Lehre  von  den  Zuständen  und  Erschei- 
nungen des  Bewußtseins  verstand,  so  ist  nach  B.  diese  Definition  zu  eng.  Psycho- 
logie ist  die  Wissenschaft  vom  psychischen  Leben  überhaupt,  nicht  nur  von  den 
bewußten  seelischen  Erscheinungen.  Die  Aufgabe  der  objektiven  Psychologie  be- 
steht demnach  im  Erkennen  der  bewtxßten  wie  vmbewußten  Äußenmgen  der 
psychischen  Tätigkeit,  im  Studium  der  biologischen  Prozesse,  die  in  naher  oder 
direkter  Beziehtmg  zu  den  psychischen  Vorgängen  stehen. 

Interessant  ist  es  nun,  daß  B.  seine  Psychologie  von  den  gleichen  Griuidlagen 
aus  auch  ziu*  Erforschung  von  massenpsychologischen  Tatbeständen  benutzt. 

Der  für  die  Methode  seiner  Psychologie  fundamentalste  Satz  ist  vielleicht  der: 
,,wir  müssen  fest  auf  dem  Standpunkte  verharren,  daß  es  sich  nicht  um  zwei  parallel 
verlaufende  Prozesse  handelt,  sondern  um  einen  und  denselben  Prozeß,  der  sich 
gleichzeitig  in  materiellen  oder  objektiven  Veränderungen  des  Gehirnes  und  in  sub- 
jektiven Erscheinungen  (des  übrigen  Organismus)  äußert."  Die  Registrierung  dieser 
nevu'opsychischen  Äußerungen  ist  die  Hauptaufgabe  des  objektiven  Psychologen^ 
der  sich  freilich  mit  der  Aufnahme  von  Puls,  Atmung  und  Drüsenabsonderung  nicht 
begnügen  darf.  B.  zeigt  auch  eine  Reihe  neuer  Untersuchungsmöglichkeiten  oder 
weist  daraufhin,  daß  alte,  längst  angewandte  bei  der  neuen  Fragestellung  auch  neue 
Ergebnisse  zeitigen.    Ich  verweise  hier  auf  seine  Verwendung  der  Kinderzeichnung. 

Dem  kritischen  Leser  werden  die  Schwächen  dieser  übertrieben  einseitigen  physio- 
logischen Psychologie  bald  bemerkbar  werden.  Überlegt  man  sich  gar,  daß  wie  jede 
Wissenschaft,  so  auch  die  Psychologie  auf  einer  Reihe  erkenntnis theoretischer 
Voraussetzimgen  beruht,  dann  wird  man  die  Mängel  des  Bechterew 'sehen  Systems 
erst  recht  fühlen;  denn  eine  überzeugende  Ausführung  darüber,  daß  die  psychi- 
schen Vorgänge  den  physiologischen  identisch  sind,  konnte  ich  nirgends  finden. 

Leipzig.  Johannes  Handrick. 

H.  Krukenberg:  Der  Gesichtsausdruck  des  Menschen.  Mit  203  Textabbil- 
dungen, meist  nach  Originalzeichnungen  und  photographischen  Aufnahmen  des 
Verfassers.     Stuttgart  1913.    F.  Enke.     264  Seiten. 

Ansprechend  geschrieben,  mit  einem  treffend  gewählten  und  gut  reproduzierten 

Bildermaterial  ausgestattet,  fassen  die  Ausführungen  K.  die  Resultate  der  Forschung: 


Literaturbericht.  253 


über  die  Entwicklung  der  Ausdrucksbewegungen,  speziell  des  Mienenspiels,  zusammen, 
gehen  auf  den  nervösen  und  muskulären  Apparat  und  den  Mechanismus  des  Ablaufs 
derselben  ein  und  zeigen  die  Veränderungen  auf,  welche  heute  Auge,  Nase,  Ohr  und 
Mund  vmter  dem  Einfluß  psychischer  Vorgänge,  besonders  der  Affekt  verlaufe,  durch- 
machen. Die  Ergebnisse  der  Einzeldeskription  der  Ausdrucksbewegungen  der  Ge- 
sichtsteile werden  dann  zusammengefaßt  zu  Gesamtbildern  des  Mienenspiels  der 
wichtigsten  Affektformen  und  Stellungnahmen. 

Das  Buch  beschränkt  sich  auf  die  Darstellung  der  Ausdrucksbewegungen,  d.  h. 
der  vorübergehenden  mimischen  Veränderungen;  der  Weg,  wie  aus  ihnen  die  Aus- 
druckshaltungen, die  dauernden  Ausdruckswerte  der  ruhenden  Physiognomie 
resvdtieren,  wird  angedeutet.  Sie  selbst  zu  klaasifizieren  und  dadurch  in  einer  genetisch 
gedachten,  wissenschaftlich  einwandfreien  Weise  einer  Physiognomik  vorzuarbeiten, 
wäre  ein  noch  dringenderes  Bedürfnis,  zu  dessen  Erfüllung  heute  doch  wohl  genügend 
Material  und  Denkschulung  vorhanden  ist. 

Einzelheiten  verdienen  unzweifelhaft  Widerspruch  (z.  B.  das  Urteil  über  die  physio- 
gnomischen  Grotesken  des  Leonardo) ;  andere  bedeuten  einen  sehr  großen  Fortschritt 
über  die  bisherigen  Arbeiten  hinau ;  (insbesondere  ist  einzelnes  aus  dem  Bildermaterial, 
das  von  Kindern  gewonnen  wurde,  vorzüglich,  so  die  Abbildungen  116,  153,  166,  167, 
168,  186,  187,  nach  anderer  Richtung  die  Serie  60 — 64).  Vermißt  habe  ich  eine 
Berücksichtigung  der  Arbeiten  von  Rudolf  Schulze,  besonders  seiner  kinematogra- 
phischen  Aufnahmen  des  Mienenspiels  mit  Einschluß  der  Ausdrucksvorgänge  in 
Körperhaltung  und  Hand;  abgesehen  davon,  daß  Schulze  mit  der  kinematogra- 
phischen  Aufnahme  des  Ausdrucks  zu  psychologischen  Zwecken  unsere  Methodik 
bereichert  hat,  verdienen  die  Bilder  selbst  Beachtung,  ebenso  das  Prinzip  der  Zu- 
ordnung eines  photographisch  fixierten  Ausdrucks  zu  einem  bestimmten  Eindruck 
durch  unbeteiligte  Dritte,  welche  ohne  Wissen  des  vorangegangenen  Eindrucks  sind. 

Es  ist  wohl  Absicht,  daß  die  Hilfsmittel  zur  experimentellen  graphischen  Ana- 
lyse der  Ausdrucksbewegungen  (wie  sie  von  Sommer,  Kräpelin,  Frank  und  anderen 
immer  weiter  vervollkommnet  wvirden)  in  einem  für  ein  breiteres  Publikvun  berech- 
neten Werk  fehlen;  ich  meine  aber,  sie  hätten  wenigstens  die  Nennung  verdient, 
auch  wenn  die  Diskussion  ihrer  Resultate  ohne  Fachkenntnisse  nicht  möglich  ist. 

Der  Wunsch  des  Autors  nach  einer  wissenschaftlichen  Zeitschrift  zur  Pflege  dieser 
Studien  ist  beachtenswert  —  namentlich  auch  als  ein  Gegenmittel  gegen  den  heim- 
lichen und  öffentlichen  Dilettantismus  in  der  Physiognomik. 

München.  Aloys    Fischer. 

Dr.  Emil  Fröscheis,  Lehrbuch  der  Sprachheilkunde  (Logopädie)  für 
Ärzte,  Pädagogen  und  Studierende.  Leipzig  und  Wien,  Franz  Deuticke 
1913.  Preis  13.—  M. 
Angesichts  der  Gleichgültigkeit,  welche  immer  noch  in  großen  I^eisen  des 
Publikums  den  Sprachfehlern  gegenüber  herrscht,  und  der  schwerwiegenden  Folgen, 
welche  diese  Gebrochen  für  das  davon  befallene  Kind  nach  sich  ziehen  können,  hat 
der  Lehrer  und  Erzieher  eine  wichtige  und  dankbare  Aufgabe:  vorhandene  Sprach - 
gebrechen  der  Schüler  rechtzeitig  zu  erkennen  und  unverzüglich,  möglichst  früh- 
zeitig —  sei  es  von  dem  entsprechend  geschulten  Lehrer  selbst,  sei  es  in  bestimmten, 
dem  Spracharzt  zuzuweisenden  und  von  ihm  zu  leitenden  Fällen  —  der  Behand- 
lung zuzuführen,  ferner  den  Ausbruch  eines  Sprachübels  zu  verhüten  durch  Pflege 
der  Hygiene  der  Stimme  und  Sprache.  In  dieser  Hinsicht  gibt  das  vorliegende  Lehr- 
buch einen  susgezeichneten  Überblick  und  kann  der  Lehrerschaft  zur  Belehrung, 
Orientierung  und  Weiterbildung  auf  dem  einschlägigen  Gebiete  angelegentlichst 
empfohlen  werden.  Einige  durch  die  Aufgabe,  die  sich  das  Buch  stellt,  naturgemäß 
bedingte  ärztliche,  bzw.  sprachärztlicho  Details  tun  dem  Werke  des  Buches  für  die 
Pädagogen  durchaus  keinen  Eintrag.  Die  einzelnen  Kapitel  behandeln:  Aiiatomie 
und  Physiologie  des  Gehörorgans,  der  Nase,  des  Nasenraohenraunies,  Rachens, 
Kehlkopfs  und  der  Mundorgsno;  Physiologie  der  Atmung,  der  Stimme,  der  Artiku- 
lation; Registrierung  von  Sprachbewegungen;  die  Akzente;  die  Entwicklung  der 
Sprache  beim  Kinde;  die  allgemeine  Untersuchung  bei  Spraohkranken;  die  Taub- 


254  Literattirbericht. 


stummheit,  Sprachstörungen  bei  Schwerhörigkeit;  Hörstummheit;  Stummheit  bei 
Schwachsinn ;  Aphasie ;  das  Stammeln ;  das  Poltern ;  das  Stottern ;  Aphthongie ; 
Hygiene  der  Stimme  und  Sprache;  Symptomatische  Sprachstörungen;  Sprachstö- 
rungen bei   Geisteskrankheiten. 

München.  Dr.  Ernst    Levy. 

Kerrl,  Dr.  Th.,  Seminardirektor,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit.  Eine 
psychologisch-pädagogische  Monographie.  3.  Auflage.  3,60  M.,  geb.  4,20  M.  Verlag 
von  C.  Bertelsmann,  Gütersloh  1913. 

Vorzüge  dieser  in  Lehrerkreisen  gut  angeschriebenen  Schrift,  die  die  Aufmerksam- 
keit als  ,, Bemerkenwollen"  definiert,  sind  die  sichere  Begriffsbildung,  die  klare  Dar- 
stellung, die  durchsichtige,  allerdings  fast  schulmeisterliche  Art  der  Gliederung  vuid  der 
Versuch  einer  breiten  Anwendung  der  psychologischen  Einsichten  auf  wichtige  Ge- 
biete der  pädagogischen  Praxis.  Vor  allem  sei  die  von  dem  Buche,  das  sich  reichlich 
an  konkreten  Beispielen  orientiert,  ausgehende  Anregung  zu  selbständiger  Prüfung  der 
vom  Verfasser  gewonnenen  Erkenntnisse  als  besonders  wertvoll  erwähnt.  Wissen- 
schaftlichen Charakter  in  Inhalt  und  Form  trägt  besonders  der  III.  Teil,  der  eine 
ziuneist  kritisch  gehaltene  Darstellung  der  wichtigsten  Aufmerksamkeitstheorien 
bringt.  Daß  der  in  der  Literatur  seines  Gebietes  gut  beschlagere  Verfasser  sein  Buch 
auch  in  der  3.  Auflage  nicht  dtirch  eine  Berücksichtigung  der  exakten  Auf  merksamkeits- 
forschimgen,  z.B.  der  Umfangsmessimgen  usw.,  noch  wertvoller  ausgestaltet,  erscheint 
bei  dem  großen  Interesse,  das  heute  die  Lehrerschaft  und  nun  auch  der  Seminar- 
unterricht der  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik  entgegenbringt,  unver- 
ständlich. 

Leipzig.  Otto   Scheibner. 

P.  Ziertmann,  Pädagogik  als  Wissenschaft  und  Professuren  der  Päda- 
gogik. 2.  Heft  der  Schriften  der  Wheelergesellschaft.  Berlin  1914.  65  S.  Preis 
2.—  M. 

Die  Abhandlung  ist  aus  einem  Vortrage  hervorgegangen,  den  der  Verfasser 
am  3.  Jimi  1913  in  der  Wheelergesellschaft  zu  Berlin  gehalten  hat.  Die  Frage,  ob 
pädagogische  Forschung  möglich  sei,  wird  empirisch  beantwortet  diu-ch  Umschreibung 
einiger  Hauptgebiete  der  Pädagogik  (historische  und  vergleichend-genetische  Unter- 
suchungen der  pädagogischen  Ideenwelt  und  des  Bildungswesen,  Struktiu:  des 
Bildungswesen  der  Gegenwart,  philosophische  und  psychologische  Pädagogik).  Ein 
Gebiet  darunter  ist  es  insbesondere,  das  nach  des  Verfassers  Ansicht  gebieterisch  eine 
selbständige  Vertretving  der  Pädagogik  an  den  Hochschulen  fordert:  „Die  Wissenschaft 
vom  gegenwärtigen  Bildimgs-,  Unterrichts-  und  Erziehungswesens  des  In-  und  Aus- 
landes in  allen  seinen  Verzweigungen".  Die  übrigen  Gebiete  könnten  eventuell  von 
dem  Historiker,  Philosophen  und  Psychologen,  falls  diese  sich  bereit  finden,  über- 
nommen werden.  Da  aber  diese  im  allgemeinen  in  ihrem  eigenen  Bereich  schon  hin- 
reichend in  Anspruch  genommen  sind,  so  will  Ziertmann  „Geschichte  des  Bildvmgs- 
wesens,  Kenntnis  des  gegenwärtigen  Bildungswesens  und  die  philosophische  Pädagogik" 
als  natürliche  Teile  des  Lehrauftrags  der  pädagogischen  Professiu"  angesehen  wissen; 
die  psychologische  Pädagogik  oder  pädagogische  Psychologie  soll  der  Psychologe  im 
Nebenamt  übernehmen.  Außer  dieser  wissenschaftlichen  Professvir  für  Pädagogik 
sollen  auch  noch  langjährige  Praktiker  in  Vorlesungen  und  Übungen  Anregungen 
für  die  Praxis  geben.  Die  Aufgaben  des  wissenschaftlichen  Pädagogen  sind  dann, 
von  der  Forschvmg  abgesehen,  öffentliche  unparteiische  Stellungnahme  vmd  Beratung 
der  Regierung,  2.  Heranbildung  des  akademischen  Nachwuchses  und  3.  theoretische 
Ausbildung  der  Lehrer  für  ihren  Beruf,  damit  sie  diesen  im  Zusammenhang  mit  den 
übrigen  Seiten  des  wissenschaftlichen,  gesellschaftlichen  und  staatlichen  Lebens 
klar  und  sicher  erkennen  und  dementsprechend  dann  auch  auszuüben  vermögen 
(S.   65.) 

Die  Schrift  enthält  manchen  guten  Gedanken  und  manch  feine  Bemerkung,  nicht 
originell  freilich;  denn  das  meiste  ist  da  und  dort  auch  im  Zusammenhang  schon  zu 
finden.  Dagegen  ist  die  Betrachtiuig  der  Dinge  oft  dogmatisch,  häufig  einseitig, 
nicht  selten  noch  imgenügend  orientiert  oder  in  sich  widerspruchsvoll.    ,,Daß  eine 


Literaturbericht.  255 


Schule  nicht  mit  einer  deutschen  Universität  verbunden  werden  kann  und  dsui", 
hält  der  Verf.  „für  völlig  selbsWerständlich  und  ganz  unbestreitbeir"  (S.  4) ;  Didaktik 
und  Methodik  sind  nach  ihm  „keine  Wissenschaften",  weil  es  für  sie  „keine  Tatsachen- 
gruppe" gibt  (S.  43) ;  auch  sind  sie  ihm  offenbar  in  erster  Linie  nur  für  den  Volksschul- 
lehrer wichtig;  was  der  Verf.  eigentlich  unter  Didaktik  versteht,  läßt  sich  freilich 
weder  an  diesen  Bemerkungen,  noch  aus  dem  Zusammenhang  erkennen.  Der  Vorwiirf , 
daß  die  wissenschaftliche  Psychologie  bisher  den  entwicklungsgeschichtUchen  Ge- 
sichtspunkt außeracht  gelassen  habe,  und  die  Forderung,  daß  die  pädagogische 
Psychologie  entwicklungsgeschichthch  zu  fundieren  sei,  sind  etwas  merkwürdige 
Äußerungen  angesichts  der  zahlreichen  entwicklungspsychologischen  Arbeiten,  die 
auf  diesen  Gebieten  vorliegen.  Daß  alle  Bildungsorganisationen  der  Aufgabe  unter- 
stehen, bestimmt  geartete  Menschen  zu  ,produzieren'  im  Gegensatz  zu  den  wirt- 
schaftlichen, technischen  und  wissenschaftlichen  Organisationen,  die  Sachgüter  oder 
Dienstleistungen  hervorbringen,  daß  infolgedessen  der  sich  bildende  Mensch  zu  der 
ihn  betreffenden  Organisation  in  einem  ganz  anderen  Verhältnis  steht  als  der  seine 
Aufgabe  erfüllende  Mensch  der  anderen  Organisationen,  scheint  dem  Verfasser  noch 
nicht  recht  zum  Bewußtsein  gekommen  zu  sein;  denn  nach  ihm  hat  die  Psychologie 
nur  für  die  jüngeren  Schüler  Bedeutimg;  und  die  Beachtung  des  psychologischen 
Gesichtspunktes  auf  den  höheren  Stufen  bedeutet  für  ihn  darum  soviel  wie  Herab- 
setzung der  Anforderungen  —  das  ist  eigenartig;  denn  ich  glaube  kaum  zu  irren, 
wenn  ich  annehme,  daß  die  meisten  Psychologen  oder  psychologisch  orientierten 
Pädagogen  auf  höhere  Leistungen,  als  sie  heute  erreicht  werden,  hinaus  wollen, 
ebenso  daß  die  meisten,  die  die  pädagogischen  Probleme  in  ilu-em  Verhältnis  zur 
Psychologie  wirklich  durchgedacht  haben,  den  sachlichen  und  psychologischen  Ge- 
sichtspunkt als  für  alle  Entwicklungsstufen  verbindlich  erachten.  Dagegen  dürfte 
sich  kaum  einer  finden,  der  die  vom  Verf.  so  eifrig  bekämpfte  Ansicht  vertritt,  daß 
die  letzten  Ziele  der  Erziehung  vmd  des  Unterrichts  aus  der  Psychologie  zu  gewinnen 
seien.  Zielsetzungen  sind  eine  Funktion  des  Ideals;  in  dieses  gehen  auch  (aber  nicht 
bloß)  Motive  aus  der  psychologischen  Erfahrung  ein  —  dies  ist  doch  heute  bereits 
Allgemeingut  des  wissenschaftlich-pädagogischen  Denkens.  Ein  Irrtum  ist  es  auch, 
wenn  Z,  meint,  den  Ursprung  der  Erziehung  als  psychologisches  Problem  habe  die 
Wissenschaft  noch  kaum  gesehen  (S.  12)  und  die  Erziehtmg  bei  den  Naturvölkern 
sei  bisher  noch  nicht  zum  Gegenstand  der  Forschung  gemacht  worden  (S.  13).  Doch 
darf  man  ihm  als  Verdienst  anrechnen,  daß  diese  Dinge  als  Gegenstände  wissen- 
schaftlicher Forschung  von  ilim  betont  werden.  Aber  auch  abgesehen  von  diesen 
Ausstellungen,  die  sich  leicht  vermehren  ließen  und  deren  Diskussion  in  diesem  Zu- 
Hammenhang  ruhig  unterbleiben  mag,  kann  man  auch  bezweifeln,  daß  gerade  das 
<;ebiet,  das  nach  Ziertmann  in  erster  Linie  eine  selbständige  Vertretung  erheischt, 
die  Systematik  des  Bildungswesens,  wirklich  eine  besondere  Professur  erfordert. 
Warum  hat  Ziertmann  bei  der  Erörterung  der  Verteilungsmöglichkeiten  sich  bloß 
innerhalb  der  philosophischen  Fakultät  vungesehen  ?  Warvun  soll  die  Systematik 
des  Bildungswesens  nicht  vom  Vertreter  des  Staats-  und  Verwaltungswesens  oder  vom 
soziologisch  orientierten  Statistiker  übernommen  werden  können,  wenn  sich  einer 
findet?  Das  liegt  historisch  und  sachlich  außerordentlich  nahe;  an  der  Spitze  des 
Schulwesens  stehen  ja  zumeist  auch  Persönlichkeiten,  die  nur  das  Verwaltungs-  und 
Staatswesen  studiert  haben.  —  Wenn  man  das  ganze  Problem  richtig  durchdenkt, 
kommt  man  zu  wesentlich  anderen  Ergebnissen  als  Ziertmann,  und  wer  die  Geschichte 
der  Pädagogikprofessuren  im  Zusammenhang  mit  der  der  wissenschaftlichen  Ent- 
wicklung überhaupt  verfolgt,  sieht  deutlich,  daß  vollwertige  selbständige  Vertretung 
der  Pädagogik  an  der  Universität  ohne  eigentliche  Forschungsstätto,  nämlich 
eine  Schule  für  pädagogische  Forschung,  auf  die  Dauer  unmöglich  ist. 
Tübingen.  '  Dr.  Gustav  Deuchler. 

David    Allen    Anderson,    The    School    System    of    Norway.  Boston   1913. 
Richard  G.  Badger.     232  S.     Sh.  1.2ß. 

In  keinem  Lande  wurden  in  den  letzten  Bwei  Jahrzehnten  so  weitgehende  Ver- 
änderungen im  Erziehungswesen  vorgenommen  als  in  Norwegen.     Eine  Darstellung 


256  Literaturbericht. 


über  diese  pädagogische  Reformbewegung  muß  darum  allen  am  Bildungswesen  In- 
teressierten willkommen  sein.  Das  vorliegende  Werk  nun,  das  den  erwünschten  Be- 
richt gibt,  beruht  auf  genauen  Beobachtungen  und  Untersuchungen  während  eines 
sechsmonatigen  Avifenthalts  im  Lande  und  bietet  wohl  das  ausführlichste  und  reich- 
haltigste Material,  das  bisher  in  englischer  oder  deutscher  Sprache  vor  der  Öffent- 
lichkeit ausgebreitet  worden  ist.  Gang  und  Stoff  der  Schrift  ergeben  sich  aus  der 
folgenden  Inhaltsübersicht:  Erstes  Kapitel:  Historischer  Hintergrund,  Ver- 
waltung, Leitung,  Aufsicht,  innere  Einrichtung,  Einteilung  und  Verteilung  der 
Schulen.  Zweites  Kapitel:  Qualifikation,  Ausbildung,  Prüfung,  Amtszeit  und 
Gehalt  des  Lehrers.  Drittes  Kapitel:  Aufgaben,  Lehrpläne  und  Lehrmethoden 
in  den  staatlichen  Volks-  vmd  Mittelschulen  und  Gymnasien.  Viertes  Kapitel: 
Erklärende  Betrachtungen  tmd  Folgerungen  mit  Winken  für  die  Verbesserung  des 
Erziehungswesens  in  den  Vereinigten  Staaten;  Bibliographie.  —  Fortbildxmgs-, 
Gewerbe-  tmd  Abendschulen  und  Hilfsschulen  für  Schwachsinnige  bleiben  unbe- 
rücksichtigt. 

Seattle,  U.  S.  A.  Dr.  F.  W.  Meisnest. 

Die   Deutsche  Unterrichtsausstellung.    Leipzig  1914.    Verlag  von  Quelle  & 

Meyer.    72  S.,  geh.  1,60  M.,  geb.  2,00  M. 

Das  vom  Verlag  auf  das  Vornehmste  ausgestattete,  mit  vollendet  wiedergegebenen 
Lichtbildaufnahmen  geschmückte  Buch  stellt  in  kurzer,  übersichtUcher  und  anregender 
Weise  dar,  was  die  Deutsche  Unterrichtsausstellung  in  Berlin  zurzeit  in  sich  ver- 
einigt. Da  es  im  Sinne  dieser  pädagogischen  Schau  liegt,  nicht  ein  historisches 
Museum  zu  sein,  sondern  ein  Darbietungsort  für  alle  beachtenswerten  Neuerungen 
des  Schulgebietes,  so  gewinnt  unsere  Schrift  die  Bedeutung,  über  das  gegenwärtige 
unterrichtliche  Leben  und  Schaffen  zu  orientieren  und  zu  rüstigem  Weiterschreiten 
zu  ermuntern.  In  einem  einleitenden  Abschnitte  berichtet  Geheimer  Oberregierimgs- 
rat  Prof.  Dr.  L.  Pallat  über  die  Entwicklung,  die  Aufgaben  und  die  Einrichtung  der 
Deutschen  Unterrichtsausstellung.  Es  führen  sodann  die  Vorstände  der  einzelnen 
Abteilungen  ihre  Sondergebiete  mit  kurzen  Worten  an,  dabei  häufig  auf  die  päda- 
gogischen Probleme  der  Zeit  hinweisend.  Für  die  Leser  dieser  Zeitschrift  sei  be- 
sonders hervorgehoben,  daß  eine  eigene  Abteilung  den  einfachen  Apparaten  zur 
experimentellen  Pädagogik  gewidmet  ist,  die  der  Fürsorge  des  Privatdozenten 
Dr.  Hans  Rupp  anvertraut  ist,  und  daß  daneben  auch  die  Sammlung  des  Instituts 
für  angewandte  Psychologie,  imiter  der  Leitiing  von  Dr.  O.  Lipmann  stehend.  Unter- 
stand gefunden  hat.  Es  ist  zu  hoffen,  daß  die  Deutsche  Unterrichtsausstellung  als 
eine  Stätte  lebendigster  Belehrung  von  recht  vielen  Pädagogen  und  Schul  Verwaltungs- 
beamten besichtigt  werde;  zur  Vorbereitung  aber  auf  den  Besuch  halte  jede  Lehrer- 
und Stadtbücherei  den  Schmuckband  des  Verlags   Quelle  &  Meyer  bereit. 

Leipzig.  Dr.  Rieh.  Tränkmann. 

Wilhelm  Murtfeld,  Rektor  in  Hannover,  Grundlagen  und  Stoffe  für  Hilfs- 
schullehrpläne.  Verlag  von  Moritz  Diesterweg.  Frankfurt  a.  M.  1914.  71  S., 
geh.   1,40  M. 

Ein  Lehrplanentwurf,  der  den  Hilfsschullernbüchern  desselben  Verfassers  vm.d 
desselben  Verlages  den  Weg  bereiten  soll ;  mit  viel  Fleiß  vmd  auf  der  Grxm.dlage  guter 
pädagogischer  Erfahrung  gearbeitet;  aber  in  den  ,, Grundsätzen'*,  die  den  Lehrgängen 
der  einzelnen  Fächer  vorangestellt  sind,  durch  oftmals  recht  platte  Weisheiten 
peinlich  werdend,  wobei  es  scheint,  daß  dem  Verfasser  die  vmerläßliche  tiefere  Kennt- 
nis einer  wissenschaftlichen  Psychologie  der  Schwachbegabten  mangelt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 


%yi 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung 
im  Unterricht.*) 

Von  W.  Krassmöller. 

I. 

Man  unterscheidet  Schulkrankheiten,  die  entweder  von  der  Schule  erzeugt 
oder  von  ihr  begünstigt  werden.  Die  Schulnervosität  läßt  sich  je  nach  den 
Umständen  zur  einen  oder  zur  anderen  Gruppe  stellen,  und  es  ist  nicht  ohne 
weiteres  zu  sagen,  wohin  diese  verbreitetste  aller  Schulkrankheiten  eigentlich 
gehört.  Man  war  allerdings  lange  Zeit  der  Meinung,  daß  nervöse  Störungen 
in  den  Entwicklungsjahren  etwas  Natürliches  seien  und  sich  mit  der  Zeit 
schon  von  selbst  geben  würden.  Heutzutage  ist  man  anderer  Ansicht;  man 
weiß,  daß  das  Übersehen  oder  Außerachtlassen  der  ersten  Symptome  einer 
nervösen  Störung  eine  dauernde  Schwäche  des  Nervensystems  herbeiführen 
und  der  Grund  zu  einem  späteren  Siechtum  sein  kann.  Man  hat  der  Schule 
vorgeworfen,  daß  sie  die  Nervenkraft  ihrer  Zöglinge  durch  zu  große  An- 
forderungen absorbiere  und  abgearbeitete  und  nervöse  Jünglinge  zur  Uni- 
versität schicke.  Mit  Unrecht;  denn  die  Schule  und  die  Schulbehörden 
bekämpfen  schon  seit  langer  Zeit  die  Schülernervosität.  In  diesem  Kampfe 
muß  eben  auch  der  ganze  Lehrkörper  und  jeder  Lehrende  mitwirken. 

Unser  Thema  stellt  uns  nun  vor  zwei  Grundfragen :  1)  Woran  erkennt  der 
Lehrende  die  sicheren  Zeichen  der  nervös  krankhaften  Zustände  der  Groß- 
stadtkinder auf  unseren  höheren  Schulen?  und  2)  Wie  kann  der  Schul- 
unterricht die  Prophylaxe  der  Nervenkrankheiten  unterstützen? 

Wenn  ich  diese  Fragen  zu  beantworten  versuche,  so  spreche  ich  hier  nur 
als  Schulmann,  der  das  aus  der  Praxis  gewonnene  Material  gesichtet  und 
bearbeitet  hat.  In  erster  Linie  hat  eine  ärztliche  Behandlung  des  nerven- 
schwachen Kindes  einzusetzen,  aber  daneben  darf  eine  sachgemäße  Unter- 
stützung auch  von  selten  des  Schulmannes  nicht  fehlen.  Häufig  genug  sind 
mir  Fälle  vorgelegt  worden,  in  denen  selbst  Autoritäten  dieses  medizinischen 
Spezialgebietes  trotz  sorgfältigster  Behandlung  keinen  vollen  Erfolg  auf- 
zuweisen hatten,  weil  die  Schule  nicht  Hand  in  Hand  mit  dem  Arzte  gearbeitet 
hat.  Arzt  und  Erzieher  müssen  also,  wenn  sie  zu  einem  gedeihlichen  Re- 
sultat kommen  wollen,  sich  gegenseitig  in  ihrer  Arbeit  ergänzen.  Im  wesent- 
lichen wird  der  Erzieher  ja  nach  den  allgemeinen  Weisungen  des  Arztes  zu  ar- 


*)  Diese  Arbeit  lag  zur  kritischen  Durchsicht  Herrn  Nervenarzt  Prof.  Dr. 
H.  Oppenheim  vor,  dosson  vollen  Beifall  sie  fand.  Der  Verfasser  ist  gern 
einigen  Anregungen  Oppenheims  gefolgt. 

Zeit^hrift  (.  pftfJaRoK.  Psychologie.  17 


258      Schülemervosität  vmd  ihre  prophylaktische  Behandlxmg  im  Unterricht. 

beiten  haben.  Aber  um  diese  Angaben  im  einzelnen  durchzuarbeiten  und 
zu  verwerten,  um  selbst  einmal  anregend  eingreifen  zu  können,  muß  sich  der 
Erzieher  auf  das  Wesen  nervöser  Kinder  und  ihrer  Krankheit  verstehen. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  noch  einmal  kurz  die  Herkunft  der  Nervosität. 
Im  allgemeinen  ist  sie  wohl  ein  Kennzeichen  degenerativer  Anlage.  Zweifel- 
los spielt  auch  die  Heredität  dabei  eine  große  Rolle.  Ich  habe  des  öfteren 
die  Beobachtung  machen  können,  daß  nervöse  Kinder  dieselben  krank- 
haften Anzeichen  und  Symptome  aufwiesen  wie  ihre  Eltern.  Hierauf  ist 
bei  einer  praktischen  Behandlung  derartiger  Fälle  große  Rücksicht  zu  nehmen : 
man  darf  nicht  vergessen,  daß  die  Eltern,  die  doch  den  Mittelpunkt  des 
häuslichen  Lebens  bilden,  oft  dieselbe  Konstitution  aufzuweisen  pflegen 
wie  ihre  Kinder;  die  Rückwirkung  auf  die  Kinder  ist  erklärlich  und  fast 
stets  vorhanden,  wobei  der  Nachahmungstrieb  eine  große  Rolle  spielt,  und 
so  wird  eine  Besserung,  die  der  Arzt  und  der  Erzieher  anstreben,  häufig 
genug  erschwert.  Man  hat  nun  unter  anderem  auch  die  Schule  als  Quelle 
der  Nervosität  bezeichnet,  und  dies  vielleicht  nicht  so  ganz  mit  Unrecht; 
denn  zweifellos  bringt  die  Schule  mit  ihren  vielen  Enttäuschungen  und  all 
ihren  Aufregungen  eine  gewisse  Unruhe  in  das  Gemütsleben  des  Lernenden, 
die  im  Laufe  der  Zeit,  wenn  dazu  noch  ein  geeigneter  Boden  vorhanden  ist, 
eine  Nervenkrankheit  hervorrufen  kann. 

Man  wird  die  nervösen  Schüler  wohl  in  zwei  Gruppen  einteilen  können. 
Zur  ersten  gehören  nervöse,  aber  intellektuell  hochstehende  Schüler.  Bei 
näherer  Prüfung  habe  ich  häufig  die  Beobachtung  machen  können,  daß 
gerade  die  nervöse  Veranlagung  eine  hervorragende  Leistungsfähigkeit  be- 
dingt oder  doch  das  gewöhnliche  Niveau  zu  steigern  geeignet  ist.  Das  viel- 
leicht überempfindliche  Nervensystem  dieser  Kinder  pflegt  die  Rezeptivität 
ihres  Geistes  zu  steigern.  Allerdings  habe  ich  dabei  die  Erfahrung  gemacht, 
daß  jene  übergroße  Reizbarkeit,  manchmal  wieder  zu  einer  Reaktion  der 
Gemütslage  führend  die  Leistungsfähigkeit  unter  Umständen  wieder  auf- 
heben kann. 

Zur  zweiten  Gruppe  zählen  wir  die  Neurastheniker  mit  minderwertigem 
Intellekt,  die  man  als  nervöse  Schwachbegabte  bezeichnet.  Selbstverständlich 
kommen  derartige  Schwachbegabte  nicht  nur  auf  den  Volksschulen  vor. 
Ich  habe  mich  des  öfteren  davon  überzeugen  können,  daß  es  deren  auch  auf 
den  höheren  Schulen  gibt ;  allerdings  haben  sich  bei  diesen  erst  in  den  mitt- 
leren Klassen  gewöhnlich  die  Kennzeichen  der  schwachen  Begabung,  die 
herabgesetzte  Aufmerksamkeit,  schwaches  Gedächtnis,  Mangel  an  abstrak- 
tem Denken  usw.  herausgestellt. 

Ich  komme  nun  zur  Besprechung  der  ersten  Frage.  Woran  erkennt  der 
Lehrende  im  Klassenunterricht  die  Kennzeichen  der  nervös  krankhaften 
Zustände  seiner  Schüler?  Dazu  ist  zunächst  erforderlich,  daß  wir  uns  klar 
machen,  in  welcher  Linie  die  Kennzeichen  und  die  Erkrankungen  verlaufen. 
Die  Erscheinung  der  fortschreitenden  Nervenschwäche  ist  der  niedrigste 
Grad  der  Nervosität  in  einer  steigenden  Reihe,  die  von  der  nervösen  Ermüd- 
barkeit bis  zum  Zwangszeremoniell  und  zu  Zwangshandlungen  führt.  Die 
wichtigsten  Glieder  dieser  Reihe  sind:  Nervöse  Zerstreutheit,  ungewöhnhch 
schnelle  geistige  Erschöpf  barkeit,  allgemeine  motorische  Unruhe,  unmoti- 


Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.     259 

vierte  Grefülilsausbrüche  und  schließlich  das  Zwangszeremoniell  und  die 
Zwangshandlungen.  Hierbei  will  ich  vorausbemerken,  daß  die  Glieder  dieser 
erwähnten  Reihe  nicht  scharf  voneinander  zu  trennen  sind,  vielmehr  geht 
das  eine  häufig  genug  in  das  andere  über,  ohne  daß  sich  immer  eine  be- 
stimmte Grenze  ziehen  läßt. 

In  erster  Linie  ist  die  Aufmerksamkeit,  die  eine  unerläßliche  Bedingung 
für  jeden  gedeihlichen  Schulunterricht  darstellt,  ein  sicherer  Prüfstein  für 
die  psychische  Veranlagung  eines  Schülers.  Das  Vorhandensein  der  Auf- 
merksamkeit dokumentiert  sich  hauptsächlich  in  der  Körperhaltung  und  dem 
Ausdrucke  der  Augen.  Ein  nervöses  Kind  ist  im  Gegensatz  zum  gesunden 
nicht  imstande,  seine  Augen  andauernd  auf  den  Lehrer  oder  auf  den  Gegen- 
stand, den  der  Anschauungsunterricht  gerade  behandelt,  zu  richten,  wie 
das  in  der  Schule  verlangt  wird.  Dazu  fehlen  ihm  die  Konzentrationsfähig- 
keit und  die  Spannkraft  der  Nerven.  Der  Grund  hierfür  ist  darin  zu  suchen, 
daß  beim  nervösen  Kind  diese  Spannkraft  sehr  bald  nachläßt  und  schon 
nach  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  vollständig  versagt.  Die  Intensität  dieser 
Spannung  nimmt  aber  deshalb  so  rasch  ab,  weil  beim  nervösen  Kind  schon 
ein  großer  Kraftaufwand  erforderlich  ist,  um  die  vom  Lehrer  verlangte  Auf- 
merksamkeit überhaupt  aufzubringen.  Das  ungewöhnlich  schnelle  Nach- 
lassen dieser  Aufmerksamkeit  habe  ich  schon  in  den  ersten  Vormittagsstunden 
bei  manchen  Kindern  beobachtet;  die  äußeren  Symptome  waren  bald  ein 
Gähnkrampf,  bald  eine  auffallende  Blässe  des  Gesichts,  bald  eine  gewisse 
äußere  Unruhe.  Wie  ich  später  feststellte,  trat  dieses  hauptsächlich  bei  den 
Kindern  in  Erscheinung,  die  an  Schlaflosigkeit  litten.  Die  Insomnie  der 
Schulkinder  ist  nach  dem  heutigen  Stande  der  medizinischen  Wissenschaft 
eine  Folge  der  immer  mehr  überhand  nehmenden  Neurasthenie  unserer  Schul- 
jugend. (Vgl.  hierzu  H.  Oppenheim:  „Die  ersten  Zeichen  der  Nervosität 
des  Kindesalters**,  Berlin  1904,  Karger,  S.  12.)  Übrigens  wird  man  die 
exzessiv  schnell  geistig  ermüdenden  Kinder  nach  der  Methode  von  Krae- 
pelin,  Ebbinghaus  oder  Griesbach  herausfinden. 

Diese  rasche  Ermüdbarkeit  ist  gewöhnlich  mit  einem  besonders  starken 
Kopf  druck  1)  und  einem  völligen  Versagen  der  Aufmerksamkeit  verbunden. 
Es  heißt  aber  die  Gesundheit  des  Kindes  schwer  schädigen,  wenn  der  Er- 
zieher von  einem  nervösen  Kinde  in  der  vierten  oder  gar  in  der  fünften 
Unterrichtsstunde  mit  Gewalt  das  höchste  Maß  von  Aufmerksamkeit  ver- 
langen sollte.  Bedenkt  man  noch,  daß  beispielsweise  in  einem  Klassen- 
zimmer von  ca.  150 — 170  cbm  Rauminhalt  40 — 50  Kinder  bei  geschlossenen 
Fenstern  unterrichtet  werden,  so  wird  man  sagen  müssen,  daß  ein  Kind, 
dessen  nervöser  Zustand  bereits  fortgeschritten  ist,  nicht  ohne  Gefährdung 
seiner  Gesundheit  diese  Strapazen,  die  ihm  der  Schulunterricht  zumutet, 
ertragen  kann.  Das  Kind  hat  durch  seinen  viel  regeren  Stoffwechsel  dem 
Erwachsenen  gegenüber  ein  weit  größeres  Sauerstoffbedürfnis,  und  dieses 
kann  bei  den  geschilderten  Verhältnissen  nicht  immer  ausreichend  befriedigt 
werden.     Geistige  Arbeit,  die  in  überhitzter,  verdorbener  Luft  verrichtet 


')  Der  sogenannte  habituelle  Schulkopfschmorz   ist  eine  Beschwerde,  die  haupt- 
sächlich nervös  veranlagte  Kinder  befällt.     (Oppenheim,  a.  a.  O.,  S.  20.) 

17* 


260      Schülernervoaität  vmd  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

wird,  führt  überaus  schnell  zu  Ermüdungszuständen.  Die  Schule  glaubt 
allerdings  gegen  diese  schnelle  Ermüdbarkeit  nervöser  Kinder  soweit  wie 
möglich  Front  zu  machen,  wenn  sie  die  wissenschaftlichen  Fächer  im  Stunden- 
plan nach  Möglichkeit  mit  den  technischen  abwechseln  läßt.  Doch  die 
Ärzte  denken  darüber  anders;  man  weiß  jetzt,  daß  jede  körperliche  An- 
strengung, z.  B.  das  Turnen  oder  das  Spielen,  auch  eine  Ermüdung  des 
Geistes  mit  sich  bringt.  Kräpelin  sagt:  ,, Nicht  Abwechslung  von  körper- 
licher und  geistiger  Arbeit  tut  dem  ermüdeten  Körper  wohl,  sondern  in  aller- 
erster Linie  ausgiebige  Ruhe  und  zweckmäßige  Diät." 

Ich  komme  nun  zur  Besprechung  der  allgemeinen  motorischen  Umuhen. 
Es  gibt  Kinder,  die  keinen  Augenblick  still  sitzen  können  (Zappelphilipp). 
Sie  zappeln  mit  den  Gliedmaßen  und  zeigen  ein  umuhiges,  zerstreutes  Wesen. 
Der  Nervöse  vermag  seinen  Körper  nicht  seinem  eigenen  Willen  zu  beugen, 
um  wieviel  weniger  dem  fremden  Willen  des  Lehrers!  Geht  der  Pädagoge 
den  Ursachen  dieser  motorischen  Unruhen  nach,  so  wird  er  finden,  daß  sie 
meistens  in  einer  psychisch-motorischen  begründet  sind.  Ein  nervöses  Kind 
fühlt  und  denkt  viel  lebhafter  als  ein  normales,  und  die  psychischen  Vor- 
gänge lösen  dann  ungehemmt  die  physisch-motorischen  aus.  Es  braucht 
nicht  eigens  hier  hervorgehoben  zu  werden,  daß  auch  ein  normaler  Schüler 
bei  geeigneten  Anlässen  und  Reizvorgängen  motorische  Unruhen  zeigt, 
aber  bei  ihm  sind  immer  noch  gewisse  Hemmungen  vorhanden,  die  ihn  vor 
dem  Äußersten  bewahren.  Vor  allem  braucht  man  einem  Normalen  nur  die 
Existenz  der  vielleicht  augenblicklich  unterdrückten  Hemmung  ins  Ge- 
dächtnis zurückzurufen,  um  ihn  zu  beschämen  oder  sonst  psychisch  so  zu 
beeinflussen,  daß  die  motorische  Unruhe  gebannt  wird.  Aber  auch  die  ner- 
vösen Schüler  können  durch  Erziehung  im  Hause  und  in  der  Schule  ihren 
Muskelapparat  dem  Willen  unterzuordnen  lernen,  wenn  die  motorische  Un- 
ruhe noch  nicht  bis  ins  Krankhafte  gestiegen  ist.  In  solchen  Fällen  ist  aller- 
dings die  Heranziehung  eines  sachkundigen  Arztes  streng  geboten.  (Oppen- 
heim a.  a.  0.,  S.  23,  macht  darauf  aufmerksam,  daß  auch  im  Schlaf  der  Ner- 
vösen die  motorische  Unruhe  nicht  aufhört,  ja  sogar  noch  lebhafter  wird.) 

Als  eine  anscheinend  nicht  so  schlimme  Art  der  motorischen  Unruhe  ist 
das  „Spielen"  der  nervösen  Kinder  anzusehen.  Dies  tritt  gewöhnlich  erst 
dann  als  krankhaft  in  die  Erscheinung,  wenn  man  dem  Kinde  das  Spielen 
ausdrücklich  verboten  hat.  Das  Kind  vermag  nicht  ein  auf  der  Bank  liegendes 
Buch  unberührt  zu  lassen.  Diese  Erscheinung  ist  ein  sicheres  Zeichen  der 
Nervosität,  weil  hier  ein  gewisser  Zwang  vorherrscht,  das  Verbotene  zu 
tun,  und  die  vielleicht  vorhandene  Hemmung  zu  gering  ist,  das  Verbotene 
zu  unterlassen.  Man  erkennt  das  wohl  in  diesem  Fall  an  einer  gewissen  Hast 
und  Scheu,  mit  der  alle  Bewegungen  ausgeführt  werden.  Der  Schüler  ist 
sich  dabei  seiner  nervösen  Unruhe  nicht  bewußt;  denn  bei  ruhiger  Über- 
legung muß  er  sich  sagen,  daß  das  Risiko  in  keinem  Verhältnis  zum  Nutzen 
steht.  Schlimmer  liegt  der  Fall,  wenn  ein  nervöser  Schüler  nicht  imstande 
ist,  seinen  Lachmuskelapparat  zu  beherrschen,  denn  hierdurch  tritt  häufig 
eine  Gefährdung  der  Disziplin  ein.  Die  Suggestion,  die  ein  derartiges  Kind 
auf  die  ganze  Klasse  ausüben  kann,  ist  bekanntlich  sehr  stark,  ja,  mitunter 
führt  ein  einziges  so  veranlagtes  Kind  zu  einer  psychischen  Epidemie.    Hier 


Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.     261 

ist  es  also  besonders  wichtig,  die  Symptome  dieser  Nervosität  zu  erkennen, 
damit  man  sie  gleich  im  Entstehen  unterdrücken  kann.  Freilich  lacht  auch 
ein  gesundes  Kind  in  der  Klasse,  und  man  dulde  das  auch,  besonders  wenn 
ein  billige ns werter  Grund  dazu  vorliegt.  Nervöse  Kinder  dagegen  lächeln 
oft  fortwährend  oder  brechen  in  ganz  unmotivierter  Weise  plötzlich  in 
Lachen  aus.  Diese  Lachanfälle  schlagen  bei  Ermahnungen  fast  immer  in 
krampfhaftes  Weinen  um,  was  eine  Äußerung  des  Schamgefühls  oder  eine 
besondere  Gefühlsreaktion  sein  kann.  Überhaupt  ist  das  Gefühlsleben  eines 
Neurasthenikers  rapiden  Wandlungen  unterworfen.  Seine  Stimmungen 
wechseln  infolge  der  krankhaften  Reizbarkeit  der  Nerven  oft  ohne  Ursache. 
In  dieser  Minute  kann  ein  solches  Kind  noch  vor  Glück  strahlen,  in  der 
nächsten  schon  stellen  sich  quälende  Depressionszustände  ein,  die  Schwermut 
und  Trübsal  hervorrufen  und  ein  überreiztes  Kind  unter  Umständen  bis  zum 
Äußersten  treiben  können.  Wie  Neurastheniker  oft  in  unmotiviertes  Lachen 
(Zwangslachen)  ausbrechen,  so  lassen  sie  auch  häufig  Tränen  fließen,  ohne 
daß  ein  für  unsere  Begriffe  negatives  und  deprimierendes  Gefühlsmoment 
festzustellen  ist.  Das  Weinen  ist  durch  die  Sekretion  der  Tränendrüse  und 
die  Tätigkeit  bestimmter  mimischer  Gesichtsmuskeln  charakterisiert;  nun 
hat  aber  der  Nervöse  diese  hier  in  Frage  kommenden  Gesichtsmuskeln 
nicht  in  seiner  Gewalt,  woraus  sich  ein  Teil  dieser  nervösen  Erscheinungen 
erklärt.  Ich  habe  des  öfteren  nervöse  Kinder  gefragt:  ,, Warum  weinst  du?" 
und  die  Antwort  bekommen:  ,,Ach,  die  dummen  Tränen"  oder  auf  die  Er- 
mahnung, doch  das  unnütze  Weinen  zu  lassen,  die  Erwiderung  gehört: 
,,Wenn  es  aber  doch  weint"  oder:  ,,Es  weint  von  selbst.  Ich  kann  nicht 
dafür".  Das  Kind  hat  hier  unbewußt  richtig  die  treibende  Gewalt,  die  gegen 
sein  bewußtes  Ich  in  seinem  Innern  regiert  und  die  ihm  dunkel  und  un- 
heimlich erscheint,  mit  ,,es"  bezeichnet. 

Ein  Fall  eines  derartigen  psychischen  Zwangslachens  findet  sich  bei 
Thomas  Mann  in  den  ,, Buddenbrooks".  Es  handelt  sich  da  um  einen  Unter- 
sekundaner, der,  wie  aus  dem  Buche  hervorgeht,  außerordentlich  zart  veran- 
lagt ist,  durch  Überarbeitung  überreizt  und  wohl  unter  die  Neurastheniker 
eingereiht  werden  darf.  Man  hat  ihn  beauftragt,  bei  der  Zusammenstellung 
einer  Adressenliste  zu  helfen,  die  anläßlich  des  Todes  seines  Vaters  ange- 
fertigt werden  muß.  In  dieser  sehr  ernsten  Situation  sitzt  er  mit  seiner 
Mutter,  seiner  Tante  und  seinem  Onkel  bei  der  Lampe.  ,, Plötzlich  geschah 
etwas,  was  alle  verstörte.  Der  kleine  Johann  geriet  ins  Lachen.  Er  war 
beim  Schreiben  auf  einen  Namen  gestoßen,  irgendeinen  kuriosen  Klang, 
dem  er  nicht  widerstehen  konnte.  Er  wiederholte  ihn,  schnob  durch  die 
Nase,  beugte  sich  vornüber,  zitterte,  s'chluchzte  und  konnte  nicht  an  sich 
halten.  Anfangs  konnte  man  glauben,  daß  er  weine;  aber  es  war  nicht  an 
dem.  Die  Erwachsenen  sahen  ihn  ungläubig  und  fassungslos  an.  Dann 
schickte  seine  Mutter  ihn  schlafen."  Wir  haben  es  hier  zweifellos  mit  einem 
der  Wirklichkeit  —  vermutlich  der  eigenen  Jugend  des  Autors  —  entnom- 
menen Fall  zu  tun.  Der  Lachreiz  selbst  kann  nicht  motiviert  werden;  viel- 
leicht war  es  wirklich  nur  die  Klangwirkung  eines  merkwürdigen  Namens, 
die  den  Jungen  zum  Lachen  reizte.  Dieser  Reiz  wäre  an  sich  kein  Zeichen 
einer  neurasthenischen  oder  nervösen  Veranlagung,  wohl  aber  der  Fortfall 


262     Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

jener  Hemmungen,  die  einen  normalen  Menschen  veranlaßt  hätten,  den  Reiz 
vollkommen  zu  unterdrücken. 

Freilich  muß  der  Lehrer  von  diesem  nervösen  Lachen  oder  Weinen  er- 
heuchelte Gefühle  (hauptsächlich  Weinen)  wohl  unterscheiden.  Bekanntlich 
weinen  auch  normale  Kinder  leicht,  ganz  besonders  dann,  wenn  sie  eine 
Strafe  befürchten.  Jeder,  der  einmal  unterrichtet  hat,  weiß,  daß  Tränen 
aber  manchmal  nur  bezwecken,  Mitleid  zu  erregen  und  so  die  Strafe  abzu- 
wenden. 

Ich  will  schließlich  nun  die  tickartigen  Bewegungen  anführen,  die  bei 
neurasthenischen  Schülern  sehr  verbreitet  sind.  Es  handelt  sich  da  meist 
um  ein  lang  währendes  Mundaufsperren,  nervöses  Augenblinzeln,  Zungen- 
ßchnalzen,  fortwährendes  Räuspern  oder  um  das  Ausstoßen  obszöner  Worte. 
Bei  oberflächlicher  Betrachtung  nimmt  der  Lehrende  gewöhnlich  an,  daß 
hier  „schlechte  Angewohnheiten"  oder  Ungezogenheiten  vorlägen.  Wenn 
aber  Ermahnungen  und  Strafen  fruchtlos  sind,  so  wird  man  zu  der  Über- 
zeugung gelangen,  daß  in  diesen  Fällen  ein  krankhafter  Zustand  des  Schülers 
in  Frage  kommt.  Hören  wir,  was  hierzu  Oppenheim  sagt:  ,,Die  große 
Mehrzahl  der  Menschen,  bei  denen  sich  solche  Gewohnheiten  festsetzen  und 
nicht  abgeschüttelt  werden  können,  sind  nämlich  Neuropathen.  Bei  diesen 
ist  einmal  die  Neigung  zur  Nachahmung  oft  eine  sehr  ausgesprochene,  anderer- 
seits werden  die  ursprünglich  zweckmäßigen  Reflex-  und  Ausdrucksbewe- 
gungen durch  die  krampfhafte  Neigung  zur  Repetition  gerade  bei  ihnen 
leicht  zu  einem  Zwang,  zu  triebartig  ausgeführten  Bewegungsakten,  die 
dann  schließlich  dem  Einfluß  des  Willens  ganz  entzogen  werden.  Der  am 
Tick  Leidende  ist  zwar  häufig  noch  imstande,  vorübergehend  hemmend  ein- 
zugreifen, aber  es  verschafft  ihm  das  ein  Gefühl  der  Qual,  der  Spannung,  die 
so  unerträglich  ist,  daß  er  den  krampfhaften  Muskelbewegungen  schnell 
wieder  freies  Spiel  läßt."  (Oppenheim:  „Die  ersten  Zeichen  der  Nervosität 
des  Kindesalters".  BerHn  1904,  S,  20.)  Es  bedarf  wohl  keiner  weiteren  Er- 
wähnung mehr,  wie  wichtig  für  den  Pädagogen  es  ist,  die  krankhafte  Natur 
dieser  Erscheinungen  rechtzeitig  zu  erkennen  oder  doch  wenigstens  ihr  Vor- 
liegen zu  vermuten.  In  solch  einem  Falle  wird  er  veranlassen  müssen,  daß 
ein  Arzt  zu  Rate  gezogen  wird.  Die  Diagnose  solcher  krankhaften  Zustände 
ist  oft  schwer,  weil  derartig  belastete  Schüler  häufig  noch  so  viel  Energie 
aufbringen,  um  den  Tick  zu  unterdrücken,  namentlich  dann,  wenn  sie  sich 
beobachtet  fühlen.  Der  Pädagoge  wird  also  solche  Kinder  beobachten  müssen, 
ohne  daß  sie  es  merken.  Er  wird  möglichst  wenig  fragen  und  möglichst  viel 
sehen;  dazu  hat  er  reichlich  Gelegenheit  bei  einem  zwanglosen  Spiel,  bei 
Ausflügen  usw.  Ich  habe  oft  genug  in  einer  viertelstündigen  Hofinspektion 
mehr  von  der  krankhaften  Veranlagung  eines  nervösen  Schülers  kennen 
gelernt,  als  ich  in  einer  Unterrichtsstunde  vermocht  hätte,  wo  sich  der 
Schüler  nicht  gehen  ließ,  sondern  sich  unter  der  Kontrolle  angestrengt  zu- 
sammennahm. 

Auf  der  Grenze  zwischen  den  tickartigen  Bewegungen  und  der  üblen  Ge- 
wohnheit steht  das  Nägelknabbern,  was  meistens  ein  sicheres  Kennzeichen 
der  Schülernervosität  ist.  Diese  üble  Gewohnheit  ist  viel  verbreiteter,  als 
man  denkt.     Ich  habe  unter  443  Schülern  einer  Berliner  höheren  Schule 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.     2G3 

95  Onycliophagen,  also  21,44  Prozent,  festgestellt.  Ganz  abgesehen  davon, 
daß  dieses  Übel  in  ästlietisbher  Beziehung  ekelerregend  ist  und  die  Finger- 
nägel verunstaltet  werden,  ist  es  auch  vom  Standpunkt  der  Hygiene  aus 
ernstlich  zu  bekämpfen.  Denn  durch  das  Nägelbeißen  werden  alle  Bazillen 
verschluckt,  die  an  den  Fingernägeln  sitzen,  einer  Stelle,  die  wie  keine  zweite 
des  Körpers  den  Schmutz  aufspeichert.  Oppenheim  erwähnt  (a.  a.  0.), 
daß  er  erwachsene  Neuropathen  behandelt  hat,  die  an  diesem  Übel  von  früher 
Kindheit  an  litten  und  keine  Spur  eines  Nagels  mehr  besaßen;  dagegen 
waren  die  Fingerspitzen  mit  Narben  bedeckt  und  boten  einen  häßlichen 
Anblick.  Ich  habe  die  Erfahrung  gemacht,  daß  man  in  den  minder  schweren 
Fällen  mit  den  allgemeinen  Mitteln  der  Erziehung  zur  Selbstbeherrschung 
und  Eitelkeit  oft  mit  Erfolg  gegen  dieses  Übel  ankämpfen  kann. 

Ich  komme  nun  zu  einer  nervösen  Erscheinung,  die  Freud  mit  dem 
Namen  ,,Zwangszeremonieir'  bezeichnet.  (Sammlung  kleiner  Schriften  zur 
Neurosenlehre.  Zweite  Folge.  Wien  1912.)  ,,Das  neurotische  Zeremoniell", 
sagt  Freud  auf  S.  122,  „besteht  in  kleinen  Verrichtungen,  Zutateh,  Ein- 
schränkungen, Anordnungen,  die  bei  gewissen  Handlungen  des  täglichen 
Lebens  in  immer  gleicher  oder  gesetzmäßig  abgeänderter  Weise  vollzogen 
werden."  Der  sachkundige  Lehrer  wird  bei  vielen  nervösen  Kindern  sehr 
bald  das  Vorhandensein  eines  neurotischen  Zwangszeremoniells  entdecken. 
Ich  selbst  habe  es  einige  Male  feststellen  können:  nervöse  Kinder  klopften 
jedesmal  vor  Beginn  eines  Extemporales  unter  die  Bank,  andere  wieder 
mußten  ihren  Federhalter  erst  einmal  hinfallen  lassen,  und  schließlich  wieder 
andere  standen  unter  dem  Zwange,  ihre  Mappe  in  ganz  bestimmter  Weise 
zu  packen,  weil  nach  ihrer  Vorstellung  die  Qualität  ihrer  Arbeit  davon  ab- 
hing. Diese  Tätigkeiten  machen  auf  uns  den  Eindruck  von  bloßen  Formali- 
täten und  erscheinen  uns  daher  völlig  bedeutungslos.  Auch  dem  kranken 
Schüler  erscheinen  sie  manchmal  als  nichts  anderes,  wenn  er  sich  auch,  wie 
ich  durch  Befragen  feststellen  konnte,  nicht  immer  bewußt  ist,  daß  zwischen 
diesem  Zwangszeremoniell  und  der  zu  leistenden  Arbeit  ein  Kausalnexus 
nicht  besteht.  Selbst  wenn  er  dies  aber  erkennt,  ist  er  unfähig,  das  Zwangs- 
zercmoniell  zu  unterlassen,  denn  jede  Abweichung  von  der  Norm  würde  sich 
durch  unerträgliche  Angst  strafen,  die  sofort  die  Nachholung  des  Unter- 
lassenen erzwingt.  Wir  dürfen  bei  Beurteilung  dieser  Fälle  nie  vergessen, 
daß  wir  es  mit  seelisch  schwachen  Individuen  zu  tun  haben,  die  kein  Selbst- 
bewußtsein, kein  Vertrauen  auf  ihre  Arbeitskraft  besitzen,  sei  es,  weil  sie 
von  ihr  oft  im  Stich  gelassen  wurden,  sei  es,  weil  eben  diese  Schwäche  sie 
an  der  Entfaltung  einer  vielleicht  wirklich  vorhandenen  Kraft  hindert.  Sie 
halten  also  jeden  Erfolg,  jede  Niederlage  für  einen  Zufall,  streben  für  etwas 
von  vornherein  Aussichtsloses:  und  nun  werden  sie  eifrig  auf  Äußerlich- 
keiten achten;  es  tritt  hier  eine  Verschiebung  ein,  der  Kern  wird  unwichtig, 
die  Form,  die  leichter  zu  bewältigen  ist,  wird  sorgfältig  gepflegt,  und  so  ist 
jene  uns  eigentümlich  anmutende  Gedankenverbindung  dieser  nervösen 
Kinder  zu  erklären. 

Gefährlich  wird  indes  ein  solches  Zeremoniell,  wenn  es  vorschreibt,  regel- 
mäßig Disziplinwidrigkeiten  zu  begehen.  Diese  bestehen  häufig  darin,  daß 
ein  neuraathenisches  Kind  etwas  unterlassen  oder  ein  anderes  —  gewöhnlich 


264      Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlxing  im  Unterricht. 

in  rhythmisclier  Form  —  tun  muß,  zum  Beispiel  unter  Beobachtung  gewisser 
Äußerlichkeiten  ruckend  aufstehen  muß  oder  dergleichen.  Nur  wenig  ver- 
schieden von  dem  ehen  besprochenen  neurotischen  Zeremoniell  sind  die 
Zwangshandlungen.  Während  das  Zeremoniell  mehr  eine  gewohnheits- 
mäßige Handlung  des  Nervösen  darstellt,  kann  man  den  Zwangshandlungen 
vielleicht  eine  gewisse  impulsive  Natur  zuschreiben,  die  sie  als  triebartige 
Handlungen  darstellt.  Gleichwohl  ist  zwischen  den  beiden  keine  absolut 
scharfe  Grenze  zu  ziehen,  schon  allein  deshalb  nicht,  weil  Zwangshandlungen 
aus  Zwangszeremoniellen  hervorgehen  können.  Zwangshandlungen  sind 
Handlungen,  die  einen  psychischen  Zwang  zur  Ursache  haben,  und  deren 
Ausführung  meistens  mit  Gefahren  verknüpft  ist.  Gerade  der  Kitzel  der 
Gefahr  steigert  die  an  sich  schon  krankhafte  Reizbarkeit  des  Neurasthenikers. 
Einen  typischen  Fall  von  Zwangshandlung  im  Unterricht  habe  ich  in  der 
Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  experimentelle  Pädagogik  im 
Dezemberheft  1913  berichtet.  Ein  Quintaner  mußte  mitten  in  der  Stunde 
beim  ßxtemporale  —  also  in  einer  für  ihn  recht  ernsten  Situation  —  pfeifen. 
Er  wurde  zur  Rede  gestellt  und  gestand,  daß  er  pfeifen  mußte,  und  daß  ihn 
etwas  trieb,  zu  pfeifen.  Er  hatte  schon  von  Anfang  der  Stunde  bis  gegen 
Mitte  derselben,  wo  es  passierte,  Angstgefühle,  weil  er  sich  vor  dem  Pfeifen 
fürchtete,  das  doch,  wenn  es  entdeckt  würde,  Strafe  nach  sich  ziehen  mußte. 
Selbstverständlich  ging  der  Schüler  straflos  aus;  denn  seine  Handlungs- 
weise war  nicht  eine  bewußte  Ungezogenheit,  sondern  eine  Zwangshandlung, 
die  in  der  schon  vorgeschrittenen  Neurasthenie  ihre  Ursache  hatte.  Der 
Schüler  stand  bereits  auf  meinen  Individuallisten,  die  mir  das  vollständige 
Bild  eines  Neurasthenikers  boten. 

Schließlich  möchte  ich  noch  einige  nervöse  Erscheinungen  unter  Schul- 
kindern hier  zur  Sprache  bringen,  die  seltener  auftreten.  Ich  denke  da  in 
erster  Linie  an  die  nervösen  Äußerungen  der  Anorexie  (Nahrungsscheu)  und 
das  sich  daraus  ergebende  nervöse  Erbrechen.  Diese  Erscheinung  ist  meist 
auf  Überfütterung  zurückzuführen  und  daher  mehr  als  Angelegenheit  der 
häuslichen  Erziehung  anzusprechen.  Sollten  hier  aber  tiefere  Ursachen 
zugrunde  liegen,  so  ist  auch  deren  Ausmerzung  nicht  Sache  des  Pädagogen, 
sondern  des  Arztes. 

Auch  die  Enuresis  diurna  findet  sich  häufig  bei  Neuropathen.  Meine 
Schulpraxis  hat  gezeigt,  daß  große  seelische  Emotionen,  wie  sie  das  Ex- 
temporalschreiben oder  die  Prüfungen  für  Kinder  mit  sich  bringen,  diesen 
nervösen  Vorgang  auslösen.  Es  ist  mir  der  Fall  bekannt,  daß  sich  die  Enu- 
resis bei  einem  nervösen  Kind  am  ersten  Schulvormittage  zwei-  bis  dreimal 
wiederholte,  und  dieses  nervöse  Symptom  wird  wohl  bei  derartig  veranlagten 
Kindern  anläßlich  des  Schuleintritts  nicht  vereinzelt  dastehen. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  die  nervöse  Augenschwäche  (Asthenopie) 
erwähnen,  die  oft  ganz  plötzlich  auftritt.  Sie  ist  meistens  an  der  Schrift 
des  betreffenden  Schülers  zu  erkennen.  Anfänglich  sind  die  Schriftzüge  ganz 
normal,  dann  aber  tritt  auf  einmal  eine  plötzliche  Störung  auf;  das  schrei- 
bende Kind  verliert  jede  Distanzabschätzung,  es  sieht  schließlich  keine 
Linien  mehr,  keine  Richtung,  zuletzt  überhaupt  nichts  mehr,  weil  alles  vor 
seinen  Augen  verschwimmt.    Es  liegt  hier  eine  nervöse  Sehstörung  vor,  die 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  \isw.    265 

ZU  beobachten  ich  einige  Male  Gelegenheit  hatte.  Ich  entsinne  mich  eines 
Schülers,  der  beim  Vorlesen^  plötzlich  stockte  und  das  Buch  den  Augen  ruck- 
weise näherte;  nachdem  er  wieder  einige  Worte  gelesen  hatte,  wiederholte 
sich  dieser  Vorgang,  bis  der  Junge  nach  kurzer  Zeit  in  Weinen  ausbrach  und 
nicht  mehr  zum  Weiterlesen  zu  bewegen  war.  Der  Arzt,  der  auf  meine  An- 
regung konsultiert  war,  stellte  hier  einen  Fall  von  nervöser  Asthenopie  fest. 
Forscht  man  nach  denGründen  dieser  Erscheinung,  so  wird  man  finden,  daß  es 
hauptsächlich  psychische  Momente  sind,  wie  große  Aufregung  und  zu  heftige 
Nervenanspannung,  die  solche  Krankheitserscheinungen  auslösen.  Es  kann 
sich  allerdings  auch  um  physische  Ermüdungszustände  dabei  handeln. 

Den  Sehstörungen  ähnlich  sind  auch  die  nervösen  Sprachstörungen,  die 
sehr  wohl  von  dem  eigentlichen  Stottern  zu  unterscheiden  sind.  Diese  ner- 
vösen Sprachstörungen  zeigen  sich  bei  den  Schulkindern  häufig  nur  dann, 
wenn  sie  auf  eine  Frage  plötzlich  und  exakt  zu  antworten  gezwungen  sind, 
während  sich  im  mündlichen  Verkehr  mit  ihren  Eltern  und  Kameraden 
derartige  Störungen  nicht  feststellen  lassen.  So  ist  es  auch  erklärlich,  daß 
die  Eltern  oft  erstaunt  sind,  wenn  man  ihnen  die  Mitteilung  von  einer  ner- 
vösen Sprachstörung  ihrer  Kinder  macht.  Unter  meinen  Schülern  befand 
sich  auch  ein  Knabe,  der  bei  nur  wichtigen  Anlässen,  wie  Prüfungen  und 
dergleichen,  nicht  fähig  war,  gewisse  Konsonanten,  wie  s  und  r,  ohne  Schwie- 
rigkeiten über  die  Lippen  zu  bringen.  Das  Übel  fiel  zu  Hause  zum  erstenmal 
auf,  als  er  vor  seinem  Vater  in  einer  wichtigen  Angelegenheit  eine  Aussage 
machen  sollte.  Der  Junge  wurde  durch  gutes  Zureden  und  eine  gewisse 
Rücksichtnahme  auf  diesen  nervösen  Zustand  geheilt. 

Ich  bin  nun  am  Schlüsse  mit  der  Besprechung  der  ersten  Frage  und  glaube 
dargetan  zu  haben,  woran  der  Lehrende  die  Nervosität  seiner  Schüler  er- 
kennen kann.  Aber  ich  bin  nicht  der  Meinung,  daß  es  erschöpfend  gewesen 
sei.  Mir  kam  es  nur  darauf  an,  alle  die  deutlichen  Merkmale  der  Schul- 
nervosität zu  erwähnen,  die  der  Lehrende  in  seinem  Unterricht  zu  eruieren 
in  der  Lage  ist.  Ich  weiß  sehr  wohl,  daß  es  noch  eine  ganze  Reihe  von  cha- 
rakteristischen Anzeichen  der  Nervosität  gibt,  wie  zum  Beispiel  die  Gruppe 
der  vasomotorischen  Störungen,  dieGastropathien  usw.,  die  aber  nur  der  sach- 
kundige Arzt  auf  Grund  eingehender  Untersuchungen  erkennen  kann.  Ferner 
ist  es  mir  nicht  entgangen,  daß  bei  Mädchen  wieder  andere  Äußerungsformen 
der  Nervosität  vorkommen ;  auch  diese  konnten  hier  keine  Berücksichtigung 
finden,  da  mir  die  hierzu  nötige  Erfahrung  fehlt.  (Fortsetzung  folgt.) 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugend- 
kunde der  Geschlechter. 

Von  Fritz  Rössel. 

Im  10.  Heft  des  14.  Jahrg.  (1913)  dieser  Zeitschrift  wurde  auf  S.  534/35 
eine  Tabelle  gebracht,  die  die  Ergebnisse  einer  Bearbeitung  von  560  Auf- 
sätzen von  Knaben  und  Mädchen  aus  Hamburger  Hilfsschulen  über 
das  Thema :  Was  würde  ich  mit  10  Mark  anfangen?  darstellte.    Im  Fol- 


266    Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

genden  sollen  diese  Tabelle  und  das  ihr  zugrunde  liegende  Material  erläutert 
und  ergänzt  werden.  Der  Übersichtlichkeit  wegen  werden  die  einzelnen  Teile 
der  Tabelle  im  Laufe  der  Darstellung  nochmals  gegeben  und  durch  eine  Anzahl 
interessanter  Aufsätze  belebt  und  illustriert  werden. 

Die  Arbeiten  stammen  aus  den  ersten  drei  Klassen  von  11  Hamburger  Hilfs- 
schulen. Sie  wurden  sämtlich  im  Juni  1913  in  einer  der  beiden  ersten  Unterrichts- 
stunden, von  8 — 9^  Uhr,  ohne  jede  Vorbereitung,  Besprechung  oder  Korrektur 
geschrieben.  Gegeben  wurde  nur  das  Thema,  dann  konnte  jedes  Kind  unbeein- 
flußt arbeiten. 

Eingegangen  waren  550  Arbeiten,  und  zwar  310  von  Knaben  und  240  von 
Mädchen.    Auf  die  einzelnen  Klassen  verteilen  sich  die  Aufsätze  so: 


Knaben 

Mädchen 

Aus  Klasse  I       95  Arbeiten 

63  Arbeiten 

>>                     5>             ^^              "^                  >> 

100        „ 

„    III     121         „ 

77        „ 

310  Arbeiten 

240  Arbeiten 

Kinder  im  Durchschnitt  ist  bei  Knaben  imd  Mädc 

In  Klasse    I     I3V4 

Jahre 

„     „     n  12V4 

)> 

»        „     III     111/2 

>j 

Für  die  Wertung  der  Ergebnisse  ist  noch  zu  bemerken,  daß  die  Kinder  von 
Lehrern  und  Lehrerinnen  unterrichtet  werden.  An  den  11  Hilfsschulen  sind  54 
Lehrer  und  50  Lehrerinnen  beschäftigt  und  zwar  so,  daß  die  Lehrerinnen  haupt- 
sächlich untere  und  mittlere  Klassen,  die  Lehrer  mehr  Oberklassen  führen.  An 
8  Schulen  werden  Knaben  und  Mädchen  gemeinsam  unterrichtet  und  erzogen. 
Aus  ihnen  stammen  162  Arbeiten  von  Mädchen  und  251  Arbeiten  von  Knaben. 
In  einer  Schule  sind  nur  Knaben  (7  Lehrer  und  3  Lehrerinnen),  in  2  Schulen 
nur  Mädchen  mit  weiblichen  Lehrkräften.  Die  Koedukation  herrscht  also  vor. 
Eine  Vergleichung  der  Aufsätze  aus  den  Schulen,  wo  die  Geschlechter  getrennt 
unterrichtet  werden,  mit  den  anderen  zeigte  keine  nennenswerten  Unterschiede, 
so  daß  alle  Arbeiten  als  Ganzes  betrachtet  und  zusammen  bearbeitet  werden 
konnten. 

Von  vornherein  waren  zwei  Fragen  für  die  vergleichende  Durchsicht  gegeben. 
Dem  Kinde  wird  die  Aufgabe  gestellt:  Was  würdest  du  mit  10  Mark  anfangen? 
Es  werden  also  Vorstellungen  lebendig,  die  sich  vor  allem  auf  Objekte  beziehen, 
die  es  gern  in  seinem  Besitz  haben  möchte.  Den  Regulator  der  Wünsche  bildet 
der  mit  10  Mark  verbundene  Geldwert.  Es  galt  also  für  die  Kinder,  ihre  Wünsche 
und  Interessen  mit  dem  gegebenen  Geldwerte  in  Einklang  zu  bringen.  Daraus 
entstehen  die  Fragen:  1. Welche  Gegenstände  wollen  sich  die  Kinder  kaufen,  und 
in  welcher  Weise  wollen  sie  das  Geld  sonst  verwenden  ?  2.  Wie  weit  haben  die 
Kinder  den  Geldwert  erfaßt  und  ihre  Wünsche  ihm  entsprechend  eingerichtet  ? 

Aus  der  Lektüre  der  Aufsätze  ergab  sich  weiter  eine  Einteilung  nach  der  am 
häufigsten  auftretenden  Verwendung.  Sie  gliederte  sich  in  Sparen  von  Geld, 
Abgeben  von  Geld  an  Eltern  und  Geschwister,  Verwendung  von  Geld  für  Klei- 
dung, Spiel  und  Vergnügen. 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.     267 

Nun  wurde  von  jeder  Arbeit  ein  Protokoll  nach  folgendem  Schema  aufge- 
nommen : 


Nr. 

Inhalt  des  Auf- 
satzes 

Alter 

Geld- 
wert 

Sparen 

Ab- 
geben 

Klei- 
dung 

Ver- 
gnügen 

Spiel 

Verschie- 
denes 

212 

K.,   Paula 

Kaufe  ein  Kleid 
zu  5  M.,  neue 
Stiefel  3,öOM.; 
1,50    M.    auf- 
bewahren 

13 

richtig 

1,50M. 

Kleid 

5  M., 

Stiefel 

3,50M. 

— 

— 

— 

251 

P.,   Karl 

5    M.    auf    die 
Sparkasse,  3M. 
der  Mutter,  für 
2  M.  Arbeits- 
stiefel 

12 

richtig 

5  M. 

3M.der 
Mutter 

2M.  Ar- 
beits- 
stiefel 

— 

— 

— 

Für  Knaben  und  Mädchen  wurden  natürlich  gesonderte  Listen  geführt.  Nach 
dieser  Anlage  konnten  die  Aufeätze  in  übersichtlicher  Weise  zerlegt  werden. 

1.  Sparen. 

Der  Gredanke  des  Sparens  tritt  bei  50  Knaben  =  16,13  %  und  bei  32  Mädchen 
=  13,33  %  auf.  Dabei  wurden  alle  Äußerungen  des  Sparens,  ohne  Rücksicht 
auf  die  Höhe  des  Sparbetrages,  gezählt.  In  Wirklichkeit  hätte  eine  Reihe  von 
Kindern  nach  ihren  vorhergegangenen  Käufen  nichts  mehr  zum  Sparen  übrig 
gehabt.  Sie  geben  an:  etwas;  was  übrig  bleibt;  den  Rest  sparen  zu  wollen.  Wenn 
ein  Knabe  sich  eine  Uhr  für  7  Mark  kauft,  sich  im  Kino  amüsiert,  mit  dem  Auto 
in  ein  Variete  fährt  und  mit  der  Droschke  nach  Hause  und  dann  den  Rest  in 
die  Sparbüchse  stecken  will,  so  wird  dafür  wohl  kaum  etwas  übrig  bleiben.  Das 
Kind  kann  sich  vielfach  über  die  Preise  getäuscht  haben.  Für  Kino  und  Vari6t6 
rechnet  der  Knabe  vielleicht  40 — 50  Pfennige,  für  Auto  und  Droschkenfahrt 
vielleicht  ebensoviel,  da  er  diese  Preise  noch  nicht  kennt,  so  daß  nach  seiner 
Rechnung  vielleicht  doch  noch  1  Mark  für  die  Sparbüchse  übrig  bleibt.  Die  ge- 
nannten Zahlen  drücken  also  nur  aus,  wie  oft  der  Gredanke  des  Sparens  überhaupt 
bei  Knaben  und  Mädchen  auftritt,  und  es  scheint,  als  ob  das  bei  den  Klnaben 
etwas  häufiger  der  Fall  wäre  als  bei  Mädchen. 

Um  zuverlässigere  Angaben  zu  bekommen,  in  welchem  Grade  der  Gedanke 
des  Sparens  herrscht,  wurde  festgestellt,  wie  viel  Kinder  den  ganzen  Betrag  und 
die  Hälfte  und  mehr  sparen  wollen.  Da  verschiebt  sich  das  Bild  noch  mehr  zu- 
gunsten der  Knaben.  Es  sparen  25  Knaben  das  ganze  Geld  =  8,6  %  und  10 
Mädchen  =  4,2  %,  die  Hälfte  und  mehr  3,76  %  Knaben  und  4,13  %  Mädchen. 
Die  Absicht  eines  Kindes,  die  10  Mark  ganz  sparen  zu  wollen,  ist  jedenfalls  am 
ernstesten  zu  nehmen,  denn  hier  schieben  sich  keine  anderen  Vorstellungen 
zwischen  G^eld  und  Verwendung.  Der  Besitz  einer  Geldsumme  löst  unmittelbar 
die  Vorstellung  des  Sparens  aus.  Daß  noch  einmal  soviel  Knaben  als  Mädchen 
den  ganzen  Betrag  sparen  wollen,  hängt  offenbar  damit  zusammen,  daß  beim 
Knaben  der  Gedanke  an  die  Zukunft  eine  größere  Rolle  spielt  ab  beim  Mädchen. 


268    Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

Es  schwebt  ihm  die  Zeit  nach  der  Schulentlassung  vor,  in  der  er  lernen,  arbeiten 
und  verdienen  muß,  wobei  ihm  ein  Sparbetrag  recht  gut  zustatten  kommen  kann. 
Der  Knabe  erkennt  die  Bedeutung  des  Sparens  schärfer  als  das  Mädchen.  In  der 
ersten  Klasse  wird  naturgemäß  mehr  gespart  als  in  der  dritten.  Das  zeigt  folgende 
Übersicht,  in  der  festgestellt  wurde,  wieviel  Kinder  der  einzelnen  Klassen  sparen 
wollen. 


Knaben 

Mädchen 

Es  sparen  in  Kl.    I    31,58  % 

11     12,75  % 

III      6,61   % 

30,16  % 

5        % 

10       % 

Es  zeigt  sich,  daß  der  Gedanke  des  Sparens  von  der  3.  Klasse  (11^4  jährige  Kinder) 
bis  zur  1.  Klasse  (13^  jährige  Kinder)  ganz  bedeutend  zunimmt,  bei  den  Knaben 
um  das  Fünffache,  bei  den  Mädchen  um  das  Dreifache.  Die  größte  Spannung 
besteht  zwischen  der  2.  und  1.  Klasse  (12% — 13%  Jahre).  Während  bei  den 
Knaben  von  der  3.  zur  1.  Klasse  eine  stetige  Zunahme  zu  erkennen  ist,  geht  bei 
den  Mädchen  die  Zahl  in  der  2.  Klasse  zurück,  um  sich  dann  bis  zur  1.  Klasse 
zu  versechsfachen.  Mit  Sicherheit  geht  aus  dieser  Tabelle  hervor,  wie  ganz  anders 
1314jährige  Kinder  über  das  Sparen  denken  als  1234jährige.  In  einem  Jahre 
bekommt  der  Begriff  des  Sparens  eine  viel  breitere  und  tiefere  Bedeutung  bei 
Knaben  sowohl  als  Mädchen.  In  der  2.  und  3.  Klasse  ist  das  Sparen  von  neben- 
sächlicher Bedeutung  (es  werden  auch  nur  kleinere  Beträge  gespart,  nur  ver- 
einzelt schon  die  ganze  Summe),  in  der  1.  Klasse  dagegen  herrscht  der  Gedanke 
des  Sparens  etwa  bei  einem  Drittel  der  Knaben  und  Mädchen. 

Es  sei  hierbei  noch  einmal  daran  erinnert,  daß  es  sich  um  Hilfsschüler  handelt, 
die  in  der  Entwicklung  normalen  Kindern  gegenüber  zurück  sind.  Wollte  man 
eine  Parallele  zu  normalen  Kindern  ziehen,  so  müßte  man  die  Alter  um  1 — 2 
Jahre  zurückdatieren.  Danach  wäre  hier  der  größte  Unterschied  etwa  zwischen 
dem  11.  und  12.  Jahre. 

2.  Verwendung  von    Geld  zu  Kleidung. 

Die  Verwendung  von  Geld  zum  Kaufe  von  Kleidung  nimmt  in  den  Aufsätzen 
bei  weitem  den  größten  Raum  ein.  Alles  andere  tritt  dagegen  zurück.  Beim 
Lesen  der  Aufsätze  wird  oft  das  Gefühl  lebendig,  als  ob  sie  ein  Schrei  nach  ordent- 
licher Kleidung  wären.  Es  wollen  203  Knaben  =  65,48  %  und  206  Mädchen 
=  85,8  %  Geld  für  Kleidung  ausgeben.  Wie  ernst  es  die  Kinder  meinen,  kommt 
darin  zum  Ausdruck,  daß  nicht  weniger  als  31,61  %  Knaben  und  43,75  %  Mäd- 
chen den  ganzen  Betrag  für  Kleidung  verwenden  wollen,  also  etwa  ein  Drittel 
aller  Knaben  und  beinahe  die  Hälfte  aller  Mädchen. 

Es  ist  gewiß  eine  auffallende  Tatsache,  daß  Kinder,  Knaben  und  Mädchen 
im  Alter  von  11 — 13  Jahren,  dazu  Hilfsschulkinder  und  Großstadtkinder,  in  so 
großem  Umfange  das  Geld,  das  sie  nach  Belieben  verwenden  können,  in  Kleidungs- 
stücken anlegen  wollen.  Kinder  in  diesem  Alter  haben  wohl  nach  allgemeiner 
Ansicht  andere  Bedürfnisse  und  Wünsche,  die  sie  befriedigen  möchten,  als  sich 
Schuhe,  Anzüge,  Kleider,  Strümpfe,  Schürzen,  Hemden,  Handschuhe  und  Hüte 
zu  kaufen.  Wir  haben  hier  ein  instruktives  Beispiel  dafür,  wie  das  Milieu  und 
die  wirtschaftliche  Stellung  der  Familie,  aus  der  das  Kind  stanmit,  dem  Kinde 
ihren  Stempel  aufdrücken  und  seine  geistige  Entwickelung  beeinflussen.    Die 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    269 

Hilfsschüler  der  Großstadt  kommen  zum  größten  Teile  aus  armen  und  ärmsten 
Familien,  und  wer  einmal  in  die  Schulen  hineingesehen  hat,  wird  wohl  verstehen, 
warum  sich  diese  Kinder  Kleidung  kaufen  wollen.  Zerrissene,  vielfach  geflickte, 
der  Farbe  nach  nicht  mehr  erkennbare  Hosen  und  Jacken,  Stiefel,  bei  denen 
Oberleder  und  Sohle  notdürftig  mit  Bindfaden  zusammengehalten  werden,  Bind- 
faden statt  Schnürbänder  in  den  Schuhen,  kein  Hemd  unter  der  Jacke,  zu  große 
und  zu  kleine  Jacken,  Hosen  und  Schuhe  —  das  sind  durchaus  keine  unge- 
wohnten Bilder.  Tagtäglich  spüren  und  fühlen  die  Kinder  am  eigenen  Leibe 
das  Unangenehme  schlechter  Kleidung,  und  so  lernen  sie  den  Wert  von  heiler 
und  anständiger  Kleidung  schätzen.  Bei  ihnen  dreht  es  sich  nicht  um  feine 
Kleidimg,  sondern  um  das  AUernotwendigste.  Wären  die  Arbeiten  von  Kindern 
aus  gut  gestellten  Kreisen  geschrieben  worden,  so  wäre  der  Kauf  von  Kleidimg 
kaum  wesentlich  hervorgetreten,  vor  allem  hätte  sie  wohl  zum  schönen  Aussehen 
und  zum  Schmuck  dienen  sollen.  Hier  aber  bricht  der  Wunsch  nach  ordentlichen 
Kleidungsstücken  mit  elementarer  Gewalt  durch.  Bei  den  Mädchen  noch  mehr 
als  bei  den  Knaben,  Dabei  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  bei  den  Mädchen  eine 
Neigung  für  schöne  und  elegante  Kleidung  besteht.  Die  Knaben  schreiben :  Ich 
kaufe  mir  einen  Anzug,  ein  paar  Stiefel,  eine  Mütze,  und  sie  geben  nicht  sehr 
häufig  nähere  Bestimmungen.  Bei  der  Mehrzahl  der  Mädchen  heißt  es:  weiße 
Schürze,  schöne  Stiefel,  braune  Stiefel,  Stiefel  mit  Lackspitzen,  gelbe  halbe 
Schuhe  mit  großer  Schleife,  rote  Schuhe  ( ! ),  blaues  Kleid,  schöner  Gürtel,  hell- 
blaues Haarband,  grüne  Bluse,  rosa  Strümpfe,  Unterrock  mit  Spitzen  usw.  Die 
Knaben  sind  meistens  zufrieden,  wenn  sie  ganze  und  ordentlich  aussehende 
Kleidungsstücke  besitzen,  die  Mädchen  wollen  sich  darüber  hinaus  auch  putzen 
und  schön  machen. 

Überraschend  und  lehrreich  ist  die  Berechnung  der  Beteiligung  aus  den  ein- 
zelnen Klassen. 

Es  kaufen  Kleidung 

Knaben  Mädchen 

Klasse    I    55,79  %  82,54  % 

II    64,59%  92       % 

III    73,55  %  80,52  % 

Man  sollte  doch  eigentlich  annehmen,  daß  in  der  1.  Klasse  das  Bedürfnis  nach 
anständiger  Kleidung  am  größten  sei,  aber  die  Tabelle  zeigt  besonders  bei  den 
Knaben  gerade  die  umgekehrte  Steigerung.  In  der  dritten  Klasse  kaufen  be- 
deutend mehr  Knaben  Kleidung  als  in  der  ersten  und  in  der  zweiten,  und  dazu 
kommt  noch,  daß  die  Zahl  der  Knaben,  die  den  ganzen  Betrag  für  Kleidung 
ausgeben  wollen,  in  der  3.  Klasse  erheblich  größer  ist  als  in  der  1.  Klasse.  Die 
11 14  jährigen  denken  also  viel  mehr  an  das  Aussehen  ihrer  äußeren  Erscheinung 
als  die  12-  und  13 jährigen.  Das  scheint  der  allgemeinen  Erfahrung  zu  wider- 
sprechen, aber  wenn  man  näher  zusieht,  wird  man  doch  mancherlei  Gründe  für 
die  umgekehrt«  Steigerung  anführen  können,  wenigstens  in  diesem  Falle.  Die 
11  ^jährigen  Knaben  der  3.  Klasse  stehen  am  Ende  der  Kindheitsperiode.  Sie 
fangen  erst  an,  sich  in  die  Welt  der  Erwachsenen  hineinzufühlen.  Die  Augen 
gehen  ihnen  auf,  der  Vergleich  erwacht.  Die  Aufmerksamkeit  wird  daher  zuerst 
auf  äußere  Erscheinungen  gelenkt,  und  ihre  abgerissene  Kleidung  kommt  ihnen 


270    Ein  Hilfsschul versuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

recht  zum  Bewußtsein.  Dazu  kommt  noch,  daß  sie  selbst  zur  Verbesserung  ihrer 
Lage  nichts  oder  nur  wenig  beitragen  können.  Die  seelischen  und  körperlichen 
Kräfte  sind  noch  zu  schwach  und  zu  unzuverlässig  für  Arbeiten,  die  mit  Geld 
bezahlt  werden,  und  so  sind  sie  von  den  Eltern  ganz  abhängig.  Bis  zum  13.  Jahre 
hat  sich  die  Situation  schon  äußerlich  wesentlich  geändert.  Die  Knaben  sind 
kräftiger  und  im  Getriebe  des  Lebens  sicherer  geworden.  Sie  müssen  nun  mit 
an  die  Arbeit  heran  und  verdienen.  Viele  Knaben  der  L  Klasse  haben  sog.  Lauf- 
stellen und  verdienen  wöchentlich  schon  2 — 3  Mark.  So  werden  sie  vom  Geld- 
beutel der  Eltern  etwas  unabhängiger,  denn  ein  Teil  des  Verdienstes  kann  häufig 
zum  Kaufe  von  Kleidern  und  Schuhen  verwendet  werden.  Damit  ist  der  größten 
Not  bei  einem  Teil  der  13^4  jährigen  Jungen  abgeholfen.  Aber  auch  in  der  geistigen 
Ent Wickelung  ist  eine  große  Veränderung  vor  sich  gegangen.  Die  zunehmende 
ürteilsreife  erschließt  ihnen  neue  Gebiete,  und  damit  erwachen  auch  neue  Wünsche 
und  neue  Interessen,  die  sie  nun  zu  befriedigen  suchen.  Mit  der  äußeren  Er- 
scheinung haben  sie  sich  etwas  abgefunden.  In  dem  Maße  als  ihre  Kräfte  für  das 
Leben  der  Erwachsenen  reif  werden,  wollen  sie  nun  auch  an  deren  Arbeiten  und 
an  deren  Vergnügungen  teilhaben.  Den  Wirkungen  dieser  beiden  Faktoren  ist 
es  wohl  zuzuschreiben,  daß  in  der  I.  Klasse  der  Kauf  von  Kleidung  gegenüber 
der  größeren  Zahl  in  der  3.  Klasse  zurücktritt.  Die  2.  Klasse  bildet  ein  Glied  in 
dieser  Entwicklung.  Trotzdem  ist  die  Zahl  in  der  I.  Klasse  noch  auffällig  groß 
genug,  und  sie  beweist,  wie  sehr  das  Bedürfnis  nach  ordentlicher  Kleidung  auch 
hier  noch  herrscht. 

Einen  etwas  anderen  Verlauf  nehmen  die  Zahlen  bei  den  Mädchen.  In  der 
3.  Klasse  tritt  der  Wunsch  nach  Kleidung  bei  ^/g  der  Mädchen  auf,  also  in  viel 
größerem  Maße  als  bei  den  Knaben  der  gleichen  Klasse.  Der  Höhepunkt  wird 
in  der  2.  Klasse  mit  92  %  erreicht,  während  er  bei  den  Knaben  in  der  3.  Klasse 
mit  73,55  %  liegt.  Es  ist  möglich,  daß  dies  ein  Ergebnis  des  Zufalles  ist,  aber 
es  ist  auch  möglich,  daß  es  sich  um  Verschiedenheiten  in  der  psychischen  Ent- 
wickelung  handelt.  Es  ist  denkbar,  daß  bei  den  Knaben  Urteil  und  Vergleich 
im  11.  Jahre  schon  so  weit  gediehen  sind,  daß  sie  in  bezug  auf  Kleidung  zur  Er- 
kenntnis der  eigenen  Lage  gelangen,  während  diese  Funktionen  zu  derselben 
Deutlichkeit  beim  Mädchen  etwas  später  zur  Reife  kommen.  Vielleicht  geben 
hierüber  andere  Versuche  Aufschluß.  Von  der  2.  zur  1,  Klasse  geht  dann 
die  Zahl  von  92  %  auf  84,54  %  herunter,  wobei  wohl  auch  die  bei  den 
Knaben  genannten  Faktoren  wirksam  sind,  und  übertrifft  damit  die  Knaben 
noch  um  27  %. 

Es  mögen  nun  einige  der  interessantesten  Kinderarbeiten  folgen. 

1)  Mädchen,  12  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  kaufe  mich  einen  Hut  zu  10  M.  Der  ist  blau  und  hat  eine  Rose  auf  den  Hut,  und 
der  Hut  ist  beim  Steindamm  (Straße  in  H.)  gekavift.  Der  Mann  heißt  Hermann  Strick- 
mann (  ?).  Der  Laden  ist  draußen  hübsch  ausgestellt.  Die  Hüte  sind  mit  Kornblumen 
geschmückt  und  meistens  mit ,, Porösen".  Ich  habe  eine  ,, Poröse"  gesehen,  die  kostete 
100  Mark.  Die  ist  weiß  und  fegt  über  den  ganzen  Hut  rüber.  Und  öfters  haben  sie 
eine  Menge  Band,  weiß,  rot,  gelb,  grün  und  rosa  in  den  Laden. 

2)  Mädchen,  10  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  kauf  mir  ein  Kleid.  Ich  geh  nach  „lemde"  (Lebende  =  Kino).  Ich  kauf  mir 
einen  neuen  Hut.  Ich  kauf  mir  ein  paar  braune  Stiefel  mit  Lack  5,90.  Ich  geh  in  ein 
Geschäft  und  kauf  mir  ein  Hemd.  Ich  gehe  nach  Gallewski  und  kauf  mir  einen  Unter- 
rock mit  Spitzen. 


Ein  Hilfsschulverauch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    271 

3)  Mädchen,   13  Jahre,  Kl.  I. 

Ich  würde  mich  freuen,  wei^  ich  ein  10  M.  bekäme.  Für  10  Mark  kann  man  sich 
schon  allerhand  kaufen.  Große  Sachen  kann  man  sich  nicht  kaufen.  Also  ein  Kostüm 
kaufen.  Ein  Kostüm  kann  man  sich  für  10  M.  nicht  kaufen.  Dann  muß  man  sich 
schon  ein  gutes  Kostüm  kaufen.  Aber  Kleinigkeiten  für  10  M.  kann  man  kaufen. 
Wenn  man  sich  ein  paar  Handschtihe  kauft,  dann  nimmt  man  auch  nicht  die  bilhgen, 
die  es  gibt.  Das  beste,  man  nimmt  die  Handschuhe  zu  4,50  M.,  das  sind  die  besten. 
Dann  haben  wir  noch  5,50  M.    Dafür  kaufen  wir  eine  Damenschürze. 

Von  einem  offenbar  sehr  schwachen  Mädchen  der  1.  Klasse  stammt 
folgender  Aufsatz: 

4)  Ich  habe  10  M.  von  tmser  Lehrer  bekommen.  Und  da  holte  ich  mir  einen  alten 
Hut  zu  10  Pf.,  auch  ein  peiar  rote  Schuhe.  Ich  holte  mir  eine  grüne  Bluse  zu  50  Pf. 
Und  da  holte  ich  mir  rosane  Strümpfe  und  als  ich  das  gekauft  hatte,  da  ging  ich  ins 
Theater.  Ich  holte  mir  ein  Meter  Haarband,  das  war  ganz  abgeblichen,  es  war  die 
beste  Farbe.  Und  da  holt  ich  mir  große  Ohrringe,  die  waren  iinecht,  es  waren  die  besten. 

3.  Verwendung   des    Geldes    zum    Spiel. 

Einen  tiefgreifenden  Unterschied  zwischen  Kjiaben  und  Mädchen  ergibt  die 
Zusammenstellung  über  die  Verwendung  von  Geld  für  das  Spiel.  Zunächst  sollte 
man  im  Rahmen  der  gestellten  Aufgabe :  Was  würde  ich  mit  10  Mark  anfangen  ? 
bei  Kinderaufsätzen  die  Ausgabe  von  Geld  für  Spiele  als  eine  charakteristische 
Note  erwarten  dürfen.  Aber  es  ist  auffallend,  wie  wenig  überhaupt  an  den  Kauf 
von  Spielsachen  gedacht  wird.  Es  wollen  62  Knaben  Geld  für  Spielsachen  aus- 
geben =  20  %,  dagegen  nur  22  Mädchen  =  9,16  %;  den  ganzen  Betrag  für  Spiel 
verwenden  9  Knaben  =  2,9  %  und  2  Mädchen  =  0,83  %;  die  Hälfte  und  mehr 
des  Geldes  geben  15  Knaben  aus  =  4,84  %  und  nur  5  Mädchen  =  2,08  %.  Also 
der  größte  Teil  der  Knaben  und  Mädchen,  die  überhaupt  an  den  Kauf  von  Spiel- 
sachen denken,  verwendet  weniger  als  die  Hälfte  des  Geldes  dafür.  Diese  Er- 
scheinung hängt  auch  offenbar  mit  der  sozialen  Stellung  der  Kinder  zusammen. 
Gewiß  spielen  auch  sie  gern  und  viel,  aber  neben  dem  Spiele  steht  schon  der 
Ernst  des  Lebens,  der  sie  tagtäglich  und  sehr  eindringlich  lehrt,  daß  das  Geld 
für  Essen,  Trinken,  Miete  und  Kleidung  da  ist  und  nicht  für  unnütze  Dinge  wie 
Spiele.  Die  Kinder  spielen  vor  allem  auf  der  Straße  und  auf  freien  Plätzen,  ver- 
hältnismäßig wenig  dagegen  im  Hause.  Da  gibt  es  keine  Zeit,  keinen  Raum  und 
wenig  Spielzeug  hierfür. 

Über  die  Beteiligung  der  einzelnen  Klasse  am  Kaufe  von  Spielsachen  gibt  diese 
Tabelle  Aufschluß: 

Es  verwenden  Geld  für  Spiel 

Kna'ben  Mädchen 
aus  Klasse      I    15%  3,17% 

„        „         II    20%  14       % 
„        „       III    23%  7,79%. 

Bei  den  Knaben  geht  der  Kauf  von  Spielsachen  von  der  dritten  Klasse  (11^^- 
jährige)  über  die  zweite  zur  1.  Klasse  (13^4  jährige)  zurück,  23%— 20% — 15%; 
bei  den  Mädchen  zeigt  sich  in  der  2.  Klasse  (12^/4  jährige)  eine  auffallende  Steige- 
rung, ohne  daß  für  diese  Erscheinung  eine  klar  erkennbare  Ursache  gefunden 
werden  könnte.    Vielleicht  geben  auch  hierüber  andere  Versuche  Auskunft. 

Von  großer  Bedeutung  für  die  vergleichende  Psychologie  der  Knaben  und 
Mädchen  scheint  folgende  Zusammenstellung  zu  sein: 


272    Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zvir  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

Es  kaufen  an  Spielsachen: 

Knaben:  Mädchen: 

Lederball,  Dampfmaschine,  Betriebsmodelle  dazu,  Roll-      Puppe,  Ball,  Karre, 
schuhe,     Taschenlampe,     Taschenfeuerzeug,     Schiff,  Rollschuhe,    Bau- 

Blockwagen,    Buntstifte,    Luftgewehr,    Wagen    und  kästen,     Puppen- 

Pferd,  Beil,  Flöte,  Blase  [Mundharmonika],  Elefant,  kästen     (Puppen- 

Eisenbahn,  Laubsäge,  Fliegenden  Holländer,  Schaukel-  stube  ?). 

pferd,  Auto,  Werkzeugkasten,  Unterseeboot,  Rad, 
Jagdwagen,  Schlittschuhe,  Fußball,  Schaukel,  Helm, 
Säbel,  Burg,   Stock,   Schaufel,    Trompete,  Trommel. 

Diese  Gegenüberstellung  lehrt  zweierlei.  1)  Das  Spiel  der  Knaben  ist  reich- 
haltiger und  vielseitiger  gegenüber  dem  Spiele  der  Mädchen.  2)  Die  Reichhaltig- 
keit des  Spieles  der  Knaben  weist  darauf  hin,  daß  beim  Knaben  die  geistigen 
Kräfte  in  weit  größerem  Maße  tätig  sind  als  beim  Mädchen  und  daß  den  Knaben 
zur  Förderung  und  zur  Entwickelung  des  Geistes  durch  das  Spiel  viel  mehr 
Material  zugeführt  wird  als  den  Mädchen. 

Es  gibt  fast  kein  Gebiet,  das  nicht  vom  Spiele  der  Knaben  ergriffen  würde. 
Sie  beziehen  ihre  Spiele  aus  der  Technik  (Dampfmaschine,  Modelle,  Taschen- 
lampe, Taschenfeuerzeug),  aus  dem  Verkehr  (Eisenbahn,  Schiff,  Auto,  Unter- 
seeboot, Wagen,  Rad),  aus  dem  Handwerk  (Beil,  Laubsäge,  Schaufel,  Werk- 
zeugkasten), vom  Militär  (Helm,  Säbel,  Trompete,  Trommel,  Burg,  Luftgewehr), 
von  der  Musik  (Flöte,  Blase  [Mundharmonika])  usw.  Es  ist  natürlich,  daß  der 
Umgang  mit  so  vielgestaltigem  Spielzeug  von  großem  Einfluß  auf  die  geistige 
Entwickelung  ist.  Dadurch  wird  vielfach  der  Boden  für  die  Erschließung  von 
Lebensgebieten  und  Lebensgemeinschaften  vorbereitet.  Förderung  des  Triebes 
zum  Forschen,  Probieren,  Erfinden,  Zerlegen,  Zusammensetzen,  Anregung  der 
Phantasie,  Urteilsbildung,  das  Erkennen  von  Werten,  Erfassen  von  Kausal- 
zusammenhängen, Beziehungen  aller  Art  sind  der  Gewinn  aus  solcher  Betätigung. 
Der  Anschauungskreis  und  das  Erfahrungswissen  werden  erweitert  und  vertieft, 
die  wieder  dem  Unterrichte  wichtige  Unterlagen  geben.  Ein  Knabe,  der  mit  der 
Eisenbahn  spielt,  bringt  auch  der  Eisenbahn  mit  all  ihren  Einrichtungen  Inter- 
esse entgegen.  Wenn  er  Eisenbahnen  sieht,  beobachtet  er  Erscheinungen  und 
Vorgänge,  er  stellt  Vergleiche  an  und  sucht  Verbindungen  zu  seiner  eigenen 
Eisenbahn  und  zu  seinem  Spiele. 

Diese  Prozesse  treten  bei  den  Mädchen  sehr  zurück,  denn  ihr  Spiel  ist  dem 
der  Knaben  gegenüber  eintönig  und  arm.  Puppe,  Puppenstube  und  Ball  be- 
herrschen ihr  Spiel.  In  der  ersten  Klasse  ist  der  Wunsch  nach  Spielsachen  schon 
fast  erloschen.  So  haben  die  Mädchen  zweifellos  weniger  Gelegenheiten  zur  Be- 
tätigung, Übung  und  Entwickelung  ihrer  psychischen  Kräfte,  und  es  ist  begreif- 
lich, daß  damit  im  späteren  Leben  gewisse  Ausfallserscheinungen  verbunden 
sein  können. 

In  folgenden  Aufsätzen  herrscht  die  Verwendung  des  Geldes  für  Spielsachen  vor. 

5)  Knabe,  10  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  kaufe  mich  ein  Fahrrad.  Denn  kaufe  ich  mich  einen  fliegenden  Holländer.  Denn 
kaufe  ich  mich  ein  Schaukelpferd.  Denn  kaufe  ich  mich  eine  Dampfmaschine.  Denn 
kaufe  ich  mich  eine  Eisenbahn.    Denn  kaufe  ich  mich  einen  Blockwagen. 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    273 


Dieser  Knabe  steht  ganz  unter  dem  Gredanken  des  Spieles.  Er  kauft  wahllos  einen 
Gegenstand  nach  dem  andern,  ^hne  bestimmte  Neigung  und  ohne  auf  die  Preise  der 
Gegenstände  zu  achten.    Mit  mehr  Überlegung  kaufen  folgende  2  Knaben: 

6)  Knabe,   12  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  würde  mich  für  5  M.  eine  Trommel  kaufen  im  Turnverein,  und  einen  Fußball 
zu  1,20  M.  und  für  80  Pf.  einen  Lederball  und  eine  Klippe  180  Pf.,  und  für  3  M.  ein 
paar  Rollschuhe. 

7)  Knabe,   14  J.,  Kl.  I. 

Ich  bin  mit  die  10  M.  nach  ein  Radfahrgeschäft  gegangen  und  da  habe  ich  mir  eine 
Dampfmaschine  gekauft,  die  kostet  8  M.,  ^lnd  für  daw  andere  Geld  habe  ich  mir  ein 
Modell  dazu  gekauft. 

Der  letzte  Aufsatz  zeigt,  wie  das  Spiel  in  ernste  Beschäftigung  übergeht.  Noch  deut- 
licher kommt  das  in  diesem  Aufsatze  zur  Geltung: 

8.  Knabe,  13  J.,  Kl.  I. 

Ich  hätte  mir  eine  Dampfmaschine  und  einen  kleinen  Motor  und  einen  Treibriemen 
zum  Erzeugen  für  Elektrizität  gekauft.  Dann  hätte  ich  die  Stube  mit  Glühbirnen 
und  einen  Schalter  und  eine  kleine  elektrische  Anlage  an  der  Haustür  angelegt.  Ich 
kenne  solche  Mechanikeranlagen,  ich  bin  ein  Fachmann  in  alle  Sachen.  Die  Gesamt- 
kosten beträgt  etwa:  Dampfmaschine  mit  Motor  6  M.,  Treibriemen  1,50  M.,  in  jeder 
Stube  zwei  Glühbirnen  eine  an  der  Uhr,  eine  an  der  Wand,  jede  Birne  kostet  50  Pf., 
6  Stuben  belegen  kosten  2,50  M.,  und  der  Glockenzug  an  der  Haustür  3,50.  Die 
Kosten  12,50.  M. 

Noch  2  Meidchenauf Sätze : 

9)  Mädchen,   11   J.,  Kl.  III. 

Ich  kaufte  mich  für  10  M.  eine  ganz  große  Puppe,  und  denn  hätte  ich  noch  Q«ld 
wiederbekommen,  da  hätt  ich  für  die  Puppe  Kleider  gekauft.  Dann  hätte  ich  sie  an- 
gezogen und  dann  hätt  ich  damit  gespielt. 

10)  Mädchen,  14  J.,  Kl.  II. 

Ich  kaufe  mir  einen  Ball  zu  50  Pf.  Dann  gehe  ich  zum  Hutgeschäft  und  kaufe  einen 
Hut  zu  50  Pf.  Da  habe  ich  mir  eine  große  Puppe  gekauft.  Die  Puppe  kostet  6  M. 
Dann  kaufe  ich  mir  ein  paar  Rollschuhe,  die  Rollschuhe  kosten  4  M. 

4.  Ausgabe    von    Geld   für    Vergnügungen. 

Bei  den  Vergnügungen  wurden  Ausgaben  für  Schokolade,  Bonbon,  Kuchen, 
Theater,  Cafe,  Kino,  Auto,  Droschke,  Ausflug  u.  ä.  gezählt.  Dafür  wollen  Greld 
ausgeben : 

60  Knaben  =  19,35  %,  37  Mädchen  =  15,42  %. 

Danach  scheint  die  Neigung  für  Vergnügungen  bei  den  Knaben  etwas  größer  zu 
sein  al^  bei  den  Mädchen. 

Eine  eigenartige  Erscheinung  zeigt  sich,  wenn  man  den  Anteil  der  einzelnen 
Klassen  an  den  Vergnügungen  berechnet. 

Knaben  Mädchen 

Aus  der  1.  Klasse  =20       %  14,29  % 

„     „     2.       „       =  14,89  %  9       % 

„     „     3.       „       =  22,31  %  24,67  %. 

Während  in  der  3.  Klasse  (11 14 jährige)  22  %  und  24  %  zu  verzeichnen  sind, 
zwischen  Knaben  und  Mädchen  also  kein  auffallender  Unterschied  besteht,  gehen 
die  Zahlen  in  der  2.  Klasse  ( 12^4 jährige)  herunter  auf  14  %  bei  den  Knaben, 
auf  9%  bei  den  Mädchen,  um  dann  in  dor  I.Klasse  (13^4 jährige)  auf  20%  bei  den 
Knaben  und  auf  14  %  bei  den  Mädchen  anzuwachsen,  so  daß  also  die  Knaben 
um  6  %  höher  stehen.  Dem  Grunde  für  diesen  Ab-  und  Aufstieg,  der  bei  Knaben 
und  Mädchen  stattfindet,  kommt  man  näher,  wenn  man  sich  die  Art  des  Vcr- 

ZeltschrUt  (.  pAd»gog.  Pqrabologle.  18 


274     Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

gnügens  ansieht.  In  der  3.  Klasse  handelt  es  sich  vorwiegend  um  die  Befriedigung 
des  Gaumens  mit  Süßigkeiten.  Die  Kinder  wollen  sich  Schokolade,  Bonbon, 
Kuchen,  Äpfel,  Apfelsinen,  Kirschen,  Kuchen,  Eis,  Eiswaffeln  und  Marzipan 
kaufen,  Knaben  sowohl  als  Mädchen.  (Nur  vereinzelt  wird  nach  anderen  Genüssen 
verlangt  (Autofahren,  ins  Variete  und  Cafe  gehen),  und  diese  Ausnahmen  stammen 
fast  nur  aus  2  Schulen.  Es  scheint  da  ein  besonderer  Einfluß  vorzuliegen.)  In 
der  ersten  Klasse  dagegen  tritt  das  Verlangen  nach  Näschereien  etwas  zurück 
und  dafür  erwachen  andere  Genüsse:  Ausflüge,  St.  Pauli,  Likör,  ^4  1  Dunkles, 
für  50  Pf.  ein  paar  Zigarren,  Fahrten  im  Auto  und  in  der  Droschke,  Theater, 
Flora  (Variete),  Cafe.  Dazwischen  stehen  die  12^  jährigen  Kinder  in  der  2,  Klasse, 
bei  denen  sich  beide  Arten  von  Vergnügungen  finden,  aber  keine  von  ihnen  über- 
wiegt. Diese  Kinder  fangen  in  dieser  Zeit  an,  die  Kinderschuhe  auszuziehen. 
Fühlend  und  ahnend  stehen  sie  am  Anfange  einer  neuen  Periode.  Der  Gaumen 
lechzt  zwar  noch  sehr  nach  süßer  Befriedigung,  aber  daneben  erwacht  auch  schon 
der  Sinn  für  andere  Genüsse.  Sie  schwanken  hin  und  her,  und  in  dieser  Unent- 
schiedenheit  kommen  sie  zu  keinem  festen  Entschluß.  Hierauf  ist  wahrschein- 
lich die  geringe  Beteiligung  der  2.  Klasse  an  Vergnügungen  gegenüber  der  3.  und 
1.  Klasse  zurückzuführen.  Es  lehnt  sich  in  ihnen  etwas  auf,  nach  Näschereien 
zu  verlangen,  aber  sie  trauen  sich  auch  an  die  Vergnügen  der  anderen  Welt  noch 
nicht  heran.  Die  Kinder  der  ersten  Klasse  stehen  natürlich  auch  noch  im  Über- 
gangsstadium, aber  die  Genüsse  und  Vergnügen  der  Erwachsenen  haben  bei 
ihnen  schon  festere  Formen  angenommen. 

Auffällig  ist,  daß  der  Besuch  des  Kinomatographen  wenig  erwähnt  wird.  Im 
ganzen  wollen  7  Knaben  und  I  Mädchen  den  Kino  besuchen,  obwohl  mit  großer 
Wahrscheinlichkeit  die  größte  Zahl  der  Knaben  und  Mädchen  gute  Kinogäste 
sind.  Aber  dieses  Vergnügen  ist  ihnen  wohl  schon  zu  gewohnt,  auch  wissen  sie 
dafür  immer  einen  Nickel  aufzutreiben,  als  daß  es  ihnen  bei  der  Verwendung 
von  10  Mark  als  besonders  erwähnenswert  erschiene.  12  Knaben  und  10  Mädchen 
wollen  ins  Theater,  Cafe  oder  Variete  gehen  und  im  Auto  fahren,  9  Kjiaben  und 
8  Mädchen  wollen  Ausflüge  unternehmen. 

Die  Aufsätze,  in  denen  die  Verwendung  des  Geldes  für  Vergnügungen  herrscht 
oder  überwiegt,  sind  mit  die  interessantesten.  Eine  kleine  Auswahl  wird  das 
bestätigen. 

11)  Mädchen,  11  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  hätte  mich  ein  schönes  Kleid  gekauft  und  wäre  nach  dem  Theater  gegangen. 
Dann  hätte  ich  noch  schöne,  weiße  Schuhe  gekauft.  Dann  hätte  ich  mich  noch  weiße 
Röcke  gekauft,  dann  noch  einen  weißen  rosanen  Hut.  Dann  kaufe  ich  mir  zwei  neue 
Ringe,  kosten  5  M.  und  dann  eine  echte  Kette.   Mehr  nicht,  dann  war  Schluß. 

12)  Mädchen,   11  Jahre,  Kl.  II. 

Ein  Kleid,  das  kostet  5  M.  Ich  ziehe  es  Sonntag  an.  Ich  gehe  ins  Theater  und  nehme 
einen  Platz  für  2  M.,  vmd  ich  nehme  mir  auch  Theaterkonfekt  mit  für  1  M.  Ich  muß 
auch  ein  Theaterkape  haben,  das  kommt  2  M.  Jetzt  habe  ich  meine  10  M.  endlich 
ausgegeben.   Mein  Kape  sieht  rosa  aus.   Mein  Kleid  sieht  auch  rosa  aus. 

In  diesen  beiden  Arifsätzen  ist  das  Leitmotiv:  Putzen  tmd  Theater.  Der  folgende 
Aufsatz  zeigt  einen  gewissen  sexuellen  Beigeschmack. 

13)  Mädchen,  Kl.  I. 

Von  die  10  Mark  kaufe  ich  mich  ein  altes  Kleid.  Und  das  weis  ich  dann  noch  über 
habe,  ginge  ich  ins  Theater.  Als  ich  da  war,  kamen  wir  um  1  wieder  nach  Hause.  Als 
der  Tag  wieder  um  war,  kaufte  ich  mir  noch  gelbe  halbe  Schuhe  mit  einer  großen 


Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    275 

Schleife  und  die  kosten  7  Mark,  Als  ich  nur  80  Pfennig  noch  übrig  hatte,  hatte  meine 
Mutter  mir  noch  2  Mark  zugegeben.  Da  hatte  meine  Freundin  und  ich  eine  Tour  ge- 
macht nach  dem  Krubonnersee  (  ?).  Da  kam  ein  feiner  Herr,  der  wollte  mit  uns  ins 
Kaiserkaffee  hinein.  Da  hatte  er  immer  für  uns  ausgelegt.  Wir  wollten  es  gar  nicht 
annehmen,  denn  wir  mochten  es  nicht.  Als  es  morgens  war,  gingen  wir  um  6  nach 
Hause,  und  wollten  schnell  mit  dem  Auto  nach  Hause  fahren.  Als  mir  zu  Hause 
waxen,  ging  ich  schnell  zu  Bett,  denn  meine  Mutter  hat  geschimpft. 
Ein  reichhaltiges  Programm  entwickelt  folgender  Kxiabe: 

14)  Knabe,  13  Jahre,  Kl.  I. 

Erst  gehe  ich  nach  St.  Pauli  und  gehe  ins  Automaten.  Da  esse  ich  und  trinke  ich: 
Schokolade,  Wein,  Limonade,  Bier;  Krebssuppe,  Schweinebraten,  Kalbsbraten,  Vor- 
speise \m^d  Nachspeise,  belegte  Butterbröte.  Dann  kaufe  ich  mich  ein  paar  neue  Schuhe. 
Einen  Anzug  imd  einen  neuen  Hut,  Spazierstock,  weiße  Wäsche  und  Strümpfe,  und 
was  übrig  bleibt,  kommt  in  die  Sparbüchse. 

15)  Knabe,  Kl.  I. 

Zuerst  ging  ich  nach  einen  Freund.  Und  dann  wären  wir  nach  Anton  gegangen 
imd  hätten  Eis  gekauft.  Und  dann  wären  wir  per  Auto  nach  dem  Kaiserkaffee  gefahren. 
Da  kauften  wir  eine  Torte  und  den  Teller  hab  ich  sogar  abgeleckt.  Und  dann  sind 
wir  nach  dem  Krämer  (gegangen)  und  haben  uns  (für)  60  Pfennig  Lagerbontje  (ge- 
kauft). 

16)  Knabe,  Kl.  I. 

Da  bin  ich  mit  einem  Automobil  nach  dem  Kaiserkaffee  gefahren.  Da  habe  ich 
mir  eine  Erdbeertorte  und  eine  Tasse  Kaffee  gekauft.  Da  habe  ich  den  Kellner  ge- 
rufen, er  sollt  eine  Flasche  Brause  und  ein  Stück  Butterkuchen  bringen.  Da  bin  ich 
wieder  mit  einem  Automobil  nach  Hause  gefahren. 

17)  Knabe,  Kl.  I. 

Ich  wollte  am  Sonntag  mit  meinem  Mädchen  ausgehen.  Ich  dachte  nach  dem 
Hamburger  Stadttheater  zu  gehen.  Und  ich  fahre  mit  dem  Auto  hin.  Als  wir  wieder 
aus  dem  Theater  kamen,  sind  wir  mit  dem  Auto  nach  dem  Kaffee  Prinz  gefahren. 
Da  gingen  wir  zu  Haus.  Und  wir  haben  uns  gut  amüsiert.  Das  andere  Geld  habe  ich 
nach  der  Sparkasse  gebracht. 

Die  letzten  3  Aufsätze  (16 — 17)  stammen  aus  einer  Klasse.  Das  auffällige  Auto- 
mobilfahren beruht  sicher  auf  irgendeinem  Einfluß. 

6.  Abgeben   von    Geld. 

Manche  Knaben  und  Mädchen  wollen  das  Geld  nicht  ausschließlich  für  ihre 
Person  verwenden,  sondern  auch  Eltern  und  Geschwister  daran  teilnehmen  lassen. 
Entweder  beabsichtigen  sie,  eine  Überraschung  zu  bereiten,  oder  sie  wollen  ein 
Scherflein  zum  Haushalt  oder  zur  Kleidung  beitragen.  Meistens  ist  es  die  Mutter, 
die  das  Geld  oder  einen  Teil  davon  haben  soll.  Manche  geben  das  bare  Geld  ab, 
andere  bezeichnen  genau  die  Dinge,  die  für  das  Geld  gekauft  werden  sollen.  Es 
wollen  61  Knaben  etwas  abgeben  =  19,68  %  und  50  Mädchen  =  20,08  %; 
Knaben  und  Mädchen  also  im  gleichen  Verhältnis.  Ein  Unterschied  besteht  aber 
darin,  daß  24  Knaben  alles  abgeben  wollen  =  7,74  %,  während  nur  8  Mädchen 
=  3,33  %  das  Gleiche  tun  wollen.  Die  Beteiligung  der  einzelnen  Klassen  am 
Abgeben  stellt  sich  so  dar. 

Knaben  Mädchen 

Es  geben  ab  in  Kl.  I  =  27,37  %  26,98  % 

II  =  23,4    %  21       % 

III  =  10,74  %  15,68  %. 

Bei  Knaben  und  Mädchen  zeigt  sich  die  gleiche  Entwickelungstendenz.  Mit 
zunehmendem  Alter  (von  IIV2 — 13*4  Jahren)  wächst  die  Erkenntnis,  daß  die 
Eltern  schwer  um  den  Lebensunterhalt  arbeiten  müssen  und  den  Kindern  die 

18* 


276      Ein  Hilfssohulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

Pflicht  erwächst,  von  ihrem  Gelds  etwas  dazu  beizusteuern.  Ein  anderer  Ge- 
danke, den  man  antrifft,  ist  der,  die  Eltern  müssen  ihren  Verdienst  für  Nahrung, 
Kleidung  und  Miete  ausgeben  und  haben  für  andere  Sachen  nichts  mehr  übrig; 
da  wollen  die  Kinder  eingreifen  und  schenken :  Handarbeiten,  Tischdecken,  Bluse, 
Handschuhe,  weißes  Kleid,  Rock,  Reibmaschine,  Glasschüssel  u.  ä. 
Dazu  einige  Aufsätze: 

18)  Knabe,  13  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  würde  von  das  Geld  für  meine  Mutter  etwas  Hausstand  einkaufen.  Und  das 
übrige  Geld  werde  ich  so  lange  aufbewahren,  bis  meiner  Mutter  ihr  Geburtstag  ist. 
Es  waren  noch  3  Wochen  lang.  Als  drei  Wochen  um  waren,  kaufte  ich  ein  Tassenservis. 
Meine  Mutter  hat  sich  sehr  gefreut  da  an. 

19)  Knabe,  12  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  gehe  zum  Kavifmann  und  kaufe  Zucker,  Kaffee,  Brot,  das  ist  alles.  Dann  gehe 
ich  zum  Grünhöcker,  hole  Kartoffeln  und  andere  Gemüse.  Dann  gehe  ich  zum  Krämer 
und  hole  Salz,  Pfeffer,  Honig,  Schokolade  und  das  übrige  Geld  geb  ich  meiner  Mutter. 

20)  Mädchen,  13  Jahre,  Kl.  I. 

Ich  würde  meinen  Eltern  eine  große  Freude  machen.  Meinen  Vater  hätte  ich  eine 
Kiste  Zigarren  zu  4,50  gekauft.  Meine  Mutter  hätte  ich  eine  Schürze  zu  2,20  gekauft. 
Meine  Schwester  hätte  ich  Spielzeug  gekauft.  Meine  Brüder  hätte  ich  jeder  einen 
Tuschkasten  gekauft.  Wenn  ich  dann  nach  Havise  käme,  hätten  sie  sich  sehr  ge- 
freut. Ich  hätte  mir  dann  eine  schöne  Handarbeit  gekauft.  Dann  wäre  das  ganze 
Geld  alle. 

21)  Mädchen,  Kl.  I. 

Ich  schenke  meiner  Mutter  ein  Kleid  und  ein  Hut,  damit  sie  etwas  anzuziehen  hat, 
und  daß  sie  sich  Brot  kaufen  kann.  Meine  Mutter  schenkt  mir  auch  mal  was.  Das 
Kleid  kostet  5,60  M.  xond  der  Hut  3  M.  Wieviel  habe  ich  dann  —  habe  ich  noch  1  M. 
imid  50  Pfennig. 

22)  Mädchen,  11  Jahre. 

Ich  hätte  meine  Mutter  eine  Tasche  gekauft  2  M.,  imid  ein  p£iar  Stiefel  4  M.,  und 
mein  Vater  ein  Hut  zu  3  M.,  und  meine  Mutter  paar  Pantoffeln  1  M.,  so  ist  die  10  Mark 
„wakk". 

23)  Mädchen,  Kl.  III. 

Ich  spare  die  10  M.  a\if  und  spare  inmaer  mehr,  bis  ich  so  viel  Geld  habe,  daß  ich 
meiner  Mutter  ein  Kleid  kaufen  kann. 

6.  Besondere  Wünsche  und  Neigungen. 

Die  Ajufsätze  wurden  noch  daraufhin  durchgesehen,  welche  besonderen  Wünsche 
und  Ne  gungen  zu  verzeichnen  waren.  Das  Ergebnis  zeigt  deutlich,  daß  daran 
mehr  Knaben  als  Mädchen  teilhaben  und  daß  auch  die  Interessen  der  Kjiaben 
reichhaltiger  sind. 

Es  wurden  gezählt  30  Knaben  =  9,68  %  und  9  Mädchen  =  3,75  %.  Bei  den 
Knaben  finden  wir:  Dampfmaschine  (2  mal),  elektrische  Anlage,  Lesebuch 
(2  mal),  Bild  (4  mal,  je  ein  Bild  zu  1  M.,  30  Pf.,  4  M.,  Heidebild  zu  10  M.),  Märchen- 
buch (5  mal,  einmal  2  Bücher  zu  10  M.),  Fische  (3  mal),  Ponny,  ein  paar  Tauben, 
einen  Hund,  Blumen  (2  mal),  einen  Garten  mit  Äpfel  und  Birnen,  einen  Esel 
zum  Reiten,  Enten,  Hühner,  Ziege  mit  Wagen,  ein  Schwein,  einen  Wagen  mit 
2  stolzen  Pferden,  Glashafen,  Kanarienvogel,  weiße  Mäuse.  Bei  den  Mädchen: 
Buch  (2  mal),  Aquarium  mit  Goldfischen,  Hund  (2  mal),  Kanarienvogel  (2  mal), 
eine  Pflanze,  einen  Blumentopf. 

Das  Erfassen  des   Geldwertes. 

Ein  wichtiger  Punkt  der  Bearbeitung  mußte  die  Antwort  auf  die  Fragen  sein : 
Haben  die  Kinder  bei  der  Verwendung  den  Geldwert  berücksichtigt?    Wie  weit 


Ein  Hilfsachulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    277 

haben  Kjiaben  und  Mädchen  den  Geldwert  erfaßt  ?  Die  Antwort  hierauf  bereitete 
mehr  Schwierigkeiten,  als  yon  vornherein  angenommen  wurde.  Ursprünglich 
war  folgende  Teilung  vorgesehen :  (Geldwert  und  Ausgabe  sind  richtig,  annähernd 
richtig,  falsch,  ohne  Angabe.  Es  zeigte  sich  aber  bald,  daß  mit  dieser  Speziali- 
sierung nichts  anzufangen  war.  Ein  Kind  schreibt  z.  B.,  ich  will  das  Geld  in  den 
Spartopf  stecken.  Das  kann  natürlich  eine  sehr  richtige  Erkennung  des  Geld- 
wertes sein,  aber  es  kann  auch  das  Gegenteil  sein.  Vielleicht  wird  das  Kind  im 
Hause  angehalten,  Geld  zu  sparen,  und  so  verwendet  es  das  Geld  auch  hier,  ohne 
vielleicht  eine  Ahnung  zu  haben,  welchen  Wert  10  Mark  haben.  Oder  ein  Mäd- 
chen schreibt :  Ich  kaufe  mir  ein  neues  Kleid,  neue  Stiefel,  einen  neuen  Hut,  1  m 
Haarband,  einen  Ring  und  ein  Armband.  Alle  diese  Dinge  kann  man  in  der 
Großstadt  ohne  Schwierigkeit  für  10  Mark  kaufen.  Das  Mädchen  hat  also 
vielleicht  ganz  richtig  über  das  Geld  disponiert,  aber  es  kann  sich  auch  gründlich 
versehen  haben.  So  blieben  bei  sehr  vielen  Aufsätzen  Unklarheiten  zurück,  die 
eine  exakte  Durcharbeitung  und  Antwort  der  gestellten  Fragen  unmöglich 
machten.  Es  wurden  deshalb  nur  die  Aufsätze  zusammengestellt,  bei  denen  es 
ganz  klar  war,  daß  die  Verfasser  den  Wert  von  10  Mark  nicht  erfaßt  hatten. 
Das  sind  24  Knaben  =  7,74  %  und  26  Mädchen  =  10,83  %.  Auf  die  Klassen 
verteilt  entsteht  dieses  Bild: 


Knaben 

Mädchen 

Klasse  I  =     4,21  % 

II  =     4,25  % 

III  =  13,22  % 

6,35  % 

5       % 
22,08  %. 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  daß  dies  für  Hilfsschüler  kein  ungünstiges 
Ergebnis  ist,  denn  man  muß  bedenken,  daß  bei  ihnen  in  der  Bildung  von  Wert- 
und  Beziehungsbegriffen  durchschnittlich  die  schwersten  Defekte  zu  finden  sind. 
Die  Knaben  und  Mädchen  der  1.  u.  2.  Klasse,  die  den  Geldwert  nicht  berück- 
sichtigt haben,  sind  zweifellos  solche  Naturen,  denen  die  Bildung  von  Wert- 
begriffen versagt  ist  und  die  nur  in  beschränktem  Umfange  oder  nie  mit  Greld 
umzugehen  lernen.  Für  das  günstige  Resultat  darf  man  wohl  auch  die  Arbeit  der 
Schule  in  Rechnung  stellen.  Es  ist  bekannt,  daß  in  der  Hilfsschule  auf  das  Geld- 
rechnen sehr  großer  Wert  gelegt  wird.  Vielfach  wird  das  Geld  in  den  Mittelpunkt 
des  Rechenunterrichts  gestellt,  denn  der  Umgang  mit  Geld  gibt  dem  Hilfsschul- 
kinde im  späteren  Leben  fast  allein  Gelegenheiten  zum  Rechnen.  Ferner  darf 
man  nicht  vergessen,  daß  die  Verwendung  von  10  Mark  noch  kein  eigentliches 
Rechnen  ist.  Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  daß  in  manchen  Fällen  die  Kinder  nur 
gehörte,  gesehene  und  gemerkte  Preise  reproduziert  haben,  die  sie  dann  bis  zu 
10  Mark  addierten.  Deshalb  können  trotz  richtiger  Verwendung  die  Beziehungs- 
begriffe sehr  gut  fehlen.  Das  Geld  gewinnt  im  Leben  dieser  Kinder  schon  früh- 
zeitig eine  Bedeutung.  Das  Leben  im  Hause  bringt  es  mit  sich,  daß  das  Geld 
und  sein  Wert  täglich  in  allen  möglichen  Verbindungen  besprochen  wird.  Nicht 
nur  das  Einholen  von  Waren  für  den  Haushalt,  das  Steigen  und  Fallen  der  Preise, 
sondern  auch  der  Verdienst  des  Vaters  und  der  Mutter,  die  Wirkung  von  gutem 
und  schlechtem  Verdienst,  die  Veränderungen  im  Haushalt  bei  Arbeitslosigkeit 
und  noch  manche  andere  Gelegenheit  schaffen  einen  ausgedehnten  Vorstellungs- 
komplex und  zahlreiche  Assoziationen,  in  deren  Mittelpunkt  das  Geld  steht. 


278    Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

Zwischen  dem  11.  und  12.  Lebensjahre  scheint  die  Erkenntnis  vom  Gelde  und 
seiner  Bedeutung  außerordentlich  zuzunehmen.  Bei  den  Knaben  fällt  die  Pro- 
zentzahl von  der  3.  bis  zur  2.  Klasse  von  13  auf  4,  bei  den  Mädchen  von  22  auf  5. 
In  diesem  Alter  werden  die  Kinder  besonders  empfänglich  für  die  eben  genannten 
Einflüsse,  wachsende  Teilnahme  am  Leben,  am  Verdienste  der  Eltern,  eigenes 
Geldverdienen  und  Rechenunterricht  der  Schule. 

Einige  der  auffälligsten  Aufsätze,  bei  denen  der  Geldwert  völlig  außer  acht 
gelassen  wurde,  seien  noch  mitgeteilt.    Sie  wirken  geradezu  grotesk. 

24)  Mädchen,  10  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  kaufe  mir  eine  neue  Bluse,  ich  kaufe  mir  einen  neuen  Rock.  Ich  hab  einen 
schönen  Kuchen.  Ich  hab  schöne  Handschuhe  gekauft.  Ich  kaufe  mir  eine  neue 
Tasche.  Dann  gehe  ich  nach  Hagenbeck.  Dann  habe  ich  eine  neue  Puppe  gekauft. 
Ich  kaiife  mir  eine  Puppenstube.  Dann  kaufe  ich  ein  Märchenbuch  und  ich  gehe  nach 
dem  Blumengeschäft.  Ich  kaufe  mir  einen  Federkasten.  Ich  kaufe  mir  eine  neue 
Schürze.  Ich  kaufe  mir  ein  paar  Haarbänder.  Ich  kaufe  mir  ein  paar  Strümpfe.  Ich 
hab  einen  neuen  Griffel  gekauft.  Ich  kaufe  mir  ein  Armband.  Ich  kaufe  mir  einen 
Blumentopf.  Ich  kaufe  mir  ein  paar  Schreibhefte.  Ich  kaiife  mir  eine  Halskette,  eine 
Schnalle.  Ich  kaufe  mir  einen  neuen  Puppenwagen.  Ich  kaufe  mir  einen  Federhalter. 
Ich  kaufe  mir  einen  Tisch.    Ich  kaufe  mir  ein  paar  Löschblätter. 

25)  Mädchen,  121/2  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  kaufe  mir  ein  paar  neue  Schuh  6  M.,  und  ein  weißes  Kleid  10  M.,  tmd  ich  kaufe 
mir  einen  Rock  9  M.,  und  ich  kaufe  mir  einen  Hut  7  M.  und  ich  kaufe  mir  ein  paar 
neue  Strümpfe,  und  ich  kaufe  mir  viele  Tassen  6  M.,  und  ich  kaufe  mir  ein  Haus  zu 
30  M.,  und  ich  kavife  mir  ein  „Leichen"  (?)  zu  4  M.,  und  ich  kaufe  mir  eine  Hose  zu 
8  M.,  und  ich  kaufe  mir  viele  Teller  zu  11  M.,  und  ich  kaufe  mir  ein  Hemd  zu  2  M., 
und  ich  kaufe  nur  einen  Nähkasten  zu  2,50  M.,  und  ich  kaufe  mir  eine  Bluse  zu  3,50 
und  —  da  war  das  Papier  zu  Ende. 

26)  Mädchen,   13  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  kaufe  mir  ein  Kleid  imd  ein  paar  Stiefel.  Ich  hätte  mir  einen  Hund  gekauft. 
Ich  hätte  mir  ein  paar  Strümpfe  gekauft.  Ich  kaufe  mir  einen  Ring  und  ein  Arm- 
band und  auch  eine  Uhr.  Ich  kaufe  mir  eine  Rose  und  „Pingsnäh"  und  auch  ein 
Aquarium  mit  Goldfische  darin  und  auch  ein  Fischnetz.  Ich  kaufe  mir  einen  Kanarien- 
vogel mit  einem  Käfig.  Und  ich  miete  einen  Garten.  Ich  kaufe  mir  eine  Laube  zvun 
Gaxten.  Ich  kaufe  mir  ein  paar  Turnringe  und  auch  einen  Rundlauf  und  Stangen. 
Ich  kaufe  mir  eine  Maschine. 

27)  Knabe,   11  Jahre,  Kl.  IV. 

Ich  kaufe  mir  gelbe  Stiefel  imd  kaufe  mir  ein  paar  Handschuhe  und  kaufe  mir 
Manschetten  imd  kaufe  mir  ein  Vorhemd  und  kaufe  mir  einen  Anzug  und  kaufe  nur 
einen  Hut  und  kaufe  mir  Schlipse  imd  kaufe  mir  eine  Hose  und  kaufe  mir  eine  Weste 
und  kaufe  mir  eine  goldene  Uhr. 

Auch  den  folgenden  Aufsatz  kann  man  hierher  rechnen. 

28)  Knabe,   13  Jahre,  Kl.  II. 

Ich  kaufe  10  Pf.  Bonbon.    Ich  kaufe  mich  10  Pf.  Buch. 

29)  Knabe,  10  Jahre,  Kl.  III. 

Ich  geb  das  Geld  meiner  Mutter  und  dann  kehren  wir  in  eine  Wirtschaft  (ein)  und 
dann  kriecht  ich  auch  einen  Anzug.  Und  Blumen  kaufen  wir.  Ich  kauf  mich  eine 
Uhr  zu  8  M.  Der  Anzug  kostet  4,50  M.  Das  Spielzeug  kostet  3,50  M. 

30)  Knabe,  13  Jahre,  Kl.  I. 

Ich  kaufe  mir  ein  paar  Stiefel  zu  8  M.  und  einen  Anzug  zu  15  Mark  und  ein  paar 
Strümpfe  1  M.  und  eine  Mütze  1  M.  und  dann  fahre  ich  nach  Helgoland. 

Ein  kleines  Märchen  dichtet  dieser  Knabe,  10  J.,  Kl.  III: 

31)  Ich  hätte  mir  ein  Schwein  gekauft.  Das  hätte  ich  meiner  Mutter  und  Vater 
geschenkt.  Das  hätte  meine  Mutter  gebraten  und  hätten  es  auf  Teller  gelegt  und 
hätten  ein  großes  Messer  genommen  und  hätten  es  aufgegessen. 


Ein  Hilf sschul versuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw.    279 

Die  Ergebnisse  dieser  Untersuchung  kann  man  nach  2  Richtungen  gliedern. 
Sie  bringen  einen  Beitrag  ^r  Psychologie  des  Kindes  überhaupt,  indem  sie 
zeigen,  welchen  großen  Einfluß  das  Milieu  auf  die  Entwickelung  des  kindlichen 
Seelenlebens  hat.  Das  auffällige  Überwiegen  des  Kaufes  von  Kleidung  und  das 
Zurücktreten  im  Verlangen  nach  Spiel-  und  Beschäftigungsgegenständen,  viel- 
leicht auch  das  Sparen  können  als  das  Gregenteil  von  dem  betrachtet  werden, 
was  wir  sonst  als  Norm  anzusehen  gewohnt  sind.  Wenn  diese  Erscheinungen 
nur  in  einer  oder  in  zwei  Schulen  zu  finden  wären,  so  könnte  man  den  Verdacht 
haben,  daß  die  Kinder  unter  irgendeinem  Einfluß  gestanden  hätten.  Da  sie  aber 
in  allen  Schulen  wiederkehren,  so  müssen  hier  Faktoren  wirksam  sein,  die  aus 
dem  Leben  hervorgehen,  und  zwar  mit  solcher  Stärke,  daß  sie  Wünsche,  Nei- 
gungen und  Regungen  anderer  Art,  die  wir  im  Kinde  dieser  Altersstufen  suchen 
imd  als  das  Natürliche  ansehen,  in  großem  Umfange  zurückdrängen.  Das  harte 
und  rauhe  Leben  greift  frühzeitig  das  Kind  an  und  gewinnt  einen  bestimmenden 
Einfluß  auf  die  Entfaltung  seines  Seelenlebens.  Hinter  den  Äußenmgen  der 
Kinder  stehen  die  Not  und  die  Armseligkeit  der  häuslichen  Verhältnisse.  Die 
Verwendung  des  Geldes  wird  diktiert  von  Erfahrungen  am  eigenen  Leibe. 

Ferner  zeigt  die  Verwendung  des  Geldes  in  den  einzelnen  Lebensjahren  eine 
große  Veränderung.  Vergleicht  man  die  Art  und  Weise  der  Verwendung  im 
11.  Lebensjahre  mit  der  im  13.,  so  ist  die  Beteiligung  am  Sparen,  am  Kaufe  von 
Kleidung  und  Spielsachen,  an  Vergnügungen,  am  Abgeben,  am  richtigen  Er- 
kennen des  Geldwertes  sowohl  quantitativ  als  auch  qualitativ  sehr  verschieden. 
Diese  Veränderungen  lassen  ahnen,  welche  großen  Umwälzungen  sich  bei  Knaben 
und  Mädchen  vom  11. — -13.  Lebensjahre  vollziehen.  Der  Anschauungskreis  und 
die  Urteilskraft  sind  im  11.  und  13.  Jahre  in  wichtigen  Partieen  von  grundsätz- 
lich anderer  Struktur. 

Schon  eingangs  wurde  erwähnt,  daß  die  größte  Zahl  der  Aufsätze  von  Knaben 
und  Mädchen  stammt,  die  gemeinsam  unterrichtet  werden  und  zwar  von  Lehrern 
und  Lehrerinnen.  Eine  Koedukation  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  besteht 
nicht,  vielmehr  kann  man  von  einer  Koinstruktion  reden.  Die  Knaben  und  Mäd- 
chen sind  nur  im  Unterricht  und  in  den  Pausen  zusammen.  Der  Nachmittag 
bringt  keine  Veranstaltungen,  an  denen  Knaben  und  Mädchen  gemeinsam  teil- 
nehmen und  wo  sich  ein  ungezwungenerer  Verkehr  und  tieferer  gegenseitiger 
Austausch  entwickeln  könnte,  als  dies  auf  den  Schulbänken  möglich  ist.  Auch 
werden  die  einzelnen  Klassen  selten  von  einer  Lehrperson  durch  alle  Klassen  ge- 
führt. Es  wechseln  Lehrer  und  Lehrerinnen  ab.  Soweit  nun  ein  Urteil  nach  dem 
vorliegenden  Material  möglich  ist,  hat  dieser  gemeinsame  Unterricht  keinen  Aus- 
gleich unter  den  Geschlechtern  hervorgerufen.  Knaben  sowohl  als  Mädchen 
weisen  charakteristische  Merkmale  auf.  Knaben  und  Mädchen  sind  der  Zahl  nach 
an  der  Verwendung  des  Geldes  verschieden  beteiligt,  der  Inhalt  der  Verwendung 
ist  verschieden,  und  wenn  auch  die  Entwickelungsreihen  vom  11. — 13.  Jahre 
im  allgemeinen  dieselbe  Tendenz  zeigen,  so  bestehen  doch  auch  bei  ihnen  klar  zu 
erkennende  Unterschiede. 

Die  vorliegende  Vergleichung  hat  naturgemäß  keinen  Anspruch  auf  Allgemein- 
gültigkeit. Es  wäre  verfehlt,  irgendwelche  Normen  für  den  Unterschied  zwischen 
Knaben  und  Mädchen  ableiten  zu  wollen.  Sie  bezieht  sich  nur  auf  Hilfsschüler. 
Diese  aber  zeigen  auch,  abgesehen  von  dem  Intelligcnzdefekt,  in  der  Entwicke- 


280    Ein  Hilfsschulversuch  als  Beitrag  zur  vergleichenden  Jugendkunde  usw. 

lung  und  Betätigung  ihres  Willens-  und  Gemütslebens  Abweichungen  vom  nor- 
malen Kinde.  Um  eine  Vergleichsmöglichkeit  für  praktische  Zwecke  zu  be- 
kommen, nimmt  man  mitunter  an,  daß  Hilfsschulkinder  etwa  1 — 2  Jahre  nor- 
malen Kindern  gegenüber  zurück  sind.  In  wissenschaftlichem  Sinne  ist  diese 
Annahme  nicht  ohne  weiteres  zulässig.  Immerhin  dürfte  die  Vergleichung  doch 
auch  einige  Anhaltepunkte  für  die  Psychologie  der  normalen  Kinder  geben, 
wenigstens  in  ihren  allgemeinen  Ergebnissen.  Sie  weist  auf  Gebiete  des  psychi- 
schen Lebens  und  der  psychischen  Entwickelung  hin,  die  bei  Knaben  und  Mäd- 
chen Verschiedenheiten  aufweisen,  und  es  wird  die  Aufgabe  anderer  Unter- 
suchungen sein,  zu  erforschen,  in  welchem  Maße  und  Verhältnisse  sie  bei  normalen 
Individuen  bestehen. 


Der  Begriff  des  Interesses  in  psychologischer  Ableitung. 

Von  A.  Huther. 

Den  gemeinsamen  Grundfaktor  aller,  sowohl  der  theoretischen  wie  der  prak- 
tischen Entwicklung  des  Bewußtseins  bildet  nach  Wundt,  auf  dessen  psycho- 
logische Anschauungen  in  dieser  Zeitschrift  vielfach  zurückgegangen  wird,  die 
phylogenetische  Triebanlage.  Eine  psychologische  Ableitung  des  Inter- 
esses wird  demnach  eben  diese  zum  Ausgangspunkt  zu  nehmen  haben.  Die 
Triebanlage  enthält  im  Keime  schon  den  Willen,  ohne  den  eine  Betätigung  von 
Interesse  überhaupt  nicht  gedacht  werden  kann.  Sie  ist  aber  ursprünglich  nur 
in  Form  einer  ererbten  psychischen  Disposition  gegeben,  die  bei  ihrer  Aktuali- 
sierung zunächst  in  Gestalt  des  Gefühls  zu  subjektivem  Ausdruck  kommt.  In 
diesem  Sinne,  d.  h.  rein  phänomenologisch  betrachtet,  stellt  das  Gefühl  das 
Grundelement  des  Psychischen  dar.  Die  beiden  entgegengesetzten  Ansichten, 
von  denen  die  eine  (Wundtsche)  den  Willen,  die  andere  (Zieglersche)  das  Gefühl 
als  Grundlage  des  Bewußtseins  hinstellt,  lassen  sich  demnach  in  der  Weise  mit- 
einander vereinigen,  daß  der  erstere  als  der  objektive,  das  letztere  als  der  sub- 
jektive Faktor  vorauszusetzen  ist. 

Wir  können  nach  alledem  das  Gefühl  als  ursprünglichen  Besitz  des  Bewußt- 
seins betrachten.  Als  solcher  tritt  es  anfangs  in  Gestalt  einer  ererbten  Dispo- 
sition auf. 

Auch  das  Interesse  kommt  uns  auf  seiner  ersten  Entwicklungsstufe  in  Form 
des  Gefühls  zum  Bewußtsein.  ,,Wenn  ihr's  nicht  fühlt,  ihr  werdet's  nicht  er- 
jagen." Und  zwar  kennzeichnet  es  sich,  wie  Nagy  treffend  hervorhebt,  dadurch, 
daß  es  aufs  innigste  mit  dem  Selbst-  oder  Ichbewußtsein  verknüpft  ist.  Darauf 
weist  schon  der  Ausdruck  ,, Interesse"  hin,  der  ein  innerliches  Beteiligtsein  be- 
deutet. Und  durch  diese  Verknüpfung  ist  das  Moment  der  Wertschätzung 
bedingt,  das  sich  mit  dem  Begriff  des  Interesses  verbindet  (nach  Ostermann). 
Denn  im  Gefühl  des  Interesses  gibt  sich  die  Bedeutung,  welche  ein  Bewußtseins- 
inhalt für  unser  Ich  besitzt,  unmittelbar  kund. 

Als  grundlegend  muß  jedoch  auch  für  das  Interesse,  sofern  es  eine  bestimmte 
Form  des  Gefühles  ausmacht,  eein  psychische  Disposition  vorausgesetzt  werden. 
Dieselbe  aktualisiert  sich  an  einem  konkreten  Stoff  an  Vorstellungen;  dadurch 


Der  Begriff  des  Interesses  in  psychologischer  Ableitiing.  281 

stellen  sich  die  besonderen  Richtungen  des  Interesses  heraus,  das  intellektuelle, 
ästhetische,  ethische  und  religiöse. 

Da  die  spezifische  Gefühlsdisposition  die  subjektive  Bedingung  des  Interesses 
bildet,  so  kann  ein  Erfahrungsinhalt  ein  Kind  nur  interessieren,  soweit  er  eine 
psychische  Disposition  vorfindet,  die  er  zu  aktualisieren  vermag.  Daher  der 
subjektive  Charakter,  der  der  Erscheinung  des  Interesses  anhaftet. 

Als  Grundfaktor  aller  Entwicklung  im  objektiven  Sinne  haben  wir  den  Willen 
angenommen.  Dieser  letztere  besteht  aber  seinerseits  wiederum  ursprünglich 
nur  in  potenzieller  Form,  in  Gestalt  einer  psychischen  Disposition,  die  indessen 
von  vornherein  einen  Grundzug  zur  Betätigung  enthält.  Die  Betätigung  kann 
in  zwiefacher  Richtung  erfolgen,  in  äußerer  oder  praktischer,  auf  der  Übung 
motorischer  Funktionen  beruhender,  und  in  innerer  oder  theoretischer.  In 
beiderlei  Hinsicht  wirkt,  wie  die  Selbstbeobachtung  lehrt,  das  Gefühl  als  Motiv 
auf  den  Willen,  indem  es  die  ursprüngliche  praktische  Disposition  zur  Willens- 
funktion aktualisiert.^)  Auch  das  Interesse  übt  als  besondere  Form  des  Gefühls 
in  dieser  Weise  motivierend  auf  den  Willen,  und  erst  in  der  Verbindung  mit 
demselben  tritt  das  Interesse  als  aktuelle  Bewußtseinserscheinung  auf.  Wie 
sich  nun  der  Wille  nach  dem  obigen  in  zwiefacher  Richtung,  in  praktischer  imd 
theoretischer,  betätigt,  so  haben  wir  auch  eine  praktische  und  theoretische 
Äußerung  des  Interesses  zu  unterscheiden.  Wir  pflegen  die  erstere  auch  mit  dem 
Ausdruck  des  reellen,  die  letztere  mit  dem  des  ideellen  Interesses  zu  be- 
zeichnen. 

Die  theoretische  Äußerung  des  Interesses,  die  für  uns  hier  vorzugsweise  in 
Betracht  kommt,  bekundet  sich  in  dem  Bestreben,  die  im  Bewußtsein  durch 
Erfahrungseindrücke  gegebenen  Vorstellungen  und  Vorstellungsverbindungen 
auf  eine  möglichst  hohe  Stufe  der  Klarheit  zu  erheben. 

Der  Wille  kann  sich  aber  in  zwei  weiteren  Richtungen  erweisen,  in  passiver 
und  aktiver.  Dementsprechend  stellt  sich  für  das  Interesse  eine  passive  und 
eine  aktive  Form  heraus.  Die  erstere  ist  die  ursprüngliche.  Das  Kind  wird 
anfangs  noch  ganz  durch  den  jeweiligen  äußeren  gefühlsmäßigen  Eindruck 
bestimmt;  bei  ihm  herrscht  somit  das  passive  Interesse  vor.  Zu  einer  aktiven 
Betätigung  gelangt  es  erst,  wenn  sich  bei  ihm  beharrende  gefühlsmäßige  Motive 
herausgebildet  haben,  die  es  gewisse  Vorstellungsinhalte  bevorzugen  lassen; 
diese  Form  des  Interesses  ist  also  mit  einer  inneren  Wahltätigkeit  verbunden. 
Und  zwar  richtet  sich  diese  Art  der  Betätigung  in  allen  Fällen  darauf,  entweder 
ein  vorhandenes  Lustgefühl  zu  steigern  oder  ein  Unlustgefühl  abzuwehren.  Je 
nachdem  äußert  sich  das  Interesse  in  positivem  (zustimmendem)  oder  nega- 
tivem (ablehnendem)  Sinne.  Das  Lust-  und  Unlustgefühl  ist  allerdings  stete 
mit  bestimmten  Vorstellungselementen  kompliziert;  statt  der  bloßen  Gefühle 
sind  wir  deshalb  berechtigt,  auch  gefühlsstarke  Vorstellungen  als  Motive  zu 


»)  Nach  Wundt  ist  es  im  Gninde  schon  die  Vorstufe  des  Willens  selbst,  die  uns  im 
Gefühl  zum  Bewußtsein  gelangt,  während  der  erstere  durch  eine  Reaktion  auf  einen 
äußeren  oder  inneren  Reiz  (in  Gestalt  eines  Begehrens  oder  Widerstrebens)  unmittelbar 
in  Bewegung  gesetzt  wird  und  dann  in  seiner  weiteren  Auswirkvmg  zur  Handlmig 
führt.  In  der  phänomenologischen  Entwicklung  des  Willens  Vorganges  tritt  indessen 
das  Gefühl  zuerst  hervor;  es  antizipiert  also  den  Willen  und  kann  deshalb,  wie  dies 
auch  von  Seiten  Wundts  geschieht,  als  Motiv  desselben  bezeichnet  worden. 


282  Der  Begriff  des  Interesses  in  psychologischer  Ableitung. 

bezeichnen;  es  sind  die  beharrenden  konkreten  Regungen  des  Interesses,  wie 
sie  sich  durch  die  besonderen  Vorstellungsgebiete  bedingt  erweisen,  wodurch 
hierbei  dem  Willen  die  Richtung  gegeben  wird. 

Die  aktive  Form  des  Interesses  ist  von  zwei  subjektiven  Faktoren  abhängig. 
Einesteils  nämlich  äußert  in  dieser  Beziehung  die  ererbte  Anlage  im  Verein 
mit  der  voraufgegangenen  allgemeinen  Entwicklung  des  individuellen  Bewußt- 
seins ihren  Einfluß:  wir  interessieren  uns  vornehmlich  für  das,  was  unserer  an- 
geborenen und  erworbenen  Begabung  entspricht.  Anderenteils  ist  es  speziell  die 
Übung,  durch  welche  die  Richtung  des  Interesses  bestimmt  wird:  wir 
beschäftigen  uns  gern  mit  dem,  worin  wir  es  zu  einer  gewissen  Fertigkeit 
gebracht  haben. 

Bei  der  nahen  Verwandtschaft,  welche  zwischen  der  Regung  des  Interesses 
und  derjenigen  des  ästhetischen  Geschmackes  besteht,  mag  hier  noch  der  Gegen- 
satz der  reproduktiven  und  produktiven  Form  des  letzteren  erwähnt 
werden,  von  denen  die  reproduktive  dem  passiven,  die  produktive  dem 
aktiven  Interesse  entspricht.  Goethe  redet  gelegentlich  von  „An- 
empfinden"  eines  ästhetischen  Eindruckes;  er  meint  damit  die  rein  repro- 
duktive, völlig  von  fremder  suggestiver  Beeinflussung  abhängige  Art  des 
ästhetischen  Erlebens,  der  die  selbständige,  schöpferische  Geschmacksregung 
gegenübersteht. 

Endlich  bleibt  noch  die  unmittelbare  und  mittelbare  (indirekte)  Form 
des  Interesses  zu  sondern.  Jene  ist  die  ursprüngliche,  auf  einen  rein  gefühls- 
mäßigen Eindruck  gegründete.  Sie  fällt  so  mit  der  schon  oben  erwähnten  pas- 
siven Form  zusammen.  Das  mittelbare  Interesse  setzt  eine  Verknüpfung  von 
Bewußtseinsinhalten  voraus,  dergestalt,  daß  das  Interesse  an  dem  einen  die 
Auffassung  des  anderen  oder  diejenige  des  ganzen  Bewußtseinskomplexes 
fordert.  Das  letztere  findet  statt  in  bezug  auf  einen  Gedankenverlauf, 
dessen  Teile  der  Ergänzung  oder  Berichtigung  bedürfen.  Diese  Art 
des  Interesses  wird  in  allen  Fällen  zugleich  eine  aktive  Form  der  Betätigung 
darstellen. 

Das  Interesse  bedeutet  nach  alledem  einen  durch  die  vor  auf  gehende,  Gefühls-, 
Willens-  und  Vorstellungselemente  umfassende  Entwicklung  bedingten  gefühls- 
starken inneren  Willen,  welcher  durch  das  Bewußtsein  des  Wertes,  den  ein 
gegebener  Inhalt  für  unser  Ich  besitzt,  motiviert  wird,  und  der  darauf  ge- 
richtet ist,  eben  diesen  Inhalt  zu  möglichstem  Klarheitsgrade  zu  erheben. 
Hiermit  wird  das  Interesse  als  konkrete  Bewußtseinserscheinung  gekenn- 
zeichnet. Es  sind  aber  die  durch  die  frühere  Entwicklung  erzeugten 
beharrenden  psychischen  Dispositionen,  worauf  sich  die  verhältnismäßig 
gleichmäßige  Bestimmtheit  gründet,  mit  der  diese  subjektive  Regung  sich 
ihrem  Gegenstande  gegenüber  zu  äußern  pflegt.  Dadurch  charakterisiert 
das  Interesse  sich  als  dauernde  funktionelle  Bewußtseinsanlage  spezifi- 
scher Art,  wie  wir  sie  gleichfalls  mit  diesem  Begriff  zu  bezeichnen  ge- 
wohnt sind. 


Arbeitsfeld  vind  Ziele  der  Schulhygiene.  283 

Arbeitsfeld  und  Ziele  der  Schulhygiene/) 

Von  Leo  Burgerstein. 

Die  modernen  schulhygienischen  Aufgaben  decken  ein  weites  Arbeitsfeld; 
immer  deutlicher  ist  wahrzunehmen,  daß  es  sich  nicht  mehr  bloß  darum 
handelt,  Gesundheitsschädlichkeiten  des  Schulbesuches  und  Unterrichtes  sowie 
deren  Folgewirkungen  auf  das  häusliche  Leben  zu  vermeiden,  sondern  auch 
darum,  eine  gesundheitsfördernde  Tätigkeit  der  Schule  für  das  Individuum  zu 
entwickeln  und  für  die  Allgemeinheit  mit  Hilfe  der  Schule  die  Eindämmung 
der  Volkskrankheiten  mehr  und  mehr  auszugestalten. 

Das  Schulleben  ist  hauptsächlich  an  das  Schulhaus  geknüpft.  Die  Fort- 
schritte der  Bakteriologie  haben  die  Einsicht  in  verschiedene  Notwendigkeiten 
gewaltig  gefördert;  ich  brauche  nur  z.  B.  die  Worte  Wasser,  Staub,  Beseitigung 
der  Abfallstoffe,  Zwischendecken  zu  nennen;  bezüglich  der  hochwichtigen  Mo- 
mente Licht  und  Luft  haben  wir  wohl  manches  wertvolle  Positive  erkannt,  wie 
die  besser  gefestigte  Anschauung  über  Wärmestauung  im  menschlichen  Körper 
im  Zusammenhang  mit  der  Luftbeschaffenheit;  die  technischen  Fortschritte 
hinsichtlich  der  künstlichen  Versorgung  mit  Licht  und  Luft  sind  gewaltig,  der 
hygienischen  Forschung  ist  es  aber  ungeachtet  vielen  Aufwandes  von  Mühe 
der  Forscher  noch  nicht  gelungen,  die  Minimalforderungen  hinsichtlich  Luft 
und  Licht  allseitig  einwandfrei  festzustellen  —  wir  bleiben  in  wichtigen  Belangen 
auf  die  tägliche  Empirie,  auf  den  gesunden  Hausverstand  angewiesen. 

Trotz  der  wachsenden  Schwierigkeiten  der  Bauplatzwahl  und  der  Grundpreise 
in  den  Großstädten  sind  in  den  letzten  Jahren  schöne  Fortschritte  in  der  Her- 
stellung der  Schulhäuser  gemacht  worden:  die  älteren  unter  uns  mögen,  wenn 
ihre  Kinder  in  eine  neuerbaute  Volksschule  gehen,  mit  dieser  nur  jene  vergleichen, 
welche  sie  selbst  als  Kinder  besuchten,  der  Alten  unter  uns  gar  nicht  zu  gedenken. 
Die  modernen  großstädtischen  Schulanlagen  sind  heute  Probleme,  die  inten- 
sivste gesunde  Ausnützimg  der  Fläche  mit  Zuhilfenahme  auch  der  Mansarde 
und  des  flachen  Daches,  die  zweckmäßigste  Anordnung  und  Benutzung  der  Hof- 
fläche und  der  darunter  möglichen  Räume ;  es  interessieren  uns  Anlage  und  Be- 
handlung der  Schulzimmer,  Turnsäle,  Art,  Zahl  und  Verteilung  von  Abtritten, 
femer  Wasch  vor  kehrungen,  Subsellien,  Lüftungs  Vorrichtungen  und  Temperatur- 
regelung sowie  anderes  Hierhergehörige. 

In  bezug  auf  die  Hygiene  des  Unterrichtes  ist  der  bedauerliche  Mißstand 
großer  Schülerzahlen  pro  Klasse  und  Anstalt  ein  ebenso  wichtiger  als  schwieriger 
Gegenstand,  den  wir  hinsichtlich  seiner  mehrseitigen  einschneidenden  Bedeutung 
für  Lehrer  und  Schüler  eingehend  erörtern  müssen.  Es  handelt  sich  um 
eine  schwierige  Greldfrage,  daher  auch  darum,  für  die  Bedeutung  der  Schüler- 
zahl das  volle  Verständnis  der  Elternschaft  zu  gewinnen,  welche  ja  der  mittel- 
bare Schulerhalter  ist. 

Hinsichtlich  des  Beginnes  der  Schulpflicht  wird  uns  ein  Einschlag  des  Kinder- 
gartenprinzips iif  die  ersten  Anfänge  des  eigentlichen  Schulunterrichtes,  ein  ge- 


')  Aus  einem  Vortrag  von  Rogierungsrat  Dr.  Leo  Burgeratein,  gehalten  in  der 
österr.  Gesellsch.  f.  Schulhygiene,  vollständig  veröffentlicht  in  der  Wochenschrift 
„Das  ÖBterr.  Sanitätaweeen".    XXV.  Jahrg.,  Nr.  28. 


284  Arbeitsfeld  vind  Ziele  der  Schulhygiene. 

sünderer  Übergang  von  Spiel  zu  schulmäßiger  Arbeitsleistung,  beschäftigen 
müssen. 

Die  unterwertigen  Kinder  werden  durch  die  normalen  Forderungen  der  Schule 
ungünstig  beeinflußt;  sie  steuern  später  infolge  ihrer  geringen  Widerstands- 
fähigkeit gegen  schädliche  Einflüsse  sowie  unzureichender  Vorbereitung  für  die 
Anforderungen  des  Lebens  beträchtlich  bei  zur  Zahl  der  Erwerbsunfähigen, 
Straffälligen,  Prostituierten,  vorzeitig  der  Versorgung  Anheimfallenden;  es  liegt 
in  ihrem  privaten  sowie  im  öffentlichen  Interesse,  ihre  Fähigkeiten  zu  einem 
bescheiden  rentierenden  Erwerb  zu  entwickeln,  welcher  ihrer  ganzen  Beschaffen- 
heit entspricht. 

Ein  spezielles  wichtiges  Gebiet  ist  die  besondere  Fürsorge  für  die  gesunde 
Aufzucht  der  Mädchen.  Die  Hinblicke  auf  die  physiologische  Eigenart  des  Ge- 
schlechtes an  sich,  auf  den  so  bedeutungsvollen  natürlichen  Beruf  des  Weibes, 
auf  die  Heranbildung  der  Mädchen  zur  Erwerbsfähigkeit,  bedingen  alle  Umsicht 
in  der  Anordnung  der  Schulerziehung. 

In  bezug  auf  den  Stimdenplan  wird  die  Frage  des  morgendlichen  Unterrichts- 
beginnes unter  verschiedenen  Verhältnissen  zu  besprechen  sein.  Hinsichtlich 
Verringerung  der  im  Schulzimmer  unnötig  vor  dem  Unterricht  sitzend  ver- 
brachten Zeit  ist  leicht  Durchführbares  anzustreben.  In  bezug  auf  die  Land- 
volksschule wird  uns  eine  günstigere  Erledigung  der  Schulwegfrage  für  Kleine 
und  Schwächliche,  namentlich  bei  ungünstigen  Jahreszeit-  und  Wetterverhält- 
nissen beschäftigen,  dies  sowohl  im  Interesse  der  Gesunderhaltung  der  Kinder 
als  in  jenem  der  Verminderung  von  Schul  Versäumnissen  an  sich;  in  dieser  Hin- 
sicht ist  bei  geeignetem  Anfassen  lokal  merklicher  Fortschritt  allmählich  erreich- 
bar. In  der  Mittelschule  ist  das  Bücherschleppen  trotz  der  Bemühungen  der  Ver- 
waltung noch  immer  ein  wunder  Punkt. 

Die  Kürzung  der  Dauer  der  Einzellektion  und  die  Aufbesserung  der  Pausen- 
zeit zwischen  den  Schularbeitstunden,  die  Art  der  Verwendung  der  Pausen,  das 
Einleben  der  praktischen  Anerkennung  der  Pause  als  eines  hygienisch  belang- 
reichen, verwaltungsmäßig  gewährleisteten  Anspruches  der  Schuljugend,  die  er- 
zieherische Angewöhnung  einer  richtigen  Benutzung  der  Pause  zu  körperlicher 
und  geistiger  Erholung,  die  Frage,  inwieweit  körperliche  Übungen  in  der  Pause 
angezeigt  sind,  —  alles  dies  gibt  Gegenstände,  welche  erörtert  werden  müssen. 
Hier  sind  einzehie  Verbesserungen  fraglos  nötig  und  teilweise  sofort  möglich. 

Was  vorzukehren  wäre,  um  örtlich  und  zeitlich,  wo  und  wann  immer  durch- 
führbar, Freiluftunterricht  zu  gewinnen,  wird  gleichfalls  in  den  Kreis  der  Be- 
trachtungen gezogen  werden  müssen,  im  Zusammenhang  mit  der  Anlage  und  Ein- 
richtung des  Hauses.  Die  Mitteilung  und  Erörterung  von  Einzeleinführungen 
und  Einzelerfahrungen,  Vorschläge  aus  der  Lehrerschaft  von  Schulen  verschie- 
dener Grade,  werden  zur  Beurteilung  des  Erreichbaren  von  Wert  sein. 

Mit  Konzessionen  hinichtlich  des  Gebrauches  von  Schriftzeichen  wäre  ohne 
Bildungsverlust  ein  im  Laufe  der  Jahre  wachsender  hygienischer  Gewinn  zu  haben, 
durch  Herabsetzung  von  Sitz-,  Augen-  und  Gedächtnisarbeit.  Die  sogenannten 
weiblichen  Handarbeiten  sind  unter  Mithilfe  sowohl  sachverständiger,  erfahrener 
Lehrerinnen  als  des  Internisten,  Orthopäden  und  Okulisten  durchzusprechen; 
weiter  die  Frage  eines  sozialhygienisch  wichtigen  Hauswirtschaftsunterrichtes, 
eines  auch  die  Gesundheit  fördernden  Handfertigkeitsunterrichtes  der  Knaben 


Arbeitsfeld  und  Ziele  der  Schulhygiene.  285 

und  die  Frage,  inwieweit  Elnaben  zu  Hauswirtschaftsunterricht  fakultativ  zuzu- 
lassen erwünscht  wäre. 

Lehrstandsangehörige,  welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  die  Entwicklung 
der  Lehrmethoden  miterlebten,  werden  zugeben,  daß  diese  hinsichtlich  des  Lehr- 
wertes gewonnen  haben;  es  ist  aber  nachzufragen,  inwieweit  die  Entwicklung  der 
Lehrvorgänge  im  Detail  zu  intensiverer  Arbeit  geführt  hat;  dazu  ist  noch  speziell 
hinsichtlich  der  höheren  Schulgattungen  in  Betracht  zu  ziehen,  in  welchem  Maße 
solche  Schulen  humanistischer  Richtung  Realistisches,  jene  realistischer  Rich- 
tung Humanistisches  aufgenommen  haben,  wie  dadurch  weiter  die  trotz  der 
Fürsorge  der  Verwaltung  unvermeidlichen  Härten  des  Fachlehrersystems  sich 
steigern  konnten,  was  die  menschliche  Erkenntnis  an  neuem  Unterrichtsmaterial 
der  Schule  zugeführt  hat:  es  ist  wohl  anzunehmen,  daß  die  Totalbelastung  zu- 
genommen haben  dürfte;  und  es  kommen  wieder  neue  Forderungen,  z.  B.  jene 
nach  erweitertem  und  vertieftem  Hygiene-Unterricht. 

Mancherlei  Einwirkungen  der  Schule  können,  zumal  bei  großen  Schülerzahlen, 
psychisch  deprimierende  Einflüsse  zur  Folge  haben;  Arbeitszeit,  Schlafdauer, 
Schlaftiefe,  Eßlust,  Verdauung,  Blutumlauf,  Stoff ansatz  usw.  können  ungünstig 
beeinflußt  werden.  Es  wird  Aufgabe  unserer  Gesellschaft  sein,  vor  allem  nach 
brauchbarem  objektiven  Beobachtungsmateriale  hinsichtlich  der  Schuleinflüsse 
zu  suchen.  In  dieser  Hinsicht  wären  kritisch-empirische  Einzelbeiträge  scharf 
beobachtender  Lehrer,  insbesondere  auch  über  Ermüdungswerte  von  Unter- 
richtsarten und  Unterrichtsthemen,  über  Assimilierbarkeit  des  Dargebotenen 
von  Wert;  ferner  wären  Beobachtungen  von  aufmerksamen  Eltern,  gewonnen 
an  arbeitswilligen  Kindern,  von  Belang.  Tastende  Versuche  können  uns  zeigen, 
ob  sich  dieser  Weg  bewährt.  Obzwar  selbstverständlich,  soll  doch  ausdrücklich 
bemerkt  werden,  daß  es  grundsätzlich  ausgeschlossen  bleibt,  bei  einschlägigen 
Erörterungen  Einzelpersonen  und  Einzelschulen  auch  nur  anzudeuten;  dagegen 
ist  es  nötig.  Schulstufe  und  Alters  jähr  zu  kennen.  Nur  offene  Erörterung  ohne 
Einschlag  ins  Persönliche  kann  unsere  Einsicht  fördern,  ohne  Schaden  zu  stiften. 
Systematische  statistische  Erhebungen  über  Arbeitszeit,  Schlafdauer,  Entwick- 
lungs-  und  Gesundheitszustand,  Zunahme,  Stationärbleiben  oder  Abnahme  von 
Gewicht  sind  sehr  zu  wünschen,  setzen  aber  Mittel  voraus,  welche  leider  nicht 
zur  Verfügung  stehen. 

Ein  anderer  Gegenstand  ist  die  Frage  der  Belastung  mit  Erwerbsarbeit;  es 
kommen  hier  nicht  nur  die  ärmsten  der  Volksschulbesucher  und  Kinder  verderbter 
Eltern  in  Betracht,  sondern  bei  Mittelschülern  ist  z.  B.  auch  Überlastung  mit 
Erteilung  von  Privatunterricht  denkbar.  Die  Ausbreitung  der  Erwerbsarbeit 
unter  Schulbesuchem  ist  bisher  bei  uns  wenig  studiert.  Die  Schwierigkeiten,  ein- 
wandfreies Material  auf  ausreichender  Basis  zu  gewinnen,  sind  nicht  geringe. 

Über  körperliche  Übungen,  welche  ja  zum  Gedeihen  der  Jugend  so  überaus 
wichtig  sind,  wird  mehr  als  einmal  und  in  verschiedenen  Hinsichten  verhandelt 
werden  müssen.  Art  und  Dosierung  dieser  Übungen,  solcher  auf  Kommando, 
wie  jener,  bei  welchen  die  Intensität  der  Beteiligung  weit  mehr  ins  eigene  Be- 
lieben gestellt  ist,  die  Indikation  verschiedener  Übungen  im  Zusammenhang 
mit  Alter,  Geschlecht,  Anlage,  Entwicklungs-  und  (Jesundheitszustand,  die 
Frage,  inwieweit  erwünschte  spezielle  Vorkehrungen  für  irgend  defekte  Individuen 
erreichbar  wären,  Raum-  und  Zeitfragen,  alles  dies  wird  uns  beschäftigen  müssen. 


286  Arbeitsfeld  und  Ziele  der  Schulhygiene. 

Die    Unterstützung    aller    mitbeteiligten    Faktoren    dürfen   wir   dabei   gewiß 
erhoffen. 

Welche  Wege  noch  gangbar  wären,  um  nach  der  Hauptmahlzeit  den  Unter- 
richt mindestens  in  Wissensgegenständen  überall  ganz  zu  beseitigen,  Rücksicht- 
nahme und  Einwirkung  auf  das  häusliche  Mahlzeitenregime,  das  sind  wieder 
wichtige  und  schwierige  Dinge,  im  Zusammenhang  mit  der  Summe  der  Schul- 
forderungen, modernen  Zeitanschauungen,  eingelebten  Verhältnissen  und  Ge- 
bräuchen des  bürgerlichen  Lebens.  Ich  weiß  nicht,  ob  es  uns  gelingen  wird, 
Wege  zu  finden  zu  einer  fortschrittlichen  Förderung  dieser  Angelegenheit,  in 
welcher  sich  die  Verwaltung  bereits  viel  und  mit  bemerkenswertem,  wenn  auch 
nicht  vollständigem  Erfolg  bemüht  hat;  Material,  geeignet,  die  Sachlage  in  ver- 
schiedenen Richtungen  zu  übersehen,  wird  allerdings  aufbringlich  sein. 

Es  wird  auch  zu  erörtern  sein,  was  anzustreben  wäre,  um  ohne  Beeinträch- 
tigung des  Bildungseffektes  Vermeidliches,  Gesundheitswidriges  aus  Hausauf- 
gaben und  Prüfungen  verschiedener  Art  auszuschalten;  insbesondere  handelt 
es  sich  hier  um  schriftliche  Klassenarbeiten  und  um  Prüfungen  aus  gehäuftem 
Material;  es  muß  hinzugefügt  werden,  daß  verschiedene  Erlässe  bestehen,  deren 
Tenor  und  Einzelheiten  Besserung  gegen  frühere  Zustände  gebracht  haben  oder 
beabsichtigen.  Hinsichtlich  der  Prüfungsangst  brauche  ich  nur  an  die  Worte 
zu  erinnern,  welche  Sigmund  Exner  schon  wiederholt  zu  Prüfungskandidaten 
zu  sagen  in  die  Lage  kam:  ,,Sie  würden  eine  andere  Meinung  geäußert  haben, 
wenn  Sie  nicht  in  dem  abnormalen  Seelenzustand  des  Examens  wären.  Wollen 
Sie  sich  die  Sache  ruhig  überlegen,  ich  werde  Sie  in  einer  Viertelstunde  wieder 
darum  fragen." 

Hierbei  ist  zu  erwägen,  daß  in  diesen  Fällen  nicht  Schuljugend  in  Be- 
tracht kam,  sondern  daß  es  sich  um  Hochschulprüfungskandidaten  handelte, 
welche  eine  Prüfung  aus  einem  Fach  der  freigewählten  Studienrichtung 
ablegten. 

Einen  besonderen  Punkt  bilden  die  Schulstrafen.  Österreich  gehört,  und  zwar 
seit  einem  halben  Jahrhundert,  zu  jenen  nicht  zahlreichen  vorgeschrittenen 
Kulturstaaten,  welche  die  Prügelstrafe  in  den  niederen  Schulen  abgeschafft 
haben,  in  den  höheren  überhaupt  nicht  ausübten.  Das  Kapitel  der  Schulstrafen 
an  sich  wird  aber  uns  beschäftigen  müssen,  auch  im  Zusammenhang  mit  der 
Frage  der  Schulerziehung  jener  unglücklichen  Kinder,  welche  unter  den  un- 
günstigsten Verhältnissen  aufgewachsen  und  von  Haus  aus  verroht  sind;  sie  be- 
dürfen im  eigenen  Interesse,  in  dem  der  Mitschüler,  der  Lehrerschaft  und  des 
Gemeinwesens  besonderer  Schuleinrichtungen;  solche  sind  für  sie  nicht  weniger 
zu  befürworten,  wie  für  die  geistig  minderwertigen.  Die  Vorbeugung  fällt  frei- 
lich auch  schon  in  die  Lebenszeit  vor  der  Schulpflicht,  wir  werden  aber  das  Kinder- 
gartenwesen überhaupt  nicht  unbeachtet  lassen  können. 

Hinsichtlich  der  sogenannten  ,, Schülerselbstmorde"  wäre  es  wichtig,  wenn 
Vorkommnisse  dieser  Art  längere  Zeit  nach  dem  Geschehen  mit  diskreter  Be- 
handlung hinsichtlich  Ort  und  Familie  derart  vorgetragen  würden,  daß  nicht 
bloß  das  unmittelbar  veranlassende  Moment,  sondern  der  ganze  eruierbar  ge- 
wesene Komplex  der  Ursachen  aus  dem  Vorleben  des  unglücklichen  Individuums 
zur  Darstellung  käme :  das  ist  der  Weg,  auf  dem  wir  uns  einer  wirksamen  Pro- 
phylaxe in  der  Zukunft  nähern  können. 


Arbeitsfeld  und  Ziele  der  Schulhygiene,  287 

Auch  das  freundliche  Moment  der  Ferien  fällt  insofern  der  Schulhygiene  zu, 
als  wir  über  die  Optima  von  Länge,  Lage  und  Verteilung  der  Ferien  noch  recht 
wenig  Exaktes  wissen.  Vielleicht  wird  es  gelingen,  auf  Grund  von  Beobachtungen 
und  Beratungen  versuchsweise  Ferienändenmgen,  die  sich  auf  einzelne  Städte 
bzw.  Schulen  beschränken,  vorzuschlagen,  namentlich,  wenn  wir  einmal  materiell 
so  leistungsfähig  wären,  um  vergleichende  Beobachtungen  über  den  Dauer- 
effekt an  den  Individuen  vornehmen  zu  können.  Wir  haben  in  Österreich  zu 
Beobachtungen  überhaupt  einen  ausgezeichneten  Punkt  in  dem  ganz  einzigen 
Ferienhort  am  Abersee,  für  welchen  drei  medizinische  Spezialisten  Unter- 
suchungsarbeit in  anderer  Hinsicht  leisten. 

Über  gesundheitliche  Einflüsse,  welche  den  Lehrerberuf  betreffen,  wird 
es  gewiß  von  Wert  sein,  wenn  unsere  Gesellschaft  allmählich  zur  Ansammlung 
von  Material  kommt,  welches  klar  ersehen  läßt,  was  an  Erreichbarem  anzustreben 
wäre,  um  die  Vorbereitung  zum  Lehrerberuf  und  die  Arbeitsbedingungen  des- 
selben gesundheitlich  günstiger  zu  gestalten;  es  wird  hinsichtlich  des  Berufes  zu 
erörtern  sein,  ob  und  wie  manche  Pflichtarbeiten  verringert,  umgestaltet  werden 
könnten;  nicht  zum  mindesten  wird  zu  prüfen  sein,  ob  der  Nutzen  nervös  auf- 
reibender Arbeit  ein  entsprechender  ist;  femer  wäre  die  Verschwendung  höherer 
Intelligenz  für  mindere  Arbeitsqualitäten  zu  erörtern.  Die  Frage,  welche  Mittel 
möglich  wären  zur  Hebung  der  auch  hygienisch  so  wichtigen  Berufsfreudigkeit 
durch  Modifikation  der  Berufseinflüsse,  ist  für  Lehrer  und  Schüler  bedeutungs- 
voll und  berührt  auch  die  Elternschaft. 

Zu  den  modernen  Anforderungen  an  die  Schule  gehört  auch,  daß  sie  hygie- 
nisch erziehend  wirke.  Es  wird  wohl  zu  erwägen  sein,  was  geschehen  könnte, 
um  der  Jugend  in  der  Schule  eine  mehr  systematisch  geplante  Belehrung  mit 
allmählich  wachsender  ursächlicher  Begründung  zu  vermittebi,  ohne  unsinmge 
Ängstlichkeit  mitzuzüchten  und  —  ohne  gesundheitswidrige  Neubelastung  mit 
gedächtnismäßigem  Lernstoff  zu  provozieren.  Die  praktische  Handhabung  der 
Hygiene  in  der  Schule,  von  dem  ersten  Volksschuljahre  angefangen,  bildet  ein 
wertvolles  Stück  der  hygienischen  Volkserziehung  sowie  der  Einwirkimg  auf 
Entwicklung  späterer  öffentlicher  Anschauungen:  Ausnutzung  von  Licht,  Luft, 
Anerziehung  gesunder  Haltung,  richtiger  Pausenbenutzung,  Pflege  der  Rein- 
lichkeit an  Haus,  Körper,  Kleidung  u.  dgl.  Auch  die  Frage  des  Hygieneunter- 
richtes der  angehenden  Lehrer  wird  zu  erörtern  sein. 

Eine  spezielle  wichtige  Einwirkung  ist  die  hinsichtlich  der  Genußgifte,  ins- 
besondere Alkohol  und  Tabak;  diesbezüglich  werden  wir  sachliche  Belehrung, 
Gesinnungsunterricht,  Erziehung  durch  Beispiel  und  durch  Übung  der  Ent- 
haltsamkeit bei  verschiedenen  Schulveranstaltungen  zu  erörtern  haben.  Am 
schwierigsten  ist  die  sexuelle  Seite  der  Belehrungsfrage.  Es  wäre  ein  bemerkens- 
wertes Verdienst,  wenn  es  der  Findigkeit  gelänge,  dem  in  Wort  und  Druck  so 
vielbehandelten  (Segenstande  noch  etwas  Neues  abzuringen  und  hier  mitzuteilen, 
was  bestimmt  geeignet  ist,  verwaltungsmäßig  gut  gangbare  Wege  zu  zeigen. 

Mit  diesem  Thema  kommen  wir  auch  wieder  zurück  auf  die  so  wichtigen  Be- 
ziehungen zum  Eltern  hause.  Es  muß  eines  unserer  wichtigen  Ziele  sein,  im 
Laufe  der  Zeit  mehr  und  mehr  intime  Fühlung  mit  dem  Haus  zu  gewinnen,  so 
zwar,  daß  unsere  Gesellschaftsabende  auch  Elternabende  im  besten  Sinne  des 
Wortes  werden,  wozu  ja  Ansätze  vorhanden  sind.   Die  Eltern  sind  dazu  berufen, 


288  Arbeitsfeld  vmd  Ziele  der  Schulhygiene. 

mit  klarer  Einsicht  das  häusliche  Leben  ihrer  Kinder  so  gesund  zu  gestalten, 
als  es  ihre  Lebensumstände  irgend  erlauben,  sie  sind  ferner  dazu  berufen,  mit 
der  Lehrerschaft  Erfahrungen  auszutauschen.  Es  handelt  sich  für  das  Eltern- 
haus um  verschiedene  Einflüsse,  um  Ernährung,  Zeitverwendung,  Schlaf,  Be- 
wegung, Abhaltung  schädlicher  Genüsse,  Sitzhaltung,  Reinlichkeit,  Belehrung 
usw.  und  um  selbsttätiges  Anbahnen  mehr  herzlicher  Beziehungen  zur  Schule; 
wir  können  nur  sehnlich  wünschen,  die  Elternschaft  für  dies  alles  zu  gewinnen, 
daß  sie  als  Repräsentant  der  öffentlichen  Meinung  mit  erhöhtem  Verständnis 
darüber  urteile,  daß  die  Schule  als  Masseneinrichtung  verschiedenes  Wichtige, 
Neue  zum  Wohle  des  Kindes  wohlfeiler  bieten  kann,  als  es  für  die  Meistzahl  der 
Eltern  privat  zu  erreichen  ist:  dies  gilt  z.  B.  von  der  ärztlichen  Mitwirkung  bei 
der  Erziehung,  von  der  Sorge  für  Körperübung,  von  regelmäßigem  Baden  — 
es  ist  ein  analoges  Verhalten,  wie  das  der  Vermittlung  des  Unterrichtes,  der 
ältesten  Aufgabe  der  Schule;  wäre  die  gewünschte  Einsicht  bereits  heute  ge- 
nügend verbreitet,  so  würden  erhöhte  Auslagen  und  Beiträge  für  die  Schul- 
erziehung leichter  bewilligt  und  weniger  unbeliebt  sein,  als  es  heute  der  Fall 
ist,  und  es  würde  z.  B.  die  Bekämpfung  der  Infektionskrankheiten,  welche  so 
viel  Jammer  auch  in  die  reichsten  Familien  bringen,  eine  ganz  anders  ausgiebige 
sein  können. 

In  dieses  Kapitel  gehört  auch  die  Hebung  des  Verständnisses  für  die  Bedeutung 
von  Wohlfahrtseinrichtungen  zugunsten  der  Kinder  der  wirtschaftlich  Schwachen, 
welches  Gebiet  wir  uns  angelegen  sein  lassen  müssen ;  es  handelt  sich  da  um  Wald- 
erholungsstätten, Freiluftschulen,  Ferienkolonien  usf.  Es  wird  unsere  Aufgabe  sein 
müssen,  bei  einschlägigen  Erörterungen  auch  zu  zeigen,  wie  gesundheitswidriges 
Leben  der  Kinder  Armer  gesundheitliche  Gefahren  für  alle  erhöht.  Es  sei  er- 
innert an  die  Worte  v.  Pirquets,  betreffend  „die  Aufdeckung  der  Krankheits- 
ursachen und  die  daraus  folgende  klare  Prophylaxe":  „Diese  Kenntnisse 
dürfen  keine  Geheimlehre  der  Ärzte  bilden,  sondern  müssen  dem 
ganzen  Volke  in  Fleisch  und  Blut  übergehen.  Dann  wird  unser  Streben  einen 
allgemeinen  Erfolg  haben." 

Die  Durchführung  der  Schularzteinrichtung  im  Rahmen  des  allmäh- 
lich Erreichbaren  wird  uns  ausgiebig  beschäftigen  müssen ;  sie  schließt  verschiedene 
wichtige  Einzelpunkte  ein,  z.  B.  die  Notwendigkeit  der  Erwägung,  was  zu  ge- 
schehen hätte,  um  die  Behandlung  aller  Behandlungsbedürftigen  durchzusetzen, 
sowohl  der  Zahlungsfähigen  durch  den  Arzt  ihrer  Wahl,  als  der  Armen  u.  a. 
mittels  Ambulatorien  verschiedener  Art,  weiter  die  Eruierung  der  gesunden 
Träger  gefährlicher  Infektionskeime  und  die  Unschädlichmachung  dieser  Gref ahr ; 
die  Frage,  inwieweit  individuelle  Gesundheitsblätter  zu  führen  wären,  \un.  einer- 
seits nutzlose  Arbeit  für  Anhäufung  wertlosen  Materials  zu  sparen,  anderseits 
begrenztes  notwendiges  Urmaterial  anzusammeln  zu  kritisch-statistischer  Be- 
arbeitung hinsichtlich  der  Zustände,  der  veranlassenden  Momente,  des  Nutz- 
effekts von  Verbesserungen;  die  Frage  der  vertraulichen  Aufbewahrung  von 
Grundbuchsblättern  zu  späterer  Verwertung  für  Assent-  und  Gerichtszwecke, 
die  Frage  der  Schulschwester  als  eines  erfahrungsgemäß  glänzend  bewährten 
Hilfsorganes  des  Schularztes  usf. 

Exakte  Forschung  ist  nicht  das  erste  Ziel  unserer  Gesellschaft  für  Schulhygiene ; 
daß  unsere  Vereinigimg  aber  in  dieser  Hinsicht  auf  manchem  Stücke  des  großen  Ar- 


Kleine  Beiträge  tind  Mitteilungen.  289 

beitseifers  teils  anregend,  teils  selbst  durchführend  wirken  kann,  habe  ich  mehrfach 
angedeutet.  In  ersterer  Hinsicht  können  wir  einwirken,  sofern  Einzelnen  für 
wissenschaftliche  Arbeiten  Behelfe,  die  wir  ja  selbst  nicht  bieten  können,  zu- 
gänglich sind,  in  letzterer  Hinsicht  können  wir  durch  Aufsammlung  und  kritische 
Bearbeitung  verschiedener  Materialien  namentlich  zum  Ausbau  der  Unterrichts- 
hygiene wirken. 

Wer  immer  das  ganze  große  Programm  der  Schulhygiene  kritisch  überblickt, 
bemerkt  von  Hindernissen  nicht  bloß  das  der  Geldfrage,  sondern  auch  das 
der  ideellen  Konzessionen,  welche  gleichfalls  schwer  zu  erreichen  sind,  und 
bemerkt  ferner  manche  Unterströmung  und  Klippe  unter  klarem  Wasser,  welche 
gerade  bei  bewegter  See  zum  Schaden  der  guten  Sache  übersehen  werden  können ; 
es  handelt  sich  hier  auch  um  geeignete  Behandlung  der  Interessensphären  — 
ich  will  alphabetisch  anführen  —  von  Ämtern,  Ärzten,  Eltern,  Lehrern;  wer 
immer  aber  an  der  Lösung  der  großen  Aufgaben  mitarbeiten  will,  darf  wohl  mit 
Hoffnung  auf  Erhörung  darum  gebeten  werden:  Vor  allem  das  hohe  Ziel 
der  gesunden  Erziehung  der  aufwachsenden  Generation  — • 
und  das  ist  ja  mehr  und  mehr  die  Schuljugend,  sofern  großzügige  Einfluß- 
nahme denkbar  ist  —  im  Auge  zu  halten,  als  eine  Frage  des  Gedeihens  nicht  nur 
des  Einzelnen,  sondern  des  Staates. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

über  ein  neuropsychologisches  Grundgesetz  berichtete  an  der  Hand  ex- 
perimenteller Demonstrationen  Priv.-Dozent  Dr.  Paul  Ranschburg,  Buda- 
pest, auf  der  Versammlung  der  deutschen  Nervenärzte  zu  Breslau.  Seine  Unter- 
suchungen an  Gesunden  und  Kranken  im  Laufe  von  12  Jahren  bezüglich  des  Ver- 
haltens der  Psyche  gegenüber  gleichzeitig  oder  in  raschem  Nach- 
einander einwirkenden  flüchtigen  Reizen,  sowie  bezüglich  im  Greiste 
neben-  oder  nacheinander  auftauchender  Vorstellungen  aller 
Gebiete  führten  zur  Feststellung  gewisser  psychologischer  Gesetzmäßig- 
keiten. 

Dieselben  lassen  sich  in  folgendem  Satze,  als  einem  auf  allen  Grebieten  der 
geistigen  Betätigung  gültig  erweisbaren  Grundgesetz  zusammenfassen:  „Sich 
berührende  Inhalte  und  Vorgänge  (Empfindungen,  Vorstellungen,  Stre- 
bungen) der  Seele  stören  sich  in  ihrer  selbständigenEntwicklung  um 
so  mehr,  je  homogener  sie  sind";  oder  auch:  „Das  Gleichartige  strebt 
je  nach  demGrade  seiner  Gleichheit  zur  Verschmelzung  in  eine  Ein- 
heit". Der  letzteren  Fassung  dieses  Grundgesetzes  Ähnliches  hat  vor  100 
Jahren  Herbart  und  später  Lotze  (Mediz.  Psychologie)  behauptet  und  aus 
der  Einheit  der  Seele  abgeleitet.  Obwohl  aus  der  empirischen  Psychologie  fast 
verschwunden,  tritt  eine  neuerliche,  gründlichere  Feststellung  der  hierher  ge- 
hörigen Erfahrungstatsachen,  wenn  auch  anders  formuliert,  wieder  bei  Semen  in 
seiner  „Die  Mncme"  und  besonders  in  seinem  Werke  „Die  mnemischen  Empfin- 
ungen"  als  Homophonie  der  Empfindungen  und  als  Homophonie  der 
mnemischen  Empfindungen  auf  (1908  und  1909),  und  zwar  ohne  Kenntnis  von 

/«it<ic)ir)ft  t.  pAdAgo«.  PRyohologle.  19 


290  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


Ranschburgs  7  Jahre  vorher  veröffentlichten  ersten  Mitteilungen  über  die 
Hemmung  gleichzeitiger  homogener  Reiz  Wirkungen.^) 

Die  Behauptungen  Ranschburgs  sind  ausschließlich  induktiven,  experi- 
mentell-psychologischen Forschungen  entsprungen,  ohne  Kenntnis  gewisser  Ana- 
logien in  den  Anschauungen  der  vorgenannten  Denker.  Eine  jede  Deduktion  des 
Vortragenden  wurde  durch  die  mannigfaltigsten  experimentellen  Untersuchungen 
erst  auf  ihre  Richtigkeit  geprüft.*) 

Ranschburg  findet  in  der  Wechselwirkung  der  sich  berührenden  gleich- 
artigen psychischen  Inhalte  die  Erklärung  des  Einfachsehens  der  doppelten 
Netzhautbilder,  des  dio tischen  Einfachhörens,  der  Verschmelzung  der  iso- 
lierten Tastpunkte  in  Linien- und  Flächenwahrnehmungen,  dabei  auch 
die  der  Verschmelzung  von  Tönen  nahestehender  Schwingungszah- 
len, gleichwie  die  der  Tatsachen  der  Verschmelzung  von  Tönen  mit  ver- 
wandtem Schwingungsrhythmus  (Konsonanz),  die  durch  F.  Frey  in  den 
Jahren  1911  bis  1913  entdeckte  Annäherung  mehrerer  verschiedenen  Tast- 
kreisen zugehörigen  taktilen  Erregungen  bzw.  Empfindungen  an- 
einander mit  Tendenz  zur  Verschmelzung  der  schwächeren  in  die  stärkere,  die 
Verschmelzung  gleichartiger  bzw.  verwandter  Vorstellungen,  die  Bildung 
der  Begriffe,  den  Vorgang  der  Abstraktion  usw.  usw. 

Ranschburg  hat  mittels  relativ  recht  einfacher  Versuchseinrichtungen  die 
Tatsachen  dieser  generellen  Verschmelzungstendenz  homogener 
Reizwirkungen  auf  dem  Gebiete  der  Empfindungen  und  Vorstellungen  im 
Einzelversuch  gleichwie  auch  im  Massenexperiment  (mittels  episkopischer 
Projektion  der  im  Mnemometer  tachistoskopisch  vorgeführten  heterogenen  bzw. 
homogenen  Reizgruppen  an  vielen  Hunderten  von  Vp.  nachgewiesen.  Es  handelt 
sich  hierbei  um  zweierlei  Arten  von  Darbietung  der  Reize,  und  zwar  um  die 
simultane  und  um  die  sukzessive  Methode  der  Exposition.  Simultane  Reihen 
aus  Buchstaben  oder  Zahlen  nach  dem  Typus  a  b  c  d  e  f  werden  z.  B.  bei  ^/g  bis 
^/g  Sek.  Expositionsdauer  noch  tadellos  aufgefaßt,  während  Reihen  vom  Typus 
a  b  c  d  c  e,  oder  a  b  c  d  d  e  unsicher,  verspätet,  zumeist  aber  defekt  oder  falsch 
a  b  c  d  e,  oder  a  b  c  d  e,  oder  a  b  c  d  x  e  aufgefaßt  werden.  Ebenso  wurden  auch 
Reihen  vom  Typus  a  b  c  m  n  d,  oder  ahmend,  also  mit  einander  bloß  ähnlichen 
Gliedern,  wenn  auch  nicht  so  häufig,  als  die  mit  gleichen  Elementen,  dennoch 
bedeutend  öfter  als  heterogene  Reihen  defekt,  umgestellt  (a  b  m  n  c  d)  oder 
gefälscht  (a  b  m  c  X  d)  aufgefaßt. 

Noch  viel  auffälliger  sind  die  Illusionen,  die  sich  einstellen,  wenn  einander 
gleiche  bzw.  ähnliche  Elemente  sich  sukzessiv  ablösen.  Vierstellige  Reihen, 
deren  jedes  Glied  ^fy  bis  ^/^  Sek.  exponiert  wird,  wie  a  b  c  d,  werden  richtig, 
Reihen  wie  a  b  b  c  oder  auch  a  b  c  b  usw.  werden  als  dreistellige,  als  a  b  c  ge- 
sehen, wobei  meist  das  spätere  Element  in  das  homogene  vorangegangene  schein- 


1)  Zeitschrift  f.  Psych,  u.  Physiol.  d.  Sinnesorg.  Bd.  30,  1912. 

*)  Eine  ausführlichere  Beschreibvmg  von  Ranschburgs  experimenteller  Methodik 
sowie  der  neueren  Versuche  selbst  wie  auch  sämtlicher  hieher  gehörigen  Tatsachen 
auf  dem  Gebiete  der  Empfindungen  erschien  eben  jetzt  im  Bd.  66/67  der  Zeit- 
schrift f.  Psychologie.  Die  Zusammenfassung  der  hieher  gehörigen,  experimentell 
erhärteten  Tatsachen  auf  dem  Gebiete  des  Vorstellungslebens  ist  noch  nicht 
veröffentlicht. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  291 

bar  spurlos  verschmilzt.  Diese  Versuche  gelingen  in  nahezu  100%,  meist  auch 
im  wissentlichen  Versuch.       \ 

Im  Grebiete  der  Hemmimg  bei  Darbietimg  simultan  einwirkender  Reize  sind 
individuelle  Differenzen  zu  beobachten,  doch  läßt  sich  die  Hemmung  aus- 
nahmslas  an  jedermann  demonstrieren,  wobei  auch  der  Auffassungs-  und  Repro- 
duktionstypus keine  ausschlaggebende  Rolle  spielt.  Bei  den  sukzessiven  Ver- 
suchen sind  die  individuellen  Differenzen  auf  ein  Minimum  reduziert.  Die 
Versuche  gelingen  bei  einer  Expositionsdauer  von  ^/g — ^/7Sek.  pro  Reiz  an  einem 
Auditorium  von  Hunderten  ebenso  sicher  wie  im  Einzelversuch. 

In  ähnlicher  Weise  wie  die  also  begründeten  Fehler  der  Auffassung  sind 
mittels  z.  T.  homogener  Reihen  aus  Silben  oder  Worten,  Bildern  usw.  die  Fehler 
des  Behaltens  und  Erinnerns,  wie  überhaupt  die  Mehrzahl  der  alltäglichen 
Falschleistungen  des  Wahrnehmens,  Erinnerns  und  Handelns,  auf 
den  verschiedenen  Gebieten  des  Wörter-,  Namen-,  Personengedächtnisses 
usw.  als  Manifestationen  derselben  Gesetzmäßigkeit  erwiesen  worden, 
wobei  stets  entweder  Defekte  des  Verlaufes  oder  Illusionen  in  der  Weise 
entstehen,  daß  die  durch  die  Verschmelzung  des  Xgin  Xj  entstandene  Lücke  perse- 
verativ  oder  assoziativ  ausgefüllt  wird. 

Untersuchungen  der  Schumannschen,  Wundtschen,  Külpeschen,  Marbe- 
schen,  Münsterbergschen,  G.  F.  Lippsschen  Institute  haben  die  Richtigkeit 
der  vom  Vortragenden  behaupteten  Erfahrungstatsachen  festgestellt,  wobei  die 
Kontrollprüfung  überall  mit  den  verschiedensten  Methoden  und  Variationen 
angestellt  worden  war. 

In  jüngster  Zeit  hat  StoU  (Würzburg)  die  Schreibfehler,  die  sich  beim 
Abschreiben  sinnvoller  sowie  sinnloser  Texte  eiiistellen,  vornehmlich  die  Aus- 
lassungen von  Buchstaben,  Worten  usw.,  als  insbesondere  auf  der  vom  Vor- 
tragenden beschriebenen  homogenen  Hemmungen  beruhende  festgestellt  und 
solche  Fehler  unter  Benützung  obigen  Prinzips  haufenweise  experimentell  er- 
zeugen können.  Auch  die  Lese-  und  Sprachfehler  faßt  er  als  zu  wesentlichem 
Teile  auf  diesem  Vorgange  beruhende  auf.  Seine  Untersuchungen  beweisen  das 
nämliche  auf  dem  Gebiete  der  Druckfehler,  gleichwie  auf  pathologischem 
Gebiete  die  dysarthrischen  Sprachstörungen  Hirnkranker  wie  auch 
dyslexische,  dysgraphische  Störungen  nebst  der  gesteigerten  Perse- 
veration vornehmlich  darauf  beruhen,  daß  die  zur  Verschmelzung  strebenden 
gleichen  (visuellen,  akustischen,  motorischen)  Elemente  der  Wortverstellung 
infolge  der  verminderten  Energie  der  Aufmerksamkeit  sich  nicht  voneinander 
trennen  lafisen,  daher  Defekte,  Umstellungen,  Entstellungen,  genau  wie  unter 
erschwerten  Bedingungen  auch  bei  Normalen,  noch  mehr  bei  Ermüdeten,  auf- 
treten. 

Daß  es  sich  aber  hierbei  nicht  um  ein  bloß  psychologisch  bedingtes  Ver- 
halten, sondern  um  eine  konstante  Eigentümlichkeit  der  Nervensubstanz 
handelt,  ergibt  sich  aus  der  Tatsache,  daß  denjenigen  Vorgängen,  denen  psycho- 
logisch  keine  klare  oder  überhaupt  keine  Manifestation  entspricht,  bei  dieser 
Hemmung  und  Verschmelzung  die  bedeutendste  Rolle  zukommt.  So  ist  z.  B. 
insbesondere  bei  sukzessiven  Versuchen  sowohl  der  Reiz  als  auch  die  Empfindung 
eines  Elementes  E  x^  im  Bewußtsein  erloschen,  an  ihrer  Stelle  einem  nachfolgen- 
den Reiz  entsprechend  eine  Empfindung  E  y  aufgetreten,  und  dennoch  wird 

19* 


292  Kleine  Beiträge  und  Mitteiltingen. 

durch  die  erstere  Reizwirkung,  die  im  Zentrum  weiter  bestehen  muß,  eine  der  E  y 
nachfolgende  Reizwirkung  homogener  Natur,  Xg  nämlich,  derart  beeinflußt,  daß 
ihr  überhaupt  kein  psychologischer  Parallelvorgang,  keine  E  Xg  entspricht, 
trotzdem  der  Reiz  Xg  ebenso  stark  war  als  der  Reiz  Xj,  der  eine  vollwertige,  ja 
sogar  betonte  Wahrnehmung  auslöste. 

Daß  nun  tatsächlich  die  Reizwirkung  Xj  es  war,  welche  die  Entfaltung  der 
Empfindung  der  Erregung  Xg  hemmend  beeinflußt  hatte,  beweist  die  Berechnung 
des  Durchsetzungsvermögens  der  einzelnen  Glieder  simultaner  oder  sukzessiver 
Reihen.  Dieselbe  ergibt,  daß  in  den  Fällen,  wo  das  zweitidentische  Element 
verschwimden  ist  oder  gefälscht  wurde,  das  erstidentische  Element  in  seiner  Durch- 
setzungsfähigkeit sich  begünstigter  erweist  als  sämtliche  übrigen  Glieder  der 
Reihe.    Dabei  ist  subjektiv  von  einer  Verstärkung  nie  etwas  zu  merken. 

Endlich  sei  kurz  bemerkt,  daß  der  willkürlichen  Aufmerksamkeit  auf  diese  Vor- 
gänge der  homogenen  Hemmung  bzw.  Verschmelzung  ein  recht  beschränkter 
Einfluß  zukommt. 

Aus  dem  psychologischen  Verhalten  ist  nun  für  die  nervenphysiologischen 
Vorgänge,  die  all  den  erwähnten  Vorgängen  zugrunde  liegen,  folgendes  an- 
zunehmen: 

a)  Werden  innerhalb  eines  nervösen  Zentrums  zwei  (oder  mehrere)  Neurone  in 
den  Zustand  der  gleichstarken  Erregung  gleicher  Art  (von  gleichem  Rhythmus) 
versetzt,  so  entsteht  zwischen  denselben  eine  Wechselwirkung.  Dieselbe  mani- 
festiert sich  in  der  Verflachung  des  selbständigen  Charakters  der  den  einzelnen 
Neuronen  entsprechenden  Erregungsfelder  und  der  Vereinigung  der  Einzelwellen 
in  eine  gemeinsame  Welle.  Dieser  Vereinigung  der  sich  überdeckenden  Wellen 
der  gleichartigen  Erregungen  entspricht  psychologisch  die  Verschmelzung  der 
gleichen  Inhalte  in  einen  Inhalt.  Je  verschiedener  die  Art  (der  Rhythmus)  der 
sich  berührenden  Erregungswellen  ist,  um  so  weniger  führt  die  Überdeckung  zur 
Vereinigung  der  Erregungswellen.  Heterogene  (bei  maximaler  Heterogenie: 
kontrastierende)  Erregimgen  mögen  sich  eventuell  verdrängen  oder  intensiv 
schwächen,  sie  beeinträchtigen  sich  nicht  in  ihrer  selbständigen  Entwicklung. 

b)  Ist  die  eine  der  homogenen  Erregungen  —  durch  welche  Umstände  immer 
bedingt  —  kräftiger  als  die  andere,  so  verschmilzt  die  schwächere  in  die  stärkere. 
Die  kräftigere  Welle  resorbiert  gleichsam  die  schwächere,  die  aktionsunfähig 
wird,  während  die  erstere  an  Aktionsfähigkeit  (Vermögen  sich  psychologisch  klar 
durchzusetzen)  zunimmt.  Dieser  Vorgang  ist  die  eigentliche,  von  mir  beschriebene 
homogene  Hemmung,  die  stets  mit  Verschmelzung  unzertrennbar  einherg  ht. 

c)  Ist  der  Vorgang  der  Ladung  der  Neurone  ein  sukzessiver,  so  hemmt  meist 
die  vorangegangene  Erregung  die  ihr  nachfolgende,  ihr  gleichartige.  Die  letztere 
wird  geschwächt,  die  erstere  nimmt  retroaktiv  an  Aktionsfähigkeit  zu.  Dieses 
Verhalten  mag  sich  nach  größeren  Zeitintervallen  auch  umkehren. 

d)  Die  Erregungen  der  homogen  geladenen  Neurone  zeigen  auch  wahre  Fern- 
bzw.  Feldwirkungen,  indem  sie  sich,  wenn  auch  dem  Grade  der  Entfernung 
entsprechend  geschwächt,  über  unerregte  oder  anders  gestimmte,  zwischen- 
liegende Neurone  hinweg,  hemmend-verschmelzend  beeinflussen. 

e)  Die  Hemmung  zeigt  je  nach  der  Zahl,  Intensität,  Flüchtigkeit,  Entfernung 
der  Reize  bzw.  Erregungen,  sowie  auch  abhängig  vom  frischen  oder  erschöpften 
Zustand  des  Nervensystems  verschiedene  Stufengrade. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 


293 


f )  Die  Hemmung  ist  stets  ein  zeitlich  verlaufender  Vorgang,  der  sich  gleichwie 
die  Erregung  selbst  auf  gan^e  Sekunden  erstreckt  und  gleichwie  die  Erregung 
selber  in  ihrem  Verlauf  Oszillationen  erkennen  läßt. 

Aus  der  Statistik  der  Selbstmorde  Jugendlicher  in  Preußen  für  das  Jahr 
1912  sind  die  folgenden  Zahlen  genommen. 

Von  100  000  Lebenden  der  betreffenden  Altersklassen  endeten  in  Preußen 
durch  Selbstmord 


Im  Alter 
von 


1908 


1909 


1910 


1911 


1912 


10— 15J,  0,7;  1,11  0,3 
15-20,,  15,0  19,01 10,4 
20—25  „  t  26,2  38,414,0 


l,7j  2,11  0,6 
16,9  20,8,13,0 
27,3  40,  Oj  14, 8 


2,2  3,3  1,2 
16,6,20,6  1,25 
26.8  38.7  15.0 


2,0 


3,3    0,7 


2,5|  4,3|  0,7 
19,424,9  13,9 


17,2,22,1!  12,2 

25,3|37,7|l3,l  \  28,4  41,2;  15,8 


Die  Übersicht  über  die  Motive  —  rund  ^U  der  Fälle  führen  zweifellos  auf  Geistes- 
krankheit zurück  —  ergibt  dies  Bild : 


Beweggrund 

m. 

w. 

Beweggrund 

m. 

w. 

Lebensüberdruß  im  all- 

Laster, Ausschweifung, 

gemeinen  

406 

93 

liederliches  Leben.    . 

48 

6 

Körperliche  Leiden    . 

666 

192 

Trauer  und  Kummer 

835 

161 

Nervenkrankheit    ,    . 

255 

186 

Reue  und  Scham,  Ge- 

Geisteskrankheit    .    . 

1380 

727 

wissensbisse  .... 

526 

110 

Geistesschwäche      .    . 

47 

27 

Ärger  und  Streit     .    . 

136 

42 

Alkoholismus  .... 

610 

25 

Andere  Beweggründe 

47 

9 

Leidenschaften    .    .    . 

231 

151 

Die  Pädagogik  in  den  Vorlesungen  der  deutschen  Hochschulen  für  das 
Sommerhalbjahr  1914.  Berlin.  Kunze:  Allgemeinbildung  in  der  Religions- 
lehre (1  Std.)  —  Mulert:  Religionsunterricht  an  höheren  Schulen  (1^4  Std.).  — 
Eulenburg:  Grundzüge  der  sexuellen  Psychologie  und  Psychopathologie  (1  Std.) 
—  Jakobsohn:  Über  geistesschwache,  psychopathische  und  kriminelle  Kinder 
(1  Std.),  —  Schmidt:  Geschichte  der  Pädagogik  II  (4  Std.);  Pädagogisches 
Seminar:  Übungen  unter  Zugrundelegung  von  Schillers  Briefen  über  die  ästhe 
tische  Erziehung  des  Menschen  (1^4  Std.).  —  Frischeisen-Köhler:  Päda- 
gogische Probleme  und  Reformbewegungen  der  Gegenwart  (2  Std.).  —  Rupp: 
Kolloquium  über  Neuerscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  experimentellen  Psy- 
chologie und  Pädagogik.  —  Reich:  Übungen  über  die  Politik  des  Aristoteles, 
zur  Einführung  in  die  klassische  Pädagogik  (1  Std.).  —  Langstein:  Hygiene 
des  Kindesalters  (1  Std.).  Bonn.  Sachße:  Geschichte  der  Pädagogik  und 
des  Schulwesens  in  Deutschland  seit  der  Reformation  (2  Std.).  —  Wentscher: 
Pädagogik  (2  Std.).  Breslau.  Prausnitz:  Schulhygiene  (1  Std.).  —  Hönigs- 
wald:  Übungen  zur  Theorie  pädagogischer  Grundbegriffe  (IV2  Std.).  —  Kabitz: 
Geschichte  der  neueren  Pädagogik  (2  Std.).  —  Prausnitz:  Schulhygiene  mit 
Demonstrationen    und    Exkursionen    (1  Std.).      Erlangen.     Caspari:   Päda- 


294  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

gogisches  Repetitorium  (1  Std.).  —  Stählin:  Allgemeine  Theorie  der  Pädagogik 
mit  besonderer  Berücksichtigung  der  modernen  Erziehungsprobleme  (4  Std.).  — 
Leser:  Pädagogische  Übungen  über  Pestalozzi  und  Herbart  (2  Std.).  Frei- 
burg i.  Br..  Künstle:  Pädagogik  (2  Std.).  —  Cohn  :  Das  höhere  Unterrichts- 
wesen der  Gegenwart  (2  Std.).  Gießen.  Schi  au:  Geschichte  der  Pädagogik 
(3  Std.).  —  Messer:  Systematische  Pädagogik,  einschließlich  der  allgemeinen 
Methodik  (4  Std.).  Göttingen.  Baumann:  Lehre  von  der  Willens-  und  Cha- 
rakterbildung auf  physiologisch-psychologischer  Grundlage  (2  Std.);  Geschichte 
der  Pädagogik  (2  Std.).  —  Müller:  Über  das  Gedächtnis  (2  Std.).  Greifswald. 
Schwarz:  Geschichte  und  System  der  Pädagogik  (2  Std.).  Halle,  v.  Dri- 
galski:  Hygiene  der  Erziehung  II.  Teil  (1  Std.).  —  Fries:  Pädagogische 
Übungen  über  Locke  (1  Std.);  Bücherkunde  (1  Std.);  Das  preußische  Schul- 
wesen in  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  (2  Std.);  Besichtigungen  und 
Probestunden.  Heidelberg.  Rohrhurst:  Gesetzgebung  und  gegenwärtiger 
Stand  der  badischen  Volksschule  (1  Std.);  Katechetische  Übungen  über  den 
Unterrichtsstoff  der  Mittelschule  (1  Std.).  —  Frommel:  Katechetische  Übungen 
über  den  Unterrichtsstoff  der  Oberstufe  (1  Std.).  —  Gruhle:  Pädagogische 
Psychologie  (2  Std.).  —  Uhlig:  Ratschläge  für  Unterricht  und  Erziehung  in 
höheren  Schulen  (1  Std.);  Wichtige  gegenwärtige  Streitfragen  über  Organisation 
und  Betrieb  des  höheren  Schulunterrichts  (1  Std.).  —  Jaspers:  Psychologie 
der  Charaktere  und  Begabungen  (2  Std.).  Jena.  Rein:  Spezielle  Didaktik 
(2  Std.);  Pädagogisches  Seminar  (tägl.).  Kiel.  Leipoldt:  Allgemeine  Religions- 
lehre für  Lehramtskandidaten  (2  Std.).  Königsberg.  Uckeley:  Die  evangelische 
Pädagogik  (2  Std.).  —  Reiter:  Schulhygiene  (1  Std.).  Leipzig.  Frenzel: 
Pädagogik  auf  geschichtlicher  Grundlage;  Seminar  für  praktische  Theologie, 
katechetische  Abteilung:  Religionsunterricht  und  religiöse  Erziehung; 
Seminar  für  Pädagogik  (für  Studierende  der  Theologie):  Praktische  pädago- 
gische Übungen  und  Besuche  von  Lehr-  und  Erziehungsanstalten.  —  Lange: 
Schulhygiene  und  Schulkrankheiten.  —  Seiter:  Über  Schulhygiene.  —  Jung- 
mann: Einführung  in  die  Geschichte  der  Pädagogik;  Praktisch-pädagogisches 
Seminar.  —  Brahn:  Experimentelle  Pädagogik;  Im  Institut  für  experimentelle 
Pädagogik:  1.  Übungen  zur  experimentellen  Pädagogik  und  angewandten  Psy- 
chologie (Vorstellungs-  und  Phantasieleben  des  Kindes).  2.  Einführungskursus. 
3.  Wissenschaftliche  Arbeiten  für  Fortgeschrittene.  —  Barth:  Die  pädagogischen 
Probleme  der  Gegenwart.  —  Spranger:  Pädagogik  II:  Pädagogische  Theorien 
und  Erziehungswesen  von  Rousseau  bis  zur  Gegenwart;  im  philosophisch-päda- 
gogischen Seminar:  Übungen  über  die  Entwicklungsstufen  des  Kindes,  vorzugs- 
weise das  Pubertätsalter.  —  Bergmann:  Im  philosophisch-pädagogischen  Se- 
minar: Übungen  zur  Pädagogik  Rousseaus.  —  Kretzschmar  in  Lamprechts 
Institut  für  Kultur-  und  Universalgeschichte :  Die  Gesetzmäßigkeit  in  der  Ent- 
wicklung der  kindlichen  Verzierungskunst.  —  John:  Die  historischen  und  päda- 
gogischen Grundlagen  der  landwirtschaftlichen  Unterrichtsanstalten  (2  Std.). 
Marburg..  Jaensch:  Übungen  zur  Kindespsychologie  (Denken  und  Sprache). 
(1  Std.).  —  Göttler:  System  der  Pädagogik  II  (4  Std.);  Das  bayrische  Volks- 
schulwesen (2  Std.).  Pädagogisches  Praktikum  (Didaktik  als  Theorie  des  er- 
ziehlichen Unterrichts)  (2  Std.).  —  Gudde  :  Jugendliche  Schwachsinnsformen 
und  Hilfsschulwesen  (1  Std.).  —  Schneider:  Schulhygiene  II.  Teil  (2  Std.).  — 


EZleiue  Beiträge  und  Mitteilungen.  295 

Gott:  Nervenkrankheiten  und  Psychopathologie  des  Kindesalters  (2  Std.).  — 
Rehm:  Theorie  der  Pädago^k  und  Didaktik  für  höhere  Schulen  (4  Std.).  — 
Förster:  Grundfragen  der  Charakterbildung  (2  Std.);  Moderne  pädagogische 
Bestrebungen  in  kritischer  Beleuchtung  (2  Std,);  Pädagogisches  Seminar  (2  Std.). 
—  Pfänder:  Systematische  Pädagogik  (4  Std.).  Münster.  Cauer:  Grundzüge 
der  Didaktik  für  höhere  Schulen  (2  Std.).  —  Braun:  Pädagogik  des  19.  Jahr- 
hunderts (2  Std.);  Übungen  zur  neueren  Pädagogik  (1  Std.).  Rostock.  — 
Straßburg  i.  E.  Schneider:  Geschichte  der  Pädagogik  (2  Std.).  Tübingen. 
Sägmüller:  Praktische  Pädagogik  (3  Std.).  —  Groos:  Gefühlsleben  des  Kindes 
(1  Std.).  —  Deuchler:  Psychologie  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  (3  Std.); 
Probleme,  Methoden  und  Resultate  der  Begabungsforschimg  (1  Std.);  Päda- 
gogisches Seminar:  Übungen  zur  deskriptiven  Psychologie  des  Unterrichts  und 
der  Erziehung  (mit  Unterrichtsbeispielen).  Würzburg.  Stölzle:  Geschichte  der 
Pädagogik,  insbesondere  der  Neuzeit  (4  Std.);  Pädagogische  Seminarübungen 
(1  Std.).  —  Marbe :  Anleitung  zu  wissenschaftlichen  und  pädagogischen  Seminar- 
arbeiten. —  Peters:  Hauptpunkte  der  Pädagogik  auf  psychologischer  Grund- 
lage (mit  Experimenten  mid  Demonstrationen)  (2  Std.), 

Akademie  für  Sozial-  und  Uandelswissenschaften  zu  Frankfurt  a.  M. 
Klumker:  Jugendfürsorge  (1  Std.);  Besichtigung  von  Erziehungsanstalten 
(1  Std.).  —  Schnitze:  Wille  und  Persönlichkeit  vom  Standpunkte  der  Normal- 
psychologie, Psychiatrie  und  Pädagogik  aus  (1  Std.).  —  Pfeifer:  Geschichte 
und  Organisation  des  kaufmännischen  Bildungswesens  in  Deutschland  (1  Std.); 
Spezielle  Methodik  der  allgemein  bildenden  und  technischen  Fächer  (2  Std.). 
Allgemeines  Vorlesungswesen  zu  Hamburg.  Anschütz:  Übungen  zur  Psy- 
chologie des  kindlichen  Denkens  (2  Std,);  Meumann:  Experimentelle  Arbeiten 
zur  Psychologie  und  Pädagogik.  —  Kehr:  Übungen  zur  Einführung  in  die 
Methoden  der  Intelligenzprüfungen  an  Kindern  (2  Std.). 

Nachrichten:  1.  Die  Deutsche  Unterrichtsausstellung  in  Berlin  be- 
absichtigt, im  Laufe  des  Jahres  eine  historische  Zeichenausstellung  zu  ver- 
anstalten. Die  Ausstellung  soll  die  historischen  und  psychologischen  Grund- 
lagen des  Zeichenunterrichts  und  dessen  Entwicklung  vom  Beginn  des  19.  Jahr- 
hunderts an  darstellen.  Sie  soll  die  Wege  zeigen,  die  eingeschlagen  worden  sind, 
um  die  Beobachtungs-  und  Darstellungsgabe  der  Schüler  zu  entwickeln  und 
ihren  Geschmack  zu  bilden  und  dabei  anschaulich  machen,  wie  die  jeweilig 
vorherrschenden  Meinungen  auf  dem  Grebiete  der  Pädagogik,  der  Kunst  und 
des  Kunstgewerbes  die  Ausgestaltung  des  Zeichenunterrichts  beeinflußt  haben. 
Nicht  minder  soll  die  Ausstellung  auf  die  Männer  hinweisen,  die  den  ZIeichen Unter- 
richt zu  einer  Disziplin  ausgebaut  haben,  die,  auf  psychologischer  Grundlage 
ruhend,  erzieherische  und  allgemein  bildende  Zwecke  verfolgt.  Die  Ausstellung 
soll  demgemäß  folgende  Hauptgruppen  umfassen:  A.  Das  Zeichnen  als  allge- 
meines Ausdrucksmittel.  (Diluvialmensch.  Naturvölker.  Primitive  Völker. 
Kinderzeichnungen.  Karikaturen.  Zeichnungen  berühmter  Persönlichkeiten. 
Psychologie.)  B,  Das  Zeichnen  und  der  Zeichenunterricht  bis  1800.  (Ägypter. 
Griechen.  Römer.  Renaissance  usw.  —  Handzeichnungen  älterer  und  neuerer 
Meister  bis  1800.)  C.  Zeichnen  und  Zeichenunterricht  von  1800  an.  1.  Hand- 
zeichnimgen  neuerer  Meister  von  1800  an.    2.  Illustrierte  Lehrbücher.    3.  Ältere 


296  Kleine  Beiträge  vind  Mitteiliongen. 

Handvorlagen.  4.  Ältere  Wandvorlagen.  5.  Lehrmittel.  6.  Hilfsmittel  für  den 
Zeichenunterricht.  7.  Zeichen-  und  Malutensilien.  8.  Schülerzeichnungen,  die 
ältere  Lehrmethoden  veranschaulichen,  (a)  Sammlungen  bestimmter  Anstalten, 
b)  einzelner  Klassen,  c)  einzelner  Schüler.)  9.  Bildnisse  der  bedeutendsten 
Zeichenmethodiker.  Handschriftliches  und  Beispiele  ihrer  Zeichenpraxis.  10.  Ver- 
schiedene auf  den  Zeichenunterricht  bezügliche  Darstellungen  (Abbildungen  usw.). 

2.  In  den  wissenschaftlichen  Vorlesungen  des  Berliner  Lehrer- 
vereins finden  sich  für  Sommer  1914  (80.  Halbjahr)  Psychologie  und 
Pädagogik  wie  folgt  vertreten:  Dr.  Buchenau:  Geschichte  der  Päda- 
gogik. 2.  Teil:  Humanismus,  Reformation,  17.  und  18.  Jahrhundert. 
(Mit  Übungen.)  Dr.  Poppelreuter:  1.  Vorlesung:  Experimentell-psycho- 
logische Analyse  der  pädagogisch  wichtigsten  elementaren  Fertigkeiten 
(Lernen,  Sprechen,  Schreiben,  Lesen,  Zeichnen,  Rechnen).  2.  Praktische 
Übungen  in  inhaltlichem  Anschluß  an  die  Vorlesung.  Dr.  Buchenau: 
Einführung  in  die  Psychologie  von  James.  2.  Teil.  Benutzt  wird  die  deutsche 
Übersetzung  von  Dürr.  Dr.  Buchenau :  Einführung  in  die  Wundtsche  Psychologie. 
Dr.  0.  Lipmann:  Selbständige  pädagogisch-psychologische  Arbeiten  in  der 
Arbeitsgemeinschaft  für  exakte  Pädagogik.  (Untersuchungen  über  Normal- 
leistungen der  Schüler  im  Rechnen  und  im  Deutschen  und  über  Altersfortschritte 
in  den  Leistungen.  Fortsetzung  der  Versuche  mit  einer  Fehlerstatistik  und 
psychologischen  Fehleranalyse.) 

3.  Am  14.  Mai  wird  in  Essen  die  bis  Juli  dauernde  Ausstellung  „Unsere 
Jugend"  eröffnet. 

4.  Das  K.  Sachs.  Ministerium  des  Kultus  und  öffentlichen  Unterrichts  ver- 
anstaltet in  der  Zeit  vom  18.  Juni  bis  14.  Juli  d.  Js.  in  Leipzig  einen  für  30  bis 
40  Teilnehmer  berechneten  Lehrgang  zur  Aus-  und  Fortbildung  von 
Hilfsschullehrern.  Die  Leitung  des  Lehrgangs,  in  dem  durch  Vertreter  der 
Psychologie,  Physiologie,  Hygiene  und  Orthopädie  an  der  Landesuniversität, 
durch  Ärzte  und  auf  dem  Gebiete  der  Hilfsschulpädagogik  durch  erfahrene 
Schulmänner  eine  theoretische  und  praktische  Ausbildung  geboten  werden 
soll,  wird  der  Königliche  Bezirksschulinspektor  haben. 


Literaturbericht. 

Oswald  Külpe,  Einleitung  in  die  Philosophie.    Sechste  verbesserte  Auflage. 
Leipzig.    Verlag  von  S.  Hirzel,  1913.     376  S.    6  M. 

Ungefähr  dieselben  Gründe,  nämlich  die  verwirrende  Vielheit  und  Uneinheit- 
lichkeit  der  Probleme  und  die  nicht  minder  schwer  zu  übersehende  Fülle  z.  T.  hete- 
rogener Lösungsversuche,  sind  es,  die  heute  dem  Neophyten  der  Philosophie  die 
Existenz  einer  einleitenden  orientierenden  Darstellung  dieser  Wissenschaft  ebenso 
wünschenswert  erscheinen  lassen,  als  sie  die  Abfassung  einer  solchen  Einleitung  zu 
einer  keineswegs  einfachen  Aufgabe  machen.  Kein  tmifassender,  allgemein  aner- 
kannter Lehrstoff  steht  dem  Autor  einer  ,, Einleitung  in  die  Philosophie"  zu  Gebote, 
aus  dem  er  eine  Auswahl  treffen  könnte,  wie  sie  den  pädagogischen  Absichten  einer 
Einführung  entspricht,  imd  ist  er  der  Versuchung  glücklich  entgangen,  seine  Ein- 
lei t\ing  zur  Propagation  eines  eigenen  oder,  fremden  Systems  zu  benutzen,  so  wird 
er  doch  auch  der  Gefahr  aus  dem  Wege  gehen  müssen,  ein  philosophiegeschichtliches 
Kompendium  zu  liefern.     Angesichts  dieser  Sachlage  wird  ein  Werk,  das  wie  das 


Literaturbericht.  297 


vorliegende  weitgehend  das  philosophische  Erbe  der  Vergangenheit  und  die  hervor- 
ragenden Erscheinungen  der  "Gegenwart  berücksichtigt  und  dabei  auch  die  eigene 
Überzeugung  zu  Worte  kommen  läßt,  von  vornherein  besonders  Alissicht  haben,  das 
Ziel,  das  eine  ,, Einleitung  in  die  Philosophie"  verfolgt,  zu  erreichen.    Umsomehr  ist 
das  Buch  von  Professor  Külpe  hierzu  fähig,  als  der  Stoff  sachlich  xmd  nach  verschie- 
denen  Gesichtspunkten  geordnet   dargeboten  wird.      Ein  Hauptteil   behandelt   die 
Problementwicklvmg  in  den  philosophischen  Disziplinen  wie  der  Metaphysik,  Logik, 
Ethik  usw.,  ein  anderer  gibt  eine  kritische  Darstellung  der  „Richtungen",  d.  h.  der 
charakteristischsten  Lösungsversuche  innerhalb  derselben.     Diese  Gruppierung  des 
Materials  ist  zweifellos  ein  besonders  erwähnenswerter  Vorzug  des  Werkes,  ermöglicht 
sie  doch  dem  Lernenden,  sich  mit  den  verhältnismäßig  wenigen  Grundthemen  der 
philosophischen  Meditation  vertraut  oder  doch  wenigstens  bekannt  zu  machen,  ohne 
daß  er  in  der  Erfüllung  dieser  wichtigsten  Voraussetzung  für  eine  ernsthafte  philo- 
sophische Betätigung  durch  den  herniederprasselnden  Hagelschlag  philosophischer 
,,ismen"  gestört  wird,  die  ihm  in  dem  zweiten  Hauptteil  übrigens  keineswegs  vor- 
enthalten werden,  wo  in  dieser  Hinsicht  des  Guten  vielleicht  etwas  zu  viel  getan  ist. 
Am  klarsten  durchgeführt  scheint  mir  das  zweite  Kapitel  zu  sein,  ohne  daß  ich  mich 
indes  mit  der  Aufgabebestimmung  der  einzelnen  philosophischen  Disziplinen  durch- 
aus einverstanden  erklären  könnte.     Das  dritte  Kapitel,  das  eigentlich  kritische  des 
Buches,  hat  mir  in  manchen  Einzelheiten  Anlaß  zu  Bedenken  gegeben,  die  aber  z.  T. 
vielleicht  durch  eine  weniger  Mißverständnissen  ausgesetzte  Ausdrucksweise  beseitigt 
werden  könnten,  z.  B.  bei  Sätzen  wie  ,,eine  Verschiedenheit  von  Richtungen  in  bezug 
auf  dasselbe  Problem  beweist  offenbar  einen  Mangel  an  Allgemeingültigkeit  der  Er- 
kenntnis (S.  122)  xmd  andere  (S.  146,  Z.  9  von  oben,  S.  174,  Z.  14  von  oben).    Nicht 
minder  als  bei  der  Erkenntnistheorie  wäre  bei  der  Logik  eine  Darstellung  nach  Rich- 
tungen berechtigt  gewesen;  es  handelt  sich  doch*wohl  um  entscheidende  Diskrepanzen 
in  den  Lösungen  und  nicht  nur  um  eine  Verschiedenheit  der  Auffassungen  von  den 
Aufgaben  der  I^ogik,  wenn  bei  den  Logikern  auf  eine  Grundfrage  sehr  verschiedene 
Antworten  gegeben  werden.    Der  Psychologismus  z.  B.  wollte  mehr  sein  als  nur  eine 
Psychologie  des  Denkens  im  Sinne  Külpes,  sondern  eine  rein  logische  Tlieorie.    Von 
der  Lehre,  die  in  dem  Werke  unter  dem  Namen  „Dogmatismus"  berührt  wird,  kann 
man  sich  auf  Grund  der  dort  gegebenen  Bestimmungen   kaiun   ein   richtiges  Bild 
machen.    Welcher  „Dogmatismus"  von  der  Art  des  Spinozistischen  hat  die  Geltung 
aller  Erkenntnis  behauptet,  ohne  sie  näher  zu  prüfen  ?     Ebenso  wenig  dürfte  die 
Behauptung,  daß  Logik  und  Mathematik  mit  „selbsterzeugten"  Gebilden  arbeiten 
(S.   l.")3).    heute   allgemeine    Zustimmung   finden;    ich    halte   sie   nicht   für   richtig. 
Die  Apodiktizität,  mit  der  sie  ausgesprochen  wird,  steht  in  einem  gewissen  Gegensatz 
zu  der  sonst  so  vorsichtigen  Haltung  des  Buches,  die  die  Darstellung  imd  Kritik  der 
umstrittensten  Probleme  der  Metaphysik  und  Ethik  besonders  eindrucksvoll  gestaltet. 
Das  Schlußkapitel  versucht  den  Nachweis  zu  liefern,  daß  eine  einheitliche  Definition 
der  Philosophio  unmöglich  ist,  und  will  eine  Bestimmung  durch  Aufzählung  der 
Hauptaufgaben  erzielen. 

München.  Fritz  Low. 

W.  J.  Ruttmann,  Die  Hauptergebnisse  der  modernen  Psychologie  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Individualforschung.  Leipzig  1914. 
Verlag  Ernst  Wunderlich.    Preis  4,40  M.    392  S. 

Bei  der  schlinunen  Zersplitterung  der  pädagogisch-psychologischen  Literatur 
ist  Ruttmanns  zxisammenstellendes  Buch  ein  imbestreitbares  Verdienst,  umsomehr 
als  der  Verfasser  u.  a.  auch  die  wertvolleren  Abhandlungen  aus  der  allerjüngsten  Zeit 
sorgfältig  verarbeitet  hat  und  als  die  äußere  Einrichtung  des  handlichen  Bandes, 
z.  B.  seine  Ausstattimg  mit  einem  rocht  ausführlichen  Inhaltsverzeicluiisse  und  mit 
Namen-  und  Sachregister,  die  Verwendung  zum  Nachschlagen  bedeutend  erleichtert. 
Wortvoll  sind  desgleichen  die  reichlichen  Literaturnachweise  und  die  eingestreuten, 
den  Quellen  entnommenen  Textstücke,  Tabellen,  Vordrucke  usw. 

Bestimmt  für  alle  wissenschaftlichen  Berufe,  die  heute  ohne  eingehendere  psycho- 
logische Kenntnisse  nicht  mehr  auskommen  können,  bietet  das  Buch  eine  gedrängte 


298  Literattirbericht. 


Darstellung  der  in.  den  letzten  Jahrzehnten  erforschten  seelenkundlichen  Tatstwshen. 
Dabei  unterscheidet  es  sich  von  artgleichen  Werken,  an  denen  es  ja  nicht  gerade 
mangelt,  durch  eine  starke  Betonung  der  Individualpsychologie.  Eingeordnet  findet 
sich  durchweg  das  Wichtigste  der  Kinderforschung  und  —  gestützt  auf  die  Autorität 
Kräpelins  —  sorgsam  Ausgewähltes  aus  der  Psychopathologie.  Sehr  ausführlich  und 
geschickt  ist  die  Methodik  zur  Untersuchung  des  Individualproblems  berücksichtigt. 
Die  Frage  der  Geschlechtsdifferenzen  hat  mit  Recht,  da  sie  durch  die  letzten  Ver- 
handlungen des  Bundes  für  Schulreform  allgemeineres  Interesse  gewonnen  hat,  eine 
breitere  Behandlung  erfahren.  Anhangsweise  ist  ein  Abschnitt  über  ,, Sozialpsycho- 
logie" beigegeben. 

Der  Lehrerschaft  an  den  Volksschulen  wie  an  den  höheren  Anstalten  —  haupt- 
sächUch  aber  den  Fachvertretern  der  Psychologie  an  Seminaren  —  sei  das  Buch 
ganz  besonders  empfohlen. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Prof.  Dr.  Ernst  Dürr,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit.  Zweite  völlig  um- 
gearbeitete Auflage.  220S.  Brosch.4,20M.,geb.4.80M.  Leipzigl914.  Quelle&Meyer, 
In  Ernst  Dürr  ist  vor  wenigen  Monaten  erst  ein  junger  Gelehrter  aus  seinem 
Wirken  gerissen  worden,  auf  dem  viel  Hoffnung  der  psychologischen  und  pädagogischen 
Wissenschaft  stand.  Eine  seiner  letzten  größeren  Arbeiten  ist  es  gewesen,  daß  er 
seine  ,, Lehre  von  der  Aufmerksamkeit",  die  1907  erstmals  erschienen  und  von  der 
ernsteren  Kritik  viel  beachtet  worden  war,  durch  Verwertung  der  neueren  Forschungs- 
ergebnisse weiter  ausbaute  und  so  ein  Werk  schvif,  das  wohl  eine  der  besten  Mono- 
graphien darstellt,  die  einen  psychologisch  wie  pädagogisch  gleich  bedeutsamen 
Gegenstand  fruchtbar  behandeln.  Aucji  wer  mit  unsDürrs  methodisches  Prinzip  der  As- 
soziationspsychologie —  von  deren  Einseitigkeiten  er  sich  allerdings  fernhält  —  nicht 
anzuerkennen  vermag,  wird  sich  mit  viel  Gewinn  in  seine  Darstellung  des  Tatsächlichen, 
in  die  deutenden  Gedanlcengänge  und  vor  allem  in  die  Ausführungen  über  die  päda- 
gogische Wichtigkeit  der  erörterten  Probleme  vertiefen.  Hier  ist  eine  Scluift  ge- 
geben, die  vor  allem  der  jungen  Lehrerschaft,  die  für  den  Ausbau  der  Didaktik  der 
Zukunftsschule  eine  sichere  psychologische  Grundlage  sucht,  von  Segen  sein  wird. 
Und  da  ferner  das  verständüch  geschriebene  Buch  die  Aufmerksamkeit  als  ein 
Mittelpunktsproblem  erfaßt  und  in  diesem  Sinne  überall  Beziehungen  zum  Ganzen 
des  Seelenlebens  herstellt,  eignet  es  sich  so  trefflich  wie  etwa  Meumanns  ,, Intelligenz 
und  Wille"  für  die  selbständige  Weiterbildung  nach  dem  Seminare  und  die  Vor- 
bereitung auf  die  zweite  Prüfung. 

Der  Aufbau  ist  gegen  die  erste  Auflage  nicht  wesentlich  verändert.  Ein  einleitender 
Abschnitt  verbreitet  sich  sehr  kurz  über  das ,, Verhältnis  von  Psychologie  und 
Pädagogik" — ohne  Bedeutenderes  dabei  zu  sagen.  Es  folgt ,, Das  Wesen  der  Auf- 
merksamkeit", wobei  nicht  auf  eine  glatte  definitorische  Formel  zugestrebt  wird, 
sondern  in  vorsichtiger  Beschreibung,  Unterscheidung  und  Einordnung  eine  Angabe 
aller  der  Erscheinungen  erfolgt,  die  sich  ihrer  Natur  nach  unter  der  Bezeichnung 
„Aufmerksamkeitsprozesse"  sammeln  lassen.  Dem  ,, Gegenstande  der  Aufmerk- 
samkeit" —  hierbei  besonders  auch  den  Anfangsbestimmungen  der  Einheits- 
aiiffassung  nachgehend  —  gelten  die  sich  anschließenden  Ausfiihrungen.  In  der 
vierten  und  fünften  Abteilung  —  ,, Bedingungen  und  Wirkungen  der  Auf- 
merksamkeit" wird  alles  das  aufgedeckt,  was  sich  bei  rein  empirischer  Betrachtung 
für  das  ,,  Auf  merken"  als  vorteilhaft  oder  nachteilig  erweist  und  was  man  erfalirungs- 
gemäß  als  Folgeerscheinung  dieses  Vorganges  feststellen  kann.  Das  VI.  Kapitel  wid- 
nxet  sich  weiter  der  Theorie  der  Aufmerksamkeit  und  nimmt  dabei  u.  a.  Stelliing  gegen 
Herbart  und  Wundt.  Mit  einem  inhaltreichen  Abschnitt,  in  dem  unter  der  Überschrift 
,, Varietäten  der  Aufmerksamkeit"  neben  Differentialpsychologischem  und 
Psychopathologischem  noch  mancherlei  zusammengestellt  ist,  was  sich  sonst  nicht 
unterbringen  ließ,  schließt  das  Werk  ab.  Daß  in  ihm  durchweg  auf  offene  Probleme 
psychologischer  und  pädagogischer  Art  hingewiesen  ist  und  daß  so  Denkanreize  ge- 
geben werden,  erscheint  als  ein  nicht  geringer  Wert  der  gehaltreichen  Monographie. 
Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 


Literaturbericht.  299 


Lay,  Dr.  W.  A.,  Reform  des  Psychologieunterrichtes,  verdeutlicht  an 
Schülerarbeiten.  51.  Heft  der  Beiträge  zur  Lehrerbildung  und  Lehrerfort- 
bildung.   Gotha  1914.    Verlag  E.  F.  Thienemann.    48  S.    Pr.  1,20  M. 

Es  ist  verwunderlich,  daß  einem  so  bedeutsamen  Fache  wie  dem  Psychologieunter- 
richt ein  im  Vergleich  zu  anderen  Disziplinen  auffallend  geringer  Reformeifer  entgegen- 
gebracht wird.  Die  wenigen  Vorschläge  gehen  auf  zwei  Forderungen  hinaus:  auf 
die  raateriale,  daß  die  neuere  Psychologie  in  iliren  Ergebnissen  und  Methoden  Ein- 
gang finde,  und  die  formale,  daß  ein  arbeitsunterrichtlicher  Betrieb  aiisgestaltet 
werde.  An  den  vorbildlich  organisierten  Seminaren  Sachsens  sind  beide  Wünsche 
zumeist  schon  länger  und  ausreichend  erfüllt.  Ich  verweise,  um  Namen  zu  nennen, 
nur  auf  die  durch  ihre  Veröffentlichungen  und  ihre  Praxis  bekannt  gewordenen 
Direktor  Dr.  Rieh.  Seyfert  in  Zschopau  (vgl.  „Erfahrung  und  Versuch  im  Psycho- 
logie- und  Pädagogikunterrichte  des  Seminars"  im  IV.  Jahrbuch  der  Päd.  Zentrale, 
1913),  ferner  auf  Oberlehrer  OttoScheibnerin  Leipzig  ( vgl . ,  ,Die  Arbeit  im  vierstufigen 
Lehrerinnenseminfire"  (Programmbeilage,  herausgeg.  von  Gaudig;  Leipzig  1911, 
Abschnitt  ,, Psychologie"),  schließlich  auf  den  Lehrbuchverfasser  Prof.  Dr.  Arthur 
Stößner  iu  Dresden  (vgl.  ,,Das  Experiment  im  Psychologiounterrichte  des  Semi- 
nars",  1904). 

Lays  kleine  Sclu-ift,  bietet  sie  auch  dem  Kenner  des  Gebiets  kaum  neue  Gedanken, 
mag  zur  Stärkung  und  Verbreitung  der  Reformbestrebungen  willkommen  sein. 
Insbesondere  können  die  angehängten,  teilweise  nicht  üblen  Schülerarbeiten  dem 
noch  Fernerstehenden  ein  anschauliches  Bild  davon  geben,  in  welchem  Umfange 
xmd  welchen  Hauptformen  freiere  Arbeiten  der  Zöglinge  möglich  sind.  Nicht  am 
rechten  Orte  ist  die  Auseinandersetzung  mit  Ostermann;  peinlich  wirkt  der  wieder- 
holte Hinweis  auf  des  Verfassers  psychologisches  Lelirbuch.  Übrigens  beschäftigt 
sich  das  Schriftchen,  was  vom  Titel  nicht  umspannt  wird,  in  seinen  drei  ersten  Kapiteln 
mit  dem  philosophischen  Schulunterrichte,  von  dem  die  Geschichte  imd  die  Schwierig- 
keiten, sowie  Ziel,  Stoff  und  Methode  —  wiederum  ohne  wesentlich  Neues  zu  bieten  — 
in  Kürze  dargestellt  werden. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Maria  Montessori,    Selbsttätige  Erziehung  im  frühen   Kindesalter. 

Nach  den  Grundsätzen  der  wissenschaftlichen  Pädagogik  naethodisch  dargestellt. 

Mit   vielen    photographischen  Aufnahmen.     Stuttgart  1913.    Verlag   Julius   Hoff- 

inann.     347  Seiten.    Preis  br.  6  Mk.,  gebunden  7,50  Mk. 

Nachdem  in  dieser  Zeitschrift  schon  der  Montessorimethode  eine  eingehende 
Abhandlung  gewidmet  wurde,  sollen  hier  nur  noch  einige  Gedanken  über  den  speziellen 
Wort  dieses  Erziehungsbuches  Raum  finden.  Dem  Übersetzer  gebührt  unstreitig 
unsi  I  Dank,  daß  er  es  uns  ermöglicht,  das,  wovon  jetzt  die  ganze  pädagogische  Welt 
spTK  !it,  IUI  (iiT  Quelle  zu  studieren.  Aber  trotz  der  guten  Darstellung,  die  die  Gedanken 
uM'l  Ansichten  der  Verfasserin  in  dieser  Schrift  finden,  legt  man  das  Buch  mit  dem 
VVunache  aus  der  Hand,  mehr  davon  zu  erfahren  und  vielleicht  an  Ort  und  Stelle  erst 
in  die  Praxis  zu  sehen,  was  hier  als  so  entschieden  gut  und  neuartig  gepriesen  wird. 
Donn  einerseits  sieht  man  Dinge  angestrebt,  die  —  wenigstens  bei  uns  —  schon  längst 
in  modernen  Kindergärten  verwirklicht  sind  (die  größere  Freiheit  der  Kinder,  die  Auf- 
hobung drastarrenBanksystems,  eine  hauswirtschaftlicheBetätigungder  Kinder  u.  a.  m. ), 
und  man  findet  Gedanken  ausgesprochen,  die  schon  Fröbel  ähnlich  angestrebt  hat, 
und  andererseits  erfährt  man  von  einer  Erziehung,  die  so  dem  entgegen  ist,  was  wir 
bisher  gedacht  und  gewollt  haben  (der  Erzieher  nur  als  Beobaohter,  nicht  als  Führer; 
die  Selbstkorrektur  dor  Kinder,  nicht  ein  Verbessern  durch  den  Lehrer ;  nur  eine  spon- 
tji,u(i,  nicht  durch  die  Erzieher  angeregte  Beobachtung  vonseiten  dor  Kind(>r;  das  ganz 
frulp  I .«)8enlernen  u.  a.  m.),  daß  man  nicht  gleich  völlig  dafür  oingenonunun  sein  kann 
und  will.  Dfnn  -'"-  v torscheidet  den  denkenden  Fachpädagogen  von  der  großen 
Masse,  daß  rv  |  )i  nho  er  bisher  anerkannt»«  ( Jrundsätze  völlig  über  den  Haufen 

wirft.    F)a<  r.  I' ii  1  ;  11-  lim  linr  Fundgrube  von  wnrtvitllcn  Anregungen  sein,  und 

60  steht  /,M   A  IM  (  ii.  n.  <|:ii,;  wir   Iltis  recht  weitgehend  davon  lict'ruohten  lassen.    Be- 
Sfindors  viel  k'tnmii  die  Kindergärtnerinnen  daraus  lernen.   Aber  ich  kann  auch  nic-lit 


300  Literaturbericht. 


den  Gedanken  unterdrücken,  daß  dieses  Werk,  wenn  es  in  die  Hände  von  Unberufenen 
kommt,  vielen  Schaden  anstiften  kann.  Es  wird  von  der  Verfasserin  alles  in  so  ein- 
drucksvoller, aus  Selbstbewußtsein  und  Begeisterung  zusammengesetzter  Über- 
zeugungswärme vorgetragen,  daß  die  Gefahr  besteht,  viele  werden  bewundernd  auf- 
nehmen, was  dringend  der  Nachprüfting  bedarf.  Meines  Erachtens  wäre  es  für  unsere 
Kinderwelt  von  Nachteil,  wenn  wir  den  in  dem  Buche  dargestellten  Grundsätzen 
in  allem  folgen  würden;  es  hieße  eine  Treibhauskultur  heranzüchten  und  auf  Kosten 
der  intellektuellen  Ausbildung  manche  Gemütswerte  dabei  verkümmern  lassen.  — 
Die  in  dem  Buche  gebotene  Darstellung  der  Ernährung  der  lünder  wird  bei  uns  wohl 
allgemeinen  Widerspruch  erwecken;  vielleicht  sind  die  italienischen  Verhältnisse  so 
.  andersartige,  daß  sie  eine  solche  nach  unseren  Begriffen  falsche  Ernährungsweise 
bedingen.  In  Deutschland  wird  wohl  kein  Arzt  der  Montessori  auf  diesem  Gebiet 
zustimmen,  und  es  wäre  besser  gewesen,  wenn  der  betreffende  Abschnitt  nicht  mit 
in  die  Deutsche  Ausgabe  aufgenommen  worden  wäre. 

Berlin.  Nelly  Wolffheim. 

Alfred  M.  Schmidt,  Kunsterziehung  und  Gedichtbehandlung.  Erster  Band: 
I.  Ästhetik  der  deutschen  Dichtung;  II,  Behandlung  der  deutschen  Dichtung  im 
Unterrichte.  Zweite,  verbesserte  und  sehr  vermehrte  Auflage.  Leipzig,. 
Dr.  W.  Khnkhardt.    XII  und  438  S.     Geh.  5,60,  geb.  6,20  M. 

Der  Verf.  entwickelt  im  Anschluß  an  konkrete  Beispiele  und  im  Hinblick  auf  die 
Lehren  ästhetischer  Theoretiker  die  Gesichtspunkte,  die  für  die  ästhetische  Wür- 
digung literarischer  Kunstwerke  in  Betracht  kommen.  Das  Grundelement  einer 
Dichtung  ist  hiernach  ihr  Gehalt  an  Gefühlen  und  Gedanken,  in  dem  die  Innerlichkeit 
der  Menschheit  zu  künstlerischer  Gestaltung  gebracht  wird.  Dem  Einzelerlebnis, 
das  in  der  Individualität  des  Dichters  wurzelt,  wird  durch  seine  schöpferische  Kraft 
der  Charakter  des  menschlich  Bedeutsamen  verliehen.  Dadurch  wird  das  Einzel- 
erlebnis zum  künstlerischen  Motiv.  Die  Form,  die  zugleich  mit  dem  Gegenstand 
geboren  wird,  bildet  eine  innige,  organische  Einheit  mit  dem  Stoffe.  Die  Auffassung 
einer  dichterischen  Schöpfung  setzt  ein  nachschaffendes  Erleben  voraus,  das  sich 
gleichmäßig  auf  den  Gehalt  und  die  Form  erstreckt. 

Nach  dieser  allgemeinen  Begriffsbestimmung  geht  er  auf  die  einzelnen  Darstellungs- 
mittel ein,  deren  sich  die  Dichtung  bedient,  um  den  Inhalt  zu  künstlerischem  Aus- 
druck zu  bringen,  knüpft  hieran  eine  Methodik  der  unterrichtlichen  Behandlxing  mit 
ihren  verschiedenen  Stufen  und  zeigt  schließlich  an  einer  Anzahl  von  Beispielen,  wie 
sich  eine  alle  Elemente  des  dichterischen  Schaffens  berücksichtigende  Erklärung  zu 
gestalten  habe. 

Die  aus  reicher  unterrichtlicher  Erfahrung  und  umfassenden  theoretischen 
Studien  erwachsenen  Darlegungen  sind  sicherlich  geeignet,  dem  Lehrer  des  Deutschen 
außerordentlich  viel  fruchtbare  Anregungen  zu  bieten. 

Wenn  der  Verf.  sich  (S.  276)  bemüht,  eine  Erklärung  vom  Wesen  des  Ästhetischen 
zu  liefern,  so  meint  er  bei  der  Schwierigkeit,  die  dieses  Problem  enthält,  sich  auf  die 
negative  Abgrenzung  von  anderen  Gebieten,  nämlich  denjenigen  des  logischen  und 
ethischen,  beschränken  zu  sollen;  er  stellt  so  die  Stoffgebiete  fest,  welche  den  Gegen- 
stand des  künstlerischen  Schaffens  bilden,  und  zieht  dabei  hauptsächlich  die  inhalt- 
lichen und  formalen  Elemente  in  ihrer  wechselseitigen  Bedingtheit  in  Betracht. 

Damit  ist  aber  noch  keine  eigentliche  psychologische  Ableitung  von  dem  Wesen 
einer  nach  Inhalt  und  Form  ästhetisch  wertvollen  dichterischen  Leistung  gegeben, 
wie  sie  uns  im  Sinne  der  pädagogischen  Psychologie  besonders  interessieren  muß. 
Eine  solche  Ableitung,  die  die  Entstehung  der  komplexen  künstlerischen  Schöpfung 
in  der  Seele  des  Dichters  ins  Auge  zu  fassen  haben  würde,  könnte  in  folgender  Weise 
formuliert  werden:  „Das  dichterische  Schaffen  beruht  auf  einem  inneren  Willen, 
der  dxirch  einen  gefühlsstarken,  teils  aus  der  äußeren,  teils  inneren  Erfahrung  ge- 
schöpften Bewußtseinsinhalt  unmittelbar  motiviert  wird  und  der  mit  Auslösung  aller 
seelischen  Kräfte  darauf  gerichtet  ist,  eben  diesem  Inhalte  die  entsprechende  Form  zu 
geben,  wobei  zugleich  das  ursprüngliche  einzelne  Erlebnis  vermöge  der  schöpferischen 
Anlage  des  Dichters  einen  allgemeinmenschlich-bedeutsamen  Charakter  gewinnt." 


Vierteljahrsverzeichnis  neuer   Schriften.  301 

Sofern  bei  der  nachschaffenden  Auffassung  dieses  subjektiven  Vorgangs  alle 
psychischen  Faktoren  zu  einem  Ergebnis  harmonisch  zusammenwirken,  welches  das 
Subjekt,  das  eine  innerhalb  seines  Bewußtseinskreises  eingeschlossene,  gefühlsmäßige 
Erhöhung  seines  gesamten  geistigen  Seins  erlebt,  wird  dadurch  der  Eindruck  des 
Ästhetischen  erzielt. 

Über  die  hiermit  angedeutete  Begriffsbestimmung  des  letzteren  werden  wir  jedoch 
an  einer  anderen  Stelle  noch  genauer  zu  handeln  haben. 

Heidelberg.  A.  Huther. 

A.  Gerlach,    Des  Kindes  erstes  Rechenbuch.   2.  Auflage.    119  S.   Pr.  0,70  M. 

Leipzig  1914.    Verlag   Quelle  &  Meyer. 

Die  experimentellen  Untersuchungen  über  die  Entwicklung  des  „Zahlensinnes" 
(vgl.  z.  B.  die  eben  jetzt  veröffentlichten  Ergebnisse  in  der  Schrift  „Die  Zahlauf- 
fassung beim  Schulkinde"  von  Dr.  Konr.  Brandenberger)  weisen  die  ent- 
scheidende Bedeutung  nach,  die  für  die  Ausbildung  des  elementaren  mathematischen 
Bewußtseins  dem  Absclu^eiten  der  Zahlenreihe  zukommt,  gegenüber  dem  Anschauen 
der  vielfach  noch  den  ersten  Rechenunterricht  beherrschenden  Zahlenbilder.  ,, Han- 
delnd rechnen!"  —  das  ist  nach  dieser  psychologischen  Erkenntnis  die  richtige 
Forderung  für  die  Einführung  in  die  Zahlenkunst.  Gerlach  gibt  hierfür  den  Kindern 
eine  Rechenfibel  in  die  Hand,  die  ich  für  das  trefflichste  unter  all  dem  halte,  was  seither 
an  Erstlingsbüchern  verfaßt  worden  ist.  Wie  hier  Bilder,  zumeist  dramatisch  belebt, 
ersonnen  worden  sind,  die  zum  Abzählen  und  Auszählen  unmittelbar  anreizen,  die 
dabei  —  mit  der  „Fünf"  einsetzend  —  in  leichten  Übergängen  von  der  Reihung 
zur  Zahlbildung,  von  der  Zahl  zu  den  Operationen  führen,  ist  ein  Meisterstück  päda- 
gogischer Kunst.  In  vielen  Versuchen,  in  denen  ich  vorschulpflichtigen  Kindern  das 
schmucke  Buch  vorlegte,  gelang  es  spielend,  in  den  jungen  Geistern  lebendige  Zahlen- 
lust und  recht  bald  eine  hübsche  Rechenfertigkeit  zu  erzielen. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 


Vierteljahrsverzeichnis  neuer  Schriften. 

(Januar,  Februar,  März  1914.) 

Joel,  Karl,  Die  philosophische  Krisis  der  Gegenwart.  Rektoratsrede. 
Leipzig  1914,  F.  Meiner.    56  S.    1,40  M. 

Ziehen,  Thdr.,  Zum  gegenwärtigen  Stand  der  Erkenntnistheorie  (zugleich 
Versuch  einer  Einteilung  der  Erkenntnistheorien).  Wiesbaden  1914,  J.  F.  Berg- 
mann,   in,  73  S.    2,80  M. 

Bloch,  Dr.  Wem.,  Der  Pragmatismus  von  James  und  Schiller  nebst  Ex- 
kursen über  Weltanschauung  und  über  die  Hypothese.  Leipzig  1913, 
J.  A.  Barth.    Vlfl,  107  S.    3  M. 

K<rii,  l'.iith.  V.,  Die  Willensfreiheit.  Vorträge.  Berlin  1914,  A.  Hirschwald. 
75  f).     2  M. 

Heymans,  Prof.  Dr.  G.,  Einführung  in  die  Ethik.  Auf  Grundlage  der  Erfahrtmg. 
Leipzig  1914,  J.  A.  Barth.   VII,  319  S.   8,60  M.,  geb.  in  Leinw.  9,60  M. 

Meumann,  Prof.  Ernst,  System  der  Ästhetik.  124.  Bd.  aus  Wissenschaft  und 
Bildung.  Piinzeldarstellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens.  Leipzig  1914,  Quelle 
A;  Meyer.    144  S.    1  .M.,  geb.  in  Leinw.  1,25  M. 

Verworn,  Prof.  Max,  Erregung  und  Lähmung.  Eine  allgemeine  Physiologie  der 
Roizwirkungen,  Jena  1914,  G.  Fischer.  X,  304  S.  mit  113  Abbildungen.  10  M., 
geb.  in  Leinw.  UM. 

A  nton,  Dir.  Prof.  Dr.  G.,  Psychiatrische  Vorträge  für  Ärztr,  F)r/.irhcr  mul 
Eltern.    3.  Serie.   Berlin  1914,  S.  Karger.    91  S.   2,40  M. 

Brücke,  Prof.  Dr.  E.  Th.  v,.  Über  die  Grundlagen  u.  Mothod«Mi  der  Ciroß- 
hirnpKysiologio  und  ihre  Beziehungen  zur  Psychologie.  24.  Heft  der 
Sammlung  anatomischer  und  physiologischer  Vorträge  und  Aufsätze,  herausge- 


302  Viertel  Jahrsverzeichnis  neuer  Schriften. 

geben  von  Prof.  Dr.  E.  Gaupp  und  W.  Trendelenburg.  (Nach  einer  Antrittevor- 
lesung.)   Jena  1914,  G.  Fischer.    16  S.    0,50  M.,  Subskr.-Pr.  0,40. 

Stauffenberg,  Assist.  Freih.  W.  v.,  Über  Seelenblindheit.  —  Fuse,  G.,  Bei- 
träge zur  Anatomie  des  Bodens  des  IV.  Ventrikels.  8.  Heft  der  Arbeiten 
aus  dem  hirnanatomischen  Institut  in  Zürich  (Interakademisches  Himinstitut). 
Hrsg.  von  Dir.  Prof.  Dr.  v.  Monakow.  Wiesbaden  1914,  J.  F.  Bergmann.  III,  231  S. 
mit  75  z.  Tl.  färb.  Abbildungen  tind  Tabellen.     16  M. 

Klieneberger,  Ob. -Arzt  Prof,  Dr.  Otto,  Über  Pubertät  und  Psychopathie. 
Aus  der  Universitätsnervenklinik  Göttingen.  95.  Heft  der  Grenzfragen  des  Nerven- 
und  Seelenlebens.  Einzel-Darstellungen  für  Gebildete  aller  Stände.  Begründet  von 
Drs.  L.  Loewenfeld  und  H.  Kurella.  Herausgegeben  von  Hofr.  Dr.  L.  Loewenfeld. 
Wiesbaden  1914,  J.  F.  Bergmann.    III,  59  S.    1,80  M. 

Martius,  Frdr.,  Konstitution  und  Vererbung  in  ihren  Beziehungen  zur 
Pathologie,    Berlin,  J.  Springer.    12  M. 

Haecker,  Prof.  Valentin,  Über  Gedächtnis,  Vererbung  und  Pluripotenz. 
August  Weismann  zum  80.  Geburtstage  gewidmet.  Jena  1914,  G.  Fischer.  97  S. 
mit  14  Abbildungen.    2,50  M. 

Frankhauser,  Dr.  K.,  Gedächtnis  und  Vererbung.  Straßburg  1914,  J.  H.  E. 
Heitz.    40  S.    2  M. 

Ruttmann,  W.  J.,  Die  Hauptergebnisse  der  modernen  Psychologie  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Individualforschung.  Leipzig  1914, 
E.  Wunderlich.    XIII,  392  S.    4,40  M.,  geb.  5,20  M. 

Kleinpeter,  Dr.  Hans,  Vorträge  zur  Einführung  in  die  Psychologie. 
Leipzig  1914,  J.  A.  Barth.   VI,  435  S.    6,60  M.,  geb.  7,50  M. 

Lipps,  Thdr.,  Ästhetik.  Psychologie  des  Schönen  und  der  Kunst.  I.Teil. 
Grundlegung  der  Ästhetik.  2.  unveränderte  Auflage.  Leipzig  1914,  L.  Voß.  XIII, 
601  S.    13  M.,  geb.  14  M. 

Major,  Erich,  Die  Quellen  des  künstlerischen  Schaffens.  Versuch  einer 
Ästhetik.  Leipzig  1913,  Klinkhardt&  Biermann.  VII,  181  S.  5M.,  geb.  inLeinw.  6M. 

Hess,  Carl,  Die  Entwicklung  von  Lichtsinn  und  Farbensinn  in  der  Tier- 
reihe.    Vortrag.    Wiesbaden  1914,  J.  F.  Bergmann.     33  S.  mit  12  Abb.   1,60  M. 

Volkelt,  Hans,  Über  die  Vorstellungen  der  Tiere.  Ein  Beitrag  ztu"  Entwick- 
lungspsychologie. 2.  Heft  der  Arbeiten  zvir  Entwicklungspsychologie.  Hrsg.  von 
Prof.  Fei.  Krueger.    I.  Bd.    Leipzig  1914,  W.  Engelmann.    VI,  126  S.    4  M. 

Lipmann,  Otto,  Grundriß  der  Psychologie  für  Juristen.  Mit  einen  Vorwort 
von  Frz.  v.  Liszt.  2.  veränderte  und  vermehrte  Auflage.  Leipzig  1914,  J.  A.  Barth. 
VII,  95  S.    3  M.,  geb.  in  Leinw.  3,80  M. 

Pariser,  Ernst,  Einführung  in  die  Religionspsychologie.  Beiträge  zu  einer 
kritischen  Methodenlehre  der  Religionswissenschaft.  Halle  1914,  M.  Niemeyer. 
V,  56  S.    1,50  M.,  geb.  2,20  M. 

Schaffganz,  Hans,  Nietzsches  Gefühlslehre.  Leipzig  1913,  F.  Meiner.  VIII, 
133  S.    3,50  M. 

Lorand,  Dr.  A.,  Die  menschliche  Intelligenz  und  ihre  Steigerung  durch 
hygienische  und  therapeutische  Maßnahmen.  Eine  Anleitung  zum  ra- 
tionellen Denken.  Leipzig  1914,  Dr.  W.  Klinkhardt.  VIII,  413  S.  4  M.,  geb.  in 
Leinw.  5  M. 

Gabrilovitsch,  Leonid,  Über  mathematisches  Denken  und  den  Begriff 
der  aktuellen  Form.    Berlin,  L.  Siraion  Nf .    2,50  M. 

Erdmann,  Benno,  Psychologie  des  Eigensprechens.  Berlin  1914,  G.  Reimer. 
31  S.     1  M. 

Dürr,  Prof.  Dr.  Ernst,  Die  Lehre  von  der  Aufmerksamkeit.  2.  völlig  imige- 
arbeitete  Auflage.  Leipzig  1914,  Quelle  &  Meyer.  VIII,  220  S.  4,20  M.,  geb.  in 
Leinw.  4,80  M. 

Zentgraf ,  R.,  Der  Soldat.  Ein  Versuch  zur  Militärpsychologie.  8.  Heft  der  Ent- 
wicklungsjahre. Psychologische  Studien  über  die  Jugend  zwischen  14 — 25.  Heraus- 
gegeben von  Johs.  Eger  xuid  L.  Heitmann.  Leipzig  1914,  P.  Eger.  39  S,  0,75  M., 
Subskr.-Pr.  0,60  M. 


Viertel  Jahrs  Verzeichnis  neuer  Schriften.  303 

Classen,Waltli.,Das  stadtgeborene  Geschlecht  und  seine  Zukunft.  9.  Heft 
der  Entwicklungsjahre.  Psychologische  Studien  über  die  Jugend  zvrischen  14 — 25. 
Herausgegeben  von  Johs.  Eger  und  L.  Heitmann.  Leipzig  1914,  P.  Eger.  45  S. 
0,80  M.,  Subskr.-Pr.  0,60  M. 

Köhn,  Karl,  Experimentelle  Beiträge  zum  Problem  der  Intelligenzprüfung.  Aus  dem 
pädagogisch-psychologischen  Institut  München.  Aus:  Forschxingen,  pädagogisch- 
psychologische. Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E.  Meumann  und  Ob.-Lehr.  O.  Scheib- 
ner unter  red.  Mitwirkimg  von  Priv.-Doz.  Dr.  A.  Fischer  und  Schulr.  Dir.  H.  Gaudig.^ 
Leipzig  1913,  Quelle  &  Meyer.    III,  138  S.  mit  Figuren  xmd  1  Tafel.    4,35  M. 

Keller,  J.,  Wie  unsere  Schulkinder  die  Außenwelt  erfassen.  Eine  psycho- 
logische Studie.  Mit  24  Federzeichnimgen  von  IT.  J.  Burger.  8.  Heft  der  Säemann- 
Sclu-iften  für  Erziehung  imd  Unterricht.  Leipzig  1914,  B.  G.  Teubner.  IV,  56  S. 
1,60  M.,  Subskr.-Pr.  1,20  M. 

Brandenberger,  Dr.  Konrad,  Die  Zahlaufassung  beim  Schulkinde.  Heft  1 
der  Beiträge  zur  pädagogischen  Forschung.  Beihefte  zum  ,, Archiv  für  Pädagogik", 
Zeitschrift  für  pädagogische  Forschung  und  Praxis.  Herausgegeben  von  Priv.-Doz. 
Dr.  Max  Brahn  und  Lehr.  Max  Döring.    Leipzig,  F.  Brandstetter.    87  S.    2,50  M. 

Schrenk,  Johs.,  Über  das  Verständnis  für  bildliche  Darstellung  bei 
Schulkindern.  Aus  dem  pädagogischen  Seminar  der  Universität  Tübingen. 
5.  Heft  der  wissenschaftUchen  Beiträge  zur  Pädagogik  und  Psychologie.  Heravis- 
gegeben  von  Drs.  G.  Deuchler  imd  D.  Katz.  Leipzig  1914,  Quelle  &  Meyer.  VII, 
214  S.  mit  4  Figuren  und  1  Tafel.     7  M. 

Eng,  Dr.  Helga,  Abstrakte  Begriffe  im  Sprechen  und  Denken  des  Kindes. 
8.  Beiheft  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  und  psychologische  Sarmnel- 
forschung.  Herausgegeben  von  William  Stern  imd  Otto  Lipmann.  Leipzig  1914, 
J.  A.  Barth.   IV,  116  S.   3,60  M. 

Burchard,  Das    Geschlechtsleben   des   Kindes.    Berlin,  Adler-Verlag.     2  M. 

Gesundheitspflege,  Die,  des  Kindes.  Für  Studierende.Ärzte,  Gesundheitsbeamte 
und  alle  Freunde  der  Volksgesundheit.  Herausgegeben  von  Prof .  Dr.  Geh.  Med. -R. 
Dir.W.  Kruse  imd  Paul  Seiter.  Stuttgart  1914,  F.  Enke.  VIII,  794  S.m.  122  Abb.  26M. 

Pappenheim,  Mart.,  Die  Neurosen  und  Psychosen  des  Pubertätsaltors. 
Berlin,  J.  Springer.    3,60  M. 

Lay,  Dr.  W.  A.,  Lehrbuch  der  Pädagogik.  I.Teil.  Psychologie  nebst  Logik  und 
Erkenntnislehre.  2.  verbesserte  Auflage,  Gotha  1914.  E.  F.  Thienemann.  XII, 
220  S.  mit  34  Figuren.    3,50  M. 

Ziertmann,  Ob.-Realsch. -Ob.-Lehr.  Dr.  Paul,  Pädagogik  als  Wissenschaft 
und  Professuren  der  Pädagogik.  3.  Heft  der  Schriften  der  Wheelergesell- 
schaf  t  zur  Erörterung  von  Fragen  des  deutschen  und  axisländischen  Bildungswesens. 
Berhn  1914,  Weidmann.     65  S.    2  M. 

Brinkmann,  Sm.-Lehr.  M.,  Das  Experiment  in  der  Pädagogik.  Union 
Deutsche  Verlagsgesellschaft  Berlin.    64  S.    1913.    1,20  M. 

Raschig,  I-Kshr.  Eduard,  Die  Gegensätze  in  der  Pädagogik,  in  der  wissenschaftlichen 
Forschung  und  im  Ringen  der  Völker.  16  S.  1914.    0,40  M. 

Becker,  Jul.  Maria,  Der  pädagogische  Impressionismus.  Aschaffenburg  1913, 
P.  Romberger.    I  M. 

Mann,  Alfr.,  Student  und  Pädagogik.  II.  Erste  studentisch-pädagogische 
Tagung  zu  Breslau  am  6.  \md  7.  10.  1913.  9.  Heft  der  Säemann- Schriften  für  Er- 
ziehung und  Unterricht.  Leipzig  1 914, B.G.Teubner.  II,  55S.  1,20M., Subskr.-Pr.  1  M. 

Willmann,  Prof.  a.  D.  Hofr.  Dr.  Otto,  Philosophische  Propädeutik,  für  den 
Gyrnnasiahmterricht  und  das  Selbststudium  bearbeitet.     FVoiburg  i.  B.,  Herder. 

2.  Teil.     Empirische  Psychologie.    3.  imd  4.  verbesserte  Auflage.    1913.   IV,  179  S. 
2,50  M.,  geb.  in  Loinw.  3  M. 

3.  Teil.     Historische  Einführung  in  die  Metaphysik.    1913.    III,  124  S.    2  M.,  geb. 
in  Leinw.  2,50  M. 

Lay,  Sem. -Lehr.  Dr.  W.  A.,  Reform  des  PBychologieunterrichta,  verdeutlicht 
an  Schülerarbeiten,  öl.  Heft  der  Beiträge  zur  Lehrerbildung  und  I^hrerfortbildung. 
Gotha  1914,  E.  F.  Thienemann.    48  8.    1,20  M. 


l 


304  Vierteljahrsverzeichnis  neuer   Scliriften. 

Sellschopp,Adf., Religionsunterricht  und  religiösesErleben.  Leipzig  1914, 

A.  Deichert  Nachf.    0,70  M. 

Buchner,  Mart.,  Gegenbewegung  der  linken  Hand  und  Symmetrie. 
115.  Heft  der  Beiträge  zur  Kinderforschung  xind  Heilerziehung.  Beihefte  zur 
„Zeitschrift  für  Kinderforschung".  Herausgegeben  von  Dir.  J,  Trüper.  Langen- 
salza 1914,  H.  Beyer  &  Söhne.    21  S.    0,45  M. 

Mönkemöller,Ob.-ArztDr.,Die  Strafe  in  der  Fürsorgeerziehung.  llT.Heft 
der  Beiträge  ziu*  lünderforschung  und  Heilerziehung.  Beihefte  zui-  „Zeitschrift  für 
Kinderforschung".  Herausgegeben  von  Dir.  J.  Trüper.  Langensalza  1914,  H.  Beyer 
&  Söhne.    36  S.    0,60  M. 

Lüttge,  Ernst,  Didaktische  Sprachkunst  als  ästhetische  Selbstdarstel- 
lung der  Lehrerpersönlichkeit.  Auch  ein  Beitrag  zur  Unterrichtsreform. 
Leipzig  1914,  E.  Wunderhch.     VIII,  175  S. 

Kerschensteiner,  G.,  Wesen  und  Wert  des  naturwissenschaftlichen 
Unterrichtes.  Neue  Untersuchungen  einer  alten  Frage.  1914.  XII,  141  S.  3  M., 
geb.  in  Leinw.  3,60  M. 

Freimund,  Traugott,  Aufgabe,  Hemmnisse  und  Rückständigkeit  der  bis- 
herigen geistigen  Erziehung  in  der  Volksschule.  Berlin  1914,  Winckel- 
mann  &  Söhne.    XI,  191  S.    2  M. 

Wyneken,  Dr.  Gust.,  Der  Gedankenkreis  der  freien  Schulgemeinde.  Dem 
Wandervogel  gewidmet.    Leipzig  1914,  E.  Matthes.    23  S.    0,60  M. 

Wyneken,  Dr.  Gust.,  Die  neue  Jugend.  Ihr  Kampf  um  Freiheit  und  Wahrheit 
in  Schule  und  Elternhaus,  in  Religion  und  Erotik.  München  1914,  G.  C.  Steinicke. 
59  S.    1,20  M. 

Hauck,  Gymn.-Ob.-Lehr.  Dr.  P.,  Der  staatsrechtliche  Charakter  der  höhe- 
ren Schulen  nach  preußischem  Recht.  Leipzig  1913,  Quelle  &  Meyer, 
131  S.    1,80  M.,  geb.  in  Leinw.  2  M. 

Koester,  Herrn.  L.,  Geschichte  der  deutschen  Jugendliteratur  in  Mono- 
graphien.   I.  Teil.    2.  Auflage.    Hamburg  1914,  A.  Janssen.    VIII,  213  S.    3  M. 

Schulkindernot,  Schulkinderpflege.  Vorträge,  gehalten  auf  der  Mitglieder- 
versammlung zu  Erfurt.  Herausgegeben  vom  Verband  deutscher  Kinderhorte. 
10.  Heft  der   Säemann- Schriften  für  Erziehung  und  Unterricht.      Leipzig   1914, 

B.  G.  Teubner.    IV,  59  S.    1,20  M. 

Protokoll  über  die  Verhandlungen  des  2.  österreichischen  lünderschutzkongresses 
in  Salzburg.  2.  Band  der  Schriften  des  2.  österreichischen  Kinderschutzkongresses. 
Salzburg,   1913.     Wien,  M.  Perles. 

Wolffheim,  Nelly,  Die  erziehliche  Beeinflussung  und  Beschäftigung 
kranker  Kinder.  (Unter  besonderer  Berücksichtigung  der  Nervösen.)  An- 
regungen für  Krankenschwestern,  Ivinderpflegerinnen  und  Mütter.  Berlin  1914, 
L.  Oehmigke's  Verl.     140  S.    geb.  in  Leinw.  2  M. 

Bender,  Dr.  A.,  Der  Schutz  der  gewerblich  tätigen  Kinder  und  der 
jugendlichen  Arbeiter.  2.  Heft  der  Fortschritte  des  Kinderschutzes  und  der 
Jugendfürsorge.  Vierteljahrshefte  des  Archivs  deutscher  Berufsvormünder,  heraus- 
gegeben von  Prof.  Dr.  Chr.  J.  Klumker.  1.  Jahrg.  1913/1914.  Berlin  1914,  J.  Springer. 
III  u.  S.  29—69.     1,50  M. 

Fuchs,  Rekt.  Arno,  Wie  gestaltet  sich  die  Zukunft  der  nicht  oder  schwer^ 
erwerbsfähig  werdenden  geistig  Schwachen,  und  wie  wäre  zu  helfen? 
Vortrag.    Berlin  1914,  L.  Oehmigke's  Verl.    16  S.    0,40  M. 

Bericht  über  den  9.  Verbandstag  der  Hilfsschulen  Deutschlands  zu  Bonn  am  24.,  25. 
und  26.  III.  1913.  Erstattet  von  Stadtschulr.  Dr.  Wehrhahn  und  StadtschuUnsp 
A.  Henze.   Halle  1913,  C.  Marhold.   247  S.   2  M. 

Wyneken,  Dr.  Gust.,  Was  ist  ,,  Jugendkultur"  ?  ÖffentHcher  Vortrag.  Mit  einem 
Nachwort  über  den  ,, Anfang".  1.  Heft  der  Schriften  der  Münchner  freien  Studenten- 
schaft.  München  1914,  G.  C.  Steinicke.    43  S.    0,75  M. 


3ö> 


Eigenschaften  der  frühkindlichen  Phantasie/) 

Von  William  Stern. 

1.  Allgemeines.  Aller  Phantasietätigkeit  gemeinsam  ist  die  Konkretheit 
und  Spontaneität  des  Vorstellens. 

Die  Phantasievorstellung  ist  immer  konkret;  sie  enthält  ein  einzelnes 
bestimmtes  Bild,  ist  also  darin  der  Anschauung  und  der  Erinnerung  ver- 
wandt, während  sie  sich  von  dem  Denken  mit  seinen  abstrakten  Inhalten 
unterscheidet.  Die  konkrete  Bildhaftigkeit  der  Phantasievorstellung  ist  aber 
nicht  die  direkte  Wirkung  oder  Nachwirkung  äußerer  Eindrücke,  sondern 
Ergebnis  einer  inneren  Verarbeitung;  in  der  Phantasievorstellung  befreit 
sich  also  der  Mensch  von  der  unmittel bai*en  Bindung  durch  die  Außenwelt. 
Die  Vorstellung  wd  als  Eigenschöpfung  selbständig  erlebt  und  genossen. 
Durch  diesen  subjektiven  Zug  der  Spontaneität  erhebt  sich  die  Phantasie- 
vorstellung über  die  beiden  anderen  Formen  des  konkreten  Vorstellens,  über 
die  Anschauung,  die  an  gegenwärtig  vorhandene,  und  über  die  Erinnerung, 
die  an  früher  dagewesene  objektive  Tatbestände  gebunden  ist. 

Allerdings  darf  dieser  Unterschied  zwischen  der  spontanen  Phantasie 
und  den  rezeptiven  Tätigkeiten  (Wahrnehmung  und  Ei'iunerung)  nicht  zu 
einem  absoluten  Gegensatz  gestempelt  werden.  Im  Gegenteil,  es  bestehen 
viele  positive  Beziehungen. 

Einer  Schöpfung  aus  dem  Nichts  ist  die  Phantasie  niemals  fähig;  ihre 
Elemente  müssen  vielmehr  stets  in  wirklichen  Erlebnissen  ihre  Grundlage 
haben.  Das  Schöpferische  besteht  in  der  Verwendung  dieser  Elemente, 
in  der  Fähigkeit,  sie  aus  ihren  ursprünglichen  Verbänden  zu  lösen  und  ständig 
wechselnde,  immer  ausgedehntere,  neue  Synthesen  aus  ihnen  zu  bilden  — 
80  daß  dann  die  Phantasievorstellung  und  deren  Verkettung  als  Ganzes 
betrachtet,  dennoch  etwas  darstellt,  ,,was  sich  nie  und  nirgends  hat  begeben". 
Individuell  sehi*  verschieden  ist  der  Grad,  in  welchem  die  Loslösung  und  neue 
Verknüpfung  der  Elemente  gelingt;  die  hierdurch  bestimmte  Eigenschaft 
nennen  wü-  die  „Beweglichkeit"  der  Phantasie. 

Ferner  ist  die  Sinnenfälligkeit,  welche  die  Phantasievorstellungen  be- 
sitzen, von  der  Lebhaftigkeit  der  Anschauung  und  des  Gedächtnisses  ab- 
hängig. Nur  derjenige  Mensch,  in  dem  die  wirklich  wahrgenommenen  Farben, 
Formen,  Töne  usw.  mit  großer  Schärfe  und  Deutlichkeit  haften  und  nach- 
wirken, ist  daher  imstande,  auch  seiner  Phantasievorstellung  ein  entsprechend 


')  Entnommen  dem  in  Kürze  erscheinenden  Werke  „Psychologie  der  frühen  I\indheit 
bis  zum  6.  Lebensjahre".  Von  Prof.  W.  Stern.  Mit  Benutzung  vingedruckter  Tage- 
bücher von  Clara  Stern.   Verlag  von  Quelle  &  Meyer,  Leipzig. 

Zeitschrift  f.  pldagog.  Psychologie.  20 


306  Eigenschaften  der  frühkindlichen  Phantasie. 

sinnenfälliges  Kolorit  zu  geben.  Der  verschiedene  Grad  dieser  Eigenschaft 
wird  durch  den  Ausdruck  „Anschaulichkeit"  der  Phantasie  bezeichnet. 

Die  Sinneswahrnehmung  liefert  aber  der  Phantasie  nicht  nur  das  Material, 
sondern  oft  genug  auch  den  unmittelbaren  Anstoß  zur  Betätigung.  Irgendein 
äußerer  Eindruck:  ein  Wort,  ein  Bild,  eine  Bewegung,  setzt  erst  die  in  Be- 
reitschaft liegenden  Vorstellungen  ins  Spiel,  die  freilich  den  Eindruck  schnell 
in  ihr  Gespinst  einhüllen  oder  sich  in  ihrer  Verkettung  weit  vom  Ausgangs- 
punkt entfernen.  Immerhin,  die  Sinneswahrnehmung  hatte  die  Rolle  des 
,, Phantasiereizes"  zu  spielen,  und  wir  werden  sehen,  wie  wichtig  dies 
gerade  für  die  kindliche  Entwicklungsstufe  ist.  Die  Neigung,  durch  solche 
Reize  seine  Phantasie  in  Bewegung  setzen  zu  lassen,  mag  die  „Reizbarkeit" 
der  Phantasie  heißen. 

Ist  so  die  Phantasie  von  den  rezeptiven  Funktionen  der  Wahrnehmung 
und  des  Gedächtnisses  beeinflußt,  so  besteht  auch  umgekehrt  ein  enger 
Zusammenhang;  diejenigen  seelischen  Leistungen,  welche  auf  Auffassung 
und  Wiedergabe  objektiver  Tatbestände  gehen,  entbehren  nicht  des  sub- 
jektiven Moments  der  Phantasie. 

Diese  innige  gegenseitige  Durchdringung  von  Wirklichkeits- 
erleben und  Phantasie  ist  eine  Fundamentaltatsache,  deren  volle  Be- 
deutung erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  erkannt  worden  ist ;  und  doch  ergeben 
sich  gerade  aus  ihr  die  wichtigsten  psychologischen  Erkenntnisse,  ebenso  für 
die  höchste  Form  der  Phantasiebetätigung  in  der  Kunst  wie  für  die  primi- 
tivste im  Naturmenschen  und  im  kleinen  Kinde.  Wäre  die  Phantasie,  wie 
man  es  wohl  früher  annahm,  ein  selbständiges  „Seelenvermögen",  das  sich 
scharf  gegen  die  anderen  Vermögen  der  Anschauung  und  der  Erinnerung 
abgrenzte,  dann  würde  natürlich  jedem  Vorstellungsinhalte  sofort  seine 
Zugehörigkeit  zu  diesem  oder  jenem  Seelen-Schubfach  anzumerken  sein; 
es  würde  die  Phantasievorstellung  als  subjektiver  Schein,  die  Wahrnehmung 
und  Erinnerung  als  Zeichen  für  objektive  Tatbestände  erlebt  werden.  Wie 
wenig  dies  zutrifft,  zeigt  die  folgende  Betrachtung. 

2.  Illusionsbewußtsein.  Wir  wissen  heute,  daß  die  Scheidung  zwischen 
Subjektivität  und  Objektivität  der  Erlebnisse  nicht  von  vornherein  im 
menschlichen  Bewußtsein  vorhanden,  sondern  erst  das  Endziel  einer  langen 
seelischen  Entwicklung  ist.  Zwischen  dem  völligen  Verwechseln  von  Schein 
und  Sein  und  der  scharfen  kritischen  Sonderung  zwischen  beiden  gibt  es 
unendlich  viele  Zwischenformen,  die  oft  sehr  schwer  greifbar  sind.  Wir  nüch- 
ternen und  kritischen  Erwachsenen  müssen  fast  stets  bei  irgendwelchen 
Vorstellungen  die  Entscheidung  treffen,  ob  sie  im  Zusammenhang  des  prak- 
tischen Lebens  Konsequenzen  sind  und  Konsequenzen  haben  —  dann  ist 
uns  ihr  Inhalt  objektiv  —  oder  ob  sie  lediglich  aus  dem  Selbstzweck  der 
Vorstellungsfreude  hervorwachsen  —  dann  sind  sie  scheinhafte  Phantasie- 
gebilde. Da  wir  an  diese  Sonderung  gewöhnt  sind,  können  wir  uns  zunächst 
kaumZustände  denken,  in  denen  sie  gar  nicht  oder  doch  nicht  in  dieser  Schärfe 
existiert;  und  noch  schwerer  vermögen  wir  uns  in  einen  solchen  Zustand 
nachfühlend  hineinzuversetzen.  Dennoch  gewinnen  wir  erst  hiermit  den 
Schlüssel  zu  den  wichtigsten  Eigentümlichkeiten  des  kindlichen  Seelen- 
lebens. 


Eigenschaften  der  frühkindlichen   Phantasie.  307 

Das  Kind  ist  viel  mehr  Augenblickswesen  als  wir;  und  dies  Aufgehen 
im  Augenblicke  bewirkt,  daß  es  nicht  so  sehr  das  Bedürfnis  hat  wie  der 
Erwachsene,  seine  Vorstellungen  in  den  Zusammenhang  des  Vergangenen 
und  Zukünftigen  einzuordnen  und  daran  ihren  Realitätswert  zu  prüfen. 
„Real"  ist  für  diese  primitivste  Lebensform  einfach  das,  was  intensiv  erlebt 
wird;  und  es  bleibt  real,  solange  sich  das  Erleben  dem  Inhalt  ganz  hingibt. 
Das  Kind  geht  auf  in  einer  Phantasievorstellung;  während  dessen  ist  ihm 
ihr  Inhalt  Wirklichkeit,  nicht  weniger  als  ihm  zu  anderen  Zeiten  vielleicht 
sein  Essen  oder  ein  in  der  Erinnerung  auftauchendes  Ereignis  oder  ein  Stoß, 
der  ihm  wehe  tut,  objektiv  ist.  Ursprünglich  fühi*t  eben  jede  Vorstellung 
in  sich  die  Tendenz  zu  ihi'er  Bejahung,  zum  Glauben  an  sie.  Und  die  Stärke 
dieses  Glaubens  ist  viel  weniger  von  objektiven  Kriterien  als  von  der  sub- 
jektiven Bewußtseinsintensität  abhängig.  Wenn  man  sieht,  wie  restlos  die 
Versenkung  eines  Kindes  beim  Zuhören  eines  Märchens  oder  beim  eigenen 
Erzählen  einer  Phantasiegeschichte  ist,  mit  welchem  Ernst  es  seine  Spiele 
treibt  und  welche  Verzweiflung  es  bei  deren  Störung  packen  kann,  dann 
erkennt  man,  daß  hier  die  Illusion  der  Wirklichkeit  noch  völlig  oder  doch 
annähernd  vorhanden  ist. 

Freilich  schon  ziemlich  früh  beginnt  das  Kind  doch  auch  jenen  anderen 
strengeren  Wirklichkeitsbegriff  zu  ahnen,  den  wü*  Erwachsenen  besitzen. 
Es  merkt,  daß  manche  seiner  Bewußtseinserlebnisse  nicht  einfach  von  ihm 
selbst  beliebig  abgeschnitten  oder  abgeändert  werden  können,  sondern  sich 
aufdrängen  und  ihre  Konsequenzen  fühlbar  machen;  kurz,  es  fängt  an,  seine 
Abhängigkeit  von  den  Dingen  außer  ihm  zu  erfahren  und  seine  Anpassung 
an  diese  Dingo  zu  erstreben.  Damit  stößt  es  auf  eine  Realität,  die  härter 
und  mächtiger  ist  als  die  frühere.  Jener  undifferenzierte  Zustand  des  ein- 
fachen und  gläubigen  Hinnehmens  jeder  lebhaften  Vorstellung  ist  damit 
nicht  melir  alleinherrschend;  es  arbeitet  sich  jetzt  die  Trennung  des 
Objektiven  vom  Subjektiven  heraus.  Aber  auch  dies  geht  nur  langsam  von 
statten;  die  seltsamsten  Übergangsstadien  entwickeln  sich.  Bald  findet 
sich  ein  sprunghaftes  Wechseln  zwischen  dem  Aufgehen  in  der  Illusion  und 
dem  Darüber-Erhabensein ;  bald  wendet  sich  das  Kind  absichtlich  ab  von 
allem,  was  die  Illusion  stören  könnte.  Dann  wieder  gibt  es  Seelenzustände, 
in  denen  jene  Zwiespältigkeit  selbst  in  einem  Bewußtseinsakt  erlebt  wird, 
ein  Schweben  zwischen  den  beiden  Polen  des  Ernstnehmens  und  des  Spielens 
mit  den  Vorstellungen.  Der  Ästhetiker  Conrad  Lange  behauptet,  daß  eine 
solche  ,, bewußte  Selbsttäuschung"  ganz  allgemein  das  charakteristische 
Merkmal  alles  künstlerischen  Genießens  sei  —  ein  Satz,  der  in  solcher  Zu- 
spitzung zweifellos  unrichtig  ist.  Aber  für  das  Kind  und  gerade  das  kleinere 
Kind  ist  diese  Erscheinung  sicher  von  großer  Bedeutung.  Verleiht  doch 
zugleich  jenes  willkürliche  Wechselnkönnen  ein  Gefühl  der  Souveränität  und 
somit  ein  Lustgefühl  von  großer  Stärke. 

Lassen  wir  an  einer  Reihe  von  Beispielen  verschiedene  Phasen  und  Grade 
dieses  Illusionsbewußtseins,  an  uns  vorüberziehen. 

Zunächst  eine  Probe,  die  zeigt,  wie  früh  schon  zweifelloses  Dlusions- 
bewußtsein,  sogar  mit  dem  Einschlag  der  scherzhaften  Täuschung,  vor- 
handen ist. 

20* 


308  Eigenschaften  der  friihkindlichen  Phantasie. 

Hilde  2;  2').  „Es  ist  nicht  immer  festzustellen,  wo  das  Bewußtsein  des  Kindes  von 
der  Selbsttäuschung  des  Spiels  anfängt  und  aufhört.  Wenn  H.  ihre  Spielpuppen 
und  -tiere  schlafen  legt,  ihnen  zu  essen  gibt,  sie  wäscht,  kurz,  sie  so  behandelt,  wie 
sie  selber  behandelt  wird,  so  kann  das  bewußte  oder  unbewußte  Selbsttäuschung 
sein.  Antwort  erwartet  das  Band  nicht,  wenn  es  die  Puppe,  den  Stoffhund  usw.  direkt 
anredet.  Immerhin  —  zur  bewußt  scherzhaften  Selbsttäuschung  gehört  doch  noch 
ein  weiterer  Schritt,  den  H.  nunmehr  ebenfalls  zurückgelegt  hat.  Heute  morgen 
vermißte  sie  ihr  Stühlchen;  sie  fragt  erst:  (wo)  is  denn  e  Stühlchen  ?  Dann  ermuntert 
sie  sich  selbst:  suchen  Stühlchen  Äde  (das  Stühlchen  auf  der  Erde  suchen)  —  und 
richtig,  H.  bückt  sich  nieder  auf  den  Teppich,  läßt  ihren  Blick  wandern  wie  sonst, 
wenn  sie  etwa  eine  Stecknadel  sucht,  und  stellt  endlich  fest:  nein,  is  nich  da.  Das 
machte  einen  durchaus  scherzhaften  Eindruck." 

Aber  noch  IV2  Jahr  später  gibt  es  Betätigungen  des  Kindes,  bei  deLen 
das  Illusionsbewußtsein  in  der  Schwebe  zu  sein  scheint. 

3;  7.  Hilde  hat  für  ihre  Puppenbetten  neue  Bezüge  bekommen,  und  nun  beginnt 
ein  intensives  Spiel:  ,, Jetzt  müssen  die  Puppen  den  ganzen  Tag  schlafen,  wieder 
aufstehen  und  wieder  schlafen.  Mit  rührender  Sorgfalt  und  mütterlich  liebevoller 
Stimme  betreut  sie  ihre  Kleinen,  schaukelt  sie  in  Schlaf,  fragt  sie,  ob  sie  gut  geschlafen 
hätten,  sagt  ihnen  guten  Morgen  und  verlangt,  daß  wir  das  gleiche  tun,  wenn  sie  früh 
mit  ihrem  Puppenwagen  in  unser  Schlafzimmer  kommt.  Das  sind  wirklich  warme 
Gefühle,  die  sich  hier  äußern,  nicht  bloß  erdichtete  und  konstruierte.  Und  zweifellos 
liegt  auch  nicht  eine  einfache  klare  Fiktion  vor,  sondern  ein  merkwürdiges  Gemisch 
von  wirklich  Geglaubtem,  zweifelnd  Geglaubtem,  spielend  Hingenommenem,  beab- 
sichtigter Fiktion.  Eben  denkt  man:  das  macht  sie  sich  ganz  bewußt  vor;  im  nächsten 
Moment  scheint  es,  daß  das  Kind  gänzlich  in  der  lUvision  stecke  und  das  wirklich 
glaube,  was  es  von  der  Puppe  sagt." 

Noch  4;  7  führt  die  Spielillusion  bei  Hilde  zu  regelrechten  Tränen.  „Abends  — 
es  ist  im  Schlafzimmer  schon  dunkel  gemacht  —  ruft  sie  plötzlich  ganz  ängstlich, 
ob  irgendeine  Puppe  auch  mit  der  dicken  Decke  eingepackt  sei;  sie  fürchtete  augen- 
scheinlich bei  dem  rauhen  Novemberwetter,  daß  sich  die  Puppe  sonst  erkälte,  und 
als  man  sie  zur  Ruhe  verweisen  will,  fließen  Tränen ;  die  Besorgnis  \im  die  Gesundheit 
des  Schwesterchens  kann  kaum  echter  sein  als  diese  Puppensorge.  Wäre  dies  möglich, 
wenn  in  voller  Klarheit  vor  ihrem  Bewußtsein  stände,  daß  die  umsorgte  Puppe  nur 
ein  Stück  Leder  mit  Häckselfüllung  ist  ?" 

,,Aber  auch  das  Schwesterchen  selbst  wird  zuweilen  behandelt,  daß  man  nicht 
weiß,  sucht  sie  ernsthaft  zu  ihm  in  Beziehung  zu  treten  oder  behandelt  sie  es  wie 
eine  Puppe  ?  So  tritt  sie  4;  7  an  den  Wagen  des  sechs  Wochen  alten  Babys  mit  den 
Worten:  Ich  will  der  Eva  mal  meine  Arbeit  zeigen.  Damit  läßt  sie  ihren  Strumpf, 
an  dem  sie  ,, arbeitete",  vor  den  Augen  der  Kleinen  hin-  und  herpendeln  und  plaudert 
liebevoll:  Ja  ja,  ich  bin  schon  vier  Jahre,  ich  gehe  schon  in  die  Mutterschule,  ich  lerne 
schon  stopfen.  Das  Eigentümliche  ist  nun,  daß  dieses  „Sich vorstellen"  gar  nicht 
scherzhaft  klang.  Manchmal  traut  sie  dem  Schwesterchen  noch  gar  nichts  zu  (so 
zweifelte  sie  neulich,  daß  es  schon  hören  könne),  dann  wieder  spricht  sie  zu  ihm  in 
dem  mehr  oder  minder  gewissen  Glauben,  nicht  tauben  Ohren  zu  predigen." 

Ein  ganz  ähnliches  Schwanken  und  Schweben,  wie  bei  diesen  Illusionen, 
die  das  Kind  sich  selbst  schafft,  gibt  es  auch  bei  jenen,  die  ihm  von  außen 
entgegengebracht  werden,  bei  den  Märchen,  dem  Christkindchen,  dem  Knecht 
Ruprecht. 

In  der  Illusionsfähigkeit  der  Phantasie  liegt  eine  starke  Lustquelle  für 
das  Kind.  Denn  Je  mehr  der  Mensch  den  Ernst  der  Realität  einsehen  lernt, 
um  so  mehr  empfindet  er  ihren  Zwang  und  ihre  Enge.   Das  kleine  Kind,  das 


^)  2;  2  bedeutet:   im  Alter  von  2  Jahren,  2  Monaten.    Die  in    Anführungszeichen 
gesetzten  Stellen  und  Zitate  aus  den  Tagebüchern  von  C.  Stern. 


Eigenschaften  der  frühkindlichen  Phantasie.  309 

in  seiner  Hilflosigkeit  überall  auf  Hemmungen  stößt,  das  in  seinem  realen 
Tun  so  abhängig  ist  von  den  Erwachsenen,  mag  von  diesem  Druck  wohl 
ein  mehr  oder  minder  dumpfes  Gefühl  haben,  und  da  löst  es  sich  von  ihm 
durch  eine  Flucht  in  die  Phantasiewelt,  in  der  es  selber  Herr  und  Gebieter, 
ja  Schöpfer  und  Gestalter  ist.  Je  stärker  aber  die  Illusion  ist,  mit  der  es 
sich  in  sein  selbst  geschaffenes  Scheindasein  versenkt,  um  so  stärker  das 
Gefühl  der  Befreiung,  um  so  größer  die  Lust. 

Und  eng  ist  die  wirkliche  Umgebung  des  Kindes.  Die  Räume  der  häus- 
lichenWohnung,  die  Familienmitglieder  und  Dienstboten,  der  tägliche  Spazier- 
gang und  seine  Spielsachen  —  das  ist  seine  Welt.  Das  übrige  weite  Leben 
wirft  nur  von  fern  seinen  Widerschein  in  des  Kindes  Dasein.  Aber  indem 
es  diesen  Widerschein  in  den  Schein  seines  eigenen  Phantasierens  und  Spielens 
aufnimmt,  erweitert  es  seine  Lebenssphäre.  Hierbei  zaubert  es  nicht  nm'  die 
Gegenstände  der  Welt  da  draußen  —  Pferd  und  Wagen,  Eisenbahn  und 
Schiffe  usw.  —  in  sein  Spielreich  hinein,  sondern  auch  —  was  viel  wichtiger 
ist  —  die  Menschen,  indem  es  sich  selbst  in  deren  Rolle  versetzt.  Das 
Vertauschen  der  eigenen  Persönlichkeit  mit  einer  anderen  kann,  obgleich 
es  doch  an  das  Illusionsbewußtsein  die  stärksten  Ansprüche  stellt,  zuweilen 
eine  ganz  überraschende  Intensität  annehmen. 

Man  sieht  aus  Obigem:  bei  einem  und  demselben  Phantasiegebilde  kann 
der  Anteil  des  Illusionsbewußtseins  ein  ganz  verschiedener  sein.  Es  kann 
ein  Mensch  eine  reiche,  bewegliche  und  reizbare  Phantasie  besitzen,  ohne 
doch  der  Verwechselung  seiner  Phantasiegebilde  mit  der  Wirklichkeit  anheim 
zu  fallen.  Es  kann  andererseits  eine  relativ  ärmliche  Phantasie  doch  einen 
hohen  Illusionsgrad  haben.  Der  Illusionismus  ist  daher  eine  besondere 
Eigenschaft  der  Phantasie. 

Beim  Kind  hängt  der  Illusionismus  vor  allen  Dingen  vom  Alter  ab;  er 
vermindert  sich  ständig  mit  den  Jahren,  während  andere  Eigenschaften  der 
Phantasie,  ihr  Reichtum,  ihre  Beweglichkeit,  gleichzeitig  zunehmen.  Außer- 
dem aber  gibt  es  bereits  in  der  frühen  Kindheit  große  individuelle  Unter- 
schiede :  manche  Kinder  gelangen  sehr  zeitig  zu  einer  straffen  Unterscheidung 
zwischen  Phantom  und  Wirklichkeit;  andere  bleiben  übermäßig  lange  in 
jenem  unklaren  Zustande  stehen,  in  welchem  Erlebtes  und  Erfundenes 
chaotisch  durcheinander  gewirbelt  ist.  Hierbei  kommen  zweifellos  Fälle 
vor,  die  schon  ins  Pathologische  hinübergreifen  und  daher  besondere  päda- 
gogische —  auch  heilpädagogische  —  Beachtung  und  Beeinflussung  erfordern. 
Man  darf  aber  andererseits  nicht  vergessen,  daß  ein  gewisser  Grad  von  Illu- 
sionismus durchaus  zum  normalen  Wesen  der  fi'ühen  Kindheit  gehört; 
€8  ist  daher  völlig  verkehrt,  die  hierauf  sich  gründenden  Verwechslungen 
von  Schein  und  Sein:  bei  Spielen,  Phantasieerzählungen,  Erinnerunp- 
aussagen  usw.  in  Bausch  und  Bogen  moralisch  zu  brandmarken  oder  gleich 
als  pathologische  Symptome  ansehen  zu  wollen. 

3.  Die  UDbekümmertheit  der  kindlichen  Phantasie.  Die  einzelne  Phanta- 
sievorstellung des  Kindes  ist  ursprünp:lich  recht  unklar  und  arm  an  Inhalt. 
Dies  ergibt  sich  nicht  nur  aus  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Vorstellungs- 
t  ntwickluug,  sondern  auch  aus  gewissen  Symptomen  der  Phantasie betäti- 
gung  selbst.     Das  kleine  Kind  zeigt  iiämli.]!  .luff/illige  Unbekümmerthtit 


310  Eigenschafton  der  frühkindlichen   Phantasie. 

um  die  Beschaffenheit  des  äußeren  Objektes,  an  welches  sich  die  Phantasie- 
vorstellung knüpft.  Irgendeine  Zufallsform  eines  zerrissenen  Papierstück- 
chens wird  als  „Schuh"  begrüßt  —  für  unser  Auge  ist  nur  eine  ganz  entfernte 
Ähnlichkeit  vorhanden.  Ein  Kreis  mit  vier  kleinen  Strichen  darin,  den  das 
Kind  zustande  gebracht  hat,  gilt  ohne  jedes  Bedenken  als  „Gesicht",  viel- 
leicht sogar  als  das  des  kleinen  Bruders.  Zwischen  dem  Stecken,  auf  dem 
der  Knabe  reitet,  und  einem  Pferd  fehlt  so  gut  wie  jede  Übereinstimmung; 
der  Umstand,  daß  man  den  Stecken  zwischen  die  Beine  nehmen  kann, 
genügt,  um  die  Phantasievorstellung  zu  realisieren. 

Man  erblickt  in  dieser  Unbekümmertheit  einen  Vorzug  der  kindlichen 
Phantasie,  und  mit  Recht,  da  sie  zeigt,  wie  beweglich,  wie  stark  aus  dem 
Innern  quellend  das  Vorstellungsleben  schon  um  jene  Zeit  ist.  Aber  man 
darf  andererseits  nicht  übersehen,  daß  der  ganze  Prozeß  gefördert  wkd  durch 
die  relative  Dürftigkeit  des  dabei  vorgestellten  Inhalts.  Hätte  das  kleine 
Kind  wirklich  eine  scharf  umrissene  Form-  und  Farbenvorstellung  von 
Schuhen,  dann  würde  der  Anblick  des  Papierfetzens  nicht  so  leicht  zur  Vor- 
stellung ,, Schuh"  führen;  es  würden  die  abweichenden  Merkmale  sofort  eine 
psychische  Hemmung  bewü-ken.  Und  der  Stecken  als  Reitpferd  stört  den 
kleinen  Jungen  nur  deshalb  nicht,  weil  neben  dem  Hauptmerkmal  der 
Pferdevorstellung,  dem  Darauf-Reitenkönnen,  alle  anderen  Inhalte,  nament- 
lich die  der  speziellen  Pferdegestalt,  weit  zurücktreten. 

Durch  diese  Unbestimmtheit  der  einzelnen  Vorstellung  wird  die  Leistungs- 
fähigkeit der  kindlichen  Phantasie  in  keiner  Weise  beeinträchtigt.  Denn 
diese  will  ja  nicht,  wie  etwa  die  des  bildenden  Künstlers,  ein  ruliendes  Ge- 
samtbild in  möglichster  Anschaulichkeit  und  Vollständigkeit  innerlich  er- 
fassen, sondern  in  schneller  Bewegung  von  Vorstellung  zu  Vorstellung,  von 
Tätigkeit  zu  Tätigkeit  eilen ;  hierfür  aber  sind  jene  vagen  Anklänge  eben  recht , 
um  beliebige,  sich  darbietende  Objekte  zu  Anhaltspunkten  für  die  einzelnen 
Phasen  dieser  motorischen  Akte  zu  machen.  So  begreift  man  es  auch,  daß 
ein  und  dasselbe  Objekt  in  schneller  Folge  als  Phantasiereiz  für  die  ver- 
schiedensten Vorstellungen  dienen  kann. 

Hilde  2;  2.  ,,H.  hat  ein  viereckiges,  flaches  Stückchen  Holz  in  der  Hand,  mit 
dem  sie  spielt,  wie  mit  einem  Ball.  Plötzlich  legt  sie  es  sich  auf  den  Kopf  und  zeigt 
es  mir:  Schöner  Hut !  Dann  nach  einem  Weilchen  wiederum:  is  Taler".  —  2;  5.  „Das 
I-Qnd  saß  mit  einer  Tante  am  Tisch;  als  Spielzeug  diente  ihr  die  Schürze.  Zuerst 
knüllte  sie  einen  Ball  aus  der  Schürze  und  tat,  als  ob  sie  ihn  würfe;  dann  wickelte 
sie  die  Schürze  um  den  Finger  wie  einen  Verband  und  sagte:  Böser  Finger;  dann 
nahm  sie  die  Schürze  hohl  (wie  beim  Ballauffangen)  mit  der  Bezeichnung:  Teller." 

Es  ist  schon  eine  höhere  Stufe  der  Entwicklung,  wenn  das  Kind  von  der 
Diskrepanz  zwischen  Phantasiereiz  und  Phantasievorstellung  ein  Bewußtsein 
hat,  sich  aber  nicht  durch  sie  stören  läßt.  Auf  dieser  Stufe  sinkt  das  Objekt 
ledigHch  zum  Symbol  herab,  zu  einem  behebigen  Anknüpfungs-  oder  Aus- 
lösungsmoment für  die  reiche  innerliche  Vorstellungstätigkeit.  Das  Kind, 
das  drei  Stühle  hintereinander  stellt,  um  „Eisenbahn"  zu  spielen,  weiß  wohl,' 
daß  die  Eisenbahn  ganz  anders  aussieht ;  aber  es  abstrahiert  von  den  Unter- 
schieden, um  das  eine  ihm  wesentlich  erscheinende  Merkmal,  die  Hinter - 
einander-Reihung,  als  greifbare  Grundlage  für  seine  Spielphantasie  zu  be- 
nutzen.  So  begegnet  uns  hier  etwas  ganz  Ähnliches  wie  bei  der  Entwicklung 


Eigenschaften  der  frühkindlichen   Phant«töie.  311 

des  Sprech-Denkens :  an  die  Stelle  einer  mechanischen  Assoziation  tiitt  das 
Symbolbewußtsein,  das  „Markieren",  und  hebt  den  Prozeß  sofort  auf  ein 
höheres  Niveau. 

So  wurde  um  2;  7  die  Eisenbahn  bei  unserer  Hilde  markiert:  einmal  durch  vier 
hintereinandergelegte  Kastanien,  dann  durch  eine  Reihe  von  Bauklötzen,  dann  wieder 
durch  ein  Zentimetermaß,  das  sie  hinter  sich  herzog.  —  Günther  machte  um  3;  11  sogar 
einmal  seine  Hände  zur  Eisenbahn :  ,,Er  zeigte  plötzlich  auf  seine  Daimien :  Das  sind 
die  Lokomotiven,  und  das  (er  streckte  die  übrigen  acht  Finger  aus)  sind  alles  die 
Wagen,    Und  hier  (er  zeigte  in  die  Luft)  ist  der  Weg  und  die  Schienen." 

Bei  manchen  dieser  höchst  sonderbaren  Repräsentationen  können  wir 
Erwachsenen  kaum  begreifen,  daß  das  Kind  über  die  krasse  Unstimmigkeit 
hinwegsieht,  um  an  ein  einziges  nebensächliches  Merkmal  seine  Vergleichung 
zu  knüpfen. 

Noch  5;  10  beobachteten  wir  bei  Hilde  folgende  merk\\'iirdige  Personifikation: 
,,Sie  spielte  mit  einer  Kaffeemühle.  Der  Deckel  einer  solchen  besteht  bekanntlich 
aus  zwei  Halbkreisen,  die  um  Scharniere  drehbar  sind  und  dadurch  voneinander 
entfernt  oder  einander  genähert  werden  können.  Das  genügte,  um  dem  Kinde  die 
Suggestion  menschlicher  Bewegungen  zu  geben.  Sie  ließ  die  beiden  Deckel  sich 
berühren:  Jetzt  küssen  sie  sich.  Sie  drehte  sie  auseinander:  sie  gehen  spazieren.  Sie 
fingierte  Regen:  beide  keltren  zurück.  Der  eine  Flügel  wird  wieder  nach  außen  gedreht: 
er  geht  wieder  spazieren;  der  andere  aber  will  warten,  bis  der  Nebel  verschwunden  ist." 

Der  höchste  Grad  dieser  Unbekümmertheit  liegt  dort  vor,  wo  die  Phantasie 
überhaupt  auf  ein  gegenständliches  Äquivalent  verzichtet  und  geradezu 
halluzinationsähnliche  Leistungen  ermöglicht.  Wenn  das  Kind  be- 
ginnt zu  „fabulieren"  oder  wenn  es  abends  im  Bettchen  liegend  noch  vor 
dem  Einschlafen  im  Dunkeln  seine  Monologe  hält,  in  denen  die  Angehöligen 
und  die  Spielsachen,  Ereignisse  des  Tages  und  Zukunftswünsche  bunt  durch- 
einander wirbeln,  so  sind  alle  äußeren  Phantasiereize  gesch\sninden,  und  wir 
haben  das  Spiel  der  inneren  Vorstellungstätigkeit  in  Reinkultur  vor  uns. 
Von  hier  zur  Traumphantasie  ist  nur  ein  Schritt,  und  es  ist  ja  charakteristisch 
für  das  Kind,  daß  sich  ihm  zwischen  wirklichem  Erleben,  der  Wachphantasie 
und  dem  Traum  oft  genug  die  Grenzen  verwischen. 

Eine  besondere  Nuance  enthält  der  halluzinatorische  Zug  in  der  Spiel- 
phantasie. Hier  gibt  es  in  der  Tat  ein  Hantieren  mit  dem  Nichts  — 
z.  B.  das  Spielen  mit  dem  fingierton  Ball;  es  kann  mit  derselben  Inbrunst 
und  Hingebung  betrieben  werden,  als  ob  das  reale  Spielobjekt  zur  Verfügung 
stände.  Aber  hierbei  ist  doch  immerhin  eine  reale  Grundlage  vorhanden 
und  wie  es  scheint  unentbehrlich,  nämlich  die  Spielbewegung  des  Kindes; 
sie  kann  nicht  durch  eine  bloße  Bewegungsvorstellung  in  der  Phantasie 
ersetzt  werden.  Somit  kommt  den  motorischen  Elementen  der  Vorstellung 
eine  andere  Rolle  zu  als  den  visuellen,  auditiven  und  taktilen.  Das  sichtbare, 
hörbare,  greifbare  Objekt  kann  durch  die  bloße  Phantasievorstellung  ersetzt 
werden,  die  Eigenbewegiing  nicht.  Diese  verschiedene  Rolle  ist  aber  sehr 
wohl  verstand  lieh.  Das  wirkliche  Vorhandensein  der  Objekte  ist  nicht  immer 
in  unsere  Macht  gegeben,  der  Mensch  muß  sich  mit  dem  subjektiven  Surrogat 
der  Phantasievorstellung  begnügen;  Beweirungcn  aber  können  wir  immer  von 
neuem  wirklich  ausführen;  dafür  braucht  sich  also  nicht  ein  entsprechendes 
Phantasiesurrogat  herauszubilden.  Die  folgenden  Beispiele  von  „Halluzi- 
nationsspielen" bestätigen  deutlich  das  Gesagte. 


312  Eigenschaften  der  frühkindlicheu   Phantasie. 

Günther  2;  6/4.  „D&ä  kleine  Schwesterehen  ist  eben  gebadet  worden.  Kaum  ist 
es  aus  der  Wanne  herausgenommen,  so  klettert  G.  auf  das  Stühlchen,  guckt  in  die 
leere  Wanne  hinein  mit  den  Worten:  so  tun  e  Bibi  (=  so  tun,  als  ob  ein  Baby  darin 
wäre)  und  bewundert  das  nicht  vorhandene  Baby." 

Hilde  3j  5.  „H.  spielt  Einkaufen,  d.  h.,  wir  schicken  sie  mit  „gedachtem"  Geld 
,, imaginäre"  Sachen  kaufen;  sie  rennt  in  eine  leere  Ecke  zum  „Kaufmann"  und  bringt 
von  dort  fingierte  Butter,  Schokolade  usw.  mit." 

Günther  5j  10.  „Ein  bei  den  Kindern  sehr  beliebtes  Spiel  ist  das  „Paradies-Hüpfen". 
Es  wird  auf  den  Boden  ein  Schema  mit  numerierten  Feldern  gezeichnet;  dann  muß 
ein  Steinchen  in  ein  bestimmtes  Feld  geworfen  und  hüpfend  wieder  geholt  werden, 
ohne  daß  dabei  einer  der  Grenzstriche  mit  dem  Fuß  berührt  werden  darf.  G.  spielt 
nun  zuweilen  dieses  Spiel  im  Zimmer  ohne  alle  Apparate.  Er  tut  so,  als  ob  er  das 
Schema  auf  die  Diele  aufzeichne,  fingiert  das  Werfen  mit  einem  Steinchen,  jauchzt, 
als  ob  er  in  die  100  getroffen  (augenscheinlich  steht  das  Schema  in  großer  Lebhaftigkeit 
vor  seinem  innern  Auge),  hüpft  vorsichtig,  um  die  gar  nicht  vorhandenen  Grenzstriche 
nicht  zu  berühren  usw." 

Hilde  5;  10.  „H.  spielte  „Kaufmann".  Die  Mutter,  die  etwas  bei  ihr  eingekauft 
hatte,  sagte,  sie  werde  es  morgen  abholen  lassen.  Um  nun  dieses  ,, morgen"  schnell 
herbeizuführen,  markierte  H.  die  dazwischenliegende  Nacht,  indem  sie  in  ihren 
,, Laden"  ging  und  im  Stehen  einige  Male  herzhaft  und  laut  schnarchte.  Dann  sagte 
sie  vergnügt:  Nun  ist  morgen.  Zur  „Nacht"  war  also  kein  Bett,  keine  Dunkelheit, 
nicht  einmal  das  Hinlegen  nötig;  der  motorische  Akt  des  Schnarchens  galt  als  völlig 
genügende  Unterlage  der  Phantasievorstellung  , Nacht'." 

Das  Merkmal  der  Unbekümmertheit  scheidet  die  frülikiiidliche  Phantasie 
grundsätzlich  von  der  eigentlich  ästhetischen  Phantasietätigkeit  des  Künst- 
lers und  des  Kunstgenießenden.  Denn  zum  Ästhetischen  gehört,  daß  die 
Phantasievorstellung  eine  adäquate  objektive  Darstellung  finde.  Und 
weil  eben  für  dieses  Zusammenstimmen  von  innerem  Gehalt  und  äußerer 
Gestalt  dem  kleinen  Kinde  noch  ganz  das  Organ  fehlt,  ist  das  eigentliche 
Prinzip  der  Kunst  ihm  noch  wesensfremd.  Das  muß  hervorgehoben  werden 
gegenüber  einem  Ästhetizismus,  der  womöglich  schon  um  diese  Zeit  die 
,, Kunst  im  Leben  des  Kindes"  kultivieren  will. 

Die  wahre  Ähnlichkeit  der  kindlichen  und  der  künstlerischen  Phantasie 
liegt  nicht  auf  dem  Gebiete  der  Form,  sondern  auf  dem  der  Illusionsfähigkeit , 
des  spielenden  Sich-Hinwegsetzens  über  Zwang  und  Enge  der  Wirklichkeit. 
Derartige  Phantasiebetätigungen  sind  aber,  wie  wir  sahen,  in  den  früheren 
Jahren  gerade  nur  durch  die  Unbekümmertheit  um  die  äußere  Darstellung 
möglich;  wird  diese  daher  unterbunden,  so  findet  leicht  eine  unerwünschte 
Beeinträchtigung  der  Phantasie  statt. 

Wie  wenig  nimmt  doch  unsere  Spielzeugpädagogik  auf  jenen  Zug  der 
Unbekümmertheit  Rücksicht!  Bei  Puppen  und  Puppenstuben,  Spieltieren 
und  Soldaten  werden  keine  Mühen  und  Kosten  gescheut,  bis  alles,  was  sich 
das  Kind  in  der  Phantasie  vorstellen  könnte,  auch  objektiv  vorhanden  ist. 
Wo  bleibt  bei  dieser  Realistik  dem  Kinde  die  Möglichkeit,  aus  allem  alles 
zu  machen?  Glaubt  man  wirklich,  daß  das  zusammengewickelte  Stoffbündel 
oder  das  stan-e  Holzfigürchen  als  Puppe  dem  unverwöhnten  Kinde  geringere 
Spielfreude  und  Phantasiebetätigung  weckt,  als  dem  verzogenen  Kinde  die 
Luxuspuppe,  die  einen  Charakterkopf  hat,  die  Augen  schließt  und  alle  Raffi- 
nements modischer  Kleidung  besitzt  —  und  zu  der  deshalb  nur  schwer  noch 
etwas  hinzuphantasiert  werden  kann?  Oft  erlebt  man  es  in  solchen  Fällen, 
daß  die  Puppe  erst  dann  dem  Kinde  recht  ans  Herz  zu  wachsen  beginnt, 


Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandhmg  im  Unterricht.      313 

wenn  sie  ihren  Glanz  verloren  hat  und  nun  ungeniert  in  jede  beliebige  Phanta- 
siesituation versetzt  werden  kann. 

Die  Unbekümmertheit  der  Phantasie  bringt  es  mit  sich,  daß  es  kein  idealeres 
Spielzeug  gibt  als  die  formlose  Materie,  die  das  Kind  beliebig  in  seine 
Gewalt  nehmen  und  in  die  es  alles  hineinlegen  kann,  was  seine  Phantasie 
ihm  vorspiegelt.  Da  ist  das  Papier,  das  zemssen,  gefaltet,  geknüllt,  geklebt, 
bekritzelt  werden  kann;  der  Sand,  der  geschaufelt,  geformt,  geknetet,  ge- 
streut wird;  das  Wasser,  der  Ton,  der  Schnee  —  welche  unerschöpfhchen 
Stoffe  für  kindliche  Phantasiefreuden!  Es  ist  doch  kein  Zufall,  daß  nirgends 
Kinder  der  verschiedensten  Altersstufen  glücklicher,  ausdauernder  im  Spiel 
und  darum  artiger  sind  als  am  Meeresstrand,  wo  sie  Woche  auf  Woche  die 
unendlichen  Spielmöglichkeiten  des  Sandes  und  Wassers  auskosten. 

Auch  in  der  alltäglichen  Umgebung  des  Kindes  sollte  die  Verwertung  der 
formlosen  Materie  noch  viel  mehr  gepflegt  werden.  Auf  keinem  öffentlichen 
Platz,  in  keinem  Garten,  vor  allem  in  keinem  Kindergarten,  sollte  der  große 
Sandhaufen  fehlen.  Auch  im  Hause  biete  man  ähnliche  Gelegenheiten; 
ein  großer  Klumpen  Ton  müßte  stets  zur  Hand  sein,  daß  das  Kind  darin 
nach  Herzenslust  kneten  und  spielen  kann.  Die  Mütter,  welche  diesen  Ge- 
danken aus  Rücksicht  auf  die  Kleidchen  der  Kinder  und  die  schönen  Kinder- 
möbel entrüstet  zurückweisen,  ahnen  nicht,  wieviel  Spielfreude  und  Phantasie- 
freudigkeit sie  dadurch  unterbinden. 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung 

im  Unterricht. 

Von  W.  Kraßmöller. 

(Fortsetzung. ) 
II. 

Wie  kann  der  Lehrende  bei  nervösen  Zuständen  im  Unterricht  prophy- 
laktisch wirken,  und  wie  hat  er  neurast henische  Schüler  dabei  zu  behandeln  ? 

Schon  seit  langer  Zeit  wird  die  Forderung  aufgestellt,  daß  für  nervöse 
Kinder  besondere  Schulen  einzurichten  und  besondere  Lehrpläne  zu  schaffen 
seien.  Als  das  Mindestmaß  wird  verlangt,  daß  die  Schüler  im  Verhältnis  ihrer 
Fähigkeiten  in  zwei  Abteilungen  zu  sondern  seien,  deren  eine  die  geistig 
exzessiv  schnell  ermüdenden  Kinder  aufnimmt.  Meiner  Ansicht  nach  ist 
eine  solche  Einrichtung  oder  Gabelung  nicht  wünschenswert;  denn  neur- 
asthenische  Schüler,  deren  Krankheit  schon  weiter  fortgeschritten  ist,  ge- 
hören überhaupt  nicht  in  die  Schule.  Ich  weiß  aus  Erfahrung,  daß  einerseits 
die  prophylaktische  Behandlung  derartig  schwerer  Fälle  von  selten  des 
Lehrers  zwecklos  ist  und  daß  andererseits  die  Disziplin  durch  derartige 
Schüler  so  gefährdet  wird,  daß  man  den  Eltern  nur  nahelegen  kann,  die 
Kinder  in  Privaterziehung  zu  geben.  Auch  ist  es  nicht  möglich,  sich  in  einer 
Klasse  von  30 — 40  Schülern  einem  einzeln- n  Ki mkon  so  zu  widmen,  w'w  i 


314      Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

für  eine  Besserung  seines  Zustandes  nötig  wäre.  Ein  neurasthenisches  Kind 
in  fortgeschrittenem  Kranklieitszustand  gehört  zunächst  in  die  Behandlung 
eines  sachkundigen  Nervenarztes  und  dann  in  die  Hände  eines  Heilpädagogen, 
der  genau  nach  den  Vorschriften  des  Arztes  die  Erziehung  leitet.  Vielleicht 
läßt  sich  in  diesem  Stadium  der  Erkrankung  auch  ein  Jugendsanatorium 
oder  ein  Jugendheim  empfehlen.  Dagegen  können  Kinder,  deren  nervöse  Zu- 
stände sich  noch  im  Anfangsstadium  befinden,  meiner  Meinung  nach  unter 
gesunden  Kindern  sehr  wohl  verbleiben,  denn  die  Erfahrung  hat  gezeigt, 
daß  das  Milieu  von  gesunden  Kindern  nur  von  gutem  Einfluß  auf  Nervöse 
ist,  vorausgesetzt,  daß  sie  eine  entsprechende  pädagogische  Behandlung  er- 
fahren. Zu  diesem  Zweck  muß  der  Lehrer  allerdings  ein  medizinisch-psy- 
chiatrisches Wissen  besitzen,  das  ihn  in  die  Lage  setzt,  die  geistigen  und 
körperhchen  Schäden  seiner  Zöglinge  möglichst  fi'üh  zu  erkennen,  ihre  Ur- 
sache zu  finden  oder  doch  wenigstens  zu  vermuten,  um  dann  den  Arzt  recht- 
zeitig hinzuzuziehen  oder  selbst  die  prophylaktische  Behandlung  und  die 
nötige  Rücksicht  auf  das  Kind  im  Unterricht  auszuüben.  Es  ist  demnach  eine 
unerläßliche  Forderung,  daß  der  Lehrer  neben  den  pädagogischen  und  fach- 
wissenschaftlichen  Studien  auch  medizinisch-psychiatrische  Vorlesungen  hört. 
Es  wäre  daher  wünschenswert,  wenn  diese  Forderung  unter  die  Zulassungs- 
bedingungen zum  Staatsexamen  aufgenommen  würde.  Vielleicht  könnten 
aber  auch  —  ich  habe  jetzt  die  Ausbildung  der  akademischen  Lehrer  im 
Auge  —  in  den  Seminarsitzungen  die  angehenden  Lehrer  gelegentlich  ihrer 
Lehrversuche  auf  die  neurasthenischen  Schüler  aufmerksam  gemacht  werden ; 
über  die  Fälle  wären  Referate  zu  erstatten.  Auch  könnten  Individuallisten 
geführt  werden  von  der  Art,  wie  sie  Ufer  oder  Berninger  näher  angeben. 
Jedenfalls  wird  dadurch  in  den  Jungen  Lehrern  ein  verständnisvolleres  In- 
teresse für  den  neuropathischen  Schüler  wachgerufen  werden.  Der  Lehrende 
wird  stets  ein  reiches  Arbeitsfeld  auf  diesem  Gebiet  in  der  Schule  finden; 
denn  hier  ist  noch  viel  Material  aufgestapelt,  das  einer  eingehenden  ärztlichen 
Analyse  harrt.  Mit  Recht  klagen  die  Ärzte  darüber,  daß  sie  dieses  Material 
erst  dann  für  die  Behandlung  und  für  die  Forschung  erhalten,  wenn  es  in  der 
Schule  absolut  nicht  mehr  taugt.  Vom  Standpunkt  der  Frülibehandlung  ist 
es  durchaus  notwendig,  daß  der  Pädagoge  und  der  Arzt  auf  diesem  G-ebiete, 
das  auf  der  Grenze  beider  Berufe  liegt,  Hand  in  Hand  arbeiten.  Die  Tätigkeit 
des  Schularztes  scheint  mir  hier  nicht  auszureichen.  Will  man  der  Schul- 
nervosität energisch  zu  Leibe  gehen,  so  bedarf  es  zwischen  dem  Pädagogen 
und  dem  Arzt  einer  fortwährenden  gegenseitigen  Verständigung.  Der  Pä- 
dagoge muß  in  der  Lage  sein,  Anzeichen  einer  beginnenden  Neurasthenie 
möglichst  früh  zu  erkennen,  und  muß  dem  Arzt  fortgeschiittenere  Fälle  sofort 
überweisen.  Dieser  wird  das  Material  dankend  annehmen  und  seiner  Be- 
einflussung unterziehen. 

Bisher  dürfte  es  nur  an  der  Mitarbeit  des  einzelnen  Lehrers  gefehlt  haben. 
Von  Seiten  der  Schulbehörden  hingegen  ist  in  den  letzten  Dezennien  viel  ge- 
schehen. Man  hat  die  modernen  Schulbänke  gegen  früher  wesentlich  ver- 
bessert: die  Schreibfläche  ist  abgeschrägt,  die  Sitzgelegenheit  selbst  be- 
quemer, und  schon  hierin  liegt  eine  gewisse  Kontrolle  für  die  körperliche 
Haltung  während  des  Unterrichts.   Man  hat  der  Hygiene  der  Schulräume  die 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.     315 

größte  Aufmerksamkeit  geschenkt,  insbesondere  der  Orientierung  der  Schul - 
Zimmer,  ihrer  künstUchen  Beleuchtung,  ihrer  Heizung  und  ihrer  Innen- 
ausstattung. Man  hat  den  Druck  der  Schulbücher  verbessert,  er  ist  typo- 
graphisch übersichtlicher  und  klarer  geworden,  ganz  abgesehen  davon,  daß 
die  so  sehr  gefürchteten  „kleinen  Anmerkungen",  die  wie  Augenpulver 
wirkten,  nun  in  den  neuen  Schulbüchern  in  großem,  leicht  lesbarem  Druck 
erscheinen.  Während  der  Schulanfang  früher  generell  auf  7  Ulu"  morgens 
gelegt  war,  hat  man  ihn  schon  lange  auf  8  Ulu-  festgesetzt,  in  der  richtigen 
Erwägung,  daß  ein  ausgeschlafenes  Kind  mehr  zu  leisten  vermag  als  eins, 
das  zu  fiüli  aufgestanden  ist.  Die  Kurzstunde  von  45  Minuten  wurde  ein- 
gefülirt,  die  allerhand  Vorteile  bot.  Es  war  ein  alter  Irrtum,  daß  man  all- 
gemein die  Rezeptionsfähigkeit  der  Schüler  zu  hoch  veranschlagt  hatte. 
In  den  letzten  15  Minuten  einer  Vollstunde  mochten  nur  noch  die  wenigsten 
aufgepaßt  haben.  Durch  den  45-Minutenbetrieb  ist  die  Walu-scheinlich- 
keit  erhöht  worden,  daß  die  Schüler  bis  zuletzt  frisch  und  aufnahmefähig 
blieben.  Auch  der  Nachmittagsunterricht  ^\^u•de  fast  ganz  abgeschafft, 
damit  die  Schüler  in  Ruhe  ihre  Arbeiten  erledigen  und  dann  ihre  Muße- 
stunden zum  Ausspannen  benutzen  können.  Ferner  wurde  die  mechanische 
Geistesarbeit  auf  ein  Minimum  reduziert.  Man  legt  in  allen  Fächern  weniger 
Wert  darauf,  daß  gewisse  Formeln  und  Zahlen  auswendig  hergebetet  werden, 
sondern  man  verlangt  hauptsächlich  eine  Einsicht  in  den  Zusammenhang 
und  den  Aufbau  einer  Materie.  Das  zeigt  sich  ganz  besonders  in  der  Ge- 
schichte, wo  heute  nicht  mehr  der  übermäßige  Memorierstoff  im  Mittel- 
punkte steht,  sondern  das  Verständnis  der  Entwicklungsgeschichte  und 
der  großen  historischen  Zusammenhänge.  Auch  in  der  Mathematik, 
in  der  Grammatik  aller  Sprachen  und  in  der  Religion  findet  sich  diese  Ver- 
minderung des  mechanischen  Lernstoffes.  (Die  tJberbtirdungsfrage,  die  hier 
im  Zusamnlenhang  damit  auftaucht,  ist  schon  so  oft  behandelt,  daß  es  nicht 
meine  Aufgabe  sein  kann,  sie  in  diesem  engen  Rahmen  nochmals  anzu- 
schneiden.) Ferner  hat  man  für  manche  Tage  häusliche  Aufgaben  überhaupt 
vermieden^  damit  die  Schüler  Gelegenheit  haben,  sich  auch  ein  wenig  dem 
Sport  zu  widmen.  Das  gilt  besonders  für  die  Großstadtkinder,  die  infolge 
der  großen  räumlichen  Entfernungen  der  Wohnung,  der  Schule  und  der 
Spielplätze  voneinander  sonst  kaum  Gelegenheit  haben,  ilu-en  Körper  durch 
Sport  zu  kräftigen.  Hierher  gehören  auch  die  Spielnachmittage,  an  denen 
den  Schülern  Gelegenheit  gegeben  wird,  unter  Aufsicht  ihrer  Lehrer  im 
Freien  zu  spielen.  Man  hat  auch  den  Sport  dadurch  gefördert,  daß  man  von 
Beitcn  der  Schule  Sportvereine  gegründet  hat,  die  das  Rudern,  das  Tennis- 
spielen und  das  Fußballspiel  pflegen.  Aus  demselben  Grunde  sind  aucli 
hier  und  da  die  Turnstunden  um  eine  in  der  Woche  vermehrt  worden.  Der 
jüngst  erfolgte  Extemporale-Erlaß  will  dem  Schüler  jede  Emotion  ersparen, 
die  das  so  gefürclitete  Extemporale  bei  nervösen  Kindern  zweifellos  hervor- 
ruft. Erst  in  allerletzter  Zeit  ist  vom  Königlichen  Provinzialschulkollegium 
zu  Berlin  eine  Verfügung  herausgekommen,  nach  der  die  Zensuren  keine 
Gesamtnummer  mehr  bekommen  sollten  (wie  I,  IIa,  IIb  usw.),  „weil  die 
Angabe  gewisser  Stufen  auf  den  Zeugnissen  geeignet  ist,  einen  äußerlichen 
Ehrgeiz  bei  den  Schülern  hervorzurufen,  "lni''  daß  diese  Einrichtungen  den 


316      Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

Eltern  ein  sicheres  Urteil  über  den  Stand  der  Leistungen  ihrer  Kinder  er- 
möglichen." Hieraus  spricht  deutlich  die  Tendenz,  den  Kindern  unnötige 
Aufregung  zu  ersparen,  und  wie  wichtig  diese  Frage  füi'  die  Gegenwart  ist, 
scheint  mir  auch  daraus  hervorzugehen,  daß  auch  die  große  Tagespresse 
Anlaß  nimmt,  diese  Probleme  in  ausführlichen  Artikeln  zu  behandeln. 

Alle  diese  von  der  Behörde  getroffenen  Maßregeln  und  Einrichtungen 
dienen  in  erster  Linie  der  Hygiene  der  Schüler  und  speziell  der  Hygiene 
ihres  Nervensystems. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  der  Lehrende  selbst  durch  sein  ganzes  Verhalten, 
durch  seine  Persönlichkeit,  durch  die  Art,  den  Betrieb  und  den  Plan  einer 
Lehrstunde  prophylaktisch  auf  Nervöse  unter  seinen  Schülern  einwirken 
kann.  Wir  wollen  zunächst  versuchen,  die  Fehler  und  Mißgiüffe  aufzuzählen, 
die  der  Lehrende  zu  vermeiden  hat,  wenn  er  nicht  w^esentlich  zur  Verschlim- 
merung des  nervösen  Zustandes  beitragen  will. 

Vor  allem  darf  der  Lehrende  selbst  nicht  nervös  sein,  da  der  Nachahmungs- 
trieb der  Kinder  außerordentlich  gi'oß  ist  und  sie  selbst  keine  Selbstbeherr- 
schung üben  werden,  wenn  sie  diese  bei  ihrem  Lehrer  nicht  stets  vor  Augen 
sehen.  Außerdem  bedeuten  nervöse  Lehrer  eine  gToße  Gefahr  für  die  Schüler, 
ganz  abgesehen  davon,  daß  sie  ihre  nervösen  Anzeichen  sichtlich  zur  Schau 
tragen  und  so  den  Kindern  suggerieren.  Sie  wollen  auch  häufig  mit  den 
Leistungen  glänzen  und  bringen  oft  ein  so  hastiges  Tempo  in  den  Schul - 
betrieb  hinein,  daß  Aufregungen  statt  Sammlung,  seelische  Unruhen  statt 
Beruhigung  Platz  greifen.  Der  Lehrende  muß  aber  auch  in  allen  Punkten, 
die  den  Unterricht  betreffen,  eine  außerordentlich  große  Selbstbeherrschung 
aufweisen;  er  muß  aufs  strengste  die  Anforderungen  erfüllen,  die  man  an 
einen  tüchtigen  und  geschulten  Pädagogen  stellen  kann.  Er  darf  nicht  auf- 
brausend, nicht  ungeduldig  sein;  er  muß  konsequent  und  mit  liebevoller 
Strenge  auf  das  Ziel  zusteuern,  das  er  sich  gesetzt  hat.  Nervöse  Elemente  in 
der  Klasse  werden  nun  stets  —  und  das  braucht  durchaus  nicht  böswilliger- 
weise zu  geschehen  —  durch  Um'uhe,  Zappeligkeit,  überflüssiges  Fragen  und 
dergleichen  versuchen,  ein  gedeihliches  und  ruhiges  Fortschreiten  des  Unter- 
richts zu  verhindern.  Hierdurch  darf  sich  der  Pädagoge  durchaus  nicht 
reizen  lassen.  Er  darf  nicht  den  Schüler  durch  sein  ganzes  Verhalten  dazu 
herausfordern,  sich  zu  widersetzen;  er  wird  auch  nicht  von  vornherein  dem 
Schüler  zu  erkennen  geben  dürfen,  daß  er  nichts  Gutes  von  ihm  erwarte  .  .  . 
kurz :  er  darf  in  keiner  Weise  das  sachliche  Gebiet  verlassen  und  auch  niemals 
einen  Tadel,  der  sich  doch  immer  nur  auf  das  Kind  als  pädagogisch  fortzu- 
bildendes Objekt  beziehen  darf,  ins  Persönliche  hinüberspielen.  Es  ent- 
stehen sonst  wahrhafte  Feindschaften,  die  nm*  zu  geeignet  sind,  einmal  zu 
bösen  Ausschreitungen  Nervöser  zu  führen.  Vor  allem  aber  untergraben  sie 
jede  Disziplin;  denn  in  solchen  Fällen  stellt  sich  der  Lehrende  mit  dem 
Schüler,  dem  er  etwa  seinen  Haß  zu  erkennen  gibt,  auf  dieselbe  Stufe.  Der 
Lehrende  darf  auch  nicht  dem  nervösen  Schüler  in  verletzender  Weise 
zeigen,  daß  er  durch  seine  leichte  Reizbai'keit  und  Unstimmigkeit  im  Ge- 
mütsleben prädestiniert  sei,  eine  untergeordnete  Rolle  zu  spielen.  Der  Lehrer 
darf  niemals  die  ihm  bekannten  nervösen  Anlagen  des  Kindes  etwa  aus- 
nutzen, um  durch  eine,  wenn  auch  harmlos  gemeinte,  Neckerei  den  ihm  be- 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.      317 


kannten  Effekt  hervorzurufen.  Ich  erinnere  mich  aus  meiner  eigenen  Jugend 
eines  Falles,  der  auch  auf  uns  Unbeteiligte  stets  unangenehm  wirkte:  einer 
unserer  Lehrer  in  den  unteren  Klassen  hatte  die  Angewohnheit,  einen  Knaben, 
dessen  Nervosität  und  Schreckhaftigkeit  ihm  bekannt  war,  durch  plötzliche 
Armbewegungen,  starres  Fixieren,  Augenrollen  so  zu  ersclu'ecken,  daß  der 
Junge  in  Weinen  ausbrach.  Eine  derartige  Handlungsweise  eines  Päda- 
gogen, durch  die  er  sich  vielleicht  die  Aufmerksamkeit  des  Schülers  erzwingen 
wollte,  ist  durchaus  zu  verwerfen:  es  tritt  hierdurch  eine  unnötige  Ver- 
bitterung bei  dem  Schüler  ein,  die  auf  den  Gesundheitszustand  eines  Ner- 
vösen nur  schädlich  wirken  kann. 

Ebenso  darf  der  Lehrende  weder  durch  eine  äußere  Separation  eines  ner- 
vösen Schülers  von  den  anderen  gesunden,  noch  durch  wegwerfende  Be- 
merkungen den  Zustand  des  Nervösen  vor  der  Klasse  zu  erkennen  geben. 
Denn  Kinder  sind  grausam  und  setzen  später  in  den  Pausen  fort,  was  der 
Lehrer  in  der  Unterrichtsstunde  begann;  und  man  weiß  aus  Erfahrung,  daß 
durch  derartige  Neckereien,  die  dann  auch  zu  körperlichen  Mißhandungen 
des  Nervösen  fülu'ten,  diesem  der  Schulbesuch  gänzlich  verleidet  wurde. 
Ich  möchte  überhaupt  davor  warnen,  in  Gegenwart  nervöser  Kinder  das 
Wort  „nervös"  zu  gebrauchen;  möchte  doch  dieses  Wort  unseren  Kindern 
möglichst  lange  fremd  bleiben;  denn  sobald  sie  einmal  von  sich  wissen,  daß 
sie  „nervös"  sind,  glauben  sie  daraufhin  eine  Ausnahmestellung  in  der  Klasse 
einnehmen  zu  dürfen.  Leicht  wird  ihnen  hierdurch  auch  der  Glaube  an  einen 
unheilbaren  Zustand  ihrer  Nerven  suggeriert,  während  der  Erzieher  doch 
gerade  dahin  wirken  muß,  den  nervösen  Zustand  seines  Schülers  dm'ch 
geistige  Energie,  Schulung  und  Ablenkung  abzuschwächen  oder  ganz  zu 
beseitigen.  Man  gebrauche  also  nie  das  Wort:  „Schweig,  du  machst  mich 
nervös!"  und  ähnliches.  Alle  diese  Mißgriffe  hat  der  Lehrende  streng  zu 
vermeiden. 

Im  übrigen  sei  noch  einmal  davor  gewarnt,  daß  man  die  Folgsamkeit 
iK.rvöser  Kinder  mit  allzu  großer  Nachgiebigkeit  zu  erreichen  versucht. 
Man  denke  ja  nicht,  daß  man  später  einmal  wieder  auf  den  alten  Stand  der 
Disziplin  zurückkommen  könne,  wenn  man  ihn  einmal  verlassen  hat.  Dieses 
Nachgeben  und  das  Abweichen  von  einer  energischen  Konsequenz  wird  dem 
Erzieher  stets  übel  gelohnt  werden:  denn  gerade  ein  nervöser  Schüler  neigt 
infolge  seiner  ganzen  Veranlagung  dazu,  derartige  „Schwächen"  des  Lehrers 
—  denn  als  solche  sieht  er  dessen  Gutmütigkeit  an  —  gehörig  auszunutzen. 
Ein  gedeihliches  Arbeiten  ist  in  solchen  Fällen  gänzlich  ausgeschlossen. 
Und  so  ist  dem  Nervösen  in  keiner  Weise  gedient,  wenn  man  die  Zügel,  und 
'  i  es  auch  aus  den  besten  Motiven  heraus,  am  Boden  schleifen  läßt. 

Was  kann  der  Lehrende  nun  durch  sein  positives  Tun  bewirken,  damit 
auch  nervöse  und  wenig  widerstandsfähige  Kinder  ihm  in  den  Unterrichts- 
stunden mit  Liebe  und  mit  Interesse  folgen  ?  Da  ist  zunächst  zu  sagen,  daß 
der  Nervöse  eine  doppelt  starke  Hand  im  Vergleich  zu  dem  Gesunden  braucht. 
Wenn  irgendwo,  so  ist  hier  jene  liebevolle  Strenge  oder  strenge  Liebe  am 
1  Matze,  von  der  wir  so  oft  in  der  Pädagogik  hören.  Allerdings  wird  es  sich 
l)ii  Nervösen  darum  handeln,  diese  Strenge  in  der  richtigen  Form  anzu- 
wenden.   Man  wird  also  nicht  nur  fortitf-r  in  re,  sondern  auch  suaviter  iu 


318      Schülemervosität  iind  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unttmcht. 

modo  verfahren  müssen.  Man  wird  vor  allem  Energie  nicht  mit  Stimmki*aft 
zu  verwechseln  haben,  sondern  man  wird  mit  unerschütterlicher  Ruhe  und 
Geduld  und  durch  verständige  Fragen  den  Schüler  sicher  machen  und  ihn 
immer  wieder  in  der  Auffassung  bestärken,  daß  er  sehr  wohl  fähig  ist,  seine 
Arbeit  regelrecht  zu  leisten.  Man  wird  die  Gemütslage  eines  nervösen  Schülers 
in  jeder  Beziehung  heben  und  jede  Depression  vermeiden  müssen.  Das 
niedergedrückte  Wesen  Nervöser  kann  auch  oft  seinen  Grund  in  vielleicht 
unverschuldetem  Versagen  in  den  Schulleistungen  haben.  Gerade  bei  ner- 
vösen Kindern  ist  ein  streng  fundiertes  Wissen  unerläßlich;  denn  jedesmal, 
wenn  ein  nervöses  Kind  infolge  seines  lückenhaften  Wissens  eine  Antwort 
schuldig  bleibt  oder  eine  Aufgabe  schlecht  erledigt,  wird  es  leichter  als 
seine  normalen  Kameraden  mutlos,  verzweifelt  völlig  und  gibt  sehr  bald 
jedes  Mitarbeiten  auf.  Daher  wird  sich  gerade  bei  nervösen  Kindern  ein 
privater  Unterricht  nicht  immer  vermeiden  lassen;  der  Heilpädagoge  muß 
eben,  sei  es  dm'ch  intensive  Ai'beit  in  der  Schule  oder  privatim,  darauf  hin- 
zuwirken suchen,  daß  das  Kind  mit  einem  gefestigten  Können  zur  Schule 
geht.  Man  sage  nicht,  daß  ein  solcher  Privatunterricht  zu  Hause  eine  Be- 
lastung des  Kindes  sei,  vielmehr  ist  er  eine  Entlastung,  wenn  die  Hausarbeit 
des  Kindes  durch  geeignete  Heilpädagogen  überwacht  und  gefördert  wird. 
Allerdings  muß  diese  intensive  Arbeit  eben  eigener  Natur  sein. 

Ein  nervöses  Kind  wird  am  Anfang  eines  solchen  Unterrichts  in  jeder  Be- 
ziehung zu  beruhigen  sein.  Es  muß  daher  bald  merken,  daß  ihm  hier  keinerlei 
Schrecknisse  und  Gefahren  drohen  und  daß  Fehler  nur  liebevoll  verbessert 
werden,  ihm  aber  niemals  heftige  Strafen  oder  gar  körperliche  Unbill  zu- 
tragen. Es  empfiehlt  sich  allerdings,  von  all  diesen  Dingen  am  Anfang  des 
Unterrichts  weniger  programmatisch  zu  reden  und  ihre  Durchführung  anzu- 
kündigen, als  durch  die  ganze  milde  Tonart  und  ruhige  Stimmung  dem  Schüler 
sofort  zu  zeigen,  worauf  es  ankommt.  Vertrauen  wird  niem-als  eingeredet, 
Vertrauen  muß  durch  die  Praxis  erworben  werden.  Und  dies  Vertrauen 
des  Schülers  braucht  eben  der  Lehrende,  um  in  die  Vorstellungswelt  des 
Nervösen  einen  Einblick  zu  gewinnen.  Nur  so  ist  es  möglich,  das  Seelenleben 
des  nervösen  Kindes  günstig  zu  beeinflussen  und  ihm  Festigkeit,  Geschlossen- 
heit und  Halt  zu  verleihen.  Man  wird,  wie  schon  oben  erwähnt,  gerade  bei 
Beginn  eines  solchen  Unterrichts  —  aber  auch  späterhin  —  ein  neurasthe- 
nisches  Kind  seelisch  zu  heben  versuchen.  Wie  außerordentlich  dankbar 
und  aufmerksam  nervöse  Kinder  in  dieser  Beziehung  sind,  ist  mir  aus  meiner 
eigenen  Praxis  bekannt:  ich  habe  da  gefunden,  daß  gerade  nervöse  Kinder, 
die  ein  außerordentlich  reizbares  Auffassungsvermögen  besitzen,  sehr  genau 
wittern,  wie  man  es  mit  ihnen  meint.  Allerdings  darf  man  niemals  die  Füh- 
rung des  Unterrichts  dabei  aus  der  Hand  geben;  der  Schüler  muß  stets 
merken,  daß  auch  in  der  kleinsten  Kleinigkeit  der  Wille  des  Lehrers  domi- 
niert. Gerade  bei  Nervösen  rächt  sich  jede  Disziplinüberschreitung  auf  das 
ärgste,  und  man  hat  daher  streng  darauf  zu  achten,  daß  der  Schüler  die  feste 
Hand  des  Lehrenden  in  jeder  Hinsicht  fühlt.  Man  wird  nun  finden,  daß  die 
nervösen  Schüler  dieser  liebevollen  Strenge  oft  eine  übergroße  Empfindlich- 
keit entgegensetzen,  daß  sie  hemmungslos  und  leicht  weinen  und  dergleichen. 
Hier  hat  nun  eine  systematische  psychische  Abhärtung  einzusetzen;  die 


Schülemervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandhmg  im  Unterricht.      319 

seelischen  Kräfte  müssen  ausgebildet  werden,  die  bei  der  Beherrschung  der 
Affekte  in  Wirksamkeit  treten.  Ich  habe  im  allgemeinen  die  Erfalu*ung 
gemacht,  daß  in  derartigen  Fällen  gütliches  Zm'eden  und  eine  überzeugungs- 
starke Verbalsuggestion  auf  ein  solches  wehleidiges  Benehmen  nervöser 
Kinder  viel  weniger  Einfluß  hat,  als  wenn  der  Lehrende  Tränen  überhaupt 
ignoriert.  Das  Weinen  ist  nur  allzu  oft  Mittel  zum  Zweck,  und  man  tut  besser, 
CS  nicht  zu  sehen,  anstatt  sich  mit  einer  Gefühlsäußerung  abzugeben,  in  der 
sich  der  Nervöse  selbst  gefällt.  Man  wird  sich  natürlich  hüten  müssen,  das 
EhrgefühJ  eines  nervösen  Kindes  irgendwie  anzutasten,  wie  man  das  ja  auch 
im  sonstigen  Unterricht  zu  Vermeiden  hat,  damit  dem  Schüler  in  keiner 
Weise  Gelegenheit  gegeben  ist,  sich  in  Wahrheit  verletzt  zu  fühlen.  Eine 
derartige  Abhärtungsmethode  darf  auch  nicht  plötzlich  rauh  einsetzen, 
sondern  muß  allmählich  und  vorsichtig  bei  jedem  Fall  angewendet  und 
langsam  gesteigert  werden.  Es  wird  hier  auch  nötig  sein,  ein  nervöses  Kind 
in  körperlicher  Hinsicht  zu  beaufsichtigen.  Mag  es  sich  um  zapplige  oder 
um  allzu  phlegmatische  Kinder  handeln:  in  beiden  Fällen  wird  es  gut  sein, 
füi"  körperliche  Bewegung  zu  sorgen,  diesen  zur  Aufrüttelung,  jenen  als  Ge- 
legenheit, sich  auszutoben.  Reckt  und  streckt  sich  daher  einmal  ein  ner- 
vöser Schüler  während  des  Unterrichts  etwas,  so  möge  man  ihm  dies  nicht 
als  ein  schweres  Unterfangen  anrechnen.  Ein  mahnender  Blick  genügt  oft, 
den  Schüler  zur  Rückkehr  in  die  gebotene  Körperhaltung  zu  veranlassen. 
In  keinem  Fall  lasse  man  sich  zu  körperlichen  Strafen  hinreißen,  die  bei 
Nervösen  vollkommen  wegzufallen  haben.  Die  Erfahrungen,  die  man  damit 
gemacht  hat,  sind  durchweg  ungünstig. 

Vor  allem  aber  wu-d  man  die  Kinder  von  einer  verderblichen  Selbst- 
betrachtung ablenken  müssen,  in  die  nervöse  Schüler  selbst  im  Unterricht 
sehr  leicht  verfallen.  Es  ist  das  Symptom  fast  jeder  Neurasthenie  und  Nervo- 
sität, daß  der  Kranke  seine  Krankheit  geradezu  hegt  und  pflegt,  sich  mit 
Liebe  in  die  Einzelheiten  ihrer  Äußerungen  versenkt  und  sich  selbst  außer- 
ordentlich wichtig  und  interessant  vorkommt.  Das  darf  man  bei  nervösen 
Kindern  keinesfalls  dulden.  Alle  längeren  Gespräche  und  Erörterungen 
über  diesen  Punkt  wirken  nur  schädlich  und  sind  zu  vermeiden.  Man  muß 
dem  nervösen  Kinde  den  Glauben  an  seine  Nervosität  nehmen,  wenn  man 
überhaupt  Aussicht  haben  will,  es  vom  pädagogischen  Standpunkt  aus  zu 
heilen.  Es  handelt  sich  immer  wieder  in  diesen  Fällen  darum,  die  Schwäche, 
den  Mangel  an  psychischer  Kraft  zu  eliminieren  und  dafür  Selbstvertrauen 
und,  soweit  das  durch  Suggestion  möglich  ist,  auch  wirklich  Kraft  einzu- 
setzen. Hierin  ist  schärfste  Konsequenz  am  Platze:  so  vermeide  man  es 
auch  prinzipiell,  im  Unterricht  allzu  stark  Gefühlsmomente  zu  betonen. 
Das  kann  je  nach  dem  Fache,  in  dem  es  geschieht,  mitunter  schlecht  an- 
schlagen und  ein  nervös  veranlagtes  Kind  zu  schwärmerischer  Mystik  oder 
weichlicher  Sentimentalität  führen.  Man  stelle  bei  nervösen  Kindern  das  Kon- 
krete, das  Reale  in  den  Vordergrund  und  unterdrücke  in  ihnen  den  Hang 
zur  überflüssigen  Grübelei,  die  sie  nur  schwermütig  macht.  Man  vergesse 
bei  all  diesen  Dingen  nicht,  daß  Beispiel  und  Nachahmung  für  die  Ent- 
wicklung und  Heilung  des  Nervensystems  von  größter  Bedeutung  sind.  Der 
Lolu-ende  selbst  wird  nach  dem  Ausspruch  Schweningers  „der  Stärkcrc" 


320      Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlting  im  Unterricht. 

sein  müssen.  Das  Kind  muß  fühlen,  daß  von  einem  lebenslustigen,  kräftigen 
Manne  Kraft  und  Energie  gewissermaßen  herüberfließt,  und  seine  Stimmung 
wird  selbst  umso  gehobener  und  freudiger  sein,  als  es  diese  Gefühlsmomente 
bei  dem  Lehrer  bemerkt.  Man  glaubt  nicht,  daß  die  Arbeit,  die  man  an  die 
Festigung  und  Kräftigung  des  Willens  und  des  Charakters  wendet,  für  die 
Therapie  des  Nervensystems  eines  überreizten  Kindes  verloren  sind;  die 
Zusammenhänge  sind  hier  so  eng,  daß  ich  in  allen  Fällen  sichtlich  eine  Besse- 
rung konstatieren  konnte,  wenn  nur  das  Nötige  geschah.  Das  hier  Gesagte 
leuchtet  um  so  mehr  ein,  wenn  man  sich  auf  den  Standpunkt  Kollarits 
stellt  („Charakter  und  Nervosität",  Berlin  1912,  S.  116).  Nach  Kollarits 
ist  die  Nervosität  häufig  als  eine  normale,  zuweilen  aber  auch  als  eine  ab- 
norme Charaktereigenschaft  und  durchaus  nicht  immer  als  eine  Krankheit 
aufzufassen.  Der  Lehrende  wird  also  hiernach  mit  allen  pädagogischen 
Mitteln,  die  ihm  zur  Verfügung  stehen,  auf  den  Charakter  des  Nervösen 
einzuwirken  haben. 

Vor  allem  lasse  man  ein  nervöses  Kind  niemals  müßig  gehen,  denn  gerade 
im  Müßiggang  entstehen  grüblerische  Gedankenkombinationen,  die  nur 
Schaden  anrichten  können.  Bei  der  Arbeit  hingegen  kräftigt  sich  der  Cha- 
rakter und  der  Wille  eines  nervösen  Kindes,  und  es  hat  fortwährend  Ge- 
legenheit, sich  mehr  und  mehr  sicher  zu  fühlen  und  sich  selbst  mehr  zu 
schätzen  als  bisher.  Diese  MögHchkeiten  bestehen  bei  verständiger  Leitung 
und  Aufsicht  auch  beim  Spiel;  auch  hier  bedenke  man,  daß  die  uns  ver- 
hältnismäßig klein  und  bedeutungslos  erscheinende  Welt  des  Kindes  in 
seinen  Augen  nicht  so  relativ,  sondern  absolut  wichtig  genommen  wh-d. 
Auch  hier  vergesse  man  nie,  daß  sich  kleine  Charaktereigentümlichkeiten 
gerade  im  Spiel  deutlich  offenbaren  und  man  hier  als  Pädagoge  reichlich 
Gelegenheit  hat,  als  ein  deus  ex  machina  Schicksale  zu  verbessern  und  ein- 
zugreifen, wenn  es  zum  Nutzen  eines  Kindes  nötig  erscheint.  So  dulde  man 
bei  einem  nervösen  Kinde  nie,  daß  es  aus  irgendeinem  Anlasse  heraus  die 
Selbstbeherrschung  verliert.  Nervöse  Kinder  neigen  leicht  dazu,  ihren  Ge- 
fühlen auf  Kosten  der  äußeren  Form  Durchbruch  zu  verschaffen.  Hier  hat 
der  Pädagoge  jedesmal  einzugreifen  und  dem  Kinde  durch  Wort  und  Tat 
begreiflich  zu  machen,  daß  sich  niemals  der  Einzelne  das  Recht  anmaßen 
dürfe,  seinen  Trieben  schrankenlos  Luft  zu  verschaffen,  ohne  sich  um  die 
Mitwelt  im  geringsten  zu  kümmern.  (Man  hüte  sich  übrigens  hier  davor,  dem 
Kinde  etwa  seine  Unarten  imitierend  vorzuführen,  weil  es  sich  dann  leicht 
verletzt  fühlen  könnte  und  auch  außerdem  die  Disziplin  darunter  leidet.) 

Was  hier  der  Pädagoge  durch  sorgfältiges  Eingehen  auf  die  zahllosen  indi- 
viduellen Eigenheiten  der  nervösen  Schüler  erreichen  kann,  wkd  stets  von 
seinem  persönlichen  erzieherischen  Takt  und  seinem  Verständnis  für  die 
Psyche  nervöser  Kinder  abhängen.  Das  Ideal  der  Tätigkeit  eines  Päda- 
gogen ist  natürlich,  daß  sich  nervöse  und  empfindliche  Schüler  in  der  Schule 
ebenso  wohl  und  sicher  fühlen  wie  zuhause. 

Was  die  Lektüre  Nervöser  angeht,  so  ist  hier,  wie  schon  bei  gesunden 
Kindern,  erst  recht  die  sogenannte  Schundlektüre  vollkommen  zu  ver- 
meiden; auch  die  Zeitungslektüre  wird  nur  nach  vorheriger  Durchsicht  des 
Elattes  zu  gestatten  sein.    Vor  allem  soll  ein  nervöses  Kind  keine  Schilde- 


Schülernervoaität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.     321 

rungen  von  aufregenden  Gerichtsverhandlungen,  Unglücksfällen  und  der- 
gleichen in  die  Hand  bekommen.  Wir  haben  ja  in  Deutschland  eigentlich 
kaum  eine  gute  Jugendzeitschrift,  die  die  Kinder  über  Aktualitäten  infor- 
miert. Es  wird  also  Aufgabe  des  Pädagogen  sein,  durch  Erzählungen  und 
Berichte,  soweit  das  in  der  Schule  überhaupt  möglich  ist,  die  Kinder  über 
die  Begebenheiten  in  der  Welt,  für  die  sie  sich  naturgemäß  interessieren, 
auf  dem  Laufenden  zu  erhalten.  In  jedem  Falle  ist  die  Erweckung  krank- 
hafter Phantasiegebilde  zu  vermeiden,  wozu  die  schlechte  Auswahl  der 
Lektüre  wohl  beitragen  kann.  Eine  Liste  empfehlenswerter  Jugendschriften 
ist  ja  vom  Dürerbund  und  von  der  Hamburger  Lehrerschaft  herausgegeben 
worden.  Im  großen  und  ganzen  ist  diese  Wahl  zu  billigen,  die  man  dort  ge- 
troffen hat.  Nur  hüte  man  sich,  dem  Kinde  allzu  trockene  und  lehrhafte 
Schriften  in  die  Hand  zu  geben.  Grerade  das  nervöse  Kind  wird  sich  dann 
mit  Recht  abgestoßen  und  gelangweilt  fühlen.  Es  ist  hier  nicht  unsere  Auf- 
gabe, eine  derartige  Liste  noch  einmal  herzustellen,  und  wir  möchten  daher 
nur  kurz  auf  die  bekannte  Schrift  von  F.  Johannesson  verweisen:  ,,Was 
sollen  unsere  Jungen  lesen?" 

Ich  komme  nun  zur  Besprechung  einiger  Ratschläge  technischer  Art,  die 
der  Lehrende  kennen  muß,  wenn  er  im  Unterricht  prophylaktisch  und  thera- 
peutisch der  Schülernervosität  entgegentreten  will.  Ich  möchte  da  zuerst 
einiges  über  die  Einteilung  einer  Lehrstunde  sagen,  wie  sie  mir  vom  hygie- 
nischen Standpunkt  aus  für  den  Nervösen  zweckdienhch  erscheint.  Der 
erste  Grundsatz,  der  hierbei  zu  beachten  ist,  ist  der,  daß  eine  Überanstren- 
gung des  Nervensystems  auf  alle  Fälle  verhütet  werden  muß.  Einer  solchen 
Überanstrengung,  die  meistens  an  der  körperlichen  und  geistigen  Ermüdung 
des  Nervösen  zu  erkennen  ist,  wird  man  mit  Erfolg  dadurch  vorbeugen,  daß 
man  eine  gewisse  Abweclislung  in  eine  Lehrstunde  hineinbringt.  Man  wird 
daher  einer  abstrakten  Denktätigkeit  mechanische  Arbeit  folgen  lassen. 
Da  es  gerade  für  Nervöse  schwierig  ist,  sich  in  cinemfort  mit  derselben  Ge- 
dankenreihe zu  beschäftigen,  so  wird  man  es  ihm  leichter  machen,  wenn  man 
den  Gegenstand  des  Denkens  wechselt.  Hierfür  ein  Beispiel:  der  Schüler 
rechne  zehn  Minuten  mit  Brüchen  im  Kopf,  in  den  nächsten  zehn  Minuten 
wird  man  ihm  interessante  Textaufgaben  vorlegen,  um  dann  erst  zu  schrift- 
licher Darstellung  überzugehen.  Auch  in  den  Grenzen  der  Denktätigkeit  der 
Schüler  selbst  muß  eine  Schranke  erblickt  werden,  über  die  der  Lernende 
nicht  ungestraft  vorübergehen  darf,  wenn  er  nicht  das  Wohl  gerade  der  ner- 
vösen Schüler  aufs  äußerste  schädigen  will.  Wenn  irgendwo  das  Wort  „va- 
riatio  delectat"  am  Platz  ist,  ist  es  hier.  Eine  Unterbrechung  der  geistigen 
Arbeit  durch  körperliche  —  etwa  eine  kleine  Turnübung  in  der  Klasse,  aber 
nur  bei  offenen  Fenstern  —  wird  einer  völligen  Ermüdung  des  Geistes  vor- 
beugen. Was  die  Einteilung  einer  Lehrstunde  angeht,  so  ist  noch  zu  be- 
merken, daß  man  mit  der  Prüfung  der  häuslichen  Aufgaben  nicht  bis  zum 
Schluß  warten  soll,  weil  die  nervösen  Kinder,  die  sich  naturgemäß  vor  jeder 
Prüfung  ein  wenig  fürchten,  stark  beunruhigt  werden  und  sie  die  dazwischen- 
liegende Zeit  nicht  ordentlich  aufpassen.  Diese  meine  Ausführungen  stützen 
sich  auf  meine  Erfahrungen  und  auf  die  praktischen  Versuche,  die  Männer, 
wie  Mosso,  Weygandt,  Lorenz,  Briesbach  u.  a.  in  betreff  der  Ermüd- 

ZcltschriU  (.  pAdagog.  Psychologie.  21 


322      Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

barkeit  angestellt  haben.  Sie  kommen  einmütig  zu  dem  Schluß,  daß  die 
richtige  Ordnung  und  Abwechslung  in  der  geistigen  Arbeit  ein  Schutz  gegen 
die  Nervosität  ist. 

Ferner  ist  das  Placieren  der  Schüler  im  Klassenraum  für  die  Gesundheit 
der  Nerven  unserer  Schuljugend  von  großer  Wichtigkeit.  Es  gibt  allerdings 
immer  noch  Schulen,  in  denen  die  Kinder  nach  jeder  schriftlichen  Ai'beit, 
ja  sogar  nach  jeder  mündlichen  Leistung  gesetzt  werden.  Ganz  abgesehen 
davon,  daß  diese  wöchentliche,  tägliche,  ja  mitunter  sogar  stündliche  Loka- 
tion eine  Störung  für  den  Unterricht  bedeutet,  ruft  sie  auch  in  dem  Gemüts- 
leben gesunder  und  erst  recht  nervöser  Kinder  gi^oße  Emotionen  hervor,  die 
auf  die  Dauer  unter  Umständen  die  Gesundheit  des  Nervensystems  zu 
unterwühlen  geeignet  sind.  Man  könnte  solche  Aufregung  den  Kindern  er- 
sparen und  schädlichen  Wirkungen  aus  dem  Wege  gehen,  wenn  man  dieses 
Placieren  überhaupt  vermeiden  wollte.  Die  Angst  vor  dem  ,, Herunter- 
kommen" ruft  gerade  bei  nervösen  Kindern  häufig  genug  eine  zitternde  Un- 
sicherheit hervor,  die  das  Wissen  und  die  Leistungen  sehr  stark  beeinflussen 
kann.  Das  geht  mitunter  sehr  weit :  Schüler,  die  sonst  den  Lehrer  durchaus 
befriedigen,  versagen  vollkommen,  weil  sie  die  Strafe  und  den  Tadel  fürchten, 
die  doch  in  dem  Herunterkommen  stecken.  Diese  moralischen  Depressionen 
führen  entweder  zu  einer  vollkommenen  Abgestumpftheit  des  nervösen 
Schülers,  oder  sie  steigern  seine  Reizbarkeit  derartig,  daß  er  für  denUnterricht 
überhaupt  nicht  mehr  in  Betracht  kommt. 

Ferner  halte  ich  das  allzu  häufige  Zensieren  der  Schülerleistungen  für 
eine  Gesundheitsschädigung  der  Nerven.  Jeder,  der  einmal  in  der  Klasse 
unterrichtet  hat,  weiß,  daß  schon  gesunde  Kinder  beim  Aufruf  ihres  Namens 
häufig  zusammenzucken,  —  um  wieviel  mehr  wird  das  bei  den  Nervösen  der 
Fall  sein.  (Ich  verweise  auch  hier  auf  die  ausgezeichnete  Schilderung  einer 
derartigen  Gemütsverfassung  in  den  ,, Buddenbrooks"  von  Thomas  Mann, 
Schulstunde  des  kleinen  Hanno.)  Es  zeigen  sich  in  diesen  Fällen  oft  nervöse 
Angstzustände  oder  wahre  Angstanfälle,  wenn  der  Lehrende  im  Beisein  des 
Kindes  die  Leistungen  zensiert.  Es  empfiehlt  sich  daher,  derartige  Notizen 
sofort  nach  der  Stunde,  jedenfalls  nicht  im  Beisein  nervöser  Kinder  zu 
machen.  Dabei  wolle  man  sich  mit  den  Leistungen  derartig  veranlagter 
Schüler,  ohne  gerade  ungerecht  zu  werden,  leichter  zufrieden  geben  als  mit 
denen  gesunder  Kinder.  Auch  wird  man  vermeiden  müssen,  daß  der  Ner- 
vöse in  außergewöhnliche  Angst  oder  exaltierte  Freude  infolge  übertriebener 
Tadel  oder  Lobeserhebungen  gerät;  hierin  maßhalten  heißt  die  Nerven  der 
Schüler  schonen.  Ich  sprach  eben  von  dem  Aufrufen  der  Schüler  durch  den 
Lehrer;  ich  möchte  noch  hinzufügen,  daß  gerade  nervösen  Kindern  viel 
Aufregung  erspart  bliebe,  wenn  der  Lehrende  beim  Herannehmen  der  Schüler, 
denen  er  häusliche  Pensen  abhört,  kein  bestimmtes  System  anwendet,  das 
die  Schüler  in  die  Lage  versetzt,  sich  vorher  auszm^echnen,  wenn  sie  heran- 
kämen. Mütter  haben  mir  des  öfteren  schon  erklärt,  daß  ihre  Kinder  eine 
schlaflose  Nacht  hatten,  weil  sie  vermuteten,  am  anderen  Tage  einer  strengen 
Prüfung  unterzogen  zu  werden.  Es  kommt  in  der  Tat  vor,  daß  solche  Kinder 
noch  des  Nachts  im  Bett  das  unter  dem  Kissen  versteckte  Buch  hervorholen, 
um  zu  lernen,  ohne  daß  die  Eltern  etwas  davon  ahnen.    Wenn  es  sich  auch 


Schülemervosität  und  ihre  prophylsdctische  Behandlung  im  Unterricht.       323 

in  solchen  Fällen  meist  um  neurasthenische  Kinder  handelt,  so  ist  es  doch 
angebracht,  derartige  Prüfungen  weder  vorher  anzukündigen  noch  durch 
irgendwelche  Andeutungen  erwarten  zu  lassen. 

Jeder  Schulmann  wird  vollends  einen  tüchtigen  Schulhygieniker  abgeben, 
wenn  er  u.  a.  darauf  achten  wollte,  daß  die  nervösen  Kinder  in  jeder  Pause 
etwas  essen ;  denn  gerade  sie  müssen  nach  den  Aussprüchen  der  Nervenärzte 
recht  oft  Nalu'ung  zu  sich  nehmen.  Man  weiß  aber,  daß  Nervöse  sich  häufig 
in  den  Pausen  vergessen,  wo  das  Spiel  ihre  ganze  Aufmerksamkeit  absorbiert. 
Ich  pflege  daher  jeden  Schüler  mit  dem  Frühstück  in  der  Hand  in  die  Pause 
gehen  zu  lassen;  dann  ist  doch  wenigstens  einige  Garantie  gegeben,  daß  er 
ißt.  Hierbei  ist  auch  die  Gelegenheit  geboten,  die  Schüler  darauf  aufmerk- 
sam zu  machen,  daß  eine  regelmäßige  Lebensweise  und  eine  vernünftige  Er- 
nährung zwei  wesentliche  Faktoren  für  das  gedeihliche  Wachstum  und  die 
körperliche  Gesundheit  jedes  Menschen  sind  und  daß  Alkohol,  Nikotin 
und  Koffein  geradezu  ein  Gift  für  die  Nerven  unserer  Jugend  bedeuten. 
Man  sage  nicht,  daß  der  Pädagoge  in  dieser  Beziehung  zu  wenig  Einfluß  auf 
das  häusliche  Verhalten  seiner  Schüler  habe.  Ich  kann  vom  Gegenteil  be- 
richten! Wie  kindlich  klang  es,  als  eine  Mutter  mir  einst  erzählte,  daß  ihr 
Sohn  ein  Glas  Bowle  mit  den  Worten  zurückgewiesen  habe:  „Der  Lehrer 
hat  gesagt,  das  sei  Gift".  Hat  einmal  das  Kind  von  früh  an  den  Alkohol 
meiden  gelernt,  so  wird  es  ihm  später  als  Erwachsenem  nicht  schwer  fallen, 
diesemGenuß  völlig  zu  entsagen.  (Ich  habe  übrigens  gefunden,  daß  besonders 
jüdische  Eltern  ihren  Kindern  hierin  mit  gutem  Beispiel  vorangehen.) 

Um  überhaupt  seine  Zöglinge  in  bezug  auf  ihren  Gesundheitszustand 
schnell  und  genau  kennen  zu  lernen,  empfiehlt  es  sich  für  den  Lehrenden, 
darauf  hinzuweisen,  daß  die  Eltern  in  Krankheitsfällen  ihrer  Kinder  der 
Schule  mehr  und  Genaueres  über  die  Ursache  und  den  Verlauf  der  Krank- 
heit berichten,  als  der  obligate  Entschuldigungszettel  enthält.  Da  wäre  es 
z.  B.  sehr  interessant,  über  das  Verhalten  des  Kranken  einiges  zu  hören, 
über  die  Häufigkeit  seiner  Krankheiten  in  seiner  frühesten  Jugend  und  der- 
•  gleichen.  Solche  Krankheitsbilder  und  Krankheitsgeschichten  sind  immer 
wertvoll  für  den  Pädagogen,  der  dann  vielleicht  prophylaktische  Maßregeln 
im  Interesse  des  Schülers  treffen  kann.  So  konnte  ich  jüngst  einer  Mutter 
außerordentlich  dankbar  sein,  die  mir  folgenden  Entschuldigungsbrief  zu- 
gehen ließ.  (Ich  zitiere  hier  wörtlich  nach  dem  Original.)  „Berlin,  24.  10.  13. 
S.  g.  Herr  Doktor!  Bei  Martin  stellten  sich  gestern  starke  Kopfschmerzen, 
Neigung  zum  Erbrechen  und  ein  immerwährender  Drang  in  der  Blase  ein. 
Auch  sah  er  im  Schlaf  immer  allerhand  Gespenster.  Es  sind  dieselben  Zu- 
stände, die  sich  bisher  nach  starken  Erregungen  bei  dem  Jungen  einzustellen 
pflegen  . . ."  Dieses  Krankheitsbild  zeigte  mir  deutlich,  daß  ich  es  mit 
einem  schwer  von  der  Neurasthenie  belasteten  Schüler  zu  tun  hatte,  eine 
Erkenntnis,  die  für  mich,  wie  man  wohl  verstehen  wird,  von  der  allergrößten 
Bedeutung  war,  zumal  der  Schüler  erst  gerade  in  meiner  Klasse  Aufnahme 
gefunden  hatte. 

Es  würde  mich  zu  weit  führen,  wenn  ich  sämtliche  Einzelheiten  hier  auf- 
zuzählen versuchte,  die  der  Lehrende  bei  der  Bekämpfung  der  Schülernervo- 
sität zu  beobachten  hat ;  es  wird  stets  Sache  des  erzieherischen  Taktes  sein, 

21» 


324      Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

im  Unterricht  alles  das  herauszufinden,  was  zur  Verminderung  der  Nerven- 
krankheiten beiträgt,  und  auch  das  zu  unterlassen,  was  irgendwie  ihre  För- 
derung bewirken  könnte. 

Auch  außerhalb  der  Klasse  ist  es  Aufgabe  und  Pflicht  des  Lehrenden,  sich 
um  nervöse  Schüler  besonders  zu  kümmern.  Er  soll  und  muß  innerhalb  und 
auch  außerhalb  des  von  der  Schule  gesetzten  Rahmens  mit  den  Eltern  über 
nervöse  Kinder  konferieren.  Es  ist  auf  jeden  Fall  für  den  Lehrenden  von 
Wichtigkeit,  gerade  diesen  Eltern  einmal  gegenübergestanden  zu  haben,  um 
zu  erkennen,  ob  sie  selbst  nervös  sind.  Wie  schon  Kollarits,  Strümpell 
und  andere  betonen,  können  nervöse  Eltern  und  besonders  die  nervöse 
Mutter  einen  entschieden  ungünstigen  Einfluß  auf  das  Kind  ausüben.  Ihre 
Suggestion,  der  Nervöse  ja  überhaupt  außerordentUch  leicht  unterliegen, 
wird  durch  das  Zusammenleben  gefördert,  und  man  hat  in  solchem  Falle 
wohl  ernsthafte  Erwägungen  darüber  anzustellen,  ob  man  ein  solches  Kind 
von  den  Eltern,  von  der  Mutter  trennen  soll.  Die  Frage  ist  deswegen  so  sehr 
schwer  zu  entscheiden,  weil  man  sich  ja  dann  gewöhnlich  nicht  klar  darüber 
ist,  wohin  man  das  Kind  zu  geben  hat.  Man  denkt  wohl  in  erster  Linie  an 
Verwandte.  Dem  ist  aber  im  allgemeinen  zu  widerraten,  weil  gerade  die 
Verwandten  kaum  die  nötige  Objektivität  zur  Erziehung  besitzen  und  auch 
wohl  selbst  von  der  etwa  vorhandenen  Familiennervosität  infiziert  sein 
können.  Auf  alle  Fälle  ist  ein  schwer  neurasthenisches  Kind  auf  längere 
Zeit  vom  Schulbesuch  auszuschließen.  An  dieser  Stelle  den  Wert  der  Schul- 
bildung gegenüber  einer  nicht  völlig  normalen  Konstitution  zu  betonen, 
heißt  die  Aufgabe  der  Schule  ganz  falsch  einschätzen ;  und  diese  Anschauung, 
die  oft  genug  von  den  Eltern  vertreten  wird,  hat  schon  viel  Unheil  ange- 
richtet. Ich  weiß  aus  meiner  Schulpraxis,  daß  die  Eltern  sehr  häufig  meine 
Warnungen  unbeachtet  ließen  und  es  manchmal  erst  der  energischen  Auf- 
forderung des  Arztes  bedurfte,  bis  sie  sich  dazu  entschlossen,  ihi*en  nervösen 
Kindern  einen  Landaufenthalt  oder  dergleichen  zu  bieten,  wo  der  neurasthe- 
nische  Zustand,  wenn  auch  nicht  immer  vollkommen  ausgeheilt,  so  doch 
wenigstens  gebessert  und  die  schrankenlose  Entfaltung  seiner  Symptome 
gehemmt  wurde.  Möchten  doch  gerade  hier  die  Eltern  und  Erzieher  immer 
das  treffliche  Wort  Jean  Pauls  beherzigen:  ,,Wer  der  Weisheit  die  Ge- 
sundheit opfert,  hat  meistens  auch  die  Weisheit  mitgeopfert." 

Bleibt  ein  nervöses  Kind  aber  in  der  Schule,  dann  kann  der  Lehrende 
auch  seinerseits  mit  taktvollem  Geschmack  versuchen,  in  gewisse  Familien- 
eigentümhchkeiten  so  weit  einzudringen,  daß  er  das  Verhalten  des  Kindes 
besser  verstehen  kann,  —  er  wird  sich  allerdings  hüten,  hier  das  zulässige 
Maß  zu  überschreiten.  Er  soll  vor  allen  Dingen  für  eine  geordnete  Lebens- 
weise des  Nervösen  sorgen.  Der  Anregungen,  die  er  auf  diesem  Gebiete 
geben  kann,  sind  unzählige.  Es  ist  nicht  meine  Aufgabe,  hier  diese  gesamten 
Teilfaktoren  aufzuzählen,  sondern  nur  noch  einmal  die  wichtigsten  heraus- 
zugreifen. In  erster  Linie  wird  der  Lehrende  darauf  dringen  müssen,  daß  ein 
nervöses  Kind  unter  allen  Umständen  Sport  treibt.  Es  ist  bei  dieser  Gelegen- 
heit außerordentlich  leicht,  seine  Zaghaftigkeit,  seine  Unsicherheit  und 
seinen  Mangel  an  persönlichem  Mut  zu  beseitigen,  ohne  daß  es  sich  dessen 
bewußt  zu  werden  braucht.    Allerdings  muß  auch  hier  mit  großer  Vorsicht 


Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht.      325 

verfahren  werden.  Ich  entsinne  mich  einiger  Fälle,  in  denen  übermütige 
Kameraden  und  die  verkehrte  Strenge  der  Lehrer  dem  betreffenden  Knaben 
das  Schwimmen  derart  verleidet  hatten,  daß  ich  monatelang  brauchte,  um 
seine  fast  unbezwingbare  Scheu  vor  dem  Wasser  zu  überwinden.  Ich  vermied 
dabei  alle  körperlichen  Gewaltmittel  und  erreichte  es  nur  durch  gutes  Bei- 
spiel und  Demonstrationen,  daß  der  Junge  Schwimmunterricht  nahm  und 
auch  das  Schwimmen  erlernte.  So  weit  wird  ja  nun  die  Tätigkeit  eines  Schul- 
pädagogen im  allgemeinen  nicht  gehen  können,  aber  er  kann  doch  mit  An- 
regungen und  Vorschlägen  darauf  hinwirken,  daß  das  nervöse  Kind  Sport 
treibt.  Der  immer  wieder  heftig  geäußerte  Wunsch  nervöser  Kinder,  vom 
Turnen  dispensiert  zu  werden,  erklärt  sich  aus  der  Scheu,  ihre  Kraft  ent- 
falten zu  sollen,  und  vielleicht  auch  ein  wenig  aus  Furcht  vor  dem  Gespött 
tüchtigerer  Kameraden.  Der  Lehrende  muß  darauf  dringen,  daß  sogar  noch 
über  den  eigentlichen  Turnunterricht  hinaus  von  Nervösen  Sport  getrieben 
wird.  Er  wird  am  besten  die  Einzelheiten  der  Ausübung  und  ihre  Bestimmung 
den  Eltern  überlassen,  muß  aber  im  allgemeinen  die  mir  häufig  genug  von 
den  Eltern  geäußerte  Ängstlichkeit  gegen  jede  Ausübung  des  Sports  be- 
kämpfen. Als  Sportarten  sind  in  erster  Linie  das  sportmäßige  Marschieren 
und  Wandern  zu  nennen.  Es  wird  stets  die  ideale  Körperbewegung  sein. 
Nach  Chätelin  verlangt  dieser  Sport  vom  Gehirn  ein  Minimum  von  An- 
strengung, er  ist  außerdem  sehr  billig  zu  betreiben  und  kann  zu  jeder  Jahres- 
zeit und  an  jedem  Orte  ausgeübt  werden.  ,,Aus  seinen  Kindern  gute  Spazier- 
gänger zu  machen,  ist  einer  der  größten  Dienste,  die  man  ihnen  erweisen 
kann."  (Chätelin,  „Hygiene  des  Nervensystems",  1912,  S.  58.)  Dagegen 
sind  die  gewaltsamen  Sportsarten  wie  Ski,  Fußball,  Bobsleigh,  weniger  zu 
empfehlen,  da  sie  neben  großen  körperlichen  Anstrengungen  leicht  das 
Gehirn  ermüden.  Anders  steht  es  mit  Lawntennis,  Schlittschuhlauf,  Rad- 
fahren, Schwimmen  und  Rudern,  die  durchaus  für  Nervöse  zu  empfehlen 
sind.  Der  Pädagoge  wird  ferner  einer  Überbürdung  des  Nervösen  mit  Arbeit 
von  Seiten  des  Hauses  entgegenreden,  und  dies  ist  der  einzige  Punkt,  bei  dem 
jeder  Pädagoge  merkwürdigerweise  immer  wieder  auf  den  schärfsten  Wider- 
stand der  Eltern  stößt.  Ich  denke  hierbei  an  überflüssige  Privatstunden,  au 
Musik-,  Malstunden  und  dergleichen.  Man  will  eben  mit  aller  Gewalt  durch- 
drücken und  zeigen,  daß  man  ein  Kind  besitzt,  das  so  gut  wie  alle  anderen 
ist  und  das  so  gut  wie  alle  anderen  sein  Ziel  erreichen  kann.  Wie  oft  war 
mein  Zureden  erfolglos,  den  Jungen  lieber  ein  Jahr  zurückbleiben  zu  lassen 
und  in  Ruhe  und  Muße  ohne  Schädigung  für  seine  Gesundheit  das  aufzu- 
arbeiten, was  ihm  noch  fehlt.  Mir  wurde  jedesmal  entgegnet,  der  Junge 
könne  das  verlangte  Pensum  leisten,  und  man  wies  mich  immer  darauf  hin, 
daß  es  ja  die  übrigen  Klassengenossen  auch  könnten.  Meine  Einwendungen, 
die  sich  auf  die  notorisch  vorhandene  Nervosität  des  Jungen  bezogen,  wurden 
meist  nicht  gehört.  Gerade  hier  wird  einzusetzen  sein:  es  muß  immer  und 
immer  wieder  den  Eltern  gegenüber  gesagt  werden,  daß  eine  gewisse  ruhige 
Gleichmäßigkeit  im  Arbeiten  ohne  hastige  Überbürdung  nötig  ist,  um  den 
Nervösen  überhaupt  schulfähig  zu  erhalten.  Dazu  gehört  das  Vermeiden  von 
allzuvielcn  Privatstunden,  Schlaf  nach  Tisch  und  eine  Pause  von  mehreren 
Stunden  zwischen  der  Schulzeit  und  dem  Arbeiten.  Ebenso  ist  ein  mindestens 


326      Schülernervosität  und  ihre  prophylaktische  Behandlung  im  Unterricht. 

zweistündiger  Aufenthalt  in  frischer  Luft  tägUch  erforderhch.  In  allen 
Fällen,  in  denen  diese  Anforderungen  nicht  erfüllt  werden,  wird  der  neur- 
asthenische  Zustand  eines  Schülers  sich  derart  verschlimmern,  daß  ein  wei- 
teres Verbleiben  an  einer  öffentlichen  Anstalt  von  dauerndem  Schaden  für 
den  Schüler  sein  wird.  Bei  einigem  guten  Willen  aber,  bei  energischer  Mit- 
hilfe der  Eltern  und  ständiger  Überwachung  des  Lehrenden  wird  es  sich 
sehr  oft  ermögUchen  lassen,  daß  auch  ein  so  veranlagter  Schüler  mit  Erfolg 
durch  die  Schule  geht. 

Häufig  genug  wird  der  Lehrende,  wenn  er  mit  der  Familie  des  Nervösen 
auf  einem  etwas  vertrauteren  Fuß  steht,  vor  die  Frage  gestellt  werden,  was 
denn  aus  dem  Kinde  nach  Abschluß  der  Schulzeit  eigentlich  werden  solle. 
Die  Ratschläge,  die  man  in  dieser  Beziehung  geben  kann,  werden  im  allge- 
meinen nicht  allzu  inhaltsreich  ausfallen.  SchÜeßhch  kann  der  Nervöse 
infolge  seiner  Veranlagung  in  jeder  Laufbahn  scheitern,  und  die  Meinungen 
der  Ärzte,  deren  Sache  es  in  letzter  Linie  doch  ist,  hierüber  zu  entscheiden, 
gehen  weit  auseinander.  Daß  der  Nervöse  nicht  zum  Gelehrten  tauge,  wird 
lebhaft  bestritten.  Jeder  Stand  hat  für  den  Nervösen  vom  medizinischen 
Standpunkt  aus  seine  Vorteile  und  Nachteile,  und  der  Pädagoge  wird  im 
allgemeinen  sich  w^ohl  nur  darauf  beschränken  können,  in  einer  gemeinschaft- 
lichen Unterredung  dem  Hausarzt  zweckdienliche  Angaben  aus  dem  Leben 
des  Nervösen  zu  machen.  Im  allgemeinen  kann  man  wohl  den  Satz  formu- 
lieren, daß  ein  Schwernervöser  eben  in  keinem  Berufe  etwas  taugt,  daß  aber 
ein  Leichtnervöser  sehr  wohl  überall  ohne  Schaden  für  sich  und  seine  Um- 
gebung tätig  sein  kann.  Derartige  Fragen,  überhaupt  auch  solche  hygie- 
nischer Natur,  könnten  an  den  Elternabenden,  die  ja  schon  an  vielen  Schulen 
eingeführt  sind,  behandelt  werden.  Es  wäre  w^ünschenswcrt,  wenn  an  diesen 
auch  Schulärzte  teilnehmen.  Durch  Vorträge  und  Diskussionsbelehrungen 
könnten  die  Eltern  über  viele  Probleme  unterrichtet  werden.  Leubusch  er 
sagt  hierzu  (Schultätigkeit  und  Schulgesundheitspflege):  ,,Vor  allen  Dingen 
kann  bei  dieser  Gelegenheit  den  Eltern  der  Zweck  der  schulärztlichen  Insti- 
tution und  besonders  auch  der  Zweck,  den  die  Mitteilungen  über  Fehler  und 
Krankheiten  ihrer  Kinder  anstreben,  erörtert  und  klargestellt  werden.  Zu- 
gleich ist  auch  bei  diesen  Zusammenkünften  die  Möglichkeit  gegeben,  den 
Eltern  Mittel  und  Wege  zur  Beseitigung  der  krankhaften  Störungen  zu 
weisen.  Die  Wichtigkeit  des  schulärztlichen  Amtes  kann  keineswegs  hoch 
genug  geschätzt  werden.  Bei  den  in  Aussicht  genommenen  Versammlungen 
fällt  nämlich  dem  Schularzt  neben  dem  Lehrer  die  hauptsächlichste  Tätig- 
keit zu.  Die  Nützlichkeit  derartiger  Elternabende  ist  in  der  Literatur  vielfach 
betont  worden,  insbesondere  auch  von  pädagogischer  Seite.  Gerade  dadm^ch, 
daß  an  diesen  Elternabenden  Schularzt  und  Lehrer  gemeinschaftlich  an  der 
Aufklärung  teilnehmen,  wird  die  Eimichtung  geeignet  sein,  auch  bei  den 
Lehrern  selbst  Interesse  an  der  Schularztiustitution  und  an  der  Hygiene 
wachzurufen."  Auch  wü'd  meiner  Ansicht  nach  durch  diese  Elternabende 
ein  Zusammenschluß  zwischen  Schule  und  Haus  erreicht,  der  schon  seit 
langer  Zeit  angestrebt  wird. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfälligkeit  usw.  327 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  und 
Urteilsbeständigkeit  der  Schulkinder. 

Von  Artur  Lode. 

Durch  meine  Untersuchungen  über  „Die  Unterrichtsfächer  im  Ur- 
teile der  Schulkinder"*),  die  ergaben,  daß  man  bei  Schulkindern  nicht 
von  einer  Urteilsfähigkeit  in  dem  Maße  reden  kann,  wie  man  bishef  wohl 
geglaubt  hatte,  daß  ferner  ihr  Urteil  in  weitaus  den  meisten  Fällen  beein- 
flußt ist  durch  Zufälligkeiten  und  Äußerlichkeiten,  wurde  ich  veranlaßt, 
der  Frage  näher  zu  treten :  Sind  Schulkinder  fähig,  überhaupt  ein  feststehen- 
des,  abschließendes   Urteil  über  irgend  eine   Sache  abzugeben? 

Die  Frage  ist  leichter  gestellt,  als  beantwortet.  Meine  Arbeit  wird  auch 
nur  eine  Teilarbeit  sein  und  zwar  insofern,  als  sie  zeigen  will,  ,,in  welchem 
Maße  man  von  einer  Urteilsbeständigkeit  reden  kann,  wenn 
Kinder  über  Bilder  urteilen  sollen". 

Um  eine  Antwort  auf  diese  Frage  zu  erhalten,  stellte  ich  Massenversuche 
an  mit  Knaben  der  letzten  drei  Schuljahre,  also  11-  bis  14  jährigen 
Kindern. 

Auf  einem  Gestelle  hatte  ich  in  symmetrischer  Anordnung  15  Bilder  auf- 
gehangen. Beim  Betrachten  saßen  jedesmal  in  2  Reihen  hintereinander 
je  4  Kinder,  so  daß  alle  8  die  Bilder  gut  überschauen  konnten.  Die  Schüler 
bekamen  folgende  Anweisungen:  ,,Ihr  seht  diese  Bilder.  Schaut  sie  Euch 
recht  genau  an!  Dann  sollt  Ihr  Euch  die  drei  Bilder  aufschreiben,  die 
Euch  am  besten  gefallen  und  zwar  so,  daß  Ihr  das  allerliebste  an  erster 
Stelle  schreibt!  Hinter  jedes  Bild,  das  Ihr  ausgewählt  habt,  schreibt  Ihr 
dann  noch,  warum  es  Euch  gefällt !  —  Dann  schreibt  noch  das  Bild  auf, 
das  Euch  am  wenigsten  gefällt  und  ebenfalls  dazu  warum!  —  Auf  den  bereit- 
liegenden  Zettel  hatten  die  Schüler  vorher  ihren  Namen,  das  Alter  und  die 
letzte  ,, Hauptzensur"  geschrieben.  Da  die  Mehrzahl  der  Schüler  beim  1.  Ver- 
suche (d.  i.  bei  der  ersten  Untersuchung  der  ersten  8  Schüler)  zur  Beantwor- 
tung 15  Min.  gebraucht  hatte,  wurde  diese  Zeit  als  Norm  für  alle  folgenden 
Versuche  beibehalten  und  von  nur  einigen  ganz  langsamen  um  2  bis 
3  Min.   überschritten. 

Die  ausgewählten  Bilder  stammten  zum  größten  Teile  aus  der  Seemannschen 
Sammlung  ,, Meister  der  Farbe",  2  Bilder  aus  der  Teuerdanksammlung, 
2  Bilder  waren  Rasterdrucke  aus  Zeitschriften,  ein  Bild  war  das  Titelblatt 
eines  Indianerschundromans,  und  das  Lutherbild  war  das  Titelbild  der  Luthor- 
nummer  der  „Jugend".  Das  Indianerbild  war  wie  alle  übrigen  Bilder  auf 
graues  Fliespapier  aufgezogen,  so  daß  seine  Herkunft  nicht  durch  die  „äußere 
Aufmachung"  zu  erkennen  war. 

Ihrem  Inhalte  nach  stellten  die  Bilder  dar: 

1.  Die   Überfahrt  am   Schreckenstein  (farbig)  v.   Lud.   Richter. 

2.  Frühlingsabend  in  der  Heide  (f.)  v.  Franz  Hoffmann-Fallersleben. 


>)  Zeitschr.  f.  pädagog.  Psych,  u.  exp.  Päd.    13.  Jahrg.  S.  201  f.,  320f..  3r>9f. 


328  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 

3.  „Lasset  die  Kinder  zu  mir  kommen"  (f.)  v.  Gebliard  Hügel. 

4.  Kreuzigung  Christi  (f.)  v.   Karl   Schmauk. 

5.  Rehe  im  Walde  (f.)  v.  Christopher  Drathmann. 

6.  Königstiger  (schw.)  Ausgew.  B.  aus  der  111.   Ztg.   (L.  L.-Ver.). 

7.  Gute  Freunde  (f.)  v.  Theod.  Kleehaas. 

8.  Blinder   Bettler  (f.)  v.    J.   L.   Dyckmans. 

9.  Geographieunterr.  i.  d.  Dorfschule  (f.)  v.  Carl  Hertel. 

10.  'Stierkampf  (schw.)   Zeitungsbild. 

11.  Luther  (f)  v.  Karl  Bauer  aus  der  „Jugend". 

12.  Am  Wegweiser  (schw.)  Zeichnung  v.  E.   Liebermann;   Teuerd. 

13.  Morgenlied  (schw.)  Zeichnung  v.  Hirzel.     Teuerd. 

14.  Napoleon  I.  (f.)  v.  Delaroche. 

15.  Kampf  mit  Indianern   (f.)   Sammlung  „Sitting  Bull". 

Die  Versuche  fanden  dreimal  statt  und  zwar  so,  daß  zwischen  dem  1.  und 
2.  Vers,  stets  ein  Zeitraum  von  einer  und  zwischen  dem  2.  und  3.  Vers,  ein 
solcher  von  4  Wochen  lag. 

Warum  3  Versuche  ?  Nur  einige  Wiederholungen  konnten  den  Beweis 
erbringen,  ob  man  von  einem  feststehenden  Urteile  bei  den  Kindern  reden 
kann  oder  nicht.  Es  war  ja  von  vornherein  anzunehmen,  daß  die  Schüler 
nach  dem  1.  Versuche  sich  lebhaft  über  die  ,, schönsten  und  schlechtesten" 
Bilder  unterhalten  würden.  Und  das  geschah  nach  meinen  Beobachtungen 
in  ziemlich  lebhafter  Weise.  Die  Beeinflussung  durch  die  Unterhaltung 
mußte  sich  nun  bei  einem  2.  Versuche,  der  bald  nach  dem  ersten  stattfand, 
in  der  Weise  zeigen,  daß  dies  oder  jenes  Bild  mehr  oder  weniger  gewählt 
wurde.  Wir  werden  später  sehen,  daß  sich  diese  Vermutung  bei  einigen  Klas- 
sen nicht  in  dem  Maße  bestätigte,  als  erwartet  worden  war.  —  Der  3.  Ver- 
such sollte  zeigen,  ob  die  Schüler,  wenn  sie  beim  2.  Vers,  ihre  Angaben  ge- 
ändert hatten,  nun  bei  dieser  Auswahl  stehen  bleiben  würden.  Damit  die 
Erinnerung  den  3.  Vers,  nicht  zu  sehr  beeinflusse,  wurde  der  Abstand  von 
4  Wochen  gewählt. 

Nun  zu  den  Ergebnissen.  Zunächst  zeige  ich  die  Ergebnisse  in  jeder 
einzelnen  Klasse. 

A.  30  Schüler  aus  einer  3.  Kl.  (Klasse  für  schwachbefähigte  Schüler 
mit  den  Fortschrittszensuren  III  u.  Illb).  Diese  Klasse  setzte  sich  zusammen 
aus  17  Schülern  im  Alter  von  13  bis  14  Jahren,  aus  9  Schülern  im  Alter 
von  12  Jahren  und  aus  4  Schülern  im  Alter  von  11  Jahren,  den  einzigen, 
die  bisher  noch  nicht  sitzen  geblieben  waren!  — 

Beim  1.  Versuche  waren  als  ,, beliebteste"  Bilder  ausgewählt  worden 
vor  allem  Indianerkampf  und  Kreuzigung,  ferner  der  Stierkampf 
und  die  Überfahrt  am  Schreckenstein.  Diese  Bilder  bekamen  auch 
beim  2.  u.  3.  Versuche  die  meisten  Stimmen,  nur  trat  der  Schreckenstein 
an  die  1.  Stelle  und  die  Kreuzigung  mußte  beim  3.  Vers,  weit  zurücktreten 
und  dem  Bilde  Rehe  im  Walde  seinen  Platz  einräumen.  Die  Tabelle  1 
auf  Seite  330  zeigt  uns,  wie  oft  die  einzelnen  Bilder  (an  allen  3  Stellen  zu- 
sammen) ausgewählt  worden  sind. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


329 


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330 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


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10 

Da  aus  dieser  Tabelle  nicht  hervorgeht,  inwieweit  die  Angaben  jedes 
einzelnen  Schülers  bei  allen  3  Versuchen  übereinstimmen  oder  vonein- 
ander abweichen,  füge  ich  vorstehende  Übersicht  (A)  (S.  329)  bei,  aus  der  ge- 
nau zu  ersehen  ist,  welche  Bilder  jeder  einzelne  Schüler  gewählt  hat  und 
welche  Abweichungen  vom  1.  Versuche  bei  den  folgenden  Versuchen  ein- 
getreten sind. 

Vergleicht  man  in  dieser  Übersicht  A  den  1.  und  2.  Versuch  miteinander, 
dann  erkennt  man,  daß  (die  als  die  schönsten  Bilder  bezeichneten  zunächst 
berücksichtigt) 


in     7  Fällen  (231/3%)   alle  3  Angaben 

in  12       „  (40%)  2 

in     8       ,,       (262/3%)  eine  Angabe 
in     3       „  (10%)  keine 


übereinstimmen. 


Einmal  ist  ein  beliebtes  Bild  des  1.  Vers,  zum  jinbel.  Bilde  beim  2.  Vers, 
geworden;  einmal  ist  sogar  das  eine  beliebte  Bild  zugleich  beim  gleichen  Vers, 
das  unbeliebte! 

Beim  Vergleich   des  2.  Vers,  mit   dem  3.  Vers,  zeigt  sich,  daß 


in  11  Fällen  (36%%)  alle  3  Angaben 

in  11       „  (36%%)  2 

in     6       ,,  (20%)  eine    Angabe 

in     2       „         (6%%)  keine       „ 


übereinstimmen. 


Vergleicht  man  den  1.  und  3.  Versuch  miteinander,  so  findet  man, daß 


in  6  Fällen      (20%)  alle  3  beliebten  Bilder 

in  13       „       (431/3%)  2  beliebte  Bilder 

in  7      „       (231/3%)  1  beliebtes  Bild 

in  4      „       (131/3%)  kein  beliebtes  Bild 


übereinstimmen. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


331 


Bei  einem  Schüler  ist  ein  beliebtes  Bild  des  1.  Versuchs  beim  3.  Vers, 
zum  unbeliebtesten,  bei  2  Schülern  dagegen  ist  das  unbel.  Bild  des  1.  Vers. 
zum  beliebten  beim  3.   Vers,  geworden.  — 

Interessant  ist  noch  folgende  Zusammenstellung : 

Die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern  wird  in  allen  3  Versuchen  über- 
haupt beantwortet  mit 

3  Angaben   von     4  Schülern  (13^3%) 

4  „  „     10  „  (331/3%) 

5  „  „6  „  (20''/o) 

6  „  „6  „  (20%) 

7  „  „4  „  (131/3%). 

Wenden  wir  uns  nun  den  Urteilen  über  die  unbeliebtesten  Bilder  zu, 
so  zeigt  uns  die  zweite  Tabelle,  welche  Bilder  als  ,, unbeliebte"  genannt 
worden  sind: 


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Unsere  Übersicht  über  die  ganze  Klasse  läßt  erkennen,  ob  das  Urteil 
über  das  unbeliebteste  Bild  bei  jedem  einzelnen  Schüler  stets  dasselbe  ge- 
blieben ist.    Wir  finden,  daß 

der  1.  und  2.  Vers,  bei  17  Schülern  (662^3%)    ]  -,,       .     ,. 

der  2.  und  3.      „        „    19         .,  (63i|%)    \  Übereinstimmung 

<l.r  1.  und  3.      „        „    18         „  (60?«) 


zeigen. 


All.    W    Versuche  stimmen  überein  bei  14  Schülern  (46%  %).       Keinerlei 
rin  1,  iri.stimmung  besteht  bei  4  Schülern  (I3I3  %). 

Kine  letzte  Tabelle  (Nr.  3,  S.  332)  zeigt  uns,  wie  oft  die  Versuche 
übereinstimmen,  wenn  man  alle  3  Versuche  gleichzeitig  untereinander 
vergleicht : 


332 


Experimentelle  Untersuchungen   über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


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HH 

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W     = 

334 


Experimentelle   Untersuchungen  über  die  Urteilsfälligkeit  usw. 


B.  40  Schüler  aus  einer  normalen  3.  Klasse  mit  den  Fortschritts- 
zensuren II — III  a.  Dem  Alter  nach  waren  5  Schüler  13  Jahre,  18  Schüler 
12  Jahre  und  17  Schüler  11  Jahre.  Als  schönste  Bilder  erhielten  beim  1.  Ver- 
suche die  meisten  Stimmen  Indianerkampf,  Überfahrt,  Kreuzigung  und  Stier- 
kampf. Beim  2.  Versuche  trat  an  die  1.  Stelle  Überfahrt,  dann  folgte  Indianer- 
kampf (7  Stimmen  weniger  als  beim  1.  Vers.!)  und  mit  gleicher  Stimmenzahl 
Kreuzigung,  Rehe  im  Walde  und  Landschaft.  Beim  3.  Versuche  stand 
wieder  an  1.  Stelle  Überfahrt  (11  Stimmen  mehr,  als  beim  1.  Vers.!),  dann 
reihen  sich  an  Indianerkampf,  Landschaft  und  Rehe  im  Walde.  Einen  ge- 
naueren Einblick  gibt  wieder  die  folgende  Zusammenstellung: 

Tabelle  4. 


i 

-1^ 

1 

1 

1 

1 

2 
\4 

o 
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o 
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1 

17 

11 

6 

14 

9 

6 

3 

1 

2 

13 

7 

4 

2 

1 

24 

2 

22 

14 

9 

14 

14 

2 

2 

1 

3 

6 

9 

6 

— 

1 

17 

3 

28 

16 

9 

10 

9 

4 

3 

1 

1 

5 

8 

6 



20 

Die  vorseitige  Übersicht  (B)  läßt  wieder  die  Abweichungen  vom  1.  Vers, 
bei  jedem  einzelnen   Schüler  erkennen. 

Berücksichtigen  wir  zunächst  wieder  die  ,, beliebten"  Bilder,  dann  läßt 
die  vorstehende  Tabelle  erkennen,  daß  beim    1.  und  2.  Versuche 


in  5  Fällen  (12^4%)  alle  3  Angaben  ' 

in  16       „            (40%)           2  Angaben 

in  10       ,,            (25%)  eine  Angabe 

in  9       „  (2214%)  keine     „ 


übereinstimmen. 


Dreimal  (7^2  %)  ^^^^  beliebte  Bilder  des  1.  Versuches  zu  unbel.  Bildern, 
einmal  (2^2  %)  i^^  ®^^  unbel.  Bild  beim  2.  Vers,  zu  einem  bei.  Bilde 
geworden. 

Bei  einem  Vergleich   zwischen    dem  2.  und  3.  Vers,  zeigt  sich,  daß 


in  10  Fällen  (25%)  alle  3  Angaben 
in  14       „        (35%)  2  Angaben 

in  13       „    (321/2  ?^o)  eine  Angabe 
in     3       „      (71/2%)  keine 


übereinstimmen. 


Viermal  (10  %)  treten  bei.  Bilder  des  2.  Vers,  als  unbel.  Bilder  und  wieder 
einmal  ein  unbel.  Bild  als  beliebtes  beim  3.  Versuche  auf. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


335 


Vergleichen  wir  nun  noch  den  1.  Vers,  mit  dem  3.  Versuche,  so  zeigt 
sich,  daß 

in  7  Fällen  (171/2%)  a^^e  Angaben, 


in  19 
in  10 
in     4 


(471/2%) 


2  Angaben, 


übereinstimmen. 


(25%)  eine  Angabe  und 
(10?^)  keine       „ 

Viermal  (10  %)  treten  beliebte  Bilder  des  1.  Vers,  als  unbel.  Bilder  beim 
3.  Versuche  auf. 

Die  Übersicht  läßt  ferner  erkennen,  daß  die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten 
Bildern  bei  allen  3  Versuchen  beantwortet  wird 

mit  „3"  Angaben  von     5  Schülern  (1214%) 

»  4           „            „6          „  (15%) 

„  5           „            „     10          „  (25%) 

„  6           „            „     14          „  (35%) 

„  7           „            „3          „  (71/2%) 

>>  o            ,,              ,,        J          ,,  (5  /oj- 

Wenden  wir  uns  nun  wieder  den  Urteilen  über  dip  unbeliebtesten 
Bilder  zu,  so  soll  uns  die  folgende  Tabelle  Nr,  5  zunächst  zeigen,  welche 
Bilder  in  dieser  Klasse  am  wenigsten  gefallen  haben. 


Tabelle   5. 


3 

2 


c 


Ol 

£ 

(0 


m 


o 

Ol 


1 


o 
es 


12 


10 


11 


14 


Sa. aller 
3  Vers. 


13 


18 


8 


18 


37 


Aus  der  Übersicht  (siehe  Seite  88!)  ergibt  sich,  daß 

der  1.  und  2.  Vers,  bei  14  Schülern  (     35%) 
„     2.     „     3.      „        „    21         „  (521/2%) 

„    1.     „     3.      „        „    19         „  (471/2%),  ferner,  daß 

alle  3  Versuche       „    13        „  (32 14%)   übereinstim- 

men, aber  ebenfalls     „    13         „  (3214%)    bei    jedem 

Versuche  ein    anderes  unbeliebtes   Bild  genannt  wird. 

Tabelle  Nr.  6  (S.  332)  zeigt  in  übersichtlicher  Weise  wieder  die  wichtigsten 
Ergebnisse  dieser  Klasse.  (Fortaetzung  folgt.) 


336 


Zwei  neue  Ergographen. 


Zwei  neue  Ergographen. 

Von  Georg  Anschütz. 

Die  beiden  neuen  Modelle  von  Ergographen,  die  hier  beschrieben  werden 
sollen,  suchen  ganz  verschiedenen  Anforderungen  gerecht  zu  werden.  Das  eine, 
das  mit  schweren  Gewichten  und  einer  komplizierten  Schreibung  arbeitet,  sucht 
möglichst  allen  Anforderungen  der  Exaktheit  zu  genügen  und  eignet  sich  daher 
hauptsächlich  zu  Untersuchungen  im  Laboratorium.  Das  andere  dagegen  ist 
so  leicht  als  möglich  konstruiert  und  kann  deshalb  in  besonderem  Grade  für 
Massenuntersuchungen  in  Schulen  Verwendung  finden,^) 

In  Fig.  1  ist  das  erstere  Modell  dargestellt.  Der  Arm  der  Vp.  liegt  auf  der 
Armstütze  A,  die  mit  Hilfe  von  vier  seitlich  angebrachten  Handschrauben  je 
nach  Bedarf  höher  oder  tiefer  eingestellt  wird.  Am  Ende  der  Armstütze  befindet 

sich  außerdem  eine  eben- 
falls bewegliche  und  mit 
Hilfe  von  Schrauben  fixier - 
bare  Ellenbogenstütze.  Das 
Handgelenk  und  der  Unter- 
arm werden  durch  zwei  auf 
der  Armstütze  liegende 
Riemen  in  ihrer  eiimial  ein- 
genommenen Lage  festge- 
halten. Die  Hand  umspannt 
die  beiden  Griffe  h  und  6, 
und  führt  so  die  erforderli- 
chenDruckbe  wegungen  aus . 
Im  Gegensatz  zu  dem  al- 
ten Mossoschen  Modell  und 
zahlreichen  Nachahmungen 
und  Verbesserungen  gelan- 
gen bei  diesem  Modell  nicht 
ein  bzw.  mehrere  Gewichte 


Fig.    1. 


zur  Anwendung,  die  an  jedem  Punkte  der  auszuführenden  Druckbewegung 
sich  gleich  bleiben,  indem  sie  nämlich  einfach  an  der  Schnur  gehoben  werden, 
sondern  die  Gewichte  befinden  sich  an  je  einem  Hebel,  der  direkt- durch  die 
Druckbewegung  der  Hand  gehoben  wird.  Auf  diese  Weise  wirkt  nach  den  Hebel- 
gesetzen das  jeweilig  angebrachte  Gewicht  kontinuierlich  stärker,  je  größer  der 
Druck  wird,  und  es  ist  somit  das  Prinzip  der  Feder  auf  die  Verwendung  von 
Gewichten  übertragen  worden.  An  den  beiden  Hebelarmen  können  nun  in  der 
vorliegenden  Konstruktion  je  1,  2  oder  3  Gewichte  angebracht  werden.  In  diesen 
drei  Fällen  entspricht  der  zur  Maximalleistung  zu  vollführende  Druck  einem 
Gewicht  von  20,35  oder  50  kg.  Die  Gewichte  sind  aus  Blei  hergestellt  und  können 
leicht  mit  Hilfe  von  Stiften  eingesetzt  werden.  In  nebenstehender  Zeichnung 
sind  zwei  Gewichte  angegeben. 

^)  Mit  der   freundlichen  Genehmigung   von  Prof,  Meumann   wurden   die  Appa- 
rate für  das  psychologische  Laboratori\im  in  Hamburg  hergestellt. 


Zwei  neue   Ergographen.  337 


Die  Registrierung  der  Leistungen  erfolgt  mit  Hilfe  des  auf  der  Walze  sich 
bewegenden  Schreibers  e,  der  bei  jeder  gegenseitigen  Entfernung  der  Gewichte 
entsprechend  angezogen  wird,  während  ihn  beim  Nachlassen  des  Druckes  die 
Feder  /  wieder  in  seine  ursprüngliche  Lage  zurückzieht.  Der  Faden,  der  den 
Schreibstift  zieht,  läuft  über  zwei  kleine  Rädchen  an  den  beiden  Schenkeln, 
wodurch  bewirkt  wird,  daß  lediglich  die  jeweilige  Stärke  des  Druckes  registriert 
wird,  nicht  aber  eine  irgendwie  zufällige  Bewegung  des  Armes.  Da  nämlich  die 
ganze  Druckvorrichtung  mit  den  Gewichten  an  dem  Punkt  g  aufgehängt  ist, 
so  kann  ein  Pendeln  stattfinden,  ohne  daß  dadurch  ein  Fehler  in  die  Registrierung 
eingeführt  würde.  Die  Beweglichkeit  der  Achse  kann  aber  insofern  nur  einen 
Vorteil  bedeuten,  als  es  durch  sie  ermöglicht  wird,  daß  die  Vp.  Arm  und  Hand 
in  eine  möglichst  bequeme  Lage  bringt. 

Die  Walze  d,  auf  der  der  Schreibstift  läuft,  sowie  die  in  der  Figur  vor  ihr 
befindliche  Walze  d^  und  die  Achse  h  werden  nun  durch  das  Uhrwerk  i  in  langsame 
Rotation  versetzt,  während  man  zwischen  den  beiden  Walzen  d  und  d^  und  der 
Achse  h  das  zur  Registrienmg  dienende  15  cm  breite  Papierband  laufen  läßt. 
Da  das  Uhrwerk,  das  übrigens  bei  einmaligem  Aufziehen  etwa  14  Stunde  läuft, 
auch  während  des  Versuches  vollkommen  geräuschlos  aufgezogen  werden  und 
da  man  ferner  den  Papierstreifen  beliebig  lang  wählen  kann,  so  ist  man  in  der  Lage, 
mit  dem  Apparat  unbegrenzte  Reihen  von  Druckleistungen  aufzunehmen.  Die 
Schreibung  ist  noch  dazu  eine  äußerst  einfache,  da  sie  mit  Bleistift  in 
Kurvenform  auf  Papier  erfolgt.  Mit  Hilfe  einer  einfachen  Eichungs- 
tafel oder  auch  mit  Hilfe  von  entsprechenden  auf  dem  Papierband 
angebrachten  Linien  kann  man  die  Höhe  der  jeweiligen  Leistungen  un- 
mittelbar ablesen,  während  man  ihre  Länge  und  Qualität  aus  der  Gestalt  der 
Kurven  ersieht. 

Eine  Erweiterung  dieses  Modells  ist  augenblicklich  im  Bau.  Bei  ihr  kommt  es 
hauptsächlich  darauf  an,  die  Schreibung  möglichst  umfassend  zu  gestalten. 
Es  ist  nämlich  nicht  eine  einfache,  sondern  eine  vierfache  Schreibung  vorgesehen, 
indem  L  die  Gesamtkurven,  2.  die  Teilkurven  aus  dem  Fingerdruck  allein, 
3.  die  Maximalleistungen  für  sich  und  4.  die  mathematische  Auswertung  der 
Gesamtkurven  registriert  wird.  Erst  wenn  man  auf  solche  Weise  alle  Seiten  einer, 
wenn  auch  scheinbar  ganz  elementaren  Leistung,  wie  sie  die  der  Druckbewegung 
ist,  berücksichtigt,  wird  man  erwarten  können,  zu  symptomatischen  Vorgängen 
zu  gelangen,  die  für  die  uns  interessierenden  Erscheinungen  der  Arbeit,  der 
Übung,  der  Ermüdung,  der  Anpassung,  der  Einstellung,  der  Disposition  usw. 
bezeichnenden  Wert  besitzen. 

Endlich  sei  noch  bemerkt,  daß  der  Apparat  auch  für  einfache  Fingerzug- 
bewegungen zu  benutzen  ist.  Zu  diesem  Zwecke  schaltet  man  auf  dem  der  Arm- 
stütze zugekehrten  Schenkel  die  Gewichte  ganz  aus;  außerdem  entfernt  man 
die  beiden  Handhaben  an  den  oberen  Enden  der  Schenkel  und  befestigt  an 
dorn  dem  Beschauer  zugewendeten  oberen  Ende  des  anderen  Schenkels  die  Finger- 
hülse k. 

Das  zweite  Modell  ist  in  Fig.  2  dargestellt.   Durch  das  Zusammendrücken  der 

beiden  HandhaWn  a  und  a^  wird  die  (auswechselbare)  Feder  6  gedehnt,  und  zugleich 

macht  der  vSchreiber  c  eine  entsprechende  Bewegung  auf  der  Walze  d.    Diese 

Walze  d  und  die  sie  treibende  rfj  werden  durch  .in  kU^nes  Uhrwerk  in  Bewegung 

z«itMhrift  t.  r>*<u<o«.  Piyoholod«.  92 


338 


Zwei  neue  Ergographen. 


gesetzt,  das  durch  den  Druck  der  Vp.  erst  aufgezogen  wird  und  imstande  ist, 
etwa  15  Sekunden  zu  laufen,  also  reichlich  lange,  um  die  Pause  von  einem 

Druck  zum  anderen,  die 
ja  zumeist  kaum  über 
5  Sekunden  betragen  wird, 
auszufüllen.  Auf  der 
Walze  e  befindet  sich 
der  Vorratspapierstreifen, 
der  dann  zwischen  den 
Walzen  d  und  d^  hin- 
durchgeführt wird  und 
sich  auf  der  Walze  / 
selbständig  aufwickelt, 
nachdem  er  mit  den  Kur- 
ven beschrieben  ist.  Die 
Walzen  e  imd  /  bewegen 
sich  stets  gleichzeitig  und 
in  derselben  Richtung, 
so  daß  das  Abwickeln  des 
^  Papiers,  das  Beschreiben 
und  das  Aufwickeln  gleich- 
mäßig und  ohne  Störung  vor 
sich  geht.  Die  Regulierung 
des  (übrigens  geräuschlos 
laufenden)  Uhrwerkes  er- 
folgt durch  den  Wind- 
flügel g.  Der  Apparat  ist 
äußerst  handlich,  fast  ganz 
aus  Aluminium  gebaut  und 
hat  ein  Gewicht  von  450  g. 


f 


Fig.   2. 


Beide  Modelle  von  Ergographen  werden  von  der  Firma  Polikeit  (Halle  a.  Saale) 
hergestellt  (zu  etwa  135  M.  Mod.  1  und  15  M.  Mod.  2)  und  befinden  sich  zurzeit 
auf  der  Leipziger  Ausstellung  für  Buchgewerbe  und  Graphik. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Der  Arbeitsplan  einer  Versnchsschule  ist  von  der  Hamburger  Schul- 
synode vor  kurzem  der  Oberschulbehörde  überreicht  worden.  Diese  Schule 
soll  die  bisher  schon  übernommenen  Einzelversuche  miteinander  ver- 
einigen. Die  Lehrziele  des  Volksschullehrplans  bleiben  bestehen.  Nur  der 
Weg  zu  diesen  Zielen  soll  ein  anderer  werden  als  der  bisher  lehrplanmäßig 
bestimmte.  Die  Denkschrift  gibt  die  allgemeinen  Richtungslinien  der  ge- 
planten Arbeit  und  Ausführungen  über  den  ersten  Leseunterricht,  den  Unter- 
richt auf  der  Unterstufe,  den  freien  Aufsatz  und  den  Leseunterricht,  den 
Sprachunterricht    in    der  Volksschule,    den    Zeichenunterricht.      Die   Schule 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  339 

soll  unter  die  unmittelbare  Aufsicht  der  Behörda  gestellt  werden.  Die 
Lehrkräfte  will  die  Schulsyuode  vorschlagen.  Mit  der  Schule  soll  eine 
Elterngemeinschaft  verbunden  werden.  Die  Oberschulbehörde  hat  mit  der 
Ausgestaltung  des  Plans  einen  aus  Mitgliedern  der  Behörde  und  Vertretern 
der  Schulsynode  gebildeten  Ausschuß  beauftragt.     (Saemann.) 

Das  psychologische  Institut  in  Hamburg  ist  in  seiner  Einrichtung  und 
Arbeitsweise  nicht  überall  so  bekannt,  daß  Mißverständnisse  und  Irrtümer 
über  seine  Organisation  und  Aufgaben  ausgeschlossen  wären.  Es  sei  darum  einiges 
über  die  Lehr-  und  Forschungstätigkeit  an  dieser  Stelle  mitgeteilt. 

Das  psychologische  Institut  bzw.  das  philosophische  Seminar  ist  ein  staat- 
liches Institut  und  dem  allgemeinen  öffentlichen  Vorlesungswesen  in  Hamburg 
angegliedert.  Es  wird  von  Professor  Dr.  Meumann  geleitet,  dem  als  Assistent 
Dr.  Anschütz  und  mehrere  andere  Herren  als  Volontärassistenten  zur  Seite  stehen. 

Die  wissenschaftliche  Tätigkeit  findet  in  mehrfacher  Weise  ihre  Ausübung: 
in  Vorlesungen,  praktischen  Kursen,  Serainarübungen  und  in  wissenschaftlichen 
Einzelarbeiten. 

Die  Vorlesungen  sind  teils  öffentliche,  d.  h.  dem  allgemeinen  Besuch  ohne 
weiteres  zugänglich,  teils  Fach  Vorlesungen,  die  den  privaten  Vorlesungen  an  der 
Universität  entsprechen  und  deren  Besuch  einer  Zulassung  durch  den  Dozenten 
bedarf.  Das  Nähere  über  die  einzelnen  Grebiete,  auf  die  sich  die  Vorlesungen  er- 
strecken, ist  aus  dem  Programm  des  Winter-  und  Sommersemesters  1913/14  er- 
sichtlich, das  sich  am  Schlüsse  dieses  Berichtes  befindet. 

Von  besonderer  Wichtigkeit  sind  die  praktischen  Kurse ,  die  eine  Einführung 
darstellen,  nicht  nur  in  die  Experimental-Psychologie,  sondern  auch  in  die  Grenz- 
gebiete, welche  die  Psychologie  mit  anderen  Disziplinen  hat.  Es  fanden  z.  B. 
in  jüngster  Zeit  die  folgenden  praktischen  Kurse  statt,  von  denen  der  Einführungs- 
kurs in  die  experimentelle  Psychologie  jedes  Semester  gehalten  wird:  Prof. 
Meumann:  Intelligenzprüfungen;  Dr.  Bischoff:  Psychophysik  des  Zentral- 
nervensystems; Dr.  Boden  und  Dr.  Bisch  off:  Kriminalpsychologisches  Kollo- 
quium. An  dem  Einführungskurs  in  die  experimentelle  Psychologie  beteiligten 
sich  in  diesem  Winter  über  60  Herren  und  Damen. 

Die  Seminarübungen  liegen  auf  allgemein-philosophischem  und  psycholo- 
gischem Grebiet. 

Für  die  wissenschaftlichen  Einzelarbeiten  stehen  die  Räume  des 
psychologischen  Instituts  (Domstr.8)  zur  Verfügimg.  Die  Zulassungsbedingimgen 
zu  solchen  Einzelarbeiten  sind  dieselben  wie  in  den  entsprechenden  Universitäts- 
laboratorien, d.  h.  es  wird  die  vorangegangene  Teilnahme  an  einem  Einführungs- 
kurs in  die  experimentelle  Psychologie  verlangt.  Annahmen  wie  die,  daß  nur  aus- 
gebildete Psychologen  hier  wissenschaftlich  arbeiten  könnten,  beruhen  auf  einem 
Irrtum.    Auch  der  Anleitung  sind  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  gewidmet. 

Von  den  psychologischen  Vorlesungen  und  Übungen  im  Winter- 
und  Sommersemester  1913/14  mögen  die  folgenden  genannt  werden:  Prof. 
Dr.  Meumann:  Lektüre  und  Besprechung  völkerpsychologischer  Schriften; 
Praktikum  für  Lehrer  und  Lehrerinnen  über  psTfhnlocischc  Probleme;  Übungen 
zur  Intelligenzprüfung;   Experimentelle  Aih  I^ychologie  und  Päda- 

gogik.     Dr.  Anschütz:   Einführung  in   die   oxpenin.'ntelle  Psychologie   — 

22* 


340  Kleine  Beitrete  und  Mitteilungen. 

Übungen  zur  Psychologie  der  Aufmerksamkeit.  —  Übungen  zur  Psychologie  des 
kindlichen  Denkens,  —  Übungen  über  W.  Wundts  Psychologie.  Dr.  Bischoff: 
Psychophysik  des  Zentralnervensystems.  Dr.  Bisch  off  und  Dr.  Boden: 
Kriminalpsychologisches  Kolloquium.  Dr.  Boden  :  Grundzüge  der  Religions- 
psychologie. Dr.  Kehr:  Einführung  in  die  Methode  'der  Intelligenzprüfung  an 
Kindern. 

Ein  deutsches  „Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht",  wie  ein 

solches  in  den  letzten  Jahren  von  der  Lehrerschaft  und  der  Schul  Verwaltung  als 
Sammel-,  Arbeits-  und  Auskunftsstelle  gewünscht  wurde,  soll  in  kürzester  Frist 
in  Berlin  geschaffen  werden.  Geh.  Oberregierungsrat  L.  Pallat  gibt  darüber  im 
Deutschen  Philologenblatt  (Festnummer  zum  6.  Verbandstage  des  Vereins- 
verbandes akad.  gebildeter  Lehrer  Deutschlands  in  München)  die  folgenden 
Auskünfte. 

Der  Deutsche  Kaiser  hat  in  seiner  Eigenschaft  als  König  von  Preußen  eine 
Stiftung  genehmigt,  die  den  Namen  ,, Jubiläumsstiftung  für  Erziehung  und 
Unterricht"  trägt  und  ihren  Sitz  in  Berlin  hat.  Ihr  Zweck  ist  die  Gründung 
und  der  Betrieb  einer  zentralen  Sammlungs-,  Auskunfts-  und  Arbeitsstelle  für 
Erziehungs-  und  Unterrichtswesen.  Dies  Ziel  soll  erreicht  werden  durch  Sammeln 
von  Material  für  die  wissenschaftliche  Forschung  und  praktische  Beratung  auf 
dem  Gebiete  des  deutschen  und  ausländischen  Erziehungs-  und  Unterrichtswesens ; 
weiterhin  durch  Erteilung  von  Auskünften  auf  Grund  des  vorhandenen  Materials ; 
durch  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der  Jugendkunde  und  Jugend- 
bildung und  durch  dauernde  und  wechselnde  Ausstellungen,  sowie  durch  den  Aus- 
bau von  Sammlungen,  Bibliotheken  und  Werkstätten  zu  theoretischer  und 
praktischer  Arbeit  über  Jugendkunde,  Jugendbildung  und  sonstige 
pädagogische  Angelegenheiten  aller  Art.  Ferner  richtet  die  Stiftung  Vorträge, 
Führungen  und  Kurse  ein  für  Fachleute,  wie  auch  für  andere  an  der  Erziehung  und 
Bildung  der  Jugend  teilnehmenden  Kreise.  Die  Verwirklichung  eines  wesent- 
lichen Teiles  dieses  Programms  ist  bereits  dadurch  gesichert,  daß  die  Unterrichts- 
verwaltung und  die  Stadt  Berlin  sich  bereit  erklärt  haben,  in  den  Rahmen  des 
Instituts  einzugliedern:  1.  die  der  Stiftung  bereits  als  Eigentum  überwiesenen 
Bestände  der  ehemaligen  deutschen  Unterrichtsausstellung  auf  der  Weltaus- 
stellung in  Brüssel;  2.  das  Schulmuseum  der  Stadt  Berlin;  3.  die  königlich  preu- 
ßische Auskunftsstelle  für  Schulwesen;  4.  die  naturwissenschaftlichen  Fort- 
bildungskurse für  Oberlehrer,  die  demnächst  zu  einer  Zentralstelle  für  natur- 
wissenschaftlichen Unterricht  ausgebaut  werden  sollen ;  5.  den  wissenschaftlichen 
Kursus  für  Seminarlehrer  in  Berlin.  Ferner  wird  sich  voraussichtlich  dem  Unter- 
nehmen die  Gesellschaft  für  deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte  an- 
schließen. 

Zur  Unterbringung  dieser  Anstalten  und  der  noch  neu  zu  begründenden  Teile 
des  Zentralinstituts  ist  der  monumentale  Bau  bestimmt,  den  die  Stadt  Berlin 
aus  Anlaß  des  Regierungs Jubiläums  des  Kaisers  unmittelbar  bei  der  kgl.  Univer- 
sität und  Bibliothek  errichten  wird. 

Aber  nicht  nur  durch  räumliche,  sondern  auch  durch  innere  Beziehungen  soll 
das  Zentralinstitut  in  enge  Fühlung  mit  der  Wissenschaft  gebracht  werden. 
Als  Organe  der  Stiftung  sind  vorgesehen  ein  Vorstand  aus  sieben  und  ein  Ver- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  341 

waltungsausschuß  aus  23  Mitgliedern.  Die  Arbeitsausschüsse  sollen  so  zu- 
sammengesetzt werden,  daß  sie  auch  die  Zentralstellen  bilden  können  für  die 
wissenschaftliche  Fortbildung  der  Lehrer.  Wenn  für  diesen  Zweck  die  Gre- 
winnung  maßgebender  Universitätslehrer  gelingt,  so  ist  die  Entwicklung  dieser 
Stellen  zu  Fortbildungsinstituten  von  hochschulartigem  Charakter  gesichert. 
Die  Gesamtheit  dieser  Institute,  in  deren  Mittelpunkt  die  pädagogische  Arbeits- 
und Forschungsstelle  stehen  soll,  wird  die  so  lange  ersehnte  pädagogische 
Akademie  bilden.  Das  Institut  soll  die  Interessen  und  Bedürfnisse  aller  Schul- 
arten gleichmäßig  berücksichtigen  und  gewissermaßen  die  höhere  Einheit  bilden, 
in  der  die  Erziehungs-  und  Bildungsbestrebungen  unserer  Zeit  gesammelt,  ge- 
sichtet und  vertieft  werden.  Im  Sinne  dieses  Programms  soll  in  dem  Gebäude 
des  Instituts  auch  den  fachwissenschaftlichen  und  anderen  Vereinigungen  inner- 
halb der  Lehrerschaft  Raum  und  Gelegenheit  zu  regelmäßigen  Sitzimgen,  Vor- 
trägen und  Tagungen  gewährt  werden. 

Ein  interuationaler  Kongreß  für  Volkserziehung  und  Volksbildung  findet 
in  Leipzig  vom  25.  bis  29.  September  statt.  Er  stellt  in  den  Mittelpunkt  seiner 
Vorträge  und  Beratungen  die  Erziehung  und  Bildung  der  Jugend- 
lichen. Bestimmend  für  diese  Wahl  ist  der  Gedanke,  daß  das  Lebensalter  vom 
Beginn  der  Pubertät  bis  zu  ihrem  Abschluß  einen  eigenen  Kreis  von  pädagogischen 
Problemen  bietet,  die  weder  mit  denen  der  eigentlichen  Kindererziehung,  noch 
mit  denen  der  Volksbildung  überhaupt  zusammenfallen.  An  der  Spitze  des 
Programms  steht  die  Anthropologie  des  Pubertätszeitalters,  wofür 
Professor  Stanley  Hall  (Worcester),  einer  der  besten  Kenner  dieses  Themas, 
als  Redner  gewonnen  worden  ist.  Auf  anthropologischen  Grundlagen  bauen 
sodann  die  weiteren  allgemeinen  Vorträge  fort.  Am  Eingang  steht  das  umfang- 
reiche Gebiet  der  körperlichen  Erziehung  mit  seinen  zahllosen  Verzwei- 
gungen: Turnen,  Spiel,  Sport  und  militärische  Vorschulung;  Generalfeld- 
marschall v.  d.  Goltz  wird  das  neuere  deutsche  System  als  Redner  vertreten. 
Das  zweite  Hauptgebiet  bildet  die  moralische  Erziehung;  hier  sind  für 
diese  Abteilung  Vorträge  von  Professor  Dr.  Friedrich  Wilhelm  Förster  und  dem 
früheren  französischen  Unterrichtsminister  Buisson  angekündigt.  An  dritter 
Stelle  wird  ein  orientierender  Überblick  über  die  intellektuelle  Bildung 
von  Professor  Dr.  Ernst  Meumann  geboten  werden.  Endlich  sollen  die  psycho- 
logischen und  pädagogischen  Spezialprobleme  der  weiblichen  Jugend  ge- 
sondert behandelt  werden ;  als  Referentin  für  dieses  GJebiet  hat  Dr.  phil.  Gertrud 
Bäumer  zugesagt.  Der  Kongreß  ist  dann  weiter  in  folgende  Sektionen  eingeteilt: 
L  Das  Buch  der  Jugendlichen.  2.  Vortrags wesen,  Volkshochschulen,  Settlements. 
3.  Bildende  Kunst,  Museen,  Theater  und  die  Jugendlichen.  4.  Der  Kinematograph 
und  die  Jugendlichen.  5.  Körperliche  Jugendpflege,  Leibesübungen  und  Sport. 
6.  Fürsorge  für  die  gefährdeten  und  verwahrlasten  Jugendlichen.  Zu  dem  Ehren- 
präsidium des  Kongresses,  dem  Privatdozent  Dr.  Max  Brahnin  Leipzig  vor« 
steht,  gehören  unter  anderen  die  Unterrichtaminister  sämtlicher  großen  euro- 
päischen Kulturstaaten. 

Nachrichten.       1.    In    dem    „wissenschaftlichen    Ferienkursus    in 
München    für    Lehrer   und    Lehrerinnen"    (15.— 28.   Juni    1914)    lesen 


342  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

u.  a.  Prof.  Dr.  E.  v.  Aster  über  Fichte,  Privatdozent  Dr.  A.  Fischer 
über  Grundzüge  einer  Psychologie  des  Entwicklungsalters,  Oberstudienrat 
Dr.  G.  Kerschensteiner  über  die  wissenchaftlichen  Grundlagen  des  erziehe- 
rischen Unterrichts. 

2.  'Die  Internationale  Gesellschaft  für  Sexualforschung  ver- 
anstaltet am  31.  Oktober,  1.  und  2.  November  d.  J.  in  Berlin  einen  ersten 
Kongreß,  der  das  gesamte  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Sexualforschung 
umfassen  und  voraussichtlich  in  eine  biologisch -medizinische,  eine  sozial- 
und  kulturwissenschaftliche,  eine  juristische  (einschließlich  der  Kriminal- 
Anthropologie  und  -Psychologie)  und  eine  philosophisch-psychologisch-päda- 
gogische Sektion  geteilt  wird. 

3.  Der  Zentralausschuß  für  Volks-  und  Jugendspiele  wird  vom 
13.  bis  22.  Juni  d.  J.  in  Altona  seinen  15.  Kongreß  abhalten. 

4.  Die  deutsche  Unterrichtsausstellung  in  Berlin  beabsichtigt,  in 
nächster  Zeit  eine  Sonderausstellung  zu  veranstalten,  die  in  erster 
Linie  veranschaulichen  soll,  wieweit  der  Gedanke  der  Selbstbetätigung 
der  Schüler  innerhalb  des  naturgeschichtlichen  und  biologischen 
Unterrichtes  Platz  gegriffen  hat.  Abgesehen  von  einer  Zusammenstellung 
solcher  Lehrmittel,  die  von  Lehrern  ersonnen  oder  hergestellt  sind,  wird 
erstrebt,  über  die  mannigfaltigen  Schülerarbeiten,  die  im  naturgeschichtlichen 
Unterricht  oder  im  Anschluß  an  diesen  entstanden  sind,  einen  möglichst 
vielseitigen  Überblick  zu  geben.  Dabei  kommt  es  weniger  auf  Einzel- 
leistungen an,  als  vielmehr  auf  die  Gesamtleistungen  einer  Klasse.  Es 
kommen  in  Betracht:  1.  Schülerherbarien;  2.  Naturkundliche  Zeichenhefte; 
3.  Plastilinaarbeiten;  4.  Zoologische  und  botanische  Präparate  (Blutanalysen, 
Insektenzergliederung);  5.  Biologische  Präparate;  6.  Biologische  Naturauf- 
nahmen;  7.  Vivarien  und  Laboratorien. 

5.  Der  Geschäftsführende  Ausschuß  des  Bundes  für  Schulreform 
hat  beschlossen,  den  4.  Deutschen  Kongreß  für  Jugendbildung  und  Jugend- 
kunde in  Köln  vom  1.  bis  3.  Oktober  d.  J.  zu  veranstalten.  Die  Haupt- 
themen des  Kongresses  lauten: 

I.  Das  Kind  vor  dem  Eintritt  in  die  Schule:  seine  Entwicklung  und  Er- 
ziehung und  ihre  Bedeutung  für  die  Reform  der  Schularbeit. 
II.  Jugendbewegung  und  Erziehungsreform. 

In  einer  öffentlichen  Versammlung  wird  das  Thema  „Schulreform  und 
Werkbund"  behandelt  werden. 

In  der  Werkbund  aus  st  eilung  wird  der  Bund  für  Schulreform  einrichten: 

1.  ein   allen  Anforderungen  der  Hygiene  und  Pädagogik   entsprechendes 
Schulzimmer, 

2.  ein  Kinderzimmer  nach  den  Angaben  der  Frau  Dr.  Montessori. 


Literaturbericht. 


Hermann  Ebbinghaus,  Abriß  der  Psychologie.     5.  Auflage,  durchgesehen 

von  Prof.  Dr.  Ernst  Dürr.    Leipzig  1914.    Verlag  von  Veit  u.  Co.   208  S.    geb.  4  M. 

Die   psychologischen  Werke   von  Hermann  Ebbinghaus   waren  nach    seinem 

Tode  in  die  Hände  von  Prof.  Dürr  gelegt,  der  mittlerweile  nun  in  frühem  Alter  aus 


Literaturbericht.  343 

"X 


der  Arbeit  an  seinen  eigenen  Schriften  gerissen  worden  ist.  An  dem  „Abriß",  der 
innerhalb  des  Jahres  1908  sofort  zwei  Auflagen  erlebte,  ist  von  dem  Nachfolger 
nur  behutsam  geändert  worden,  so  daß  sich  die  3.  bis  5.  Auflage  von  ihren  Vor- 
gängern im  wesentlichen  nur  durch  unbedeutsame  sprachliche  Änderungen,  kleine 
Textzusätze  und  Literaturergänzungen  unterscheiden.  Diese  Erhaltung  der  ersten 
Gestalt  —  mag  dadurch  auch  eine  Überholung  durch  die  heute  so  rasch  sich  fort- 
entwickelnde psychologische  Forschung  eintreten  —  muß  darum  besonders  er- 
wünscht sein,  weil  die  seit  vorigem  Jahre  vorliegende  Vollendung  der  „Grundzüge" 
durch  Dürr  keinesfalls  im  Geiste  Ebbinghaus'  geschehen  ist  und  wohl  ja  auch  kaum 
geschehen  konnte.  Bei  seinen  didaktischen  Vorzügen,  bei  der  Einheitlichkeit  und 
Einfachheit  seiner  Grundauffassungen  auch  in  der  Darstellung  der  höchsten  seelischen 
Leistungen  und  bei  der  nahe  ans  Künstlerische  rückenden  Darstellungsweise  wird 
der  „Abriß",  mag  er  auch  stellenweise  veralten,  beim  Verzicht  auf  die  Methodik 
der  Psychologie  noch  eine  gute  Weile  eine  brauchbare  Einführung  bleiben. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Ernst  Meumann,  Prof.  der  Philosophie  am  allgemeinen  Vorlesungswesen 
in  Hamburg,  Intelligenzund  Wille.  Zweite  umgearbeitete  und  vermehrte  Auf- 
lage. Leipzig  1913.  Verlag  von  Quelle  und  Meyer.  361  S.  Preis:  geh.  4,60  M., 
geb.  5,20  M. 

Es  dürfte  Meumann  peinlich  sein,  wenn  ich  in  seiner  eigenen  Zeitschrift 
meiner  hohen  Bewertung  seines  Buches  „Intelligenz  und  Wille"  beredten  Ausdruck 
gäbe.  Es  mag  darum  nur  eine  ganz  kurze  Inhaltsangabe  überzeugen,  wie  die  Schrift,  die 
Wundt  für  nicht  zu  gering  hielt,  sich  darüber  in  einer  großen  Abhandlung  zu  erzürnen, 
in  ihrer  Gedankenwelt  auch  für  die  Grundfragen  der  Pädagogik  von  klärendem  Werte 
ist.  Mit  Recht  wird  das  sehr  lebendig  geschriebene  Buch  deshalb  auch  von  der  jungen 
Lehrerschaft  gern  bei  der  Vorbereitung  auf  die  zweite  Prüfung  durchgearbeitet. 
Auch  zieht  man  es  vielfach  im  Seminarunterricht  zur  Vertiefung  der  psychologi- 
schen und  pädagogischen  Lehren  heran. 

Meumann  ist  der  Überzeugung,  daß  eine  hervorragende  Intelligenz  und  ein 
kraftvoller,  ausdauernder  Wille  die  beiden  Grundmächte  seien,  auf  deren  Ent- 
faltung, Vervollkommnung  und  Wirksamkeit  alle  menschliche  Größe  und  aller 
Fortschritt  des  einzelnen  und  der  menschlichen  Kulturgemeinschaft  beruhen,  und 
daß  in  ihrem  Zusammenwirken  die  Kraft  der  großen  Persönlichkeit  die  Wurzel 
habe.  Seine  Schrift,  indem  sie  die  Erkenntnis  dieses  Probleragebietes  vertieft, 
gibt  so  einen  wichtigen  Beitrag  zu  der  gerade  in  tmserer  Zeitlage  wichtigen 
Wissenschaft  vom  persönlichen  Leben. 

Einleitend  wird  versucht,  die  psychologische  Natur  und  die  praktisch  -  tele- 
ologische Bedeutung  der  Intelligenz  und  des  Willens  zu  bestimmen.  Es  folgt 
eine  ausführliche  Darstellung  über  die  materialen  und  formalen  Bedingungen  der 
Intelligenz.  Dabei  erfahren  die  Erscheinungen  der  Aufmerksamkeit  und  der 
Übung  und  Ermüdung  eine  in  die  Tiefe  gehende  Behandlung,  und  es  werden 
im  Gedächtnis,  in  der  Phantasie  und  im  Denken  jene  Begabungsseiten,  die  gemein- 
hin als  die  Grundlage  der  komplexen  intellektuellen  Funktionen  gelten,  in  ihrem 
Verhältnis  zur  Intelligenz  gründlich  untersucht.  Vom  Gedächtnis  wird  erwiesen, 
wie  es  die  Entfaltung  der  Intelligenz  teils  hemmt,  teils  fördert,  im  allgemeinen 
ihr  aber  hinderlich  ist.  Dagegen  erheben  sich  nach  Meumanns  Darstellung  je  auf 
der  Grundlage  der  Phantasie  und  des  Denkens  zwei  eigenartige  Intelligenztypen, 
von  denen  die  Denkintelligenz  mit  ihrer  letzten  Stufe  des  Genies  als  der  höhere 
bewertet  wird. 

Im  zweiten  Teile  wendet  sich  dann  die  Schrift  der  Untersuchung  de.s  Willena 
zu.  Sein  Wesen  wird  im  Gegensatz  zur  Wundt'schen  Affekttheorie  in  der  Art 
erfaßt,  wie  sich  Vorstellungen  und  Gefühle  in  Handlungen  umsetzen.  Einen 
einfachen  Willensvorgang,  der  als  drittes  Element  neben  reine  Empfindung  und 
Gefühl  träte,  lehnt  Meumann  damit  ab.  Ist  ho  der  Wille  ein  komplexes  psychi- 
sches Geschehen,  in  dem  sich  Motiv  und  Handlung  verknüpfen,  so  vermag  die 
Persönlichkeit  durch  die  Stiftung  solcher  Assoziationen  ihr  Wollen  zu  beherrschen. 


344  Lit-eratiorbericht. 


Das  in.  E.  für  die  Pädagogik  besonders  wertvolle  Kapitel  „Wünschen  und  Handeln" 
analysiert  in  dieser  Grundaiiffassung  die  verschiedensten  Erscheinungen  des  prak- 
tischen Willenslebens.  Die  Erörterung  der  Begriffe  Charakter  und  Temperament 
führt  hierauf  zu  differentialpsychologischen  Betrachtungen.  Ihren  Gipfel  erreicht 
alsdann  Meumanns  Untersuchung  in  der  Darlegung  der  Verhältnisse  zwischen 
Intelligenz  und  Willen.  Als  Ideal  wird  erkannt,  daß  die  Intelligenz  über  dem 
Willen  thront:  „Wenn  es  überhaupt  einen  Geistesfortschritt  der  Menschheit  gibt, 
so  kann  er  nur  darin  bestehen,  daß  die  Herrschaft  der  Intelligenz  über  den 
Willen  sich  immer  mehr  verbreitet  .  .  .  niemals  aber  darin,  daß  brutale  Willens- 
stärke, die  mit  niedriger  Intelligenz  gepaart  ist,  an  Zahl  ihrer  Vertreter  zunimmt. 
.  .  .  Das  Ideal  unserer  Persönlichkeit  liegt  nicht  in  einem  über  die  Intelligenz 
herrschenden  oder  einem  relativ  intelligenzlosen  Willen,  sondern  vielmehr  darin, 
daß  eine  hohe,  einsichtige,  weitblickende  Intelligenz,  eine  alle  Ziele  und  Folgen 
unserer  Handlungen  überblickende  Intelligenz,  den  Willen  leitet."  Dabei  erlangen 
nach  Meumanns  Meinung  die  Gefühle  „nur  als  Diener  des  Willens"  neben  der  Intelli- 
genz eine  wichtigere  Bedeutung  für  das  Leben.  Das  Buch  klingt  schheßlich  aus 
mit  Folgerungen  der  verfochtenen  Anschauung  für  die  Fragen  der  Weltanschauung. 
Es  führen  diese  philosophischen.  Erörterungen  zu  einem  Entscheid  zu  Ungunsten 
des  reinen  Voluntarismus. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  phil.  P.   Gabins,  Denkökonomie  und  Energieprinzip.     Verlag  von  C, 

Ciu-tius.     Berlin  W.    1913.      208   Seiten.      4  M. 

Den  Titel  rechtfertigt  der  Versuch  des  Verfassers,  den  logischen  Kern  der  beiden 
Hauptsätze  des  Energieprinzips,  von  der  Konstanz  der  Kräfte  und  des  kleinsten 
Kraftmaßes,  auch  auf  die  psychische  Erscheinungswelt  prinzipiell  auszudehnen  und 
damit  die  Fülle  der  wissenschaftlichen  Arbeitsmethoden  und  Probleme  einheitlich 
zu  ordnen  und  in  ihrer  wechselseitigen  Bedingtheit  zu  verstehen,  d.  h.  dieses  Prinzip 
denkökonomisch  nutzbar  zu  machen.  —  Nimmt  man  an,  daß  die  Summe  unserer 
psychischen  Leistungsfähigkeit  konstant,  also  begrenzt  ist,  so  folgt,  daß  einer  Mehr- 
leistung auf  irgendeinem  Gebiete  unserer  psychischen  Tätigkeit  notwendig  eine 
äquivalente  Minderleistung  auf  einem  andern  entspricht,  vorausgesetzt,  daß  alle 
verfügbare  Energie  überhaupt  in  Anspruch  genommen  wird.  In  andern  Worten: 
Eine  Intensität  nach  der  einen  Seite  hat  eine  Negation  nach  der  andern  zur  Folge. 
Der  logische  Kern  des  ersten  Hauptsatzes  also  lautet:  Eine  Leistungsfähigkeit  auf 
Kosten  der  andern.  Im  engen  Zusammenhang  mit  dem  L  steht  der  2.  Hauptsatz. 
Denn  da  wir  bestrebt  sind,  dem  jeweiligen  Gegenstand  unseres  Interesses  ein  Maxi- 
mum von  Energie  zuzuführen,  so  sorgen  wir  für  die  Freiwerdung  einer  solchen  am 
besten  dadurch,  daß  wir  von  allem  übrigen  möglichst  viel  negieren  und  so  mit  dem 
geringsten  Kraftmaß  eine  möglichst  breite  Beziehvmgs-  und  Geltungsfläche  für 
unsern  Gegenstand  gewinnen.  —  Nun  ist  der  Dualismus  eine  Ureigentümlichkeit 
der  Phänomena;  alle  Vorstellungen  nämlich  haben  eine  anschauliche  und  begriff- 
liche Seite ;  ihre  begriffliche  Seite  aber  läßt  wieder  eine  mehr  quantitative  oder  quali- 
tative Betrachtungsweise  zu,  so  daß  wir  vor  der  Tatsache  der  entgegengesetztesten 
Formen  und  Methoden  der  Wissenschaften  überhaupt  und  deren  Widerstreit  und 
Verquickung  innerhalb  einer  einzelnen  stehen. 

Aber  fast  ebenso  eigentümlich  ist  dem  Menschengeiste  die  Tendenz,  diesen  Dualis- 
mus der  Erscheinungswelt  monistisch  (=  denkökonomisch?)  zu  lösen;  und  je  nach 
Anlage  und  Beruf  des  Betrachters  geschieht  dies  auch  merklich  nach  einer  der  beiden 
Seiten  der  Dualismen.  Obwohl  jede  ihrer  Seiten,  wenn  man  das  Ding  wahrhaft 
erfassen  will,  gleichmäßig  berücksichtigt  gehört,  negieren  wir  mehr  oder  weniger 
von  der  einen  oder  andern,  und  zwar  in  einem  gleichwertigen  Verhältnis;  d.  h.  es  gilt 
hier  eben  der  Satz :  Eine  Leistungsfähigkeit  auf  Kosten  der  andern.  Alles  monistische 
Streben  bleibt  aber  immer  nur  Ideal ;  denn  die  am  meisten  quantitative  Betrachtungs- 
weise hat  einen  notwendigen  Rest  von  qualitativen  Werten  und  umgekehrt,  wie 
auch  die  anschaulichste  Demonstration  mit  Begrifflichkeiten  arbeitet. 

Die  Tatsache  der  Geltung  dieses  Satzes :  Eine  Leistungsfähigkeit  auf  Kosten  der 


Literatlirbericht.  345 


andern !  sucht  der  Verfasser  auf  den  verschiedenen  Gebieten  desWissens  nachzuweisen. 
Zugleich  will  er  aber  auch  eine  Systematik  einerseits  der  Metaphysik,  wo  die  vor- 
handenen und  konunenden  Systeme  nach  hauptsächlich  den  oben  genannten  Grund- 
dualismen zusammengeordnet  werden,  vor  allem  jedoch  eine  Systematik  der  spe- 
zielleren Wissenschaften  geben  und  ordnet  diese  zwischen  die  beiden  Pole  der  quanti- 
tativen und  qualitativen  Betrachtungsmethode,  hier  zu  äußerst  die  Mathematik,  dort 
die  Historik. 

Es  sind  zwei  Tendenzen  im  Buche.  Erstens,  die  Geltbarkeit  des  Energieprinzips 
auf  psychischem  Gebiete  zu  beweisen  und  die  Konsequenzen  daraus  zu  entwickeln, 
\ind  zweitens,  die  bereits  geltende  Anwendung  auf  physischem  Gebiete  mit  seiner 
neuen  Anwendung  zu  einer  universalen,  das  Physische  wie  das  Psychische  gleich- 
mäßig umfassenden  Bedeutung  zu  verbinden  und  so  ein  einheitliches,  ökonomisches 
Weltbetrachtungsprinzip  zu  erhalten. 

München.  Josef  Herkomer. 

Pädagogik,  Psychologie  und  Philosophie.  Kritischer  Literaturbericht. 
L  Abteilung  des  Pädagogischen  Jahresberichtes  von  1913.  66.  Jahrgang.  Heraus- 
gegeben von  Paul  Schlager.  Leipzig^l914.  Friedrich  Brandstetter.  73  S.  1.20  M. 

Neben  anderen  äußeren  Vorzügen  hat  der  ,J*ädagogische  Jahresbericht",  seit 
er  unter  der  Leitung  Paul  Schlagers  steht,  auch  die  Pünktlichkeit  seines  Erschei- 
nens vor  den  anderen  Revuen  gleicher  Art  voraus:  Er  lag  diesmal  bereits  zu 
Ostern  vor. 

Die  uns  hier  interessierende  Abteilung  erscheint  als  eine  der  besten  des  statt- 
lichen, gut  gegliederten  Bandes.  Der  theoretischen  Natur  der  behandelten  Gebiete 
gemäß  ist  sie  von  Hochschullehrern  bearbeitet  worden  und  zwar  von  Gelehrten, 
die  zugleich  in  der  praktischen  Pädagogik  eine  gute  Sa<;hkennerschaft  aufweisen. 

Den  Bericht  über  die  Pädagogik  hat  Dr.  Paul  Barth,  Prof.  an  der  Uni- 
versität Leipzig,  übernommen.  Seine  Literaturschau  zeichnet  sich  aus  durch 
Sachlichkeit,  gute  Gliederung  und  Gleichmäßigkeit  in  der  knappen  inhaltlichen 
Kennzeichnung  der  angeführten  Schriften.  In  der  Einleitung  redet  er  ein  kräf- 
tiges, leider  nur  zu  berechtigtes  Wort  gegen  das  Übel,  daß  die  Lehrerschaft  bei 
der  Vorbereitung  zur  zweiten  Prüfung  vielfach  aus  Leitfäden  und  Schwärtchen 
auf  bequeme  Art  ihr  Wissen  bezieht  —  übrigens  oft  auch  auf  Empfehlung  der 
Behörden  — ,  statt  in  wissenschaftlichen  Werken  aus  den  Quellen  zu  schöpfen. 
„Mit  Recht  verlangt  man,  daß  der  Lehrer  eine  Persönlichkeit  werde.  Wie  kann 
er  dazu  werden,  wenn  er  nicht  selbständig  eine  Weltanschauung  erworben  hat? 
Wie  aber  ist  dies  wiederum  möglich  ohne  eigene  Versenkung  in  die  Probleme  der 
Wissenschaft?  Wer  alles  aus  zweiter  Hand  hat,  durch  den  Leitfaden,  der  bleibt 
unmündig.  Der  Leitfaden  kennt  keine  Probleme.  Aber  erst,  wer  Probleme  sieht 
und  von  sich  selbst  aus  löst,  der  ist  mündig  geworden.  Darum  sollte  die  Lehrer- 
schaft selbst  wünschen:  Die  &n  sich  sehr  verdienstlichen  und  sehr  nützlichen 
Leitfäden  in  die  Seminare,  für  den  jungen  Lehrer  aber  die  freie  Wissenschaft,  die 
ihn  selbständig  macht,  aber  zugleich  bescheiden  im  Bewußtsein,  wie  weit  wir  vom 
Ideal  des  Wissens  und  Könnens  entfernt  sind.  Und  die  Behörden  sollten  der 
Lehrerschaft  darin  folgen." 

Daß  die  Hochschulpädtagogik  eine  Sonderdarstellung  in  sehr  eingehender 
Weise  erfährt,  will  im  Rahmen  des  Pädagogischen  Jahresberichts  nicht  gerecht- 
fertigt erscheinen.  Es  ist  dieser  Abschnitt,  der  sich  auf  die  Jahre  1912  und  1913 
bezieht  und  der  auch  sehr  Fernliegendes  und  Unbedeutendes  heranzieht,  von  dem 
wohl  besten  Sammler  und  Kenner  der  hochschulpädagogischen  Literatur,  Dr.  Hans 
Schmidkunz-Berlin,  verfaßt  worden. 

Die  Besprechungen,  die  |Prof.  Dr.  Ernst  Meumann  über  psyohologisohe 
Werke  bietet,  interessieren  besonders  dadurch,  daß  in  ihnen  zum  Teil  die  Infor- 
mation über  den  Inhalt  verbunden  ist  mit  der  kritischen  und  manchmal  sehr  tem- 
peramentvollen Stellungnahme  des  Referenten  jund  daß  sich  auch  in  diesen  Klein- 
arbeiten die  von  Meumanns  Schriften  her  bekannte  Kunst  gefälliger  und  fließen- 
der Darstellung  zeigt.  Das  Gesamtbild  der  psychologischen  Literatur  des  Jahres  1913 


346  Literaturbericht. 


wird  in  einer  voranstehenden  allgemeinen  Überschau  durch  die  Hervorhebung  von 
drei  „Ereignissen"  gekennzeichnet:  Es  brachte  die  Berichtszeit  die  beginnende 
Auseinandersetzung  zwischen  dem  Hauptvertreter  der  Assoziationspsychologie 
—  G.  E.  Müller  in  Göttingen  —  und  der  neu  aufgekommenen  Psychologie  des 
Denkens,  die  von  Külpe  und  seinen  Schülern  vertreten  wird;  es  gewann  sodann 
die  Psychologie  eine  immer  weitere  Anwendung  auf  die  verschiedenartigen  Lebens- 
und Wissenschaftsgebiete,  und  endlich  geriet  die  immer  mehr  vordringende 
Psychoanalyse  in  den  Kampf  mit  den  Vertretern  der  Jugendkunde. 

Wie  schließlich  Prof.  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler,  Privatdozent  an  der 
Universität  Berlin,  die  Bibliographie  der  Philosophie  behandelt  hat,  gibt  im  ganzen 
ein  gutes  Bild  über  die  Richtungen  und  den  Grad  des  heute  neu  erwachten 
philosophischen  Interesses  und  zeigt  die  Fülle  der  einander  widerstrebenden 
Lehren.  — 

Im  Blick  auf  die  vielerlei  äußeren  und  inneren  Schwierigkeiten,  die  sich  der 
Herstellung  des  „Pädagogischen  Jahresberichtes"  entgegenstellen,  wird  man  in 
dem  Buche,  das  sonst  große  Sorgfalt  der  Bearbeitung  erkennen  läßt,  über  kleine 
Lücken  und  Unzulänglichkeiten  gern  wegsehen.  Daß  aber  z.  B.  die  „Zeitschrift 
für  päd.  Psychologie",  die  im  Bande  des  vorangehenden  Jahres  als  „führendes 
Organ"  bezeichnet  wurde,  übergangen  ist,  kann  dem  Herausgeber,  sei  es  nun  Ver- 
sehen oder  Absicht,  kaum  entschuldigt  werden. 

Zittau.  Paul  Ficker. 

Dritter   Deutscher   Kongreß   für  Jugendbildung  und  Jugendkunde 
zu  Breslau  am  4.,  5.  und  6. Oktober  1913.  Der  Unterschied  der  Geschlechter 
und  seine  Bedeutung  für  die   öffentliche  Jugenderziehung.     Heft  8 
der  Arbeiten  des  Bundes  für  Schulreform.    Leipzig  1914.    Verlag  B.  G.  Teubner. 
176  S.    Preis  4  M. 
Nachdem  in  dieser  Zeitschrift  ein  sehr  ausführlicher  und  teilweise  kritischer 
Bericht  von  Otto  Scheibner  über  die  bedeutungsvolle  Breslauer  Tagung  des 
Bundes  für   Schulreform   gegeben  worden    ist,   erübrigt    sich    hier    eine    ausführ- 
liche Inhaltskennzeichnung  des  uns  nunmehr  (wiederum   erst   spät)  vorliegenden 
offiziellen  Berichtes  der  Kongreßverhandlungen.     Es  sind  in  ihm  ebensowohl  die 
Vorträge    wie    die    Ansprachen    und    Debatten    zumeist    wörtlich    wiedergegeben. 
Daß    die  Thesen  von  Prof.  E.  Meumann  zu  seinem  angekündigten,  aber  wegen 
persönlicher  Verhinderung  auf   dem  Kongreß   nicht   dargebotenen  Ausführungen 
über  die  Probleme  der  Koinstruktion  aus  dem  Vorbericht  mit  aufgenommen  wor- 
den  sind   und   daß   die  Schriftleitung  Dr.  A.  Fischer  in  München  gebeten  hat, 
die  von  ihm  während  der  Verhandlungen  kurz  dargelegten  Forderungen  in  einer 
besonderen  Arbeit  für  den  Gesamtbericht  ausführlich  zu  begründen   (womit  nun 
nachträglich  einige  in  Breslau  vernachlässigte  Gedankengruppen   noch   zu  ihrem 
Rechte  kommen),  bedeutet  eine  glückliche  Bereicherung  des  Bandes,  der  gegen- 
über seinen  Vorgängern  in  ganz  besonderem  Maße  das   psychologische   mit   dem 
pädagogischen  Interesse  verbindet.     Für  die  Geschichte   der   psychologisch-päda- 
gogischen Bewegung  werden  die  Kongreßberichte  des  Bundes  für  Schulreform  die 
Bedeutung  eines  Quellenwerkes  gewinnen. 

Zittau.  Paul  Ficker. 

Fr.  Jodl,    Das  Problem    des  Moralunterrichts  in  der  Schule.   Zwei  Vor- 
träge.   Frankfurt  a.  M.  1913.    45  S.    Preis  1.—  M. 

Die  beiden  Vorträge  des  vor  kiirzem  leider  verstorbenen  Wiener  Philosophen 
und  Psychologen  sind  auf  der  Berliner  Konferenz  des  deutschen  Bundes  für  weltliche 
Schule  und  Moralunterricht  gehalten  worden  (vom  29.  Sept. — 2.  Okt.  1912;  man  vergl. 
auch  den  Bericht  über  die  Verhandlungen,  von  Penzig  herausgegeben  unter  dem  Titel 
„Die  Harmonie  zwischen  Religions-  und  Moralunterricht",  Berlin  1912).  In  leben- 
diger Darstellung  charakterisiert  Jodl  im  ersten  Vortrag  die  Hauptprobleme 
jenes  Moralunterrichtes,  der  zwar  nicht  religionsfeindlich,  aber  religionsfrei 
oder  zum  mindesten  konfessionsfrei  auf  den  allgemeinen,  rein  menschlich-ethischen 


Literaturbericlit.  347 


Anschauungen  sich  aufbaut.  Die  gegenwärtige  Lage  dieses  Problems  bringt  es  mit 
sich,  daß  Jodl  zunächst  den  Wert  eines  solchen  Moralunterrichtes  und  damit  zu- 
gleich sein  Existenzrecht  im  Gregensatz  zur  ethischen  Unterweisung  und  Erziehung 
des  heutigen  konfessionellen  und  vorwiegend  religionsdogmatischen  und  religiös- 
erbaulichen Religionsunterrichts  lebhaft  diskutiert.  Dazu  kommt  freilich  noch  eine 
persönliche  Note;  denn  Jodl  war  ein  eifriger  Anhänger  der  Bestrebungen  der  Gesell- 
schaft für  ethische  Kultvu-.  Sodann  skizziert  der  Vortragende  die  für  diesen  Moral- 
unterricht leitenden  ethischen  Begriffe  und  Prinzipien  in  ilirem  Zusammenhang 
sowie  die  wichtigsten  sittlichen  Lebensgebiete,  in  die  der  L^nterricht  einzuführen  hat. 
Der  Schluß  bringt  bereits  didaktische  Ausführungen,  z.  B.  wie  man  vermeidet,  daß 
der  Schüler  des  Moralunterrichts  überdrüssig  wird  (der  Moralunterricht  muß  „eine 
Feierstunde  sein"),  warum  die  Forderung  des  weltlichen  Moralunterrichts  als  Grund- 
lage idealer  Lebensführung  genau  so  für  die  Mädchenschule  wie  für  die  Knabenschule 
gilt,  welche  besonderen  Anforderungen  die  schwierige  Aufgabe  dieses  Unterrichts 
an  den  Lehrerstand  stellt,  wie  diese  organisatorischen  Reformen  zwar  nur  bei  einer 
\'ölligen  Befreiimg  der  Schule  von  der  Kirche  möglich  werden,  aber  doch  nicht  als 
Feindschaft  gegen  wirklich  vorhandenes  religiöses  Leben  gedacht  sind  (als  mögliche 
Lösung  des  Verhältnisses  zwischen  dem  Religionsunterricht  und  dem  weltlichen 
Unterricht  schwebt  Jodl  die  im  englischen  Schulgesetz  von  1906  durchgeführte  vor). 
Der  zweite  Vortrag  erörtert  dann  das  Problem  der  Lehrbarkeit  der  Moral. 
Jodl  bestimmt  hier  nicht  nur  den  lehrbaren  Gegenstand  des  Unterrichts  (Verständnis 
dessen,  was  gut  heißen  darf,  und  Einsicht  in  die  Gründe,  welche  die  verschiedene 
ethische  Wertschätzung  bedingen),  sondern  weist  auch  auf  die  im  Bereich  des  Schul- 
lebens liegenden  Erlebnisformen  hin,  welche  die  individual-  und  sozialethische  Willens- 
bildung ztun  mindesten  vorbereiten  und  einleiten.  Im  letzten  Grimde  ist  die  Moral 
als  Einsicht  und  alsVerhalten  deshalb  der  Vermittlung  fähig,  weil  sie  in  der  menschlichen 
Natur  selbst  angelegt  ist;  natürlich  kann  darum  auch  von  einer  absoluten  Sicherheit 
des  Erfolgs  in  jedem  Falle  keine  Rede  sein. 

Nur  allgemein  konnte  hier  angedeutet  werden,  was  die  beiden  inhaltsreichen  Vor- 
träge zusammenfassend  behandeln;  ihre  Lektüre  wird  jedem  ein  Genuß  sein  und  reiche 
Anregung  bieten.  Die  Notwendigkeit  einer  gründlichen  Reform  dieser  Seite  des 
Unterrichts  und  der  Erziehung  zugegeben,  kann  man  natürlich  immer  noch  einen 
zweiten  Weg  der  Reform  —  neben  dem  von  Jodl  gezeichneten  —  für  erstrebenswert 
halten  und  ihn  vielleicht  sogar  als  den  besseren  ansehen,  nämlich  den,  der  den  Reli- 
gionsunterricht zugleich  so  zu  reformieren  sucht,  daß  er  in  einer  natürlichen  Ver- 
bindung mit  dem  ethischen  Unterricht  bleiben  kann.  Aber  man  wird  zugeben  müssen 
—  und  man  kann  dies  geradezu  zum  Kriterium  eines  sachlichen  und  autonomen 
Denkens  in  diesen  Fragen  machen  — ,  daß  in  der  von  Jodl  gezeichneten  Richtung 
ein  bedeutungsvolles  pädagogisches  Ideal  liegt.  —  In  der  Willenserziehung 
erfährt  die  inhaltlich-positive  Seite  der  Willenskultur,  das  Erfüllen  des  Bewußtseins 
mit  wertvollen  Zielen,  m.  E.  eine  falsche  und  zwar  verkehrte  Einschätzung  (S.  44) ; 
denn  wo  es  die  sittliche  Bildung  nicht  gerade  mit  recht  Primitivem  zu  tun  hat  — 
leider  ist  man  in  der  Schule  zumeist  noch  auf  dieses  Niveau  eingestellt  — ,  da  dürfte 
gerade  in  der  inhaltlich-positiven  Willenskultur  eines  der  wichtigsten  Probleme  liegen, 
das  richtig  gelöst  die  Bedeutung  der  formal-  und  inhaltlich-negativen  Seite  der 
Willenserziehung,  die  Ausbildung  von  Hemmungen,  auf  ein  Minimum  herabdrückt. 

Tübingen.  Gustav  Deuchler. 

Schriften  dos  Deutschen  Fröbelvorbandes,  Heft  2:  Über  Einrichtung  von 
Volkskindergärten.  64  Seiten,  mit  Abbildungen.  Preis  1  M.  Zu  beziehen 
von  Frl.  G.  Pappenheim,  Berlin  SW.,  Kloinbeerenstr.  26. 

An  mehreren  Beispielen  wird  die  äußere  Einrichtung  moderner,  gut  geleiteter 
Kindergärten  dargelegt,  und  an  der  Hand  von  Kostenaufstellungen  werden  die  zur 
Begründung  und  Erhaltung  derartiger  Anstalten  nötigen  Mittel  berechnet.  Lage* 
plane  und  hübsche  Abbildungen  erläutern  den  Text.  Ein  Kapitel  erzählt  von  dem 
Leben  im  Volkskindergarten  und  von  seinen  erziehlichen  Zwecken.  Die  Broschüre 
soll  einerseits  den  in  der  Kindergartenarbeit  WirkmHon  bei  der  Begründung  neuer 


348  Literaturbericht. 


Anstalten  praktische  Hilfe  leisten,  andererseits  will  sie  auch  für  die,  denen  dies 
Gebiet  noch  fremd  ist,  ein  Orientierungsmittel  sein. 
Berlin.  Nelly  Wolffheim. 

Karl  Cornelius  Rothe,  Sonderelementarklassen  für  sprachkranke 
Kinder.  Mit  einem  Begleitworte  von  Dr.  med,  Emil  Fröscheis.  München  1914. 
Fr.  Seybold's  Verlagsbuchhandlung.  48  S.  1  M. 
Die  aus  dem  Titel  der  kleinen  Schrift  erkenntliche  organisatorische  Forderung 
ist  zum  ersten  Male  —  allerdings  vorerst  nur  als  pädagogischer  Versuch  gedacht  — 
von  der  Wiener  Schulbehörde  erfüllt  worden.  Begründet  wird  der  Vorschlag  des 
Verfassers  damit,  daß  die  Zahl  sprachkranker  Elementarschüler  —  besonders 
unter  den  aus  ärmeren  Volkskreisen  stammenden  —  erheblich  groß  ist,  daß  die 
Sprachstörungen  mit  besonderen  psychischen  Erscheinungen  verbunden  sind,  die 
eine  besondere  erziehliche  Beeinflussung  erfordern,  daß  ferner  eine  Behandlung 
der  Leiden  im  Anfangsstadium  erfolgreicher  ist,  als  der  in  manchen  Städten  unter- 
nommene Versuch  von  Heilkursen  für  ältere  Schulkinder,  daß  schließlich  die  Be- 
hebung von  sprachlichen  Störungen  in  der  Regel  eine  längere  Zeit  erfordert.  Zudem 
erfährt  —  das  ist  ein  nicht  unwichtiger  Gedanke  —  durch  die  Einrichtung  solcher 
Sonderklassen  der  Unterricht  an  den  sprachgesunden  Kindern  eine  Entlastung  von 
hemmenden  Schülern.  Für  die  Gestaltung  des  Schullebens  in  seiner  heilpädago- 
gischen Klasse  gibt  der  Verfasser  nach  den  verschiedensten  Richtungen  hin  prak- 
tische Winke.  So  zeigt  er  den  Akt  der  Schüleraufnahme,  beschreibt  den  Unter- 
richt und  erteilt  Anweisungen  für  die  Beurteilung  der  Erfolge  und  für  die 
Ergreifung  prophylaktischer  Maßnahmen.  Daß  der  Schrift  eine  Übersicht  über  die 
Sprachentwicklung  und  die  Sprachstörungen  im  Kinderalter  vorangestellt  ist,  wo- 
rin besonders  das  Krankheitsbild,  die  Grundlagen  und  die  Therapie  des  Stotterns 
behandelt  werden,  und  daß  sich  am  Schlüsse  eine  praktische  Anleitung  zur  Unter- 
suchung der  Sprache  bei  Schülern  findet,  macht  die  sorgfältig  gearbeiteten  Ab- 
handlungen über  ihren  heilpädagogischen  Gegenstand  hinaus  für  alle  Lehrer  der 
jüngeren  Jahrgänge  wertvoll. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

E.  Scholz,  Schulinspektor,  Prof.  Dr.  W.  Rein.  Eine  kurzgefaßte  Darstellung 
seines  Lebens  und  Wirkens.  Mit  einem  Bilde  Reins.  Leipzig  1914;  Verlag  von 
K.  F.  Koehler.    84  S.  8«.    1.25  M. 

Die  Bedeutung  Reins  für  den  Ausbau  der  wissenschaftlichen  und  praktischen 
Pädagogik  auf  Herbartischer  Grundlage  ist  auch  von  der  wissenschaftlichen  Gegner- 
schaft stets  richtig  und  willig  anerkannt  worden.  Eine  Darstellung  von  dem  schlichten 
Lebensgange  und  der  in  die  Breite  gehenden,  das  Ganze  der  pädagogischen  Dis- 
ziplin umspannenden  Lebensarbeit  des  Jenaer  Professors  der  Pädagogik  wird  dar- 
um nicht  bloß  in  der  Gemeinde  der  Herbartianer,  die  auch  heute  noch  —  besonders 
irn  Auslande  —  ihre  Wachstumsgrenze  kaum  erreicht  haben  dürfte,  eine  freund- 
liche Aufnahme  finden.  Freilich  muß  das  fließend  und  klar  geschriebene  Schrift- 
chen von  Scholz  an  der  Schwelle  mit  dem  Vermerk  hingenommen  werden,  daß 
hier  ein  begeisterter  und  dankbarer  Jünger  das  Werk  des  Meisters  zeigt  und  daß 
so  eine  kritische  Würdigung  von  vornherein  nicht  zu  erwarten  ist. 

Leipzig,  Otto  Schei  bner. 

Schulwartkatalog.  Ein  Lehr-  und  Lemmittelverzeichnis.  Mit  zahlreichen  Ab- 
bildungen und  vielen  bunten  Beilagen.  Leipzig  1914.  Verlag  F.  Volckmar. 
Obwohl  für  geschäftliche  Zwecke  bestimmt,  ist  dieser  Band  von  1200  Druck- 
seiten nicht  ganz  ohne  wissenschaftliche  Bedeutung.  Unter  der  Schriftleitung  von 
Prof.  Dr.  Job.  Kühnel  sind  nämlich  den  achtzehn  Abteilungen  des  Katalogs  kleine 
didaktische  Studien,  verfaßt  von  trefflichen  Kennern  dieser  Teilgebiete,  voran- 
gestellt worden.  Sie  erörtern  auf  zumeist  wissenschaftlicher  Grundlage  das  Problem 
der  Lehr-  und  Lernmittel  innerhalb  der  einzelnen  Fächer  und  zeigen  hier  und 
da  auch  Wege   zur  Verwirklichung   der  neueren    didaktischen  Forderungen,  be- 


Neue  Zeitschriften  und  Sammlungen.  349 

sonders  der  arbeitsunterrichtlichen  Reformwünsche.  Gegen  die  früheren  Aus- 
gaben des  Katalogs  ist  die  Abteilung  ^Psychologie  und  Pädagogik"  hinzu- 
getreten, für  die  Otto  Scheibner  den  einleitenden  Text  geschrieben  hat. 

Zittau.  Paul  Ficker. 

Friedrich  Beck,  Americana  Paedagogica.  Bericht  über  eine  Studienreise 
na<;h  den  V^ereinigten  Staaten  von  Nordamerika.  Leipzig  1912.  J.  Klinkhardt. 
139  Seiten. 

Zu  den  Schriften  von  W.Müller  (Amerikanisches  Volksbildungswesen.  Jena 
1911,  E.  Diederichs),  G.  Kerschensteiner  („Lehrmethoden  in  Amerika",  „Ameri- 
kanische Volksschule",  erschienen  in  den  Süddeutschen  Monatsheften  1911/12),  von 
E.  Perry  (Die  amerikanische  Universität,  Teubner)  und  F.  Kuypers  (Volksschule 
und  Lehrerbildung  der  Vereinigten  Staaten,  Teubner.  150.  Bd.  der  Sammlung:  Aus 
Natur  und  Geisteswelt),  welche  über  die  Eigenart  der  Organisation  des  Erziehungs- 
wesens der  Vereinigten  Staaten  von  verschiedenen  Ausgangspunkten  her  und  auf 
verschieden  breiter  Basis  orientieren,  treten  die  frischen  Schildenuigen  F.  Becks  als 
eine  willkommene  Ergänzung.  Es  berührt  angenehm,  daß  die  Schilderung  der  ein- 
zelnen Hospitien  vuid  Lektionen  getrennt  ist  von  der  Zusammenfassvmg,  daß  den 
Fragen  der  Ausbildung  des  Lehrers  ein  so  breiter  Raum  zugestanden  wird  und 
daß  die  Würdigung  amerikanischer  Verhältnisse  im  Vergleich  mit  unseren  eigenen 
durchweg  einen  gesunden  Standpunkt  erkennen  läßt.  Es  ist  auch  im  Erziehungs- 
wesen der  Geist,  der  lebendig  macht,  nicht  die  Ausstattung,  die  Hilfsmittel,  die  Or- 
ganisation, kurz  der  „Betrieb'*.  Man  wußte,  daß  es  in  Amerika  leichter  ist  als  bei  uns, 
rationale  oder  experimentell  gewonnene  Prinzipien  in  die  Praxis  einzuführen  —  es 
steht  keine  Tradition  hindernd  im  Weg ;  man  merkt  aber  auch,  daß  diese  Leichtigkeit 
zur  Technisierung  der  Erziehung  führt,  zur  unpersönlichen  Ein^\•irk^ulg  der  aufs 
Höchste  ausgebildeten  Sachmittel  und  zur  Verkürzung  der  Persönlichkeitswirkung. 
München.  Aloys  Fischer. 


Nene  Zeitschriften  und  Samminngen. 

Die  gewaltige  Entwicklung  der  psychologisch-pädagogischen  Forschung  bringt 
es  mit  sich,  daß  entgegen  dem  Wunsche  nach  literarischer  Zentralisierung  der 
Arbeiten  sich  immer  neue  Unternehmungen  auftun.  Die  Zahl  der  deutschen  Zeit- 
schriften und  Sammlungen,  die  sich  vornehmlich  der  psychologischen  Pädagogik 
widmen,  hat  sich  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  von  über  30  im  letzten  Jahrzehnt 
verdreifacht,  und  die  an  sich  hocherfreuliche  Begründung  immer  neuer  Arbeits- 
stätten und  Arbeitsgemeinschaften  für  psychologische  und  pädagogische  Unter- 
suchungen sowie  die  stärkere  Herausbildung  von  Richtungen  und  „Schulen"  läßt  für 
die  Zukunft  nicht  erwarten,  daß  der  allmählich  zur  Kalamität  werdenden  Zersplitte- 
rung endlich  Einhalt  geschähe.  Zu  den  Organen '),  die  von  uns  im  vorigen  Jahr- 
gange  als  neu  angezeigt  wurden,  fügen  wir  als  jüngste  die  nachfolgenden,  die 
teils  sich  ausschließlich,  teils  vorwiegend  oder  auch  nur  nebenbei  der  wissen- 
schaftlichen Pädagogik  zuwenden. 

1.  Zentralblatt  für  Psychologie  und  psychologische  Pädagogik  (mit 
Einschluß  der  Heilpädagogik).  Herausgegeben  von  Dr.  W.  Peters,  Privatdozent 
an  der  Universität  Würzburg.  Verlag  von  Gurt  Kabisch.  Jährlich  10  Hefte. 
Preis  10  M.  für  den  Jahresband  von  30 — 40  Bogen. 

Bei  der  Massenhaftigkeit  der  literarischen  Produktion  im  Gebiete  der  Päda- 
gogik und  Psychologie  ist  es  keiner  der  zahlreichen  Fachzoitschrifton  möglich 
geworden,  auch  nur  annähernd  eine  vollständige  Bibliographie  des  umfänglichen 
Gebietes  zu  geben.  Es  ist  darum  die  Begründung  eines  Organs,  das  sich  lediglich 
den  Referaten  widmen  will,  erfreulich.    Die  Art,  wie  das  „Zentralblatt"  über  die 


1)  Neue  psychologisch-pädagogische  Publikationsorgane.  Zeitschr.  f.  päd.  Psych., 
U.  Jahrg..  S.  70. 


350  Neue  Zeitschriften  und  Sammlungen. 


psychologische  und  pädagogische  Literatur  des  In-  und  Auslandes  eine  Übersicht 
geben  soll,  ist  so  gedacht,  daß  in  knapper,  sachlicher  Berichterstattung  —  nur 
informierend,  nicht  kritisch  —  rasch  über  Ziel  und  Ergebnisse  aller  neuen  Unter- 
suchungen, über  den  Inhalt  aller  jüngst  erschienenen  Monographien  und  Gesamt- 
darstellungen, sowie  über  pädagogisch-psychologisch  Wichtiges  aus  den  Nachbar- 
gebieten Auskunft  gegeben  wird.  Das  erste  Heft  erweist  die  neue  Zeitschrift  in 
seiner  trefflichen  Ausstattung,  seiner  guten  Ordnung,  seinen  brauchbaren  Registern, 
vor  allem  aber  in  seinem  Inhalt  als  ein  wertvolles  bibliographisches  Mittel;  es 
wird  in  ihm  über  100  Untersuchungen  und  Schriften  aus  der  Zeit  vom  1.  Jan.  1914 
an  berichtet. 

2.  Zeitschrift  für  Individualpsychologie.  Studien  aus  dem  Gebiete  der 
Psychotherapie,  Psychologie  und  Pädagogik.  Herausgegeben  von  Dr.  med.  Alfred 
Adler  und  Dr.  phil.  Carl  Furtmüller  in  Wien.  Verlag  von  Ernst  Reinhardt  in 
München.     Jährlich  12  Hefte  im  Gesamtpreise  von  12  M. 

Nach  dem  Geleitworte  soll  unter  der  Bezeichnung  „Individualpsychologie" 
die  wissenschaftliche  Anschauung  verstanden  werden,  die  da  meint,  „daß  psychi- 
sches Geschehen  und  seine  Äußerungen  nur  aus  dem  individuellen  Zusammen- 
hang heraus  verstanden  werden  können,  daß  alle  psychologische  Erkenntnis  beim 
Individuum  anhebt".  Damit  sei,  so  äußert  sich  Carl  Furtmüller,  eine  entschlos- 
sene Umkehr  von  der  hergebrachten  Psychologie  gegeben,  die  darauf  abzielte,  all- 
gemeingültige Gesetze  des  seelischen  Geschehens  zu  finden  und  die  erst  recht 
spät  in  systematischer  Weise  den  Versuch  unternommen  hat,  die  bei  der  „Ver- 
dampfung" ins  allgemeine  verbleibenden  Reste  zu  einer  Psychologie  der  Diffe- 
renzen zu  verwerten.  Die  Erkenntnisquelle,  aus  der  die  Adler-Furtmüller'sche 
Richtung  vornehmlich  schöpfen  will,  ist  —  ohne  daß  andere  Forschungsmethoden 
grundsätzlich  ausgeschlossen  werden  —  die  individualpsychologische  Methode  der 
Psychotherapie.  Hier  wird  die  Zeitschrift  ihren  Schwerpunkt  suchen.  „Sie  hofft 
damit  gleicherweise  den  praktischen  Bedürfnissen  des  Psychotherapeuten  wie  den 
theoretischen  Interessen  der  Psychologen  zu  dienen.  Aber  auch  mit  allen  anderen 
Berufen,  in  deren  Mitte  die  Menschenkenntnis  und  Menschenbehandlung  steht, 
soll  eine  wechselseitige  Förderung  angestrebt  werden,  so  besonders  mit  der  Päda- 
gogik —  hoffentlich  mit  Vermeidung  aller  schädlichen  Übergriffe  der  Psychoanalyse 
auf  fremde  Gebiete.  Von  der  konkreten  Arbeit  der  Zeitschrift  geben  ein  Bild  die 
Studien  der  zwei  Hefte,  je  32  Seiten  stark,  die  bisher  ausgegeben  worden  sind:  Alexander 
Neuer,  Ist  Individualpsychologie  als  Wissenschaft  möglich?  Alfred  Adler,  Das 
Problem  der  Distanz;  Erwin  Weinberg,  Zur  Verwertung  der  Traumdeutung  in  der 
Psychotherapie;  Robert  Fr  esc  he.  Eine  psychologische  Analyse;  Charlot  Straßer, 
Zur  forensischen  Begutachtung  des  Exhibitionismus;  Alfred  Adler,  Lebenslüge 
und  Verantwortlichkeit  in  der  Neurose  und  Psychose;  Cai'l  Furtmüller,  All- 
tägliches aus  dem  Kinderleben. 

3.  Beiträge  zur  pädagogischen  Forschung.  Herausgegeben  von  Privat- 
dozent Dr.  Max  Brahn  und  Lehrer  Max  Döring,  Leipzig.  Verlag  von  Fr.  Brand- 
stetter  in  Leipzig. 

Die  beiden  Herausgeber  sind  zugleich  die  Schriftleiter  des  „Archivs  für  Päda- 
gogik" und  wollen  zu  dieser  ihrer  Zeitschrift  nunmehr  größere  Abhandlungen  als 
Ergänzungs-  und  Beihefte  herausbi'ingen.  Es  soll  sich  dabei  um  Arbeiten  und 
Untersuchungen  über  kinderpsychologische,  methodologische,  didaktische  und 
organisatorische  Fragen  handeln,  die  nach  experimentellen,  statistischen  und 
anderen  exakten  Methoden  angestellt  wurden.  Erschienen  ist 
Heft  1:  Dr.  Konrad  Brandenberge r.  Die  Zahlauffassung  beim  Schulkinde.  Aus 
dem  psychologischen  Institut  der  L^niversität  Zürich.  Mit  einer  Einfüh- 
rung von  Prof.  Dr.  G.  F.  Lipps.     88  S.    2,50  M. 

4.  Arbeiten  zur  Entwicklungspsychologie.  Herausgegeben  von  Felix 
Krüger,  ordentlicher  Professor  an  der  Universität  Halle.  Verlag  von  Wilhelm 
Engelmann  in  Leipzig  und  Berlin. 


Neue  Zeitschriften  und  Sammlungen.  35I 

\  ~~~      ' 

Die  Veröffentlichungen  dieser  Sammelfolge  werden  zunächst  den  psycholo- 
gischen Arbeitskreisen  entstammen,  die  der  Herausgeber  erst  in  Leipzig,  dann  in 
Halle  gegründet  hat.  Sie  wollen  den  Gedanken  gesetzmäßiger  Entwicklung,  der 
aufs  Fruchtbarste  die  verschiedensten  Wissenschaften  beherrscht,  auch  innerhalb 
der  Psychologie  zu  weiterem  Recht  verhelfen  und  damit  eine  empirisch-genetische 
Theorie  des  geistigen  Lebens  —  wie  sie  Wilhelm  Wundt  in  seiner  Völkerpsycho- 
logie anstrebt  —  auszubauen  versuchen,  besonders  so,  daß  sie  sich  in  streng 
methodischer,  monographischer  Arbeit  an  eng  begrenzten  Fragen  und  Tatsachen- 
gruppen —  besonders  aus  dem  primitiven  Geistesleben  —  betätigen.  Im  ersten 
Hefte  wird  der  Herausgeber  das  neue  Unternehmen  geschichtlich  an  vorhandene 
Bestrebungen  anknüpfen  und  es  methodologisch  umgrenzen.  Als  zweites  Heft 
ist  bereits  erschienen  eine  genetische  Studie  Hans  Volkelts  über  ,4Die  Vorstellungen 
der  Tiere".  In  Vorbereitung  befinden  sich  Untersuchungen  zur  Entwicklungs- 
psychologie der  Sprache,  des  zauberischen  Verhaltens,  der  Religionen  und 
Künste,  der  Wirtschaft  und  der  gesellschaftlichen  Gliederung  (des 
näheren  über:  Bedeutungswandel,  Gebärden,  Wortschatz  und  Satzbau  natur- 
völkischer Sprachen,  Entwicklung  des  kindlichen  Sprechens,  Standes-  und  Sonder- 
sprachen; Zauber  bei  der  Musik;  Verhalten  Kulturarmer  zum  Tode,  zu 
Fremden ;  Stellung  der  Kinder,  der  Frauen,  der  Alten,  der  Tiere  in  der  primitiven 
Gesellschaft ;  erste  Entwicklungsformen  des  Wohnbaues,  der  Vorratsansammlung, 
der  Erziehung  u.  dgl.).  Auch  gedenkt  der  Herausgeber  die  Ergebnisse  seiner 
Studien  über  die  Anfänge  der  menschlichen  Arbeit  in  der  Sammlung  vorzulegen. 
Die  Arbeiten  erscheinen  zwanglos  in  einzeln  käuflichen  Heften,  deren  jedes  nur 
eine  Abhandlung  enthält  und  von  denen  drei  bis  vier  einen  Band  von  etwa 
40  Bogen  und  im  Preise  von  gegen  15  Mark  bilden. 

5.  Münchner  Studien  zur  Psychologie  und  Philosophie.  Herausgegeben 
von  Professor  Dr.  Oswald  Külpe  und  Dr.  Karl  Bühler.  Stuttgart.  Verlag  von 
W.  Spemann. 

Aus  ihrem  Kreise  gedenken  die  beiden  Herausgeber  vor  allem  Untersuchungen 
schon  bewährter  Forscher  in  dieser  Sammlung  erscheinen  zu  lassen.  Sie  über- 
nehmen dabei  nur  die  Verantwortung  für  die  Methode,  für  die  Probleme  und  für 
die  Sachlichkeit  der  Darstellung.  Eine  genauere  Bestimmung  über  die  zu  pfle- 
genden Gebiete  ist  —  so  heißt  es  in  der  Einführung  —  absichtlich  unterlassen. 
Nur  so  viel  wird  angegeben,  daß  zur  Philosophie  auch  historische  Beiträge  Auf- 
nahme finden  und  daß  die  psychologischen  Abhandlungen  sich  nicht  nur  auf 
experimentelle  Untersuchungen  gründen  werden. 

Die  Hefte  enthalten  in  der  Regel  nur  je  eine  Arbeit,  sind  einzeln  käuflich, 
erscheinen  in  freier  Folge  und  schließen  sich  zu  einem  Jahresbande  bis  zur  (»renze 
von  30  Bogen  zusammen.    Es  liegen  bereits  vor: 

I.Heft:  Richard  Pauli,  Über  eine  Methode  zur  Untersuchung  und  Demonstra- 
tion der  Enge  des  Bewußtseins,  sowie  zur  Messung  der  Geschwindigkeit 
der  Aufmerksamkeitswanderung.    36  S. 
2.  Heft:  Dr.  Carl  Rath,  Über  die  Vererbung  von  Dispositionen  zum  Verbrechen. 
138  S. 

6.  Archiv  für  Religionspsychologio.  Unter  ständiger  Mitwirkung  von 
Dr.  K.  Koffka,  Privatdozent  für  Philosophie  an  der  Universität  Gießen,  heraus- 
gegeben von  Dr.  W.  Stählin,  Pfarrer  in  Egloffstein.  Verlag  J.  B.  Mohr  (Paul 
Siebeck)  in  Tübingen.    (L  Bd.,  336  S.,  im  Abonnement  12  M.;  Einzelpreis  lö  M.). 

Nachdem  das  einzige  deutsche  Organ  für  religionspsychologische  Unter- 
suchungen —  die  Zeitschrift  für  Religionspsychologie,  zuletzt  herausgegeben  von 
Runge,  Klemm,  Bresler  —  mit  ihrem  6.  Jahrgange  das  Erscheinen  eingestellt  hat, 
ist  es  zu  begrüßen,  daß  sich  für  das  bedeutungsvolle  Forschungsgebiet  eine  neue 
Sammelstätto  aufgetan  hat.  Das  in  größeren  Bänden  erscheinende  ^»Archiv  fiir 
Religionspsychologie"  will  sich  in  weitestem  Umfange  aller  Arbeit  widmen,  die 
der  Erforschung  der  Religion  als  einer  psychischen  Wirklichkeit  dient.    Noch  der 


352  Neue  Zeitschriften  und  Sammlungen. 

Einführung,  mit  der  die  beiden  Herausgeber  den  I.  Band  eröffnen,  soll  sich  die 
wissenschaftliche  Arbeitsweise  der  jungen  Disziplin  an  den  Methoden  der  allge- 
meinen Psychologie  orientieren,  von  der  sie  auch  die  Begriffe  zur  Ordnung  und 
Erklärung  der  seelischen  Vorgänge  herübernehmen  wird,  ohne  sich  aber  dabei 
in  sklavische  Abhängigkeit  zu  begeben.  Einbezogen  in  das  Arbeitsgebiet  wird 
alles,  was  sich  irgendwie  als  Religion  bezeichnet  und  dabei  eine  psychologische 
Behandlung  zuläßt.  Als  Gruppen  von  Aufgaben  finden  sich  verzeichnet  die 
schlichte  Deskription  der  religiösen  Erscheinungen  und  die  Auffindung  von  Regel- 
mäßigkeiten oder  funktionalen  Zusammenhängen,  nach  denen  sich  die  Erlebnisse 
verbinden.  Unter  vier  Gesichtspunken,  so  wird  ausgeführt,  lassen  sich  solche 
Gesetzmäßigkeiten  aufsuchen:  es  kann  gefragt  werden,  welche  Beziehungen  lassen 
sich  zwischen  religiösen  Erlebnissen  und  äußeren  Umständen  beobachten;  welche 
körperlichen  Äußerungen  religiöser  Seelenvorgänge  sind  feststellbar;  welchen  Ver- 
lauf nehmen  die  religiösen  Erlebnisse  und  wie  sind  sie  in  andere  Erlebnisse  ein- 
gebettet; welche  Korrelationen  bestehen  zwischen  religiösen  Phänomenen  unter- 
einander und  zwischen  diesen  und  anderen  Veranlagungen.  Welche  Mannigfaltig- 
keit der  Aufgaben  sich  das  „Archiv"  gestelltj  hat  und  wie  es  darum  nicht  bloß 
auf  das  Interesse  der  Theologen,  Psychologen  und  der  Philosophen,  sondern  auch 
der  Sociologen,  Naturwissenschaftlern  und  Pädagogen  rechnen  darf,;  zeigt  der 
reiche  Inhalt  des  sehr  wertvollen  1.  Bandes,  der  außer  Referaten,  Besprechungen, 
Anzeigen  und  einer  Zeitschriftenschau  die  folgenden  Abhandlungen  bringt: 
Fr.  Rittelmeyer,  Die  Liebe  bei  Plato  und  Paulus;  S.  Behn,  Über  das  religiöse 
Genie;  A.  Fischer,  Über  Nachahmung  und  Nachfolge;  W.  Stählin,  Experimen- 
telle Untersuchungen  zur  Sprachpsychologie  und  Religionspsychologie;  R.  Wie- 
landt.  Die  Mitarbeit  des  praktischen  Theologen  an  der  Religionspsychologie; 
J.  Schlüter,  Religionspsychologische  Biographienforschung.  Umfrage  über 
Gesangbuchlieder. 

7.  „Tierseele"  Zeitschrift  für  vergleichende  S-eelenkunde.  Herausgeber 
Karl  Krall  (Verlag  Emil  Eisele,  Bonn).  Jährlich  4  Hefte  zu  je  80—100  Seiten 
12  M. 
Bei  der  Bedeutung  der  sich  immer  sicherer  ausbauenden  Tierpsychologie 
für  die  Erkenntnis  des  menschlichen  Seelenlebens  und  bei  der  Wichtigkeit,  die 
neuerdings  der  Tierunterricht  für  manche  pädagogische  Grundeinsichten  zu  ge- 
winnen scheint,  bedarf  es  für  die  Anzeige  dieser  Zeitschrift  in  unserem  Zusammen- 
hange keiner  näheren  Begründung.  Das  neue  Organ  will  es  als  eine  ihrer  mch- 
tigsten  Aufgaben  betrachten,  durch  Austausch  der  Erfahrungen,  die  sich  bei  den 
heute  zahlreich  unternommenen  tierpsychologischen  Versuchen  und  Beobachtungen 
ergeben,  weiteren  Kreisen  zu  einem  Gesamtbilde  von  dem  gegenwärtigen  Stande 
der  Tierseelenkunde  zu  verhelfen.  Vertreter  der  verschiedenen  Richtungen  sollen 
hierbei  das  Wort  erhalten.  Eingehende  Berücksichtigung  werden  die  Unterrichts- 
versuche mit  Tieren  erfahren.  Insbesondere  der  durch  die  Leistungen  der  Elber- 
felder  Pferde  entbrannte  Streit  um  die  Frage  der  Denkfähigkeit  der  Tiere  ist  als 
betontes  Gebiet  der  Zeitschrift  in  Aussicht  genommen.  Weiter  wird  u.  a.  auch  noch  die 
Gestaltung  des  Lebensverhältnisses  zwischen  Mensch  und  Tier  —  beispielsweise  das 
Problem  vom  Schutz  und  Recht  des  Tieres  —  in  den  Arbeitsplan  einbezogen 
werden.     Aus  dem  ersten  Hefte  seien  von  den  Aufsätzen  erwähnt: 

Prof.  Ed.  Claparede,  Die  gelehrten  Pferde  von  Elberfeld  (mit  anschließen- 
den genauen  Protokollen);  Karl  Krall,  Prüfung  der  Sehschärfe  bei  dem  Osten- 
schen  Pferde;  Heinrich  Steen,  Die  Elberf eider  Pferde  und  ihre  Kritiker;  Kreis- 
tierarzt Dr.  Schmitt,  Zum  Denkproblem  bei  Mensch  und  Tier;  Dr.  Paul  Sarasin, 
Weltnaturschutz;  Prof.  Paul  Eisler,  Kleine  Beiträge  zur  Tierpsychologie. 


-.^'^ 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

Ein  Beitrag  zur  experimentellen  Gruppenpsychologie. 

Von 

Walther  Moede. 

Trotzdem  die  soziale  Natur  des  menschlichen  Wesens  seit  alters  der 
Gegenstand  mannigfacher  Spekulationen  gewesen  ist,  so  muß  dennoch  die 
rein  psychologische  Analyse  der  Gemeinschaft  oder  Gesellschaft  als  recht 
wenig  zufriedenstellend  charakterisiert  werden.  Die  Individualpsychologie, 
die  absieht  von  allen  den  Beziehungen,  die  den  Einzelnen  an  irgendeinen 
Verband  von  Gefährten  ketten  und  die  das  künstlich  isolierte  Individuum 
im  Laboratorium  studiert,  hat  sich  nach  wie  vor  der  meisten  Arbeitskräfte 
zu  erfreuen.  Die  Völkerpsychologie  kennt  zwar  den  Gesichtspunkt  der 
psychischen  Gemeinschaft  und  ihrer  Wechselwirkung,  aber  sie  spezialisiert 
sich  darauf,  lediglich  die  historisch  kristallisierten  Produkte  dieser  Gemein- 
schaft —  Sprache,  Sitte,  Mythos  usw.  —  einer  wissenschaftlichen  Analyse  zu 
unterziehen.  Aufgabe  einer  exakten  Gruppenpsychologie  ist  es,  auch 
die  aktuellen  Wechselwirkungen,  die  immer  da  entstehen,  wo  Gruppen  von 
Menschen  zusammen  sind,  einer  eingehenden  Betrachtung  zu  unterwerfen. 
Dadurch  erhält  erst  die  Völkerpsychologie  eine  Grundlage,  die  nötig  ist, 
ehe  man  zur  historischen  Erkenntnis  der  Gemeinschaftsprodukte  vordringen 
sollte,  genau  wie  Physik  und  Chemie  für  die  Geologie  als  aktuelle  Er- 
gänzungswissenschaften unabweisbar  nötig  sind. 

Wir  haben  also  die  Psychologie  zu  teilen  in  Individual-  und  Gruppen- 
psychologie, Wenn  dann  der  historische  Gesichtspunkt  angewendet  wird, 
so  wandelt  sich  die  Individualpsychologie  zu  der  gewöhnlich  als  Kinder- 
und  Tierpsychologie  benannten  Wissenschaft,  während  die  Gruppenpsycho- 
logie zur  Völkerpsychologie  wird.  Daß  die  Gruppenpsychologie  gleich- 
wertig der  Individualpsychologie  ist,  erhellt  unmittelbar.  Ehe  der  Mensch 
selbständiges  physisches  Wesen  wird,  ist  er  mit  dem  mütterlichen  Organis- 
mus als  Embryo  innig  verbunden,  so  daß  erst  durch  Abspaltung  aus  einem 
Kollektivwesen  die  Individualität  hervorgeht.  Das  Kind  wächst  nun  auf 
in  der  Familie  und  erhält  zunächst  Nahrung  und  erste  Erziehung  von  der 
Mutter,  80  daß  auch  hier  die  Sonderung  der  Individualitäten  nur  relativ 
besteht.  Der  Zögling  tritt  dann  über  in  die  Schule,  wo  wieder  Gruppen 
von  Menschen  der  erzieherischen  Einwirkung  des  Lehrers  unterstehen. 
Tritt  nun  schließlich  der  Schulentlassene  ein  ins  Leben,  so  ist  der  Beruf 
zunächst  diejenige  Organisation,  die  den  Einzelnen  aufnimmt.  Stets  sind 
es  also  Momente  der  Kollektivität,  die  die  individuelle  Seele  durchdringen. 

Zeüschiift  r.  pttdagog.  Psycholoffie.  23 


354  Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

Eine  systematische  und  exakte,  d,  h.  Maß  und  Zahl  verwendende  Gruppen- 
psychologie wird  mit  der  Wechselwirkung  zweier  annähernd  gleich- 
wertiger Individuen  anzuheben  haben  und  erst  dann  allmählich  die  An- 
zahl der  Gruppenmitglieder  vermehren  und  allmählich  Ungleichwertigkeiten 
einführen,  die  in  unterschiedlichen  körperlichen,  seelischen,  sozialen  Quali- 
täten der  Teilnehmer  einer  Gruppe  bestehen  werden.  Ganz  systematisch 
sind  nun  die  einzelnen  seelischen  Funktionen  und  ihre  Abänderung  durch 
die  Gruppe  zu  betrachten.  Die  zunächst  rein  theoretisch  wichtige  Er- 
kenntnis kann  gleich  pädagogisch  fruchtbar  gemacht  werden. 

Wir  greifen  ein  Spezialproblem  heraus  und  fragen  nach  der  Abänderung, 
die  die  Willenstätigkeit  der  Einzelnen  erleidet,  wenn  sie  in  einer  größeren 
Gemeinschaft,  also  etwa  als  Schulklasse,  zusammenarbeiten.  Um  messend 
vorgehen  zu  können,  werden  naturgemäß  die  Arbeitsbedingungen  genau 
festgelegt.  Wir  wollen  den  Willen  nach  einem  doppelten  Gesichtspunkte 
untersuchen.  Zunächst  messen  wir  die  Schnelligkeit  der  Willenshandlung, 
alsdann  bestimmen  wir  die  Kraftleistung  eines  Momentan-impulses. 

Methodisch  ist  zu  bemerken,  daß  einwandfreies  Material  nur  durch 
Vergleich  der  isoliert  Arbeitenden  mit  den  im  Verbände  Tätigen  zu  ge- 
winnen ist.  Die  Arbeit  der  isolierten  Schüler  nennen  wir  lA  oder  Einzel- 
arbeit, während  wir  die  kollektive  Arbeit  als  GA,  also  Gruppenarbeit,  be- 
zeichnen. Da  wir  nun  dieselben  Schüler  in  verschiedenen  aufeinander 
folgenden  Zeiten  teils  in  der  lA,  teils  in  der  GA  untersuchen,  so  will  der 
Einfluß  der  Übung  wohl  beachtet  sein.  Denn  setzen  wir  voraus,  daß  von 
allen  Sitzungen  ein  Rückstand  bleibt,  ein  Übungsrest,  der  gleiche  oder 
ähnliche  Arbeit  vorteilhaft  beeinflußt,  so  durchkreuzt  offenbar  diese  Übung 
die  gesuchten  reinen  Unterschiede  der  Isolations-  und  Gemeinschaftsarbeit. 
Doch  stehen  uns  mannigfache  Mittel  zu  Gebote,  diese  Übungsfaktoren  aus- 
zugleichen. In  der  Willensuntersuchung  verfuhren  wir  so,  daß  die  Serie 
der  Sitzungen  anhob  mit  einer  Gemeinschaftsarbeit,  auf  die  die  Einzel- 
arbeit folgte.  Im  zweiten  Teil  der  Sitzungen  begannen  wir  mit  den  Einzel- 
arbeiten und  schlössen  mit  der  Klassenarbeit.  Wir  haben  also  dann 
das  Schema 

lA   oder   GA 
GA  lA 


GA 
lA 


lA 
GA. 


Nun  hat  jede  der  nachfolgenden  Arbeiten  etwa  den  gleichen  Übungs- 
fortschritt. Addiert  man  dann  zur  Verrechnung  die  beiden  Einzel-  und 
die  beiden  Gemeinschaftsarbeiten,  so  hat  man  in  diesen  Zahlen  gut  ver- 
gleichbare Werte.  Es  ist  jedoch  der  Einfluß  der  gemeinschaftlichen  Arbeit 
meist  so  groß,  daß  schon  bei  2  Sitzungen  über  alle  üibung  der  neue 
kollektive  Faktor  den  Sieg  davon  trägt. 

Natürlich  ist  es  wünschenswert,  nach  der  Gemeinschaftsarbeit  die  Einzel- 
arbeiten in  Kontrollsitzungen  anfertigen  zu  lassen,  die  möglichst  auf  einen 
Tag  fallen,  damit  der  Rückstand  der  letzten  Sitzung  annähernd  gleich 
groß  ist  bei  allen  Beteiligten.    Dies  war  nur  so  möglich,  daß  wir  die 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß.  355 

Schüler  aus  dem  Unterricht  in  das  Versuchszimmer  hinüberholten  und  nun 
schnell  hintereinander  alle  Mitglieder  der  Gruppe  in  der  gleichwertigen 
Arbeit  prüften.  Freilich,  wird  man  einwenden,  ist  die  Isolationsarbeit  nicht 
ganz  rein,  da  doch  der  Versuchsleiter  auch  im  Zimmer  sich  befindet. 
Doch  muß  man  bedenken,  daß  er  in  gleicher  Weise  die  Klasse  wie  auch 
den  Einzelnen  beaufsichtigt,  wobei  natürlich  der  Erfolg  dieser  Beaufsich- 
tigung wahrscheinlich  ein  anderer  sein  wird,  was  jedoch  eine  Spezialfrage 
ist.  Doch  führten  wir  auch  Parallelversuche  aus,  wo  der  Schüler  wirklich 
streng  isoliert  arbeitete  und  nur  Beginn  und  Schluß  seiner  Arbeit  durch 
den  eintretenden  Versuchsleiter  verkündet  wurde.  Die  Resultate  waren 
wieder  die  gleichen,  vielleicht  nur  noch  schärfer  Einzelarbeit  und  Gesamt- 
arbeit kennzeichnend.  Doch  da  die  strenge  Isolation  bei  einzelnen  Ver- 
suchen ohne  komplizierte  Versuchstechnik  nicht  durchführbar  ist,  so  wählten 
wir  das  natürliche  Verfahren  und  ließen  jedesmal  durch  den  gleichen  Ver- 
suchsleiter die  Übungen  überwachen  und  leiten.  Versuchspersonen  waren 
Knaben  der  Gemeindeschule  zu  Sorau  N-L.  Sie  besuchten  die  erste  Klasse 
und  standen  im  Alter  von  12  bis  14  Jahren. 

Die  zeitlichen  Verhältnisse^  der  Willenshandlung  wurden  au  der 
Hand  des  Punktierversuches  bestimmt.  Die  Analyse  eines  einzelnen 
Willensimpulses  ist  ohne  kostspielige  Apparatur  nicht  möglich;  die  Unter- 
suchung einer  Serie  von  Impulsen  dagegen  ist  sehr  einfach  und  hin- 
reichend genau  in  einem  Versuchsverfahren  zu  erledigen,  bei  dem  nur 
Bleistift  und  Papier  sowie  eine  Fünftelsekunden-Uhr  nötig  sind.  Die  Ver- 
suchsperson erhält  den  Auftrag,  in  einer  bestimmten  Zeit  mit  einem  Blei- 
stifte so  viel  Punkte  auf  ein  Stück  Papier  zu  setzen,  als  ihr  möglich  ist. 
Um  eine  Dauerspannung  des  Willens  zu  bekommen,  lassen  wir  das  Punk- 
tieren 30  Sekunden  lang  fortsetzen.  Trotzdem  die  Arbeitszeit  nur  eine 
halbe  Minute  beträgt,  ist  es  doch  ratsam,  über  diese  Spanne  nicht  hinaus- 
zugehen, da  die  Abspannung  und  Ermattung  nach  dem  Versuch  recht  be- 
trächtlich sind.  Es  bleibt  der  Versuchsperson  unbenommen,  wie  sie  die 
Punkte  auf  das  Papier  setzen  will.  Sie  kann  sie  wahllos  über  die  Fläche 
des  Papiers  verteilen  oder  sich  in  geraden  Linien  oder  Spiralen  fortbe- 
wegen, ganz  so,  wie  es  für  den  Einzelnen  als  optimale  Arbeitsweise  in  Betracht 
konMnt.  Nur  dadurch  sind  für  die  Einzelnen  wirkliche  Maximalleistungen 
möglich.  Der  Versuch  geht  nun  so  vor  sich,  daß  auf  das  „Achtung"  des 
Versuchsleiters  die  Aufmerksamkeit  gespannt  und  der  Bleistift  gehoben 
wird.  Auf  das  Kommando  „Los"  beginnt  die  Arbeit,  die  schließlich  von 
dem  Signal  „Schluß"  prompt  unterbrochen  wird.  Nach  beendetem  Ver- 
suche wird  die  Fläche  des  Papiers  in  Felder  eingeteilt  und  die  Auszählung 
vorgenommen.  Zur  Kontrolle  wählten  wir  ein  technisch  weit  genaueres  Ver- 
fahren. Diesmal  wurden  die  Punkte  auf  ein  Stück  Eisenblech  gesetzt,  und 
jedes  Auftreffen  des  leitenden  Graphits  auf  die  Unterlage  wurde  auf  der 
berußten  Trommel  eines  Kymographions  registriert.  Daneben  wurden  auch 
die  Befehle  des  Versuchslciters  aufgezeichnet.  Nun  war  eine  absolut  ein- 
wandfreie Zeitregistrierung  und  Auszählung  möglich.  Diese  Parallelver- 
suche ergaben  eine  so  hohe  Übereinstimmung  mit  dem  vereinfachten  Vor- 
fahren, daß  wir  dieses  für  die  endgültigen  Reihen  allein  verwandt,en. 

23* 


356  I^^"*  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

Trotzdem  eine  Einübung  der  Schüler  stattfand,  berücksichtigten  wir 
dennoch  die  Zeitlage  der  Versuche  und  wechselten  mit  Einzel-  und  Gesamt- 
arbeit ab.  Die  Summen  der  jeweiligen  Sitzungen  unter  den  gleichen  Arbeits- 
bedingungen wurden  dann  zusammengezählt  und  vergleichsweise  erörtert. 

Beim  Einzel  versuch  war  verabredet,  so  viele  Punkte  als  möglich  auf 
das  Papier  zu  setzen.  Traten  dann  zwei  und  mehr  Schüler  in  Wettbewerb, 
so  erweiterte  sich  die  Instruktion  dahin,  es  gelte,  sich  gegenseitig  im  Punk- 
tieren zu  übertreffen.  Daß  ein  scharfer  Wettkampf  jedesmal  einsetzte, 
konnte  man  zunächst  an  der  erhöhten  Arbeitsspannung  der  Konkurrierenden 
sehen.  Auch  war  der  Druck,  mit  dem  die  Punkte  auf  das  Papier  gesetzt 
wurden,  in  den  meisten  Fällen  stärker.  In  einigen  Fällen  war  die  Intensität 
der  Arbeit  so  stark,  daß  durch  den  Druck  des  Bleistiftes  an  der  Haut  des 
Fingers  Einrisse  entstanden  und  Blut  auf  das  Papier  floß.  Erst  das  rinnende 
Blut  machte  den  Schüler  auf  die  Verletzung  aufmerksam.  Es  ist  ja  eine 
alte  Erfahrung,  daß  in  Zuständen  hoher  Willensspannung,  wie  sie  der  Wett- 
kampf bedingt,  die  Schwelle  der  Schmerzempfindlichkeit  stark  erhöht  ist. 
Geben  doch  Krieger  an,  daß  erst  das  fließende  und  gerinnende  Blut  oft- 
mals die  Tatsache  der  Verletzung  zu  Bewußtsein  bringt.  Bei  exakter 
Messung  dieser  Verschiebung  der  Grenzmarke  der  Schmerzempfindlichkeit 
fanden  wir  öfters  eine  Vergröberung  um  50  bis  100  ^/q.  Dies  alles  erlaubt 
den  Rückschluß,  daß  die  Schüler  auch  in  den  künstlichen  Bedingungen 
des  Experimentes  wirklich  durch  starken  Wetteifer  angetrieben  waren  und 
tatsächliche  Höchstleistungen  vollführten.  So  gut  wie  einstimmig  wurde 
angegeben,  daß  das  Punktieren,  das  in  der  Tat  eine  hohe  Willensspannung 
voraussetzt,  bei  Gruppenarbeit  oder  beim  Wettkampf  zu  Zweien  viel  besser 
vonstatten  gehe  als  bei  isolierter  Betätigung. 

Die  systematische  qualitative  Analyse  wird  diese  Serienaktion  des  Willens 
im  Anschluß  an  den  einfachen  Reaktionsversuch  zu  diskutieren  haben.  Dort 
wird  auf  einen  einfachen  Reiz  eine  einfache  Willenshandlung  verlangt,  wenn 
etwa  auf  einen  Schall  hin  ein  Taster  niederzudrücken  ist.  Auf  den  einzelnen 
Willensakt  folgt  dann  die  Doppelaktion,  deren  Zergliederung  ebenfalls  schon 
unternommen  ist.  Der  Doppelschlag  wird  nun  erweitert  zur  Serien-  oder 
Daueraktion.  Bei  Erwachsenen  ist  in  der  Selbstbeobachtung  eine  aus- 
gezeichnete Analyse  der  seelischen  Prozesse,  die  diese  Willensleistung  be- 
gleiten, zu  erhalten.  Durch  sie  wird  die  Kontinuität  hergestellt  zwischen 
dem  einfachen  Reaktionsversuch  und  der  Serienreaktion.  Die  Betrachtung 
kann  das  Aufheben  der  Hand  in  Parallele  setzen  mit  dem  Loslassen  des 
Tasters  bei  dem  einfachen  Reaktionsversuch,  so  daß  nun  der  Druck  auf 
das  Papier  und  der  Ton  des  Aufschiagens  das  Signal  zum  Aufheben  des 
Bleistiftes  von  der  Unterlage  darstellt,  welcher  Handlung  sofort  eine  aber- 
malige Innervation  zum  Zwecke  des  Weiterpunktierens  folgt.  Die  Serie 
der  krampfartig  erfolgenden  poppelschwingungen  wird  dann  durch  das 
Schlußkommando  scharf  abgebrochen,  durch  das  auch  eine  allmähliche 
Lösung  der  hohen  Spannung  erfolgt.  Im  Anfange  werden  noch  gesonderte 
Einzelakte  bewußt,  so  daß  das  Aufschlagen  des  Stiftes  noch  als  Reaktions- 
motiv in  Betracht  kommt.  Dann  aber  löst  sich  das  Bewußtsein  heraus 
und  steht  in  kritischer  Betrachtung  über  den  Schwingungen.    Die  Schnellig- 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 


357 


keit  der  Oszillationeu  wird  abgeschätzt,  und  beim  Auftreten  von  Ermüdungs- 
gefühlen werden  Antriebe  rege,  die  die  Leistung  wieder  höher  treiben 
sollen.  Einigemal  wurden  auch  die  Taktschläge  der  Nachbarschaft  kritisch 
verfolgt  und  wirkten  als  starker  Anreiz,  ihre  Rythmik  zu  übertreffen. 

Betrachten  wir  zunächst  das  Ergebnis  einer  Klassen  arbeit,  wo  sich  an 
dem  Wettkampfe  17  Schüler  beteiligten.  Wir  berechnen  als  Repräsen- 
tationswerte das  arithmetische  Mittel  und  die  mittlere  Variation.  Das 
Mittel  ist  bekanntlich  der  Wert,  von  dem  aus  die  Abweichungen  nach  oben 
und  unten  hin  gleich  Null  sind.  Daneben  ist  vor  allem  die  mittlere  Va- 
riation pädagogisch  wertvoll.  Sie  gibt  uns  an,  wie  die  einzelnen  Maßzahlen 
der  Schüler  sich  um  das  Mittel  verteilen.    Der  Grad,  wie  sie  um  einen 


Tabelle  I. 

JA.  Einzelarbeit.    GA.  Gemeinschaftsarbeit. 


Name 

Rangordnung 

Diff.  in  o/o. 

lA. 

GA. 

Mül 

572 

520 

—9 

M.  LEH 

463 

422 

—9 

WO 

428 

417 

—2 

Seh 

416 

393 

—6 

See 

413 

394 

—5 

Lan 

410 

406 

—1 

P.  Leb 

403 

378 

—6 

BEI 

390 

375 

—4 

DU 

386 

413 

+  7 

ST 

378 

406 

+7 

Mü 

366 

374 

+  2 

LI 

349 

378 

+  8 

WIE 

345 

349 

+  1 

WE 

344 

393 

+  14 

WEI 

338 

372 

+  10 

Seh 

324 

383 

+  18 

PO 

316 

1 

356 

+  13 

Arithraet.  Mitt. 

391 

396 

1,30/0 

Mittlere  Variat. 

11,3  »/o 

67o 

5,30/0 

Mittelwert  streuen,  ist  deswegen  so  wichtig,  weil  wir  daraus  auf  die  Ab- 
stände der  einzelnen  Schülerleistungen  von  einander  schließen  können.  Jede 
pädagogische  Maßnahme  will  nicht  nur  einen  hohen  Mittelwert  der  Klassen- 
leistung erzielen,  sondern  vor  allem  auch  eine  geschlossene  Förderung  der 
gesamten  Gemeinschaft  erreichen,  die  in  einer  kleinen  mittleren  Variation 
zum  Ausdruck  kommt.  Alsdann  werden  wir  die  Werte  nach  der  Stellung 
der  Einzelnen  in  der  Rangordnung  zu  fraktionieren,  also  gesondert  zu  be- 
trachten haben. 

Die  Tabelle  I  zeigt  nun,  daß  das  Mittel  der  Einzelleistung  und  das 
Mittel  der  Klassenleistung  annähernd  gleich  groß  sind,  da  die  Gruppen- 
arbeit die  Einzeltätigkeit  nur  um  etwa  1  ^U  übertrifft.  Die  Werte  der 
Einzelarbeit  sind  unter  lA  verzeichnet  und  in  eine  Rangordnung  gebracht. 


358  ^^^  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

Die  nebenstehende  Spalte  gibt  die  Werte  der  Gruppenkonkurrenz  wieder. 
Ist  auch  das  Mittel  nicht  gar  so  sehr  verschieden,  so  besteht  dennoch  ein 
gewaltiger  Unterschied  zwischen  Einzel-  und  Gruppenarbeit,  betrachtet 
man  die  Streuung  der  einzelnen  Leistungen  der  Schüler.  Denn  die 
Streuung  der  Arbeiten  ist  bei  Gemeinschaftsbetätigung  nur  halb  so  groß 
als  bei  isoliertem  Punktieren  der  einzelnen  Schüler.  Dieser  mittlere  Ab- 
stand aller  Leistungen  vom  Mittel  zeigt  also  eindeutig,  daß  die  Gruppe 
weit  geschlossenere  Arbeitsleistungen  hervorbringt,  die  auf  größere 
Gleichartigkeit  der  Willensspannung  zurückzuführen  sein  dürften,  während 
bei  Einzelbetätigung  die  Leistungen  der  Schüler  um  viel  größere  Sprünge 
voneinander  abstehen.  Die  Tendenz  zur  Vereinheitlichung,  die  in 
der  arbeitenden  Gruppe  besteht,  ist  deutlich  ausgeprägt.  Schon  im  all- 
täglichen Bewußtsein  sind  die  Nivellierungstendenzen  der  Massen  sprich- 
wörtlich geworden,  und  nicht  umsonst  ist  die  Uniform  das  Symbol  der 
Masse,  i) 

Wie  kommen  nun  diese  Verschiebungen  der  Leistungen  zustande,  und 
wie  sind  sie  zu  interpretieren?  Kausale  und  teleologische  Betrachtung 
müssen  bei  Analyse  der  Erscheinungen  des  Lebens  stets  Hand  in  Hand 
gehen. 

Vergleichen  wir  die  beiden  Rangordnungen  der  lA-  und  der  GA-Leistungen, 
so  ergibt  sich,  daß  beim  Übergang  zur  Gruppenarbeit  genau  die  obere 
Hälfte  der  Rangordnung  der  Einzelarbeiten  sich  senkt,  während  genau 
die  untere,  also  schlechtere  Hälfte  der  lA-Rangordnung  in  der  Ge- 
meinschaftsbetätigung aufsteigt.  Dabei  ist  die  Herabminderung  der 
Leistungen  der  Besseren  und  die  Aufbesserung  der  Schlechteren  bei 
Gruppenarbeit  durchaus  ungleich.  Denn  die  Schlechteren,  die  untere 
Hälfte  der  Rangordnung,  steigen  gerade  doppelt  so  stark  an,  als  die  obere 
Hälfte  sich  senkt.  Die  Besseren  haben  also  bei  dieser  Art  der  Arbeit 
von  der  Gruppe  keinen  Vorteil,  sondern  nur  Nachteile,  da  ihre  Leistungen 
durch  die  Schlechteren  herabgezogen  werden.  Trotzdem  geben  auch  diese 
Schüler  die  Gruppenarbeit  als  weit  günstiger  an  als  die  Einzelbetätigung. 
Die  prozentuale  Veränderung  der  Leistungen  der  Einzelnen  durch  die 
Gruppe  kann  uns  ein  empirisches  Maß  sein  für  die  kollektive  Wertig- 
keit des  Einzelnen,  seine  Eignung  zur  Gemeinschaftsarbeit.  Da  ergibt 
sich  nun  eindeutig,  daß  die  unteren  Schüler  stets  weit  mehr  durch 
die  Klasse  gefördert  werden  als  die  Besseren.  Welche  Leistungen 
wir  auch  immer  auf  exakte  Weise  prüften:  Gedächtnis,  Aufmerksamkeit 
oder  Wille,  stets  zeigte  sich,  daß  die  Besseren  weniger  gefördert  werden 
als  die  Schlechteren.  In  einigen  Fällen  senkt  sich  die  obere  Hälfte  der 
Rangordnung  ausnahmslos,  in  anderen  Fällen  dagegen  wirken  die  Be- 
dingungen der  gemeinschaftlichen  Arbeit,  etwa  beim  Chorlernen  2),  auch  für 
die  Oberen  leistungssteigernd,  doch  ist  auch  dann  der  Unterschied  vor- 
handen,   daß    die   Schlechteren  wieder  weit  mehr  gefördert  werden. 

1)  Aug.  Mayer,  Über  Einzel-  und  Gesamtleistung  des  Schulkindes.  1904. 
Meumann,  Haus-  und  Schularbeit.  1904.  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die 
experimentelle  Pädagogik.     Bd.  II,  S.  67  und  ff.     I.  Aufl. 

2)  Moede,  Chorlernen  und  Einzellernen.    Archiv  f.  Päd.  IL  Jahrg.  II.    Heft  4. 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß.  359 

Beim  Chorlernen  z.  B.  heben  sich  bei  einigen  Versuchsbedingungen  die 
Schlechteren  etwa  elfmal  so  stark  als  die  Besseren.  Die  Interpretation 
dieser  Tatsache  und  ihre  pädagogischen  Konsequenzen  sind  leicht  zu  geben. 
Sie  wird  verschieden  ausfallen  je  nach  der  Art  der  gerade  geprüften 
Funktion  und  der  Art  der  gegenseitigen  Beeinflussung  der  Gruppenmit- 
glieder. Dessen  ungeachtet  bleibt  der  Satz  bestehen,  daß  die  Schlechteren 
in  jedem  Falle  durch  die  Gruppe  mehr  Vorteile  haben  als  die  Besseren. 
Die  Arbeitsintensität  der  Besseren  scheint  schon  beim  Einzelversuch  so  ge- 
spannt zu  sein,  daß  eine  Verstärkung  nur  in  geringem  Maße  oder  gar 
nicht  möglich  ist,  so  daß  nun  die  Gruppe  viel  mehr  Chance  hat,  störend 
und  leistungsherabsetzend  zu  wirken.  Die  Schlechten  dagegen  gehen  offen- 
bar keineswegs  mit  maximaler  Aufmerksamkeitsspannung  und  Konzentration 
an  die  Arbeit.  Sie  können  daher  durch  die  starke  Arbeitsspannung  der 
Gemeinschaft  weit  eher  angeeifert  werden,  so  daß  Hemmungen  wegfallen, 
Antriebe  wirksam  werden  und  sich  im  Resultat  weit  bessere  Leistungen 
ergeben. 

Im  vorliegenden  Falle  der  Willensbetätigung  ist  es  offenbar  so,  daß  eine 
Wechselwirkung  der  tätigen  Schüler  eintritt.  Jeder  sieht  den  arbeitenden 
Nachbar  und  hört  seinen  aufdringlichen  Rythmus.  Er  hat  das  Bestreben, 
ihn  zu  übertreffen  und  seine  eigene  Leistung  möglichst  hoch  zu  treiben, 
um  als  Sieger  im  allgemeinen  Wetteifer  hervorzugehen.  Aber  aller  Wett- 
eifer ist  schwächer  als  die  Wirkung,  die  von  der  Masse  auf  den  Einzelnen 
und  seine  Impulsgebung  ausstrahlt.  Da  die  Reaktionsgeschwindigkeit  der 
Konkurrenten  große  Unterschiede  zeigt  —  stehen  doch  der  Beste  und  der 
Schlechteste  um  256  Punkteinheiten  von  einander  ab  —  so  ist  es  ganz 
natürlich,  daß  die  Schnelleren  durch  das  Tempo  der  Langsameren  gehemmt 
und  die  Langsameren  von  den  Schnelleren  mit  fortgerissen  werden.  Die 
Schlechteren  hängen  sich  den  Besseren  an  die  Füße  und  hindern  sie  am 
raschen  Ausschreiten.  Zwei  Körper  ungleicher  Temperatur  gleichen  die 
Temperaturdifferenz  ebenfalls  aus,  indem  sie  sich  auf  einer  mittleren  Linie 
einigen.  Oder  ein  anderes  Beispiel:  Laufen  ein  Schneller  und  ein  Lang- 
samer Hand  in  Hand  um  die  Wette,  so  schlagen  die  Beiden  auch  ein 
mittleres  Tempo  ein,  indem  der  Eine  sich  gehemmt,  der  andere  gefördert 
sieht.  Da  nun  die  Oberen  ihre  Leistungen  in  der  Gruppe  senken,  die 
Unteren  dagegen  aufsteigen,  ergibt  sich  ein  Mittelwert,  der  von  dem  Mittel 
der  Einzelarbeiten  nicht  sehr  abweicht.  Die  Zusammenschließung  der  Teil- 
nehmer jedoch  durch  die  gemeinsame  Tätigkeit  zeigt  sich  in  dem  starken 
Sturz  der  mittleren  Variation;  es  ist  die  mittlere  Streuung  aller  Arbeiten 
der  Klasse  nur  halb  so  groß  als  die  Streuung  aller  Einzelarbeiten. 

Ist  diese  Theorie  der  unmittelbaren  Wechselwirkung  richtig,  so  muß  eine 
Teilung  der  Gruppe  und  ein  Wettkampf  von  nur  annähernd  gleichwertigen 
Schülern  die  Probe  auf  das  Exempel  abgeben  und  eine  Bestätigung  der 
Voraussetzung  liefern  können.  Denn  nun  müssen  die  Konkurrenten,  die 
etwa  der  besseren  Hälfte  der  Rangordnung  angehören  und  in  ihren 
Leistungen  sich  lediglich  um  kleine  Beträge  unterscheiden,  nur  Auf- 
besserung ihrer  Leistung  durch  eine  gemeinschaftliche  Tätigkeit  zeigen, 
da  nun   der  Hemmschuh  der  Schlechteren,  der  ihr  Tempo  bremste,  weg- 


360  ^^^  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

fällt  und  nur  die  anregenden  Wirkungen  der  Konkurrenz  gleichwertiger 
Partner  wirksam  sind.  In  der  Tat  bestätigt  das  Experiment  diese  An- 
nahine.  Treten  nur  gleichwertige  Knaben  in  Konkurrenz,  so  zeigt  sich 
nur  Aufbesserung  der  Leistung  durch  den  Wettkampf.    Tabelle  2  lehrt, 


Tabelle  ü. 

Gruppe  zu  16 

Einzelarbeit 

Wettkampf  zweier  Gleichwertiger 

Vp.A. 
Vp.B. 

375 
393 

390 

416 

392 
430 

daß  die  Konkurrenten  A  und  B,  die  Inhaber  oberer  Rangplätze,  die 
geringsten  Leistungsmaßzahlen  in  der  Gruppe  zu  16  aufweisen,  während 
die  Einzelarbeit  über  diesen  Werten  steht  und  die  Konkurrenz  zu  zweien 
die  besten  Leistungen  aufweist.  Die  Bedingungen  des  Wetteifers,  so  können 
wir  schon  jetzt  ableiten,  sind  dann  am  günstigsten,  wenn  nicht  gar  zu 
große  Differenzen  zwischen  den  zum  Wettkampfe  Antretenden  bestehen. 
Nun  ist  eine  weitgehende  Umwertung  der  Rangordnung  und  eine 
Vertauschung  der  Rangplätze  für  alle  Beteiligten  von  vornherein  nicht 
unmöglich,  da  sich  nun  jeder  an  die  Spitze  setzen  oder  in  der  Rang- 
ordnung um  hohe  Werte  aufsteigen  kann.  Doch  diese  Vermutung  und  die 
besonderen  seelischen  Bedingungen,  die  der  Wettkampf  voraussetzt  und 
auslöst,  studieren  wir  am  besten,  indem  wir  systematisch  die  andere  Seite 
des  Willensimpulses  prüfen,  seine  Kraftleistung  am  Dynamometer.  Sollte 
diese  Tatsache,  daß  Wetteifer  nur  annähernd  gleichwertiger  Schüler, 
deren  Leistungen  sich  um  nicht  gar  zu  große  Beiträge  von  einander  ab- 
heben, typisch  sein  für  alle  Arten  wetteifernder  ^Betätigung  der  Klasse, 
so  liegt  schon  jetzt  eine  Sonderung  der  Klasse  nach  Begabungsgraden,  wie 
sie  im  Mannheimer  System  geschieht,  ganz  am  Wege.  Zum  mindesten 
sind  von  dem  Mittelmaß  der  Klasse  die  unter  dem  Mittel  Stehenden  ab- 
zuscheiden, sowie  natürlich  vornweg  schon  die  ganz  Schlechten.  Aber 
weiter  wären  auch  die  höher  Begabten  und  die  extrem  hoch  Befähigten 
in  besonderen  Verbänden  zu  unterrichten. 

Ehe  wir  die  Kraftleistung  des  Willensimpulses  bestimmen,  ist  es  nötig, 
auf  die  Zweckmäßigkeit  hinzuweisen,  die  durch  die  gegenseitige  An- 
näherung der  arbeitenden  Mitglieder  einer  Gemeinschaft  sichtbar  wird. 
Offenbar  ist  es  eine  Art  Gleichschritt  der  Massen,  der  sich  auto- 
matisch durch  die  gemeinsame  Funktion  herausbildet.  Dadurch  wird  ohne 
weiteres  ein  enger  Zusammenschluß  der  Vielen  zu  einer  Einheit  erreicht, 
was  wieder  eine  Vorbedingung  ist  für  alle  gemeinsame  Aktion  sozialer 
Wesen.  Der  Gleichschritt  war  schon  im  Altertum  ein  bekanntes  Mittel, 
um  'größere  Menschenmassen  zu  einem  Körper  gleichsam  zusammenzu- 
schließen, so  daß  nun  die  Lenkung  der  künstlich  hergestellten  Einheit  erst 
möglich  und  durchführbar  wird.  Weiter  ist  es  bekannt,  wie  eine  gemein- 
sam tätige  Masse  von  Menschen  sich  oftmals  ohne  weiteres  organisiert,  in- 
dem eine  taktmäßige  Arbeit  eingeschlagen  wird,  wodurch  Gliederung  und 
Struktur  in  die  Menge  kommt  und  der  Arbeitsprozeß  leichter  und  stetiger 
abläuft. 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 


361 


Fig.  1.  Dynamometer  nach  C ollin. 


Die  Kraftentfaltung  eines  momentanen  Willensimpulses  wirdmitHilfe  des 
Dynamometers  geprüft.  Das  Dynamometer  nach  Coli  in  (vgl.  Fig.  1)  besteht 
aus  einem  ovalen  Stahlbande,  das  der 
Versuchsperson  in  die  Hand  gegeben 
wird  und  das  sie  auf  ein  Kommando 
hin  momentan  zusammenzudrücken  hat. 
Die  Kraftleistung  bewirkt  eine  Durch- 
biegung des  elastischen  Bandes,  die  durch 
einen  Zeiger  in  Kilogrammwerten  regi- 
striert wird.  Da  außerdem  noch  ein 
zweiter  Zeiger  angebracht  ist,  der  bei 
der  Höchstleistung  stehen  bleibt,  so  kann 

die  Maximalleistung  leicht  abgelesen  werden.*)  Bei  richtiger  Bedienung 
des  Instrumentes  liefert  es  ruhige  Werte,  die  sich  den  verschiedenen 
Versuchsbedingungen  ausgezeichnet  anpassen.  Bei  hinreichender  Übung 
genügen  schon  5  Werte,  um  uns  über  die  Impulsleistung  der  Versuchs- 
person zu  unterrichten.  Es  werden  wieder  gesonderte  Maßzahlen  der 
Einzelarbeit  und  Gruppenarbeit  unter  Wechsel  der  Zeitlage  einge- 
schaltet. Diesmal  sind  besonders  die  Ermüdungseinflüsse  zu  berücksichtigen 
und  die  sich  einstellenden  Schmerzempfindungen,  die  teils  leistungssteigernd, 
teils  herabsetzend  wirken.  Durch  Einschaltung  geeigneter  Pausen  wird 
diese  Fehlerquelle  vermieden. 

Wie  ändert  sich  nun  die  Kraftleistung,  wenn  der  Schüler  in  der  Gruppe 
arbeitet?  Wie  wirkt  zunächst  der  Wettkampf  zu  Zweien  und  welchen 
Einfluß  hat  eine  Konkurrenz  von  ganzen  Gruppen?  Neben  der  Maßzahl, 
der  quantitativen  Analyse,  sind  stets  die  parallelen  seelischen  Prozesse  ein- 
gehend zu  zergliedern,  die  teils  durch  den  Bericht,  teils  durch  Verhör  im 
Protokoll  niedergelegt  werden. 

Nachdem  zunächst  die  Kraftleistung  der  Schüler  in  der  Einzelarbeit 
festgestellt  ist,  wird  ein  Wettkampf  zu  Zweien  veranstaltet.  Die  Gegner 
konnten  sich  selbst  wählen.  Sie  standen  einander  gegenüber,  komman- 
dierten sich  gegenseitig  und  überwachten  die  korrekte  Ausführung  des 
Druckes  und  die  richtige  Ablesung  der  Leistung.  Der  Sieger  wird  stets 
laut  verkündet.  Nach  Erledigung  von  5  Gängen  wird  eine  Pause  einge- 
schaltet, auf  die  weitere  5  Versuche  folgen.  Tabelle  3  zeigt  die  Werte  der 
Isolationsarbeit  und  den  Erfolg  des  Wettkampfes. 

Tabelle  HI. 


Mittel 

M.  Variat. 

Einzelvariation 


Einzelarbeit 


20,3  kg. 

16,6«/o 

6,60/0 


Zweikampf 


22,4  kg. 

13,10/0 

4,90/0 


1)  Wir  benutzen  für  Demonatrationazweoke  ein  sehr  billiges  Zugdynamonieter, 
da«  nicht  auf  Druck,  sondern  auf  Zug  anspricht.  Es  befindet  «sich  in  dem  nach 
meinen  Angaben  hergestellten  Arbeitskasten,  der  einfache  und  billige  Arbeits- 
instrumente zur  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik  enthält.  Die  In- 
strumente sind  von  der  Firma  Wilhelm  Petzold,  Leipzig -Kieinzschocher 
fabriziert  und  von  ihr  zu  beziehen. 


362  I^ßr  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

Aus  dieser  Tabelle  ersehen  wir,  daß  die  Wettarbeit  zu  Zweien  die  Einzel- 
arbeit um  10  Proz.  übertrifft.  Kontrollversuche  6  Wochen  nach  diesen 
ersten  Versuchsreihen  ergaben  11  Proz.,  so  daß  die  Beständigkeit  der  Auf- 
besserung der  Leistung  durch  den  Wettkampf  ganz  besonders  groß  ist, 
zieht  man  noch  die  Fehler  des  Instrumentes  mit  in  Betracht.  Die  mittlere 
Abweichung  aller  Leistungen  der  Teilnehmer  vom  Mittel  ist  wieder  wie 
beim  Punktieren  bei  kollektiver  Betätigung  kleiner,  geht  doch  die  mittlere 
Variation  um  3,4  Proz.  zurück  bei  den  Werten  des  Wettkampfes.  Da  nun 
10  mal  gedrückt  wurde,  so  müssen  wir  auch  noch  die  mittlere  Streuung 
dieser  einzelnen  10  Werte  für  jede  Versuchsperson  gesondert  berechnen. 
Wir  nennen  sie  Einzelvariation.  Diese  Einzelvariation  ist  psychologisch 
und  pädagogisch  sehr  wertvoll,  da  sie  ein  Gradmesser  ist  für  die  Stetigkeit 
der  Willensspannung,  die  der  Einzelne  bei  seiner  Arbeit  zeigt.  Wie 
zu  erwarten,  ist  diese  Konzentration  des  Willens  größer  beim  Kampf 
der  Beiden  als  bei  Isolationsarbeit.  Die  Gegnerschaft  wirkt  also  stark 
willensspannend  und  vermehrt  die  Stetigkeit  der  allgemeinen  geistigen 
Haltung,  da  sie  Schwankungen  der  Konzentration  und  der  Impulsgebung 
nicht  zuläßt. 

Betrachtet  man  nun  die  Stärke  der  einzelnen  Kämpfer,  die  sich  frei 
zum  Kampfe  forderten,  so  sieht  man,  daß  die  jeweils  Ringenden  um  nicht 
gSLT  zu  große  Unterschiede  der  Kraftleistung  von  einander  abstehen.  Dadurch 
also  war  die  Möglichkeit  vorhanden,  daß  jeder  der  beiden  Konkurrenten 
aus  dem  Zweikampfe  als  Sieger  hervorgehen  konnte.  Damit  ist  aber  ein 
Hinweis  gegeben  für  die  günstigsten  Bedingungen  jedes  Wettkampfes  über- 
haupt. Liegen  gar  zu  große  Unterschiede  der  Kraftleistung  zwischen  den 
beiden  Konkurrierenden,  so  entwickelt  sich  keine  frohe  Kampfesstimmung, 
und  eine  Leistungssteigerung  durch  Wetteifer  tritt  nicht  ein.  Bei  idealem 
Wettkampfe  bilden  die  beiden  Kämpfer  eine  Gruppe,  in  der  Stoß  und 
Gegenstoß  sich  gegenseitig  bedingen.  Das  Gesetz  des  Parallelismus  der 
Impulse  besagt,  daß  die  beiden  Gegner  ihre  Impulse  wechselseitig  ein- 
ander anpassen.  Steigt  die  Leistung  des  Einen,  so  treibt  auch  der  Gegner 
seine  Druckwerte  in  die  Höhe.  An  dem  Verlauf  der  Maßzahlen  des  Dynamo- 
meters kann  dieser  Satz  der  Korrespondenz  der  Impulse  gut  begründet 
werden.  Die  wechselseitige  Anpassung  der  Ringenden  stellt  augenscheinlich 
eine  zweckmäßige  Einrichtung  der  Kräfteökonomie  unseres  Organismus 
dar.  Nur  in  sehr  seltenen  Fällen  kommt  diese  Tatsache  den  Versuchs- 
personen zu  Bewußtsein.  Ändert  man  wieder  künstlich  die  Bedingungen 
des  Wettkampfes,  so  müssen  ganz  andere  Werte  sich  ergeben,  wenn  wir 
dieselben  Schüler,  nun  aber  in  anderer  Kombination,  den  gleichen  Wett- 
kampf erledigen  lassen.  Wir  bestimmen  also  diesmal  die  Gegner  und  stellen 
immer  solche  Knaben  einander  gegenüber,  deren  Kraftleistungen  starke 
Unterschiede  aufweisen.  Gilt  der  Satz  derKorrespondenz  derlmpulse 
und  der  Satz  geringen  Distanzniveaus  als  einer  notwendigen  Bedingung 
idealen  Wetteifers,  so  werden  sich  ganz  eigenartige  Druckwerte  am  Dynamo- 
meter zeigen.  Tabelle  IV  enthält  links  die  Maßzahlen  idealer  Wettarbeit, 
während  rechts  die  Werte  der  anormalen  Konkurrenz  aufgezeichnet  sind. 
Wir  sehen   aus   ihr,  daß  bei  idealem  Wetteifer  eine  beträchtliche  Höhe 


Der  Wetteiier,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 


363 


der  Leistung  erreicht  wird,  daß  aber  bei  anormaler  Wettarbeit,  wo  die 
Distanz  der  Leistungsfähigkeit  zwischen  den  beiden  Wetteifernden  von 
vornherein  sehr  stark  ist,  eine  erhebliche  Verschlechterung  der  Druck- 
werte auf  beiden  Seiten  eintritt.  Der  Schwache  erhebt  seine  Impulsstärke 
nicht,  da  die  Aussicht  auf  Überwindung  des  allzu  starken  Gegners  nicht 
besteht,  und  der  Starke  paßt  seine  Innervation  den  Impulsen  des  Schwachen 
an  und  läßt  nach.  Der  Unterlegene  nimmt  wohl  öfters  einen  Anlauf,  aber 
fällt  bald  ab,  so  daß  die  mittlere  Variation  seiner  Leistungen  wächst.  Der 
Starke  umgekehrt  leistet  vielleicht  in  den  ersten  Gängen  noch  Gutes,  sinkt 
dann  aber  auch  und  kann  seine  Willensspannung  nicht  aufrechterhalten, 
da  der  ebenbürtige  Gegner  fehlt,  der  ihn  in  Atem  hält. 

Tabelle  IV. 


Summe  von  5  Gängen 

Summe  von  5  Gängen 

Vp.  A. 
Vp.  B. 

134  kg. 
130    „ 

Vp.  A. 
Vp.  E. 

111  kg. 

80    „ 

Vp.  C. 
Vp.  D. 

109    „ 
104    „ 

Vp.  C. 
Vp.  F. 

94    „ 
79    „ 

Wir  folgern  also,  die  Bedingungen  idealen  Wetteifers,  sind  dann  ge- 
geben, wenn  die  in  Wettkampf  Tretenden  um  nicht  allzu  große  Unter- 
schiede der  Leistungsfähigkeit  voneinander  entfernt  sind.  Hier,  wo  es  sich 
freilich  nicht  um  ein  automatisches  Mitgerissen  werden,  wie  beim  Taktieren 
handelt,  sondern  um  aktive  Impulsgebung  und  aktive  starke  Dauerspannung, 
besteht  genau  wie  beim  Punktieren  eine  Grenze,  die  kollektive  Schwelle 
des  Wetteifers,  unterhalb  derer  die  Möglichkeit  eines  normalen  Wett- 
eifers mit  nur  heilsamen  Folgen  auf  Leistungshöhe  und  Konzentration 
zunehmend  unwahrscheinlicher  wird.  Diesseits  der  Schwelle,  die  also 
objektiv  die  Niveaudifferenzen  der  gegenseitigen  Leistungsfähigkeit  festlegt 
und  subjektiv  die  Grenze  darstellt,  wo  seelisch  die  Begleitprozesse  normalen 
Wetteifems  eintreten,  ist  die  Möglichkeit  einer  idealen  und  heilsamen 
Konkurrenz  gegeben,  die  dann  von  diesem  Punkte  aus  zunehmend  größere 
Chancen  hat,  leistungssteigernd  und  willensspanncnd  zu  wirken. 

Ein  Gesetz  der  Anpassung  der  Impulse  umschließt  weiter  die  beiden 
Gegner,  indem  Stoß  und  Gegenstoß  sich  wechselseitig  bedingen.  Der  Satz 
der  Korrespondenz  der  Impulse  hat  natürlich  seine  Grenze  an  der  Grenze 
des  idealen  Wettkampfes.  Er  verliert  seine  Wirksamkeit,  wo  von  vorn- 
herein  die  Möglichkeit  eines  Austausches  des  Rangplatzes  nicht  besteht. 

Welches  sind  nun  die  qualitativen  Prozesse,  die  in  den  beiden 
Kämpfenden  den  Ablauf  des  Wettkampfcs  begleiten?  Es  treten  zwei 
Individuen  in  die  Konkurrenz  ein.  Noch  sind  sie  einander  gleichwertig. 
Beide  sind  beseelt  von  dem  gleichen  Ziele,  den  Anderen  zu  übertreffen. 
Jeder  wird  eine  Höchstleistung  des  Willens  aufbieten,  um  den  Anderen 
zu  besiegen.  Eine  Tendenz  zur  Differenzierung  aber  ist  darin  gegeben, 
daß  der  Eine  Sieger  werden  wird.  Der  Eine  geht  als  Sieger  hervor, 
während  der  Andere  als  Unterlegener  den  Wettkampf  verläßt.    Damit  ist 


364  Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

eine  Sonderung  und  Scheidung  unter  den  zunächst  gleichwertigen  Gefährten 
eingetreten.  Der  Prozeß  der  kollektiven  Differenzierung  ist  von  starken 
Gefühlstönen  begleitet.  Die  Wertschätzung,  die  die  Menge  dem  Sieger 
und  dem  Besiegten  zuteil  werden  läßt,  ist  eine  ganz  verschiedene  und 
zwar  polar  entgegengesetzt.  Dem  Sieger  jubelt  die  Menge  zu,  während 
der  Besiegte  nur  Spott  und  Mißachtung  evtl.  auch  Bedauern  erntet.  Auch 
im  Innern  der  Konkurrenten  sieht  es  ganz  verschieden  aus.  Der  Freude 
des  Siegers  steht  das  Bedauern  des  Besiegten  gegenüber.  Der  Sieger  will 
seinen  Rangplatz  behaupten,  während  der  Besiegte  die  Rangplätze  ver- 
tauschen möchte.  Die  Impulsgebung  des  zweiten  Ganges  entspringt  also 
ganz  anderer  Motivation.  Der  Unterschied  soll  dauernd  so  bleiben,  wie  er 
nach  Ausgang  des  ersten  Ganges  entstand,  das  ist  der  Wille  des  Siegers.  Es 
soll  eine  Umwertung  der  Rangplätze  eintreten,  dahin  geht  der  Wunsch  des 
Besiegten.  Dieses  normale  Ringen  aber  ist  nur  dann  möglich,  wenn  der 
Kräfteunterschied  zwischen  den  Kämpfenden  von  vornherein  nicht  zu  groß 
ist.  Nur  dann  hat  jeder  die  Möglichkeit,  Sieger  zu  werden,  und  wechsel- 
seitig können  Kräfte  zur  Entfaltung  kommen.  Im  anderen  Falle  dagegen, 
wo  das  Ergebnis  des  Kampfes  schon  von  vornherein  feststeht  und  die 
Möglichkeit  des  Austausches  der  Rangplätze  nicht  gegeben  ist,  werden 
beide  Partner  nachlassen.  Der  Unterlegene  wird  mutlos  und  verschlechtert 
seine  Leistung.  Auch  der  Sieger  findet  keinen  genügenden  Anreiz  zu 
Höchstleistungen.  Dann  liegt  ein  anormaler  Wettkampf  vor,  und  die 
Leistungen  der  Beiden  senken  sich,  so  daß  dann  die  Einzelarbeit  bessere 
und  stetigere  Werte  ergibt. 

Die  Praxis  der  Schule  benutzt  seit  alter  Zeit  Ehrgeiz  und  Wetteifer  der 
Schüler,  um  mit  deren  Hilfe  Antriebe  zu  reger  Arbeit  zu  setzen.  Die 
Leistungen  der  Schüler  werden  von  einem  Richter,  dem  Lehrer,  gewertet. 
Er  ordnet  die  Schüler  in  eine  Rangordnung.  Der  Rangplatz  des  Schülers 
ist  somit  der  Gradmesser  der  Leistung  und  des  Betragens  der  Einzelnen. 
Wie  im  Wettkampfe  eine  Sonderung  in  einen  Sieger  und  Besiegten  eintritt, 
die  beide  bei  dem  Zuschauer  ganz  verschiedene  Wertschätzung  genießen, 
so  findet  durch  die  Verschiebung  des  Rangplatzes  der  Schüler  ebenfalls 
eine  stete  Differenzierung  im  Schülerstaate  statt.  Die  unterschiedliche 
Wertung  der  einzelnen  Rangplätze  in  den  Gefühlen  der  Schüler,  Lehrer 
und  Eltern  sind  die  Voraussetzung  dafür,  daß  diese  Einrichtung  verschieb- 
barer Rangplätze  pädagogisch  wertvoll  ist  und  wirklich  antriebssetzend 
wirkt.  Denn  nun  bekommt  der  Schüler  für  seine  Bemühungen  anschau- 
liche und  objektive  Gegenwerte.  Der  subjektive  Wissenszuwachs  und  die 
eigne  Freude  am  Fortschritt  kommen  wohl  sehr  viel  seltener  als  Motive 
zur  Kraftentfaltung  für  den  Schüler  in  Betracht  als  die  sichtbaren  objek- 
tiven Erfolge,  die  im  Erringen  eines  höheren  Rangplatzes  und  den  mannig- 
fachen Gefühlswerten  bestehen,  die  der  Mitschüler,  der  Lehrer  und  die 
Eltern  jedem  Auf-  und  Abstiege  in  der  Rangordnung  entgegenbringen. 
Die  heilsamen  Wirkungen  dieser  anschaulichen  Wertung  und  Abschätzung 
der  einzelnen  Leistungen  in  der  Rangordnung  wird  kaum  ein  Pädagog 
vermissen  wollen.  Indem  nun  der  Rangplatz  den  Schüler  in  eine  ge- 
staffelte Reihe  von  Leistungsträgern  einordnet  und  indem  dieser  Rangplatz 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß.  365 

beweglich  ist  und  seinen  Verschiebungen  nach  oben  und  unten  hin  die 
mannigfaltigsten  Gefühlswerte  aller  Beteiligten  entsprechen,  so  werden  da- 
durch dauernd  Antriebe  im  Schüler  gesetzt,  seine  Leistungen  auf  der  Höhe 
zu  halten  oder  zu  verbessern.  Damit  aber,  daß  die  unmittelbare  Nach- 
barschaft für  jeden  Rangplatz  die  größte  Bedeutung  hat,  da  er  von  ihr 
aus  zu  allererst  einen  Angriff  auf  seine  Stellung  zu  befürchten  hat,  wird 
idealer  Wettkampf  dieser  Untergruppen  der  Klassengemeinschaft  dauernd 
erregt  und  wachgehalten.  Die  natürlichen  Verhältnisse  der  Schule  nähern 
sich  also  sehr  den  künstlichen  Bedingungen  des  als  ideal  bezeichneten 
Wettkampfes  an.  Die  Unterschiede  zwischen  den  Nachbarn  sind  nicht 
allzugroß.  Für  die  größere  Anstrengung  hat  der  Schüler  stets  den  an- 
schaulichen Gegenwert  des  Umtausches  des  Rangplatzes  vor  Augen.  Eine 
vollkommenste  Bedingung  dieser  idealen  Konkurrenz  ist  nach  diesen 
Voraussetzungen  dann  gegeben,  wenn  zunächst  in  den  einzelnen  Fächern 
gesondert  versetzt  wird  und  dann  auch  eine  Differenzierung  der  Klasse 
nach  dem  Gesichtspunkt  der  Begabung  eingetreten  ist,  wie  dies  im  Mann- 
heimer System  geschieht.  Denn  dadurch  ist  es  möglich,  daß  die  Ver- 
schiebbarkeit der  Rangplätze  weit  größer  sein  kann  als  in  einer  Klasse, 
wo  die  Begabungsgrade  schon  wieder  Gruppen  schaffen,  deren  Grenzen 
von  vornherein  unübersteigbar  sind.  In  der  Klasse  der  Unterbegabten, 
den  Förderklassen,  kann  sich  in  ganz  anderer  Weise  unter  den  einzelnen 
Schülern  ein  Wetteifer  mit  all  seinen  heilsamen  Folgen  für  Lehrer  und 
Lernenden  entfalten  als  in  der  gemischten  Klasse,  wo  der  Unterbegabte 
bald  die  Grenze  seines  engbemessenen  Aufstieges  in  der  Rangreihe  zu  fühlen 
bekommt  i).  Unter  solchen  Voraussetzungen  besteht  die  Möglichkeit,  daß 
der  Schüler  seine  unterschiedlichen  Fähigkeiten  voll  arbeiten  läßt,  da  er 
sich  nun  in  steter  Reibung  mit  annähernd  gleichwertigen  Genossen  befindet, 
die  in  seiner  unmittelbaren  Nähe  sitzen. 

Auch  die  Praxis  des  Lebens  zeigt  uns,  daß  das  Unterschiedsbe- 
bewußtsein,  dem  das  Bestreben  nach  Austausch  der  Rangplätze  entspringt, 
am  stärksten  unter  annähernd  Gleichwertigen  entbrennt.  Der  König 
und  der  Bettler  konkurrieren  nicht,  wohl  aber  die  Angehörigen  benach- 
barter gesellschaftlicher  Rangplätze.  Gerade  dann,  wenn  zwischen  zwei 
Personen  oder  Familien  große  Gleichartigkeit  besteht,  so  wird  der  in  einer 
ganz  bestimmten  Richtung  bestehende  Unterschied  um  so  stärker  bewußt. 
Denn  nun  hebt  sich  von  dem  großen  gleichartigen  Besitztum  um  so  schärfer 
dasjenige  ab,  was  der  Gefährte  allein  besitzt.  Das  prächtige  Gewand  des 
Fürsten  erregt  nicht  ernstlich  den  Neid  der  Frau  X  und  löst  nicht  ernst- 
haft den  Wunsch  aus,  es  zu  tragen,  wohl  aber  die  kostbare  Robe  der 
Frau  Nachbarin,  die  sich  damit  trotz  gleicher  sozialer  und  ökonomischer 
Lage  schmückt  und  gerade  deswegen  sich  weit  über  ihre  Bekannten  zu 
deren  großem  Leidwesen  heraushebt,  so  könnte  man  ein  triviales  Beispiel 
wählen.  Oder  betrachten  wir  die  Geschichte,  so  kann  man  nach  Simmel 
behaupten,    daß    die   Lutheraner   und   Kalvinisten   sich   ärger  befehdeten 


1)  über  die  vorzügliche  Stimmung  auch  in  den  Förderklassen   berichtete  uns 
Herr  Schulrat  Sickingcr  persönlich. 


366  Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

als  die  Lutheraner  und  Katholiken.  Gerade  weil  also  zu  dem  großen 
gemeinsamen  Bezirke  gleichartiger  Überzeugungen  nun  etwas  Neues  und 
Trennendes  hinzukam,  so  war  das  Bewußtsein  der  Verschiedenheit  zwischen 
den  eigentlich  näherstehenden  religiösen  Gemeinschaften  stärker.  Abstrakt 
kann  man  den  Sachverhalt  dahin  formulieren:  Es  kommt  nicht  auf  die 
absolute  Größe  des  Unterschiedes  an,  der  den  Einen  vom  Anderen  trennt, 
sondern  nur  auf  den  relativen  Betrag  von  Verschiedenheit,  der  zu  einem 
gemeinsamen  Besitz  von  bestimmter  Größe  hinzukommt.  Diese  kollektive 
Unterschiedsschwelle,  die  den  Wunsch  nach  Umwertung  der  Rangplätze 
entstehen  läßt,  untersteht  also  ebenfalls  einem  allgemeinen  Relativitäten- 
gesetz wie  alles  psychische  Erleben. 

Nachdem  wir  den  Wettkampf  der  Beiden  untersucht  haben,  wollen 
wir  ganze  Gruppen  in  Konkurrenz  treten  lassen.  Immer  5  Schüler  bilden 
eine  Partei,  die  einem  Führer  untersteht.  Als  neues  Moment  des  Wett- 
kampfes kommt  nun  die  Solidarität  der  Parteigenossen  hinzu,  die  die 
Impulsgebung  meßbar  beeinflußt.  Weiter  ist  wichtig  der  Einfluß  des 
Führers,  der  ebenfalls  an  dem  Gange  der  Zahlen  zu  bestimmen  ist.  Die 
Solidarität  ist  den  einzelnen  Parteimitgliedern  teils  bewußt,  teils  wird  sie 
nicht  im  hellen  Erlebnis  gespiegelt.  Stets  aber  äußert  sich  dies  neue 
Moment  in  den  Maßzahlen.  Tafel  V  lehrt,  daß  das  Mittel  der  gleichen 
Anzahl  von  Dynamometerdrucken  bei  Gruppenkonkurrenz  größer  ist  als 
bei  einem  Wettkampf  von  je  zwei  Knaben.  Am  wenigsten  leisteten  also 
die  Schüler,  wenn  sie  allein  arbeiteten.  Bei  idealer  Konkurrenz  zu  Zweien 
steigen  die  Werte  und  beim  Gruppenwettkampf  erheben  sie  sich  zu  einem 
Maximum. 

Tabelle  V. 


Einzelarbeit 


Zweikampf 


Gruppenkampf 


Druckwerte 
Mittl.  Variat. 


161,6  kg. 
71,2  o/o 


188,8  kg. 
60,9  o/o 


195,2  kg. 
53,8  o/o 


Parallel  mit  dem  Anstiege  der  Druckwerte  verkleinert  sich  die  mittlere 
Abweichung  aller  Werte  vom  Mittel  als  Zeichen  dafür,  daß  die  Ge- 
schlossenheit der  Leistungen  mehr  und  mehr  zunimmt.  Schon  die 
beiden  Kämpfenden  unterstehen  dieser  auf  Angleichung  gerichteten  Tendenz 
und  mehr  noch  die  solidarisch  verbundenen  Genossen  der  kämpfenden 
Gruppe.    Auch  die  Streuung  der  einzelnen   Werte   der  Versuchsperson 

Tabelle  VI. 
Tabelle  der  Einzelvariationen. 


Einzelarbeit  Zweikampf  Gruppenkampf 


35,6  O/o  I  30,50/0  I  26,8  0/0 

um  ihr  eigenes  Mittel,  die  als  Maß  der  individuellen  Willensspannung  de- 
finiert worden  war,  wird  naturgemäß  durch  das  Bewußtsein  der  Soli- 
darität noch  kleiner  werden  als  im  Zweikampfe,  der  auch  schon  bei 
günstigen  Bedingungen  stark  willensspannend  wirkte.  Nun  bei  dem  Gruppen- 


Der  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 


367 


kämpfe  stellt  sich  eine  ruhige  Sicherheit  des  Arbeitens  ein,  da  jeder  sich 
dessen  be\Mißt  ist,  an  seinem  Gefährten  eine  Hilfe  zu  haben.  Jeder  ist 
bestrebt,  seine  eigene  und  damit  die  Leistung  seiner  Gruppe  recht  hoch 
zu  treiben.  In  dieser  Hinsicht  ist  Solidarität  Gruppenegoismus.  Versagt 
nun  wirklich  einer  der  Parteigänger,  so  tritt  sein  Nachfolger  für  ihn  und 
damit  für  das  gefälirdete  Parteiwohl  ein.  Der  Satz  der  Korrespondenz 
der  Impulse,  der  also  die  Impulsgebung  zwischen  den  Gegnern  bestimmt, 
wird  hier  ergänzt  durch  die  solidarisch  gerichtete  Anpassung  der 
Impulse  der  Gefährten  einer  Gruppe.  Durch  erhöhte  Willensspannung 
wird  der  Leistungsausfall  eines  der  Parteimitglieder  auszugleichen  versucht. 
Diese  auf  der  Grundlage  der  Solidarität  beruhende  Anpassung  der  Impulse 
ist  neben  der  durch  die  Gegnerschaft  bedingten  Korrespondenz  oft  zu  be- 
obachten. Durch  diese  kollektive  Anpassung  aber  wird  ein  einendes  Band 
um  die  Partei  geschlungen,  wie  auch  zwischen  den  Parteien  durch  jene 
andere  Art  der  Impulsanpassung  Beziehungen  geschaffen  werden.  Der  Aus 
sage  der  Schüler  zufolge  ist  das  Gruppenringeu  am  schönsten  von  allen 
Wettarbeiten. 

Die  Anpassung  der  Impulse  zwischen  den  gegnerischen  Gruppen  kann 
man  sehr  gut  belegen.  Die  Werte  der  ringenden  Gruppen  A  und  B  schlagen 
einen  genauen  Parallelismus  ein.    Sie  lauten: 


i/n 

m/iv 

V/Vl 

vi/vn. 

Gruppe  A 
Gruppe  B 

147,5 
141,2 

148,5 
150,3 

141 
146,3 

138,5  kg. 
143,3    „ 

Die  Maßzahlen  entsprechen  den  einzelnen  Gängen.  Die  zweite  Zahl 
zeigt  ein  Überwiegen  der  Gruppe  B.  Sie  ist  bis  dahin  unterlegen  gewesen 
und  holt  nach  der  Pause  nach  dem  zweiten  Gange  zum  Gegenstoß  aus» 
schwingt  sich  zum  Sieger  auf  und  behält  dann  die  führende  Rolle  bei. 
Trotz  dieser  Impuls  Verstärkung  bleibt  der  relative  Parallelismus  der  Werte 
der  beiden  Parteien  erhalten.  Auch  die  Impulsanpassung  innerhalb  der 
eigenen  Partei  ist  mit  mannigfachen  Zalilen  zu  beweisen,  stiegen  doch 
einige  Schüler  um  volle  20  Proz.  ihrer  Werte,  als  es  galt,  infolge  Nach- 
lassens  eines  der  Genossen  das  bedrohte  Parteiwohl  zu  retten.  Ein  Spezial- 
fall der  solidarischen  Anpassung  ist  die  Leistungszunahme  des  Führers. 
Sein  Vorbild   und  Beispiel   wirkt  kräftig  auf  die  ihm  unterstellte  Partei. 

Schließlich  ist  wieder  Sieg  und  Niederlage  von  entscheidender  Bedeutung. 
Liegt  eine  ideale  Konkurrenz  vor,  so  daß  die  einzelnen  Abstände  der  Partei- 
leistungen nicht  allzu  groß  sind,  so  wirkt  das  Wechselspiel  von  Sieg  und 
Niederlage  wieder  kräfteerregend.  Sind  dagegen  zwischen  den  Leistungen 
der  Parteien  allzu  große  Abstände  von  vornherein  vorhanden,  so  wird  der 
Besiegte  mutlos.  Auch  der  Sieger  läßt  nach  und  geht  in  seinen  Leistungen 
herab,  da  der  ebenbürtige  Partner  ihm  fehlt.  In  einigen  Fällen  versucht 
der  Unterlegene  noch  einen  Schlußantrieb,  der  aber  meistens  nicht  allzu 
große  Leistungszuwüchse  bringt.  Wonii  die  stets  siegreiche  Partei  eich 
auch  auf  der  Höhe  erhält,  so  streuen  «l-mi  <ii  ihre  Werte  oftmals  stärker. 


368  1^6^  Wetteifer,  seine  Struktur  und  sein  Ausmaß. 

da  die  Stetigkeit  der  Willensspannung  geringer  ist,  weil  die  Leistungen 
gleichwertiger  Gegner  nicht  die  volle  Konzentration  wach  halten. 

Dieser  durch  das  Gefühl  der  Solidarität  noch  verstärkte  Wetteifer  wird 
sich  oft  auch  im  Schulbetriebe  beobachten  lassen.  Wir  erinnern  an  die- 
jenigen Schulsysteme,  in  denen  Koeduktion  besteht.  Dann  ist  die  Partei, 
der  jeder  angehört,  durch  die  Natur  gegeben  und  besteht  in  dem  angeborenen 
Geschlechte.  Freilich  wird  eine  w^ertvolle  Wirkung  nur  dann  recht  in  die 
Erscheinung  treten,  wenn  diejenigen  Leistungen,  in  denen  die  Geschlechter 
wetteifern,  von  vornherein  nicht  zu  große  Unterschiede  der  Quantität  und 
Qualität  nach  aufweisen,  damit  ein  freudiger  und  idealer  Wetteifer  sich 
entwickeln  kann.  • 

Überblicken  wir  diese  Versuchsreihen,  die  lediglich  die  Willenstätig- 
keit in  ihrer  Abhängigkeit  von  Momenten  der  Gemeinschaft  behandeln 
und  nur  zwei  Seiten  der  Willenshandlung  mit  einfachsten  experimentellen 
Hilfsmitteln  untersuchen,  nämlich  die  Schnelligkeit  der  Willenshandlung 
im  Punktierversuch  und  die  Kraftleistung  mit  Hilfe  des  Dynamometers, 
so  zeigte  sich  bald,  daß  eine  Fülle  neuer  Tatsachen  und  Gesetze  sich  auf- 
finden lassen,  wenn  man  die  Wechselwirkung  der  Gruppenmitglieder  unter- 
einander studiert.  Welche  Seite  man  nun  auch  experimentell  analysiert, 
das  Gedächtnis,  Assoziation  oder  den  Willen,  stets  ergibt  sich,  daß  die 
Gruppe  neue  und  eigenartige  seelische  Bedinguugen  schafft,  die  sich  in 
spezifischen  Änderungen  der  einzelnen  seelischen  Fähigkeiten  der  in  einer 
Gruppe  Vereinigten  äußern.  Dadurch  wird  ein  experimenteller  Beweis  er- 
bracht für  die  alte  Grundüberzeugung,  daß  die  Gruppe  keineswegs  ein 
summierbares  Nebeneinander  von  Individuen  ist,  die  lediglich  den  Gesetzen 
der  Individualpsychologie  gehorchen  und  die  in  der  Gruppe  eben  nur  ein 
Mosaik  gesonderter  Einzelklötzchen  darstellen,  sondern  daß  vielmehr  die 
Gemeinschaft  von  Menschen  neue  und  eigenartige  Wechselwirkungen  schafft, 
deren  kausale  und  teleologische  Zergliederung  Aufgabe  der  Gruppenpsycho- 
logie ist.  Die  Ergebnisse  aber  dieser  exakten  Gruppenpsychologie  sind 
pädagogisch  deswegen  so  wichtig,  da  es  nach  Einführung  der  allgemeinen 
Schulpflicht  so  gut  wie  stets  Gruppen  von  Schülern  sind,  die  der  erzieherischen 
Einwirkung  unterstehen.  Eine  genaue  Kenntnis  aber  der  seelischen  Be- 
dingungen der  Gruppe  hat  damit  für  die  pädagogische  Praxis  sowie  auch 
für  die  Fragen  der  äußern  und  innern  Organisation  eine  weittragende 
Bedeutung. 

Literatur. 

Sighele:  Contra  il  parlamentarismo.    1865. 

„        :  La  folla  delinquente,  II.  Aufl.,  1895. 

„         :  La  coppia  criminale,  IL  Aufl.,  1897. 
Tarda:  Les  Lois  sociales.  1898. 
Simmel:  Über  soziale  Differenzierung.     1890. 
Le  Bon:  La  psychologie  des  foules.     1895. 
Moede:  Experimentelle  Gruppenpsychologie.     1914. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


369 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  und 
Urteilsbeständigkeit  der  Schulkinder. 

Von  Artur  Lode. 

(Schluß.) 

C.  37  Schüler  aus  einer  normalen  2.  Klasse  mit  den  Fortschritts- 
zensuren  II — III.  Ihrem  Alter  nach  sind  28  Schüler  12  Jahre  und  9  Schüler 
13  Jahre  alt.  Als  beliebte  Bilder  mit  der  größten  Stimmenanzahl  sind  ge- 
wählt worden  Überfahrt  (19),  Indianerkampf  (14),  Kreuzigung  (13),  Stier- 
kampf (10),  Landschaft  (10),  Lasset  die  Kinder  zu  mir  kommen  (10).  Beim 
2.  Versuche  schnellt  die  Stimmenzahl  für  Überfahrt  auf  28,  dann  folgen 
Landschaft  (15),  Indianerkampf  (12)  und  Luther  (10).  Die  übrigen  Bilder 
erhielten  weniger  als  10  Stimmen  und  gingen  in  ihrer  Beliebtheit  beim  3.  Ver- 
suche noch  mehr  zurück.  Es  erhielten  Überfahrt  30  Stimmen,  Landschaft  11 
und  Indianerkampf  10  Stimmen.  Ausführlicher  mag  die  folgende  Tabelle 
(Nr.  7)  orientieren: 

Tabelle  7. 


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1 
1 

1 

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TS 

3 

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2 

28 

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6 

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3 

3 

5 

6 

10 

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1 

12 

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3 

30 

11 

7 

9 

7 

4 

4 

4 

4 

3 

7 

8 

2 

1 

10 

— 

Die  folgende  Übersicht  (C)  läßt  wieder  die  Abweichungen  vom  1.  Versuche 
bei  jedem  einzelnen   Schüler  erkennen.     (S.  372.) 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  („die  beliebten  Bilder")  beim  1.  und 
2.  Versuche 

in     9  Fällen  (24,32%)  alle  3  Angaben,     | 

in  12       „        (32,43%)  2         „  ..,       .     ^. 

in  )nc^  Ano/\     'AU         j  )  ubefeinstimmeii. 

in  12       ,,        (32,43%)  eine  Angabe  und 

in     4      „       (10,81%)  keine       „  | 

Viermal  (10,81%)  sind  beliebte  Bilder  des  1.  Vers,  zu  unbel.  Bildern 
und  einmal  (2,7%)  ist  ein  unbel.  Bild  beim  2.  Vers,  zu  einem  bei.  Bilde 
geworden. 

■  Zeltschrift  f.  r&dagog.  Psycholog!«.  24 


370 


Expsrlm enteile  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


übereinstimmen . 


Aus  dem  Vergleich   zwischen   dem  2.  und  3.  Vers,  ergibt  sich,  daß 

in  11  Fällen  (29,73%)  alle  3  Angaben, 

in  18       „        (48,64%)  2 

in     7       ,,        (18,92%)  eine  Angabe  und 

in  einem  Falle  (2,70%)  keine    „ 

Dreimal  sind  beliebte  Bilder  des  2.  Vers,  zu  unbel.  beim  3.  Vers,  geworden 

(8,11  %). 

Ferner  ergibt  sich  aus  dem  Vergleich  des  I.Vers,  mit  dem  3. Vers.,  daß 

in     4  Fällen   (10,81%)  alle  3  Angaben, 
in  20       „        (54,06%)  2 

in  10       ,,        (27,02%)  eine  Angabe  und 
in     3       „  (8,11%)  keine      „ 

Wieder  viermal    (10,81%)  treten  bei.  Bilder  des  1.  Vers,  als  unbeliebte 
Bilder  und  einmal    (2,70%)  ein  unbel.  B.  als   beliebtes   beim   3.  Vers.  auf. 
In  dieser  Klasse  ist  die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern  bei  allen 
3  Versuchen  beantwortet  worden 


übereinstimmen. 


mit 

„3" 

Angaben 

von     4 

Schülern 

(10,81  %), 

mit 

4 

„     12 

(32,43%), 

mit 

5 

„     12 

(32,43%), 

mit 

6 

„       5 

(13,51%), 

mit 

7 

„       2 

(  5,42%)  und 

mit 

8 

,,       2 

(  5,42%). 

Über  die  unbeliebten  Bilder  in  dieser  2.  Kl.  gibt  uns  folgende  Tabelle 
(Nr.  8)  Aufschluß: 

Tabelle  8. 


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1 

1 





1 

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3 

1 

— 

3 

7 

3 

— 

8 

7 

3 

— 

2 







2 

— 

4 

— 

— 

— 

8 

1 

— 

10 

5 

7 

— 

3 







2 

— 

6 

1 

— 

1 

9 

2 

2 

6 

2 

6 

— 

Dazu  sagt  uns  die  Übersicht  (siehe  Seite  372!),  daß 

der     1.  und  2.  Vers,  bei  20  Schülern  (54,06%), 

der     2.     „     3.      „        „    23         „  (62,07%), 

der     1.     „     3.      „        „    18         „  (48,64%),  ferner  daß 

alle  3  Versuche         ,,    16         „  (43,24%)    übereinstimmen, 

aber  „      8         ,,  (21,62%)    bei  jedem  Versuche 

ein    anderes  unbeliebtes  Bild  genannt  wird. 

Die  Tabelle  Nr.  9   stellt    die    wichtigsten  Ergebnisse    dieser  Klasse  zu.^ 

sammen. 


Experimentelle  Un|«rsuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  xisw. 


371 


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372  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


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II 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


373 


D.  33  Schüler  aus  einer  1.  Kl.  (Fortschrittzensuren  Illa  u.  III.) 
Alter:  13  bis  14  Jahre. 

Als  beliebte  Bilder  wurden  ausgewählt  beim  1.  Versuche  mit  den  höch- 
sten Stimmenzahlen  Überfahrt  (22),  Indianerkampf  (17),  Landschaft  (12) 
und  Kreuzigung  (10).  Beim  2. Versuche  behaupten  diese  Bilder  ihren  Rang, 
nur  Kreuzigung  sinkt  auf  5  Stimmen  und  wird  jetzt  von  manchem  Bilde 
übertroffen,  dem  es  erst  voraus  war.  Beim  3.  Versuche  ergibt  sich  keine 
weitere  größere  Verschiebung.   Näheres  ersehen  wir  wieder  aus  der  folgenden 

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Die    Abweichungen   der  einzelnen  Versuche   von   einander  ergeben   sich 
aus  der  folgenden  Übersicht  D  (S.  374). 

Darnach  stimmen  die  beliebten  Bilder  überein  beim  1.  und  2.  Versuche 
in  11  Fällen   (33 14%)  in  allen  3  Angaben, 
in  15       „        (45.45%),,  2 

in     0       „        (  —    %)  ,,    einer  Angabe  und 
in     7       „       (21,21%),,    keiner  Angabe. 
In  einem  Falle  (3,03  %)  wird  ein  bei.  Bild  zum  unbel.,  in  zwei  Fällen 
(6,06  %)   wird  ein  unbel.   Bild  zum  beliebten. 

Beim  Vergleich  des  2.  Vers,  mit   dem  3.  Vers,  zeigt  sich,  daß  über- 
einstimmen 

in  14  Fällen  (42,42%)  alle  3  Angaben, 
in  13       „       (39,39%)  2 

in     5       „       (15,15%)  eine  Angabe  und 
in  einem  Falle  (3,03%)  keine  Angabe,  ferner  daß 
in       „         „       (       „     )  ein  unbel.  Bild  des  2.  Vers,  zum 
bei.  wird. 
Vergleicht    man    den    1.   und  3.   Vers.,  dann  zeigt  sich,  daß  über- 
einstimmen 

in  12  Fällen  (36,36%)  alle  3  Angaben, 
in  13       „       (39,39%)  2 

in     6       „       (18,18?/^)  eine  Angabe, 
in     2      „       (  6,06%)  keine  Angabe,  ferner  daß 
in     2      „       (  6,06  %)  ein  unbel.  Bild  des  I.Vers,  zum  bei.  und 
in  einem  Falle  (3,03  ?/{,)  ein  bei.  Bild  des  1.  Vers,  beim  3.  Vers, 
zum  unbel.  geworden  ist. 


374  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


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Experimentelle   Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit   usw. 


375 


Die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern  beantworten  bei  allen  3  Versuchen 
mit  „3"  Angaben     9  Schüler  (27,27%), 

„       4  „  7       „  (21.21%), 

„       5  „  10       „  (30,31%), 

„6  „  5       „  (15,15%)  und 

„7  „  2       „  (6,06%). 

Die    unbeliebten    Bilder  dieser  Klasse  zeigt 

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Aus  der  Übersicht  zu  dieser  Klasse  erkennen  wir,  daß 

der     1.  und  2.  Vers,  bei  20  Schülern  (60,62%), 
„       2.     „     3.      „        „    24         „  (72,72%), 

„       1.     „     3.      „        „    22         „  (66,66%),  ferner  daß 

alle  3  Versuche  ,,    18        „  (54,54%)  übereinstimmen, 

aber  „      3         „  (  9,10%)  bei  jedem  Ver- 

suche ein    anderes  unbeliebtes  Bild  gewählt  worden  ist. 

Die  Tabelle  (Nr.  12,  S.  371)  zeigt  nochmals  die  wichtigsten  Ergebnisse  in 
dieser  Klasse. 

E.  33  Schüler  aus  einer  besseren  1.  Kl.  (Fortschrittzens.  IIa — Illa). 

Alter:     13  bis  14  Jahre. 
Sie  wählten  als  beliebte  Bilder   aus   beim  ersten  Versuche  mit  mehr 
als  10  Stimmen  nur  Überfahrt  (19)  und  Indianerkampf  (12),  beim  2.  Ver- 
suche Überfahrt  (20)  und  Landschaft  (12)  und  dieselben  Bilder  beim  3.  Versuche. 
Die  anschließende  Tabelle  (Nr.  13)  ermöglicht  einen  genaueren  Vergleich: 

Tabelle  13. 


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Die  folgende  Übersicht  (E)  läßt  uns  wieder  die  Abweichungen  vom  1.  Vers. 
hv'i   jedem  einzelnen    Schüler  erkennen. 


376  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


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Experimentelle  Untersuchmigen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


377 


Darnach  stimmen  die  beliebten  Bilder  überein  beim  1.  und  2.Versuche 
in     6  Fällen  (18,18%)  in  allen  3  Angaben, 
,,   18       „        (54,54%)  „  2 

„     6       „        (18,18%)  ,,   einer  Angabe  und 
„      3       ,,       (  9,09%)    ,,  keiner  Angabe; 
ferner  sieht  man,  daß 

in      2  Fällen  (  6,06%)  ein  beliebtes  Bild  des  1.  Vers,  zum 

unbel.  und 
in   einem  Falle  (3,03%)  ein  unbel.  Bild  des  1.  Vers,  zum  be- 
liebten Bilde  geworden  ist. 

Bei  einem  Vergleich    des  2.  Vers,  mit  dem  3.  Vers,  zeigt  sich,  daß 
übereinstimmen 

in  12  Fällen  (36,36  %)  alle  3  Angaben, 
„    12       „        (36,36  %)  2         „ 

,,      8       „        (24,24  %)  nur  eine  Angabe  und 
„    einem  Falle  (3,03  %)  keine  Angabe, 
ferner  daß  in  3  Fällen  (9,09  %)  beliebte  Bilder  des  2.  Vers,  beim  3.  Vers, 
als  unbeliebte  und  einmal  ein  unbel.   Bild  als  beliebtes  Bild  auftreten. 

Vergleicht   man   den  1.  und  3.  Versuch,  dann  zeigt  sich,  daß  über- 
einstimmen 

in     6  Fällen  (18,18  %)  alle  3  Angaben, 
„    15       „        (45,45  %)  2       „ 

,,     9       ,,        (27,27  %)  nur  eine  Angabe  und 
,,      3       ,,        (  9,09  %)  keine  Angabe,    ferner    daß 
„     5       „        (15,15  %)  beliebte  Bilder  als  unbel.  und 
,,   einem  Falle  (3,03  %)  ein  unbel.  Bild  des  1.  Vers,  als  be- 
liebtes  Bild   beim   3.    Vers,    auftreten. 

Die  Frage  nach  den  ,,3"  beliebtesten  Bildern  beantworten  bei  allen  3  Versuchen 
mit  „3"  Angaben     5  Schüler  (15,15  %), 
»       4  „  10      „  (30,31  %), 

„      5  „  9       „  (27,27  %), 

,,       6  „  6       „         (18,18  %), 

„7  „  2       „  (  6,06  %)  und 

»       8  „  1       „  (  3,03  %). 

Die    unbeliebtesten    Bilder  dieser  1.  Kl.  sind: 

Tabelle  14. 


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55 


378 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


Nach  der  Übersicht  auf  Seite  376  ergibt  sich,  daß 

der     1.  und  2.  Versuch  bei     8  Schülern  (24,24  %), 
,,       2.      ,,      o.         ,,  ,,     lu         ,,  (57,57  /q), 

„      1.     „     3.        ,,  „      8        „  (24,24  %),  ferner  daß 

alle   3  Versuche  „      6        „  (18,18  %)   übereinstimmen, 

aber  „       9        „  (27,27  7o)  bei  je  dem  Ver- 

suche  ein    anderes  unbeliebtes  Bild  gewählt  worden  ist. 

Die  Zusammenstellung  der  wichtigsten  Ergebnisse  in  dieser  Klasse  ergibt 
die  Tabelle  Nr.  16  S.  379. 

•  Versuchen  wir  nun,  nachdem  wir  gesehen  haben,  wie  die  einzelnen 
Klassen  geurteilt  haben,  zu  einem  Hauptergebnis  zu  gelangen,  so  kann 
das  am  besten  auf  die  Weise  geschehen,  daß  wir  die  einzelnen  Klassen  in  bezug 
auf  ihre  Urteilsbeständigkeit  vergleichen.  Wir  berücksichtigen  zunächst 
nur  die  Urteile  über  die  beliebten  Bilder.     (Tabellen  17 — ^20.) 


(17) 


1.  Vergleich  zwischen  dem  1.  und  2.  Versuche. 


Es  stimmen 
überein 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

alle  3  Angaben 

231/3% 

121/2% 

24,32% 

331/3% 

18,18% 

zwei  Angaben 

40% 

40% 

32,43% 

45,45% 

54,54% 

eine  Angabe 

26%% 

25% 

32,43% 

— 

18,18% 

keine  Angabe 

10% 

221/2% 

10,81% 

21,21% 

9,09% 

(18) 


2.  Vergleich  zwischen  dem  2.  und  3.  Versuche. 


Es  stimmen 
überein 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

alle  3  Angaben 

362/3% 

25% 

29,73% 

42,42% 

36,36% 

zwei  Angaben 

36%% 

35% 

48,64% 

39,39% 

36,36% 

eine  Angabe 

20% 

321/2% 

18,92  % 

15,15% 

24,24% 

keine  Angabe 

6%% 

7^2% 

2,70% 

3,03% 

3,03% 

(19)  3.  Vergleich  zwischen  dem  1.  und  3.  Versuche. 


Es  stimmen 
überein 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

alle  3  Angaben 

20% 

171/2% 

10,81% 

36,36% 

18,18% 

2  Angaben 

431/3% 

471/2% 

54,06% 

39,39% 

45,45% 

1  Angabe 

231/3% 

25% 

27,02% 

18,18% 

27,27% 

keine  Angabe 

131/3% 

10% 

8,11% 

6,06% 

9,09% 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


379 


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3 

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380 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


(20) 


4.  Vergleich  aller  3  Versuche  miteinander. 


Es  stimmen 

überein 
alle  Angaben 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

. . 

Klasse 
E 

aller  3  Versuche 

131/3% 

121/2% 

10,81  % 

27,27% 

12,12% 

des  1.  u.  2.  Vers, 

231/3% 

121/2% 

24,32% 

33,34% 

18,18% 

des  2.  u.  3.  Vers. 

362/3% 

25% 

29,73% 

42,42% 

36,36  % 

des  1.  u.  3.  Vers. 

20% 

171/2% 

10,81% 

36,36% 

18,18% 

Die  nächste  ^Übersicht  (21)  soll  uns  zeigen,  wie  viel  beliebte  Bilder  die 
Schüler  der  einzelnen  Klassen  ausgewählt  haben. 


Zahl  der  ge- 
nannten Bilder 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

„3" 

131/3% 

121/2% 

10,81  % 

27,27% 

15,15% 

4 

331/3% 

15% 

32,43% 

21,21% 

30,31  % 

5 

20% 

25% 

32,43% 

30,31% 

27,27% 

6 

20% 

35% 

13,51  % 

15,15% 

18,18% 

7 

131/3% 

71/2% 

5,42% 

6,06% 

6,06% 

8 

— 

5% 

5,42% 

— 

3,03% 

Nun  zu  den  unbeliebten    Bildern. 

Tabelle  22. 


Vergleich 
zwischen 

Es  werden 
genannt 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

Versuch  1  u.  2  j 

die  gleichen 
neue   Bilder 

562/3% 

431/3% 

35% 
65% 

54,06% 
45,94% 

60,72% 
39,28% 

24,24% 
75,76% 

Versuch  2  u.  3  | 

die  gleichen 
neue  Bilder 

631/3% 

362/3% 

521/2% 
471/2% 

62,07% 
37,93% 

72,72% 
27,28% 

57,57% 
42,43% 

Versuch  1  u.  3  | 

die  gleichen 
neue  Bilder 

60% 
40% 

471/2% 
521/2% 

48,64% 
51,36% 

66,66% 
33,34% 

24,24% 
75,76% 

Vergleich  aller  3  Versuche  miteinander.     (Tabelle  23.) 


Es  stimmen  überein 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

alle  3  Versuche 

462/3% 

321/2% 

43,24% 

54,54% 

18,18% 

2  Versuche 

40% 

35% 

35,14% 

36,36% 

54,54% 

keinerlei  Übereinst. 

131/3% 

321/2% 

21,62% 

9,10% 

27,27% 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfälligkeit  usw. 


381 


Endlich  mag  uns  die  24.  Tabelle  sagen,  welches  Ergebnis  sich  darbietet, 
wenn  wir  alle  Versuche  untereinander  vergleichen  und  dabei  die  beliebten 
und  die  unbeliebten  Bilder  berücksichtigen: 

Tabelle  24. 


Es  stimmen  überein 
alle  Angaben 

Klasse 
A 

Klasse 
B 

Klasse 
C 

Klasse 
D 

Klasse 
E 

bei  allen  3  Vers. 

10% 

71/2% 

8,11% 

21,21% 

9,09% 

beim  1.  und  2.  Vers. 

20% 

71/2% 

21,62% 

30,31% 

12,12% 

beim  2.  und  3,  Vers. 

231/3% 

171/2% 

27,02% 

36,36% 

21,21% 

beim  1.  und  3.  Vers. 

20% 

121/2% 

8,11% 

30,31% 

9,09% 

Nach  der  vorstehenden  Tabelle  (Nr.  24)  besitzt  die  Klasse  D  (schwach- 
befähigte Schüler  der  1.  Kl. !)  die  beste  Urteilsbeständigkeit.  Erst  an 
3.  Stelle  folgt  die  1.  Kl.,  die  die  befähigsten  Schüler  enthält!  Sie  wird 
sogar  übertroffen  von  der  Klasse  3,  in  welcher  die  schlechtesten  Schüler 
sitzen!  Dieses  Ergebnis  überrascht,  da  doch  eigentlich  zu  erwarten  war, 
daß  die  unbefähigten  Schüler  in  ihrer  Urteilsbeständigkeit  den  befähigteren 
bedeutend  nachstehen  würden. 

Wird  sic-h  auch  ein  so  überraschendes  Ergebnis  darbieten,  wenn  man  die 
Schüler  nur  nach  dem  Alter  zusammenstellt  und  die  Befähigung  einmal 
ganz  unberücksichtigt  läßt?  Diesem  Gedanken  nachgehend,  ordnete  ich 
die  Schüler  der  fünf  untersuchten  Klassen  dem  Alter  nach.  Von  den  173 
Schülern  waren  21  elfjährig,  55  zwölfjährig  und  97  dreizehnjährig.  Nach 
den  Übersichten  (siehe  vorn!)  konnte  ich  nun  folgendes  zusammenstellen: 

I.  21  elfjährige  Schüler. 

Sie  wählten  aus  als  ,, beliebte"  Bilder  beim  1.  Versuche  mit  größter 
Stimmenzahl  Indianerkampf  (13)  und  Überfahrt  am  Schreckenstein  (9). 
Beim  2,  Vers,  trat  das  letztere  Bild  mit  12  Stimmen  vor  Indianerkampf  (9) 
an  die  Spitze  und  hielt  diese  auch  beim  3.  Versuche  mit  14  gegen  12  Stimmen. 
Näheres  sagt  die 

Tabelle  25. 


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13 


12 


382 


Experimentelle  Untersuchvingen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


Aus  den  Übersichten (A  u.  B)  der  beiden  3.  Klassen  bereclinete  ich  nun,  wie 
oft  die  Angaben  aller  Elfjährigen  bei  den  einzelnen  Versuchen  über- 
einstimmten. Nur  die  beliebten  Bilder  berücksichtigt,  ergab  sich,  daß  beim 
1.  und  2.  Versuche 


in  2  Fällen  (  9,52  %)  alle  3  Angaben, 

„  8       „        (38,08  %)  2 

„  7       ,,        (33,33  %)  eine  Angabe  und 

„  4       „        (19,04  %)  keine  Angabe 


übereinstimmten. 


In  je  einem  Falle  war  ein  beliebtes  Bild  unbeliebt,  bzw.  ein  unbeliebtes 
Bild  beliebt  geworden. 

Beim  2.  und  3.  Versuche  stimmten  überein 

in  5  Fällen  (23,82  %)  alle  3  Angaben, 
„    8       „        (38,08  %)  2         „  und  ebenfalls 

,,8       „        (38,08  %)  eine  Angabe.    In  einem  Falle  war  ein  beliebtes 
Bild  des  2.  Vers,  zum  unbel.  Bilde  beim  3.  Versuche  geworden. 

Beim  1.   und  3.   Versuche  stimmten  überein 

in  3  Fällen  (14,28  %)  alle  3  Angaben, 

„  13       „        (61,90  %)          2 

,,  2       „        (  9,52  %)  eine  Angabe  und 

„  3       „        (14,28  %)  keine  Angabe. 

Wieder  einmal  wurde  ein  beliebtes  Bild  des  1.  Versuches  beim  3.  Vers,  zum 
unbel.  Bilde. 

Bei  den  „11  jährigen"  wurde  die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern 
bei    allen  3  Versuchen  beantwortet 


mit  „3"  Angaben  von 
4 

5J  ^  5J  5> 

5   5  '-'  95  5* 


1  Schüler  (  4,76  %), 
5  Schülern  (23,81  %), 
5        „  (23,81  %), 

9        „  (42,85  %)  und 

1  Schüler     (  4,76  %). 


Als  unbeliebte    Bilder  treten  auf: 

Tabelle  26. 


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1 

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1 

1 

1 

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2 

1 

2 

— 

— 

1 

1 



2 

— 

— 

1 

1 



1 

6 

6 

2 

— 

3 

— 

— 



1 



4 

— 

— 

3 



-^ 

1 

3 

7 

2 

— 

Experimentelle  Unt^suchimgen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


383 


Aus  den  Übersichten  ergibt  sich,  daß 

der  1.  und  2.  Vers,  bei  10  Schülern  (47,62  %), 
,,     2.     „     3.       „       „    10        „  (47,62  %)  und 

„    1.     „     3.       „       „    11        „  (52,38  %)  übereinstimmen. 

Alle  3  Versuche  stimmen  überein  bei  7  Schülern  (33*4  %)i  keinerlei 
Übereinstimmung  besteht  bei  4  Schülern  (19,04  %). 

Die  Ergebnisse  für  die  11jährigen  sind  zusammengestellt  in 
Tabelle  27  (S.  379). 

II.  55  zwölfjährige  Schüler. 

Die  folgenden  Tabellen  und  Zusammenstellungen  zeigen  uns,  wie  alle 
12jährigen  Schüler  aus  allen  5  untersuchten  Klassen  geurteilt  haben.  Sie 
nannten    folgende    beliebte    Bilder    mit    höchster    Stimmenanzahl    beim 

1.  Versuche:  Indianerkampf  (24),    Überfahrt  (23)  und  Kreuzigung  (21),  beim 

2.  Versuche  Überfahrt  (33)  und  Landschaft  (20),  während  die  anderen  unter 
20  Stimmen  zurückgingen,  beim  3.  Versuche  wieder  Überfahrt  (39!)  und 
Landschaft  (22).    Genauere  Angaben  enthält  die 


Tabelle  28; 


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23 


33 


39 


17 


20 


22 


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16 


13 


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10 


14 


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24 


16 


14 


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I 
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Aus  den  Übersichten  der  entsprechenden  Klassen  (A,  B  u.  C),  denen  die 
Schüler  angehören,  ergab  sich,  daß 

beim  1.   und  2.  Versuche 

in  12  Fällen  (21,82  %)  alle  3  Angaben, 

„  18  „        (32,72  %)          2 

„  16  „        (29,09  %)  eine  Angabe  und 

„     9  „       (16,36  %)  keine  Angabe  übereinstimmten,  daß 

„3  ,,       (  5,46  %)  beliebte  Bilder  unbeliebt  und 

,,      1  Falle     (  1,82  %)  unbel.  Bilder  des  I.Vers,  zu  beliebten 
beim  2.  Vers,  geworden  waren;  ferner  daß 


384 


Experimentelle  Untersuchttngen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


beim  2.  und  3.  Versuche 

in  16  Fällen  (29,09  %)  alle  3  Angaben, 
„   21       „        (38,18  %)    ^      2 
,,   13       ,,        (23,64  %)  eine  Angabe  und 
,,      5       „        (  9,09  %)  keine  Angabe  übereinstimmten,  daß 
„      3       ,,        (  5,45  %)  beliebte  Bilder  des  2.  Vers,   zu  un- 
beliebten beim  3.  Vers,  geworden  waren. 

Beim   1.   und  3.   Versuche  stimmten  überein 

in    8  Fällen  (14,55  %)  alle  3  Angaben, 

„    24       „        (43,64  %)  2 

,,   16       „        (29,09  %)  eine  Angabe  und 

„     7       „        (12,71  %)  keine  Angabe; 

,,     5       ,,        (  9,09  %)  wurden  beliebte  Bilder  unbeliebt, 

„     2       „        (  3,63  %)     wurden  unbel.  Bilder  beliebt. 

Bei  allen  3  Versuchen  überhaupt  beantworteten  von  den  , ,12jährigen" 
die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern 

mit  „3"  Angaben     8  Schüler  (14,55  %), 


„       4 

12 

(21,82  %), 

„       5 

14 

,        (25,45  %), 

„       6 

11 

,        (20,00  %), 

„       7 

8 

,        (14,55  %)  und 

„       8 

2 

,        (  3,63  %).       • 

Als  unbeliebte    Bilder  werden  bezeichnet; 


Tabelle 

29. 

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i 

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4^ 

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1 

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1 

1 

3 

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5 

1 

17 

8 

2 

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2 

— 

— 

— 

4 



6 

— 

— 

3 

5 

1 

1 

18 

9 

8 

— 

3 

— 

— 

— 

6 

— 

7 

1 

1 

2 

8 

3 

3 

9 

8 

7 

— 

Aus  den  Übersichten  ergibt  sich,  daß 

der  1.  und  2.  Vers,  bei  27  Schülern  (49,08  %), 
„    2.     „     3.       „        „    35         „  (63,63  %), 

,,    1.     ,,     3.       „       ,,    25         „  (45,46  %)   übereinstimmen. 

Alle  3  Versuche  stimmen  überein  bei  21  Schülern  (38,18  %),  keinerlei  Über- 
einstimmung besteht  bei  13   Schülern  (23,64  %). 

Die   Ergebnistabelle    (Nr.  30)   der  12jährigen  gibt  nun  dieses  Bild: 


Experimentelle  Unt«suchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


385 


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Adagog.  Psychologie. 


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^  ^  2  =3  -ä 


386 


Experimentelle  üntersuchtingen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


III.  97  dreizehnjährige  Schüler. 
Als  beliebte  Bilder  wurden  bei  allen  3  Versuchen  gewählt: 

Tabelle  31. 


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56 

24 

16 

28 

17 

8 

9 

12 

10 

30 

19 

11 

4 

1 

44 

2 

2 

62 

37 

7 

26 

18 

16 

9 

15 

11 

25 

13 

12 

1 

1 

37 

1 

3 

63 

30 

10 

19 

19 

12 

12 

16 

11 

23 

16 

17 

2 

2 

39 

— 

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1  dei 

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ibsi( 

jh,  daß  - 

-  nur  die  bei.  Bilder  be 

rück 

sich 

biet  — 

beim  1.   und  2.  Versuche 

in  24  Fällen  (24,74  %)  alle  3  Angaben, 
47        „      (48,45  %)  2 


13 

13 

6 

3 


geworden. 
Beim  2. 


(13,40  %)  eine  Angabe, 

(13,40  %)  keine  Angabe  übereinstimmen. 

(  6,19  %)  waren  beliebte  Bilder  zu  unbeliebten, 

(  3,09  %)       ,,        unbeliebte  Bilder  zu  beliebten 


und  3.  Versuche  stimmten  überein 

in  37  Fällen  (38,15  %)  alle  3  Angaben, 


39        „       (40,20  %)  2 

18        „       (18,56  %)  eine  Angabe, 

3  ,,       (  3,09  %)  keine  Angabe;  ferner  waren 

4  ,,       (  4,12  %)  beliebte  Bilder  zu  unbeliebten, 
1  Falle     (  1,03  %)  unbel.  Bilder  zu  beliebten  geworden. 

Beim   1.  und  3.  Versuche  stimmten  überein 

in  24  Fällen  (24,74  %)  alle  3  Angaben, 
,       (44,32  %)  2 

(24,74  %)  eine  Angabe, 
,       (  6,19  %)  keine  Angabe;  ferner  waren 
,       (  9,28  %)  beliebte  B.  des  1.  Vers,  zu  unbeliebten 
beim  3.  Vers., 
„4        „       (  4,12  %)  unbel.    B.   des   1.  Vers,   zu    beliebten 
beim  3.  Vers,  geworden. 
Bei    den  ,,13  jährigen"  wurde  die  Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern 
bei  allen  3  Versuchen  beantwortet 

mit  „3"  Angaben  von  18  Schülern  (18,56  %), 


43 

24 

6 

9 


4 

„     28 

(28,86  %), 

5 

„     28 

(28,86  %), 

6 

„     15 

(15,47  %), 

7 

„       6 

(6,19  %)  und 

8 

„       2 

(2,06  %). 

Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


387 


Als  unbeliebte  Bilder  wurden  bezeichnet 

Tabelle  32. 


> 

-4^ 

u 

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1 

1 

TS 

TS 

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1 
1 

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1 

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1 

1 

3 

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2 

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6 

9 

6 

2 

16 

23 

10 

9 

2 



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2 

6 

1 

6 

2 

1 

4 

11 

8 

5 

17 

22 

10 

2 

3 

— 

1 

3 

6 

1 

8 

1 

2 

2 

14 

10 

5 

15 

22 

7 

1 

Aus  den  Übersichten  ergibt  sich,  daß 

der  1.  und  2.  Vers,  bei  42  Schülern  (43,30  %), 
»    2.     „     3.       „       „    61         „  (62,89  %)  und 

,,    1.     ,,     3.       ,,       ,,    49         ,,  (50,52  %)  übereinstimmen. 

Alle  3  Versuche  stimmen  überein  bei  39  Schülern  (40,20  %),  aber  keiner- 
lei Übereinstimmung  besteht  bei  20  Schülern  (20,62  %). 

Als  Hauptübersicht  ergibt  sich  endlich  die  Tabelle  33  (S.  385). 

Um  zu  einem  Hauptergebnis  zu  gelangen,  stellen  wir  in  den  nächsten 
Übersichten  (Tabellen  34 — 38)  die  einzelnen  Altersstufen  nebeneinander  und 
berücksichtigen  zunächst  nur  die  Urteile  über  die  „beliebten"  Bilder. 

Vergleiche  zwischen  Versuch  1   und  2.     (Tabelle  34.) 


Es  stimmen 
überein 

Bei  den  11  jähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  13jähr. 

alle  3  Angaben 

9,52% 

21,82% 

24,74% 

2  Angaben 

38,08% 

32,72% 

48,45% 

1  Angabe 

33,33% 

29,09% 

13,40% 

keine  Angabe 

19,04% 

16,36% 

13,40% 

Versuch  2  und  3.     (Tabelle  35.) 


Es  stimmen 
überein 

Bei  den  11  jähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  ISjähr. 

alle  3  Angaben 

23,82% 

29,09% 

88,15% 

2  Angaben 

38,08% 

38,18% 

40,20% 

1   Angabe 

38.08% 

23,64% 

18,56% 

keine  Angabe 

—• 

9,09% 

3.09% 

2ö* 


388 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


Versuch  1  und  3.      (Tabelle  36.) 


Es  stimmen 
überein 

Bei  den  11  jähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  13jähr. 

alle  3  Angaben 

14,28% 

14,55% 

24,74% 

2  Angaben 

61,90% 

43,64% 

44,32% 

1  Angabe 

9,52% 

29,09% 

24,74% 

keine  Angabe 

14,28% 

12,71% 

6,19% 

Vergleich  aller  3  Versuche  miteinander.     (Tabelle  37.) 


Es  stimmen  alle 

3  beliebten  Bilder 

überein  bei 

Bei  den  11  jähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  13jälir. 

allen  3  Versuchen 

4,76% 

14,55% 

17,53% 

beim  1.  u.  2.  Vers. 

9,52% 

21,82% 

24,74% 

beim  2.  u.  3.  Vers, 

23,81% 

29,09% 

38,15% 

beim  1.  u,  3.  Vers. 

14,28% 

14,55% 

24,74% 

Die    38,  Tabelle    zeigt    uns,    wie    die    verschiedenen    Altersstufen   die 
Frage  nach  den  ,,3"  liebsten  Bildern  bei  allen  3  Versuchen  beantwortet  haben: 

Tabelle  38. 


Zahl  der 
genannten  Bilder 

11jährige 

12jährige 

13  jährige 

„3" 

4,76% 

14,55% 

18,56% 

4 

23,81% 

21,82% 

28,86% 

5 

23,81  % 

25,45% 

28,86% 

6 

42,85% 

20,00% 

15,47% 

7 

— 

14,55% 

.6,19% 

8 

4,76% 

3,63% 

2,06% 

Nun  zu  den  unbeliebten   Bildern. 

Tabelle  39. 


Vergleich 
zwischen 

Es  werden 
genannt 

bei  den 
11jährigen 

bei  den 
12jährigen 

bei  den 
13jährigen 

Versuch  1  u.  2  | 

die  gleichen 
neue   Bilder 

47,62% 
52,38% 

49,08% 
50,92% 

43,30% 
56,70% 

Versuch  2  u.  3  | 

die  gleichen 
neue   Bilder 

47,62% 
52,38% 

63,63% 
36,37% 

62,89% 
37,11% 

Versuch  1  u.  3  j 

die  gleichen 
neue  Bilder 

52,38% 
47,62% 

45,46% 
64,54% 

50,52% 
49,48% 

Experimentelle  Unt;ersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 


389 


Vergleich  aller  3  Versuche  miteinander,      (Tabelle  40.) 


Es  stimmen 
überein 

Bei  den  lljähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  13jähr. 

alle  3  Versuche 

33,33% 

38,18% 

40,20% 

2  Versuche 

47,63% 

38,18% 

39,18% 

keinerlei  Übereinst. 

19,04% 

23,64% 

20,62% 

Nun  mag  uns  eine  letzte  Tabelle  (Nr.  41)  sagen,  welches  Ergebnis  sich 
darbietet,  wenn  wir  beliebte  und  unbeliebte  Bilder  berücksichtigen  und  alle 
3  Versuche  untereinander    vergleichen: 

Hauptergebnis   (Tabelle  41): 


Es  stimmen 

überein 

alle  Angaben 

Bei  den  lljähr. 

Bei  den  12jähr. 

Bei  den  13jähr. 

aller  3  Versuche 

4,76% 

9,09% 

13,40% 

des  1.  u.  2.  Vers. 

9,52% 

16,36% 

20,62% 

des  2.  u.  3.  Vers. 

9,52% 

23,64% 

28,86% 

des  1,  u.  3.  Vers. 

14,28% 

9,09% 

19,59% 

Diesmal  stellt  sich  das  ein,  was  ich  erwartet  hatte:  Je  älter  die  Schüler 
sind,  desto  sicherer  urteilen  sie,  desto  beständiger  wird  ihr  Urteil,  wenn  man 
auch  zugeben  muß,  daß  die  Urteilsbeständigkeit,  die  Urteils- 
fähigkeit im  großen  und  ganzen  eine  recht  mäßige  ist.  Von 
97  13 — 14  jährigen  Schülern  sind  nur  13  Schüler  (13,4  %)  imstande,  ein 
sicheres,  feststehendes  Urteil  über  bestimmte  Bilder  abzugeben,  wenn 
diese  ihnen  zu  verschiedenen  Zeiten  vorgelegt  werden. 

Ein  letzter  Abschnitt  unserer  Arbeit  soll  noch  berichten,  welche  der  15  Bil- 
der als  besonders  beliebt  und  als  besonders  unbeliebt  gegolten  haben  und  welche 
Gründe  für  die  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  den  Schülern  angeführt 
worden  sind. 

Da  von  den  173  Schülern  bei  jedem  der  3  Versuche  drei  beliebte  Bilder, 
aber  jedesmal  nur  ein  unbeliebtes  Bild  zu  bezeichnen  waren,  so  wurden 
im  ganzen  1557  Urteile  über  beliebte  und  519  Urteile  über  unbeliebte  Bilder 
abgegeben.    Es  entfielen  nun  (in  Prozenten  ausgedrückt) 

Beliebtheitsurt.  Unbeliebtheitsurt. 


anf 

("herfahrt  am  Schreckenstein 

Indianerkampf 

Heidclandschaft      

Kreuzigung      

Stierkampf 

Rehe  im  Walde      


19,90?^ 

13.31  % 

10,82% 

8,83% 

7,55% 

6,85% 


0.19% 
9,60% 
0,88% 
5,95% 
10,37% 
0.77% 


390  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw. 

Napoleon  1 6,08%  6,53% 

Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen    .    .  5,38%  1,54% 

Martin  Luther 5,25%  3,84% 

Königstiger      3,97%  9,41% 

Blinder  Bettler 3,65%  0,96% 

Gute  Freunde 3,39%  1,54% 

Geographie  in  der  Dorfschule 3,01%  4,80% 

Am  Wegweiser 0,96%  19,58% 

Morgenlied 0,51%  21,70% 

(Fehlende  Angaben) 0,19%  2,50% 

Darnach  überwiegt  die   Beliebtheit  die   Unbeliebtheit  bei 

Überfahrt  am  Schreckenstein  um  19,71% 
Heidelandschaft  „    10,44% 

Rehe  im  Walde  „      6,08% 

Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen         ,,      3,84% 
Indianerkampf  ,,      3,71  % 

Kreuzigung  „      2,88% 

Blinder  Bettler  „      2,69% 

Gute  Freunde  „      1,85% 

Luther  „      1,41%, 

dagegen  übersteigen  die   Unbeliebtheitsurteile  die  Beliebtheitsurteile  bei 

Morgenlied  um  21,19% 
Am  Wegweiser  „    18,62% 

Königstiger  „      5,44% 

Stierkampf  „      2,82% 

Geographieunterricht  in  der  Dorfschule     „      1,99% 
Napoleon  L  „    0,45%. 

Sonach  hätte/i  wir  die  Bilder  der  1.  Gruppe  als  die  eigentlichen  beliebten 
und  die  übrigen  als  die  unbeliebten  anzusprechen. 

Welche  Gründe  sind  für  diese  Auswahl  maßgebend  gewesen? 

Für  das  beliebteste  Bild  „Die  Überfahrt  am  Schreckenstein"  werden 
folgende  charakteristische  Gründe  angeführt: 

Weil  es  eine  schöne  Stimmung  ist  und  das  Schloß  auf  dem  Felsen  mit  Feldern 
und  Wiesen  umgeben  ist.  (D)^). —  Der  Morgen  kommt  heran;  die  See  ist  still; 
der  Kahn  mit  Musik.  Und  auch  so  traurig  sieht  es  aus.  —  Die  Felsen,  worauf 
eine  Burg  steht  und  die  schönen  Farben.  (D)  —  Weil  mir  die  Burg  imd  die 
Farben  des  Himmels  gefallen.  (D)  —  Weil  die  Sonne  untergeht  und  der  Himmel 
bunte'lFarben  auf  das  Wasser  wirft.  (D)  —  Weil  alles  so  naturgetreu  ist.  (D)  — 
Es  will  uns  zeigen,  wie  verlockend  die  stolzen  Burgruinen  sind.  (C)  —  Weil  eine 
schöne  Landschaft  auf  dem  Bilde  gemalt  ist  und  uns  schön  die  dortige  Gegend 
beschrieben  wird.  (C)  —  Weil  es  so  schön  bunt  ist.  (C)  —  Weil  auf  dem  Felsen 
eine  Burg  steht.  (C)  — 

Das  Bild  Heidelandschaft  gefällt:  Weil  es  so  natürlich  gemalt  ist. (C)  — 
Wegen  der  Ländlichkeit  und  Stille.  (E)  —  Hier  sieht  man  alle  Reize  der  Natur.  (C) 

^)  Die  Buchstaben  A — E  bezeichnen  die  Klassen,  aus  denen  die  Begründungen 
stammen.   —  Die  gleichen  Begründungen  kehren  in  allen  Klassen  wieder. 


Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  usw.  391 

—  Weil  das  Haus  mitten  in  der  Wiese  liegt,  und  weil  ich  ein  Naturfreund  bin.  (D) 

—  Die  bunten  Farben  gefallen  mir,  und  ich  zeichne  die  Landschaften  gern.  (D)  — 
Weil  das  Bild  schön  bunt  aussieht.  (D)  —  Wegen  seiner  Schönheit.  ( !)  — 

Rehe  im  Walde:  Das  Bild  versetzt  uns  so  schön  in  den  Wald.  (E)  — 
Weil  die  Rehe  so  niedliche  Tierchen  sind.  (B)  —  Weil  es  genau  nach  Natur  gemalt 
ist.  (D)  —  Weil  ich  ein  Natur-  und  Tierfreimd  bin.  (D)  — 

Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen:  Es  spricht  von  der  Liebe  Christi 
zu  den  Menschen.  (C)  —  Es  gefällt  mir  wegen  des  lieblichen  Empfangs  der  Kinder. 
(C)  —  Denn  da  sieht  man  die  Liebe  der  Mütter  und  Kindlein  zu  Jesus.  (D)  — 
Weil  wir  davon  gesprochen  haben.  (B)  —  Weil  Jesus  das  Christentum  ver- 
breitet hat.  (C)  —  Weil  es  sehr  schön  aussieht  ( !).  —  Weil  es  bunt  gemalt  ist.  (B) 

Indianerkampf:  Weil  ich  einen  großen  Kampf  sehe.  (D)  —  Weil  die  In- 
dianer wie  ein  Hagel  über  die  Soldaten  herfallen.  (D)  —  Weil  ich  für  den  Krieg 
viel  Interesse  habe.  (D)  —  Weil  ich  so  eine  Schlacht  noch  nicht  gesehen  habe.  (C) 

—  Weil  es  mir  etwas  aus  dem  Leben  des  berühmten  Häuptlings  Sitting  Bull 
erzählt.  (C.  Von  einem,  der  diese  berüchtigte  Serie  wohl  zu  kennen  scheint!)  — 
Das  Bild  zeigt  uns  so  richtig  den  Mut  und  die  Entschlossenheit  der  Indianer.  (C) 

—  Wegen  der  bunten  Kleidung.  (C)  —  Denn  es  ist  sehr  bunt  gemalt.  (E)  — 
Weil  die  Indianer  so  natürlich  gezeichnet  sind.  (D)  —  Weil  es  schön  aussieht.  (B) 

—  Den  Grund  weiß  ich  nicht  gleich !  (D) 

Kreuzigung:  Weil  es  sehr  schön  aussieht. ( ?)  (B)  —  Weil  das  Bild  so  wunder- 
bar und  herrlich  gemalt  ist.  (D)  —  Wegen  der  schönen  Kleidung  der  Männer.  (B)  — 
Weil  Jesus  für  uns  gestorben  ist.  (B)  —  Wir  werden  einmal  in  die  alte  Zeit  zurück- 
gesetzt. (C)  —  Weil  wir  in  der  Bibelkunde  davon  reden.  (B) 

Blinder  Bettler:  Es  ist  ein  tiefergreifendes  Bild  und  zeigt  so  recht,  wie 
traurig  so  ein  Blinder  ist.  (E)  —  Weil  das  Kind  für  ihn  bittet  und  ihn  nicht 
verachtet.  (E)  —  Weil  die  Farbe  so  schön  getroffen  ist,  (D)  — 

Gute  Freunde:  Weil  ein  Mädchen  hier  seine  Liebe  zum  Hunde  zeigt.  (E)  — 
Weil  der  Dackel  das  Mädchen  so  treuherzig  ansieht.  (E)  —  Weil  es  so  freundlich 
aussieht.  (C)  —  Weil  die  Berge  so  steil  abfallen  und  die  Häuschen  so  klein  sind. 
(B)  —  Es  ist  eine  schöne  Landschaft.  (B) 

Dr.  Martin  Luther:  Weil  er  wirklich  so  aussah.  (A)  —  Das  ist  so  schön 
gemacht.  (C)  —  Weil  er  soviel  Katholische  evangelisch  gemacht  hat.  (C)  — 
Weil  er  sich  vor  nichts  in  der  Welt  fürchtete.  (D)  —  Weil  Dr.  M.  Luther  uns  die 
Bibel  übersetzt  und  fromm  gelebt  hat.  (D)  —  Weil  er  auch  die  Reformation 
in  Chemnitz  eingeführt  hat.  (C)  —  Weil  wir  noch  davon  reden  werden.  (B) 

Napoleon  I.:  Das  Bild  zeigt  uns  so  recht  die  Züge  und  den  Charakter  Na- 
poleons. Der  Maler  hat  es  verstanden,  das  Bild  so  zu  malen,  daß  wir  denken, 
Napoleon  säße  vor  uns.  (E)  —  Weil  Napoleon  so  dunklen  Blickes  vor  sich  hin- 
schaut und  denkt,  daß  seine  Macht  bald  gebrochen  sein  wird.  (E)  —  Ich  kann 
sehen,  wie  gedemütigt  Napoleon  dasitzt.  (D)  —  Weil  er  ein  berühmter  Herrscher 
ist.  (B)  —  Weil  es  viel  Erzählungen  von  Napoleon  gibt.  (B)  —  Weil  er  so  auf  dem 
Stuhle  dasitzt.  (A)  —  Es  sieht  so  schön  aus.  (C)  —  Weil  es  so  schön  ausgemalt 
ist.  (C)  —  Weil  die  Tracht  schön  gemalt  ist.  —  Weil  ich  mich  für  Geschichte 
interessiere,  (E) 

Geographieunterricht  in  der  Dorfschule:  Weil  man  endlich  einmal 
sieht,  wie  es  in  einer  solchen  Dorfschule  zugeht.  (E)  — Weil  die  Kinder  so  einfach 


392  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Urteilsfähigkeit  mbw. 

gekleidet  sind.  (E)  —  Denn  es  zeigt  mir,  wie  es  in  einer  Dorfschule  zuging  und  wie 
weit  die  Schule  fortgeschritten  ist !  (E)  — Weil  die  Schüler  machen,  was  sie  wollen. 
(D)  —  Weil  es  so  lustig  aussieht.  ( A)  —  Weil  die  Kinder  in  der  Schule  schlafen.  (A) 
—  Weil  es  schön  bunt  gemalt  ist.  (D)  — 

Stierkampf:  Weil  hier  der  kritische  Moment  eines  Stierkampfes  darge- 
stellt ist.  (E)  —  Man  kann  sehen,  wie  schrecklich  die  Stierkämpfe  sind.  (D)  — 
Weil  ich  den  Mut  der  Männer  kennen  lerne.  (C)  —  Weil  der  Stier  das  Pferd 
aufspießt.  (A)  —  Weil  man  etwas  Neues  sieht.  (B)  —  Weil  es  auf  Leben  und  Tod 
geht.    (C)  - 

Königstiger  beim  Mahl:  Das  Bild  stellt  so  recht  die  Freude  über  die 
erlegte  Beute  dar.  (C)  —  Weil  man  da  sehen  kann,  wie  blutdürstig  der  Tiger  ist. 
(C)  —  Da  kann  man  sehen,  wie  groß  die  Zähne  dieses  Raubtieres  sind.  (D)  — 
Weil  er  schön  nach  Natur  gezeichnet  ist.  (C)  —  Wegen  seinem  schönen  Fell.  (C) — 

Morgenlied:  Weil  es  in  der  Natur  so  ist.  (C) —  Weil  es  so  genau  gezeichnet 
ist.  (C)  —  Wegen  der  schönen  Natur.  (D). 

Am  Wegweiser:  Ich  sehe  eine  Landschaft  im  Winter.  Es  ist  etwas,  was 
einer  in  der  Stadt  nicht  kennt  ( !)  (E)  —  Weil  es  so  einsam  dort  ist  und  der  Schnee 
rieselt  vom  Himmel.  (D)  —  Weil  es  so  schön  aussieht.  (B)  — 

Bei    den    unbeliebten    Bildern  wurden  folgende  Gründe  angeführt: 

Morgenlied:  Weil  es  nur  eine  einfache  Zeichnung  ist,  die  nicht  viel  Bedeu- 
tung hat.  (B)  —  Weil  hier  nichts  weiter  darauf  ist  als  Wiese  und  Bäume.  (E)  — 
Denn  das  Bild  sieht  nicht  voll  genug  aus.  Es  ist  nicht  belebt.  (C)  —  Man  kann 
sich  nicht  viel  daraus  denken.  (D)  —  Dieses  Bild  sieht  zu  kindlich  aus.  (D)  — 
Weil  es  gar  nicht  bunt  ausgemalt  ist.  (B) 

Am  Wegweiser:  Es  ist  nicht  schön  zusammengestellt.  (E)  —  Es  liegt  zu 
wenig  Wirkung  darin.  Es  sieht  aus,  als  wollte  der  Mann  umknicken.  (D)  — 
Weil  es  so  einfach  ist.  (C)  —  Es  sieht  so  verschwommen  aus.  (E)  —  Weil  es  nicht 
bunt  gemalt  ist.  (C) 

Königstiger  beim  Mahle:  Ich  kann  das  nicht  ersehen,  weil  der  Tiger 
das  Tier  zerfleischen  will.  (A)  —  Weil  es  traurig  für  uns  und  die  Tiere  ist,  denn 
der  Tiger  zerreißt  alles  in  seinem  Hunger.  (B)  —  Wegen  seiner  Habgier.  (C)  — 
Weil  er  auf  den  Menschen  losgeht.  (C)  —  Weil  es  nicht  farbig  ist.  (C)  — 

Stierkampf:  Es  sieht  gefährlich  aus,  denn  es  wird  um  das  Leben  gekämpft. 
So  gut  wie  der  Stier  um  das  Leben  kommen  kann,  so  gut  kann  auch  der  Kämpfer 
ums  Leben  kommen.  (D)  —  Weil  es  die  Rohheit  des  Stierkampfes  schildert.  (C)  — 
Weil  es  eine  Tierquälerei  ist.  (C)  — 

Geographieunterricht  in  der  Dorfschule:  Weil  es  in  der  Schule  so 
einfach  ist.  (D)  —  Denn  der  Lehrer  hat  die  Mütze  in  der  Schule  auf.  (A)  — 
Denn  die  Schulkinder  reden  und  schlafen  alle.  (A) — Die  Farbe  gefällt  mir  nicht.(C) 

Napoleon  I. :  Denn  wir  sollen  nur  deutsche  Bilder  lieben!  (B)  —  Weil 
ich  ein  Deutscher  bin,  liebe  ich  Napoleon  nicht.  (E)  —  Weil  Napoleon  unser 
Feind  war.  (C)  —  Denn  Napoleon  ballt  die  Faust  und  verzieht  das  Gesicht.  (A)  — 
Denn  man  sieht  da  seinen  gierigen  Blick  nach  Land,  und  er  überlegt  sich  viel- 
leicht, wie  er  ein  Land  unterdrücken  kann.  (E) 

Dr.  Martin  Luther:  Weil  nichts  besonderes  am  Bilde  zu  erblicken  ist.  (D)  — 
Luther  sieht  so  schwarz  aus  wie  ein  Eisenarbeiter.  (E)  —  Weil  er  so  graubraun 
aussieht.  (C)  —  Weil  er  so  schlecht  gemalt  ist.  (C)  — 


Die  IVLlieuerkrankung  des  Kindes.  393 

Gute  Freunde:  Weil  nichts  Merkwürdiges  zu  sehen  ist.  (E)  —  Weil  ich  mir 
da  nichts  Kechtes  denken  kann.  (D)  —  Weil  es  ein  Bild  für  kleine  Kinder 
ist.  (C) 

Blinder  Bettler:  Weil  er  blind  ist  und  bettelt.(!)  (B)  —  Denn  es  ist  zu 
bedauern. (!)  (C)  —  Bei  den  wenigen  anderen  Urteilen  fehlen  Begründungen.  — 

Kreuzigung:  Weil  wir  da  sehen,  daß  Jesus  gekreuzigt  wird.  (A)  —  Weil 
Jesus  so  sehr  gequält  wird.  (E)  —  WeH  es  so  grausam  ist.  (A)  — 

Indianerkampf:  Weil  dadurch  der  jugendliche  Geist  aufgeregt  wird.  (E)  — 
Grausam  und  fürchterlich  benehmen  sich  die  Indianer.  Ihre  Kämpfe  müssen  jeden 
abstoßen.  (E)  —  Weil  es  im  Kampfe  so  roh  zugeht.  (C)  —  Weil  die  Indianer 
viele  erschlagen  haben  und  schlagen  andere  in  den  Kopf  mit  Beilen.  (A)  —  Weil 
es  so  mörderisch  ist.  (C)  —  Weil  es  so  aufdringlich  bunt  gemalt  ist.  (D)  — 

Die  wenigen,  welche  das  Bild  ,, Lasset  die  Kindlein  zu  mir  kommen"  ablehnen, 
führen  fast  einstimmig  als  Gnmd  an:  ,,Weil  es  nicht  so  deutlich  ist"  oder  „es 
ist  so  verschwommen".  — 

Rehe  im  Walde:  Weil  es  nicht  zu  natürlich  aussieht.  (A)  —  Rehe  habe  ich 
schon  viel  gesehen.  (E)  —  Weil  ich  mich  nicht  für  das  Tierleben  interessiere.  — 

Diese  Auswahl  von  Begründungen  sowohl  für  die  beliebten,  als  auch  für  die 
unbeliebten  Bilder  läßt  uns  schon  genügend  erkennen,  worauf  die  Schüler  ihr 
Urteil  aufbauen.  Die  allerwenigsten  Gründe  sind  ästhetischer  Art.  Nur  in  ganz 
einzelnen  Fällen  fragen  die  Schüler  nach  dem  Maler,  seinen  Absichten  und  nach 
den  Mitteln,  die  er  anwendet,  sein  Ziel  zu  erreichen.  Die  wichtigsten  Faktoren, 
auf  denen  die  Urteilsbegründungen  beruhen,  sind  der  Inhalt  des  Bildes,  seine 
Stimmung  und  die  Farbe.  Doch  soll  auf  Weiteres  in  dieser  Arbeit  nicht  einge- 
gangen werden.  Nur  das  eine  soll  am  Schluß  noch  hervorgehoben  werden, 
daß  ich  nach  einem  Vergleich  meines  Materials  mit  den  Darlegungen  und  Er- 
gebnissen Dr.  Müllers  in  seiner  Schrift  *)  „Ästhetisches  und  außerästhetisches 
Urteilen  des  Kindes  bei  der  Betrachtung  von  Bildwerken"  nur  bestätigt  finde, 
was  dort,  besonders  in  §  2  des  II.  Kap.,  ausgeführt  worden  ist.  — 

Eine  spätere  Arbeit  wird  über  die  Urteilsfähigkeit  und  Urteilsbeständigkeit 
der  Schulmädchen  berichten. 


Die  Milieuerkrankung  des  Kindes. 

Von  Fritz  Kühner. 

Die  Läsung  jeder  schwierigen  Frage  ist  von  der  Art  der  Fragestellung  ab- 
hängig. Die  Antwort  wird  um  so  richtiger  sein,  je  allgemeiner  die  Frage  gestellt 
ist,  je  mehr  die  dabei  gebrauchten  Begriffe  frei  sind  von  solchen  Nebenvorstel- 
lungen, die  auf  eine  bestimmte  Lösung  hinführen.  Ich  beginne  daher  absicht- 
lich die  Untersuchung  mit  einer  ultra-makroskopischen  Frage,  die  formell  nie- 
mand eine  Antwort  suggeriert:  „Leben  wir  in  einer  Zeit  von  vorwiegend  natur- 
wissenschaftlichem Denken"?  Ich  vermag  darunter  nur  ein  solches  Denken 
«u  verstehen,  das  sich  der  Bedingtheit  und  anthropomorphen  Beschaffenheit 

')  Quelle  &  Meyer,  Leipzig  1012. 


394  Die  Milieuerkrankung  des  Bandes. 

seiner  Begriffe  bewußt  ist,  das  an  die  Begriffe  nicht  schlechtliin  glaubt,  sondern 
sie  erkenntnistheoretiscb  ricbtig  aus  sich  selbst,  dem  Vorstellungsleben,  nicht 
aber  aus  den  Dingen  heraus  ableitet.  Es  wäre  das  der  Plato'sche  Idealismus 
mit  — 1  multipliziert.  Seine  Formel,  die  Begriffe  seien  vor  den  Dingen  gewesen, 
würde  nicht  einfach  in  die  neue  verwandelt  werden,  es  seien  jene  erst  aus  diesen 
abgeleitet:  sondern  sie  müßte  das  wesentlichste  Kennzeichen  jedes  Dinges  be- 
sitzen, die  Veränderlichkeit,  die  Entwicklung;  denn  der  Entwicklungsgedanke 
macht  vor  nichts  Halt.  Sofort  stellt  sich  auch  die  unabweisbare  Antwort  ein, 
daß  die  oben  formulierte  Frage  ganz  und  gar  zu  verneinen  ist.  Unser  Denken 
zeigt  gegen  früher  unendlich  viel  mehr  Zielrichtung  auf  kausale  Zusammenhänge, 
unsere  Begriffsbildung  aber  ist  rein  scholastisch  geblieben.  Auch  in  den  Natur- 
wissenschaften übergibt  die  ältere  der  jüngeren  Generation  die  Rüstung  mit 
den  Worten:  ,,Solm,  da  hast  du  meinen  Speer,  —  meinen,  so  wie  ihn  mir  dein 
Großvater  gab."  Daß  wir  hier  und  da  einen  associationen-übersättigten  Arbeits- 
begriff durch  einen  neuen  ersetzen,  ist  wohl  ein  Gewinn,  aber  kein  erkenntnis- 
genetischer, nur  ein  psychologisch-technischer. 

Um  auf  das  Einzelgebiet  der  Anthropologie  im  weitesten  Umfang  einzu- 
gehen, so  steht  an  deren  Eingangspforte  ein  begrifflicher  Cerberus  aus  grauer 
Urzeit,  eine  Vorstellung,  die  ganze  Anschauungswelten  in  unfruchtbare  Sack- 
gassen gedrängt  hat  (Strafrecht!)  —  der  Normalmensch.  Niemand  kennt 
ihn,  alle  glauben  an  ihn.  Er  verrät  seine  begrifflich  primitive  Herkunft,  sobald 
er  der  leisesten  praktischen  Prüfung  unterzogen  wird.  Er  ist  nicht  mehr  als  die 
Wahrscheinlichkeitsrechnung,  daß  in  einer  Eigenschaftenreihe  von  1 — oo  bei 
einer  gegebenen  Summe  von  Menschen  das  Vorkommen  jeder  einzelnen  Eigen- 
schaft wahrscheinlicher  ist  als  ihr  Fehlen.  Ja,  die  Sache  liegt  sogar  noch  weit 
dürftiger:  es  wird  von  jeder  Eigenschaft  verlangt,  daß  sie  jedesmal  vorhanden 
und  zwar  in  einer  annähernd  immer  gleichen  Menge  vorhanden  sei.  In  der  platten 
Gläubigkeit  an  diese  jedem  naturwissenschaftlichen  Denken  widersprechende 
Begriffskonstruktion  hat  die  Gegenwart  sogar  gelegentlich  einen  Schritt  rück- 
wärts getan:  die  Psychiatrie  in  realer  Konkurrenz  mit  dem  Strafrecht  hat  die 
Formel  ,, normal  contra  unnormal"  so  eng  zusammenzudrängen  verstanden,  daß 
sie  kleinste  Variationen  in  der  psychischen  Beschaffenheit  unnormal  nennt  und 
damit  die  unendliche  Variabilität  des  Organismus  ,, Mensch"  auf  eine  trostlose 
Mittellinie  verengt,  von  der  jedes  Abweichen  bürgerliche  Grefahren  mit 
sich  bringt. 

Der  Anthropologe  jeglicher  Färbung  hat  also  in  erster  Linie  den  „Normal- 
menschen" abzulehnen.  Damit  schafft  er  sich  Raum  für  die  unbegrenzte  Mannig- 
faltigkeit alles  Naturgegebenen  im  Menschen.  Aber  hüten  wir  uns,  in  diesem 
Weltmeer  unkritisch  herumzuplätschern ;  denn  auch  die  Begriffsgläubigen,  die 
Begriffsscholastiker,  sind  Intelligenzen,  von  denen  man  lernen  muß.  Es  ist  näm- 
lich in  der  Definition  eines  Menschen  als  ,, unnormal"  selten  ein  naturwissen- 
schaftliches Urteil  beabsichtigt;  in  der  Regel  soll  es  vielmehr  ein  soziologisches 
Urteil  sein,  welches  sagt:  ,, Dieser  und  jener  Mensch  paßt  nicht  in  die  soziale 
Gemeinschaft;  er  ist  sozial  nicht  vollwertig:  asozial,  antisozial".  Da  an  dem 
Vorhandensein  solcher  Menschen  nun  nicht  zu  zweifeln  ist,  der  Begriff  imnormal 
(der  natürlich  etwas  sehr  anderes  bedeutet,  wie  der  ebenfalls  primitive  Begriff 
,, krank")  aber  als  nicht  naturwissenschaftlich  abgelehnt  werden  muß,  so  muß 


Die  Milieuerkrankiing  des  Kindes.  395 


die  Erscheinung  unter  eine  andere  Vorstellung  subsumiert  werden.  Diese  Vor- 
stellung ist  „harmonisch"  oder  „unharmonisch". 

Es  ist  ja  mit  Händen  zu  greifen,  daß  ein  Mensch  von  vollendeter  Harmonie 
sein  kann  und  dennoch  „unnormal",  weil  asozial  oder  selbst  suprasozial.  Alle 
wahrhaft  großen  Menschen  sind  dies  gewesen.  Mit  dem  Maßstab  des  Durch- 
schnitts geraessen,  gehören  sie  für  die  meisten  ihrer  Einzeleigenschaften  unter 
Polizeiaufsicht.  Goethe,  Leonardo,  Napoleon,  Luther,  Bismarck,  Spinoza,  La- 
marck.  ,, Unnormal"  weil  suprasozial,  weil  getrieben  von  einem  machtvollen 
Vorstellungskomplex,  die  verharrende  societas  in  einer  gewissen  Richtung  fort- 
zuziehen und  insofern  mit  ihr  in  ungewolltem  Gegensatz  wirkend.  Aber  un- 
harmonisch? Niemals!  Keine  ihrer  Eigenschaften  stand  mit  einer  anderen  in 
leisestem  Widerspruch;  es  waren  Menschen,  ausbalanziert  wie  die  feinste  Prä- 
zisionsmaschine, Kunstwerke  der  Natur  für  jeden,  der  der  Anbetung  des  Großen 
fähig  ist,  aber  nicht  für  die  Meßlatte  der  bürgerlichen  Ethik  oder  des  Psychiaters 
oder  des  Staatsanwaltes. 

Es  gibt  auch  infrasoziale  Harmonische,  Menschen,  die  in  allem  unter  dem 
Durchschnitt  sind,  Rückschlagstypen  auf  ein  paar  Jahrhunderttausende  in  die  Vor- 
geschichte hinein,  tiefstehend  im  Denken,  Urteilen,  Empfinden,  auf  der  Stufe  eines 
Zehnjährigen,  aber  auf  dieser  voll-harmonisch.  Dabei  sind  diese  Übergroßen  und 
Unterkleinen  keineswegs  Resultate  der  Multiplikation  oder  Division  eines  gleich- 
artigen ,, Normalen".  Der  Schwerpunkt  des  Innenlebens  der  oben  genannten 
Männer  ist  jeweils  ein  völlig  verschiedener,  der  Maßstab  keines  paßt  zu  dem 
Wesen  des  anderen,  aber  mit  wundervoller  Abstufung  umgibt  die  Menge  ihrer 
Eigenschaften  jenen  Schwerpunkt  und  macht  sie  zu  dem,  was  man  nur  mit  dem 
Begriff  „harmonisch"  zu  erschöpfen  vermag. 

Das  Vorhandensein  von  in  sich  imharmonischen  Menschen  bezweifelt  nie- 
mand. Sie  lassen  sich  am  leichtesten  als  Kinder  von  Eltern  vorstellen,  die  schroffe 
Gegensätze  zeigten,  deren  Verschmelzung  in  der  Keimmasse  unmöglich  war 
oder  jedenfalls  nicht  stattfand.  Ihr  Zustand  ist  der  des  ,, Kampfes  der  Deter- 
minanten"; diese  können  im  Laufe  von  Jahrzehnten  zu  einem  gewissen  Aus- 
gleich kommen,  indem  eine  Gruppe  kontrollierender  Vorstellungen  auf  Gnmd 
der  Erfahrung  dauernd  zwischen  den  inneren  Widersprüchen  vermittelt,  — 
dann  ist  der  Zustand  ausgeheilt,  die  Ungunst  des  Keimplasmas  für  das  Indi- 
viduum überwunden,  —  oder  sie  führen  zu  mehr  oder  minder  katastrophalen 
Ereignissen,  die  ihren  unglücklichen  Träger  dem  Strafrecht  oder  dem  Psychiater 
überliefern.  Ob  diese  oder  jene  Lösung  stattfindet,  ist  von  den  gegebenen  Be- 
dingungen, den  Reizen  der  Außenwelt,  abhängig. 

Am  entgegengesetzten  Ende  stehen  die  in  sich  Harmonischen,  die  als  ,, un- 
normal" nur  insofern  gelten,  als  sie  von  dem  Durchschnittstyp  der  normsetzen- 
den menschlichen  Gesellschaft  abweichen.  Mit  ihnen  hat  sich  die  sogenannte 
Menschheitsgeschichte  so  gründlich  auseinanderzusetzen  gehabt,  daß  ihr  Vor- 
handensein nicht  erst  nachgewiesen  werden  muß.  Aber  wir  sind  noch  jahr- 
hunderteweit von  wirklich  naturwissenschaftlichem,  und,  soweit  Biologie  in 
Frage  kommt,  von  genetischem  Denken  entfernt  und  haben  bisher  noch  nicht 
beachtet,  daß  zwischen  den  oben  angedeuteten  beiden  Formen  der  Disharmonie 
(die  erste  intra-individuell,  die  zweite  intra-sozial)  eine  lange  Reihe  von  Zwischen- 
stufen besteht,  die  gerade  den  Erzieher  zu  größter  Aufmerksamkeit  zwingen 


396  Die  Milieuerkrankting  des  Kindes. 

sollten.  Der  Mensch  kann  nämlicli,  ebensogut  wie  mit  der  societas 
im  ganzen,  auch  mit  deren  kleineren  und  kleinsten  Gruppen  im 
Streit  liegen  und  dennoch  vollharmonisch  sein;  z.  B.  mit  Familie, 
Berufsgenossen,  Bürgerschaft  usw.  Sie  stellen  ein  mehr  oder  minder  ausge- 
dehntes Milieu  dar,  an  das  die  fragliche  Person  keinen  konformen  Anschluß 
zu  finden  vermag,  dessen  Gegensätze  mit  ihm  selbst  ihn  in  dauerndem  Reiz- 
zustand erhalten,  den  Reiz  auf  die  Gruppe  rückleiten  und  in  der  Regel  ver- 
schärfen, vertiefen.  Solche  Zustände  im  Individuum  mögen  vorläufig  als  Um- 
gebungsstörung, mit  einem  unschönen,  aber  associationenfreien  Fremdwort 
als  Milieu-Psychose  bezeichnet  werden. 

Je  jünger  der  Mensch,  um  so  enger  ist  seiner  Unselbständigkeit  entsprechend 
der  Anschluß  an  wenige  Menschen,  die  mit  ihm  zusammen  eine  Lebensgemein- 
schaft bilden.  Mit  ihnen  lebt  das  Kind  nur  in  seltenen  Fällen  in  voller  Harmonie. 
Es  besteht  keine  Wahrscheinlichkeit,  daß  in  der  Anlagensumme  von  Mutter  und 
Kind  Identität  vorhanden  ist;  bei  mehreren  Menschen  untereinander  ist  sie  ein- 
fach ausgeschlossen.  Immerhin  wird  es  in  der  Regel  nicht  zu  Reizzuständen 
störender  Art  kommen,  weil  die  Masse  der  Individuen  im  Großen  genommen 
nicht  tief  differenziert  ist;  aber  die  die  Regel  begleitende  Zahl  der  Ausnahme- 
fälle ist  deshalb  nicht  minder  groß.  Nun  kann  es  für  den  Erzieher  natürlich  nicht 
gleichgültig  sein,  ob  sein  Objekt  in  seinem  Lebensraum  ungestört  und  friedlich 
oder  dauernd  gereizt,  gestört  oder  gar  kämpfend  seine  Jugend  verbringt  und 
dadurch  Kraft  verliert,  die  der  produktiven  Erziehungsarbeit  verloren  geht. 
Denn  die,, Umgebungsstörung"  hat  so  gut  wie  nie  die  Form  eines  klaren,  offenen 
Kampfes,  der  die  Kräfte  fördert,  kann  sie  gar  nicht  haben,  da  der  Kampf  des 
Kindes  mit  Erwachsenen  kein  gleichartiger  ist,  zu  keinem  Sieg  führt,  von  nie- 
mand als  berechtigt  anerkannt  wird,  weil  niemand  konsequent  biologisch  denkt. 
Fügen  wir  hinzu,  daß  oft  dem  nie  endenden  Unterliegen  des  Kindes,  dem 
Energieverlust  ewiger  zwecklosen  Reizungen  noch  die  moralische  Verurteilung 
folgt,  so  haben  wir  einen  ungefähren  Gesamteindruck  von  der  Fülle  und  Tiefe 
der  Tragik,  die  das  Aufwachsen  vieler  Menschen  und  gerade  der  wertvollsten 
begleitet.  Denn  je  feiner  veranlagt  ein  Mensch  ist,  um  so  größer  sind  die  Reiz- 
flächen, um  so  größer  die  Wahrscheinlichkeit,  daß  sein  Leiden  bis  in  die  frühen 
Jahre  der  Kindheit  hinabsteigt. 

Hieraus  ergibt  sich  schon,  daß  Milieuerkrankungen  dieser  Art  weit  häufiger 
in  Kulturschichten  anzutreffen  sind  als  in  der  durchschnittlich  weniger  diffe- 
renzierten großen  Masse;  und  hieraus  wieder,  daß  das  Studium  dieser  Er- 
scheinungen Erzieher  und  Lehrer  hauptsächlich  zu  dem  Menschenmaterial  der 
höheren  Schulen  hinführt.  Somit  kommen  wir  zur  praktischen  Seite  des  Problems. 

Will  man  diese  Zustände  verstehen,  die  mit  ihnen  verbundenen  schweren 
Verluste  an  nutzbarer  Lebenskraft  beseitigen,  so  ist  natürlich  strengste  begriff- 
liche Klarheit  und  genügende  objektive  Sachkenntnis  vonnöten.  Die  erster e  hat 
vor  allem  eine  Verwechslung  von  an  sich  disharmonischen  Kindern  mit  solchen, 
die  nur  durch  die  Kontaktwirkung  des  Milieus  ,, erkrankt"  sind,  zu  vermeiden; 
die  letztere  muß  zu  erkennen  vermögen,  ob  die  Zustände  des  Kindes  nicht  indi- 
viduelle Dauerzustände  allgemeiner  Art  sind,  denn  leicht  können  Neurasthenie, 
Pubertätserscheinungen  usw.  das  Bild  trüben  oder  sich  ihm  überlagern.  Liegt 
die  Störung  wirklich  in  Beziehungen  zur  Umgebung  allein,  so  wird  Verpflanzung 


Die  Milieuerkrankung  des  Ivindes.  397 

in  andere  Umgebung  in  einiger  Zeit  Besserung  bringen  und  die  innere  Gleich- 
gewichtslage wiederherstellen.  Diese  Zeit  wird  meistens  der  Dauer  der  vorher 
durchlittenen  Milieukämpfe  entsprechen,  die  bei  jahrelangem  schmerzvollen  mid 
vergeblichen  Konflikt  mit  der  Umgebung  sogar  zu  unheilbarer  —  auch  in  gün- 
stigem Milieu  unheilbarer  —  Schädigung  des  Seelenlebens  führen  können,  wie 
auch  manchmal  wenige  Wochen  genügen,  den  erstrebten  inneren  Friedenszustand 
zu  ermöglichen,  und  zwar  auf  beiden  Seiten,  da  ja  das  Kind  wie  auch  der  es 
irritierende  Erwachsene  mit  zwei  mit  gleicher  Elektrizität  geladenen  und  sich  ab- 
stoßenden Hollunderkugeln  zu  vergleichen  sind,  von  denen  jede  in  die  Mittel- 
lage zurückkehrt,  wenn  die  andere  entfernt  wird.  Ja,  bei  der  inmier  wieder  über- 
raschenden Mannigfaltigkeit  organischer  Bedingungen,  die  sich  jeder  Formel, 
jeder  Erstarrung  in  einer  Definition  entzieht,  kommt  es  nicht  selten  vor,  daß 
der  Erwachsene  der  psychisch  Unterliegende  ist,  der  an  der  Disharmonie  tiefer 
erkrankt,  stärker  leidet  als  das  Kind. 

Setzen  wir  den  reinsten  einfachsten  Fall  der  Milieuerkrankung  an  den  Anfang, 
so  kann  es  nur  der  sein,  wo  alle  Beteiligten  voll  harmonische  Menschen  sind.  Hier 
kann  die  Ursache  nur  in  der  Verschiedenheit  der  Grundveranlagung  zu  suchen 
sein,  in  dem  oben  genannten  psychischen  ,, Schwerpunkt".  Lag  er  bei  den  8  Ur- 
großeltern und  den  4  Großeltern  weit  auseinander,  so  wird  die  keimplasmatische 
Konstellation  der  Eltern  ebenfalls  überraschende  Neuformen  schaffen.  Kind 
und  Eltern  hören  zu  einem  gewissen  Zeitpunkt  auf,  sich  zu  , .verstehen",  und  da 
primitive  ,, Erziehung"  selten  etwas  anderes  ist  als  die  Aufzwingung  der  ge- 
gebenen Vorstellungen  der  Eltern  oder  eines  von  ihnen  auf  das  ihnen  ziemlich 
unbekannte  Vorstellungsleben  des  Kindes,  so  ist  der  Konflikt  da.  Er  wird, 
wenn  keiner  der  Streitteile  ein  entschiedener  Willensmensch  ist,  keine  tragische 
Stärke  gewinnen  und  mit  den  Jahren  wieder  schwinden.  Kampf  und  Leid  sind 
in  solchen  Zuständen  ausnahmelos  direkt  proportional  dem  Grade  der  Willens- 
kraft der  Parteien,  denn  diese  ist  es,  die  nach  Verwirklichung  zielt,  die  allein 
„Gefechts wert"  hat.  Es  liegt  das  im  Wesen  des  Willens,  der  immer  etwas  rein 
Quantitatives  ist  und  durch  die  ihm  zugrunde  liegende  Vorstellung  nicht  ver- 
ändert wird.^)  Neun  Zehntel  der  Milieustörungen  in  der  Familie  entfallen  auf 
solche,  wo  ein  starker  Wille  Handlungen  auslöst,  die  für  den  anderen  Teil  einen 
Angriff,  eine  „psychische  Insulte"  bedeuten  und  zu  ähnlich  starken  Reaktionen 
führt.  Typischer  Fall:  Friedrich  der  Große  als  Siebzehnjähriger.  Alle  seine 
Angehörigen  waren  harmonische  Menschen;  aber  der  Schwerpunkt  des  Vaters 
war  moralischer  Wille,  der  des  Sohnes  Vemunftwille.  Übrigens  ist  das  für  den 
Konflikt  selbst  von  keinem  Belang;  denn  jede  eine  Willenshandlimg  bewirkende 
Vorstellung  ist  ausreichend  dafür.  Immerhin  ist  die  Formel  ,, Moral  der  Eltern 
contra  Vernunft  der  Kinder"  keine  schlechte  Überschrift  für  einen  Einzelab- 
schnitt der  Familientragik.  Das  Kind  hat  keine  begriffene  und  konsequente 
Moral,  es  hat  nur  verschieden  hohe  Stufen  von  Motiven;  aber  es  hat  eine  Ver- 
nunft, eine,  seine  eigene,  die  oft  überrascht,  in  Einzelfällen  imponiert  und  der 


*)  Ich  habe  in  meinem  Buch,  Lamarck,  die  Lehre  vom  Leben  (Diederiohs,  Jona, 
1913)  folgondn  Dofinition  gegeben:  „Wille  int  die  in  dorn  Subjekt  gegebene  Span- 
nungshöho  oinor  Vorstellung,  die  eine  auszuführende  Handlung  bedeutet"  (S.  257). 
Die  Vorstolhing  gibt  die  Zielrichtung  des  Willens,  seine  Stärke  aber  ist  von  ihr  ab- 
solut imabhängig. 


398  Die  Milieuerkrankung  des  Kindes. 

autoritiven  Moral  der  Eltern  mit  der  sehr  störenden  und  kränkenden  Forderung 
entgegentritt,  sich  ebenfalls  als  vernünftig  zu  beweisen.  Es  gehörte  zur  Grund- 
formel der  Pädagogik  aus  der  Zeit  von  etwa  1750 — 1850,  den  Willen  des  Kindes 
vollständig  zu  zermalmen  und  die  ratio  quia  absurda  der  Eltern  zu  göttlicher 
Autorität  zu  erheben.  Indem  so  die  Berührungsfläche  zwischen  dem  Vorstellungs- 
leben der  Eltern  und  dem  der  Kinder  bewußt  ausgeschaltet,  die  Beziehungen 
der  höheren  Vernunft  des  einen  Teils  mit  der  primitiven  des  anderen  vollständig 
beseitigt  wurden,  legte  man  die  Erzeugung  des  Kindheitsmartjrriums  direkt  in 
das  System,  erhob  sie  zur  Forderung,  wenn  auch  ohne  sie  zu  formulieren.  Nie- 
mals waren  die  Methoden  der  Tierhaltung  so  grausam,  wie  das  antibiologische 
Verfahren  dieser  Epoche  bei  der  Kinderhaltung. 

In  jedem  Falle,  wo  Erwachsene  die  niedere  aber  deshalb  nicht  minder  ver- 
nünftige Vernimft  der  Kinder  ignorieren  und,  ihre  Naturgesetzmäßigkeit  nicht 
begreifend,  mit  ihrem  Willen  erdrücken,  wird,  um  beim  Bild  zu  bleiben,  das  ge- 
drückte Vorstellungsleben  des  Kindes  ,, deformiert";  es  erkrankt  in  Beziehung 
auf  den  betreffenden  Erwachsenen.  Die  Milieuerkrankung  in  der  Familie  hat 
fast  immer  die  Form  dieser  Beziehung,  gleichzeitig  aber  strahlt  sie  aus  auf  die 
Vorstellung  der  anderen  Familienangehörigen  und  dies  um  so  mehr,  je  stärker 
von  den  Konflikten  suggestive  Wirkungen  ausgehen.  Dann  nehmen  die  übrigen, 
wollend  oder  nicht,  zu  dem  Streit  Stellung,  vergrößern  die  Reibungsflächen  und 
den  Schmerz. 

Viele  Faktoren  sind  es,  die  bei  den  Beziehungsstörungen  Jugendlicher  das 
Endergebnis  herbeiführen:  die  Art  ihrer  Vorstellungen,  der  Feinheitsgrad  ihres 
Empfindungslebens,  die  Stärke  ihres  Willens,  ausgedrückt  in  dem  Fembleiben 
aller  Nebenvorstellungen  und  ,,interkurrierenden  Reize",  wenn  es  sich  um  Aus- 
führung und  Verwirklichung  vorhandener  Tatvorstellungen  handelt;  ferner  das 
Temperament,  —  ein  laienhaft  unscharfer  aber  praktisch  brauchbarer  Unter- 
schied über  die  Art,  wie  Reize  Antworten  auslösen. 

Untersuchen  wir  die  Vorstellungen.  Darin  allein  schon,  daß  die  Innenwelt 
des  Kindes  allgemein  als  solche  den  Eltern  unverständlich  bleibt,  kann  der  Anlaß 
primärer  Konflikte  liegen;  in  Wirklichkeit  kommt  dies  nicht  oft  vor.  Es  gibt 
Menschen,  die  alt  geboren  sind,  die  es  nie  vermögen,  aus  ihren  starrgewordenen 
Zweckvorstellungen  die  scheinbar  zweckwidrigen  Handlungen  des  Kindes  zu 
begreifen;  doch  ist  das  beim  weiblichen  Geschlecht  selten,  denn  bei  ihm  gehört 
das  Verständnis  für  das  Wesen  und  Wollen  sehr  Jugendlicher  mit  in  den  Bereich 
der  angeborenen  Funktionen.  Allerdings  liegen  auch  Konfliktsmöglichkeiten 
in  den  ersten  6 — 8  Lebensjahren  —  ganz  allgemein  gerechnet  —  kaum  vor;  sie 
sind  meistens  in  der  Verständnislosigkeit  des  Vaters  gegen  das  Kindliche-an-sich 
zu  finden.  Die  Sachlage  wird  ernster,  wenn  einzelne  Vorstellungsgebiete  des 
Kindes  sich  stark  entwickeln  und  vergebens  nach  Verwirklichung  drängen,  weil 
sie  sich  nicht  mit  der  Eltern vemunft  in  Einklang  zu  bringen  vermögen;  und 
umgekehrt,  wenn  erwartete  Vorstellungen  ausbleiben.  Der  Knabe  will  dauernd 
gefährliche  Dinge  tun,  klettern  usw.,  ist  nicht  vom  Lesen  von  Jugendschriften 
abzubringen,  verkehrt  beharrlich  mit  „ungezogenen"  Kameraden,  neckt  un- 
aufhörlich die  Geschwister,  sammelt  bis  zur  Verzweiflung  Molche  und  Schlangen 
usw. ;  oder  er  weigert  sich  (aktiv  oder  passiv,  wobei  das  letztere  inmier  schlimmer 
ist),  mit  der  Familie  spazieren  zu  gehen,  ist  mit  keinem  Mittel  zum  Lesen  zu  be- 


Die  Milieuerkrankung  des  Kindes.  399 

wegen,  sondert  sich  von  allen  andern  ab  usw.  Alles  das  ist  noch  harmlos,  ersten 
Grades;  es  wird  ef:isi  und  dauernd,  wenn  bei  einem  der  ,, Streitteile"  oder  was 
das  Häufigere  ist,  bei  beiden,  große  Empfindlichkeit  und  Reizbarkeit  besteht. 
Sie  kann  bei  Jugendlichen  dauernd  oder  periodisch  auftreten;  bei  den  Erwach- 
senen sind  solche  Schwankungen  selten.  Jedenfalls  aber  konmit  es  zu  anhalten- 
der imd  schwerer  Milieustörung,  sobald  erhebliche  Abweichung  im  Vorstellungs- 
leben  beider  Teile  und  beiderseitige  Reizbarkeit  sich  mit  stärkerem  Willen  ver- 
binden. Für  den  Indolenten,  Passiven  gibt  es  keine  Konflikte;  er  kann  eine 
unglückliche  Jugend  durchleiden,  denn  diese  kann  auch  auf  seelischen  Ent- 
behrungen beruhen,  aber  das  ist  kein  Streit,  keine  erkennbare,  meßbare  , .Er- 
krankung", kein  Fall,  der  bei  harmonischen  Menschen  aus  ihrem  Milieu  heraus 
zu  erklären  ist,  und  nur  um  solche  kann  es  sich  zunächst  handeln.  Sind  aber  beide 
Teile  willensstark,  dann  haben  wir  den  Krieg,  den  offenen  oder  versteckten,  mit 
Frontangriff,  Umgehung,  Hinterlist  und  Xlberrumpelung.  Dieser  Krieg  „kostet"; 
er  kostet  Zeit,  Kräfte,  Überlegung;  er  hat  Sieger  und  Besiegte;  aber  als  der  un- 
produktivste aller  Kriege  bringt  er  dem  Sieger  zwar  Frieden,  aber  keine  Befrie- 
digung; ja,  er  endet  oft  erst  mit  dem  Leben,  denn  die  Erinnerung,  immer  wieder 
wach  und  nach  einer  Zeit  zurückblickend,  wo  die  ersten  und  tiefsten  Eindrücke 
erfolgten,  kämpft  in  schweigender  Erbitterung  weiter,  wenn  der,  welcher  unge- 
wollt und  vielleicht  mit  liebebedürftigem  Herz  zum  Feind  ward,  längst  und  für 
immer  seinen  Frieden  gefunden  hat. 

Das  Kind  kämpft  stets  mit  einem  starken  Rechtsbewußtsein;  die  Grundlagen 
dafür  sind  seine  organischen  Bedingungen ;  denn  alles  Naturgegebene  hat  ,, recht", 
weil  es  sich  nicht  selbst  verneinen  kann,  weil  über  organisch  Gewordenem  keine 
Rechtsinstanz,  kein  Richter  vorhanden  ist.  Sein  vereinzeltes  Rechtsbewußtsein 
stößt  auf  Forderungen,  die  ihm  als  „Unrecht"  erscheinen.  Ist  es  seiner  Erbmasse 
nach  der  Umgebung  ähnlich,  so  lernt  es  aus  tausend  kleinen  Kämpfen  und  Rei- 
bungen Anpassung,  Unterordnimg.  Treten  ihm  aber  bei  ausgeprägter  harmo- 
nischer Eigenart  dauernd  fremdartige  und  andersartige  Anschauungen  entgegen, 
so  muß  es  in  jedem  Fall,  auch  ohne  Konflikt,  in  seinem  individuellen  Rechts- 
bewußtsein leiden.  Daher  beruhen  die  schlimmsten  Kämpfe  im  Innern  der  Fa- 
milie auf  dem,  was  dem  Rechtsbewußtsein  zugrunde  liegt:  der  Moral.  Der 
Kampf  um  den  kleinen  Lebensspielraum  des  Kindes,  seine  Neigungen  und  Ab- 
neigungen kann  ein  langer  und  erbitterter  sein,  —  wenn  er  nur  einer  zwischen 
Kräften  ist,  so  hört  er,  sobald  er  äußerlich  zu  Ende  gekommen  ist,  auch  innerlich 
auf.  Niemals  aber  ist  dies  der  Fall,  wenn  das  moralische  Urteil  dazu  kommt. 
Haben  die  Erwachsenen,  denkfaul  oder  verständnislos,  jedenfalls  ohne  bio- 
logisch es  Verständnis,  einmal  angefangen,  das  Kind,  mit  dem  sie  in  unbegriffe- 
nem Konflikt  liegen,  moralisch  zu  verurteilen,  so  ist  ihre  Stellung  für  alle  Zeiten 
verloren,  die  Wunde  für  alle  Zeiten  vergiftet  und  an  Stelle  der  Gegnerschaft 
der  Haß  getreten,  der  bei  Feinergearteten  nie  endet.  Das  Urteil  „ich  bin  gut  und 
du  bist  böse"  ist  die  Proklamation  der  Minderwertigkeit,  im  Kind  einem  Men- 
sehen  angetan,  der  seine  Vollwertigkeit  nicht  beweisen  kann,  der  hilflos  ist  sowohl 
gegen  die  , .moralische"  Verurteilung  wie  gegen  den  damit  verbundenen  Unter- 
drückungswillen des  Erwachsenen.  Seine  letzte  Verschärfung  erfährt  jenes 
Urteil  in  der  systematischen  Kontrastierung  mit  noch  anderen  „guten"  Men- 
schen, eine  Art  von  erster  Ausstoßung  aus  der  Allgemeinheit,  ein  Verfahren,  das 


400  Die  Milieuerkrankung  des  Kindes. 

konsequent  angewandt,  nur  „Verbrecher"  heranzieht.  Zu  dem  gekränkten  Rechts- 
bewußtsein des  Kindes  kommt  die  moralische  Deklassierung,  es  innerlich  ver- 
nichtend: hier  ist  das  Wort  ,, Konflikt"  natürlich  in  keiner  Weise  mehr  aus- 
reichend. Reagiert  das  in  sich  gesunde  harmonische  und  damit  vollwertige  Kind 
überhaupt  noch  gegen  die  aus  schweren  Fehlern  des  Denkens  gekommene  Wucht 
der  psychischen  Insulte,  so  kann  es  nur  in  der  Form  von  tiefem  Haß  und  dumpfer 
Verzweiflung  sein,  die  zu  dauernder  Schädigung  seines  Innenlebens  führt. 

Sobald  solche  Zustände  dem  Erzieher  in  begreifbarer  Form  entgegentreten, 
so  ist  für  ihn  als  erste  Maßnahme  nichts  anderes  möglich  wie  sofortige  Ent- 
fernung des  Kindes  aus  dem  schädigenden  Milieu.  Ob  diese  eine  wirkliche  Hei- 
lung, eine  Wiederherstellung  des  Gleichgewichts  des  Jugendlichen  bedeutet,  ist 
zunächst  nebensächlich;  so  wie  man  aus  einer  Wunde  erst  die  irritierenden 
Fremdkörper  entfernt,  bevor  man  sie  zum  Schließen  bringt,  hat  man  auch  hier 
erst  den  schädigenden  Reiz  zu  beseitigen.  In  allen  leichteren  Fällen,  besonders 
bei  solchen  Milieustörungen,  die  ersichtlich  nur  periodischer  Art  sind,  bedarf  es 
keiner  weiteren  Schritte,  vorausgesetzt,  daß  die  neue  Umgebung  in  der  vorher 
schädlichen  Richtung  ausgesprochen  reizfrei  ist.  Hat  aber  der  jugendliche  Mensch 
schon  lange  und  viel  zu  leiden  gehabt,  so  wird  er  die  zur  Gewohnheit  gewordene 
Kampfstellung  auch  gegen  die  Erwachsenen  seiner  neuen  Umgebung  einnehmen, 
so  das  Vorurteil  verstärkend,  das  die  alten  Gegner  sich  bemühten,  gegen  ihn  zu 
verbreiten;  das  Durchschnittsurteil  braver  ,, moralischer"  Normalerzieher  wird 
sich  dann  beeilen,  die  Fehler  der  kampfmüden  Eltern  fortzusetzen  und  die  heil- 
same Wirkung  der  Milieuveränderung  dadurch  stark  vermindern,  —  ganz  aus- 
zuschalten ist  sie  fast  nie,  wie  auch  dem  krankbleibenden  Patienten  eine  Lage- 
veränderung im  Bett  fast  immer  eine  Erleichterung  verschafft.  Der  überlegene 
Erzieher,  —  überlegen,  weil  kausal  denkend  —  verfährt  natürlich  in  enger  An- 
passung an  die  gegebenen  Tatsachen.  Er  weiß,  daß  der  extreme  Pendelschlag 
nach  der  einen  Seite  nicht  sogleich  zurückgehen  wird,  da  erst  langsam,  vielleicht 
von  manchen  Rückfällen  unerfreulicher  Art  begleitet,  die  innere  Entspannung 
eintreten  kann,  die  harte  Kruste  der  Erbitterung  mit  Ruhe  und  Güte  und  viel 
Geduld  zur  Erweichung  gebracht  werden  muß.  Dann  kommt  erst  der  Um- 
schlag in  das  entgegengesetzte  Extrem,  die  schwärmerische,  manchmal  an  Hunde 
erinnernde  Anhänglichkeit  dem  neuen  Führer  gegenüber,  bis  endlich  die  Gleich- 
gewichtslage dorthin  zu  liegen  kommt,  wo  sie  ihrem  Namen  nach  gehört:  in  die 
mittlere  Linie  zwischen  Haß  und  Schwärmerei.  Hier  muß  sie  unter  dem  Schutz 
des  neuen  Milieus  bleiben,  bis  die  störenden  Erinnerimgsbilder  so  weit  zurück- 
getreten sind,  daß  die  Heimkehr  in  die  alte  Umgebung  gefahrlos  ist;  und  ist  der 
überlegene  Erzieher  eine  genügend  starke  Persönlichkeit,  so  wird  er  seinen 
heilenden  Einfluß  auch  auf  die  meist  nicht  minder  ,, erkrankten"  Erwachsenen 
des  gestörten  Milieus  erstrecken,  hier  ebenso  stark  an  das  Urteil  und  das  Bewußt- 
sein anknüpfend  wie  dort  an  das  überreizte  Empfindungsleben. 

Bei  völlig  zerstörtem  inneren  Zusammenhang  zwischen  Erwachsenen  (Eltern) 
und  Kind  ist  dieser  Weg  prophylaktischer  Geduld  und  Güte  nicht  gangbar. 
Hier  hat  der  Jugendliche,  seiner  Vorstellung  nach,  keine  Eltern  mehr;  er  ist 
nicht  einfach  ,, erkrankt"  und  selbst  der  Zusatz  ,, chronisch"  genügt  nicht,  seine 
Lage  zu  kennzeichnen :  er  ist  vielmehr  bildlich  ein  Ejüppel  geworden,  der  etwas 
verloren  hat,  was  sich  vielleicht  regenerieren  läßt,  vielleicht  aber  auch  durch 


Die  Milieuerkrankung  des  Kindes.  401 

Stärkung  anderer  Organe  (=  anderer  Bedingungen  des  äußeren  und  inneren 
Lebens)  ersetzt  werden  muß.  Tief  eingefressenem  Leiden,  erbittertem  Haß  ist 
weder  mit  Güte,  noch  einfach  mit  Milieuveränderung  beizukommen;  denn  es 
gehört  zu  den  ersten  Wirkimgen  solcher  Zustände,  daß  das  Individuum  sich 
gegen  andere  hermetisch  abschließt,  sein  Innenleben  in  einen  Panzer  verhüllt 
und  jedem  neuen  Menschen  aus  Selbsterhaltungstrieb  heraus  bewaffnet  —  in- 
tellektuell und  psychologisch  —  entgegentritt.  Ist  der  unglückliche  Jugendliche 
noch  näher  am  Kindesalter  wie  an  dem  des  Mannes,  nicht  älter  wie  etwa  14  Jahre, 
so  wird  der  Erzieher  die  Frage  zu  beantworten  haben,  ob  er  nach  Person  und 
allgemeiner  Lebenslage  es  vermag,  ihm  die  zimächst  verlorenen  Eltern  ganz  zu 
ersetzen.  Es  ist  dies  sehr  schwer  zu  verwirklichen,  imd  es  sind  Jahre  dazu  nötig. 
Leichter  ist  es  oft,  an  Stelle  der  Eltern  andere  Menschen  mit  anderen  Beziehimgs- 
formen  einzuführen,  während  die  Eltern  selbst,  wenn  ihr  Verständnis  dazu  aus- 
reicht, bis  auf  seltensten  brieflichen  Verkehr  in  den  Hintergrund  zu  treten  haben, 
natürlich  in  Formen,  die  es  auch  ihnen  erleichtern,  das  Durchlittene  langsam 
zu  überwinden.  In  etwas  höheren  Jahren  des  Jugendlichen  gibt  es  nur  ein  Ver- 
fahren, bildlich  als  ,, operativer  Eingriff"  zu  kennzeichnen:  der  Erzieher  muß 
ihm,  an  den  durch  Leiden  geschärften  Intellekt  anknüpfend,  klar  die  Sachlage 
zerlegen,  den  inneren  Verlust  der  Eltern  zugestehen  und  so  amoralisch  wie  mög- 
lich die  Gründe  und  Gesetzmäßigkeiten  aufdecken,  die  ihn  herbeiführten.  „Du 
hast  keine  Eltern  mehr,  wenigstens  für  lange  Zeit  nicht;  aber  das  Leben  ist  auch 
ohne  Eltern  unendlich  reich,  und  als  Kamerad  will  ich  dir  die  Wege  zu  diesem 
Reichtum  zeigen.  Ob  du  später  einmal  die  verlorenen  Eltern  wiederfindest,  kann 
niemand  wissen;  es  ist  Glückssache,  und  vielleicht  hast  du  das  Glück."  — 

Vor  diese  Untersuchung  setzte  ich  zwei  Voraussetzungen;  die  eine,  daß  es 
sich  um  Störungen  innerer  Art  handelt,  die  nicht  auf  Wachstumsvorgänge  und 
Erregungszustände  periodischer  Art  zurückgehen,  —  die  andere,  daß  die  be- 
troffenen Menschen  in  sich  harmonisch  sind,  woraus  sich  Konflikte  ergeben, 
die  nur  in  der  Verschiedenheit  der  Grundveranlagung  liegen.  Periodische 
Störungen  im  Individuum,  die  zu  entsprechenden  im  Milieu  führen  — 
Pubertät!  —  haben  eine  bestimmte  Dauer,  über  die  hinaus  sie  nicht  nach- 
teilig wirken  können,  sind  auch  zu  alltäglich,  um  erst  nachgewiesen  werden 
zu  müssen.  Umgebungsstörungen  ausgesprochen  disharmonischer  Menschen 
sind  ('selbstverständlich  und  insofern  eigentlich  uninteressant.  Daß  Byron 
als  Knabe  mit  seiner  Mutter,  als  Mann  mit  seiner  Frau  nicht  ,, nor- 
male" Beziehungen  finden  konnte,  ist  ebenso  sicher,  wie  daß  ein  Adler 
nicht  zu  einem  Storch  paßt.  Immer  aber  kommt  ein  besonderer  „erschwerender 
Umstand"  innerer  Art  dabei  in  Frage:  der  Konflikt  mit  anderen,  an  die  man 
durch  Familienbande  gefesselt  ist,  hat  jenes  Mehr  an  Erbitterung,  welches  das 
Äquivalent  für  die  von  jedem  gefühlte  Unnatur  gerade  solcher  Kämpfe  dar- 
stellt, genau  so  wie  sogenannte  Bruderkriege  gehässiger  sind  als  Kriege  art- 
fremder Völker.  Seinen  Angehörigen  gegenüber  ist  also  auch  der  disharmonische 
Mensch  stärker  gereizt,  verletzlicher,  als  der  sogenannte  „normale".  Es  ergibt 
sich  daraus  auch  für  ihn  eine  günstige  Heilprognose  durch  Wechsel  der  Umgebung. 
So  verteilen  sich  die  heranwachsenden  Menschen  auf  eine  unendliche  und 
kontinuierliche  Reihe.  Sie  beginnt  mit  den  seltenen  Fällen  vollharmonischer  und 
gleichartiger  Naturen  im  Familienkreis;  sie  geht  langsam  auf  die  harmonisch- 

2^itschii(t  f.  pidAgog.  Psychologie.  26 


402  Die  Milieuerkrankung  des  Eandes. 

ungleichartigen  über,  um  mit  den  disharmonisch-ungleichartigen  zu  enden,  in 
immer  wechselnden,  neukombinierten  und  mannigfachen  Formen  der  Zusammen- 
setzung. Da  nun  sicherlich  die  erste  Gruppe  im  Verhältnis  zu  den  beiden  anderen 
eine  Minderzahl  der  Fälle  umfaßt,  so  werden  periodische  oder  dauernde  Milieu- 
störungen überall  die  Kegel  sein,  eine  Tatsache,  die  deshalb  nicht  minder  Tat- 
sache ist,  weil  sie  sich  den  Augen  Außenstehender  so  gut  wie  immer  verbirgt. 
Deshalb  besteht  auch  ein  bemerkenswerter  biologischer  Parallelismus  zwischen 
den  intraindividuellen  Störungen  bei  der  Inzucht,  d,  h.  der  Kombination  der 
Determinanten,  und  der  extraindividuellen  in  der  Familie,  d.h.  der  Kombi- 
nation der  Individuen:  in  beiden  Fällen  können  unendlich  viele  Einzelkombi- 
nationen errechnet  werden  und  vorkommen,  aber  die  Zahl  der  harmonischen 
Fälle  ist  immer  gering,  immer  ein  Glückszufall,  weil  die  Anzahl  der  einzelnen 
Konstituenten  gering  ist.  (Um  im  Bilde  zu  bleiben:  32  Chromosomengruppen, 
5 — 10  Familienangehörige.)  Je  größer  die  Zahl  der  Einzelteile,  um  so  sicherer 
die  Erzielung  einer  relativen  Harmonie,  —  haben  doch  selbst  die  von  England 
nach  Australien  verschickten  Verbrecher  dort  eine  gute  bürgerliche  Harmonie 
zu  schaffen  vermocht.  Es  ist  das  eine  biologische  Grundlage  zur  Verteidigung 
der  Massenerziehung:  der  harmonische  Jugendliche  findet  dort  mit  größerer 
Wahrscheinlichkeit  gleichgeartete  andere ;  der  disharmonische  stößt  nicht  schmerz- 
lich gegen  eine  umgekehrte  Disharmonie,  sondern  nur  gegen  eine  die  ,,Norm" 
darstellende  Masse.  Allen  wird  der  Masse  gegenüber  der  Verzicht  auf  das  Ab- 
weichende der  eigenen  Veranlagung  leichter  als  im  Gebundensein  an  die  wenigen 
in  der  Familie.  Daran  schließt  sich  eine  andere  Betrachtungsnotwendigkeit, 
die  für  den  einzelnen  pädagogisch,  für  das  Ganze  volkswirtschaftlich  zu  formu- 
lieren ist:  jede  Verminderung  an  Konflikten  und  Reibungsflächen  in  der  Familie 
ist  Ersparung  von  Energie  zugunsten  des  Kindes,  in  der  Masse  ebenso  zugunsten 
des  Volksganzen  und  der  werterzeugenden  Arbeit. 

Niemand  sage,  eine  solche  Ersparung  sei  von  keinem  Belang,  und  niemand 
sage,  das  geht  nur  die  Familie  selbst  etwas  an.  Unsere  Zeit  hat  den  Mut,  langsam 
den  Schleier  von  dem  ängstlich  verdeckten  geschlechtlichen  Elend  zu  ziehen, 
sie  wird  den  gleichen  Mut  dem  gegenüber  zeigen,  was  Feigheit  und  Sentimenta- 
lität zum  Schaden  des  kommenden  Geschlechtes  als  Privatangelegenheit  der 
Familie  darstellt.  In  der  langsamen  aber  unaufhaltsamen  Sozialisierung  aller 
unserer  Einrichtungen  ist  es  nur  eine  mehr  oder  minder  große  Zeitspanne,  die 
uns  von  dem  Augenblick  trennt,  wo  der  Gemeinsinn  laut  und  gebieterisch  spricht : 
Nein,  die  Kinder  sind  keine  Privatangelegenheit  der  Familie,  sie 
sind  eine  Staatsangelegenheit.  Und  eine  Staatsangelegenheit  ist  es,. 
Kinder  vor  den  Schädigungen  einer  konfliktsreichen  Umgebung  zu  bewahren, 
weil  darin  letzten  Endes  auch  eine  Schädigung  der  Öffentlichkeit  liegt.  Wer 
hat  den  Mut,  die  Zahl  der  sogenannten  ,, Verbrecher"  abzuschätzen,  die  nicht 
konstitutionell,  sondern  durch  Milieu-Einflüsse  zu  Verbrechern  wurden  und  die 
durch  Umgebungsänderung  hätten  geheilt  werden  können?  Nicht  viele;  es  ist 
weit  einfacher,  sich  durch  das  Wort  „unnormal"  gegen  die  Forderung  biologischen 
Denkens  zu  schützen. 


Zahlbildung  und  Finger.  403 

■x 


Zahlbildung  und  Finger. 

Von  Hermann  Walsemann. 

Unter  allen  Umständen  sind  die  Finger  das  natürliche  Greif  organ  des  Menschen. 
Sollte  die  Natur  sie  noch  zu  einem  ganz  anderen  Zweck  bestimmt  haben?  — 
Ohne  weiteres  kann  man  davon  nicht  überzeugt  sein.  Die  Behauptung  Wete- 
kamps:  „Die  Finger  sind  die  natürlichste  und,  weil  immer  vorhanden,  prak- 
tischste Rechenmaschine"  (Selbstbetätigung  und  Schaffensfreude,  S.  22)  bedarf 
jedenfalls  einer  Prüfung  auf  Richtigkeit  und  Haltbarkeit. 

Fragen  wir  das  Kind,  so  läßt  es  uns  nicht  im  Zweifel  darüber,  daß  es  bei 
seiner  ersten  Zahlbildung  die  Finger  meist  gar  nicht  berücksichtigt.  Die 
dinglichen  Realitäten  der  Außenwelt  sind  es,  welche  das  Kind  hinsicht- 
lich der  Anzahl  zuerst  interessieren  und  beschäftigen.  Besonders  sofern  das 
Mehr  oder  Weniger  mit  einem  Begehren  und  Grenießen  in  Verbindung  steht, 
läßt  es  sich  die  bestimmte  Vergegenwärtigung  desselben  am  ersten  angelegen 
sein.  Die  Tatsache,  daß  es  an  jeder  Hand  fünf  Finger  hat,  beachtet  ein  Kind 
nur  dann,  wenn  man  es  geradezu  dazu  drängt.  Eher  schon  fällt  ihm  die  ver- 
schiedene Gestalt  der  Finger  auf,  und  es  zeigt  sich  interessiert,  wenn  ihm  Er- 
läuterungen und  Benennungen  dazu  gegeben  werden.  Die  Folge  ist  aber,  daß 
jeder  Finger  als  Einheit  aufgefaßt  und  damit  der  Vergegenwärtigung  einer 
Fingeranzahl  als  Mehrheit  noch  entgegengearbeitet  wird.  Die  hierin  liegende 
Schwierigkeit  wird  vom  Kinde  erst  dann  überwunden,  wenn  es  gelernt  hat, 
von  dem  Verschiedenen  in  der  Erscheinung  abzusehen  imd  die  gleiche  Wesen- 
heit ,, Finger"  für  sich  richtig  zu  denken. 

Geht  nun  nicht  das  Kind  wenigstens  von  diesem  Zeitpunkte  an  dazu  über, 
sich  mit  der  Fingeranzahl  genauer  zu  beschäftigen  ?  —  Es  kommt  ganz  auf  die 
Beeinflussung  an.  Wo  man  sich  bemüht,  es  die  Zahlen  durch  Zählen  kennen 
zu  lehren  und  ihm  für  die  Zählreihe  in  den  Fingern  eine  sinnliche  Grundlage 
gibt,  da  mag  es  allmählich  dazu  kommen,  die  Finger  zu  beachten  und  auch 
als  Abzählmittel  zu  benutzen.  Aber  von  selbst  und  gern  geht  es  diesen  Weg 
nicht,  und  niemals  wird  es  auf  ihm  eine  wirkliche  Kenntnis  der  Zahlen  erlangen. 
So  beeinflußte  Kinder  (ihre  Zahl  ist  sehr  groß)  werden  beim  Eintritt  in  die 
Schule  vielleicht  bis  20  oder  gar  schon  bis  100  „zählen"  können,  dabei  aber 
nicht  wissen,  ob  und  wieviel  5  mehr  ist  als  3  und  6  weniger  als  8.  Ihre  Zahlen- 
kenntnis erweist  sich  bei  näherer  Prüfung  als  eine  Kenntnis  von  Worten, 
mit  denen  sie  einen  genauen  Sinn  nicht  verbinden.  Ja  diese  Kenntnis  ist 
auch  noch  an  die  Reihe  und  Reihenfolge  gebunden;  außerhalb  derselben  ist 
das  einzelne  Zahlwort  nur  Schall  ohne  Sinn  und  Bedeutung. 

Man  sagt  vielleicht,  ein  sich  selbst  übcrlassenes  Kind  schreite  doch  in  seiner 
Zahlbildung  naturgemäß  von  der  Eins  zur  Zwei,  von  der  Zwei  zur  Drei  usw. 
fort  und  werde  so  gewissermaßen  von  selbst  zum  Zählen  gebracht.  Allein 
diese  verbreitete  Meinung  beruht  auf  der  Beobachtung  von  Kindern,  die  früh 
das  Zählen  gelernt  haben.  Auf  nicht  beeinflußte  Kinder  angewandt,  erweist 
sie  sich  bei  näherer  Prüfung  als  vollkommen  irrig.  Ein  vom  Zählcnsollen 
nicht  behelligtes  Kind  vergegenwärtigt  sich  die  Zahlmomente  des  Sinnlichen 
durchaus  außer  der  Reihe,  in  demjenigen  Wecli  >  I  üitnlich,  in  welchem  sie 

26* 


404  Zahlbildung  und  Finger. 


ihm  zufällig  entgegentreten.  Außer  der  Einheit,  Zweiheit,  Dreiheit  usw. 
kommen  für  die  erste  Zahlbildung  auch  die  Menge,  die  Hälfte,  sowie  ,,kein"  und 
alle  in  Betracht.  Eine  Reihenfolge  festzulegen,  in  welcher  diese  und  jene  nume- 
rischen Bestimmtheiten  immer  zur  Auffassung  gelangten,  ist  ganz  unmöglich. 
Eine  bunte  Mannigfaltigkeit  greift  hier  Platz;  die  Gelegenheit,  ihre  Häufig- 
keit und  Ausnutzung,  spielt  die  Hauptrolle  dabei.  Die  Einheit  mag  in  allen 
Fällen  voranstehen;  aber  dann  folgt  sicher  nicht  die  Zweiheit,  sondern  erst 
die  Menge,  vor  der  Dreiheit  wahrscheinlich  ,,kein",  die  Hälfte,  alle.  Tritt  dem 
Kinde  häufig  eine  scharf  ausgeprägte  Vierheit  (Beine  der  Haustiere,  Wagen- 
räder, elektrische  Flammen)  entgegen,  so  lernt  es  diese  vor  der  Dreiheit 
kennen.  Und  die  Auffassung  des  einzelnen  Zahlmomentes  hängt  durchaus  nicht 
von  der  vorhergehenden  Anzahl  ab.  An  die  Dreiheit  denkt  kein  Kind,  wenn 
es  wiederholt  die  Vierheit  sieht,  benennen  hört,  festhält  und  wiedererkennt. 
Menge,  kein,  Halbe,  alle  lassen  ein  Zurückgehen  auf  davorliegende  Zahlen  ja 
auch  gar  nicht  zu. 

Die  Zahlbildung  eines  Kindes,  welches  verbildenden  Einflüssen  nicht  aus- 
gesetzt ist,  geht  also  sprunghaft,  nicht  reihenmäßig.  Dabei  tritt  von  vorn- 
herein eine  simultane  Vergegenwärtigung  der  numerischen  Bestimmt- 
heiten in  Wirksamkeit.  Ein  solches  Kind  kommt  denn  auch  bald  zum  simul- 
tanen Sehen  beliebiger  kleiner  Mehrheiten,  und  zwar  zu  einer  Zeit,  da 
es  vom  Zählen  noch  gar  keine  Ahnung  hat.  Ich  habe  einmal  beobachtet,  daß 
ein  Kind  die  Fähigkeit,  Mehrheiten  mit  einem  Blick  zu  erfassen,  bereits  bis 
zur  Vierheit  vollkommen  erlangt  hatte.  Die  dann  einsetzende  Anleitung  zum 
Zählen  brachte  es  vollständig  in  Verwirrung.  Es  tippte  mit  dem  Finger  auf 
einen,  dann  auf  einen  anderen,  oft  auch  auf  denselben  Gegenstand  und  zählte: 
1,  8,  20,  17  usw.  Es  hatte  alle  möglichen  Zahlwörter  gehört  und  behalten,  ihren 
Sinn  aber  nicht  erfaßt  und  die  Herstellung  einer  Ordnung  unter  ihnen  noch 
nicht  begriffen.^') 


^)  Seitdem  ich  Vorstehendes  niedergeschrieben  habe,  sind  ungefähr  5  Monate  ver- 
gangen. Der  Kleine  ist  mit ,, Zählen"  nicht  wieder  behelligt  worden.  Zu  Weihnachten 
bekam  er  ein  ,, Buntes  Rechen- Allerlei"  (mit  Versen  von  Robert  Hertwig),  in  welchem 
die  Zahlen  von  1 — 12  an  Kindern  in  zweckmäßiger  Gruppierung  dargestellt 
sind.  Jedem  Gruppenbilde  ist  die  das  Zahlmoment  bezeichnende  Ziffer  groß  bei- 
gedruckt; Verse  (herzlich  schlechte)  sind  dazu  gegeben.    Beispiel: 

,,.  .  .  Doch  jetzt  hab  ich  ein  Mittelchen, 

Ich  zähl  die  bunten  Kittelchen: 

Drei  rot,  drei  Blau,  zwei  grün  —  das  macht 

Svunma  Summarum  —  gerade  acht". 
Dieses  Buch  ist  die  Mutter  mit  ihm  einige  Male  durchgegangen.  Er  wollte  inuner 
mehr  Wiederholungen;  bald  wußte  er  die  Verse  größtenteils  auswendig.  Nun  folgten 
arithmetische  Ereignisse:  der  Kleine  kannte  die  Uhr;  bis  avd  Viertelstunden  wurde 
jede  Zeit  genau  abgelesen  (die  Uhr  ist  halb  acht;  ein  Viertel  vor  11  usw.).  Dann 
begann  er  plötzlich  auf  der  Straße  die  Hausnummern  laut  auszurufen  (Nr.  85,  Nr.  139, 
Nr.  27  usw.),  auch  Nr.  A  98  (statt  98  A).  Am  8.  April  d.  Js.  fragte  ich  ihn:  Welches 
ist  unsere  Hausnummer  ?  —  16  —  Welche  Nr.  ist  nebenan  bei  M.s  ?  —  14.  —  Welche 
Nr,  ist  an  der  anderen  Seite  bei  K.s  ?  —  18.  —  Welche  Nr.  wohnt  Obl.  St.  ?  —  20, 
glaube  ich.  Welche  Nr.  wohnt  Fritz  ?  —  Fritz  wohnt  Nr.  22.  Und  schnell  fügte  er 
hinzu:    Jetzt  wohnt  er  Nr.  82  (er  war  am  1.  April  \migezogen). 

Am  folgenden  Tage  fragte  der  Knabe  mich:  Wie  viel  ist  „eigentlich"  drei  mal  5? 
(zwei  mal  5  stehen  in  seinem  Bilderbuche).    Wieviel  ist  aber  zwei  mal  10  und  3  ?  — 


Zahlbildung  und  Finger.  405 


Es  zeigt  sich  hier,  daß  sich  die  ursprüngliche  Zahlbildung  ganz  unabhängig 
von  der  Zählreihe  vollzieht  und  die  Herstellung  dieser  eine  Sache  für  sich 
ist,  die  mit  rechtem  Verständnis  immer  nur  in  dem  Umfange  möglich  ist,  in 
welchem  sich  das  Kind  eine  Kenntnis  der  Zahlen  bereits  erworben  hat. 
Die  Zählreihe  ist  in  dieser  Hinsicht  mit  einem  Katechismusstück  zu  vergleichen, 
das  diejenigen  noch  nicht  können,  die  es  auswendig  können,  imd  diejenigen 
niemals  von  Grund  aus  lernen,  welche  mit  dem  Text  anfangen. 

Der  Schulunterricht  muß  an  die  vorhandene  natürliche  Zahlbildung  an- 
knüpfen und  sie  planmäßig  erweitem  und  vertiefen.  Ein  Zählbetrieb  wird  dem 
in  keiner  Weise  gerecht;  er  verstärkt  nur  die  Fehler  vorzeitiger  Zählübungen 
im  schulpflichtigen  Alter;  er  übt  gleich  den  zusammenhängenden  Text  ein, 
ohne  den  rechten  Sinn  der  einzelnen  Bestandteile  desselben  vorweg  erarbeitet 
zu  haben.  Geht  es  dann  an  das  Rechnen,  so  sind  die  Kleinen  rat-  und  hilflos; 
denn  für  die  verlangten  geistigen  Exerzitien  fehlt  ihnen  jede  Vorstellungs- 
grundlage. In  ihrer  Not  greifen  sie  dann  wohl  begierig  nach  dem  Leitseil  der 
Finger,  an  welchem  sie  die  Zählreihe  entlang  schreiten  wollen.  Aber  selbst 
dabei  können  sie  leicht  straucheln  und  fallen.  Wird  etwa  der  Anfangspunkt 
nicht  richtig  getroffen  oder  die  Zahl  der  Schritte  irrtümlich  bemessen  oder  ver- 
sehentlich ein  Abstand  übersprungen,  so  fällt  der  Endpunkt  notwendig  falsch 
aus.  Zwar  ist  die  Antwort  in  der  Regel  nur  um  eins  oder  zwei  unrichtig;  aber 
unrichtig  ist  sie  eben  doch. 

Glaubt  jemand,  daß  den  Kleinen  bei  solchem  Zählbetrieb  die  Zahlen  und 
Zahlenverhältnisse  klar  werden?  —  Vor  lauter  Angst  und  ,, Arbeit"  achten  sie 
kaum  darauf.    Das  leicht  mögliche  Verzählen  erhält  sie  in  beständiger  innerer 


100  000  Bänder,  Vater,  wieviel  sind  das  ?  —  (so  viel,  daß  ganz  Schleswig  davon  voll 
wird).  Wie  viel  sind  denn  aber  200  000  ?  —  (wenn  die  hintereinander  gehen,  gibts 
eine  Reihe,  die  reicht  bis  Kiel).    Darauf  kam  er  noch  ein  paar  mal  zurück. 

Einige  Tage  später  fragte  ich  ihn  morgens  nach  der  Zahl  der  gelben  Kugeln  an  den 
Bettstellen.  Er  faßte  die  vorn  befindlichen  ins  Auge  und  sagte  ohne  langes  Besinnen: 
da  sind  4,  darauf  ohne  sich  umzusehen:  hinten  sind  auch  4;  zweimal  4  sind  8.  Ich 
fragte  nach  der  Zahl  der  Glaskugeln,  die  eine  elektrische  Deckenbeleuchtung  ver- 
zieren. Er  sah  hin,  besann  sich  einen  Augenblick  und  sagte:  12  sind's  oder  ein  Dutzend. 
Ich  mußte  selbst  erst  nachzählen  ob  es  stimmte. 

Um  die  Zeit,  als  er  mit  dem  Ausrufen  der  Hausnummern  anfing,  kam  ich  auf  das 
Zählen  zurück.  Ich  sagte:  Zähl  mal,  wieviel  Knöpfe  ich  an  der  Weste  habe!  Er  zählte 
von  unten  nach  oben  (mit  dem  Zeigefinger  auftippend):  1,  2,  3  —  dann  stockte  er, 
zeigte  auf  den  vierten  Knopf  und  sagte  wieder:  1,  dann  3,  6,  8.  Nein,  sagte  ich,  sieh 
doch  mal  ordentlich  zu!  darauf  die  richtige  Antwort:  7  sind's. 

Bald  darnach  hörte  ich  zufällig,  daß  er II Schläge  derUhr  richtig  zählte.  Abgesehen 
von  dor Feststellung  dieser  Schlagreihe  habe  ich  bis  dahin  niemals  bemerkt,  daß  er  die 
Anzahl  durch  Zählen  ermittelt  hätte,  und  doch  konnte  er  mit  Blitzesschnelle  jede 
kleinere  Anzahl  auf  den  ersten  Blick  richtig  angeben.  Zählübungen  sind  in  der 
Zeit  seiner  größten  Fortschritte  überhaupt  nicht  mit  ihm  zur  Ausfülirung  gekommen. 
Von  den  Fingern  kennt  er  sieit  langem  die  Fünf-  und  Zehnzahl;  irgendeine  andere 
Bedeutung  für  seine  Zahlbildung  haben  sie  nicht  gehabt.  Das  „Abzählen"  an  den 
Fingern  ist  ihm  bis  heute  eine  unbekannte  Prozedur. 

Ich  finde  an  diesem  Knaben  (z.  Zt.  4%  Jahre  alt)  nichts  Verwunderliches;  bemerkens- 
wert ist  nur,  daß  seine  erste  Zahlbildung  nicht  durch  die  psychologischen  Unmög- 
lichkeiten des  Zä})lens  und  Abzählens  vor  der  Erlangung  der  Zahlbegriffe  ver- 
nichtet worden  ist;  daher  die  erheblichen  Anläufe  zur  Beherrschung  der  numerischen 
Wirklichkeiten. 


406  Zahlbildung  und   Finger. 


Unrulie;  das  tatsächliche  Denken  falscher  Ergebnisse  bringt  die  Unsicherheit 
systematisch  in  ihren  Verstand  hinein  oder  vielmehr  in  ihr  Gedächtnis.  Der 
arithmetische  Verstand  wird  durch  das  „Abzählen  an  den  Fingern"  im  Keime 
erstickt. 

Die  alten  (und  sehr  alten)  Fingermethodiker  haben  denn  auch  herausgefunden, 
daß  von  der  gewöhnlichen  Fingerbenutzung  nichts  Erhebliches  für  das  Rechnen 
zu  erwarten  ist.  Sie  suchten  und  fanden  den  Ausweg,  bestimmte  Zahlen  durch 
immer  gleiche  Zusammenstellung  der  Finger  bilden  zu  lassen.  Auf 
diesem  Wege  gelangten  sie  zu  feststehenden  Fingerbildern,  mit  denen 
nun  auch  anschaulich  gerechnet  werden  konnte.  Es  ist  die  einzige  Möglichkeit, 
das  natürliche  Greif organ  des  Menschen  in  den  Rang  einer  ,, Rechenmaschine" 
zu  erheben.  Eine  künstliche  Verwendung  ist  und  bleibt  es  auf  jeden  Fall, 
keine  natürliche. 

Die  alten  Völker  haben  bereits  auf  frühen  Kulturstufen  nach  besseren  Hilfs- 
mitteln der  Zahlerkenntnis  gesucht  und  sie  in  Dingen  gefunden,  die  nicht 
zum  eigenen  Körper  gehören.  Die  Chinesen  erfanden  und  benutzten  den 
Suan-pan,  die  Griechen  die  pythagoräische  Tafel,  die  Römer  den  Abakus,  die 
Russen  den  Tschotü.  Diesem  ist  bekanntlich  unsere  ,, russische  Rechenmaschine" 
nachgebildet.  Ihr  Vorzug  besteht  in  dem  gänzlichen  Verzicht  auf  Symbolik. 
Die  weiteren  sehr  mannigfaltigen  und  angestrengten  Bemühungen  um  die  Ver- 
besserung der  Rechenmaschine  hatten  zur  Hauptsache  die  Ermittlung  der 
zweckmäßigsten  Gruppenbildungen  zum  Ziel.  Das  Maschinenartige  trat 
mehr  und  mehr  zurück  —  mit  vollem  Recht.  Viele  Methodiker  sind  zu  bloßen 
,, Zahlbildern"  übergegangen,  die  entsprechend  den  Figuren  in  der  Formenlehre 
und  den  Karten  im  erdkundlichen  Unterricht  als  Anschauungsgrundlage 
zum  Zweck  der  Gewinnung  klarer  Erkenntnisse  benutzt  werden  sollen. 
Ob  solche  Punktbilder  mit  Kreide  an  der  Wandtafel  hergestellt  oder  mit  Kugeln 
zusammengebaut  oder  mit  Scheiben  auf  Papptafeln  ausgeführt  und  hinterher 
möglicherweise  noch  ausgeschnitten  werden,  ist  ziemlich  ohne  Belang.  Auf  den 
einheitlichen,  übersichtlichen  Aufbau  der  Zahlindividuen  kommt 
alles  an.  Wo  dieser  erreicht  wird,  kann  nicht  nur  das  genaue  Wieviel  jeder 
Zahl,  sondern  auch  die  Zusammensetzung,  Zusammenfügung  und  Zerlegung 
derselben,  sowie  der  Auf-  und  Ausbau  des  Zahlensystems  und  der  Vollzug  der 
Operationen  innerhalb  desselben  anschaulich  gezeigt  werden.  Auch  auf  die 
Bruchzahlen  kann  man  diese  Bemühungen  ausdehnen  (quadratische  Bruch- 
bilder). Voraussetzung  für  eine  verständige  Benutzung  all  und  jeder  Zahl- 
versinnlichung  ist  natürlich  das  vorherige  Herauswachsen  und  Herausarbeiten 
der  Zahlbegriffe  aus  konkreten  Materien.  An  eine  entsprechende  Vorbedingung 
ist  ja  auch  die  Benutzung  der  Figuren,  Karten,  Skizzen,  Modelle  usw.  geknüpft. 

Wer  je  Rechenschüler  beobachtet  hat,  die  durch  ,, Abzählen  an  den  Fingern" 
Aufgaben  lösen  mußten  und  demgegenüber  auch  in  die  Lage  gekommen  ist, 
andere  zu  sehen,  die  sich  an  übersichtliche  Gruppenbilder  (,, Einheitsanschau- 
ungen") und  ihnen  entsprechende  Vorstellungen  halten  konnten,  der  muß  auch 
den  gewaltigen  Unterschied  bemerkt  haben,  den  das  bessere  Hilfsmittel  im 
Gefolge  hat.  Die  Lösung  von  Aufgaben  erfordert  hier  nur  einen  einzigen  geistigen 
Akt,  der  bei  hinreichender  Beherrschung  der  Anschauungsgrundlage  stets  glatt 
vollzogen  wird.  Innere  Ruhe,  Klarheit  und  Sicherheit  ist  solchen  Rechenschülern 


Zahlbildung  und  Finger.  407 


vom  Gresicht  zu  lesen.  Alle  arbeiten,  auch  die  Schwachen,  und  mit  Lust.  Es 
gibt  keinen  Unterricht,  der  mehr  interessierte  und  die  schlummernden  Erkennt- 
niskräfte nachdrücklicher  weckte,  als  ein  solcher  Rechenunterricht.  Das  Gerede 
von  den  ,, toten  Zahlen"  stammt  von  denjenigen  nicht,  die  solchen  Unterricht 
verstanden  und  je  erteilt  oder  auch  nur  gesehen  haben.  Die  Vorstellung  vom 
lebendigsten  Tier  schließt  nicht  mehr  ,, Leben"  in  sich  als  scharf  ausgeprägte 
und  zu  einander  in  Beziehung  gesetzte  Zahlvorstellungen. 

Man  sollte  von  einer  Rechenmaschine  im  Sinne  eines  Hilfsmittels  für  den 
ersten  Rechenunterricht  überhaupt  nicht  mehr  reden  und  diese  Bezeichnung 
für  mechanisch  arbeitende,  wirkliche  Rechenapparate  freigeben.  Es  handelt 
sich  hier,  wie  in  allen  Elementarfächern,  lediglich  um  zweckmäßige  Versinn- 
lichungen  der  Grundbegriffe  des  Faches,  und  der  Zweck  ist  die  Ge- 
winnung klarer,  innerlich  wahrer  Erkenntnisse.  Der  sonst  übliche 
Ausdruck  ,, Anschauungsmittel"  wäre  also  angemessen.  Will  man  aber  durch- 
aus den  Ausdruck  Rechenmaschine  beibehalten,  so  ist  die  beste  Rechen- 
maschine diejenige,  welche  die  Versinnlichung  der  Zahlbegriffe 
am  übersichtlichsten  und  einheitlichsten  zur  Ausführung  bringt. 
Eben  dieses  ist  dann  auch  in  Wahrheit  das  natürlichste  Hilfsmittel;  denn  es 
kommt  der  Natur  des  kindlichen  Geistes  am  besten  entgegen. 

Es  muß  noch  gesagt  werden,  daß  die  Rechenschüler  möglichst  bald  vom  an- 
schaulichen Rechnen  ab-  imd  zum  sicheren  verstandesmäßigen  Arbeiten 
mit  reinen  Zahlen  kommen  müssen.  Hierzu  ist  erforderlich,  daß  das  Hilfs- 
mittel bald  verschwinde  und  die  Schüler  wissen,  daß  dies  geschehen  wird. 
Ihr  Wille  muß  dadurch  angespornt  werden,  das  einmal  klar  Erkannte  festzu- 
halten. Darum  ist  eine  ,, Rechenmaschine",  die  sie  immer  bei  sich  tragen,  auch 
durchaus  kein  praktisches  Hilfsmittel.  Sie  verleitet  zum  Sichverlassen  auf  die 
sinnliche  Hilfe  und  ist  deshalb  so  unpraktisch  wie  nur  möglich. 

Angesichts  der  langen  und  erfolgreichen  Bemühungen,  für  den  ersten  Rechen- 
unterricht wirklich  brauchbare  Versinnlichungsmittel  zu  finden,  sollte  man  sich 
hüten,  zu  dem  primitivsten  Hilfsmittel,  den  Fingern,  zurückzukehren.  Die  es 
tun,  vollziehen  einen  ungeheuren  methodischen  Rückschritt,  dessen  Folgen  für 
die  arithmetische  Ausbildung  der  neuen  Generation  gar  nicht  abzusehen  sind. 
Es  scheint,  daß  die  moderne  Werk-  und  Gesamtunterrichtsbewegung  am  ele- 
mentaren Rechenunterricht  ein  Hindernis  finden  wird,  über  welches  sie  nicht 
hinwegkommen  kann.  Hie  Rhodus,  hie  salta!  Die  vielfach  angekündigte  und 
auch  notgedrungen  ausgeführte  Zurückschraubung  der  Rechenziele  in  den  Unter- 
klassen wird  doch  niemand  für  zuträglich  und  fortschrittlich  halten.  Man  mag 
drum  herumreden,  soviel  man  will:  Es  sind  und  bleiben  Rückschritte! 
Wir  wollen  aber  nicht  rückwärts  schreiten,  sondern  vorwärts.  Wir  wollen  mit 
immer  besseren  Methoden  Vollkommeneres  erreichen,  nicht  all- 
mählich auf  das  Bildungsniveau  der  Urvölker  zurückkehren.  Darum  fort  mit 
der  , .natürlichen  Rechenmaschine"!!  Wo  man  sie  in  Klassen  in  Anwendung 
findet,  kann  man  sicher  sein,  daß  es  um  die  wirkliche  Zahlbildung  der 
Kleinen  jätnrnerlich  schlecht  bestellt  ist. 


408  Probleme  und  Apparate  zvir  experimentellen  Pädagogik. 

Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hans  Rupp. 

(FortsetzTing.) 

Der  sinnfällige  Eindruck  von  der  Größe  einer  Strecke  kann  durch  Neben- 
linien wesentlich  geändert  werden;  darauf  beruhen  viele  der  geometrisch- 
optischen Täuschungen.  Ich  gebe  eine  Reihe  einfacher  Apparate  an,  mit 
denen  solche  Täuschungen  quantitativ  untersucht  werden  können. 
Nr.  22.  Satz  von  Täuschungsfiguren  mit  Strichvariator,  nach  Rupp  (Lehr- 
mittelhandlung  Grebr.  Höpfel,  Berlin).  In  der  linken  Hälfte  des  Apparatchens 
wird  ein  Karton  mit  einer  Täuschungsfigur  eingesetzt. 
Die  rechte  Hälfte  bildet  ein  Strich variator  (vgl.  Nr.  10). 
Man   verändert   die   Länge   des   rechten   Striches    durch 


Verschieben    des   deckenden    Streifens  so  lange,   bis  er  dem  mit  Nebenlinien 
versehenen  Strich  auf  der  linken  Seite  gleich  erscheint.    Der  linke  Strich  ist  bei 
dem  bis  jetzt  ausgeführten  Satz  stets  3  cm  lang  gewählt, 
a)  Da  der  linke  Karton  auch  ausgewechselt  werden  kann,  so  kann   man  mit 

demselben  Strichvariator 
^     ^        ^^^     ^        crö        ^ — ?        7     K           I  gjj^g    große    Anzahl    von 

V /     - -   Q p    \,        ^     y y      , ,  Streckentäuschungen  un 


o 


^ — 5       E — 3        /^-^        t — 3        b — i        -♦-  Kartons   für   die   neben 

stehenden 
vorgesehen 


tersuchen.  Zunächst  sind 
Kartons  für  die  neben- 
stehenden    Täuschungen 


b)  Durch  andere  Dicke  oder  Färbung  der  Nebenlinien  oder  durch  Abtrennung  von 

der  Hauptlinie  wird  der  Zwang 
< — >        < — >        < — >        ^ — >        < — 7        4: — >  zurZusammenfassung  und  damit 

(••■''«'♦)  die  Täuschung  selbst  geringer. 

c)  Hier  ist  die  Länge  der  Nebenlinien  variiert.      Bei    langen    Nebenlinien 

I        I        I        I  schlägt     die     Täuschung 

in  die  gegenteilige  Rich- 
tung um:  an  Stelle 
der  Angleichung  an  die 
Nebenlinien    tritt     Kon- 

-  trast    zu    ihnen.     (Viel- 
leicht  tritt  bei  größerer 

Abtrennung    eher    Kon- 

trast  ein.) 


/—/    y^^-7^    /^  ^ 


Nr.  23.  Variator  für  Täuschungsformen,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung 
Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Das  Instrumentchen  wird  später  bei  Besprechung  der 
Formen  noch  einmal  erwähnt  werden.  Hier  wird  es  zur  Prüfung  einiger  Täu- 
schungen verwertet. 

Die  zu  variierenden  Formen  sind  in  der  obenstehenden  Zeichnung  schraf- 
fiert. Man  betrachte  zunächst  den  mittleren  horizontalen  Teil.  Die  Streifen 
rechts   und   links  von    den   schraffierten   Formen   und    das    kleine    zwischen 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  409 

ihnen  liegende  Stück  sind  aus  weißem  Karton  geschnitten.       , , 

Sie    liegen    auf   schwarzem    Karton    auf   und    lassen   so    l         w/ii  W//A        \ 

volle   schwarze  Formen    frei.     Durch    Verschiebung    der       ' 

seitlichen  Streifen  (Schieber)  läßt  sich  die  Breite  der  Formen  beliebig 
variieren.  Die  beiden  weißen  rechteckigen  Streifen  oberhalb  und 
unterhalb  des  mittleren  horizontalen  Streifens  sind  so  ausgeführt,  daß 
sie  den  Schiebern  zur  Führung  dienen.  Der  ganze  Karton  hat  die  Größe 
20X10  cm. 

Verwendet  man  die  oben  besprochenen   Einsatzstücke  (Schieber),  so  kann 
man  die  bekannte  Täuschung  bei  der  Vasenform  untersuchen :  die  Vase  erscheint 

weniger   breit   als  das  Rechteck,        - — _ 

dagegen    die    obere    Seite    länger      ^ — ^    ^^ — ^       ' '    ^ — ^        ' '    ^ — ^ 

als  die    obere  gleich   lange   Seite       "s — r    r \       i 1    /    \        i       i    r~~^ 

eines  Rechteckes. 

In  ähnlicher  Weise  lassen  sich  folgende  Kombinationen    ausführen: 

Täuschung     mit    Strichvariator,     transparent,     nach  Nr. .24. 

Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin;  Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Man  braucht  zwei  Apparate ;  der  eine  gibt  eine  der  beiden  Täuschungsfiguren, 
der  andere  ist  ein  einfacher  Strichvariator  wie  Nr.  11.  Der  erste  Apparat  ist  in 
folgender  Weise  eingerichtet.     Auf  der  unteren   Glasplatte    (vgl.  Nr.  11)   ist 


schwarzes  Papier  mit  drei  Spalten  aufgezogen.  Der  mittlere  Spalt  ist  10  cm 
lang,  der  obere  und  untere  so  lang  wie  die  Platte.  Über  diese  Platte  werden  von 
rechts  und  links  zwei  Schieber  geschoben.  Wenn  man  sie  nahe  aneinander 
schiebt,  so  decken  sie  den  oberen  und  unteren  Spalt  immer  mehr  und  mehr 
zu,  ohne  den  mittleren  konstanten  Spalt  zu  verkleinem.  Schiebt  man  sie  nach 
außen,  so  werden  der  obere  und  untere  Strich  immer  länger.  Man  kann  so  mit 
dem  einen  Apparat«  die  Nebenlinien  beliebig  lang  oder  kurz  machen  und  den 
Einfluß  dieser  Variation  auf  die  Täuschung  verfolgen.  Es  läßt  sich  z.  B.  sehr 
schön  der  Umschlag  der  Assimilation  in  die  Kontrasttäuschung  feststellen 
(vgl.  No.  22  c). 

Indem  man  das  untere  Glas  mit  weißem  oder  buntem  Seidenpapier  oder  mit 
Gelatine  unterlegt,  kann  man  die  Färbung  der  Nebenlinien  variieren  und  so  die 
Analyse  der  Hauptlinien  erleichtern. 

Satz  von  Täuschungen  mit  Strich-  und  Distanz-Serie,  nach  Rupp  Nr.  «5. 
(Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).    War  bei  Nr.  22  die  Täuschungs- 
figur mit  einem  Strich variator  verglichen  worden,  so  steht  hier  eine  Serie  dis- 
kreter Striche   bzw.    Distanzen    zur   Verfügimg. 

Die  Strecke  mit  den  Nebenlinien  ist  wieder  30  mm  lang,  die  Serie  geht  von 
25  bis  35  mm,  mit  14  mm  Abstufung.  Täuschungs-  imd  Serienfiguren  sind 
auf  Papierblätter  in  Oktavformat  aufgezeichnet.  Bei  dieser  Anordnung  lassen 
sich  neben  Strichen  auch  Distanzen  verwenden.  Dadurch  konnten  zu  den  unter 
Nr.  22  angeführten  Täuschungen  noch  die  gleichen  Täuschungen,  nur  ohne  den 
mittleren  Strich  hinzugefügt  werden,  femer  die  Täuschung  der  leeren  und  aus- 


410  Probleme  vind  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

gefüllten  Strecke,  bei  verschieden  dichter  Ausfüllung  und  bei  Ausfüllung  mit 
dickeren  und  dünneren  Strichen. 

Nr.  26.  Perlendistanzvariator  für  die  Täuschung  der  leeren  und  ausge- 
füllten Strecke,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin;  Me- 
chaniker Marx,  Berlin).  Wie  Nr.  14.  Die  eine  Distanz  wird  durch  Perlen  aus- 
gefüllt, die  andere,  welche  variiert  wird,  bleibt  leer.  Die  Ausfüllung  kann  durch 
Perlen  derselben  Größe  und  Farbe  geschehen ;  dann  ist  die  Täuschung  am  stärk- 
sten. Oder  es  können  zur  Ausfüllung  kleinere  oder  farbige  Perlen  gewählt  werden ; 
dann  tritt  die  Täuschung  zurück,  weil  der  Zwang  zur  Zusammenfassung  geringer 
ist.  In  beiden  Fällen  kann  die  Ausfüllung  dichter  oder  spärlicher  genommen 
und  der  Einfluß  dieses  Umstandes  geprüft  werden. 

Nr.  27.  Leiste  mit  Marken  für  die  Täuschung  der  leeren  und  ausgefüllten 
Strecke,  nach  Rupp  (Lehrmittelanstalt  Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Wie  Nr.  15, 
mit  weißen  und  roten  Steinen,  ferner  mit  größeren  und  mit  kleineren  Steinen. 
Damit  lassen  sich,  nur  in  größeren  Dimensionen,  dieselben  Versuche  ausführen 
wie  mit  dem  vorigen  Apparat. 

Nr.  28.  Serie  für  die  Täuschung  des  schraffierten  Quadrates,  nach  Rupp 
(Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Quadrat  von  20  cm  Seite,  parallel 
zu  einer  Seite  schraffiert;  Serie  von  Rechtecken,  20  cm  hoch,  18 — 24  cm  breit, 
in  ^  cm  abgestuft.  Sucht  man  zum  Quadrat  das  gleichbreite  Rechteck,  so  wählt 
man  meist  ein  zu  breites. 

Es  ist  ein  zweites  schraffiertes  Quadrat  hinzugefügt,  um  die  starke  Täuschung 
zu  zeigen,  die  entsteht,  wenn  man  ein  horizontal  und  ein  vertikal  schraffiertes 
Quadrat  vergleicht. 

Nr.29.  Scheibchen-Serie  für  die  Kontrasttäuschung,  nach  Rupp  (Lehr- 
mittelhandlung Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Der  Serie  Nr.  21  sind  einige  wesentlich 
größere  Scheibchen  hinzugefügt,  ferner  eine  farbige  Serie.  Umgibt  man  ein 
Scheibchen,  z,  B.  von  25  mm  Durchmesser,  einmal  mit  den  kleinsten,  einmal  mit 
den  größten  Scheibchen,  so  tritt  der  Kontrast  deutlich  auf. 

Die  Entfernung  der  Nebenscheibchen,  die  von  Einfluß  auf  die  Täuschung  ist, 
läßt  sich  beliebig  variieren.  Ebenso  kann  man  die  Isolierung  der  Hauptscheib- 
chen  durch  andere  Färbung  derselben  erleichtern. 

Mit  derselben  Serie   läßt   sich   die  Täuschung     O  O      O  O 

verfolgen,     die      bei     Vergleichung     der     Dis-     " — - —  "     r — 

tanzen    a    und     h     oder    a     und    c     auftritt: 

Nr. 30.  Stab- Serie  für  die  Kontrasttäuschung,  nach  Rupp  (Lehrmittelhand- 
lung Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Der  Serie  Nr.  7a  sind  einige  wesentlich  kleinere  und 
wesentlich  größere  Stäbe  beigefügt,  ferner  eine  andersfarbige  Serie.  Dadurch 
lassen  sich  die  analogen  Versuche  wie  mit  der  Scheibchen- Serie  Nr.  29 
ausführen. 

Nr.  31.  Zylinder-  (Röhren-)  und  Streifen- Serie,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung 
Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Mit  ihr  kann  man  die  Täuschung  bei  Vergleichung  der 
Dicke  eines  Zylinders  und  der  Breite  eines  Streifens  quantitativ  verfolgen. 
Der  Zylinder  wird  bekanntlich  für  zu  dünn  gehalten.  Die  Zylinder-Serie  ent- 
hält 31  Stück,  2  bis  40  mm  dick,  in  Millimetern  abgestuft;  die  Streifen  sind 
2 — 40  mm  breit,  aber  nur  von  5  zu  5  mm  abgestuft. 

Man  kann  sie  auch  zu  ähnlichen  Zwecken  verwenden  wie  die  Serien  18 — 21. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  411 

Die  Täuschungen,  die  beim  Vergleich  von  Strecken  verschiedener  Neigung 
auftreten,  können  mit  den  bereits  erwähnten  Apparaten  geprüft  werden: 

Eine  Strecke  erscheint  kürzer,  wenn  sie  vertikal,  als  wenn  sie  horizontal  steht. 
Sollen  dabei  die  zwei  Strecken  getrennt  sein,  so  ist  die  Täuschung  mit  Nr.  7  zu  prüfen ; 
sollen  sie  aneinander  stoßen,  so  mit  Nr.   12. 

Eine  schräge  Strecke  erscheint  verkürzt,  es  wird  gewissermaßen  die  Projektion 
auf   die    Horizontale   betrachtet.     Daher   erscheint   a   kürzer  als  b.                         , 
Diese  Täuschung,    die  in   der   Praxis    des  Zeichenunterrichts  sicher         /             \^ 
vorkommen  wird,    ist  mit  Nr.   12  d  zu  prüfen. 

Die  obere  Strecke  erscheint  kürzer  als  die  untere.  Die  Täuschung  ist  davon  ab- 
hängig, ob  und  wie  innig  die  zwei  Strecken  zusammengefaßt  werden.  Mit  den  Appa- 
raten Nr.  9b  und  10  bis  14  ist  die  Täuschung  iinter  der  Bedingung  zu  prüfen,  daß 
die  zwei  Strecken  unmittelbar  aneinander  stoßen.  Dagegen  kann  man  die  Streifen 
Nr.  7  und  die  Scheibchen  Nr.  20  oder  21  in  beliebiger  Entfernung  übereinander  legen 
und  so  den  Einfluß  des  Abstandes  auf  die  Täuschung  untersuchen. 

Besonders  innig  scheint  die  Zusammenfassung  zu  sein,  wenn  die  beiden  Teile  eine 
einheitliche  Figur  ergeben,  wie  es  bei  Buchstaben  und  Ziffern  der  Fall  ist.  Diese 
Bedingung  ist  bei  den  drei  folgenden  Apparaten  verwirklicht. 

Tafel  mit  den  Buchstaben  und  Ziffern:  BEHKSXZi;3  8,   wobei  Nr. 32. 
die    obere    und   untere   Hälfte   objektiv   gleich   sind  (Lehrraittelhand- 
lung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).     Man  erkennt  deutlich  die  Täuschung:  die  obere 
Hälfte  scheint  größer  zu  sein. 

Tafel  mit  denselben  Buchstaben  und  Ziffern,  wobei  sich  der  Nr.  33. 
obere  und  der  untere  Teil  wie  5  zu  6  verhalten.  (Lehrmittelhandlung 
Grebr.  Höpfel,  Berlin).  Das  angegebene  Verhältnis  entspricht  ungefähr  dem  in 
unserer  Schrift  angewendeten  Verhältnis.  Man  erkennt  zwar  bei  genauem  Zu- 
sehen, daß  die  oberen  Teile  etwas  kleiner  sind;  aber  der  Unterschied  erscheint 
doch  bedeutend  größer,  wenn  man  die  Tafel  umgekehrt  hält,  so  daß  alle  Buch- 
staben auf  dem  Kopf  stehen. 

Buchstaben -Variator  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  |  |Nr.  34. 
Höpfel,  Berlin).  Die  Ausführung  ist  dieselbe  wie  beim  Strich- 
Variator  Nr.  10.  Das  Brett  wird  vertikal  gehalten.  Von  oben 
und  unten  her  wird  ein  Schieber  eingeführt.  Die  darunter  lie- 
genden Kartons,  die  ausgewechselt  werden  können,  tragen  die 
Buchstaben  A,  H,  K,  X.  Man  kann  nun  mittels  der  Schieber 
die  Buchstaben  von  oben  bzw.  von  unten  her  so  abdecken,  daß 
die  normal  erscheinende  Buchstabenform  herauskommt. 

Sammlung  von  optischen  Größentäuschungen,  namentlich 
von  solchen,  welche  in  der  Praxis  des  Zeichnens,  bei  Ornamenten,  Architekturen 
usw.  vorkommen.  Jede  Variante,  jede  Anwendung  einer  schon  bekannten  Täu- 
schung ist  von  Interesse.  Das  ,, Institut  für  angewandte  Psychologie"  (Sekretär 
Dr.  Lipmann,  Klein-Glienicke  bei  Potsdam),  welches  eine  ähnliche  Sammlung 
plant,  hat  sich  freundlichst  bereit  erklärt,  Beiträge  auch  für  unsere  Sammlung 
entgegenzunehmen.  Es  wird  gebeten,  Zusendungen  mit  dem  Vermerk:  „Für  die 
Apparatensammlung"  zu  versehen. 


X 


Nr.  36. 


Ich  gehe  nun  von  den  Größen  zu  den  Neigungen  über.  Eine  Strecke 
kann  für  unsere  Auffassung  eine  Neigung  haben:  vertikal,  horizontal,  steil, 
schräg  usw.  Neigung  ist,  psychologisch  betrachtet,  keineswegs  ein  Winkel  zur 
Horizontalen  oder  Vertikalen,  sondern  wird  absolut  erfaßt.     Auch  wenn  ein 


412  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Winkel  gegeben  ist,  wird  manchmal  ein  Schenkel  isoliert  in  seiner  Neigung  erfaßt. 
So  kann  z.  B.  in  ^  der  schräge  Schenkel  für  sich  erfaßt  werden  und  der  Winkel 
als  solcher  unbeachtet  bleiben. 

Wir  fragen  wieder  nach  der  Unterschiedsempfindlichkeit.  Wenn  zwei  Nei- 
gungen gegeben  sind,  wie  genau  werden  sie  unterschieden?  Wie  genau  ver- 
schieden schräge?  Wie  genau  vor  allem  die  biologisch  so  wichtigen  Neigungen 
der  Vertikalen  und  Horizontalen?  Die  Beurteilung  der  Neigung  hängt  von  der 
Länge  der  Schenkel  ab,  ferner  von  der  gegenseitigen  Lage  der  zu  vergleichenden 
Neigungen.  Von  Interesse  ist  der  spezielle  Fall,  daß  eine  Neigung  in  vertikaler 
Ebene  auf  das  Zeichenblatt,  also  in  eine  horizontale  Ebene,  übertragen 
werden  soll. 

Von  wesentlichem  Einfluß  dürfte  die  Einfühlung  sein.  Verschiedene  Nei- 
gungen fordern  verschiedene  Einfühlungen :  stehend,  liegend,  eine  schräge  Linie 
fällt  um.  Auch  die  Richtung,  in  der  man  die  Neigung  auffaßt,  spielt  eine  Rolle : 
eine  steile  Linie  ist  von  unten  nach  oben  schwer  zu  erklettern,  umgekehrt  gleitet 
ein  Körper  schnell  hinunter.  Ähnliche  Unterschiede  zeigen  sich  bei  ,, sanften" 
Neigungen  usw.  Durch  derartige  Einfühlungen  wird  vielleicht  die  Neigung 
sehr  genau  erfaßt  und  eingeprägt.  Sie  haben  zugleich  pädagogische  Bedeutung, 
weil  sie  dem  Kinde  näher  liegen,  interessanter,  lebensvoller  sind  als  die  abstrakt- 
geometrische Auffassung  10°,  20°  usw. 

Bei  den  Größen  wurde  erwähnt,  daß  es  nicht  nur  lineare,  sondern  auch  nicht- 
lineare, aber  doch  eindimensionale  Größen  gibt,  z.  B.  die  Breite  eines  Streifens, 
die  Höhe  eines  Rechtecks  oder  Dreiecks  usw.  Ähnliches  gilt  von  den  Neigungen. 
Ein  der  Breite  nach  ausgedehnter  Körper,  z.  B.  ein  Rechteck,  kann  eine  Neigung 
haben.  Wir  brauchen  nicht  etwa  die  lange  Seite  herauszufassen,  um  die  Neigung 
zu  bestimmen.  Auch  bei  länglichen  Körpern  von  komplizierterer,  ja  sogar 
unregelmäßiger  Form  fassen  wir  die  Neigung  auf.  Wir  wissen,  ob  eine 
Glocke  oder  ein  unregelmäßig  geformtes  Pendel  vertikal  oder  schräg  hängt. 
Es  ist  von  Interesse,  zu  prüfen,  wie  genau  die  Einstellung  in  solchen 
Fällen  erfolgt. 

Ebenso  wie  die  Größe,  wird  auch  die  scheinbare  Neigimg  durch  Nebenlinien 
beeinflußt.  Einige  im  folgenden  beschriebenen  Apparate  gestatten  diese  Täu- 
schungen quantitativ  zu  bestimmen. 
Nr.  86.  Neigungsapparat,  kleines  Modell,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung 
Gebr.  Höpfel,  Berlin;  Mechaniker  Marx,  Berlin).  Reissbrett  52x42  cm  mit 
mattem,  schwarzem  Kartonpapier  bespannt.  Zwei  graue  Kartonscheiben  von 
20  cm  Durchmesser  werden  durch  Stifte,  welche  in  entsprechende  Löcher  des 
Reißbrettes  gesteckt  werden,  so  gehalten,  daß  man  sie  leicht 
drehen  kann  und  daß  sie  doch  in  jeder  Lage  ruhig  stehen 
bleiben.     Abstand  der  Scheibenmittelpunkte  25  cm. 

a)  Auf  die  Scheiben  sind  die  zu  beurteilenden  Linien  ge- 
zeichnet, als  Durchmesser  oder  Halbmesser,  als  längere  oder  kürzere 
Schenkel.    Die  Neigung  wird  mittels  Reißschiene  und  Transporteur  gemessen. 

b)  An  Stelle  der  einfachen  Linien  sind 
nicht-lineare  Gebilde  verwendet.  Sie  sind 
aus  weißem  Papier  geschnitten  und  auf 
schwarze  Kartonscheiben  geklebt. 


Probleme  und   Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 


413 


c)  Scheiben   mit  den  nebenstehenden  Täuschungsfiguren   werden  mit  einer 
bloß  mit  einem  Strich  versehenen   Scheibe   verglichen.    Die  schrägen  Neben- 
linien   lenken    den   Hauptstrich    ab,    drängen    ihn 
gewissermaßen   etwas  weg.     Man  kann  die  Neben- 
linien in  anderer  Farbe  zeichnen  und  dadurch  die 
Isolierung  des  Hauptstriches  erleichtern. 

Neigungs-Apparat,    großes    Modell,    nach   Rupp    (Mechaniker   Marx,  >'■••  3^- 
Berlin).    Großes  Reißbrett  110x75  cm,  mit  schwarzem  Tuch  bespannt,  in  der 
horizontalen  Mittellinie  vier  Löcher,  die  zwei  äußeren 
in  der  Entfernung  55  cm,  die  zwei  inneren  in  der  Ent- 
fernung 15  cm. 

a)  In  die  Löcher  werden  Achsen  gesteckt,  die  an  ihrer 
vorderen  Seite  Stäbe  aus  Flachmessing  (weiß  gestrichen) 
tragen,  hinten  mit  einem  Zeiger  versehen  sind,  der 

an  einer  Kreisteilung  die  Neigung  des  vorderen  Stabes  angibt.    Die  Stäbe  sind 
auswechselbar,  es  können  längere  oder  kürzere  eingesetzt  werden. 

b)  An  Stelle  der  Stäbe  werden,  ähnlich  wie  im  vorigen  Apparat,  ausgedehnte 
Formen,  wie  Glocke,  Rechteck,  Ellipse,  eingesetzt. 

c)  Ebenso  können  Stäbe  mit  Nebenlinien  eingesetzt  werden. 
Der  Apparat  ist  wegen  seiner  größeren  Form  für  Demonstrations-  und  Massen- 
versuche geeignet. 

Apparat  zur  quantitativen  Prüfung 
verwandter  Täuschungen  (Preußisches 
burger  Tor),  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung 
Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Die  schraffierten  Strei- 
fen scheinen,  ähnlich  wie  bei  der  Zöllnerschen 
Täuschung,  schräg  zu  stehen.  Sie  sind  um 
einen,  nahe  an  ihrem  oberen  Ende  gelegenen 
Punkt  drehbar,  so  daß  man  ihnen  jene  Nei- 
gung geben  kann,  bei  der  sie  vertikal  zu  'u  u  u — u  u  u' 
stehen  scheinen.  Mittels  eines  mit  einer  geeigneten  Teilung  versehenen  Lineals  läßt 
sich  der  Betrag  der  Verschiebung  und  damit  die  Größe  der  Täuschung  ablesen. 
Da  die  zwei  Täuschungen  aus  der  Praxis  der  Schule  entnommen  sind,  dürfte 
eine  quantitative  Prüfung  von  Interesse  sein. 

Apparat    zur    Prüfung    der    Poggendorff-Täuschung,    nach    Rupp  Nr.  39. 
(Lehrmittelhandlung   Gebr.   Höpfel,   Berlin;   Mechaniker  Marx,   Berlin).      Die 
schrägen  Linien  werden  bekanntlich  durch  die  vertikalen 
weggedrängt   und  erscheinen  daher  nicht  mehr  in  einer 
Geraden    zu    liegen.      Man  kann    nun   die    eine   schräge 
Linie,    die    auf    einen    Streifen    gezeichnet    ist,    so    ver- 
schieben,    daß    sie     in     der     Fortsetzung    der    anderen 
schrägen  Linie  zu  liegen  scheint.     Eine  Millimeter-Teilung  auf  der  Rückseite 
des  Streifens  gestattet,  den  Betrag  der  Täuschimg  abzulesen. 

Wenn  man  den  Apparat  so  hält,  daß  die  schrägen  Linien  vertikal  (vgl.  die 
2.  Figur)  oder  horizontal  liegen,  so  ist  die  Täuschung  viel  geringer,  da  die 
wichtigen  vertikalen  oder  horizontalen  Linien  leichter  herausgefaßt  und  durch 
Nebenlinien  weniger  beeinflußt  werden. 


zweier    der    Zöllner-Figur  ^^r-?8a 

^         und  b. 

Schildwachhäuschen,    Branden- 


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414  Probleme  und  Apparate  ztir  experimentellen  Pädagogik. 

In  einem  zweiten  Modell  sind  die  schrägen  Linien  rot  gezeichnet,  wodurch  ihre 
Isolierung  erleichtert  ist  und  die  Täuschung  zurücktritt. 

Nr.  40.  Sammlung  von  Beispielen  für  die  Einfühlung  in  verschiedene 
Neigungen.  Bei  der  Wichtigkeit,  welche  die  Einfühlung  für  das  Verständnis 
von  Neigungen  hat,  dürfte  es  von  Interesse  sein,  Beispiele  hierfür  zu  sammeln. 
Beiträge  hat  sich  das  ,, Institut  für  angewandte  Psychologie"  (Sekretär:  Dr.  Lip- 
mann.  Klein- Glienicke  bei  Potsdam)  freundlichst  bereit  erklärt,  entgegenzu- 
nehmen. Es  wird  gebeten,  Zusendungen  mit  dem  Vermerk  ,,Für  die  Apparaten- 
sammlung" zu  versehen. 

Nr.  41.  Sammlung  von  optischen  Richtungstäuschungen.  —  Ähnlich  wie 
die  Größentäuschungen,  sollten  auch  die  Richtungstäuschungen  gesammelt 
werden.  Namentlich  sind  solche  von  Interesse,  welche  bei  Ornamenten,  Bauten 
usw.  vorkommen  und  dort  durch  entsprechende  Änderungen  des  objektiren 
Baues  korrigiert  werden,  z.  B.  bei  den  Griechen.  (Beim  preußischen  Schild wach- 
häuschen  geschieht  dies  nicht.)  Das  ,, Institut  für  angewandte  Psychologie" 
(Sekretär:  Dr.  Lipmann,  Klein- Glienicke  bei  Potsdam),  das  eine  ähnliche  Sanm- 
lung  plant,  hat  sich  freundlichst  bereit  erklärt,  Beiträge  auch  für  unsere  Samm- 
lung entgegenzunehmen.  Es  wird  gebeten,  Zusendungen  mit  dem  Vermerk 
,,Für  die  Apparatensammlung"  zu  versehen. 


Winkel  gehören  wohl  schon  zu  den  Formen,  sie  mögen  aber  doch  für  sich 
besprochen  werden.  Daß  sie  sich  von  Neigungen  unterscheiden,  ist  schon  erwähnt. 

Wir  fragen  wiedernach  der  Genauigkeit,  mit  welcher  die  Unterschiede  von  Winkeln 
erkannt  werden.  Ist  die  Genauigkeit  für  verschiedene  Winkel  verschieden  ?  Be- 
steht eine  Art  Weber'sches  Gesetz  ?  Ist  sie  bei  dem  gleichen  Winkel  verschieden, 
wenn  der  Winkel  verschiedene  Lage  hat,  z.  B.  <C  und  /\,  wenn  er  offen  oder 
geschlossen  ist,  z.  B.  cC  und  <C  wenn  seine  Schenkel  lang  oder  kurz  oder  wenn 
sie  verschieden  lang  sind?  Treten  bei  Reproduktionen  von  Winkeln  konstante 
Fehler  auf,  indem  z.  B.  kleine  Winkel  vergrößert  werden? 

Dabei  ist  immer  vorausgesetzt,  daß  die  zwei  zu  vergleichenden  Winkel  sich 
nur  durch  ihre  Winkelgröße  unterscheiden.  Wir  können  aber  auch  einen  Winkel 
in  der  einen  Lage  mit  einem  in  anderer  Lage,  einen  offenen  mit  einem  geschlossenen, 
einen  langschenkligen  mit  einem  kurzschenkligen  vergleichen,  usw.  Vermutlich 
werden  sich  Täuschungen  ergeben,  die  dann  für  den  Zeichenunterricht  prak- 
tische Bedeutung  hätten.  Bei  Kindern  kann  es  sogar  sein,  daß  sie  die  Winkel 
bei  verschiedener  Lage,  verschiedener  Schenkellänge  usw.  überhaupt  nicht  ver- 
gleichen können.  Zum  Vergleichen  ist  ja  in  diesem  Falle  nötig,  daß  die  Winkel- 
größe herausgefaßt  und  daß  von  der  Lage,  von  der  Schenkellänge  usw.  ab- 
strahiert wird. 

Ähnlich  wie  bei  den  Neigungen,  wird  auch  hier  die  Einfühlimg  von  Bedeutung 
sein.  Man  kann  denselben  Winkel  verschieden  auffassen:  als  vollen  oder  leeren, 
von  außen  und  von  innen  gesehen.  Dem  entsprechen  verschiedene  Einfühlungen. 
Bei  Auffassung  von  außen  fühlt  man  an  einem  spitzen  Winkel  die  Spitze,  bei 
Auffassung  von  innen  die  Einengung.  Die  Einfühlungen  sind  namentlich  bei 
verschieden  großen  Winkehi  verschieden.  Unsere  Ausdrücke  „spitz",  ,,stum.pf", 
,, gestreckt",  „erhaben"  weisen  darauf  hin;  sie  besagen  mehr  als  unsere  ab- 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik,  415 

_  ,    _ 

strakten  geometrischen  Begriffe.    Wird  durch  solche  Einfühlungen  die  Genauig- 
keit der  Auffassung  und  Einprägung  erhöht? 

Für  andere  Aufgaben  sind  diese  Einfühlungen  sicher  hinderlich.  Wenn  ver- 
schieden große  Winkel,  wenn  dieselben  Winkel  bei  verschiedener  Lage  ver- 
schiedenartige Auffassungen  und  Einfühlungen  verlangen,  so  verstehen  wir 
beim  Kinde  die  Schwierigkeit,  die  Winkel  in  eine  einsinnige  Reihe  zu 
ordnen,  und  die  Schwierigkeit,  die  Winkelgröße  von  der  Länge  imd  Lage  zu 
abstrahieren. 

Unter  den  Winkeln  gibt  es  ausgezeichnete :  den  rechten,  den  gestreckten  md 
bei  offenen  Winkeln  denWinkelO  (Parallelismus).  Wie  genau  werden  sie  eingestellt  ? 
Wie  genau  bei  verschiedenen  Neigungen  der  Schenkel? 

Wie  bei  den  Größen  und  Neigungen,  gibt  es  auch  bei  den  Winkeln  Täuschimgen 
durch  Nebenlinien. 

Winkelapparat  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    In  der  Mitte  eines  Nr.  42. 
schwarz  gestrichenen  Reißbrettes  ist  senkrecht  eine  Nadel  befestigt,  um  welche 
sich  eine  Metallscheibe  von  30  cm  Durchmesser  dreht.     Die  Schenkel  des  zu 
beurteilenden  Winkels  werden  durch  weiße  Fäden  ge- 
bHdet.    Der  eine  Faden  ist  mit  Plastellin-Klümpchen 
auf  der  Scheibe  ausgespannt,  der  andere  wird  an  Reiß- 
nägeln außerhalb  der   Scheibe  befestigt  oder   durch 


e-  -^^ 


Klammem  gehalten,  die  außen  an  beliebiger  Stelle  an  das  Reißbrett 
angesteckt  werden.  Dreht  man  nun  die  Scheibe,  so  dreht  sich  der 
auf  ihr  befestigte  Faden  gegen  den  an  dem  Reißbrett  befestigten,  und  der 
Winkel  zwischen  beiden  wird  geändert.  Mit  einem  geeigneten,  mit  einem  Griff 
versehenen  Transporteur  wird  der  Winkel  abgelesen. 

Will  man  Winkel  aus  Halbmessern  verwenden,  so  wird  ein  Faden  mit  dem 
einen  Ende  an  dem  Rande  der  Scheibe  befestigt,  dann  um  die  Nadel  in  der  Mitte 
der  Scheibe  einmal  ganz  herumgeschlungen  und  mit  dem  anderen  Ende  durch  die 
Klammer  am  Rande  des  Reißbrettes  gehalten. 

Mit  einem  solchen  Apparat  kann  man  rechte  oder  gestreckte  Winkel  bei  be- 
liebiger Lage  der  Schenkel  einstellen,  oder  man  kann  einen  vorher  eingestellten 
Winkel  aus  der  Erinnerung  reproduzieren  lassen.  Nimmt  man  einen  zweiten 
Apparat  hinzu,  so  kann  man  zwei  Winkel  simultan  vergleichen  lassen,  bei  gleicher 
oder  verschiedener  Lage  der  Schenkel.  (Man  könnte  auch  auf  einem  einzigen 
Reißbrett  nebeneinander  zwei  Scheiben  befestigen.)  Endlich  kann  man  einen 
Winkel,   z.  B.  einen  rechten,   halbieren  lassen;    man  vgl.  dazu  die  2.  Figur. 

Die  Länge  des  Schenkels  kann  man  dadurch  variieren,  daß  man  durch  einen 
Schirm  mit  einem  runden  Loch  blickt,  der  konzentrisch  zur  Achse  der  Scheibe 
liegt  und  je  nach  der  Größe  des  Loches  die  Schenkel  mehr  oder  weniger  abdeckt. 

Neigungsapparat   Nr.  35   für  Winkelbestimmungen   eingerichtet,  Nr. 48. 
nach    Rupp   (Lehrmittelhandlung   Gebr.   Höpfel,    Berlin;    Mechaniker   Marx, 
Berlin).  In  ähnlicherWeise  wie  der  vorige  Apparat,  läßt  sich  der  Neigungsapparat 
Nr.  35  verwenden. 

a)  In  die  23  cm  voneinander  abstehenden  Löcher  werden  zwei  kleine  Stifte 
eingesetzt,  die  vom  eine  Nadel  tragen.  Auf  diese  Nadel  werden  Kartonscheiben 
mit  einem  feinen,  der  Nadel  enteprechenden  Loch  gesteckt.  Die  weitere  Ver- 
wendung ist  ganz  analog  der  beim  Winkelapparat. 


416  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

b)  Man  benützt  keine  Scheiben,  sondern  befestigt  einen  Faden  mit  einem 
Ende  an  einer  Klammer  am  Rande  des  Reißbrettes,  führt  ihn  um  die  Nadel 
herum  imd  dann  zu  einer  anderen  Klammer  oder  befestigt  ihn  das  zweite  Mal 
direkt  mit  Wachs  am  Reißbrett.  Die  Verstellung  des  Winkels  wird  durch 
Verschieben  der  Klammer  erreicht.  Statt  durch  die  Klammer  kann  man 
den  variablen  Faden  auch  durch  ein  Gewichtchen  spannen,  welches  an  dem 
nach  hinten  übergeschlagenen  Ende  befestigt  wird. 
•St.u.  Einfache  Vorrichtung  zur  Bestimmung  des  Scheitels  offener 
Winkel  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin). 

a)  Auf  weißen  Kartons  sind  offene  Winkel  aufgezeichnet.  Die  scheinbaren  Schei- 
tel werden  dadurch  bestimmt,  daß  man  ein  kleines 
Metallscheibchen  (vgl.  Nr.  13)  in  die  entsprechende 
Lage  bringt. 


Nr.  45. 


b)  Auf  weißen  Kartons  sind  offene,  durch  Zwischenstrahlen  ausgefüllte 
Winkel  gezeichnet.  Man  bringt  wieder  ein  kleines  Scheibchen  in  den  scheinbaren 
Scheitel.    Dieser  wird  meist  in  zu  große  Entfernung  verlegt. 

Einfache  Vorrichtung  zur  Bestimmung  einer  Scheiteltäuschung, 
nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).       Stärker  ist  die  eben 
beschriebene     Täuschung,     wenn     man     zwei     Winkel 
symmetrisch  so  um  einen  gegebenen  Punkt  orientiert, 
daß    sich    alle  Strahlen   in    dem  Pmikt  als  Scheitel  zu 


vereinigen  scheinen.  Da  die  Kartons  nur  in  einer  ganz  bestimmten  Richtung  ver- 
schoben werden  sollen,  so  werden  sie  auf  einen  größeren  Karton  gelegt,  welcher 
den  Scheitelpunkt  und  an  seinem  unteren  Rande  eine  Leiste  trägt,  die  den 
Kartons  als  Führung  dient. 

Natürlich  können  mit  dieser  Anordnung  auch   die   unter  Nr.  44  beschrie- 
benen Versuche  ausgeführt  werden. 

Wenn  man  einen  offenen  Winkel  dem  Scheitel  nähert,  so  scheint  die  dem 
Scheitel  zugekehrte  Öffnung  deutlich  größer  zu  werden. 
J^r.  46.  Sammlung  von  Beispielen  für  Einfühlungen  bei  Winkeln.  Bei- 
träge hat  sich  das  „Institut  für  angewandte  Psychologie"  (Sekretär  Dr.  Lip- 
mann,  Klein- Glienicke  bei  Potsdam)  freundlichst  bereit  erklärt  entgegenzu- 
nehmen. Es  wird  gebeten,  Zusendungen  mit  dem  Vermerk  „Für  die  Appa- 
ratensammlung" zu  versehen. 


Beim  Vergleichen  von  Größen  und  von  Winkeln  kommt  es  hauptsächlich  auf 
die  Gleichheit  an.  Wenn  Verschiedenheit  vorkommt,  so  genügt  die  Konstatierung 
derselben.  Man  kann  aber  weitergehen  und  genauer  die  Verschiedenheit,  das 
Verhältnis  beurteilen.  Das  braucht  nicht  durch  Auftragen  und  Auszählen  zu 
geschehen.  Das  Verhältnis  kann  auch  ohne  solche  Mittel  beurteilt  werden.  Wir 
scheiden  zwischen  Messen  und  Schätzen.  Schätzen  kann  auch  ein  Kind,  das 
noch  nicht  messen  und  zählen  kann. 

Wie  genau  können  wir  schätzen  ?  Wie  genau  kann  es  das  Kind  ?  Wir  können 
die  Genauigkeit  der  Schätzung  bestimmen,  indem  wir  zwei  Verhältnisse  ver- 
gleichen. Allein,  wenn  die  den  Verhältnissen  zugrunde  liegenden  Strecken  oder 
Winkel  gleich  sind,  so  besteht  Gefahr,  daß  bei  der  Vergleichung  nicht  die  Ver- 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik.  417 

hältnisse,  sondern  die  absoluten  Strecken  oder  Winkel  verglichen  werden.  Daher 
ist  es  nötig,  diese  verschieden  groß  zu  wählen.  Damit  ergeben  sich  aber  neue 
Fragen:  Können  wir  die  Verhältnisse  bei  beliebiger  Vergrößerung  oder  Ver- 
kleinerung vergleichen?  Offenbar  gibt  es  eine  obere  und  eine  untere  Grenze. 
Vor  allem  wird  das  Kind  erst  allmählich  die  Übertragimg  in  andere  Dimensionen 
lernen  müssen. 

Dazu  kommen  weitere  Variationen.  Die  zwei  in  Verhältnis  gesetzten  Strecken 
können  aneinander  stoßen  oder  nicht;  sie  können  in  einer  geraden  Linie  oder 
z.  B.  im  rechten  Winkel  stehen.  Ebenso  können  die  zwei  Streckenpaare  gleich 
orientiert  sein,  oder  das  eine  liegt  z.  B.  vertikal,  das  andere  horizontal.  Man  muß 
dann  nicht  allein  von  der  Größe,  sondern  auch  von  der  Lage  abstrahieren.  Ähn- 
liches gilt  bei  Verhältnissen  von  Winkeln.  Alle  diese  Variationen  kommen  in  der 
Praxis  des  Zeichenunterrichtes  vor. 

Unter  den  Verhältnissen  gibt  es  ausgezeichnete.  Eines  desselben  ist  des  langen 
und  breiten  besprochen :  die  Gleichheit,  die  Halbierung  einer  Strecke  oder  eines 
Winkels.  Daneben  sind  alle  arithmetisch  einfachen  Verhältnisse :  ^/g,  ^/g,  ^f^,  ^do 
usw.  als  ausgezeichnet  anzusehen.  Außer  diesen  gibt  es  auch  rein  psychologisch 
ausgezeichnete  Verhältnisse:  das  schönste  Verhältnis,  das  typische  Verhältnis, 
das  natürliche  Verhältnis  einer  größeren  zu  einer  kleineren  Strecke. 

Es  ist  schwierig,  bei  Versuchen  über  Verhältnisschätzung  die  Formenschätzung 
auszuschließen.  Streng  genommen  sollten  die  einzelnen  Größen  getrennt  be- 
trachtet und  verglichen  werden.  Vielfach  aber  werden  sie  zu  einheitlichen  Formen 
zusammengefaßt,  z.  B.  zwei  in  rechtem  Winkel  aneinander  stoßende  Strecken 
zu  einem  Rechteck  oder  Dreieck.  Auch  wenn  man  zwei  Strecken  oder  Winkel 
auf  ihre  Gleichheit  hin  beurteilt,  ist  das  häufig  der  Fall.  Die  Halbierung  wird 
meistens  so  vorgenommen.  Alle  diese  Fälle  gehören  eigentlich  nicht  mehr  zur 
Beurteilung  von  Verhältnissen,  sondern  in  die  Formauffassung. 

Zur  Untersuchung  der  Verhältnisschätzung  sind  keine  neuen  Apparate  nötig. 
Handelt  es  sich  um  Streckenverhältnisse,  so  eignen  sich  die  Scheibchen  Nr.  13, 
der  Perlen-Apparat  Nr.  14  und  die  Leiste  mit  Marken  Nr.  15.  Man  kann  zu 
einer  Strecke  den  dritten,  vierten  usw.  Teil  bestimmen  oder  kann  ein  Verhältnis 
vergrößern  oder  verkleinem.  Was  die  Winkel  betrifft,  kann  man  mittels  der 
Apparate  Nr.  42  oder  43  einen  Winkel  halbieren,  dreiteilen  usw.  Bei  42  befestigt 
man  zwei  Fäden  außen  am  Reißbrett,  z.  B.  im  rechten  Winkel,  und  den  dritten 
Faden,  welcher  variiert  werden  soll,  auf  der  Drehscheibe.  Ähnlich  bei  43.  Um 
ein  Winelkverhältnis  zu  vergrößern  oder  zu  verkleinern,  werden  fünf  Strahlen 
in  fester  Lage  auf  dem  Reißbrett  befestigt,  und  der  sechste,  auf  der  Scheibe  be- 
festigte, wird  vom  Beobachter  eingestellt. 


Ich  komme  endlich  zur  Formauffassung.  Sie  wurde  schon  mehrfach  berührt. 
Es  besteht,  wie  mir  scheint,  keine  strenge  Scheidung  gegenüber  den  früheren 
Fällen,  sondern  es  gibt  Übergänge.  Sicher  läßt  sich  nicht  durch  die  äußere 
Anordnung  bestimmen,  ob  Formauffassung  oder  z.  B.  Verhältnisschätzung 
vorliegt. 

Die  genaue  Formauffassung  ist  vielleicht  die  praktisch  wichtigste  Aufgabe 
des  Augenmaßes.    In  der  weitaus  größten  Zahl  der  Fälle  sind  uns  komplizierte 

Zeitschrift  t.  pAdftgog.  Piycholosie.  27 


418  Probleme  und   Apparate  zxir  experimentellen  Pädagogik. 

Formen  gegeben.  Wir  sollen  nicht  Linien  herausreißen  und  vergleichen,  wir  -^ 
sollen  die  Formen  nicht  ausmessen,  sondern  wir  sollen  die  ganze  Form  auf  uns 
wirken  lassen  und  beurteilen.  Nur  die  ganze  Form  hat  Sinn  und  Bedeutung 
und  ästhetischen  Wert,  nicht  der  herausgerissene  Teil.  Aus  diesen  Gründen 
bemühte  ich  mich,  für  die  Formauffassung,  für  die  bis  jetzt  noch  fast  keine 
instrumenteilen  Hilfsmittel  vorhanden  waren,  eine  Reihe  einfacher,  auch 
in  der  Schule  zur  Erziehung  des  Formensinns  verwendbarer  Apparate  zu 
finden. 

Man  kann  eindeutige  und  mehrdeutige  Formen  scheiden.  Eindeutig  sind 
z.  B.  Gerade,  Kreis,  Quadrat,  alle  regelmäßigen  Figuren  usw.  Mehrdeutig 
sind  z.  B.  der  Bogen,  Rechteck,  Ellipse,  Kreuz  usw. 

Bei  einer  eindeutigen  Figur  kann  man  das  Augenmaß  prüfen,  indem  man 
eine  einzige  Figur  einstellen  läßt  und  die  Genauigkeit  der  Einstellung  bestimmt. 
Bei  mehrdeutigen  Figuren  könnte  man  durch  Einstellung  einer  einzigen 
Figur,  z.  B.  eines  Rechteckes,  das  Augenmaß  nicht  prüfen;  denn  jede 
Einstellung  wäre  richtig,  ergäbe  ein  Rechteck.  Man  muß  so  verfahren,  daß 
man  zwei  Figuren  vergleichen  läßt.  Dabei  wird  man  aus  demselben  Grunde 
wie  bei  den  Verhältnissen  zwei  verschieden  große  Figuren  wählen. 

Wie  genau  werden  in  allen  diesen  Fällen  die  Formen  eingestellt  oder  ver- 
glichen? Wie  genau  bei  verschiedener  Lage  (z.  B.  stehendes  und  liegendes 
Quadrat)  ?  Wie  genau  bei  verschiedener  Größe  ?  Welche  Einfühlungen  gibt  es 
für  die  einzelnen  Figuren?     Fördern  sie  die  Auffassung? 

Nahe  dem  Leben  und  den  Zielen  des  Zeichenunterrichts  steht  folgende  Auf- 
gabe :  Man  läßt  einen  Gegenstand,  z.  B.  ein  Fenster,  ein  Buch,  betrachten  mid 
mittelst  eines  Apparates  nachahmen.  Oder  man  läßt  Gegenstände,  die  sich 
schon  früher  dem  Gedächtnis  eingeprägt  haben  mußten,  nachahmen,  bei  Recht- 
ecken z.  B.  einen  Eisenbahnwagen,  ein  Schulheft  und  dergleichen.  Ich  gab  mir 
viel  Mühe,  namentlich  Apparate  für  solche  im  praktischen  Leben  vorkommende 
Formen  zu  finden.  Leider  wird  man  sich  aus  technischen  Gründen  meist  mit 
den  einfachsten  Formen  begnügen  müssen. 

Die  eindeutigen  Formen  sind  ausgezeichnete  Stücke  in  der  Reihe  der  mehr- 
deutigen Formen.  So  ist  das  Quadrat  ein  ausgezeichnetes  Rechteck,  die  Gerade 
ein  ausgezeichneter  Bogen  usw.  Sie  sind  aber  nicht  die  einzigen  ausgezeichneten 
Stücke.  Unter  den  Rechtecken  gibt  es  ein  typisches,  ein  schönstes,  ein  mittleres 
Rechteck.  Welches  sind  diese  ausgezeichneten  Formen  ?  Wie  genau  werden  sie 
eingestellt  ? 

Ich  führe  nun  Apparate  für  eine  Reihe  von  einfachen  Formen  an. 

A.  Gerade  (eindeutig). 

Sie  läßt  sich  mit  den  Scheibchen  Nr.  13  einstellen.  Man  richtet  z.  B.  das 
mittlere  von  3  Scheibchen  so  aus,  daß  es  mit  den  anderen  Scheibchen  in  einer 
Geraden  zu  liegen  scheint.  Man  kann  auch  die  Endscheibchen  verstellen,  kann 
mehr  Scheibchen  wählen,  kann  den  Abstand  größer  nehmen,  und  man 
kann  der  Geraden  jede  beliebige  Richtung  geben. 

Die  Einstellung  eines  gestreckten  Winkels,  wie  sie  mit  den  Apparaten  Nr.  42 
und  43  vorzunehmen  ist,  kann  auch  als  Einstellung  in  eine  Gerade  aufgefaßt 
werden.  Ebenso  bezieht  sich  die  Poggendorff-Täuschung  Nr.  39  auf  Einstellung 
in  eine  Gerade. 


„Unsere  Jugend".  419 


Variator    zur    Einstellung    eines    Punktes    in    die    Verlängerung  Nr.  47. 
einer  Geraden,  nach  Rupp  (Lehrmittelliandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).    Be- 
quemer als  die  Scheibclienan Ordnung  ist  folgende  Einrichtung :  ^_^ 

a)  Der  Streifen  mit  dem  Punkt  wird  so  lange  nach  oben 
oder  unten  verschoben,  bis  der  Punkt  in  der  Verlängerung 
der  geraden  Linie  zu  sein  scheint.  Eine  Millimeterteilung 
auf  der  Rückseite  gestattet,  den  Fehler  abzulesen. 


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1 1  ■ » 1 1  ■  1 1 1 

♦  ttOttM  ♦♦ 


b)  Mit  einer  ähnlichen  Anordnung  (vgl.  die  2.  Figur)  läßt  sich  eine  bekannte 
Täuschimg  prüfen.  Wenn  man  links  zwei  nahe  übereinander  liegende  Ge- 
rade zeichnet  imd  die  Aufgabe  stellt,  den  rechten  Punkt  in  die  Verlängerung 
z.  B.  der  untersten  Geraden  zu  bringen,  so  wird  er  zu  hoch  eingestellt.  Man 
ist  durch  die  obere  Gerade  beeinflußt.  Größere  Entfernung  und  andere  Färbung 
des  zweiten  Striches  verringert  die  Täuschung. 

Perlen-Apparat  für  Einstellung  in  eine  Gerade,  nach  Rupp  (Mecha- Nr. 48. 
niker  Marx,  Berlin).  Prinzip  ähnlich  wie  bei  Nr.  14.  An  einer  Reihe  von  Schnüren 
sind  weiße  Perlen  zu  verschieben.     Man  stellt  z.  B.  die  End- 
perlen in  beliebiger  Lage  ein  und  läßt  die  zwischenliegenden 
Perlen  so  verschieben,  daß  sie  mit  den  Endperlen  genau  eine 
Gerade  zu  bilden  scheinen.     Man  kann  mehr  oder  weniger  Perlen  wählen,  man 
kann    als    Endperlen    die    äußersten   oder  näher    zusammenliegende    wählen. 

B.  Bogen  (mehrdeutig). 

Tafel  für  die  Täuschung  beim  Vergleich  von  Bögen  verschiede- Nr. 49. 
ner  Längen,  nach  Rupp  (Lehrmittelhandlung  Gebr.  Höpfel,  Berlin).  Links 
ist  ein  Kreis  gezeichnet,  in  der  Mitte  eine  Serie  von 
längeren,  rechts  eine  Serie  von  kürzeren  Bögen.  Die 
mittleren  Bögen  jeder  Serie  haben  den  gleichen  Radius 
wie  der  Kreis,  die  oberen  sind  flacher,  die  unteren 
stärker  gekrümmt.  Je  zwei  nebeneinander  liegende 
Bogenstücke  haben  die  gleiche  Krümmung.  Man  läßt 
nun  aus  jeder  der  zwei  Serien  jenen  Bogen  heraus- 
suchen,  welcher  die  gleiche  Krümmung  zu  besitzen 

scheint  wie  der  Kreis.  Es  wird  meist  ein  stark  gekrümmter  Bogen  gewählt, 
namentlich  bei  den  kürzeren  Bögen.  Je  kürzer  der  Bogen,  desto  weniger  scheint 
er  gekrümmt. 

Ein  ähnliches  Resultat  erhält  man,  wenn  man  2  nebeneinander  liegende 
Bogen  vergleicht. 

Der  Versuch  läßt  sich  als  Massen  versuch  durchführen,  auch  in  Übungen. 

(Forteetziing  folgt.) 

„Unsere  Jugend". 

Bericht  über  die  Ausstellung  in  Essen  a.  d.  R.,  Mai — Juli  1914. 
Von  Josef  Weber. 

Im  Juli-August-Heft  1913  dieser  Zeitschrift  (14.  Jahrg.,  S.  365)  schreibt 
Aloys  Fischer:  „Der  Gesarateindruck  der  Ausstellung  „Das  Kind"  (Berlin, 
Ausstellungshallen  am  Zoo)  ist  so  ungünstig,  daß  man  fürchten  muß,  dieser 

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420  „Unsere  Jugend" 


erste  Versuch  möchte  die  ganze  Idee,  die  Grundtatsachen  der  körperlichen 
und  geistigen  Entwicklung  des  Kindes  und  Jugendlichen  in  einer  Ausstellung 
zusammenzufassen,  diskreditieren." 

Woher  dieser  Mißerfolg?  Weil  die  Ausstellung  vorwiegend  Geschäfts- 
reklame war:  Artikel  der  Ernährung,  Kinderpflege,  Spielwarenindustrie, 
Lehrbücher,  Jugendlektüre  usw.  in  überreicher  Wiederholung.  Dagegen  fehlt 
fast  alles  Material  zu  jugendkundlichen  Schlüssen,  während  uns  doch  in 
erster  Linie  auf  pädagogisch-psychologischen  Ausstellungen  das  interessiert, 
was  die  körperliche  und  geistige  Arbeit  und  Entfaltung  des  Kindes  erklärt. 
Wir  wollen  wissen,  wie  das  Kind  sich  entwickelt  und  müssen  den  Inhalt 
seiner  Arbeit  und  seines  Denkens  erkennen  und  so  durch  unsere  Erziehung 
leitend  beeinflussen  können. 

Die  Stadt  Essen  beteiligte  sich  an  der  Berliner  Ausstellung  durch  bild- 
liche und  zahlenmäßige  Darstellungen  ihrer  Erziehungseinrichtungen;  die 
jetzige  Ausstellungsleitung  hat  offensichtlich  von  Berlin  gelernt,  wie  man 
es  nicht  machen  soll.  Denn  im  allgemeinen  sind  die  Klippen,  die  der 
vorjährigen  Ausstellung  in  pädagogischer  Hinsicht  den  Erfolg  nahmen,  ver- 
mieden worden.  Schon  der  Untertitel  „Ausstellung  für  Gesundheitswesen, 
Erziehung,  Jugendpflege  und  Kunst"  zeigt  weise  Beschränkung,  Innerhalb 
dieser  selbstgezogenen  Grenzen  hat  die  Ausstellung  ihre  Aufgabe  erfüllt. 
Das  sei  anerkennend  hervorgehoben,  und  kleinere  Wünsche  mögen  bei  dem 
wohltuenden  Gesamteindruck  unterdrückt  werden. 

Bei  der  Fülle  des  Gebotenen,  zu  dessen  Anordnung  der  Stadt  Essen  die 
neuerbauten  Ausstellungshallen  (mehr  als  8500  qm)  zur  Verfügung  standen, 
können  hier  die  einzelnen  Gruppen  nur  in  großen  Zügen  kurz  besprochen 
werden. 

Verschiedene  Hauptabteilungen  sind  der  ganzen  Stoffanordnung  zugrunde 
gelegt: 

1.  „Unsere  Jugend  und  die  Gesundheit".  Den  Veranstaltern  schwebte 
als  Ziel  vor,  durch  Anschauung  an  Bildern,  Tafeln,  Modellen,  Photographien 
und  anatomischen  Präparaten  das  Wachsen  des  Menschen  und  die  Ent- 
faltung seiner  körperlichen  Eigenschaften  zu  zeigen,  dann  Aufklärungsarbeit 
zu  leisten  über  alles,  was  die  Gesundheit  der  Jugend  untergräbt  (Alkohol, 
erbliche  Krankheiten,  Inzucht,  unzweckmäßige  Kleidung,  Ernährung  und 
Lebensweise  u.  a.),  und  so  das  Kind  an  Körper  und  Geist  gesund  schon  im 
Keim  zu  schaffen  und  heranzuziehen.  Erforderlich  dazu  ist  in  erster  Linie 
durchgreifend  gesunde  Gestaltung  der  Wohnung,  Kleidung  und  Nahrung,  und 
vorbildlich  wirken  die  Pläne  und  Skizzen  von  Bauten,  Grünanlagen,  Kinder- 
spiel- und  Sportplätzen. 

Weiter  soll  eine  verständige  Schulgesundheitspflege  ererbte  und  erworbene 
Schwächen  und  Fehler  rechtzeitig  erkennen  und  in  besonderen  Einrichtungen 
(ein  Schularztzimmer  ist  mustergültig  ausgestellt)  mildern  oder  beseitigen. 
Gleichzeitig  sind  die  durch  die  Schule  vielfach  hervorgerufenen  Krankheiten 
wie  Rückgratverkrümmung  (in  den  Schulbänken  und  bei  praktischen  Musik- 
übungen), Einengen  der  Brust  durch  schlechte  Haltung  u.  a.  durch  Modelle 
menschlicher  Gerippe  zum  Ausdruck  gebracht. 


„Unsere  Jugend".  42 1 


Die  Forderungen  zur  gesunden  Gestaltung  der  Kinder  werden  in  der 
Abteilung 

2.  „Unsere  Jugendpflege"  ins  tägliche  Leben  übertragen,  und  hier  er- 
scheint naturgemäß  alles,  was  in  den  Entwicklungsjahren  des  Kindes  nach 
jeder  Richtung  als  zweckdienlich  und  notwendig  gefordert  wird.  Erfreu- 
licherweise ist  die  gerade  hier  drohende  Gefahr,  sich  in  Geschäftspropaganda 
zu  verlieren,  glücklich  umgangen  und  kluge  Einschränkung  als  oberstes 
Gesetz  geboten  worden.  Auch  die  Darstellung  jugendsportlicher  Einrich- 
tungen kommt  hier  zu  ihrem  Recht.  Die  Fürsorge  für  Kinder  mit  körper- 
lichen Gebrechen  oder  geistigen  Mängeln  wird  durch  Modelle  und  Bilder 
von  Kinderhorten,  Waisenhäusern,  Hilfsschulen  und  Pflegeanstalten  dar- 
gestellt. Als  Gegenstück  sind  Beispiele  für  gesunde  Körpererziehung  ge- 
geben durch  Übersichtstafeln  der  für  die  verschiedenen  Altersstufen  zweck- 
mäßigsten Leibesübungen. 

Die  in  dieser  Weise  schon  im  kleinsten  Anfang  gesund  disponierte  Jugend 
läßt  sich  tüchtig  erziehen  und  planmäßig  unterrichten.  Damit  kommen  wir 
zum  pädagogischen  Teil  der  Ausstellung,  der  sich  zunächst  mit  dem  Ge- 
biete 

3.  „Unsere  Jugend  und  die  Heimat"  beschäftigt.  Die  Gruppe  für 
Heimatkunde  und  Heimatliebe  zieht  naturgemäß  immer  weiter  ausgreifende 
Kreise  um  den  Heimatsort  als  Mittelpunkt,  so  daß  hier  als  Gliederung  von 
selbst  gegeben  ist:  Essen-Ruhr  (mit  alten  Kirchen,  Gebäuden  und  historischer 
Umgebung),  Rheinland-Westfalen  (mit  der  Wiedergabe  naturgetreuer  Teile 
aus  Kohlen-  und  Erzgruben,  der  Krupp  sehen  Werke  und  des  Zechenwesens), 
Deutschland  und  deutsche  Kolonien.  Des  weiteren  hat  die  Essener  biolo- 
gische Vereinigung  einen  heimatlichen  Tierpark,  die  Stadtgärtnerei  einen 
biologischen  Garten  hergestellt. 

Da  unsere  Jugend  auch  zu  ästhetischem  Genießen  erzogen  werden  soll, 
ist  eine  besondere  Abteilung 

4.  „Unsere  Jugend  und  die  Kunst"  eingerichtet,  die  „vom  Kinde 
als  Gegenstand  der  Kunst,  vom  Kinde  als  Künstler  und  von  der  Kunst 
für  das  Kind"  erzählt.  Die  Kinder  sollen  durch  gute  Reproduktionen 
lernen,  rechte  Kunstbetrachtung  zu  pflegen.  Künstlerische  Bilderbücher 
und  Spielsachen  (besonders  gut  und  reichhaltig  gestaltet)  sollen  zu  künst- 
lerischer Selbstbetätigung  anregen  und  das  Anschauungsvermögen  fördern. 
Die  im  selbständigen  künstlerischen  Zeichnen,  Formen  und  Modellieren  ge- 
botenen Kinderarbeiten  sind  teilweise  erstaunlich  und  für  die  Kenntnis  der 
Psyche  des  heranwachsenden  Kindes  ungemein  interessant. 

Den  größten  Raum  beansprucht  natürlich,  da  das  Kind  den  Hauptteil  der 
Jugend  in  der  Schule  verbringt,  die  Abteilung 

5.  „Unsere  Jugend  und  die  Schule".  Was  hier  gezeigt  wird,  ist  in 
zweckmäßiger  Gestaltung  und  reichhaltiger  Fülle  besonders  erfreulich.  Nach 
einzelnen  Fächern  geordnet  sind  Lehr-  und  Lernmittel,  Anschauungsmaterial 
(Karten,  Bildwerke,  Modelle,  Apparate),  methodische  Arbeiten  und  Jugend- 
schriften in  guter  Auswahl  zusammengestellt. 

An  die  Abteilung  für  Religion  schließt  sich  das  Morgenland  mit  den 
assyrisch-babylonischen  und  den  ägyptischen  Kulturkreisen,  an  diese  wieder 


422  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

die  klassische  Kultur,  deren  Mittelraum  die  Vorhalle  eines  Akropolistempels 
nachbildet  und  im  Innern  Modelle  klassischer  Bauten  und  Kunstwerke  ent- 
hält. Geschichte,  Deutsch,  Volkskunde  (mit  zahlreichen  auch  gedanklich 
selbständigen  Papierarbeiten  von  Vorschul-  und  Volksschulkindern),  der  neu- 
gestaltete Schreib-  und  Gesangunterricht,  Musik  (mit  hübschen  Beispielen 
zur  Anregung  der  musikalischen  Phantasie  im  Kinde),  Zeichnen,  neuere 
Sprachen,  Erdkunde,  Biologie,  Chemie,  Mathematik,  Physik,  Leibesübungen, 
sogar  amerikanisches  und  englisches  Schulwesen  werden  in  je  einem  geson- 
derten Raum  mit  ihren  wesentlichen  Hilfsmitteln  gezeigt.  Die  Bedeutung 
der  Knabenhandfertigkeit  wird  praktisch  in  fünf  Werkstätten  (für  Pappe, 
Modellieren,  Naturholz,  Metall-  und  Holzarbeit)  erläutert. 

Eine  besondere  Abteilung  ist  der  Hilfsschule  gewidmet,  worin  ver- 
anschaulicht wird,  wie  die  heutige  Schule  den  schwachbefähigten,  beson- 
derer Fürsorge  bedürftigen  Kindern  die  Hand  reicht,  indem  sie  einmal  die 
Unterrichtsfächer  der  Normalschule  in  beschränkterem  Umfange,  aber  doch 
mit  deutlichem  Abschluß  betreibt,  andrerseits  den  Anschauungsunterricht 
durch  Rechenapparate,  Fingerlesemaschinen,  Lauttafeln  usw.  fördert  und 
die  Handfertigkeit  von  Knaben  und  Mädchen  durch  zusagende  praktische 
Arbeiten  erhöht. 

Mit  dem  letzten  Wort  sei  der  Abteilung  für  Psychologie  gedacht, 
deren  Leitung  entsprechend  den  in  Essen  eifrig  geförderten  Bestrebungen  für 
experimentelle  Pädagogik  gerade  diese  Seite  der  modernen  Seelenforschung 
hervorhebt  und  das  ausgestellte  Material  durch  wöchentlich  mehrmalige 
Vorträge  erläutern  läßt.  Eine  ausreichende  Sammlung  von  Apparaten  für 
psychologische  Untersuchungen,  besonders  zur  Erforschung  des  Gedächt- 
nisses, der  Wahrnehmung,  der  Muskelleistung,  des  Farbensinnes,  der  Puls- 
und Atemtätigkeit,  der  Apperzeptionsvorgänge,  sowie  ein  Überblick  über  die 
gebräuchlichsten  Arten  der  Testpsychologie  und  die  deutliche  Versinnbild- 
lichung besonders  interessierender  Ergebnisse  der  Kinderseelenkunde  durch 
Bildtafeln  und  Kurvendarstellungen  gestatten  einen  gründlichen  Einblick 
in  die  Arbeitsweise  der  modernen  Psychologie.  Besondere  Beachtung  ver- 
dienen vor  allem  die  überraschenden  Versuche  über  die  Entwicklung  des 
kindlichen  Ausdrucksvermögens  im  selbständigen  Zeichnen  und  über  die  im 
lehrplanmäßigen  Unterrichte  erzielten  Erfolge  bei  Übungen  in  links-  und 
rechtshändiger  Schrift  (Ambidextrie). 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Die  Stellung  des  deutschen  Lehreryereins  zur  pädagogischen  Wissen- 
schaft wurde  auf  der  Kieler  Versammlung  durch  die  folgende  Erklärung 
gekennzeichnet : 

Die  Deutsche  Lehrerversammlung  hält  es  für  notwendig,  daß  die  päda- 
gogische Wissenschaft  im  Mittelpunkt  aller  Lehrerbildung  stehe.  Sie  erhebt 
daher  die  Forderung,  daß  die  Pädagogik  an  den  Universitäten  als  selb- 
ständige Wissenschaft  anerkannt  und  vollwertig  vertreten  und  das  päda- 
gogische Studium  Lehrern  aller  Schulgattungen  zugänglich  gemacht  werde. 


I 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen,  423 

Als  Aufgaben  des  Deutschen  Lehrervereins   betrachtet  die  Versammlung 

1.  die  Unterstützung  der  pädagogischen  Forschung  und  die  Verbreitung 
ihrer  Ergebnisse  in  der  Lehrerschaft, 

2.  die  Anregung  und  Organisation  pädagogisch- wissenschaftlicher  Arbeit 
innerhalb  der  Lehrervereine. 

Zweck  der  pädagogischen  Arbeit  im  Deutschen  Lehrerverein  soll  nicht 
eine  erzwungene  Einheitlichkeit  pädagogischer  Überzeugungen,  sondern  eine 
lebendige  Anteilnahme  der  Mitglieder  am  pädagogischen  Leben  sein. 

Zur  Frage  der  Selbstregierung  in  der  Erziehung  legte  Dr.  F.W.  Förster, 
der  Münchner  Professor  der  Pädagogik,  auf  dem  ersten  deutschen  Kinder- 
schutztage  in  Halle  die  folgenden  Leitsätze  vor: 

Die  möglichste  Heranziehung  der  Jugendlichen  zur  Selbstregierung  und 
Selbstverwaltung  empfiehlt  sich: 

L  als  notwendige  Anpassung  an  die  psychologischen  Bedingungen  hoch- 
entwickelter wirtschaftlicher  Kulturarbeit.  (Qualitätsarbeit  verlangt 
moralische  Selbsttätigkeit.) 

2.  als  eine  wichtige  Methode  moralischer  und  staatsbürgerlicher  Erziehung. 
(Entwicklung    von    Selbstkontrolle,    Gemeinsinn,    Gerechtigkeitsgefühl.) 

3.  als  allgemeine  pädagogische  Notwendigkeit.  (Erst  durch  praktische 
Mitarbeit  und  Verantwortlichkeit  für  geordnete  Zustände  werden  junge 
Leute  innerlich  für  die  Sache  der  Ordnung  gewonnen  und  für  frei- 
willigen Gehorsam  erzogen.  Die  einseitige  Autoritätspädagogik  macht 
einen  wirklich  autoritativen  Einfluß  auf  die  Jungen  unmöglich.) 

4.  als  notwendige  Anpassung  an  den  besonderen  psychologischen  Zustand 
der  modernen  Jugend.  (Die  antiautoritative  Stimmung  der  modernen 
jungen  Leute  macht  einen  möglichst  geringen  Gebrauch  repressiver 
Methoden  und  eine  möglichst  große  disziplinarische  Verwertung  gerade 
der  zur  Rebellion  tendierenden  Charakterkräfte  [Ehrgefühl,  Banden- 
instinkte, Tätigkeitsdrang]  sehr  ratsam.) 

5.  als  heilpädagogische  Notwendigkeit  gegenüber  Abnormen  und  Ver- 
wahrlosten. (Die  abnorm  Indisziplinierten  sind  ganz  besonders  explosiv 
gegenüber  aller  bloß  repressiv-autoritativen  Leitung.  Gegenüber  ihrer 
großen  Suggestibilität  bedürfen  sie  einer  besonderen  Stärkung  ihrer 
Selbständigkeit.  Ihr  Gewissensleben  bedarf  des  kollektiven  Haltes 
durch  Übung  in  gemeinsamen  sittlichen  Entscheidungen  und  Verant- 
wortlichkeiten.) 

Erzieherdisziplin  und  Selbstregierung  sind  beide  gleich  wichtige  Faktoren 
der  Jugendbildung;  die  Jugend  muß  lernen,  eine  von  höheren  Instanzen 
ausgehende  Ordnung  willig  und  exakt  anzunehmen,  und  sie  muß  lernen, 
selber  Ordnung  hervorzubringen.  Wo  einer  dieser  beiden  Faktoren  fehlt 
ist  ein  Mißlingen  der  Erziehung  zweifellos. 

Ein  religions-psychologischer  Fragebogen  findet  sich  inmitten  einer 
Aufforderung  und  Anweisung  zur  Biographienforschung  in  dem  neuge- 
gründeten Archiv  für  Religionspsychologie.  Über  seinen  nächsten  Zweck 
hinaus   kann    er   dadurch,    daß    er   die    wesentlichen    Fragepunkte    für    die 


424  Kleine  Beiträge  xind  Mitteilungen. 

Erkundung  der  religiösen  Entwicklung  angibt,  der  Beobachtung  des  indi- 
viduellen religiösen  Lebens  überhaupt  dienen,  und  er  sei  der  Bedeutung 
wegen,  die  solche  religions-psychologischen  Beobachtungen  auch  für  die  an- 
gestrebte Reform  des  Religionsunterrichtes  haben,  im  folgenden  wieder- 
gegeben : 

A.  Kindheit. 

1.  In  welcher  Umgebung  wächst  das  Kind  auf? 

a)  Welches  ist  das  natürliche,    b)  das  religiöse  Milieu? 

2.  Welchen  Einfluß  hat  die  Erziehung  auf  die  religiöse  Entwicklung  des  Kindes  ? 

3.  Wann  und  in  welcher  Form  traten  zuerst  religiöse  Erlebnisse  und  Vor- 
stellungen in  der  Seele  des  Kindes  auf? 

a)  Von  welcher  Person  oder  welchem  Ereignis  gehen  sie  aus? 

b)  Welcher  Art  sind  diese  Eindrücke? 

c)  Haben  sie  dauernde  Bedeutung  für  das  Gefühls-,  Willens-  oder  Vorstellungs- 
leben? 

4.  Entwickeln  sich  in  dem  Kinde  besondere  Eigenschaften,  Neigungen  usw., 
die  von  Bedeutung  für  die  religiöse  Entwicklung  sind? 

5.  An  welche  einzelnen  Erlebnisse  knüpfen  sich  im  Verlauf  der  kindlichen 
Entwicklung  Eindrücke  religiöser  Art,  und  von  welcher  Art  und  Bedeutung 
sind  sie? 

6.  Treten  schon  in  der  Kindheit  Zweifel  auf,  und  woran  schließen  sie  sich  an? 

7.  Gegen  welche  Fehler  kämpft  das  Kind,  und  welche  Rolle  spielen  dabei 
religiöse  Vorstellungen? 

8.  Welcher  Art  ist  das  kindliche  Gebetsleben,  und  welche  Erfahrungen  werden 
dabei  gemacht? 

9.  Wann  und  wie  tritt  die  Person  Jesu  für  das  religiöse  Leben  des  Kindes 
in  Erscheinung? 

10.  Welche  Wirkung  hat  der  Religionsunterricht? 

11.  Beteiligt  sich  das  Kind  an  der  kirchlichen  Sitte?    Warum?    Gern  oder  un- 
gern?    In  welcher  Weise  ist  es  innerlich  dabei  beteiligt? 

12.  Kennt    das    Kind    eine    religiöse    häusliche   Sitte?     Ist    es    innerlich  an  ihr 
beteiligt?    Welchen  Einfluß  hat  sie  auf  die  religiöse  Entwicklung  des  Kindes? 

13.  Welchen  Eindruck  macht  und  hinterläßt  die  Konfirmation? 

14.  Weitere  Mitteilungen. 

B.  Übergangszeit. 

1.  Wie  gestaltet  sich  im  allgemeinen  in  dieser  Zeit  das  religiöse  Leben  (Gebet, 
Sünde,  Kirche,  religiöse  Lektüre,  Umgang  mit  Menschen  usw.)? 

2.  Welche  Faktoren  wirken  neu  auf  die  religiöse  Entwicklung  ein? 

3.  Treten  Zweifel  oder  Anfechtungen  auf? 

a)  Wann? 

b)  Wovon  gehen  sie  aus  (Person,  Ereignis,  Buch  usw.)? 

c)  Welcher  Art  sind  sie? 

d)  Wirken  sie  drückend  oder  befreiend  auf  das  seelische  Leben? 

e)  Wurden  sie  beseitigt?     Wodurch?    Warum  nicht? 

4.  Welche  Bedeutung  hat   das   sexuelle  Leben  für  die  religiöse  Entwicklung? 

5.  Ist  die  religiöse  Entwicklung  eine  geradlinig  fortschreitende  oder  führt  sie 
durch  deutliche  Krisen  und  Erschütterungen  hindurch? 

a)  Wodurch  werden  sie  hervorgerufen? 

b)  Welche  äußeren  und  inneren  Zustände  gehen  ihnen  voraus? 

c)  Welchen  Verlauf  nehmen  sie? 

d)  Welche   Vorstellungen   werden   aufgegeben,  welche   zurückgestellt,   und 
welche  treten  jetzt  in  den  Vordergrund? 

6.  Weitere  Mitteilungen. 

C.  Zeit  der  Reife. 

1.  Welches  ist  das  allgemeine  Ziel  (Religion,  Konfession,  Sondergemeinschaft, 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  425 

Weltanschauung  usw.),    zu   dem   die  religiöse  Entwicklung  in  der  Zeit  der 
Reife  geführt  hat".' 

2.  Werden  auch  in  dieser  Zeit  noch  wichtige  Krisen  durchgemacht?    In  welchem 
Alter  treten  sie  avif,  und  wie  verlaufen  sie? 

3.  Wie  gestaltet  sich  im  einzelnen  die  Religion  des  reifen  Mannes? 

a)  Wie  steht  er  zu  den  Lehren  der  offiziellen  Kirche? 

b)  Welche  Bedeutung   hat   für  sein  religiöses  Leben   die  Kirche  mit  ihren 
Einrichtungen  und  Dienern?     Was  zieht  ihn  an,  was  stößt  ihn  ab? 

c)  Welche  Bedeutung  hat  die  religiöse  Literatur  (Bibel,  Gesangbuch,  Kate- 
chismus, religiöse  Romane  usw.)? 

d)  Sind  besondere  PersönHchkeiten  der  Gegenwart  oder  Vergangenheit  die 
ausgesprochenen  Führer? 

e)  Welche  Bedeutung  hat  die  Person  Jesu? 

f)  Welche  Bedeutung  haben  Kunst,  Natur,  Wissenschaft  usw.? 

g)  Welche  Bedeutung  haben  die  Wechselfälle  des  Lebens? 

h)  Welche  Bedeutung  hat  das  öffentliche  und  berufliche  Leben? 

i)  Welcher   Art   ist   das   Gebetsleben?     Frei  oder    gebunden?     Regelmäßig 

oder  nur  bei  besonderen  Anlässen?    Welches  ist  der  erfahrene  innere 

und  äußere  Erfolg? 
k)  Treten  Erlebnisse   irgendwie   mystischer  Art   auf,   und  wie  verlaufen  sie 

im  einzelnen? 
1)  Inwiefern  beeinflußt  die  Religion  das  sittliche  Leben? 
ra)  Wie  wird  Sünde,  Schuld  und  Gnade  erlebt? 
n)  Wie  äußert  sich  die  Religion  angesichts  und  während  des  Sterbens? 

4.  Weitere  Mitteilungen. 

5.  Welches   sind    die  Hauptmerkmale,   die    den  Typus   der  Frömmigkeit  der 
behandelten  Persönlichkeit  charakterisieren  ? 

Das  Pädagogisch-psychologische  Institat  zu  München  gibt  im  Jahres- 
bericht des  Bezirkslehrervereins  (46.  Vereinsjahr)  folgende  Mitteilung 
über  die  Entwicklung  im  Berichtsjahre. 

„Das  Sommer-Semester  1913  war  das  erste,  das  beschlußgemäß  von 
Vorlesungen  frei  war;  die  wissenschaftlichen  Arbeiten  erfuhren  dadurch  einige 
Förderung,  wenn  auch  noch  nicht  so  durchgreifend,  wie  es  erwartet  wurde 
und  sicher  in  nächster  Zeit  möglich  wird.  In  ihrem  Interesse  entschloß  sich 
der  wissenschaftliche  Leiter  des  Instituts  —  Privatdozent  Dr.  A.  Fischer  , — 
auf  eigene  Gefahr,  aber  mit  Unterstützung  des  Bezirkslehrervereins  München, 
in  den  Tagen  vom  21.  mit  25.  Juli  1913  einen  praktischen  Einführungs- 
kurs in  die  pädagogisch-psychologischen  Untersuchungsmethoden 
zu  veranstalten.  Der  Kurs  wurde  von  insgesamt  126  Teilnehmern,  Damen  und 
Herren  aus  allen  deutschsprechenden  Gebieten,  besucht.  Er  war  in  der  Intention 
wie  in  der  Art  der  Durchführung  ein  Vorstoß  in  Neuland.  Auf  die  5  Tage  waren 
20  Vortragsstunden  zusammengedrängt;  es  wurde  jeden  Tag  von  8 — 10  Uhr 
und  2 — 4  Uhr  erläutert;  die  wesentlichsten  Leitlinien  wurden  den  Teilnehmern 
gedruckt  in  die  Hände  gegeben;  dazu  erhielten  sie  (mit  nur  vereinzelten 
Ausnahmen  infolge  unzuverlässiger  Lieferung  durch  die  Geschäfte)  die 
Materialien  zur  Prüfung  des  Farbensinns,  für  Strecken-  und  Gewichtsvergleich, 
Bildbetrachtung  und  ästhetischer  Auffassung,  zu  Erhebungen  über  Sprach- 
entwicklung und  Ausdrucksfunktionen.  Im  Anschluß  an  die  Vorlesungen 
wurden  die  Versuche  selbst  vorgeführt,  Anfragen  beantwortet  und  Spezial- 
instruktionen  gegeben,  so  daß  die  täglich  faktische  Arbeitszeit  nie  unter 
5  Stunden  betrug. 


426  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

In  dieser  eingehenden  Weise  kamen  zur  Behandlung  die  Methoden  der 
sprachpsychologischen  Untersuchung  des  Schulkindes,  die  der  Intelligenz 
Prüfung,  die  der  moralpsychologischen  Analyse;  ferner  die  Gesichtspunkte 
der  psychologischen  Auswertung  von  Kinderzeichnungen,  die  Grundsätze  für 
die  Beobachtung  und  das  Unterrichtsprotokoll  im  elementaren  Schreiblese- 
unterricht, im  elementaren  Kechenunterricht,  die  Gedächtnishilfen  im  Schul- 
betrieb, die  Grundsätze  der  exakten  Kontrolle  des  Unterrichtsresultates  und 
deren  Bedeutung  für  die  Lehrplangestaltung.  In  geringerer  Ausführlichkeit 
kamen  die  psychologischen  Probleme  des  Schülerpsychogramms  und  die  Fest- 
stellung der  außerschulischen  Interessen  des  Kindes  zur  Behandlung.  Die 
den  Teilnehmern  zur  Verfügung  gestellten  Materialien  kamen  für  die  Serie 
auf  4  Mark  zu  stehen. 

Im  Winter-Semester  1913/14  kam  der  dritte  Abschnitt  des  umfassenden 
Programms:  „Philosophie  und  Pädagogik"  zur  Verwirklichung.  Es  wurden 
die  Beziehungen  zwischen  Ästhetik  und  Erziehungswissenschaft 
als  leitendes  Thema  der  Vorlesungen  gewählt.  Die  einzelnen  Zyklen,  in 
die  es  zerstückt  wurde,  sind  folgende: 

1.  Dr.  A.  Fischer,    Privatdozent    an    der  K.  Universität:    Ästhetik  und 

Erziehungswissenschaft.  —  Prinzipielle  Betrachtungen  zur  pädago- 
gischen Ziellehre.  —  5  Vorlesungen. 

2.  Dr.  J.  Popp,  Privatdozent  an  der  K.  Techn.  Hochschule:  Die  Haupt- 

gesichtspunkte der  ästhetischen  Wertung  von  Werken  der  bildenden 
Kunst.  —  10  Vorlesungen. 

3.  Dr.  K.  Doehlemann,  Professor  an  der  K.  Techn.  Hochschule:  Linie, 

Licht,  Farbe.  —  8  Vorlesungen. 

4.  K.  Freytag,   Oberlehrer:    Die  Kunsterziehungsbewegung  und  die  Me- 

thoden der  Bildung  des  Geschmacks  auf  dem  Gebiete  der  bildenden 
Kunst.  —  6  Vorlesungen. 

5.  Dr.  F.  Wilhelm,  Professor  an  der  K.  Universität:  Einführung  in  die 

ästhetische  Analyse  von  Dichtungen.  —  8  Vorlesungen. 

6.  Dr.  H.  Frhr.  v.  d.  Pfordten,  Professor  an  der  K.  Universität:  Ästhetik 

des  Liedes.  —  12  Vorlesungen. 

7.  Hauptlehrer   J.  Peslmüller,    Inspektor    der    Städtischen    Zentralsing- 

schule: Die  Schulgesangsmethoden  in  alter  und  neuer  Zeit  (unter 
besonderer  Berücksichtigung  der  letzteren).  —  5  Vorlesungen. 

Diese  Zyklen  umfaßten  56  Vortragsstunden  und  waren  von  insgesamt 
248  Teilnehmern  besucht. 

Zur  Frequenz  im  ganzen  ist  zu  bemerken,  daß  sie  eine  erfreuliche  Zu- 
nahme gegenüber  dem  letzten  Winter  aufweist  und  allmählich  stabil  zu 
werden  verspricht.  Nicht  ohne  Einfluß  auf  sie  war  der  Beschluß  geblieben, 
daß  Praktikanten  und  Praktikantinnen  von  jeder  Honorarpflicht  entbunden 
sein  sollen.  Dies  kommt  deutlich  zum  Ausdruck  in  dem  Verhältnis  derer, 
die  im  laufenden  Semester  Beitrag  leisten  —  es  sind  153  — ,  zu  den  Honorar- 
befreiten 95.  Die  Einnahmen  des  Instituts  aus  Vorlesungsgebühren  belaufen 
sich  deshalb  in  diesem  Semester  nur  auf  980  Mark.  Diese  Ziffer  ist  eine 
Folge  des  Kuratoriumsbeschlusses  vom  März  1913,  während  die  Frequenz- 
Zunahme  eine  steigende  Wirksamkeit  des  Instituts  zum  Ausdruck  bringt. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  427 

\ 

Es  ist  dem  Verein  hoch  anzurechnen,  daß  er  um  des  ideellen  Erträgnisses 
willen  das  materielle  Opfer  bringt,  das  die  augenblicklich  einsetzende  Ge- 
staltung der  Dinge  in  der  Zukunft  fordern  kann:  wie  bisher  wird  auch  in 
Zukunft  der  Gesamtverein  der  bayrischen  Lehrer  tatkräftig  fördernd  hinter 
dem  Institute  stehen. 

Zur  Förderung  der  wissenschaftlichen  Arbeiten  wurden  die  Sitzungen 
der  Arbeitsgemeinschaft  wieder  aufgenommen.  Aus  den  Teilnehmern 
bildeten  sich  4  Gruppen,  je  nach  den  Problemen,  für  die  sie  sich  vorzugs- 
weise interessierten,  die  im  Turnus  wechselnd  jeden  Dienstag  von  5V2 — 7  Uhr 
unter  dem  Vorsitz  des  wissenschaftlichen  Leiters  beraten. 

Die  erste  Gruppe  behandelt  Fragen  der  Psychologie  der  frühen  Kindheit 
und  der  Kindergartenpädagogik.  Drei  Themata  wurden  besonders  in  Angriff 
genommen:  der  Nachzeichen  versuch  als  Intelligenztest  für  das  Alter  3;  0 — 6;  9 
(die  Vorarbeiten  sind  so  geklärt,  daß  demnächst  mit  Hilfe  des  Vereins 
städtischer  Kindergärtnerinnen  eine  Eichung  in  großem  Stil  erfolgen  wird), 
ferner  die  Probleme  des  Bedeutungswandels  und  der  Nebensätze  in  der 
Kindersprache.  Die  zweite  Gruppe  behandelt  die  Entstehung  der  Diffe- 
renzen der  Knaben-  und  Mädchenschrift  in  der  Schullaufbahn  und  besonders 
gegen  das  Ende  der  Schulzeit  zu.  Die  dritte  Gruppe  versucht  die  In- 
telligenzprüfung nach  oben  auszudehnen,  am  Fortbildungsschulmaterial,  und 
die  vierte  Gruppe  behandelt  Fragen  der  Mädchenerziehung.  Von  den  älteren 
Arbeiten  ist  publiziert  Karl  Köhn:  Experimentelle  Beiträge  zum  Problem 
der  Intelligenzprüfung  (Leipzig  1913,  bei  Quelle  und  Meyer,  138  S.),  im 
Druck  befinden  sich  die  Arbeiten  von:  Hu th.  Versuche  und  Untersuchungen 
zum  Schreibunterricht  im  Kindergartenalter  (Zeitschr.  für  päd.  Psych.),  und 
H.  Reichenbach,  Zur  Charakterologie  des  Schulkindes.  Das  Institut 
beteiligte  sich  ferner  an  der  Ausstellung,  die  im  Oktober  1913  mit  dem 
3.  Kongreß  des  Bundes  für  Schulreform  in  Breslau  verbunden  war  und  die 
psychischen  Differenzen  der  Geschlechter  zum  Gegenstande  hatte. 

Die  medizinisch -pädagogische  Fürsorge-  nnd  Beratungsstelle  zu 
Eisenach  legt  den  Bericht  über  das  erste  Arbeitsjahr  vor.  Insgesamt 
wurden  in  30  Sprechstunden  73  Personen  untersucht,  der  dritte  Teil  davon 
durch  Übungen  innerhalb  engster  Grenzen  beschäftigt.  Die  Gründe  des 
Besuches  der  Poliklinik  waren:  Stottern  (51  Fälle),  Idiotie  (6),  Stammeln  (1), 
Schwachsinn  (8),  Hysterie  (1),  Debilität  (2),  Aphasie  (2),  Paralyse  (1), 
Gaumendefekt  (1)  Fall.  Die  Tätigkeit  der  Arzte  beschränkte  sich  vorzugs- 
weise auf  Untersuchungen  und  heilerzieherische  Beratungen.  In  mehreren 
Füllen  wurde  die  Unterweisung  der  Stotternden  durchzuführen  versucht; 
sie  ist  nachweislich  in  6  Fällen  von  größtem  Erfolg  gewesen,  nämlich 
in  jenen  Fällen,  in  welchen  die  Zusammenarbeit  mit  den  Angehörigen  gelang. 
Eine  besondere  Aufgabe  war  es,  die  Verständigung  mit  den  Angehörigen 
und  nötigenfalls  auch  mit  den  Lehrern  herbeizuführen.  Zu  diesem  Zwecke 
sind  noch  systematisch  geordnete  Vorträge  gehalten  worden. 

Ein  bedeutsames  Preisausschreiben,  das  sicherlich  auch  der  pädago- 
gisch-psychologischen Ausbildung  der  deutschenOberlehrerschaft 


428  Kleine  Beiträge  xind  Mitteilungen. 

förderlich  sein  wird,  geht  von  der  Verlagsbuchhandlung  Quelle  &  Meyer 
in  Leipzig  aus.  Es  lautet:  „Die  wissenschaftliche  und  praktische 
Weiterbildung  der  akademisch  gebildeten  Lehrer  an  höheren 
Schulen  ist  ein  Problem,  das  seit  Jahrzehnten  im  Vordergrunde  des  Inter- 
esses steht,  namentlich  aber  seitdem  F.  Paulsen  im  Jahre  1904  auf  dem 
ersten  deutschen  Oberlehrertage  in  Darmstadt  in  seinem  Vortrage  „Die 
höheren  Schulen  Deutschlands  und  ihr  Lehrerstand  in  ihrem  Verhältnis 
zum  Staat  und  zur  geistigen  Kultur"  lange  nachwirkende  Anregungen 
ausstreute.  Wie  auf  zahlreichen  Philologenversammlungen,  so  stand  dieses 
Thema  auch  wieder  auf  dem  6.  Verbandstage  des  Vereinsverbandes  aka- 
demisch gebildeter  Lehrer  Deutschlands  auf  der  Tagesordnung,  ohne  indes 
auch  hier  eine  allseitig  befriedigende  und  erschöpfende  Lösung  zu  finden. 
Um  auch  ihrerseits  zu  einer  tieferen  Erfassung  und  einer  allgemeineren 
Behandlung  des  Problems  anzuregen,  hat  sich  die  unterzeichnete  Verlags- 
handlung entschlossen,  für  die  besten  Bearbeitungen  des  oben  bezeichneten 
Gegenstandes   3  Preise  in  Höhe  von  500,    300  und  100  Mark  auszusetzen. 

Die  Arbeiten  sollen  in  Fortführung  der  Paulsenschen  Gedanken  das 
Wesen  und  die  Wege  der  wissenschaftlichen  und  praktischen  Weiterbildung 
der  Oberlehrer  an  höheren  Schulen  darlegen  und  dadurch  Anregungen  und 
Anleitungen  geben,  wie  die  bisher  schon  gebotenen  Möglichkeiten  für  die 
Weiterbildung  nutzbar  gemacht,  umgestaltet  und  ausgebaut  werden  können. 
Die  Manuskripte  werden  bis  zum  1.  Oktober  1915  an  die  unterzeichnete 
Verlagshandlung  erbeten.  Sie  sind  nur  mit  einem  Kennwort  zu  versehen, 
das  auf  dem  den  Namen  und  Wohnort  des  Verfassers  enthaltenden  ver- 
schlossenen Umschlag  wiederholt  werden  muß.  Jede  Arbeit  soll  den  Um- 
fang von  4  Druckbogen  8^  nicht  übersteigen. 

Um  die  gleichzeitige  Berücksichtigung  der  Bedürfnisse  aller  Lehrfächer 
zu  ermöglichen,  ist  es  gestattet,  daß  zwei  oder  drei  Verfasser  sich  zu  einer 
gemeinsamen  Arbeit  vereinigen. 

Die  preisgekrönten  Arbeiten  gehen  in  das  Eigentum  des  Verlages  über. 
Zu  deren  Auswahl  haben  sich  die  Herren  Geh.  Oberregierungsrat  Dr. 
Norrenberg,  Berlin,  Geh.  Eegierungsrat  Dr.  Klatt,  Berlin,  Gymnasial- 
direktor E.  Erythropel,  Düsseldorf,  Prof.  Dr.  P.  Trautwein,  Berlin, 
freundlichst  bereit  erklärt." 

Nachrichten.  1.  Die  Berliner  Gesellschaft  für  Eassenhygiene 
schreibt  nochmals  die  Preisaufgabe  aus:  „Bringt  materielles  und  soziales 
Aufsteigen  den  Familien  Gefahren  in  rassenhygienischer  Beziehung?"  Aus- 
kunft gibt  der  Schriftführer  der  Gesellschaft  Dr.  G.  Heimann,  Charlotten- 
burg, Cauerstr.  35. 

2.  Dem  außerordentlichen  Professor  an  der  Universität  München,  Dr. 
theol.  Joseph  Göttler,  ist  die  Stelle  eines  etatsmäßigen  Professors  für 
Pädagogik  und  Katechetik  übertragen  worden. 

3.  Das  Institut  für  Arbeitsphysiologie,  das  aus  Mitteln  der  Kaiser- 
Wilhelm-Gesellschaft  errichtet  und  bereits  seit  1.  April  v.  J.  in  Tätigkeit 
ist,  wird  nunmehr  sein  eigenes  Heim  erhalten.  Im  ersten  Stockwerk  des 
zweigeschossigen    Gebäudes    werden    die    Räume    für    die    Untersuchungen 


Vierteljaljrsverzeichnis  neuer  Schriften.  429 

von  Kraft-  und  Stoffwechsel  und  die  statistische  Abteilung  untergebracht, 
im  zweiten  die  chemische  Abteilung.  Die  Leitung  des  Instituts  hat  Ge- 
heimrat Rubner;  ihm  stehen  Privatdozent  Dr.  Thomas  für  psycholo- 
gisch-chemische und  Stoffwechselarbeiten,  Professor  Dr.  Weber  für  ex- 
perimentell-physiologische und  psychologische  Arbeiten  und  Dr.  Albrecht 
für  statistisch-nationalökonomische  Studien  zur  Seite. 

4.  In  Breslau  wird  im  Sommer  1915  eine  große  medizinische  Ausstellung, 
„Das  Kind",  veranstaltet.  In  19  Abteilungen  sollen  Körper  und  Seele  des 
gesunden  und  kranken  Kindes,  Pflege  und  Ernährung,  Spiel  und  körper- 
lische  Ertüchtigung  in  den  verschiedensten  Altersstufen,  Säuglings-  und 
soziale  Fürsorge,  Sanatorien  und  Heilstätten,  das  Kind  in  der  Kulturge- 
schichte, Kunst  und  Literatur  usw.  eine  lückenlose  Darstellung  finden. 

5.  Eine  psychopädagogische  Gesellschaft  (Societe  de  Psycho-peda- 
gogie)  ist  in  Paris  zur  Vereinigung  von  Pädagogen,  Medizinern  und  Psycho- 
logen gegründet  worden, 

6.  Der  internationale  Kongreß  für  Neurologie,  Psychiatrie  und 
Psychologie  findet  vom  7. — 12.  September  1914  in  Bern  statt.  Von  den 
zur  Verhandlung  gelangenden  Gegenständen  seien  genannt:  Die  Erziehung 
junger  Delinquenten  (Ferrari-Bologna),  Die  Psychologie  in  der  Schule,  Die  Prüf- 
zeichen der  Intelligenz.    (Ziehen-Wiesbaden,  Simon-Rouen,  Descoudres-Genf.) 

7.  Die  44.  Hauptversammlung  der  Gesellschaft  für  Verbreitung  von 
Volksbildung  findet  in  Verbindung  mit  dem  3.  Vortrags-  und  Übungs- 
kursus für  freiwillige  Volksbildungsarbeit  vom  1.  bis  7.  Oktober 
dieses  Jahres  in  Berlin  statt.  Auf  der  Hauptversammlung  wird  die 
Jugendpflege  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Volksbildungsarbeit 
erörtert  werden.  Die  Geschäftsstelle  Berlin,  NW.  52,  Lüneburger  Straße  21, 
erteilt  Auskunft. 

8.  Die  akademischen  Ferienkurse  in  Hamburg,  die  dieses  Jahr  in  die 
Zeit  vom  13.  Juli  bis  22.  August  fallen,  bieten  in  der  Abteilung  „Philosophie, 
Psychologie,  Pädagogik"  die  folgenden  Vorlesungen:  I.  Dr.  P.  Hensel, 
Prof.  der  Philosophie  an  der  Universität  Erlangen:  Hauptprobleme  der 
heutigen  Philosophie.  IL  Dr.  H.  Much,  Oberarzt  am  Allgemeinen 
Krankenhaus  Eppendorf:  Führt  die  Naturwissenschaft  unter  allen 
Umständen  zum  Monismus?  HI.  Dr.  G.  Anschütz,  wiss.  Hilfsarbeiter 
am  Seminar  für  Philosophie:  Die  Hauptprobleme  der  modernen  Psy- 
chologie (mit  Experimenten  u.  Demonstrationen).  1.  Das  Problem  der 
Psychophysik.  2.  Grundmethoden  der  Psychologie  und  „psychische  Ele- 
mente". 3.  Apperzeption  und  Aufmerksamkeit.  4.  Auffassung  und  Ab- 
straktion. 5.  Psychische  Dispositionen  (Einstellung,  Anpassung,  Übung 
und  Ermüdung).  6.  Körperliche  und  geistige  Arbeit.  7.  Anschauliches  und 
abstraktes  Denken.  8.  Elementares  und  komplexes  Denken.  9.  Denkfähig- 
keit, Intelligenz  und  Anlage.  10.  Die  Prinzipien  der  Intelligenzprüfung. 
11.  Die  Geistestypen  und  ihre  Bedeutung.  12.  Die  Analyse  der  Persön- 
lichkeit. IV.  Prof.  D.  W.  Weygandt,  Direktor  der  Irrenanstalt  Friedrichs- 
berg: Probleme  der  Kriminalpsychologie.  V.  Prof.  Dr.  F.  Ahlgrimm, 
Direktor  der  Realschule  am  Weidenstieg:  Das  höhere  Schulwesen  in 
Deutschland.     VI.  Das  deutsche  Volksschulwesen. 


430  Literaturbericht. 


9.  Im  Haraburgiachen  Institut  für  Jugendkunde  wurden  die  fol- 
genden Arbeitsgruppen  gebildet:  1.  Die  spracliliche  und  mathematische 
Begabung  und  ihre  Korrelation.  Obmann:  Dr.  G.  An  schütz.  2.  Die 
geistige  Selbständigkeit  der  Kinder  im  Verhältnis  zu  den  einzelnen  Stoffen. 
Obmann:  Dr.  Th.  Kehr.  3.  Religionsunterricht.  Obmann:  Dr.  P.  Petersen, 
4.  Nachprüfung  der  Anschauungskategorien  und  ihre  psychologische  Er- 
klärung. Obmann:  C.  Götze.  5.  Versuche  zur  Bestimmung  der  Arbeits- 
grenze für  Schultag  und  Schulstunde.  Obmann:  Dr.  Walther.  6.  Unter- 
suchungen über  das  sittliche  Leben  des  Kindes.  Obmann:  Dr.  Boden. 
7.  Sexuelle  Aufklärung.  Obmann:  Prof.  Dr.  Meumann.  Die  Zahl  der 
Mitglieder  der  einzelnen  Gemeinschaften  wird  nicht  beschränkt.  Zahl  und 
Zeit  der  Zusammenkünfte  wie  überhaupt  die  ganze  Arbeitsweise  wird  den 
einzelnen  Gruppen  überlassen.  Das  Institut  nimmt  die  Veröffentlichung 
der  Arbeitsresultate  in  Aussicht. 


Literaturbericht. 
Psychologie  des  Zeicimens. 

2.  Sammelreferat  von  W.  J.  Ruttmann. 

Zur  Nachlese  aus  früher  erschienener  Literatur  seien  einleitend  genannt: 
Lobsien,    Kinderzeichnung  und  Kunstkanon,    Zeitschr.    f.  päd.  Psych.    1905. 

S.  393—404. 
E.  Ivanoff,  Rercherches  experimentales  sur  le  dessin  des  ecoliers  de  la  Suisse 
romande.      Correlation    entre    l'apitude    au    dessin   et   les   autres    apitudes. 
Arch.    de  Psych.  VIII  97—156.    1908.    Vgl.   auch    die  Arbeit   von  Katzaroff, 
a.  a.  O.  Bd.  IX. 
G.  Rouma,  Le  Langague  Graphique  de  l'Enfant.    Brüssel  1912  (vgl.  die  bereits 

erfolgte  Besprechung  in  dieser  Zeitschrift  *). 
G.  H.  Luquet,  Le  premier  Age  du  Dessin  enf antin.    Arch.  d.  Ps.  XII. 
G.  H.  Luquet,  Les  Dessins  d'un  Enfant.    Paris  1913. 

Kinderzeichnungen  finden  sich  auch  in  den  Kindertagebüchern  von  Shinn 
(übers,  von  Gladbach- Weber,  Langensalza  1905),  Körperliche  und  geistige  Ent- 
wicklung eines  Kindes;  Scupin  (Leipzig  1907/10),  Bubis  erste  Kindheit; 
K.  W.  Dix  (Leipzig  1912),  Körperliche  und  geistige  Entwicklung  eines  Kindes, 
2.  Heft;  endlich  sei  noch  genannt  Ament,  Die  Entwicklung  von  Sprechen  und 
Denken  beim  Kinde  (Neudruck,  Leipzig  1912),  worin  die  Kinderzeichnungen  als 
Quelle  der  Erkenntnis  kindlicher  Vorstellungen  charakterisiert  werden.  — 

I. 

Das  Kinderzeichnen  fand  zum  ersten  Male  Beachtung  durch  geschulte  Zeichen- 
lehrer auf  dem  IV.  Kongresse  für  Zeichen-  und  Kunstunterricht,  woselbst  Aus- 
stellungen und  Vorträge  auf  die  psychologische  und  pädagogische  Bedeutung  der 
Kinderzeichnung  hinwiesen.  Seit  dem  Jahre  1912  ist  zu  beobachten,  daß  die 
Kinderzeichnung  Aufnahme  in  die  methodischen  Arbeiten  über  Zeichnen  findet. 
Beispiele  dafür  sind:  Fauth -Finkbeiner,  Grundlagen  des  Zeichen-  und 
Kunstunterrichts  (Stuttgart  1913),  wo  dem  Referenten  Gelegenheit  gegeben  wurde, 
in  kurzem  Umriß  die  Entwicklung  der  zeichnerischen  Begabung  darzustellen  (vgl. 
auch  Art  et  Dessin  I.  Jahrg.  1.  Heft,  S.  21  ff.);  ferner  Ernst  Weber,  Zeichnerische 


1)  Vgl.  Jahrg.  XIII,  8.  Heft  dieser  Zeitschr.,  sowie  das  Literaturverzeichnis 
zu  der  Schrift  des  Verfassers  ,J)ie  Ergebnisse  der  bisherigen  Untersuchungen  zur 
Psychol.  d.  Zeichnens"  (Leipzig  1911). 


Literaturbericht.  431 


Gestaltung  und  Bildungsarbeit  (Hannover  1913),  worin  ein  eigener  Abschnitt  die 
Psychologie  der  zeichnerischen  Gestaltung  behandelt  und  auch  die  Psychologen 
mit  ihren  Forschungsergebnissen  aufzeigt;  endlich  sei  auf  den  überaus  großzügigen 
V^ersuch  des  Wieners  A.  Kunzfeld,  Naturgemäßer  Zeichen-  und  Kunstunterricht 
(Wien  1912/13,  bisher  4  Hefte)  verwiesen.  Kunzfeld  gründete  den  genannten 
Lehrgang  auf  die  tatsächliche  zeichnerische  Gestaltungskraft  des  Kindes.  Er  hat  in 
systematischer  Weise  ausgeführt,  was  schon  Eisner  in  seinem  Werke  andeutete.  Für 
die  Kinderpsychologie  enthält  das  sehr  reich  und  bunt  illustrierte  Werk  außer- 
ordentlich viel  Material.  Das  Geschick  des  einzelnen  Lehrers  ist  es  natürlich 
immer,  das  Kind  von  „seiner"  Kunst  zur  Kunst  der  Kultur  hinüberzuführen, 
um  die  verhängnisvolle  Klippe  zu  umschiffen,  welche  durch  die  sich  allmählich 
im  Kinde  entwickelnde  Erkenntnis  des  Leistungsunterschieds  gegeben  ist.  Auf 
jeden  Fall  ist  die  Methode,  die  natürliche  Zeichnung  als  Ausgang  zu  nehmen, 
psychologischer  und  darnach  pädagogischer  als  einige  neue  Versuche  moderner 
Zeichenmethodiker,  mittels  des  technischen  Reizes  die  Kinderseele  zu  erobern. 
Der  Referent  denkt  hier  an  das  Werk  des  Nürnberger  Zeicheninspektors  Möhring 
(Das  Gedächtnis-  und  Naturzeichnen  in  der  Volksschule,  Nürnberg  1913).  Die 
Pracht  der  technischen  Leistung  wird  in  gleichem  Sinne  Kind  und  Lehrer  er- 
schrecken lassen  ob  ihres  Unvermögens.  Wenn  nicht  erreicht  werden  kann, 
daß  der  Zeichenunterricht  die  Ausbildung  in  der  graphischen  Ausdrucksform  des 
Menschengeistes  in  die  allgemeine  Volksschule  einführt,  dann  helfen  alle  Reform- 
ideen nichts.  Wir  können  in  der  Volksschule  nicht  den  Fachzeichenlehrer 
brauchen,  denn  gezeichnet  werden  soll  nicht  nur  in  der  technischen  Erläuterungen 
dienenden  Zeichenstunde.  Wir  können  auch  nicht  von  jedem  Lehrer  eine  dem 
in  der  Reform  gedeichten  Zeichenunterricht  entssprechende  Befähigung  fordern. 
Aber  ein  Ergebnis  der  Begabungsforschung  läßt  sich  verraten  und  praktisch 
ausbeuten:  Die  freie  Zeichnung  ist  nicht  der  Ausfluß  einer  außerordentlichen 
Begabung,  sondern  das  Produkt  einer  psychologisch  umhegten  Schulung,  die 
sich  für  die  Leistung  des  Kindes  mehr  reguliernd  denn  normierend  zeigt.  Die 
Kindesleistung  ist  gering,  aber  ihre  elementare  Form  im  einen  Sinne  wie  ihre 
anschauliche  erlebte  Kraft  im  anderen  Sinne  müßte  unseren  Zeichenmethodikern 
die  Augen  öffnen.  Ein  jüngstes  Verdienst  kommt  hier  sicherlich  dem  von 
der  „Bugra"  herausgegebenen  Buche  „Das  Kind  und  die  Schule"  zu,  welches 
an  mehreren  Stellen  eingehend  auch  die  Kunst  des  Kindes  und  das  Zeichnen 
behandelt. 

Die  Kinderzeichnung  hat  einen  Triumph  erlebt  in  dem  Versuche  Bechterews, 
sie  „als  bildliches  Schreiben  der  Kinder"  zu  einem  wichtigen  methodischen 
Mittel  der  „objektiven  Psychologie"  (Leipzig.  Teubner,  1913)  zu  gestalten. 
Bechterew  will  an  der  Kinderzeichnung  folgende  Eigentümlichkeiten  berück- 
sichtigt wissen:  1)  Die  mehr  oder  weniger  große  Regelmäßigkeit  der  Linien,  als 
Ausdruck  der  Koordination  der  Fingerbewegungen.  2)  Die  größere  oder  geringere 
Kompliziertheit  der  Zeichnung,  als  Ausdruck  des  mehr  oder  weniger  entwickelten 
Vermögens  der  bildlichen  Darstellung  der  Umgebung  und  der  Phantasiegebilde. 
3)  Die  größere  oder  geringere  Übereinstimmung  des  Dargestellten  mit  der 
Wirklichkeit,  als  Ausdruck  des  Nachahmungsvermögens.  4)  Die  größerere  oder 
geringere  Exaktheit  in  der  Darstellung  der  Wirklichkeit  im  Zusammenhange 
mit  der  Beobachtungszeit,  als  Ausdruck  des  Reproduktionsvermögens,  ß)  Die 
größere  oder  geringere  Vollständigkeit  in  der  Ausführung  des  Themas,  das 
sich  das  Kind  selbst  gestellt  hat  oder  das  ihm  von  anderen  gestellt  werde, 
als  Ausdruck  der  Weite  seines  Gesichtskreises  und  der  Mannigfaltigkeit  seiner 
Xcuropsycho.  6)  Die  größere  oder  geringere  Exaktheit  in  der  Darstellung  des 
erzählten  Ereignisses,  als  Ausdruck  des  Beobachtungsvermögens.  7)  Die  Er- 
scheinungen der  schöpferischen  Kraft  in  der  kindlichen  Zeichnung,  als  Ausdruck 
der  sogenannten  Kombinationsfähigkeit.  8)  Die  größere  oder  geringere  Aus- 
arbeitung und  Darstellung  der  Teile,  als  Ausdruck  des  Analysierungsvermögens. 
9)  Die  individuellen  Eigenschaften  der  kindlichen  Zeichnung,  die  von  den  ständigen 
äußeren  Lebensbedingungen  des  Kindes  abhängen.     10)  Die  Eigentümlichkeiten 


432  Literattirbericht. 


des   Charakters    der    Kinderzeichnungen    im    Zusammenhang  mit   äußeren  oder 
innern  temporären  Bedingungen,  welche  auf  das  Kind  einwirken.  — 

Auch  die  psychologische  Forschung  im  engeren  Sinne  hat  sich  nach  dem  "Vorgange 
Meumanns  dem  Zeichenproblem  genähert.  In  Meumanns  Institut  für  Jugend- 
kunde werden  nach  dem  von  ihm  auf  dem  IV.  Kongresse  zu  Dresden  gegebenen 
Programm  Untersuchungen  veranstaltet,  wozu  Peter  in  der  vorliegenden  Zeit- 
schrift einen  einleitenden  Bericht  gibt  (XV.  Jahrg.  2.  Heft).  Ebenso  versuchte 
Meßmer  („Der  zeichnerische  und  der  sachUche  Blick",  Deutsche  Schule, 
XVII.  Jahrg.  S.  143  ff.)  eine  Analyse  der  psychologischen  Voraussetzungen  des 
Zeichnens,  indem  er  auf  die  Eigenart  des  zeichnerischen  Blickes  gegenüber  dem 
sachlichen  hinweist.  Dem  Kinde  ist  an  sich  der  sachliche  Blick  eigen,  es  zeichnet 
ja  bekanntlich  zunächst  nur,  was  es  weiß,  und  muß  erst  zum  zeichnerischen 
Blicke  erzogen  werden.  Diese  Gegenüberstellung  erst  gibt  den  richtigen  Gesichts- 
punkt für  das  Verhältnis  der  Zeichentechnik  zum  Kinde.  Zeichnerischer  Blick 
ist  entschieden  eine  Veranlagung,  aber  er  kann  bis  zu  gewissen  Grenzen  adäquat 
dem  Grade  der  Veranlagung  ausgebildet  werden.  Die  Diskussion  der  künst- 
lerischen Begabung  und  Erziehung  des  Kindes  hat  gezeigt,  daß  das  Kind  auf 
jeden  Fall  zum  sachlichen  Darstellen  gebracht  werden  kann,  die  zeichnerische 
Seite  kann  aber  nach  Meßmers  Meinung  durch  technische  Anleitung,  wie  sie  z.  B. 
im  Kopieren  gegeben  ist,  gefördert  werden.  Dabei  möchte  Meßmer  das  Kopieren 
nicht  als  Selbstzweck  beachtet  wissen,  ebensowenig  wie  Ernst  W^eber,  der  in  seinen 
bekannten  technischen  Anleitungen  Wege  zur  Verselbständigung  der  Technik  gibt. 
Maunz  (a.  a.  O.  S.  220  ff.)  versucht  in  einer  Entgegnung  die  Aufgabe  des  Zeichen- 
unterrichts so  zu  formulieren,  daß  er  nicht  nur  den  Zweck  hat,  zum  zeichnerischen 
Sehen  der  Gegenstände  anzuleiten,  wie  Meßmer  meint,  sondern  daß  er  auch 
„den  Willen  zum  richtigen  Sehen  und  die  Fähigkeit  zum  vorurteilslosen,  richtigen 
Sehen"  auszubilden  hat,  und  deshalb  komme  dem  Kopieren  nicht  nur  eine  „auch" 
förderliche,  sondern  eine  wesentliche  Bedeutung  zu.  Auch  hier  kann,  wie  in  vielen 
pädotechnischen  Fragen,  nur  das  exakte  Experiment  entscheiden,  das  bis  jetzt 
noch  nicht  gemacht  ist  und  erst  möglich  werden  wird  nach  genauerer  Analyse 
der  Zeichenvorgänge,  wie  sie  Meumann  und  seine  Schüler  durchzuführen  suchen. 

Für  die  Psychologie  des  Zeichnens  ist  schließlich  auch  noch  von  Interesse 
die  ethnologische  Seite  des  Problems.  Vierkandt  nennt  in  einer  Arbeit  über 
„Das  Zeichnen  der  Naturvölker"  (Zeitschr.  f.  angew.  Psych.  VI,  S.  299 — 373)  einen 
Zeichentypus  „der  Andeutung",  wie  er  vor  allem  als  primitivste  Äußerung  in  den 
Felszeichnungen  vorliegt.  Wenn  diese  Zeichnungen  (vgl.  die  Sammlung  von 
Th.  Koch-Grüneberg,  Südamerkanische  Felszeichnungen,  Stuttgart  1907)  auch 
mit  der  ersten  Periode  der  kindlichen  Entwicklung  verglichen  werden  können,  so 
liegt  doch  nach  Vierkandt  ein  wesentlicher  Unterschied  darin,  „daß  beim  Kinde 
die  Kenntnis  der  Lage  und  Gestaltsverhältnisse  viel  geringer  und  unklarer  und 
seine  rein  technische  Fähigkeit  ihrer  Wiedergabe  viel  schwächer  ist".  Als 
zweiten  Typus  unterscheidet  Vierkandt  Zeichnungen  beschreibenden  Charakters. 
Er  findet  sich  bei  allen  Naturvölkern  der  Erde  verbreitet.  Schema,  gemischtes 
Profil,  falsche  Lokalisation,  Auswahl  von  Einzelheiten  ohne  Rücksicht  auf  die 
Komplexdarstellung,  nur  selten  Szenendarstellung,  fast  ausschließliche  Dar- 
stellung von  Tieren  und  Menschen  (also  keine  Pflanzen)  sind  charakteristisch. 
Die  beiden  genannten  Stufen  findet  auch  R.  Thurnwald  in  seinen  ethno-psycho- 
logischen  Studien  an  Südseevölkern  auf  dem  Bismarckarchipel  und  den  Salomon- 
inseln  (6.  Beiheft  z.  Zeitschr.  f.  angew.  Psychologie  S.  71).  Wie  Vierkandt  als 
dritten  Typus  ein  anschauungsmäßiges  Zeichnen  bei  den  Naturvölkern  erkennt, 
so  nennt  Thurnwald  einen  kombinatorischen  Typus.  Beide  sind  Fortschritts- 
typen. Gerade  wie  wir  beim  Kinde  diesen  dritten  Typus  zu  einer  außerordent- 
lichen Entfaltung  bringen  können  (vgl.  die  Abbildungen  in  dem  Aufsatze  des 
Referenten  in  Art  et  Dessin),  so  ist  dies  auch,  nur  in  beschränktem  Maße,  bei 
einigen  Naturvölkern  in  der  ethnologischen  Zeichenkunst  zu  beobachten.  Die 
Typen  zeigen  eine  Entwicklungstendenz  vom  Subjektiven  zum  Objektiven.  Ihnen 
allen   steht  gegenüber  das  „Nutzzeichnen",   womit  Vierkandt  alles  zweckmäßige 


Literatlirbericht. 


433 


Zeichnen,  wie  es  im  ritualen  Zeichnen,  dem  mitteilenden  Zeichnen  und  dem 
Ornament  zum  Ausdruck  kommt.  „Das  Nutzzeichnen  aber  erhebt  sich  be- 
sonders selten  über  den  Typus  der  bloßen  Andeutung."  Die  überaus  reichen 
Ergebnisse  der  Untersuchungen  von  Vierkandt  und  Thurnwald  fordern  zu 
einem  eingehenden  Vergleich  mit  den  Beobachtungen  an  Kinderzeichnungen 
heraus,  wobei  sich  manches  Problem  der  phylogenetisch-ontogenetischen  Parallele, 
wie  sie  uns  vor  allem  Lamprecht  bot,  korrigiert  und  manches  aber  auch  sehr 
weitgehende  psychologische  Begründung  erhält.  Es  sei  dieser  neue  wertvolle 
Gang  der  Forschung  damit  nur  angedeutet.  —  In  Ergänzung  der  genannten 
Studien  muß  noch  hingewiesen  werden  auf  die  „Vorschläge  zur  psychologischen 
Untersuchung  primitiver  Menschen",  welche  vom  Institut  für  angewandte  Psy- 
chologie gesammelt  und  herausgegeben  wurden  (5.  Beiheft  der  Zeitschr.  f.  angew. 
Psych.  Leipzig  1912),  worin  Vierkandt  (S.  83 — 90)  Gesichtspunkte  zur  Untersuchung 
gibt.  Schließlich  sei  auch  noch  eine  Säemannschrift  (No.  2,  Leipzig  1912)  genannt 
von  Luise  Potpeschnigg,  „Aus  der  Kindheit  bildender  Kunst,"  in  der  sich  die 
Verfasserin  in  zusammenfassender  Weise  über  die  Parallele  von  Kunstentwicklung 
und  Jugendkunst  äußert,  wobei  sehr  interessante  Versuchsbeispiele  zum  Aus- 
gangspunkt der  Betrachtungen  über  Wesen  und  Entwicklung  der  kindlichen 
Darstellung,  das  Verhältnis  der  Pleistik  zur  Malerei,  die  Entwicklung  der  kind- 
lichen Plastik  und  die  Entstehung  des  Ornaments  genommen  werden. 

n. 

An  besonderen  wissenschaftlichen  Untersuchungen  des  Kinderzeichnens  sind 
nur  wenige  neue  Arbeiten  zu  verzeichnen.  Nur  hingewiesen  sei  auf  die  hoch- 
interessante Studie  Rudolf  Lindners  „Moralpsychologische  Auswertung  freier 
Kinderzeichnungen  von  taubstummen  Kindern",  die  in  dieser  Zeitschrift  erschienen 
ist  {XV,  3.  Heft).  Eine  Reihe  beachtenswerter  Tatsachen  bot  die  Ausstellung  des 
III.  Deutschen  Kongresses  für  Jugendkunde  und  Jugendbildung  (Katalog  dazu 
bei  Teubner,  Leipzig;  Arbeiten  7  des  Bundes  für  Schulreform)  mit  Bezug  auf 
das  Problem  der  Geschlechter.  Nagy  gruppierte  aus  einer  größeren  Anzahl  von 
Kinderzeichnungen  Typen,  die  in  ihrer  Verteilung  auf  Alter  und  Geschlecht  aus 
folgender  Tabelle  ersichtlich  sind: 


Alter  «/o  Typus 

8 

9 

10 

11 

12 

Mittel- 
zahl 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

M. 

K. 

K. 

Realistischer  Typus 
Ästhetisclier  Typus 
Mit  Komposition    . 
Ausdruck    der   Be- 
wegung .... 

42 

57,8 
25 

33,3 

20 
80 
42,8 

16,7 

70,3 
29,6 
78 

60 

8 
92,1 
46,8 

15,8 

64,3 
36,7 
70 

92,8 

6 
94.1 
68,6 

13,4 

54 

45,9 

80 

81,8 

4,5 
94,2 
64,4 

33,3 

66,6 
33,3 
66 

76 

3,4 
96,6 
34 

46,2 

59,4 
40,5 
66 

75 

5,2 
94,8 
60 

26 

Eingehend  ist  noch  zu  referieren  über  zwei  Untersuchungen,  wovon  die  eine  die 
Fortführung  von  Muths  Studien  über  das  Ornament  („Über  Ornamentations- 
versuche  mit  Kindern  im  Alter  von  sechs  bis  zehn  Jahren",  Zeitschr.  f.  angew. 
Psych.  Bd.  VIL  S.  223—270,  Bd.  VIII,  S.  607—648;  vgl.  Bericht  über  den  ersten 
Teil  aus  Bd.  VI  der  Zeitschr.  f.  angew.  Psych.,  in  dieser  Zeitschr.  XIII,  8.  Heft) 
enthält  und  die  andere  von  P.  A.  Wagner  ,J)a8  freie  Zeichnen  von  Volksschul- 
kindern" (Zeitschr.  f.  angew.  Psych.  Bd.  VIII,  S.  1—70)  erforscht.  Muth  ergänzte 
zimächst  seine  Untersuchung  durch  Vorgleichsmaterial,  das  von  2  anderen  Kindern 
stammt.  In  der  Untersuchung  gibt  sich  die  hohe  Bedeutung  der  biographischen 
Methode  kund.  Für  die  Motivenfolge  im  Laufe  der  Entwicklung  stellte  Muth 
bei  den  drei  Kindern  folgendes  fest:  Zuerst  Festhalten  an  den  erst  gewählten 
sog.  geometrischen  Motiven;  b)  alsdann  Verlassen  derselben  mit  Benutzung  von 
Gegenstandsbildorn ;  c)  damit  Variationen  der  Zahl  und  Formbehandlung;  d)  die 

Zeitschrift  f.  pIcUgog.  Psychologie.  28 


434  Literatvirbericht. 


neuen  Motive  verdrängen  die  alten;  e)  wenn  auch  deshalb  die  alten  noch  auf- 
tauchen ;  f )  beim  Knaben  zeigt  sich  deutlich  Suchen  nach  neuen  Motiven  und  nach 
Wechsel  der  Motive,  die  Mädchen  halten  am  geometrischen  Ornamentsfond 
fest.  Es  läßt  sich  somit  eine  Stufe  der  sogenannten  geometrischen  Motive  von 
einer  fast  zu  deutlich  als  Gegenstände  zu  erkennenden  Motive  unterscheiden. 
In  einer  dritten  Studie  zieht  Muth  auch  noch  einen  Massenversuch  heran,  der 
in  einer  gut  organisierten  achtklassigen  Volksschule  gemacht  wurde.  Auch  hier 
mußten  die  Kinder  den  Kerschensteinerschen  Tellerversuch  und  die  Verzierung 
eines  Schildes  ausführen.  Die  quantitativen  Altersunterschiede  berechnet  Muth 
aus  dem  Material  Kerschensteiners,  das  gegenüber  dem  des  Verfassers  erheblich 
größer  und  ihm  daher  wichtiger  als  Grundlage  schien.  Darnach  nehmen  die  un- 
rhythmischen Leistungen  immer  mehr  ab  und  die  rhythmischen  immer  mehr  zu. 
Die  Mädchen  sind  den  Knaben  voraus.  Die  qualitativen  Unterschiede  bestimmt 
Muth  nach  den  eigenen  Versuchen.  Bei  den  Sechsjährigen  „wurden  vorherrschend 
lineare  und  geometrische  Motive  einfacher  Art  in  geschickter,  oft;  origineller 
Weise  angeordnet";;  die  Lust  an  rhythmischer  Betätigung  tritt  stark  hervor.  Bei 
den  Achtjährigen  spielt  bereits  „der  Inhalt  des  Gegenstandes  eine  ausschlag- 
gebende Rolle".  Für  die  Zwölfjährigen  gelten  alsdann  folgende  Eigentümlichkeiten : 
Deutliche  Fertigkeit  und  Sicherheit  in  der  Zusammenstellung  der  rhythmischen  Reih- 
ungen. Verwendung  von  ornamental  geeigneten  Formen  (vor  allem  Pflanzenmotive), 
Verzicht  auf  den  im  vorhergehenden  Alter  gehegten  Eigenwert  der  Zierleistung, 
freiheitlichere  Behandlung  der  Fläche.  Schwankungen  im  Tempo  der  ornamen- 
talen Entwicklung  hatte  bereits  Kerschensteiner  festgestelt.  Ihnen  parallel  laufen 
die  Ergebnisse  Muths,  der  wie  Kerschensteiner  einen  Rückschritt  der  Knaben  an  der 
unteren  Grenze  der  Oberklasse  feststellte.  Muth,  der  sich  in  anderen  Arbeiten  sehr 
eingehend  mit  der  ethnologischen  Ornamentik  befaßte,  vergleicht  im  phylogene- 
tischen und  ontogenetischen  Sinne  alsdann  die  vier  Entwicklungsstufen  der  ,4inea- 
ren"  und  „geometrischen"  Ornamentik,  die  Stufe  schematischer  Gegenstandsformen 
und  die  Stufe  des  sich  entwickelnden  Pflanzenornaments  und  der  sich  aufbauenden 
organischen  Tierornamentik.  Besonders  bedeutsam  erscheint  für  die  Art  des 
Entwicklungsverlaufs  die  Erscheinung,  daß  der  Wechsel  der  Stufen  nicht  gleich- 
mäßig ohne  Zission  sich  vollzieht.  „Der  Übergang  geschieht  geradezu  stoßweise. 
Übergangsbildungen,  die  man  als  Zwischenstufen  zwischen  geometrischen  Formen 
und  Bildern  von  Gegenständen  bezeichnen  könnte,  kommen  selten  vor."  Woher 
die  einbrechenden  Ornamente  der  neuen  Stufe  stammen,  ist  nicht  leicht  zu 
sagen.  Bei  den  Kindern  wird  man  sich  den  Vorgang  so  zu  denken  haben,  daß 
sie  bei  ihrem  geistigen  Wachstum  die  Formenwelt  immer  intensiver  erfassen  und 
sozusagen  einen  Fond  realistischer  Formen  ansammeln,  noch  während  sie  mit 
primitiven  Motiven  verzieren.  Diese  neue  Motive  häufen,  ja  stauen  sich  und  die 
Stauung  bewirkt  natürlich  dann  die  Plötzlichkeit  des  Einbruchs".  Darauf  er- 
folgt für  Kind  und  Volk  die  Zeit  der  Besinnung  und  Sammlung.  Hierj  stellte 
Muth  Erscheinungen  fest,  die  beim  Kinde  auch  in  der  Sprachentwicklung  be- 
obachtet werden.  Deutlichere  Fortschritte  werden  hier  immer  im  Anschluß  an 
besondere  Ereignisse  beobachtet,  die  in  der  Regel  eine  wesentliche  Erweiterung 
des  geistigen  Besitzes  bedeuten.  Schließlich  verfolgte  Muth  auch  noch  die  Ent- 
wicklung und  die  Charakteristik  der  Geschlechter.  „Die  Mädchen  zeichnen  sich 
durch  geschickte,  oft  feine  bis  kleinliche  Arbeitsweise  aus.  Auch  wissen  sie  auf 
höheren  Stufen  die  belebten  und  unbelebten  Teile  einer  Fläche  gut  zu  einander 
abzustimmen.  Die  Knaben  verhalten  sich  dabei  zugreifend,  idelfach  originell. 
Nicht  selten  wird  der  Wert  ihrer  Arbeiten  durch  Eigenschaften  bestimmt,  die 
außerhalb  des  Ornamentalen  liegen".  Hier  werden  die  so  wertvollen  und  ihr  Gebeit 
vollständig  in  den  Problemen  erfassenden  Untersuchungen  von  Muth  ergänzt  durch 
Ergebnisse  aus  der  Arbeit  von  P,  A.  Wagner.  Fast  nur  für  diej  Ornamentik  gilt 
die  Bevorzugung  des  Mädchens;  bei  anderen  Zeicheninhalten  über-naegen  beim 
Mädchen  die  primitiveren  Zeichenweisen.  Die  Perspektive  entwickelt  sich  bei  ihnen 
bedeutend  langsamer  als  bei  den  Knaben.  Dies  alles  zeigt  sich  besonders  deut- 
lich bei  Hilfsschülern,   die  Wagner  zum  Vergleiche  heranzog.     ,J)ie  Knaben   er- 


Literaturbericht. 


436 


ledigen  50  Proz.  aller  Aufgaben  und  erreichen  damit  fast  den  Normalsatz  der 
Volksschulen  (51  Proz.).  Die  Mädchen  haben  durchschnittlich  nur  40  Proz.  der 
Motive  bearbeitet."  Ausnahmen  bestehen  natürlich  für  reine  Geschlechtsmotive. 
Wagner  führte  den  Sternschen  „Schlaraffenland"-Versuch  mit  Schülern  einer 
kleinen  Stadt  (Waidenburg)  durch  und  konnte  damit  Vergleichsmaterial  zu  dem 
Breslauer  Versuch  gewinnen.  Für  das  Verhältnis  der  ratunlosen  zu  den  per- 
spektivischen Zeichnungen  fand  er  folgende  Zahlen: 


Prozentabnahme  der 
raumlosen  Zeichnungen 

Prozentzunahme  der 
Gesamtbilder 

Knaben 

Mädchen 

Knaben 

Mädchen 

Unterklassen 
Mittelklassen 
Oberklassen 

84 
30 
23 

80 
55 
33 

2 

25 
32 

0^ 
3 
23 

Hieraus  ergibt  sich  zugleich  ein  sehr  schneidiges  Entwicklungstempo  der  Knaben. 
Als  Gesamtergebnis  sei  aus  Wagners  Untersuchungen,  die  eine  nicht  referierbare 
Fülle  von  Einzelheiten  enthalten,  noch  angeführt:  Die  Schüler  haben  sich  nach 
Alter,  Befähigung  und  Fertigkeit  unterschieden.  Sie  fanden  zu  den  15  ver- 
langten Motiven  noch  Ergänzungsmotive  und  Nebenmotive.  Die  räumliche  Dar- 
stellung der  1341  Schüler  ist  nach  der  allgemeinen  Durchschnittsleistung  als 
zufriedenstellend  zu  bezeichnen,  wenn  man  sie  mit  der  Durchschnittsleistung  von 
3812  Großstadtkindern  (Knaben  und  Mädchen)  vergleicht,  die  eine  ähnliche, 
edoch  bedeutend  leichtere  freie  Kinderzeichnung  zu  bearbeiten  hatten".  Nähere 
Ergebnisse  zeigt  die  folgende  Tabelle: 


Durchschnittsleistungen  in  Prozent: 


Volksschulen 

Hilfsschulen 

■Sil 

o  an 

S  ö 

JZ    o 

© 
©   U) 

u 

©^ 

J3:3 

d 

a 

u 
©  © 

S  w 

aben 
Klas 
ahre 

o  © 
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chen 
Klas 
ahre 

II 

s  © 

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03   O 
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© 

1 

J3 

ü 

T3 

Anzahl 

T3      .1-5 

:e8g 

■3  '^ 

CO« 

W 

113 

652 

109 

689 

628 

713 

1341 

12 

11 

23 

[  Raumlos 

44 

43 

76 

53 

55 

40 

48 

33 

73 

55 

Dar- 

Reihe 

28 

17 

21 

23 

18 

23 

20 

50 

27 

38 

stel- 

Bilder- 

lun^s- 

bogen 

14 

18 

2 

13 

6 

25 

16 

17 

0 

8 

weise 

Gesamt- 

bild 

14 

22 

1 

11 

21 

12 

16 

0 

0 

0 

Wagners  Untersuchung  gibt  ein  günstiges  Bild  der  untersuchten  Volksschulen. 
Der  Vergleich  von  Kindern  der  Provinz  und  der  Großstädte  ist  einer  der  ersten 
umfangreichen  Versuche  der  Jugendkundo  überhaupt,  dem  Stadtkind  als  sozialen 
Typus  das  Landkind  entgegenzusetzen.  Es  wird  sich  zwar  nicht  immer  erweisen 
lassen,  daß  das  Landkind  in  vorteilhafter  Position  gegenüber  dem  Stadtkind  sich 
befindet,  doch  werden  derartige  Versuche  zur  Grundlegung  einer  Landschul- 
pädagogik gegenüber  der  vorläufig  herrschenden  und  einfach  auf  das  Lftnd 
übertragenen  Stadtschulpädagogik  fülirfn. 

28* 


436  Einzelbesprechungen. 


Einzelbesprechungen. 

Vorträge     über     wissenschaftliche     und     kulturelle     Probleme     der 
Gegenwart.     Aus    dem    Fortbildungskursus    der    baltischen    literarischen   Ge- 
sellschaft.    Riga  1914.     W.  Mellin.     173  Seiten.  6  M. 
Der  schön  gedruckte  Band  enthält  außer  einer  Einleitung  über  die  Ursachen 
und    die  Leitidee   der  freien  Fortbildungskurse   der  baltischen  literarischen  Ge- 
sellschaft 9  Abhandlungen;  jeder  Redner  des  ersten  Kurses,  der  im  August  1918 
in  Dubbeln  am  Riga'schen  Strand  abgehalten  worden   ist,    hat  ein  innerlich  zu- 
sammenhängendes   Kapitel    aus    seinen   Vorlesungen    zu    einer  Abhandlung    aus- 
gestaltet.    Dem  engeren  Zweck  dieser  Zeitschrift  entsprechend  können  die   Ab- 
handlung von  Adolf  Harnack   (über  wissenschaftliche   Erkenntnis),   Leopold 
V.   Schröder    (die   Arier   und   ihre  Eigenart),   Ludwig  Deubner   (die   ältesten 
Priestertümer  der  Römer),  Ernst  Tröltsch  (die  Restaurationsepoche  am  Anfang 
des    19.   Jahrhunderts),    Karl   Girgensohn  (zur  differentiellen  Psychologie   des 
religiösen  Gedankens),  Bernhard  Harms  (Volkswirtschaft  und  Weltwirtschaft), 
Rausch  von  Traubenberg  (der  heutige  Stand  unserer  phj^sikalischen  Grund- 
anschauungen und  ihre  Stellung  zur  Erkenntnistheorie),  Andreas  vonAntropoff 
(die  chemischen  Elemente  im  Lichte  alter  und  neuer  Forschung)  hier  nur  genannt 
werden.     Es  wäre   aber  gegen  die  Absicht  des  Referenten,  wenn  jemand  daraus 
ein   wenig    empfehlendes    Urteil    herauslesen    wollte.      Ausdrücklich    sei    deshalb 
versichert,  daß  jede  dieser  Abhandlungen  ganz  ausgezeichnet  über  das  Forschungs- 
gebiet   orientiert,    dem    sie   entnommen    ist,    und    insbesondere    in   den  ja  noch 
keineswegs  Gemeingut  der  Gebildeten  gewordenen  neuesten  Stand  derselben  ein- 
führt.    So    zeigen  die   beiden  Naturforscher   die  Veränderung  der  Fragestellung 
in  Physik,  Chemie  und  Naturphilosophie   durch   die   Strahlenforschung  und   die 
Chemie  der  colloidalen  Lösungen,  macht  der  Vertreter  der  ökonomischen  Wissen- 
schaften mit  der  so  bedeutungsvollen  weltwirtschaftlichen  Fragestellung  und  Be- 
trachtungsweise  der  Wirtschaftsverhältnisse  bekannt,  führt  Girgensohn  in  das 
methodisch  noch  vielfach  unsichere,  aber  an  reizvollen  und  wichtigen  Problemen 
überreiche  Neuland  der  Religionspsychologie  ein.    Es  ist  das  auszeichnende  Merk- 
mal dieses  Bandes,  das  ihn  auch  aus  der  Bücherproduktion  des  Deutschen  Reiches 
heraushebt  und  ihm  sicher  überall  Leser  verschaffen  wird,  daß  gerade  der  neuste 
Stand  einer  so  beträchtlichen  Anzahl  von  wissenschaftlichen  und  kulturellen  Fragen 
so  sachgemäß  und  zugleich  ohne  die  Ansprüche  fachwissenschaftlicher  Vorkennt- 
nisse behandelt  wird.   Ich  wüßte  keine  Sammlung  zu  nennen,  die,  ähnlich  reich  und 
ansprechend,  den  Gebildeten  vertraut  macht    mit  großen    geistigen   Strömungen, 
zu  denen  er  nicht  ohne  weiteres  den  Zugang  besitzt. 

Eine  Abhandlung  speziell  ist  es,  die  bei  dem  vorzugsweise  pädagogisch 
orientierten  Interesse  dieser  Zeitschrift  hier  eingehende  Würdigung  erfahren  kann 
und  soll:  die  Ausführungen  von  Aloys  Fischer  (München),  über  die  Lage 
der  höheren  Schule  in  der  Gegenwart  und  ihre  Aufgabe  in  der 
Zukunft. 

Die  Einleitung  sondert  die  vielfach  verschlungenen  Motive  der  Reformbe- 
wegung, besonders  der  ersten  Etappe  von  Entwürfen  und  Arbeiten  zur  Umge- 
staltung der  höheren  Schule,  und  zeigt,  daß  die  heutigen  Typen  derselben 
(Gymnasium,  Realgymnasium.  Oberrealschule)  und  ihre  äußerliche  Gleichberech- 
tigung kein  endgültiger  Abschluß  der  Reformbewegung  sein  können. 

In  tiefdringender  Analyse  werden  sodann  die  wesentlichen  Bedeutungen  des 
Wortes  „höher"  in  Verbindung  mit  dem  Wort  „Schule"  geklärt,  und  die  „höhere 
Schule"  umrissen  als  „Schule  der  höheren  Begabungen",  als  „Vorschule 
der  höheren  Berufe",  als  „Erziehungsanstalt",  weniger  der  als  vielmehr 
zu  den  höheren  Ständen.  Die  Denkmotive  und  Organisationsprinzipien  jeder 
dieser  drei  Auffassungen  von  Wesen  und  Aufgabe  der  höheren  Schule  sind  an 
sich  selbständig ;  in  dem  bisherigen  Werdegang  der  höheren  Schule,  sowie  in  den 
gegenwärtigen  Reformversuchen  sind  Tendenzen  erkennbar,  entweder  eines  der 
Organisationsprinzipien  rein  durchzuführen  oder  einen  neuen  wertgemäßen  Aus- 


^inzelbesprechungen.  437 


I 


gleich  derselben  zu  finden.  Die  mehr  angedeutete  als  durchgeführte  Kritik  des 
Gedankens  der  Begabungsschule  wie  der  Berufsschule  führt  den  Verfasser  dazu, 
als  wesentliche  Aufgabe  einer  höheren  Schule  die  Erziehungsaufgabe  zu  erfassen, 
und  demgemäß  für  alle  jene  Reformen  Partei  zu  ergreifen,  welche  auf  eine  vor- 
nehme Erziehung  und  Höherbildung  des  Charakters  abzielen,  nicht  die  letzten 
Endes  durch  außererziehliche  Zweckgedanken  empfohlene  Ausbildung  der  In- 
telligenz oder  gar  die  vorwiegend  utilitaristisch  motivierte  Vorbereitung  auf  Beruf 
und  Erwerb  überordnen. 

In  der  Analyse  des  Zieles  der  höheren  Erziehung  als  einer  solchen,  die  zu 
verantwortungsbewußtem  und  differenziertem  Wertleben  führt,  gipfeln  die  Aus- 
führungen. Es  wird  zwischen  den  verschiedenen  Verhältnissen  genau  unterschieden, 
in  denen  ein  Mensch  zu  den  Werten  stehen  kann  —  von  Werten  nur  wissen, 
Werte  fühlen,  Werte  haben  —  und  es  wird  der  konstante  Wille  zum  Wert  als 
innerster  Bestand  jeder  der  heute  üblichen  Formulierungen  des  Erziehungszieles 
aufgewiesen,  als  Kern  sowohl  dessen,  was  wir  prägnant  Charakter  nennen,  wie 
auch  als  Grundvoraussetzung  des  Kulturprozesses  —  soweit  dieser  von  den 
daran  beteiligten  Personen  erlebt  und  getragen  wird. 

In  einem  —  nur  skizzierten  —  Schlußabschnitt  werden  die  bestehenden 
Typen  höherer  Schulen  und  die  erkennbaren  Reformtypen  daraufhin  geprüft, 
wieweit  sie  durch  Lehrplan,  Methodik,  Satzungen  und  Unterrichtsbetrieb  geeignet 
sind,  eine  solche  Erziehung  zu  leisten,  und  wird  die  große  erzieherische  Bedeutung 
unserer  eigenen  klassischen  Kultur  gewürdigt.  Freilich  muß  ihre  pädagogische 
Ausnutzung  erst  noch  zum  größten  Teil  erfolgen. 

Die  Abhandlung  ist  vorzüglich  geeignet,  über  die  Fragen  der  inneren  Reform 
der  höheren  Schule  und  die  Linien  ihrer  zukünftigen  Entwicklung  zu  informieren ; 
schade  ist,  daß  die  Kürze  vielfach  eine  zu  gedrängte  wird,  es  ist  sogar  zu  fürchten, 
daß  sie  Mißverständnissen  begegnen  wird;  man  möchte  wünschen,  daß  ganz  ver- 
schwiegene, nur  zwischen  den  Zeilen  oder  in  Nebenbemerkungen  angedeutete 
Überlegungen  ausführlich  mitgeteilt  wären;  aber  vielleicht  war  es  gerade  diese 
Prägnanz,  die  den  Verfasser  als  Problem  der  Darstellung  so  verwickelter  Fragen, 
wie  es  die  Schulprobleme  der  Gegenwart  sind,  gereizt  hat. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  Hans  Henning,  Assistent  am  psychologischen  Institut  der  Akademie  zu 
Frankfurt  a.  M.,  DerTraum,einassoziativerKurzschluß.  Wiesbaden  1914. 
Verlag  von  J.  F.  Bergmann.     66  Seiten. 

Ohne  zu  dem  Inhalt  des  schlicht  und  anregend  geschriebenen  Schriftchens 
Stellung  zu  nehmen,  sei  bemerkt,  daß  der  Verfasser  auf  Grund  seiner  Unter- 
suchungen an  65  Personen  —  zumeist  Akademikern  —  der  Freud'schen  Traum- 
deutung scharf  zu  Leibe  geht,  daß  er  in  dieser  kritischen  Einstellung  die  ver- 
schiedenen Formen  und  Inhalte  des  Traumbewußtseins  —  wie  Fallen,  Fliegen  und 
Schweben;  Unvermögen  des  Gehens  und  Schreibens;  Träumen  vom  Examen,  vom 
Sport  usw.  —  unter  Einstreuung  belegender  Traumbefunde  durchgeht  und  daß 
er  mit  seiner  Theorie  des  assoziativen  Kurzschlusses  nicht  auf  eine  metaphysische 
Deutung  des  Traumes,  sondern  auf  eine  gehirnphysiologische  Arbeitshypothese 
hinaus  will. 

Zittau.  PaulFicker. 

Dr.  Hermann  Sandt,  Stadtschulinspektor  in  Charlottenburg,  Die  Pädagogik 
Wi ehern 8.  Ihre  Grundgedanken  und  deren  Bedeutung  für  die  modernen 
pädagogischen  Probleme.  Verlag  von  Julius  Klinkhardt.  Leipzig  1914.  270  S. 
Geh.  5,60  M. 

Die  Tatsache,  daß  diese  Schrift  neben  ihrer  historischen  Einstellung  sich  be- 
strebt, aus  der  Pädagogik  Wichems  besonders  die  Züge  kräftig  herauszuarbeiten, 
die  in  unserem  modernen  pädagogischen  Denken  wieder  zu  finden  sind  —  wie 
die  Entbindung  lebendiger  KreJt  durch  handelnde  Selbstbetätigung,  die  Bildung 


438  Einzelbesprechungen. 


tatbereiter  Gesinnung  usw.  — ,  mag  es  rechtfertigen,  auch  in  einer  pädagogisch- 
psychologischen Zeitschrift  der  gehaltvollen  Arbeit  Sandt's  ein  empfehlendes 
Wort  zu  sagen. 

Leipzig.  Lic.  Paul  Krüger. 

O.  V.  d.  Pfordten,  Das  Gefühl  und  die  Pädagogik.    Heidelberg  1914.    Carl  Winters 
Universitätsbuchhandlung.     VII  u.  133  S.     3,40  M. 

Der  Verfasser  will  die  psychologische  Natur  des  Gefühls  feststellen  und 
kommt,  indem  er  alle  fremdartigen  Elemente,  mit  denen  es  sich  im  konkreten 
Zusammenhange  des  psychischen  Geschehens  kompliziert,  absondert,  zu  dem  Er- 
gebnisse: „Gefühl  ist  das  Intensive  an  den  Vorstellungen;  diese  aber  und  nur 
diese  sind  das  Qualitative,  das  Verschiedene  .  .  .  Das  Gefühl  kann  ab-  und  zu- 
nehmen, stärker  und  schwächer  sein  und  verschieden  lange  Zeit  dauern.  Das 
Gefühl  ist  also  Intensität,  besitzt  Dauer  —  aber  keine  Qualität  .  .  ."  „Den  In- 
halt des  Gefühls  gibt  die  Vorstellung  (aus  Sinnesempfindung,  Gedächtnis  oder 
Phantasie);  das  Gefühl  bildet  nur  eine  kontinuierliche  Skala  wie  die  Temperatur" 
(S.  30). 

Die  Intensität  soll  aber  nicht  etwa  als  eine  bloße  objektive  Eigenschaft  der 
Vorstellungen  gedacht  werden,  sondern  als  ein  zentraler  subjektiver  Faktor,  der 
sich  abwechselnd  auf  verschiedene  Vorstellungskomplexe  verteilt  und  sie  so  nach- 
einander ins  Bewußtsein  hebt.  Damit  wird  die  Intensität  der  Aufmerksamkeit 
gleichgesetzt,  und  zwar  in  ihrer  passiven  Form,  während  die  aktive  Sache  des 
Willens  ist  (S.  41).  Als  Gefühl  erweist  sie  sich  indessen,  indem  sie  die  Komplexe 
zugleich  mit  „Wärme  erfüllt"  (S.  38). 

Das  Eigentümliche  der  hier  gebotenen  Theorie  scheint  mir  darin  zu  bestehen, 
daß  das  Gefühl  nach  derselben  ein  intellektuelles  Moment  enthält,  vermöge 
dessen  wir  die  (durch  die  Sinne  vermittelten)  Empfindungen  auffassen  und  zu 
einem  Vorstellungskomplex  (Dingvorstellung  bezw.  menschliche  Individualität) 
zusammenfassen,  ein  subjektiver  Vorgang,  der  jedoch  zugleich  jeweils  von  einer 
bestimmten  Intensität  begleitet  ist  (S.  37 — 38). 

Aus  der  Intensität  der  Vorstellungen,  die  an  sich  doch  nur  eine  formelle  Be- 
stimmtheit bezeichnet,  läßt  sich  aber  der  qualitative  Charakter,  den  wir 
dem  Gefühl  beizumessen  gewohnt  sind,  noch  nicht  erklären;  er  deutet  vielmehr 
auf  eine  spezifische  Bewußtseinsanlage  hin. 

Der  Grund,  weshalb  der  Verfasser  das  Gefühl  auf  das  Vorstellungsgebiet  be- 
schränkt haben  will,  scheint  mir  darauf  hinauszulaufen,  daß  er  dasselbe  als  ein 
rein  subjektives  Bewußtseinsphänomen  festzustellen  und  vom  Denken  und  Wollen 
als  spezifisch  gefühlsleeren  und  deshalb  die  Subjektivität  ausschließenden  psychi- 
schen Faktoren  grundsätzlich  zu  trennen  wünscht,  um  auf  die  letzteren  absolute 
Normen  gründen  zu  können,  die  auf  dem  von  ihm  vertretenen  Standpunkte 
der  wissenschaftlichen  und  religiösen  Erkenntnis  eine  ausschlaggebende  Rolle 
spielen.  Jedenfalls  wird  bei  dieser  Erklärung  das  Gefühl  nach  seiner  Bedeutung 
als  Motiv  für  die  aktiven  Bewußtseinsfunktionen  des  Denkens  und  Wollens,  die 
ihm  sonst  in  der  Psychologie  zugewiesen  zu  werden  pflegt,  folgerichtigerweise 
ausgeschaltet.  Als  wenn  es  nicht  eine  höhere  Einheit,  eine  Synthese  von  Fühlen 
und  Denken  einerseits  und  Fühlen  und  Wollen  andrerseits  gäbe,  die  z.  B.  den 
musikalischen  Theoretiker  befähigt,  eine  Komposition  im  Hinblick  auf  die  darin 
angewandte  Harmonielehre  und  Technik  zugleich  zu  beurteilen  und  doch  den 
vollen  musikalischen  Genuß  zu  erleben ! 

Kann  ich  mich  nach  alledem  mit  der  Ableitung,  die  der  Verfasser  vom 
psychologischen  Wesen  des  Gefühls  gibt,  nicht  einverstanden  erklären,  so  vermag 
ich  ihm  um  so  lebhafter  zuzustimmen,  wenn  er  eine  stärkere  Betonung  des 
Gefühlsmäßigen  im  Unterricht  und  in  der  Erziehung  fordert.  „Das  Gefühl  ist 
ans  Intellektuelle  in  der  Schule  gebunden",  „es  rankt  sich  an  ihm  empor". 
„Gefühlsmäßiges  Erfassen  des  Gebotenen  knüpft  an  die  Person  des  Lehrers  an 
der  es  darbietet."  Zur  Entwicklung  des  Gefühls  (des  Gemüts  nach  seinen  ver- 
schiedenen Seiten)  wird  auch  die   reichere  Pflege   der  persönlichen  Beziehungen 


Einzelbesprechungen.  439 


zwischen  Lehrer  und  Schüler  beitragen  können,  wie  sie  dem  Verfasser  Vorschwebt, 
die  allerdings  m.  E.  sich  auf  die  Berücksichtigung  der  Individualität  des  Zöglings 
stützen  muß. 

Freilich  zeigt  sich  der  Verfasser  in  seinen  weiteren  Ausführungen  von  seiner 
einseitigen  Gefühlstheorie  beeinflußt,  wenn  er  dem  Denken  und  Wollen,  wie  sie 
im  wissenschaftlichen  Unterrichte  zur  Geltung  gelangen,  jeden  Gefühlscharakter 
abspricht.  Und  doch  bildet  das  Selbstgefühl  und  das  darauf  beruhende  Selbst- 
vertrauen, das  aus  der  Freude  des  Gelingens,  dem  Bewußtsein  des  Wachstums 
der  geistigen  Kräfte  entspringt  —  neben  dem  pflichtmäßigen  Moment,  der  „Norm", 
die  der  Verfasser  unbedingt  gewahrt  haben  will  —  das  Motiv,  von  dem  der 
Schüler  bei  der  Schularbeit  sich  leiten  läßt,  ein  Gefühl,  das  systematisch  im 
Unterricht  zur  Entwicklung  gebracht  werden  soll.  Auf  die  Wirksamkeit  dieses 
Motivs  gründet  sich  das  gefühlsmäßige  Moment,  das  sich  mit  der  Entfaltung  der 
freien  geistigen  Regsamkeit  verbindet,  die  das  Ideal  der  formalen  Bildung  dar- 
stellt. Fehlt  dieses  Moment,  so  sinkt  die  Arbeit  der  Schule  zu  einem  mehr  oder 
weniger  mechanischen  Geistesdrill  herab.  Das  Arbeiten  im  Hinblick  auf  zu 
schaffende  „Werte",  wofür  sich  der  wissenschaftliche  Forscher  auch  nach  der  An- 
sicht des  Verfassers  begeistern  kann,  kommt  auf  der  Stufe  des  Schulunterrichts 
freilich  noch  nicht  in  Betracht.  Aber  der  Anfang  eines  solchen  Werturteils  ist 
doch  schon  für  den  Schüler  bestimmend,  wenn  der  antizipierte  Gedanke  eines 
gut  gelungenen  Aufsatzes  oder  der  Lösung  einer  schwierigen  mathematischen 
Aufgabe  dem  Zögling  bei  seiner  Arbeit  die  Spannkraft  verleiht,  die  ihn  die 
Schwierigkeit  derselben  freudig  überwinden  läßt.  Das  ist  indessen  eine  Leistung 
des  Gefühls,  nicht,  wie  Pf.  meint,  der  verstandesmäßigen  Wertschätzung  des  End- 
ergebnisses. Die  spezifische  Verstandesfunktion  kommt  erst  dann  zur  Geltung, 
wenn  das  Subjekt  sich  Rechenschaft  über  sein  Verhalten  auf  Grund  fester 
Normen  gibt,  wobei  zugleich  dem  kritischen  Denken  eine  wesentliche  Bedeutung 
zufällt.  Daß  sich  auch  solche  Teile  des  Unterrichts  finden,  in  denen  die  rein  ab- 
strakte Verstandestätigkeit    geübt  wird,  ist  natürlich   dem  Verfasser   zuzugeben. 

Immerhin  ist  das,  was  der  Verfasser  über  die  wechselseitige  Abgrenzung  des 
gefühlsmäßigen  und  intellektuellen  Faktors  des  Unterrichtes  ausführt,  welcher 
letztere  auf  eine  Steigerung  der  geistigen  Leistungen  des  Zöglings  abzielt  (S.  116), 
beachtenswert  und  die  Schrift  deshalb  den  Fachkreisen  zu  empfehlen. 

Heidelberg.  A.  Hut  her. 

E.  Meumann,  Prof.  am  allgemeinen  Vorlesungswesen  in  Hamburg,  Abriß  der 
experimentellen  Pädagogik.  Leipzig  1914.  Wilhelm  Engelmann.  VIII 
und  462  Seiten.  Mit  12  Figuren  im  Text.  Broschiert  3,00  M.,  in  Leinen  ge- 
bunden 3,60  M. 
Noch  ehe  der  mit  Spannung  erwartete  III.  Band  von  Meumanns  monumentalem 
Werke  „Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik"  erschienen 
ist,  —  einem  Werke,  dem  vielfach  für  die  Erziehungswissenschaft  die  Bedeutung 
zugeschrieben  wird,  die  Wundt's  „Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie"  für 
die  Seelenkunde  gewonnen  haben  —  legt  der  Verfasser  eine  Schrift  vor,  die  nun  allen- 
falls in  Parallele  mit  Wundts  „Grundriß  der  Psychologie"  gestellt  werden  kann  —  nur 
daß  sie  dem  Verständnis  leichter  zugänglich  ist.  Das  Verhältnis  der  „Vorlesungen" 
und  des  „Abrisses"  zu  einander  wird  von  Meumann  selbst  folgenderweise  gekenn- 
zeichnet: „Das  Hauptwerk  versucht  die  eigentliche  Forschung  in  der  empirischen 
Pädagogik  darzustellen  und  die  Forschungsergebnisse  an  der  Hand  der  Experimente, 
Beobachtungen  und  Erhebungen,  aus  denen  sie  gewonnen  worden  sind,  in  allen 
Einzelheiten  zu  entwickeln  und  ihre  pädagogische  Bedeutung  darzutun.  Dadurch 
wird  bei  dem  immer  wachsenden  Umfang  der  experimentellen  Arbeiten  eine 
solche  Gesamtdarstellung  der  empirisch  forschenden  Pädagogik  für  den  Anfänger 
leicht  eine  zu  schwierige  und  mühsame  Lektüre,  und  es  bedarf  eines  kurzen 
Leitfadens,  der  ihn  zuerst  einmal  mit  den  Hauptproblemen,  den  grundlegenden 
Untersuchungsmethoden  und  den  wichtigsten  Ergebnissen  der  pädAgogischen 
Forschung  bekannt  macht  und  der  doch  mehr  ist  als  eines  jener  winzigen  Band- 


440  Einzelbesprechungen. 


chen,  in  denen  heutzutage  die  Wissenschaft  „popularisiert"  wird.  Seinem  -Zwecke 
gemäß  geht  dieser  Abriß  nicht  auf  Einzelheiten  der  kinderpsychologischen  und 
pädagogischen  Experimente  ein;  daher  ist  auch  von  den  Methoden  und  Hilfsmitteln 
der  Forschung  nur  das  Wichtigste  erwähnt  worden,  und  dies  nur,  soweit  es  zur 
Erläuterung  und  zur  Veranschaulichung  der  Forschungsresultate  selbst  notwendig 
war."  —  Es  sei,  um  den  reichen  Inhalt  des  Buches  anzudeuten,  ein  kurzer  Über- 
blick über  die  behandelten  Gedankengruppen  gegeben. 

Der  erste  Hauptteil  stellt,  nachdem  die  Einleitung  wissenschaftstheoretische 
Erörterungen  gebracht  hat,  die  Grundlegung  der  Pädagogik  durch  die  empirische 
Jugendkunde  dar.  Nicht  auf  dem  engen  Boden  der  Kinderseelenkunde,  so  heißt 
es  im  Eingangskapitel,  darf  die  empirische  Erziehungslehre  fußen,  sie  muß  ge- 
gründet werden  auf  eine  weitausgreifende,  allseitig  betriebene  Jugendkunde,  als 
deren  wichtigste  Untersuchungsgebiete  im  Dienste  der  Pädagogik  nachgewiesen 
werden:  die  Entwicklungs-  und  die  Individualitätenforschung,  die  Begabungs- 
und die  Arbeitslehre.  Im  Sinne  dieser  Gliederung  widmet  sich  das  zweite  Kapitel 
der  experimentellen  Untersuchung  des  körperlichen  und  geistigen  Werdeganges 
der  Jugend,  wobei  in  gleicher  Weise  den  Problemstellungen  und  Forschungs- 
methoden wie  den  Ergebnissen  und  den  pädagogischen  Anwendungen  nachge- 
gangen wird.  Wichtige  Abschnitte  sind  u.  a.  die  Darlegungen  über  die  Periodisierung 
der  jugendlichen  Entwicklung,  über  die  anatomischen  und  physiologischen  Eigen- 
schaften des  Kindes,  die  Körpermessungen  und  Funktionsprüfungen,  über  die  Heraus- 
bildung der  Aufmerksamkeit,  der  Sinneswahrnehmung,  des  Apperzeptionsinhaltes 
und  des  Erfahrungskreises,  des  Gedächtnisses,  des  Darstellungsprozesses,  des 
Denkens  und  der  Sprache,  des  Gefühles  und  des  Willens.  Inmitten  findet  auch 
die  Übungsfähigkeit  und  die  Ermüdung  des  Kindes  eine  angemessene  Behand- 
lung. Der  Erforschung  der  Individualitäten  und  der  Begabungsunterschiede 
gilt  sodann  das  dritte  Kapitel.  Es  wird  auch  hier  den  Aufgaben,  Methoden,  F.i- 
gebnissen  und  den  pädagogischen  Verwertungen  so  weit  nachgegangen,  daß  von 
den  bedeutsamen  Gebieten  der  Intelligenzprüfung  und  der  Begabungsanalyse  ein 
das  Wesentliche  umfassendes,  allseitiges  Bild  des  gegenwärtigen  Standes  der 
Forschung  entsteht. 

Der  zweite  Hauptteil  des  Buches  nun  wendet  sich  einem  engeren  Gebiete 
zu:  er  behandelt,  wie  durch  die  experimentelle  Analyse  die  Arbeit  des  Schul- 
kindes im  Unterricht  seine  Grundlegung  erfährt.  Für  die  Didaktik  der  Arbeits- 
schule sind  hier  so  wichtige  Erörterungen  gegeben,  daß  allein  schon  um  dieser 
Partien  willen  der  Meumann'sche  Grundriß  in  der  Hand  jedes  fortschrittlichen 
Lehrers  liegen  müßte.  In  bekannterer  Gegend  bewegen  sich  zunächst  die  ersten 
Erörterungen  des  Anfangskapitels,  die  sich  im  allgemeinen  um  die  Ökonomie 
und  Technik  der  geistigen  Arbeit  bewegen  und  dabei  das  Lernen  als  Beispiel  aus- 
führen, ebenso  die  hygienischen  Darlegungen  über  Ermüdung  in  der  Schularbeit. 
Weniger  verbreitete  Erkenntnisse  —  teilweise  auch  dem  Kenner  dieser  Sonder- 
gebiete neu  —  bieten  dann  die  Abschnitte  über  die  kollektiven  und  sozialen  Be- 
dingungen der  geistigen  Arbeit  und  über  besondere  Einflüsse  auf  die  Betätigung 
des  Schülers.  Es  wendet  sich  der  Gang  der  Schrift  dann  der  experimentellen 
Didaktik  einzelner  Unterrichtsfächer  zu,  wobei  nach  der  gegenwärtigen  Lage  der 
Forschung  ausgewählt  werden  das  Anschauungsfach,  das  vielgliedrige  sprachliche 
Unterrichtsgebiet,  ferner  ausführlich  Rechnen  und  Zeichnen.  Die  das  Werk  ab- 
schließenden Einblicke  in  die  weitere  Entwicklung  der  experimentellen  Pädagogik 
lassen  deutlich  erkennen,  daß  verheißungsvolle  Anfänge  die  Hoffnung  begründen, 
in  nicht  zu  ferner  Zeit  auch  weitere  Unterrichtsgebiete  der  experimentellen  Er- 
forschung erschlossen  zu  sehen. 

Wenn  dem  Abriß,  dem  ein  gleicher  Erfolg  wie  den  „Vorlesungen"  sicher  ist, 
ein  Literaturverzeichnis  von  über  einem  Bogen  angeheftet  ist  und  wenn  sich  auch 
innerhalb  des  Werkes  durchweg  Hinweise  auf  Quellen  finden,  so  sind  damit  für 
die  weitere  Vertiefung,  zu  der  Meumann  überall  die  Lust  zu  erwecken  versteht, 
die  Wege  dankenswert  gewiesen. 

Leipzig.  Prof.  Dr.  Rieh.  Tränkmann. 


Einzelbesprechungen.  441 


Dr.  W.  Ament,  Die  Seele  des  Kindes.  Eine  vergleichende  Lebensgeschichte. 
4.,  verbesserte  Auflage.  Frankh'sche  Verlagsbuchhandlung.  Stuttgart  1914. 
95  S.,  geb.  1,80  M. 

Ament,  dem  man  vor  15  Jahren  die  erste  Gesamtdarstellung  über  die  Kinder- 
sprache dankte  und  der  sich  auch  um  das  kindliche  Denken  und  das  jugendliche 
Spielen  wissenschaftlich  bemüht  hat,  legt  diese  seine  kleine  Schrift  nicht  der 
Fachpsychologie  vor,  sondern  widmet  sie  den  Erziehern,  vor  allen  den  Müttern. 
Es  wird  damit  der  vulgärpsychologische  Einschlag  und  auch  die  liebenswürdige 
Ausstattung  mit  gefälligen  Bildchen  verständlich.  Gegen  die  früheren  Ausgaben 
ist  aus  der  Literatur  und  aus  eigenen  Beobachtungen  des  Verfassers  weniges  be- 
richtigt und  ergänzt  worden.  Der  angefügte  Wegweiser  für  eine  weitergehende 
Beschäftigung  mit  kinderpsychologischen  Fragen  empfiehlt  teilweise  veraltete, 
teilweise  auch  minderwertige  und  für  die  bezeichneten  Kreise  ungeeignete  Literatur. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Prof.  Dr.  med.  F.  A.  Schmidt,  Das  Schulkind  nach  seiner  körperlichen 
Eigenart  und  Entwicklung.  Leipzig  1914.  R.  Voigtländers  Verlag.  141  Seiten. 
2,60  M. 

Von  Professor  Dr.  med.  Ferd.  Aug.  Schmidt  sind  in  Lehrerkreisen  die 
beiden  Schriften  „Unser  Körper"  und  ,JPhysiologie  der  Leibesübungen"  geschätzt. 
Bei  dem  Mangel  einer  besseren  kurz  orientierenden  Darstellung  über  die  An- 
thropologie des  Schulkindes  wird  auch  sein  neues  Buch  zunächst  Freunde  finden. 
Entgegen  der  Titelangabe  zieht  Schmidt  auch  die  frühe  Kindheit  in  den 
Kreis  seiner  Beobachtungen  —  mit  Recht;  denn  der  Eintritt  in  die  Schule  hat 
für  die  körperliche  Entwicklung  nicht  so  wie  für  da«  geistige  Leben  eine  perioden- 
begrenzende Bedeutung.  Es  wird  aber  durchweg  versucht,  womit  dann  der  Buch- 
name einigermaßen  gerechtfertigt  erscheint,  auf  die  physiologischen  Einwirkungen 
der  Schulbetätigungen  einen  Nachdruck  zu  legen.  Daß  sich  der  Verfasser 
zumeist  auf  das  reiche  Material  stützt,  das  im  letzten  Jahrzehnte  durch  die 
Schulärzte  angehäuft  worden  ist,  bringt  es  mit  sich,  daß  vorwiegend  die  Be- 
funde an  der  Großstadtjugend  (Berlin,  Hamburg  usw.)  als  Unterlage  dienen.  Eine 
empfindliche  Lücke  ist  das  Übergehen  der  Beeinflussung  der  Sinnesorgane 
durch  das  Schulleben;  vermißt  wird  auch  eine  ausführlichere  Darstellung  der 
körperlichen  Veränderungen  in  der  Reifezeit.  Wegfallen  dagegen  könnte  der 
\mzulängliche  Abschnitt  über  die  Intelligenzprüfungen  mit  der  Testtafel  nach 
Binet-Bobertag;  stärker  betont  mußte  unbedingt  die  Ermüdung  werden.  Wie- 
wohl am  geeigneten  Orte  durchweg  der  Unterschied  in  der  körperlichen  und 
geistigen  Entwicklung  von  Knaben  und  Mädchen  betont  ist  und  in  den  reichlich 
eingestreuten  Tabellen  deutlich  hervortritt,  würde  sich  ein  zusammenfassendes 
Kapitel  über  diese  bedeutsamen  differentiellen  Tatbestände  empfehlen.  Die 
Einfügung  brauchbaren  Zahlenmaterials  und  guter  Kurven  —  sehr  hübsch  ist  z.  B. 
der  Einfluß  der  sozialen  Verhältnisse  auf  das  körperliche  Wachstum  zur  Dar- 
stellung gebracht  —  gibt  dem  Buche  einen  schönen  Reiz;  mit  Abbildungen  dei- 
gegen  ist  geknausert  worden.  Schulhygienische  Hinweise  sind  dort,  wo  die  Be- 
schreibung der  körperlichen  Erscheinungen  dazu  drängte,  nicht  versäumt.  Noch 
eins:  Mit  Mangel  an  Raum  dürfte  in  einem  Buch,  das  ausdrücklich  für  die  sicli 
so  eifrig  fortbildende  und  in  wissenschaftlichem  Geiste  arbeitende  Lehrerschaft 
bestimmt  ist,  das  Unterlassen  von  Literaturnachweisen  und  -hinweisen  nicht 
begründet  werden. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Das  Kind  und  die  Schule.  Ausdruck,  Entwicklung,  Bildung.  Leipzig  1914. 
Dürr'sche  Buchhandlung.  401  Seiten.  1,50  M. 
Entstanden  und  gedacht  ist  dies  Buch  als  eine  Gabe  der  Sondergruppe  JKind 
und  Schule"  auf  der  Bugra  —  der  Internationalen  Ausstellung  für  Buchgewerbe 
und  graphische  Künste  in  Leipzig.  Es  ist  kein  Führer  der  üblichen  Art,  der 
hinweisend  und  erklärend  von  Gegenstand  zu  Gegenstand  schreitet,  sondern  ein 


442  Einzelbesprechungen. 


Kunterbunt  von  Aufsätzen,  die  in  Probleme  und  Gedankenkreise  jener  pädago- 
gischen Schau  einführen  sollen.  Hochwissenschaftliches  mengt  sich  in  diesem  Aller- 
lei, in  dem  nach  dem  Vorwort  dem  „tiefer  Sehenden"  leicht  die  Einheitlichkeit  und 
Ausgeglichenheit  vor  Augen  treten  soll,  mit  Feuilletonistischem;  Gehaltvolles  steht 
neben  Wertlosem,  Überflüssigem  und  Vordringlichem,  vor  allem  dort,  wo  das  Schlag- 
wort „Ausdruckskultur-'  in  oft  recht  übler  Phrasenhaftigkeit  gebraucht  wird.  Aber 
des  überwiegenden  Guten  wegen  sei  der  Band,  der  ganz  selbständig  neben  der  Aus- 
stellung steht,  der  Lehrerschaft  aufs  Beste  empfohlen.  Er  wird  bei  der  Vielseitigkeit 
seiner  Gegenstände  keinem  begegnen,  dem  er  nicht  Neues  und  Anregendes  bringen 
könnte.  Ausgezeichnet  ist  die  einleitende  Abteilung,  die  —  durchgängig  von 
Hochschullehrern  verfaßt  (Spranger,  Meumann,  Stumpf,  Brahn,  Deuchler)  —  in 
wissenschaftlichen  Beiträgen  über  die  „allgemeinen  Grundlagen'*  handelt. 
Insbesondere  sind  die  kleinen  psychologisch-didaktischen  Studien,  die  Gustav 
Deuchler  über  Sprache,  Sprachunterricht  und  Lernen,  Singen  und  Gesangunter- 
richt und  Psychologie  des  mathematischen  Unterrichts  bietet,  Musterstücke  von 
hohem  Werte.  Auch  in  der  2.  Abteilung,  die  sich  dem  „Zeichnen"  widmet,  ist 
viel  Gutes  zu  finden,  so  in  den  Arbeiten  von  Ruttmann,  Stiehler,  Lindemann 
und  Elßner.  Aus  dem  Abschnitt  „Schreiben"  sei  hier  auf  die  Mitteilungen  von 
Joh.  Schlag  über  Schriftmessungen  hingewiesen.  Weniger  befriedigt  die  Gruppe 
Sprechen,  Lesen  und  Lernen,  in  die  auch  das  Rechnen  untergeschlüpft  ist. 
Karg  ist  dann  „Sprechen,  Singen,  Musik"  bedacht.  Ein  wirres  Vielerlei 
bietet  die  Abteilung  „Photographie  und  Schule".  Freundlich  muten  die 
beiden  Aufsätze  an,  die  sich  unter  der  Überschrift  ,JCinder,  Lehrer  und 
Schule  in  Kunst  und  Literatur"  finden.  Von  den  dürftigen  Darstellungen 
aus  der  Schulgeschichte  hätte  man  den  Band  entlasten  sollen.  Neben  ihnen 
aber  stehen  als  willkommene  Beiträge  „Schule  und  Statistik"  und  „Der  Stand 
der  pädagogischen  Fachpresse  in  Deutschland".  Richard  Seyferts  „Aus- 
blicke in  die  Zukunft  der  Schule"  und  Scheffers  Ausführungen  zu  dem 
Thema:  „Der  Weg  zur  Persönlichkeit"  bilden  einen  guten  Beschluß  des 
sehr  billigen  Buches,  das  sich  bei  guter  Ausstattung  mit  einer  Anzahl  recht 
hübscher  Bilder  geschmückt  hat. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

A.  Gerlach,  Von  schönen  Rechenstunden,  Anregungen  und  Vorschläge  zu 
einer  Reform  des  Rechenunterrichts.    3.  vermehrte  Auflage.    Leipzig  1914.    Ver- 
lag Quelle  &  Meyer  XV,  256  S.  mit  10  Tafeln.     Brosch.  3,80  M.,  geb.  4,20  M. 
G.  hat  in  seinem   überaus  verdienstvollen  Buche  eine  Anzahl  fast  selbstän- 
diger Aufsätze   (Die    naturgemäße  Entwicklung    des  Kindes.     Die  erste  Schulzeit 
des  Kindes.   Das  Rechnen  im  ersten  Schuljahre  usw.)  aneinandergereiht,  von  denen 
viele  einen  Ausschnitt  aus  dem  praktischen  Schulleben  bieten,  die  aber  zusammen- 
gefaßt ein  einheitliches  Ganze  darstellen. 

Im  Verlauf  der  einzelnen  Abschnitte  sucht  der  Verfasser  der  Lösung  des 
Rechenunterrichtsproblemes  von  drei  Seiten  nahezukommen: 

1.  Von  rein  rechenpsychologischen  Erwägungen  aus; 

2.  Von  den  Forderungen  der  Arbeitsschule  aus,  wie  sie  durch  den  psych.- 
wissenschaftlichen  Bildungsbegriff  aufgestellt  worden  sind  (Bildungsidee); 

3.  Von  dem  Kulturkreis  aus,  dem  letzten  Endes  unsere  Bemühungen  im 
Unterrichte  gelten  (Bildungsnotwendigkeit). 

Rein  rechenpsychologisch  handelt  es  sich  im  R.-U.  wesentlich  um  Zahlauf- 
fassung, Problemerfassung,  Funktionserlebnis,  Operationsfertigkeit  und  schließlich 
für  den  Verlauf  des  Unterrichts  um  Abwägung  der  einzelnen  Leistungen  nach 
ihrer  Schwierigkeit. 

Bei  der  Zahlauffassung,  der  Bildung  der  Zahlbegriffe  sind  für  G.  das  wich- 
tigste die  Apperzeptionsakte  bei  der  Auffassung  von  Einzelheiten.  Das  Wesen 
der  Apperzeption  besteht  in  Aktivität.  Aktivität  ist  vorhanden,  wo  wir  mit  etwas 
in  Beziehung  treten,  das  unser  Ich  angeht.  Folglich  kann  die  Zahlauffassung  nur 
in  der  Welt  der  Kinder  geschehen,  nur  an  Dingen,  an  denen  der  Kinderglaube, 


Einzelbesprechungen.  443 


das  ganze  Kinderherz  hängt.  Zahlbilder,  also  Zusammenstellungen  von  den 
Kindern  zunächst  ganz  gleichgültigen  Punkten  oder  Strichen  läßt  G.  erst  an  einer 
späteren  Stelle  gelten.  Das  Moment  der  Gruppierung  ist  auch  ihm  vsdchtig,  aber 
er  wendet  es  auf  Gegenstände  des  kindlichen  Interesses  an  (Vergl.  desselben  Ver- 
fassers:   Des  Kindes  erstes  Rechenbuch!) 

Neben  der  Gewinnung  der  Zahlbegriffe  sieht  der  übliche  Rechenunterricht 
bis  jetzt  seine  Aufgabe  wesentlich  darin,  durch  Übung  Rechenfertigkeit  zu  er- 
langen. Das  ist  aber  nur  ein  Teil  der  Leistung,  die  noch  dazu  unter  wesent- 
lich anderer  psychologischer  Gesamtstellung  im  Leben  gefordert  wird, 
wenn  die  Notwendigkeit  zu  rechnen  an  uns  herantritt.  Verlangt  auf  diese 
Rechenfertigkeit  abzielende  Unterrichtsübung  lediglich  die  Ausführung  bestimmter 
angegebener  Operationen,  so  fordert  das  Leben,  aus  einer  gegebenen  Situation, 
die  zum  Rechnen  drängt,  gerade  erst  die  richtige  und  günstigste  Operation 
herauszufinden :  die  Erfassung  des  Rechenproblems  nach  dem  Weg  oder  wenigstens 
der  Richtung  seiner  günstigsten  Lösung.  Wahre,  für  das  Leben  brauchbare  rech- 
nerische Leistungsfähigkeit  fordert  daher  Ausgehen  von  Situationen. 

In  dem  erwähnten  Unterricht  liegt  zugleich  die  Gefahr,  daß  er  von  vorn- 
herein weiter  nichts  leistet,  als  ein  rein  äußerliches  Einprägen  von  Gleichungen 
oder  wohl  gar  nur  von  bloßen  Wortanspielungen,  und  die  Einsicht  in  die  einzelnen 
Funktionen  vernachlässigt.  Wenn  es  auch  meist,  besonders  im  Anfange  des 
Rechenunterrichtes,  kaum  möglich  sein  dürfte,  daß  die  Kinder  klare  Funktions- 
begriffe erlangen,  so  kann  in  ihnen  doch  so  etwas  wie  eine  schematische,  sym- 
bolische Vorstellung,  ein  allgemeines  Erleben  der  Funktionen  erzielt  werden, 
was  freilich  nur  möglich  ist,  wenn  die  Kinder  von  Anfang  an  an  Vorgängen,  die 
sie  an  Dingen  der  Außenwelt  wahrnehmen  oder  möglichst  selbst  vornehmen,  die 
einzelnen  Funktionen  des  Vermehrens  und  Verminderns  erleben. 

Gewiß  will  auch  G.  die  Mechanisierung  der  Rechenprozesse,  Operationsfertig- 
keit, aber  eben  Fertigkeit  in  der  Ausführung  der  Operationen,  nicht  im  Hersagen 
gehörter  Gleichungen.  Er  will  das  in  der  Hauptsache  erreichen  durch  häufige 
Wiederholung  der  Entwicklung  und  des  Aufbauens  der  Aufgaben,  durch  Abwägen 
der  Aufgaben  nach  ihrer  Schwierigkeit,  also  eigentätige  Systembildungen  der 
Schüler,  und  durch  Reihenbildungen. 

In  seinen  Forderungen  über  den  Lehrgang  läßt  sich  G.  im  wesentlichen  von 
zwei  psychologischen  Erwägungen  leiten:  einmal,  daß  das  Kind  auch  in  seiner 
Welt  der  Zahlen  nur  allmählich  zur  Abstraktion  gelangt,  zum  andern,  daß  auch 
im  Rechnen  das  logisch  Einfache  nicht  immer  das  psych.-päd.  Leichtere  ist.  Es 
liegt  aber  kein  Grund  vor,  im  Rechenunterricht  die  nach  dem  Grundsatze  des 
lückenlosen  Fortschrittes  aufgebauten  Rechensysteme  einzuhalten,  wie  es  in  fast 
allen  Lehrbüchern  vorliegt.  G.  fordert  vielmehr:  Ausgehen  von  Sachgebieten,  in 
die  der  Lehrer  die  Kinder  nach  dem  „System  eines  vorbauenden  Unterrichtes" 
einführt,  zahlenmäßiges  Erfassen  jeden  Gebietes,  Verarbeitung  der  in  ihm  erlebten 
Aufgaben  und  ihre  eigentätigo  Zusammenarbeitung  zu  einem  System.  Dieses 
System,  selbstgeschaffen,  berechtigt,  lebensvoll,  kann  dann  auch  selbständig  zu 
Übungen  verwendet  werden ;  nur  müssen  dann  die  Probleme  möglichst  umfassend 
gestellt  werden,  um  der  Selbsttätigkeit  der  Schüler  freien  Raum  zu  lassen. 

Überall  kommt  G.  bei  seinen  psychologischen  Erwägungen  zur  Forderung 
des  Sachrochnens.  Zu  demselben  Ergebnis  gelangt  er  auch  auf  den  Gedanken- 
gängen, auf  denen  er  von  der  Arbeitsschulidee  herüberkommt.  Wahres  Arbeits- 
leben entzündet  sich  nur,  wo  ein  Problem  in  der  Empirie  erlebt  wird. 
Das  ist  für  das  Kind  nur  der  Fall  an  konkreten  Verhältnissen  und  auch  nur, 
wo  diese  in  seine  Ich-Sphäre  hineinragen.  Die  Welt  der  Kinder:  hier  soll  es 
arbeiten  und  arbeiten  lernen.  Nicht  die  Arbeit  als  Produkt,  nicht  die  von 
Generation  zu  Generation  gewonnene  Arbeitsmethode  und  -technik  soll  es  äußer- 
lich Überliefort  bekommen,  sondern  es  gilt:  selbst  suchen,  selbst  forschen,  selbst 
finden.  Es  ist  selbstverständlich,  daß  O.  dabei  dem  Individuum  nach  Interesse, 
Typus,  Alter  und  Geschlecht  Spielraum  in  seiner  Betätigung  läßt;  Freiheit,  Mannig- 
faltigkeit ist  seine  Losung. 


444  Viertel jahxsverzeichnis  neuer   Schriften. 

Einige  Schlaglichter  erhält  der  G.'sche  Rechenunterricht  noch  dadurch,  daß 
er  ihn  auch  von  dem  Standpunkt  aus  beleuchtet,  daß  die  Forderungen  dieses 
Unterrichtes  zu  messen  sind  an  der  Stellung  und  Bedeutung,  die  Zahl  und 
Rechnen  in  dem  Lebenskreis  der  Menschen  einnehmen.  Die  Bedeutung  der  Zahl 
besteht  darin,  daß  wir  in  und  mit  ihr  unsere  Umwelt  nach  ihrer  quantitativen 
Seite  erfassen.  Daher  muß  der  Rechenunterricht  in  erster  Linie  Sachunterricht 
sein,  eine  Ergänzung  zum  Anschauungsunterricht.  Die  quantitative  Erfassung 
geschieht  wesentlich  durch  Zählen  und  Messen.  Beides  hat  zugleich  im  prakti- 
schen Berufsleben  besondere  Bedeutung.  Übungen  im  Zählen,  Messen,  Wägen 
stehen  daher  im  Vordergrund.  Mündliches  Rechnen  mit  übermäßig  großen  Zahlen, 
Aufgaben  mit  sinnlosen  Bruchzahlen  sind  Forderungen,  die  das  Leben  nicht 
stellt  und  die  darum  ausscheiden. 

Überall  kämpft  G.  auf  der  ganzen  Linie  seiner  Untersuchungen  für  dasselbe 
Ziel:  für  den  wissenschaftlich  psychologischen  Rechenunterricht,  und  das  ist 
ihm  der  Saehrechenunterricht. 

Seine  Darstellung  ist  anschaulich,  lebendig,  voller  Begeisterung,  und  überall 
sucht  er  durch  praktische  Beispiele  seine  Ideen  zu  verdeutlichen. 

Übrigens  will  sein  Buch  eine  Anregung  sein  —  keine  Anweisung.  Und  es  ist 
eine  Anregung,  die  jeder  gern  auf  sich  wirken  läßt  und  die  manchem  vielleicht 
als  eine  Selbstbefreiung  erscheinen  mag.  Umso  vertrauensvoller  werden  wir 
seiner  Führung  folgen,  als  sich  seine  Methode  unter  seinen  eigenen  Händen  in 
jahrelanger  Probe  bewährt  hat.  Meumann  urteilt  daher  über  ihn:  „Der  Erfolg 
spricht  ebenso  für  seine  Methode  wie  die  allgemeine  psychologische  Überlegung." 
Unter  den  Schriften,  die  auf  psychologischer  Grundlage  der  Reform  des  Unterrichts- 
betriebes dienen  wollen,  ist  das  Werk  von  G.,  dessen  Rechenfibel  berechtigtes 
Aufsehen  erregte,  eines  der  besten ;  an  ihm  kann  der  sich  weiter  bildende  Lehrer 
nicht  vorüber. 

Leipzig.  Kurt  Döring. 

Richard  Wähmer,  Spracherlernung  und  Sprachwissenschaft.  Die  Eingliederung 
des  Sprachunterrichts  in  den  wissenschaftlichen  Bildungsplan  der  höheren 
Schule,  dargelegt  am  Französischen.  B.  G.  Teubner,  Leipzig  1914.  Preis  geh. 
2  M.,  geb.  2,80  M. 

Das  vorliegende  Buch  ist  ein  wohlgelungenes  Beispiel  für  die  wissenschaft- 
liche Vertiefung  des  französischen  Unterrichts  an  unsern  höheren  Schulen. 
Indem  der  Verf.  die  Kardinalfrage:  Kann  Sprachfertigkeit  so  erzielt  werden, 
daß  wissenschaftliche  Schulung  in  den  Gang  der  Spracherlernung  einbegriffen 
ist?  bejahend  beantwortet,  zeigt  er  den  Weg,  auf  dem  der  neusprachliche 
Unterricht  weiterhin  zu  reformieren  ist.  Er  fordert  nichts  Geringeres  als  die 
Verwertung  sprachwissenschaftlicher  Erkenntnisse  für  die  Erlernung  der  Sprache 
als  eines  Beseelten,  Lebendigen,  Werdenden  (Goethe).  Der  neusprachliche  Unter- 
richt muß  in  seiner  literarischen  Aufgabe  wie  auch  in  sprachlich-wissenschaftlicher 
Hinsicht  ein  vollwertiges  Glied  im  Gesamtwerk  unserer  höheren  Schule  sein, 
sofern  diese  die  Vorstufe  zur  Universität  darstellt.  Je  tiefer  er  in  das  Wesen 
der  Sprache  eindringt,  desto  mehr  leistet  er  zugleich  für  die  philosophische  Unter- 
weisung der  Schüler.  Philosophie  als  besonderes  Fach  ist  entbehrlich,  wenn  der 
Unterricht  gerade  in  den  Sprachen  das  Seelische,  Gestaltende  stark  betont. 
Königsberg.  Hermann  Schmitt. 


Vierteljalirsverzeiclmis  neuer  Schriften. 

Windelband,  Wilh.:  Einleitung  in  die  Philosophie.  (XII,  441  S.  Aus:  Grundriß 
der  philosophischen  Wissenschaften.  Hrsg.  v.  Fritz  Medicus.  Tübingen, 
J.  C.  B.  Mohr.  7.50  M;  geb.  in  Halbfrz.  10.—  M. 

Natorp,  Paul,  Philosophische  Propädeutik  (Allgemeine  Einleitg.  in  die  Philo- 
sophie u.  Anfangsgründe  der  Logik,   Ethik  u.  Psychologie)    in  Leitsätzen  zu 


Viertel  Jahrs  Verzeichnis  neuer   Schriften.  445 

____ — , ^^ 

akademischen  Vorlesungen.     4.,  wiederum   durchgeseh.   Aufl.   (70  S.)   Mar- 
burg, N.  G.  Elwert's  Verl.  '14.    1.50  M;  kart.  1.80  M. 

Hofraann,  Priv.-Doz.  Dr.  Paul,  Die  antithetische  Struktur  des  Bewußt- 
seins. Grundlegung  e.  Theorie  der  Weltanschauungsformen.  XVIII,  421  S. 
gr8°  Berlin,  G.  Reimer  '14.    8.—  M. 

Eucken,  Rud.:  Der  Sinn  u.  Wert  des  Lebens.  4.,  umgearb.  u.  erweit.  Aufl. 
15—17.  Taus.  (V,  180  S.  m.  Bildnis.)  gr.8«  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  '14.  2.80  M.; 
geb.  in  Leinw.  3.60  M. 

Spranger,  Eduard,  Lebensformen.  Ein  Entwurf.  Aus:  »Festschr.  f.  Alois 
Riehl«.    110  S.     gr8«.  Halle,  M.  Niemeyer  '14.     2.40  M. 

Büttner,  Lehr.  Geo.,  Im  Banne  des  logischen  Zwanges.  Ethische  Grund- 
fragen in  erkenntnis-krit.  Beleuchtg.  nebst  e,  pädagog.  u.  religionsphilosoph. 
Ausblick.  Im  Mskr.  preisgekrönt  v.  der  Kant-Gesellschaft.  VII,  216  S.  gr8. 
Leipzig,  E.  Wunderlich  '14.    4. —  M;  geb.  4.60. 

Abhandlungen  zur  Philosophie  u.  ihrer  Geschichte.  Hrsg.  v.  Prof.  Dr. 
R.  Falkenberg.    8°.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 

23.  Heft.  Reuter,  Dr.  Hans,  S.  Kierkegaards  religionsphilosophische  Gedanken 
im  Verhältnis  zu  Hegels  religionsphilosophischem  System.  VI,  131  S.  *14. 
4.50  M;  Subskr.-Pr.  3.35  M. 

Meumann,  Prof.  Ernst,  System  der  Ästhetik.  144  S.  '14.  Aus :  Wissenschaft 
u.  Bildung.  Einzeldarstellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens.  8°.  Leipzig, 
Quelle  &  Meyer,     je  1. —  M;  geb.  in  Leinw.  1,25  M, 

Wundt,  Wilh.,  Völkerpsychologie.  Eine  Untersuchg.  der  Entwicklungsgesetze 
V.  Sprache,  Mythus  u.  Sitte.  V.  Bd.  Mythus  u.  Religion.  2.,  neu  bearb.  Aufl. 
2  Tl.    XIII,  494  S.    Leipzig,  A.  Kröner.     IL— M;  geb.  in  Halbfrz.  14.—. 

Wunderle,  Dr.  Geo.,  Aufgaben  u.  Methoden  der  modernen  Religions- 
psychologie.    Vortrag.     26  S.    Fulda  '14.     Eichstätt,  Ph.  Brönner.    — .50M. 

Werner,  S.,  Das  Problem  v.  der  menschlichen  Willensfreiheit.  Ver- 
such e.  Lösg.  auf  analyt.  Wege.     152  S.    Berlin,  L.  Simion  Nf.  '14.    3.50  M. 

Friedenthal,  Priv.-Doz.  Dr.  Hans,  Allgemeine  u.  spezielle  Physiologie 
des  Menschenwachstums.  Für  Anthropologen,  Physiologen,  Anatomen  u. 
Ärzte  dargestellt.  X,  161  S.  m.  34  Abbildgn.  u.  3  färb.  Taf.  LexS«.  Berlin, 
J.  Springer  '14.     8.— M. 

Brücke,  Prof.  Dr.  E.  Th.  v.,  Ü  ber  die  Grundlagen  u.  Methoden  der  Groß- 
hirnphysiologie u.  ihre  Beziehungen  zur  Psychologie.  (Nach  e.  An- 
trittsvorlesg.)  16  S.  '14.  — .50  M;  Subskr.-Pr.  — .40 M.  Aus:  Sammlung  anato- 
mischer u.  physiologischer  Vorträge  u.  Aufsätze,  hrsg.  v.  Proff.  Drs.  E.  Gaupp 
u.  W.  Trendelenburg.    gr8''.  Jena,  G.  Fischer. 

Weygandt,  Prof.  Dr.  W.,  Soziale  Lage  u.  Gesundheit  des  Geistes  u.  der 
Nerven.  42  S.  '14.  Aus:  Würzburger  Abhandlungen  aus  dem  Gebiet  der 
praktischen  Medizin.  Hrsg.  v.  Proff.  Drs.  Joh.  Müller  u.  Otto  Seifort.  XIV.  Bd. 
Lex8«'.  Würzburg,  C.Kabitzsch.  Der  Bd.  von  12  Heften 7.50 M;  einzelne  Hefte  — .85M. 

Sternberg,  Spezialarzt  Doz.  Dr.  Wilh.,  Die  Physiologie  des  Geschmacks. 
X,  65  S.     Lex8<».    Würzburg,  C.  Kabitzsch  '14.     2.20  M. 

Lorand,  Dr.  A.,  Die  menschliche  Intelligenz  u.  ihre  Steigerung  durch 
hygienische  u.  therapeutische  Maßnahmen.  Eine  Anleitg.  zum  ratio- 
nellen Denken.  VIII,  413  S.  8»  Leipzig,  Dr.  W.  Klinkhardt  '14.  4.— M;  geb.  in 
Leinw,  5. —  M. 

Bateson,  W.,  M.  A.,  Mendels  Vererbungstheorien.  Aus  dem  Engl,  übers. 
V.  Alma  Winckler.  Mit  e.  Geleitwort  von  li.  v.  Wettstein  sowie  41  Abbildgn.  im 
Text  u.  6  (färb.  [4  Doppel-])  Taf.  u.  3  Porträts  v.  Mendel.  X,  376  S.  gr8».  Leipzig, 
B.  G.  Teubner  '14.     12.—  ;  geb.  in  Leinw.  13.— M. 

Haecker,  Prof.  Valentin,  Über  Gedächtnis,  Vererbung  u.  Pluripotenz. 
August  Weismann  zum  80.  Geburtstage  gewidmet.  97  S.  m.  14  Abbildgn.  £^8°. 
Jena,  G.  Fischer  '14.   2.50  M. 

Strasser-Eppelbaum,  Dr.  Vera,  Zur  Psychologie  des-  Alkoholismus. 
Ergebnisse  experimenteller  u.  individualpsycholog.  Untersuchgn.  52  S.  '14.  1.50  M. 


446  Vierteljahrsverzeichnis  neuer  Schriften. 

SchulhofjHedw.,  Individualpsychologieu.  Frauenfrage.  31  S.  *14.  — .80  M. 
Aus:  Schriften  des  Vereins  f.  Individualpsychologie.  gr8°.  München,  E.  Rein- 
hardt. Bisher  u.  d.  T.:  Schriften  des  Vereins  f.  freie  psychoanalytische 
Forschung. 

Liebmann,  Dr.  Alb.,  Vorlesungen  über  Sprachstörungen.  9.  Heft.  Die 
psychische  Behandlung  v.  Sprachstörungen.  125  S.  gr8°  Berlin,  O.  Coblentz 
'14.    2.40  M. 

Flournoy,  Prof.  Dr.  Th.:  Experimentaluntersuchungen  zur  Religions-,  Unter- 
bewußtseins- u.  Sprachpsychologie.  Hrsg.  u.  eingeleitet  v.  G.  Vorbrodt.  2.  Heft. 
Die  Seherin  v.  Genf.  Mit  Geleitwort  v.  Max  Dessoir.  Autoris.  Übersetz.  (XXHI, 
556  S.)  8°  Leipzig,  F.  Meiner  '14.     16.-  M. 

Pappenheim,  Mart.,  u.  Carl  Grosz,  Landesger.-Psychiater  Drs.,  Die  Neu- 
rosen u.  Psychosen  des  Pubertätsalters.  VII,  129  S.  '14.  3. —  M.  Aus: 
Zwanglose  Abhandlungen  aus  den  Grenzgebieten  der  Pädagogik  u.  Medizin. 
Hrsg.  V.  Th.  Heller  u.  G.  Leubuscher.     gr8**.  Berlin,  J.  Springer. 

Brischar,  Karl  M.,  Das  Genie.  Ein  Versuch.  35  S.  8".  Leipzig,  M.  Spohr 
'14.   — .80M. 

Klieneberger,  Ob.-Arzt  Prof.  Dr.  Otto,  Über  Pubertät  u.  Psychopathie. 
Aus  der  Universitätsnervenklinik  Göttingen.  Direktor:  Professor  Dr.  Ernst 
Schultze.  III,  59  S.  '14,  1.80  M.  Aus  Grenzfragen  des  Nerven-  u.  Seelenlebens. 
Einzel-Darstellungen  f.  Gebildete  aller  Stände.  Begründet  v.  Drs.  L.  Loewen- 
feld  u.  H.  Kurella.  Hrsg.  v.  Hofr.  Dr.  L.  Loewenfeld.  Lex8°.  Wiesbaden,  J.  P. 
Bergmann. 

Eisenmeier,  Jos.,  Die  Psychologie  u.  ihre  zentrale  Stellung  in  der 
Philosophie.  Eine  Einführg.  in  die  wissenschaftl.  Philosophie.  VIII,  111  S. 
grS».  Halle,  M.  Niemeyer  '14.    3.20  M. 

Ebbinghaus,  weil.  Prof.  Herrn.,  Abriß  der  Psychologie.  5.  Aufl.,  durch- 
gesehen V.  Prof.  Dr.  Ernst  Dürr.  208  S.  m.  18  Fig.  grS".  Leipzig,  Veit  &  Co. 
'14.     geb.  in  Leinw.  4. —  M. 

Messer,  Aug.,  Psychologie.  XII,  395  S.  gr8°.  Stuttgart.  Deutsche  Verlags- 
Anstalt   '14.    6.— M;  geb.  7.50  M. 

Meinong's,  Alexius,  gesammelte  Abhandlungen.  Hrsg.  u.  m.  Zusätzen 
versehen  v.  seinen  Schülern.  In  3.  Bdn.  1.  Bd.,  Abhandlungen  zur  Psychologie. 
X,  634  S.    gr8o.   Leipzig,  16.—  M. 

Rehmke,  Prof.  Johs.,  Die  Seele  des  Menschen.  4.,  völlig  umgearb.  Aufl. 
IV,  109  S.    '13. 

Verworn,  Prof.  Max,  Die  Mechanik  des  Geisteslebens.  3.  Aufl.  IV,  92  S. 
m.  19  Abbildgn.  '14.  Aus:  Natur  u.  Geisteswelt.  Sammlung  wissenschaftlich- 
gemeinverständl,  Darstellgn.  kl8°.  Leipzig,  B.  G.  Teubner.  je  1. — M;  geb.  in 
Leinw.  je  1.25  M. 

Kleinpaul.  Dr.  Rud.,  Volkspsychologie.  Das  Seelenleben  im  Spiegel  der 
Sprache,    VIII,  211  S.     8°  Berlin,  G.  J.  Göschen  '14.     4.80  M;  geb.  5.50  M. 

Reinhardt,  P.,  Praktische  Psychometrie.  90  S.  8°.  Leipzig,  M.  Altmann 
'14.     1.— M. 

Schilling,  Dr.  Gust.,  Lehrbuch  der  Psychologie.  Neu  hrsg.  u.  m.  An- 
merkgn.  versehen  v.  D.  theol.  O.  Flügel.  VIII,  168  S.  gr8''.  Langensalza,  J.  Beltz  '13. 
2.80  M;  geb.  in  Leinw.  n.  3.50  M. 

Buchen  au,  Dr.  Art.:  Kurzer  Abriß  der  Psychologie.  Für  den  Unterricht  an 
höheren  Schulen,  an  Lehrer-  u.  Lehrerinnen-Bildungsanstalten,  sowie  f.  das 
eigne   Studium.     (62  S.)   8o  Berhn,  G.  Reimer   '14.     — .90  M.;  kart.  1.- M. 

Heilmann,  Reg.-  u.  Schulr.  K.,  u.  Lyz.-  u.  Ob.-Lyz.-Dir.  L.  Gerlach,  Drs., 
Pädagogik  f.  Oberlyzeen.  2  Bde.  gr8''.  Berlin,  Union,  Zweigniederlassg.  '14. 
geb.  in  Leinw.  5.80  M. 

1.  Bd.  Grundlegender  Unterricht  in  der  Psychologie.  Systematische  Psychologie 
u.  Logik.  Erziehungs-  u.  Unterrichtslehre.  Schulkunde.  240  S.  m.  Abbildgn. 
geb.  in  Leinw.  3. —  M. 

Lay,  Dr.  W.  A.,  Lehrbuch    der   Pädagogik.     1  Tl.    Psj'^chologie    nebst  Logik 


Vierteljahrsverzeichnis  neuer  Schriften.  447 


u.  Erkenntnislehre.    2.   verb.    Aufl.   XII,   220  S.   m.   34  Fig.    gr8°   Gotha,    E.  F. 

Thienemann    '14,    3.50  M. 
Herget,    Sem.-Prof.   A.,   Psychologie   u.   Erziehungslehre.    227  u.  3  S.  ra. 

38Abbildgn.     Lex8°.  Prag.  A.  Haase  '14.     2.70  M;  geb.  in  Leinw.  3.35  M. 
Ostermann,  Geh.  Reg.-R.  Prov.-Schulr.  Dr.  W.,  u.  Sem.-Ob.-Lehr.  L.  Wegener, 

Lehrbuch    der    Pädagogik.    I.   Tl.,    Psychologie.    Von   Dr.   W.  Ostermann. 

15.    Aufl.    VIII,    324   S.    m.    Abbildgn.     grS».    Oldenburg,    Schulze    '14.     4.—  M; 

geb.  4.80  M. 
Maday,  Dr.  Stef.  v..  Gibt   es   denkende  Tiere?    Eine  Entgegng.   auf   Kralls 

„Denkende    Tiere".     XV.    461    S.    m.  6  Fig.     gr8o.    Leipzig,    W.    Engelmann  '14. 

9.60  M;  geb.  in  Leinw.  10.40  M. 
Harter,  Dr.  Gust.:  Das  Rätsel  der  denkenden  Tiere.    (76  S).    gr8<' Wien,  W.  Brau- 
müller '14.     1.40  M. 
Lipps,    Prof.    Dr.  G.  F.,    Grundriß    der   Psychophysik.     2.,  neubearb.  Aufl. 

Unveränd.  Neudr.    156  S.    m.  3  Fig.    '14.     Aus:  Sammlung  Göschen  (Unser  heut. 

Wissen  in  kurzen,  klaren,  allgemeinverständl.  Einzeldarstellgn.)  kl8».  Berlin,  G.  J. 

Göschen,     geb.  in  Leinw.  je  — .90  M. 
Hübner,    Otto  R.,    Intellektualie,    die    Krankheit   unseres    Zeitalters.     Kritische 

Reflexionen    eines    Aszendisten    üb.  ernste   Probleme  der  Gegenwart.    78  S.    8°. 

Leipzig,  F.  Eckhardt    '14.    1. —  M. 
Rosmanit,   J.,   Anleitung    zur   Feststellung    der    Farbentüchtigkeit. 

Wien,  F.  Deuticke.    ca.  10. —  M. 
Gallinger,    Aug..    Zur    Grundlegung    e.    Lehre   v.   der  Erinnerung.    IV, 

149  S.    gr8°   Halle,  M.  Niemeyer  '14    4.—  M. 
Pauli,   Rieh.,   Über   e.  Methode    zur   Untersuchung   u.  Demonstration 

der  Enge    des  Bewußtseins   sowie    zur  Messung    der    Geschwindig- 
keit   der    Aufmerksamkeitswanderung.    VII.    36  S.  m.    Fig.  '14.    1.50M. 
Rath,  Strafanst.-Pfr.  Dr.  Carl,    Über  die  Vererbung  V.Dispositionen  zum 

Verbrechen.     Eine  Statist,  n.  psycholog.  Untersuchg.  III  u.  S.  37 — 138  m.  Fig. 

'14.    4. —  M.     Aus:   Münchener  Studien,  zur  Psychologie  u.  Philosophie,  hrsg.  v. 

Drs.  Prof.  Osw.  Külpe  u.  Karl  Bühler.  gr8°.  Stuttgart,  W.  Spemann  '14. 
Ament,  Dr.  Wilh.,  Die  Seele  des  Kindes.    Eine  vergleich.  Lebensgeschichte. 

Mit  44  Bildern  u.  1  Vignette  v.  Erich  Heermann.    4.,  verb.  Aufl.  95  S.  8°.  Stutt- 
gart, Franckh.    '14.    1.— M;  geb.  1.80  M. 
Stern,  Prof.  William:    Psychologie  der  frühen  Kindheit  bis  zum  6.  Lebensjahre. 

Mit  Benutzg.  ungedruckter  Tagebücher  v.  Clara  Stern.     (VII,  372  S.  m.  6  Taf.) 

8"  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  '14.    7.— M.;  geb.  in  Leinw.  8.60  M. 
Glaue-Bulß,  Helene:    Das  Schwärmen  der  jungen  Mädchen.  (34  S.) '14.  — .20  M. 

(Partiepreise.)      Aus    „Entwicklungsjahre".      Psychologische    Studien    üb.    die 

Jugend  zwischen  14 — 25.    Hrsg.  v.  Jobs.  Eger  u.  L.  Heitmann.    8°  Leipzig,  P. 

Eger. 
Beiträge    zur  Kinderforschung   u.  Heilerziehung.    Beihefte  zur  „Zeitschrift  für 

Kinderforschg."  Hrsg.  v.  Dir.  J.  Trüper.    gr8^  Langensalza,  H.  Beyer  &  Söhne. 

86.  Heft.    Egenberger,  R.:    Die  reine  Kinderleistung.     (VII,  124  S.  m.  32  Taf.) 

'14.    3.— M. 
107.  Heft.    Lehm,  Kurt:    Stoffsammlung  zum  Sprechunterricht  auf  der  Vor- 
1..ZU.  Unterstufe  der  Hilfsschule.    (VIII,  100  S.)  '14.     1.75  M. 

109.  Hüft.  Braunshausen,  Gymn.-Prof.  Dr.  N.:  Die  experimentelle  Gedächtnis- 
forschung. Ein  Kapitel  der  experimentellen  Pädagogik.  (VI,  169  S.)  '14. 
3.50  M. 

116.  Heft.  Goddard,  Dir.  Dr.  Hennry  Herb.:  Die  Familie  Kallikak.  Eino 
Studio  üb.  die  Vererbg.  dos  Schwachsinns.  Berechtigte  deutsche  Übersetzg, 
\ .   I  )r.  Karl  Wilker.     (73  S.  m.  14  Taf.)  '14.     1.65  M. 

118.  Heft.  Russell,  Charles  E.  B.,  M.  A.:  Junge  Galgenvögel.  Berechtigte 
Übersetzg.  v.  Dr.  Karl  Struvo.     (VIII,  118  S.)  '14.     2.— M. 

110.  flfft.  Hellwig,  Assist.  Ger.-Assess.  Dr.  Alb.:  Kin<l  n.  Kino.  (147  S.)  '14. 
2.KtM. 


448  Vierteljahrsverzeichnis  neuer  Schriften. 

120.  Heft.     Maennel,  Rekt.  Dr.  B.:    Von  der  Schule  des  Mittelstandes  (Mittel- 
schule) in  Preußen.     Eine  sozialpädagog.  Monographie.     (83  S.)  '14.     1.35  M. 
Das  Kind  u.   die   Schule.     Ausdruck,  Entwickig.,   Bildg.     (Die   Figur    auf    dem 
Titel  von  Bildhauer  Fei.  Pfeifer.)     (VIII,  401  u.  16  S.  m.  Abbildgn.  u.farb.  Titel- 
bild.)    gr8°  Leipzig,  Dürr'sche  Buchh.     '14.     1.50  M. 
Classen,  Walth.,  Das  stadtgeborene  Geschlecht  u.   seine  Zukunft.    45  S. 
'14.    — 0.80M;  Subskr.-Pr.  — .60M.    Aus:  Die  Entwicklungsjahre.     Psychologische 
Studien  üb.  die  Jugend  zwischen  14 — 25.     Hrsg.  v.   Johs.  Eger  u.  L.  Heitmann. 
80.  Leipzig,  P.  Eger. 

Seh  renk.  Joh.,  Über  das  Verständnis  f.  bildliche  Darstellung  bei  Schulkindern. 
Aus  dem  pädagog.  Seminar  der  Universität  Tübingen.  VII,  241  S.  m.  4.  Fig.  u. 
1  Taf.  '14.  7. —  M.  Aus  Wissenschaftliche  Untersuchungen  zur  Pädagogik  u. 
Psychologie.  Hrsg.  v.  Drs.  G.  Deuchler  u.  D.  Katz.    gr8''.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 

Weigl,  Sem.-Assist,  Lehr.  Frz.:  Experimentell-pädagogische  Erforschung  der 
Begabungsdifferenzen.  (85  S.)  '14.  1.—  M.  Aus  Zeitfragen,  Pädagogische.  Samm- 
lung V.  Abhandlgn.  aus  dem  Gebiete  der  Erziehg.  Hrsg.  v.  der  Red.  des  „Pha- 
rus",  Gassianeuni,  Donauwörth.     Neue  Folge.     gr8°  Donauwörth,  L.  Auer. 

Meumann,  Prof.  E.,  Abriß  der  experimentellen  Pädagogik.  VII,  462  S.  m.  12  Fig. 
grS".  Leipzig,  W.  Engelmann  '14.     3. — M;  geb.  in  Leinw.  3.60 M. 

Pfordten,  Prof.  Otto  v.  der.  Das  Gefühl  u.  die  Pädagogik.  133  S.  gr8ö. 
Heidelberg,  Carl  Winter    '14.    3.40  M. 

Roller,  Ob.-Realsch.-Ob.-Lehr.  Priv.-Doz.  Prof.  Dr.  Karl:  Schulkind  u.  Eltern- 
haus.    (IIL  98  S.)     gr8o  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  '14.     1.20  M. 

Neter,  Dr.  Eug.,  Das  einzige  Kind  u.  seine  Erziehung.  Ein  ernstes  Mahn- 
wort an  Eltern  u.  Erzieher.  Mit  e.  Vorwort  v.  Geh.  Med.-R.  Dir.  Prof.  Dr.  Adf. 
Baginsky.     5.  u.  6  erweit.  Aufl.   76  S.    '14.    1.40  M. 

Wyneken.  Dr.  Gust.,  Der  Gedankenkreis  der  freien  Schulgemeinde. 
Dem  Wandervogel  gewidmet.     23  S.    gr8o.     Leipzig,  E.  Matthes  '14. 

Wynecken,  Die  neue  Jugend.  Ihr  Kampf  um  Freiheit  u.  Wahrheit  in  Schule 
u.  Elternhaus,  in  Religion  u.  Erotik.  59  S.  gr8°.  München,  G.  C.  Steinicke  '14. 
1.20  M. 

Reisinger,  Dr.  Ernst,  Dr.  Wyneken,  der  „Anfang"  u.  die  freideutsche 
Jugend.     46  S.     8o.  München,  Verlag  der  ärztl.  Rundschau  '14.     — .80 M. 

Ewert,  Ob.-Primärlehr.,  J.,  u.  Waldschularzt  Dr  A.  Urbany,  Die  Waldschule 
der  Stadt  Düdelingen.  Gegründet  1913  durch  die  vereinigten  Hüttenwerke 
Arbed,  Abteiig.  Düdelingen.  Einrichtung  u.  Organisation  im  1.  Jahre  ihres  Be- 
stehens. (Mit  Abbildgn.  u.  Zeichngn.  v.  Hüttenarchit.  A.  Barble)  52  S.  gr8°. 
Luxemburg,  G.  Soupert.    '14.    1.20  M. 

Hauck,  Gymn.-Ob.  Lehr.  Dr.  P.,  Der  staatsrechtliche  Charakter  der 
höheren  Schulen  nach  preußischem  Recht.  131  S.  8°.  Leipzig,  Quelle  & 
Meyer  '13.     1.80;  geb.  in  Leinw.  2.— M. 

Arzt  u.  Schule.  Ziele  u.  Erfolge  der  Schulkommission  des  ärztl.  Vereins  Mün- 
chen auf  dem  Gebiete  des  Mittelschulwesens.  1904—1914.  (96  S.)  gr8°  München, 
J.  F.  Lehmann's  Verl.  '14.     2.—  M. 

Reichel,  Realprogymn.-Ob.-Lehr.  Dr.  Walt.:  Mathematischer  Werkunterricht. 
Eine  Anleitg.  zur  Herstellg.  u.  Verwendg.  einfacher  mathemat.  Modelle  f.  Lehrer 
u.  Schüler.     (VII,  63  S.  m.  Abbildgn.)     gr8"  Leipzig,  Quelle  &  Meyer  '14.     1.-  M. 

Lay,  Dr.  W.  A.:  Der  Rechenunterricht  auf  experimentell-pädagogischer  Grund- 
lage. (Umschlag  u.  Einbd.:  Führer  durch  den  Rechenunterricht.)  Umgearb. 
u.  verm.,  3.  Aufl.  1.  Tl.  Unterstufe.  (VIII,  299  S.  m.  Abbildgn.  u.  4  Taf.)  gr8o. 
Leipzig,  Quelle  &  Meyer  '14.     4. —  M.;  geb.  in  Leinw.  4.80  M. 

Gesamtunterricht  im  1.  u.  2.  Schulj.  Zugleich  e.  Bericht  üb.  die  Leipziger 
Reformklassen.  Hrsg.  v.  Mitgliedern  der  method.  Abteiig.  des  Leipziger  Lehrer- 
vereins. (IV,  170  S.)  8"  Leipzig,  F.  Brandstetter  '14.  2.50  M.;  geb.  in  Leinw. 
3.— M. 


1\ 


„Wir  Deutschen". 

Aus  dem  Seelenleben  unserer  Zeit. 
Von  Hugo  Gaudig. 

Aus  dem  Seelenleben  unserer  Zeit?  Ja!  Oder  hat  die  Psychologie  kein 
Recht  auf  unsere  Zeit?  Vermag  sie  etwa  so  wenig  Objektivität  zu  leisten, 
daß  sie  auf  ihre  Arbeit  verzichten  muß?  Ich  meine:  Im  Kreise  der  Tätig- 
keiten, die  unsere  große  Zeit  von  unserem  Volke  fordert,  darf  das  psycho- 
logische Studium  der  Zeit  nicht  fehlen:  dies  psychologische  Studium  ist 
eine  notwendige  nationale  Arbeitsleistung.  Und  wenn  die  deutsche  Psycho- 
logie sich  zu  dieser  Arbeitsleistung  unfähig  zeigen  sollte,  so  würde  vielleicht 
die  Anklage  erhoben,  daß  sie  durch  dumpfen  Laboratoriumsbetrieb,  durch 
den  Tik  der  mathematischen  Exaktheit  um  die  Kraft  der  Erfassung  des 
seelischen  Lebens  betrogen  sei.  Auf  Schritt  und  Tritt  fordert  die  Zeit 
die  psychologische  Betrachtung.  Innerhalb  weniger  Tage  wird  unser  Volk 
aus  einer  Seinsweise,  aus  einer  psychischen  Verfassung,  in  die  es  sich  in 
jahrzehntelanger  Priedenszeit  hineingelebt  hatte,  jäh  herausgerissen  und 
durch  Zwang  von  außen  in  eine  neue  unerhörte  Lage  geworfen;  eben  noch 
in  einer  Lage,  in  der  es  seiner  selbst  und  seiner  Zukunft  sicher  war,  wird 
es  plötzlich  an  den  Wurzeln  seiner  Existenz  angegriffen,  vor  die  Frage 
Sein  oder  Nichtsein  gestellt.  Welch  ungeheures  seelisches  Erlebnis  für 
unser  Volk!  Armselige  Wissenschaft,  die  versagen  würde,  wenn  wir  dies 
ungeheure  Erlebnis  unseres  Volkes  in  der  Tiefe  verstehen  wollten.  Das 
Volk  erhebt  sich  mit  einer  beispiellosen  Kraft.  Diese  Kraft  gilt  es  in 
ihrer  Natur  zu  studieren.  Das  wirtschaftliche  Leben  des  Volkes  paßt  sich 
an  die  von  Grund  aus  veränderte  wirtschaftliche  Lage  mit  einer  unerhörten 
Kraft  und  Schmiegsamkeit  an.  Muß  man  erst  vom  Geist  der  amerikanischen 
Psychologie  erfaßt  werden,  um  die  tiefere,  die  psychologische  Natur  dieser 
Anpassung  zu  studieren?  Und  unser  Heer!  —  Gewiß,  gewiß!  Hier  fehlt 
noch  viel,  ehe  wir  an  ein  tieferes  psychologisches  Studium  der  gewaltigen 
Erscheinung  „Das  deutsche  Heer  des  Jahres  1914"  herangehen  können, 
selbst  wenn  wir  uns  auf  die  erste  nun  abgelaufene  Phase  des  Krieges  be- 
schränken wollten.  Aber  täglich  wächst  der  dokumentarische  Stoff,  der 
psychologisch  gewürdigt  werden  muß,  und  schon  prägen  sich  im  Seelen- 
leben unseres  Heeres  und  seiner  Führer  gewisse  Züge  mit  einer  solchen  Klarheit 
aus,  daß  man  sie  für  wesenhaft  halten  möchte.  Ich  lese  da  bei  v.  d.  Goltz 
(„Das  Volk  in  Waffen"  S.  396)  an  einer  Stelle,  wo  er  von  der  unmittel- 
baren Ausbeutung  der  im  Kampf  errungenen  Erfolge  spricht:  im  Kriege 
1870/71  seien  zwar  bei  den  großen  Schlachten  die  strategischen  Gedanken 

Zeitachlift  f.  pftdagoir-  Psychologie.  29 


450  »Wir  Deutschen". 


bis  in  die  äußersten  Folgen  verwirklicht  worden,  doch  sei  unserer  Krieg- 
führung „ein  Zug  von  vornehmer  selbstbewußter  Gelassenheit"  eigen  ge- 
wesen, es  habe  die  „Leidenschaftlichkeit"  gefehlt,  die  die  „unerbittliche 
Siegesausbeutung"  zuwege  bringe.  Sehe  ich  recht,  so  fehlt  in  der  Gegen- 
wart weder  unseren  Truppen  noch  unseren  Heerführern  die  Leidenschaft- 
lichkeit. —  Eine  Frage,  die  auch  psychologisch  zu  würdigen  ist,  betrifft 
die  ungemein  hohe  Inanspruchnahme  der  Energie  unserer  Truppen.  Die 
physischen  und  psychischen  Leistungen  unserer  Truppen  scheinen  die 
Grenze  des  bisher  für  erreichbar  Gehaltenen  beträchtlich  hinauszuschieben. 
Daß  aber  die  Elastizitätsgrenze  bei  dieser  Inanspruchnahme  des  physischen 
und  psychischen  Leistungsvermögens  unserer  Truppen  innegehalten  ist,  dürfen 
wir  hoffen.  —  Es  erübrigt  sich,  die  Unsumme  psychologischer  Richtungen 
aufzuweisen,  in  die  der  psychologisch  geschulte  Blick  in  unserer  Zeit,  dieser 
Zeit  tiefster  seelischer  Bewegungen,  gelenkt  wird.  Ich  will  nur  auf  zwei 
besonders  interessante  Gebiete  hinweisen,  die  eine  Fülle  psychologisch  zu 
verarbeitenden  Stoffs  gerade  in  unserer  Zeit  darbieten,  die  Psychologie  des 
Gerüchts  und  die  Psychologie  der  Aussage,  vor  allem  natürlich  der  „Aus- 
sage" in  der  Presse  (der  inländischen,  aber  auch  der  ausländischen).  Hier 
liegen  Beobachtungsgebiete  vor,  die  das  Seelenleben  der  Presse  von  dem 
Pol  völliger  Gesundheit  bis  zu  dem  Pol  des  bereits  Pathologischen  um- 
spannen: oder  fällt  nicht  manche  Gruppe  von  Erscheinungen  in  der  aus- 
ländischen Presse  unter  pathologische  Gesichtspunkte? 

Aber  —  man  wird  sagen :  Wer  unter  uns  kann  und  will  denn  Jetzt  mit 
der  Objektivität,  die  unsere  Wissenschaft  von  uns  fordert,  unsere  Zeit 
psychologisch  „bearbeiten"?  Wir  sind  ja  viel  zu  sehr  mit  unserem  Affekt- 
leben in  die  Geschehnisse  der  Zeit  verwoben;  Liebe  und  Haß  und  die 
übrigen  starken  Affekte,  die  hoffentlich  unser  Herz  durchwalten,  fälschen, 
wenn  nicht  schon  die  Aufnahme  der  psychologischen  Tatbestände,  so  doch 
deren  psychologische  Deutung.  Gewiß  besteht  diese  Gefahr,  und  man  wird 
dieser  Gefahr  vor  allem  schon  dadurch  gerecht  werden,  daß  man  sich  vor 
jedem  überhasteten  Festlegen  des  eigenen  Urteils  hütet,  daß  man  die 
psychologischen  Deutungen  als  Deutungsversuche  ansieht,  die  immer  wieder 
nachzuprüfen  sind.  Aber  wollen  wir  denn  wirklich  warten,  bis  uns  die 
Ereignisse  in  die  „objektive"  Ferne  gerückt  sind,  bis  wir  uns  nur  künst- 
lich wieder  in  die  Ereignisse  einfühlen  und  einleben  können,  deren 
psychischer  Gehalt  sich  uns  jetzt  durch  starkes  und  unmittelbares  Ein- 
leben und  Einfühlen  in  seiner  Tiefe  erschließt? 

Und  vergessen  wir  nicht:  Wir  bedürfen  die  psychologische  Arbeit  an  den 
Zeitereignissen;  wir  bedürfen  sie  für  die  Gegenwart  und  für  die  Zukunft; 
wir  bedürfen  sie  so  gewiß,  als  wir  eine  vertiefte  Auffassung  des  Geschehenden 
und  der  wirkenden  Kräfte  nicht  entbehren  können.  Nicht  zuletzt  können 
wir  Lehrer  diese  psychologisch  vertiefte  Auffassung  nicht  entbehren,  wenn  es 
uns  mit  der  hohen  Aufgabe,  unseren  Schülern  zum  Einleben  in  unsere  ge- 
waltige Zeit  mitzuhelfen,  heiliger  Ernst  ist. 

Wenn  ich  selbst  einige  Gedanken  zu  dem  Thema  „Wir  Deutschen"  aus- 
sprechen will,  so  soll  es  sich  dabei  um  unser,  der  Deutschen,  Wir-Be wußt- 
sein handeln.    Der  allgemeine  psychologische  Tatbestand,  der  mit  dem  Aus- 


„Wir  Deutschen".  451 


druck  „Wir-Bewußtsein"  bezeichnet  wird,  verdient  —  besonders  auch  von  der 
pädagogischen  Seite  her  —  eine  weit  größere  Beachtung,  als  er  sie  bisher 
gefunden  hat.  Das  Wir-Bewußtsein  ist  sowohl  im  Seelenleben  des  einzelnen 
wie  der  Gruppen  ein  hochbedeutsamer  Faktor;  nicht  zuletzt  wird  die  Schule 
dem  Wir-Bewußtsein  der  einzelnen  Schüler  wie  auch  der  Klassen  ein  viel 
stärkeres  Interesse  als  bisher  entgegenbringen  müssen. 

Zur  Würdigung  des  Wir-Bewußtseins  der  Deutschen  in  unserer  Gegen- 
wart wird  ein  Vergleich  der  Gegenwart  und  der  Zeit  vor  dem  Kriege  dien- 
lich sein.  Selbstverständlich  hat  auch  in  der  Zeit  vor  dem  Kriege  der 
Bewußtseinsakt,  dessen  sprachlicher  Ausdruck  das  „Wir  Deutschen"  ist,  im 
Geistesleben  der  Deutschen  nicht  gefehlt.  Aber  doch  bestehen  starke  Unter- 
schiede, Unterschiede,  die  die  Häufigkeit,  den  Inhalt,  die  Gefühlsbetonung, 
die  Willensnatur,  überhaupt  den  Zusammenhang  mit  dem  gesamten 
seelischen  Leben  betreffen.  Wenn  wir  ein  leicht  ansprechendes,  an  Vor- 
stellungsinhalt reiches,  stark  gefühlsbetontes,  den  Willen  leicht  anregendes, 
in  das  gesamte  Seelenleben  fest  integriertes  nationales  Wir-Bewußtsein  als 
ein  wertvolles  Merkmal  des  gesamten  nationalen  Seelenlebens  ansehen,  so 
werden  wir  in  dem  Wir-Bewußtsein  der  Deutschen  vor  dem  Kriege  tiefe 
Mängel  nicht  verkennen  dürfen.  Ohne  statistische  Beweise  dafür  zu  fordern, 
wird  jeder,  der  das  nationale  Leben  miterlebt  hat,  zugestehn,  daß  ein  leicht 
ansprechendes  und  starkes  nationales  Wir-Bewußtsein  dem  deutschen  Seelen- 
leben vor  dem  Kriege  fehlte.  Warum?  Wenn  ein  einzelner  oder  eine 
Gruppe  sich  mit  den  anderen  Deutschen  in  einem  „Wir  Deutschen"  zu- 
sammenfassen soll,  so  muß,  falls  es  sich  um  einen  eigentlichen  Bewußtseins- 
akt und  nicht  um  einen  bloßen  Sprachgebrauch  handelt,  Anlaß  und  Ur- 
sache gegeben  sein,  und  dem  Wirksam  werden  des  Anlasses  und  der  Ursache 
dürfen  sich  nicht  Hemmungen  in  den  Weg  stellen.  Die  Zeit  vor  dem 
Kriege  war  nicht  reich  an  Anlässen  und  Ursachen,  reich  dagegen  an 
Hemmungen.  Als  Hemmungen  müssen  die  starken  Gegensätze  gelten,  die 
das  nationale  Leben  zerfurchten  und  darum  das  nationale  Wir-Bewußtsein 
vielfach  nicht  aufkommen  ließen.  Von  geringer,  gelegentlich  aber  doch 
unliebsamer  Hemmungskraft  waren  landschaftliche  Gegensätze,  besonders 
der  von  Nord  und  Süd;  für  das  nationale  Wir-Bewußtsein  ist  die  Main- 
grenze immer  noch  spürbar.  Stärkste  Hemmungen  setzten  sich  der  Ent- 
stehung und  Entwicklung  eines  allgemeinen  nationalen  Wir-Bewußtseins  in 
den  polnischen  Grenzbezirken,  in  Elsaß-Lothringen  und  an  der  dänischen 
Grenze  entgegen.  Gleichfalls  sehr  stark  hemmend  wirkte  der  konfessionelle 
Gegensatz  und  vor  allem  der  soziale  Gegensatz.  Nicht  mit  Unrecht  hat 
man  gesagt,  daß  namentlich  der  Klassengegensatz  die  Nation  dualistisch 
in  zwei  Nationen  zu  spalten  drohe,  zwischen  denen  die  Momente  des  Ein- 
heitsbewußtseins immer  schwächer  würden. 

Was  die  Natur  der  Hemmungen  angeht,  mag  noch  auf  folgendes  hin- 
gewiesen werden.  Denken  wir  uns  das  Leben  der  Menschen,  deren  natio- 
nales Wir-Bewußtsein  wir  untersuchen,  nicht  als  ein  allgemeines,  unbe- 
stimmtes Leben,  sondern  als  ein  Leben,  das  sich  nach  den  verschiedenen 
Lebensgebioten  gliedert,  so  kann  die  Hemmung  auf  einem  Lebensgebiet 
liegen  und  für  dies  Lebensgebiet  die  Entstehung  des  nationalen  Wir-Be- 

29* 


452  f. Wir  Deutschen". 


wußtseins  verhindern;  so  z.  B.  kann  auf  dem  religiösen  Gebiet  der  Gegen- 
satz zwischen  den  Konfessionen  so  gespannt  sein,  daß  es  hier  nur  zum 
Bewußtsein  des  Gegensatzes  und  nicht  zum  Bewußtsein  nationaler  Ver- 
wandtschaftlichkeit auf  religiösem  Gebiet  kommt.  Die  hemmende  Wirkung 
des  religiösen  Gegensatzes  kann  sich  aber  auch  auf  andere  Lebensgebiete, 
z.  B.  auf  das  Gebiet  der  freien  Bildung,  fortsetzen  und  auch  hier  die  Ent- 
stehung und  Entfaltung  des  Wir-Bewußtseins  hindern.  Umgekehrt  aber 
kann  auch  die  Schärfe  des  Gegensatzes  auf  dem  einen  Lebensgebiet  durch 
die  Einheitsmomente  auf  einem  anderen  gemildert  werden.  So  kann  sich 
der  religiöse  Gegensatz  mildern,  wenn  sich  Zugehörige  der  verschiedenen 
Konfessionen  im  Besitz  eines  hochwertigen  nationalen  Bildungsgutes  eins 
wissen.  Grenzfälle,  die  die  schwierige  Frage  beleuchten,  dürften  die 
folgenden  sein:  Auf  einem  Gebiete  ist  der  Gegensatz  so  scharf,  daß  nicht 
nur  auf  diesem  Gebiet  und  für  dies  Gebiet  kein  nationales  Wir-Bewußt- 
sein  entsteht,  sondern  die  Entstehung  dieses  Bewußtseins  auch  auf  den 
anderen  Lebensgebieten  verhindert  wird.  Man  denke  hier  an  den  schroffen 
Gegensatz  zwischen  den  Konfessionen  oder  den  schroffen  Klassengegensatz. 
Der  entgegengesetzte  Fall  wäre  die  Beschränkung  der  Hemmung  auf  das 
Lebensgebiet,  auf  dem  sie  entstanden  ist.  Ein  anderes  Gegensatzpaar  stellt 
sich  in  dem  Fall  einer  Hemmung  auf  allen  Lebensgebieten  und  dem  Falle 
einer  ungehemmten  Entwicklung  auf  allen  Lebensgebieten  dar. 

Kennzeichnend  für  die  nun  zum  Glück  abgeschlossen  hinter  uns  liegende 
Periode  war  einmal  die  der  Entwicklung  des  nationalen  Wir-Bewußtseins 
sehr  schädliche  Schärfe  der  Gegensätze  auf  den  einzelnen  Lebensgebieten, 
anderseits  ein  Übergreifen  der  hemmenden  Wirkungen  von  Gebiet  auf  Gebiet. 

Und  nun  „wir  Deutschen"  in  der  Zeit  des  großen  Kriegs!  Ein  großes 
Kaiserwort:  „Ich  kenne  keine  Parteien  mehr,  ich  kenne  nur  Deutsche" 
leuchtet  uns  hier  voran.  Unser  nationales  Wir-Bewußtsein  hat,  wenn  ich 
recht  sehe,  eine  ungeheure  Stärkung  erfahren.  Eine  der  größten  Segnungen 
unserer  Zeit;  eine  Segnung,  die,  wenn  sie  dauernd  bleibt,  einen  Teil  der 
beispiellosen  Blutopfer  wert  ist,  die  Deutschland  bringen  muß.  „Wir 
Deutschen!"  Eins  wissen  sich  die  Protestanten  als  Deutsche  mit  den 
Katholiken,  eins  wissen  sich  die  Anhänger  der  bestehenden  Gesellschafts- 
ordnung als  Deutsche  mit  den  Sozialisten,  eins  wissen  sich  die  Träger 
hoher  Bildung  als  Deutsche  mit  den  Männern  aus  dem  Volke,  eins  wissen 
sich,  soweit  dafür  die  freiwillige  Kriegsbereitschaft  von  vielen  Tausend 
Männern  zeugt,  die  Reichsländer  und  wir  anderen  Deutschen. 

Und  dieses  Wir-Bewußtsein  ist  kein  kalter  Bewußtseinszustand.  Das 
beweist  schon  die  Reizbarkeit  unseres  Wir-Bewußtseins.  Man  erinnere 
sich  z.  B.  an  die  schroffe  Ablehnung,  die  das  Vorgehen  jener  Parlamentarier 
allgemein  fand,  die  ohne  Zuziehung  der  Sozialdemokraten  Flottenfragen 
berieten.  Die  Reizbarkeit  unseres  Wir-Bewußtseins  ist  aber  groß,  weil  es 
stark  gefühlsbetont  ist.  „Wir  Deutschen"  —  das  sind  wir,  die  wir  auf  Tod 
und  Leben  kämpfen,  die  wir  eine  gerechte  Sache  gegen  eine  Welt  voll  Un- 
gerechtigkeit verteidigen,  die  wir  eine  Weltkultur  gegen  den  Einbruch  der 
Unkultur  schützen,  die  wir  „den  Willen  zum  Sieg"  und  die  Kraft  zum 
Sieg  besitzen  .... 


„Wir  Deutschen".  453 


„Wir  Deutschen"  aber  ist  nicht  nur  ein  schöner  Tatbestand  des  deutschen 
Bewußtseins  und  Gefühlslebens;  eine  Fülle  von  Willensentschlüssen  und 
Handlungen,  von  denen  wir  täglich  hören,  entspricht  diesem  Tatbestande: 
es  sei  nur  erinnert  an  das  große  Ereignis  des  4.  August,  an  die  Aufhebung 
von  Kampfesorganisationen  oder  an  die  eben  jetzt  vollzogene  Kundgebung 
von  Vertretern  aller  (sonst  so  oft  im  Kampf  stehenden)  wirtschaftlichen 
Interessengruppen;  eine  Kundgebung,  aus  der  ersichtlich  wird,  daß  wir 
Deutschen  uns  jetzt  in  wirtschaftlichen  Fragen  eins  wissen. 

Woher  sich  diese  wundervolle  Entfaltung  unseres  nationalen  Wir -Be- 
wußtseins erklärt,  kann  nicht  zweifelhaft  sein.  Ohne  es  verschuldet  zu 
haben,  wurde  unsere  Nation  plötzlich  vor  die  Frage  „Sein  oder  Nichtsein" 
gestellt.  Denn  darüber  kann  kein  Zweifel  sein,  daß  es  sich  für  uns  in 
diesem  Kriege  nicht  darum  handelt,  dieses  oder  jenes  Stück  unseres  Be- 
sitzes und  unserer  Geltung  zu  behaupten,  daß  vielmehr  unsere  gesamte 
Existenz  in  Frage  steht;  im  Falle  einer  Niederlage  Deutschlands  würden 
unsere  Feinde  das  gewaltige  Ganze  kultureller  Kräfte,  das  Deutschland 
heißt  und  das  Gegenstand  ihres  Neides  und  Hasses  ist,  so  zu  schmälern 
wissen,  daß  es  nicht  mehr  es  selbst  wäre.  So  handelt  es  sich  für  uns  um 
nichts  weniger  als  um  Selbsterhaltung.  Das  Bewußtsein  dieser  ungeheuer 
kritischen  Lage  aber  schweißt  uns  vor  allem  zu  innerer  Einheit  zusammen, 
hebt  die  Wirksamkeit  aller  Unterschiede  und  Gegensätze  auf  und  verleiht 
uns  das  starke  nationale  Einheits-,  das  nationale  Wir-Bewußtsein.  Das 
Bewußtsein  der  kritischen  Lage  ohnegleichen  würde  indes  allein  diese 
Wirkung  nicht  hervorgebracht  haben.  Die  Geschichte  kennt  Völker,  die 
angesichts  der  größten  Existenznot  nicht  zum  Einheitsbewußtsein  gelangt 
sind.  Zu  dem  Bewußtsein  unserer  Not  kam  noch  das  Bewußtsein  des 
Wertes,  der  unserer  Nation  eigen  ist  und  der  durch  den  Neid  der  Feinde 
nicht  vermindert  ist.  Das  Aufflammen  eines, starken  Selbstwertgefühls 
war  die  Folge  des  Versuchs,  das  deutsche  Kulturelement  innerhalb  der 
Weltkultur  zu  vernichten  oder  doch  aufs  äußerste  zu  schwächen.  Beson- 
ders wichtig  aber  für  die  Entwicklung  des  nationalen  Wir-Bewußtseins  war 
die  unvergleichliche  Kraftentfaltung,  die  der  Überfall  der  Feinde  in  der 
deutschen  Nation  auslöste:  eine  Mobilmachung,  bei  der  die  mathematische 
Pünktlichkeit  fast  vergessen  ließ,  daß  nicht  tote  Kräfte,  sondern  freie 
Menschenkräfte  zu  einheitlicher  Arbeit  zusammengefaßt  wurden,  zugleich 
eine  Entfaltung  der  finanziellen  Kräfte  des  Reiches,  die  man  der  Jugend 
des  Deutschen  Reichs  kaum  zugetraut  hatte,  vor  allem  dann  der  Ausbruch 
unserer  kriegerischen  Kraft  in  Ost  und", West,  nicht  zu  vergössen  ferner 
die  Fortsetzung  der  wirtschaftlichen  Arbeit  in  der  neuen,  so  einschneidend 
veränderten  wirtschaftlichen  Lage  und  alle  anderen  Beweise  deutscher  Kraft. 

Ein  Volk,  das  in  seiner  Existenz  so  schwer  bedroht  ist,  seines  Wertes 
sich  so  bewußt  sein  darf  und  so  seine  besten  Kräfte  im  Dienste  der  Selbst- 
erhaltung mobil  macht,  muß  zu  einem  starken,  fest  geschlossenen  Wir- 
Bewußtsein  kommen,  das  alle  Glieder  des  Volkes  zu  Gedeih  imd  Verderb 
verbindet. 

Von  großem  psychologischen  Interesse  ist  es  nun,  zu  beobachten,  wie 
dies  nationale  Einheitsbewußtsein  sich  zu  den  Gegensätzen  und  Spannungen 


454  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw. 

verhält  und  verhalten  wird,  die  auf  den  verschiedenen  Lebensgebieten  be- 
standen und  hier  dem  nationalen  Einheitsbewußtsein  schädlich  waren.  An 
sich  gibt  es  verschiedene  Möglichkeiten.  Es  könnte  sein,  daß  diese  Gegen- 
sätze durch  die  Macht  des  Einheitsbewußtseins  gleichsam  mechanisch  aus 
dem  Bewußtsein  verdrängt  würden;  sie  könnten  aber  auch  absichtlich 
(willentlich)  aus  dem  Bewußtsein  geschoben  werden.  Im  ersten  Falle 
würden  sie  von  selbst  nicht  wirksam,  im  zweiten  würde  man  sie  (vielleicht 
für  die  Tage  der  großen  Not)  nicht  wirken  lassen  wollen.  In  beiden  Fällen 
aber  beständen  die  Gegensätze  an  sich  im  Bewußtsein  fort,  nur  eben  als 
von  selbst  latente  oder  absichtlich  unwirksam  gemachte  Tatbestände  des 
Bewußtseins.  Wesentlich  anders  würde  sich  das  nationale  Wir-Bewußtsein 
überall  dort  gestalten,  wo  das  im  Kampf  um  die  Existenz  gewonnene  Ein- 
heitsbewußtsein auf  jene  Gegensätze  einwirkt.  Man  hat  bei  dieser  Ein- 
wirkung nicht  etwa  gleich  an  eine  Aufhebung  der  Gegensätze  zu  denken; 
auch  der  gewaltigste  Existenzkampf  vermag  diese  tief  in  dem  Leben  der 
Nation  eingewurzelten  Gegensätze  nicht  aufzuheben;  wohl  aber  vermag  ein 
starkes  nationales  Einheitsbewußtsein  einmal  sehr  bedeutend  auf  die  Art  ein- 
zuwirken, wie  die  Gegensätze  ausgetragen  werden  und  sich  auswirken,  und 
dann  ist  es  wohl  möglich,  daß  unter  dem  Druck  eines  starken  Einheits- 
bewußtseins auch  auf  den  Gebieten  des  Gegensatzes  das  Gemeinsame 
erkannt  und  gefühlt  wird,  daß  man  also  z.  B.  unbeschadet  der  Gegensätze 
innerhalb  der  Gottesverehrung  der  Protestanten  und  Katholiken  sich  hier 
wie  dort  dessen  bewußt  ist:  „Wir  Deutschen  fürchten  Gott,  aber  sonst 
nichts  auf  der  Welt". 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  über  den 
Fortschritt  der  Verbesserungen    der    öffentlichen   Volksschulen 

im  Deutschen  Reiche. 

Im  Auftrage  der  pädagogischen  Zentrale  des  Deutschen  Lehrervereins 
bearbeitet  von  Aloys  Fischer. 

Vorbemerkungen. 

1.  Die  Tendenz  des  Fragebogens. 

Die  Schulen  sind  jederzeit  in  Umbildung  begriffen,  in  der  Gegenwart  besonders 
stark;  teilweise  geht  der  Anstoß  von  ihnen  selbst  aus,  von  Lehrern,  Schulleitern, 
Schulkollegien,  teilweise  von  anderen,  an  Erziehungsfragen  interessierten  Kreisen. 
Diese  letzteren  haben  sich  wiederum  in  der  Gegenwart  auffallend  gemehrt  und 
mit  ihnen  die  Zahl  und  Tragweite  der  erhobenen  Reformforderungen.  Niemand 
weiß  zurzeit  genau,  welche  Reformforderungen  heute  schon,  ganz  oder 
teilweise,  im  Schulwesen  durchgeführt  sind,  mit  welchem  Erfolge 
sie  sich  bewährt  haben,  welche  auf  Probe  eingeführt  werden.  Oft 
erleben  die  Reformer  die  Überraschung,  daß  eine  ihnen  neu  erscheinende  For- 
derung als  längst  erfüllt  nachgewiesen  wird,  oft  auch  umgekehrt  die  Tatsache, 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw«  455 

daß  eine  zweifellos  vernünftige  und  einfache  Maßregel  merkwürdigerweise  noch 
I  nicht  ihren  Eingang  in  die  Praxis  gefunden  hat. 

Es  ist  die  Tendenz  dieses  Fragebogens,  der  Unsicherheit  des  Wissens  auf 
diesem  Gebiete  zu  steuern  und  planmäßig,  etwa  von  Jahrfünft  zu  Jahrfünft, 
festzustellen,  welche  fortschrittlichen  Neuerungen  im  deutschen 
Volksschulwesen  sich  durchgesetzt  haben  und  in  welchem  Umfang. 
Der  Fragebogen  will  in  allererster  Linie  der  Schulverwaltung  einen 
Dienst  erweisen,  insofern  er  Material  beschafft,  einer  übertreibenden  Kritik 
des  Schulwesens  entgegenzutreten  und  öffentlich  zu  bezeugen,  daß  unsere 
Schulverwaltungen  keineswegs  dem  Fortschritt  im  Wege  sind,  sobald  er  sich 
so  ausgereift  hat,  daß  seine  Eingliederung  in  die  naturgemäß  nur  langsam 
sich  wandelnde  Tradition  des  Erziehungswesens  möglich  ist;  er  Kofft,  auch 
dem  Fortschritt  im  Ausbau  der  Erziehungseinrichtungen  selbst  zu  dienen, 
indem  er  wenig  beachtete  oder  nur  vereinzelt  unternommene,  aber  ergebnis- 
reiche Versuche  zu  weiterer  Nachahmung  ans  Licht  holt. 

2.  Die  Art  der  Erhebung, 
Die  Erhebung  geschieht  in  der  Weise,  daß  ein  detaillierter  Fragebogen  durch 

die  Schulvorstände  (Oberlehrer,  Rektoren),  event.  unter  Mitwirkung  des 
Lehrerrates  genau  ausgefüllt  und,  soweit  er  ganz  besonderen  Verhältnissen  noch 
nicht  Rechnung  trägt,  selbständig  erweitert  wird.^)  Dieses  Material  wird  dann 
von  der  Pädagogischen  Zentrale  des  Deutschen  Lehrervereins  bearbeitet,  na- 
mentlich im  Hinblick  darauf,  wie  sich  die  tatsächlich  durchgeführten  Verbesse- 
rimgen  zu  den  Vorschlägen  der  Theoretiker  und  Reformer  verhalten,  welche 
von  den  Reformströmungen  eine  sinkende,  welche  eine  steigende  Tendenz  haben, 
event.  auch,  ob  sich  die  Kosten  des  Schulbetriebes  mit  den  Reformen  erhöhen 
oder  verringern,  ob  der  nachweisbare  Erfolg  (Zensurenstatistik)  mit  den  Re- 
formen gleichen  Schritt  hält.  Der  Erfolg  einer  Erziehungsmaßregel  ist  ja  niemals 
vollständig  und  exakt  nachweisbar,  aber  immerhin  gibt  die  Zahl  der  Schüler, 
welche  an  höhere  Schulen  übertreten,  welche  die  Volksschule  mit  guter  Note 
verlassen,  Nachhilfe  brauchen,  welche  kriminell  werden,  in  Sonderanstalten 
überführt  werden  müssen,  einige  statistische  Anhaltspunkte,  die  beim  Ver- 
gleich von  Schulen  mit  starker  Reformtendenz  und  solchen  ohne  sie  ein  gewisses 
Urteil  über  den  Wert  der  Reformen  ermöglichen. 

3.  Der  Umfang  der  Erhebungen. 
Es  soll  sich  darum  handeln,  ein  möglichst  vollständiges  Bild  des  fortschrei- 
tenden Zustandes  der  Volksschule  zu  gewinnen.  Deshalb  müssen  die  Erhebungen 
sich  auf  alle  wesentlichen  Punkte  des  Schulwesens  erstrecken,  nämlich: 

a)  auf  die  Organisation  der  Volksschule  und  die  Prinzipien  der  Klassenbildimg 

b)  auf  die  Lchrpläne  und  Lehrziele, 

c)  auf  die  Methodik  der  einzelnen  Fächer  und  die  Hilfsmittel  in  ihrer  Unter- 
weisung, 

d)  auf  die  hygienischen  Einrichtungen, 


»)  Der  Fragebogen  wird  von  der  Pädagogischen  Zentrale  des  Deutschen  Lehrer- 
vereins (Vcrsandtstolle:  Rektor  Otto  Schmidt,  Berlin  NO.  18,  Diestelmeyerstr.  12) 
kostenlos  an  alle  Interessenten  abgegeben.  Es  wird  erweirtet,  daß  er  nach  ge- 
wissenhafter Ausfüllung  derselben  wieder  zugeleitet  wird. 


456  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw.. 

e)  auf  die  Vorkehrungen  für  Schülerwohlfahrt  und  Jugendpflege, 

f)  auf  den  Zusammenhang  von  Schule  und  Elternhaus, 

g)  auf  die  Einrichtungen,  welche  für  die  Einschulung  des  Lehrpersonals  in 
die  Aufgaben  der  Praxis  dienen, 

h)  auf  diejenigen,  welche  die  Förderung  der  pädagogischen  Wissenschaft 
selbst  bezwecken. 

Absichtlich  bleiben  alle  frequenzstatistischen  Erhebungen  (Ge- 
samtzahl der  Schulen,  Schulklassen,  Kinder),  alle  Erhebungen  über  die  Lehrer, 
ihre  Bildungs-,  Wirtschafts-  und  Beförderungsverhältnisse  ausgeschlossen.  Ge- 
wiß ist  manches  Reformerische  in  der  Zahlenbewegung  auch  auf  diesen  Ge- 
bieten besehlossen,  aber  im  engeren  Sinne  pädagogische  Verbesserungen 
werden  dabei  nicht  unmittelbar  gefaßt.  Überdies  bieten  die  Mitteilungen  der 
statistischen  Ämter  sowie  die  Arbeiten  der  statistischen  Zentrale  des  Deutschen 
Lehrervereins  sowohl  die  erforderlichen  methodischen  Hilfen  wie  für  eine 
Reihe  von  Fragen  bereits  einwandfreie  Grimdlagen. 

Daß  die  Reformbewegung  auf  dem  Gebiet  der  höheren  Schule  nicht  ein- 
bezogen ist,  hat  nur  äußere  Gründe;  ihre  Erfassung  ist  ein  genau  so  drin- 
gendes Bedürfnis,  erfordert  aber  einen  vielfach  anders  gearteten  Plan  der  Er- 
hebung; ich  hoffe,  ihn  in  Kürze  folgen  lassen  zu  können. 

Geographisch  sollen  sich  die  Erhebungen  auf  das  Deutsche  Reich  erstrecken. 

I.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  die  Organisation  des  Volksschulkörpers. 

a)  Gliederung  des  Ganzen. 

L  Ist  die  bei  Ihnen  bestehende  öffentliche  (gemeindliche  usw.)  Volksschule 
einklassig?  mehrklassig?  siebenklassig  ?  achtklassig?  mit  Parallelabtei- 
lungen? mit  zeitweisem  Abteilungsunterricht? 

2.  Besteht  ein  Kindergarten  an  der  Schule?  Von  wem  eingerichtet  und  ge- 
leitet? Besteht  ein  privater  Kindergarten  am  Schulort?  Wieviel  Prozent 
der  Kinder  haben  vor  dem  Eintritt  in  die  Schule  einen  Kindergarten  be- 
sucht ? 

3.  Besteht  Koedukation?  In  welchem  Umfang?  Aus  welchen  Gründen?  (Gilt 
besonders  für  die  Landschulen,  die  Reform-  und  Versuchsschulen.) 

4.  Ist  für  den  Aufbau  der  Klassen  das  Alter  maßgebend?  Oder  die  Erlan- 
gung bestimmter  Lehrziele  ohne  Rücksicht  auf  das  Alter?  Welches 
Durchschnittsalter  haben  die  Kinder  der  einzelnen  Klassen  ?  Welche  oberste 
imd  unterste  Altersgrenze  ist  für  die  einzelne  Klasse  amtlich  festgesetzt? 
Wird  tatsächlich  eingehalten? 

5.  Ist  die  Schule  im  Prinzip  Konfessionsschule?     Simultanschule? 

6.  Bestehen  besondere  Einrichtungen  für  die  Förderung  der  Schwachbegab- 
ten? Welche?  (Förderklassen?  Abschlußklassen?  Mannheimer  Gliederung ? 
Obligatorischer  Nachhilfeunterricht?  Eigene  Hilfsschulen?  Wie  sind  letz- 
tere organisiert?)  Seit  wann  bestehen  derartige  Einrichtungen?  Wie  be- 
währen sie  sich  ? 

7.  Bestehen  besondere  Einrichtungen  (Sonderklassen,  Zentralklassen,  Wahl- 
klassei;)  für  hervorragend  Begabte?  (z.  B.  für  Singen,  Zeichnen,  Fremd- 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw.  457 

sprachen?)  Seit  wann  bestehen  solche  Einrichtungen?  Welchen  Berufen 
wenden  sich  diejenigen  Volksschüler  zu,  die  von  ihnen  Gebrauch  gemacht 
haben?  Bestehen  wenigstens  private  oder  genossenschaftliche  Einrich- 
tungen am  Ort_,  welche  den  Schülern  schon  auf  der  Oberstufe  der  Volks- 
schule und  namentlich  nach  der  Volksschule  eine  weiter  gehende  Bildung 
in  einem  nicht  lehrplanmäßigen  Fach  ermöglichen  ? 

8.  Ist  die  Mädchenschule  in  gleicher  "Weise  aufgebaut  wie  die  Knabenschule  ? 
Welche  Unterschiede  bestehen? 

9.  Baut  sich  auf  die  Werktagsschule  eine  Fortbildungsschule  auf  ?  Welche  ? 
(Sonntagsschule?  gewerbliche,  landwirtschaftliche,  kaufmännische,  Fach- 
fortbildungsschulen? auch  für  Mädchen?  Haushaltungsschulen?)  Seit 
wann? 

10.  Mit  welchem  Erfolg  sind  die  Fortbildungsschulen  tätig?  (Vergleich  der 
beiden  Abgangsprüfungen,  Frequenz  der  Fortbildungsschulen  usw.) 

11.  Nach  welcher  Klasse  der  Volksschule  erfolgt  bei  Ihnen  im  Durchschnitt  der 
Übertritt  an  eine  höhere  Schule  ?  (Gymnasium,  Realschule  usw.)  Ist  er  an 
eine  Prüfung  geknüpft  ?  Wann  findet  diese  statt  ?  Wer  hält  diese  Prüfung 
ab?  Besteht  Probezeit?  Gibt  es  eine  Gelegenheit  zu  spezieller  Vorbe- 
reitung auf  die  höhere  Schule  ?  (Vorschule  ?  Vorbereitungskursus  ?  Be- 
stehen private  Kurse  zur  Vorbereitung  auf  die  Übergangsprüfung?  usw.) 

12.  Werden  Volks-  und  Fortbildungsschule  ergänzt  durch  (städtische,  staat- 
liche) Bürgerschulen?  Mittelschulen?  durch  Fortbildungsveranstaltungen 
für  Jugendliche  ?  Wanderkurse  ?  Volkshochschulvorträge  ? 

13.  Bestehen  Versuchsklassen  ?  Eine  Versuchsschule  ?  Wie  hängt  sie  mit  dem 
Schulkörper  zusammen  ?  Welches  sind  ihre  speziellen  Aufgaben  ?  Wer  trägt 
ihre  Kosten? 

14.  Wie  viele  Schüler  erreichen  das  Ziel  der  Volksschule  ?  (reguläres  Abgangs- 
zeugnis der  8.  Klasse  etwa?)  Wie  viele  bleiben  auf  niedrigerer  Klassen- 
stufe ?    Warum  ? 

15.  Wie  viele  Schüler  werden  noch  während  der  Schulpflicht  zur  Erwerbs- 
arbeit oder  wenigstens  zu  ausgiebiger  häuslicher  Mithilfe  herangezogen  ? 
Wird  in  der  Durchführung  der  Schulpflicht  auf  solche  Verhältnisse  Rück- 
sicht genommen?  (Gilt  besonders  für  kleine   ländliche   Gemeinden.) 

16.  Wie  hoch  ist  das  Schulgeld  für  die  Volksschule?  Ist  es  nach  dem  Ein- 
kommen der  Eltern  gestaffelt? 

17.  Bestehen  Privatschulen  und  Mittelschulen  (im  norddeutschen  Sinne)  mit 
parallelen  Zielen  neben  der  öffentlichen  Volksschule  ?  Aus  welchen 
Gründen?    Mit  welcher  Frequenz? 

(Vergl.  dazu  Fragebogen  C.  Götze:  Über  die  Schulorganisation,  Arbeiten  dos 
Bundes  für  Schulreform  6.     Vorbericht  Leipzig  1913,  S.  66.) 

b)  Zusammensetzung  der  einzelnen  Klassen. 

1.  Wie  groß  ist  der  durchschnittliche  Umfang  einer  Klasse?  Warum  so  groß? 
oder  80  klein?  (Auszusondern  für  die  einzelne  Klasse  1 — 8,  wenn 
möglich). 

2.  Wird  der  gesamte  Unterricht  in  einer  Klasse  jeweils  von  einer  Lehrkraft 
erteilt?  (Klassenlehrer)  oder  von  mehreren?  (Fachlehrer). 


458  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw. 

3.  Wird  der  Unterricht  in  den  technischen  Fächern  (Singen,  Turnen,  Zeichnen, 
Handarbeit)  erteilt  von  dem  Klassenlehrer  bezw.  der  Klassenlehrerin  ?  Auf 
jeder  Stufe  ?  Oder  ist  ein  besonders  für  diese  Fächer  vorgebildeter  wissen- 
schaftlicher Lehrer  da?     Warum?     Seit  wann? 

4.  Ist  für  den  Handfertigkeitsunterricht  ein  Techniker  (Gewerbelehrer)  vor- 
handen oder  seine  Einführung  beabsichtigt? 

5.  Welche  Gesichtspunkte  sind  für  die  Verteilung  der  Schüler  im  Klassenraum 
maßgebend  ? 

6.  Gestattet  der  Raum  die  Bildung  kleinerer  Gruppen  zur  Durchführung 
arbeitsteiligen  Klassenunterrichts  ? 

7.  Sind  für  einzelne  Fächer  besonders  eingerichtete  Lehrzimmer  vorhanden  ? 
z.  B.  für  den  Werkunterricht?    Den  Physikunterricht? 

8.  Besitzt  die  Schule  eine  Lehrmittelsammlung?    Ihr  Inhalt? 

II.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur    Erhebung    über    die    allgemeinen    didaktischen    und   pädago- 
gischen Grundlagen  der  Schularbeit. 

L  Ist  ein  Lehrplan  vorhanden?  Ein  gedruckter?  geschriebener?  Seit  wann 
ist  er  in  Geltung  ?  Welches  sind  die  durch  ihn  festgelegten  Unterrichtsziele  ? 
(ein  Belegexemplar  erbeten). 

2.  Welche  Fächer  umfaßt  er  ?  In  welcher  Verteilung  und  Kombination  ?  Welche 
an  der  Schule  unterrichteten  Fächer  sind  nicht  einbezogen?  Wem  obliegt 
ihre    Regelung  ? 

3.  Welche  Hilfsmittel  für  die  Hand  des  Schülers  sind  obligatorisch?  (Lehr- 
bücher, Schreibhefte,  Rechenbücher,  Tagebuch,  Schreibblock,  Merkheft.) 
In  welchen  Fächern  ist  das  Lehrbuch  ganz  verschwunden  ?  Warum  ?  Aus 
welcher  Zeit  stammt  die  erste  Auflage  der  noch  im  Gebrauch  befindlichen 
Lehrbücher?  (Belegexemplare  oder  wenigstens  genaue  bibliograpische 
Daten  erbeten!) 

4.  Ist  die  Handarbeit  in  den  Schulbetrieb  einbezogen  ?  In  welcher  Weise  ?  Als 
Prinzip?  als  Fach?  in  welchem  Umfang?  Wie  sind  die  Lehrer,  welche 
Handarbeit  verwenden  oder  Handfertigkeitsunterricht  erteilen,  dafür  vor- 
gebildet? (Siehe  Fragebogen  0.  Schmidt,  IL  Jahrbuch  der  Päd.  Zentrale 
des  Deutschen  Lehrer-Vereins  1912,    Anhang.) 

5.  Welche  Anschauungs-  und  Demonstrationsmittel  sind  vorhanden  ?  (Bilder  ? 
Karten?  ein  Projektionsapparat?  ein  Schulkinematograph ?  Abmachungen 
mit  einem  Kinotheater?  Modelle?  Pflanzen-,  Tier-,  Steinsammlungen?) 
Für  welche  Fächer?  (Heimatkunde?  Geschichte?  Geographie?  Naturbe- 
schreibung?) Besteht  ein  jährlicher  Etat  für  die  Vermehrimg  dieser  Hilfs- 
mittel?    In  welcher  Höhe? 

6.  Ist  die  Schülerwanderung  üblich  ?  Obligatorisch  ?  Im  Dienste  welcher  Dis- 
ziplinen ? 

7.  Gibt  es  Schulgärten  ?  Aquarien  ?  Terrarien  ?  Schulküchen  ?  Vereinbarungen 
mit  wandernden  Schaustellern? 

8.  Welche  Ausdrucksmittel  dürfen  vom  Kinde  verwendet  werden?  Welche 
werden  absichtlich  geschult  ?    (Zeichnen,  Malen,  Modellieren,  Ausschneiden 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw.  459 

und   Kleben,   Schnitzen,   Singen,  freie    Erzählung,   freier  Aufsatz,   Nach- 
machen und  Theaterspielen.)     Von  welcher  Stufe  an  kann  von  Ausdrucks- 
kultur gesprochen  werden  ? 
9.  Werden  die  bestehenden  Museen  (Sammlungen)  zur  Arbeit  der  Volksschule 
mit  herangezogen  ?     In  welcher  Weise  ? 

10.  Gibt  es  Disziplinarsatzungen  für  die  Kinder  ?  Aus  welcher  Zeit  stammen  sie  ? 
(Ein  Belegexemplar  erwünscht!) 

11.  Nehmen  die  Schüler  an  der  Verwaltung  der  Schule  und  Aufrechterhaltung 
der  Ordnung  teil  ?  In  welcher  Weise  ?  (Ältesten- Ausschuß  ?  Schulgemeinde  ? 
Selbstregierung  ?) 

12.  Ist  die  Schule  durch  ihre  Verfassung  verpflichtet,  die  Schüler  zur  Erfüllung 
der  Pflichten  ihres  religiösen  Bekenntnisses  zwangsmäßig  anzuhalten? 
Werden  Versäumnisse  der  Kinder  in  dieser  Hinsicht  durch  die  Schul- 
vorstände als  Disziplinarvergehen  geahndet? 

13.  Gibt  es  Einrichtungen  für  die  Pflege  der  ästhetischen  Empfänglichkeit? 
Welche?  Schulschmuck?  Anleitung  zur  Bildbetrachtung?  Kunstwande- 
rungen? usw. 

14.  Steht  dem  Lehrer  ein  Züchtigimgsrecht  zu  ?  Für  welche  Fälle  ?  Nach  wel- 
chem Kanon? 

15.  Besteht  noch  die  Einrichtung  schriftlicher  Hausaufgaben  ?  In  welchem  Um- 
fange?    Für  welche  Fächer?     Seit  wann  nicht  mehr? 

16.  Gibt  es  Schularbeiten  (Klausurarbeiten)?  Zu  welchen  Zwecken?  Seit  wann 
nicht  mehr? 

17.  Welchen  Prüfungen  ist  das  Kind  im  Laufe  der  Volks-  und  Fortbildungs- 
schulzeit regulär  unterworfen  ?  Wird  über  das  Prüfungsergebnis  ein  Zeugnis 
ausgestellt  ? 

18..  Besteht  außer  der  im  Zeugnis  mitgeteilten  Zensur  eine  Geheimzensur?  Zu 
welchen  Zwecken?  Kann  Einsicht  gegeben  werden?  Wird  außer  der 
Schulzensur  noch  ein  ständiger  Personalbogen  während  der  ganzen  Schulzeit 
geführt?     (Belegexemplare  erbeten!) 

III.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  die  Beziehungen  zwischen  Elternhaus  und 

Schule: 

1.  Besteht  die  Einrichtung  von  Sprechstunden?    Wird  von  ihr  Gebrauch  ge- 
macht ? 

2.  Veranstaltet    die    Schule    Elternabende  ?     Aus    welchen    Anlässen  ?     Wer 
leitet  die  Verhandlungen? 

3.  Gibt  es  am  Ort  eine  Eltemvereinigung?  Welche  Tätigkeit  hat  sie  bisher  ent- 
faltet?    Wie  verhält  sich  die  Lehrerschaft  zu  ihren  Bestrebungen? 

4.  Besteht  ein  offiziell  anerkannter  Elternbeirat?    In  welchen  Fällen  ist  er 
befugt,  den  Verhandlungen  des  Lehrerrats  anzuwohnen? 

5.  Wie  wird  der  laufende  Verkehr  zwischen  Elternhaus  und  Schule  besorgt? 
Aus  welchen  Anlässen  erfolgt  Benachrichtigung  (Ladung)  der  Eltern? 

6.  Werden  die  Eltern  zu  Beginn  des  Schuljahres   über  Stundenplan,  I^hr- 
mittel,  Klassenziel  offiziell  verständigt,   um   die  Überwachung  der  häus- 


460  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw, 

liehen  Arbeit  zweckmäßig  darnach  gestalten  zu  können?  Werden  die 
Eltern  über  die  Chancen  aufgeklärt,  welche  der  Besuch  dieser  oder  jener 
Gattung  höherer  Schule,  freiwilliger  Fortbildungsgelegenheiten  usw.  ihren 
Kindern  eröffnet? 

8.  Beteiligt  sich  die  Schule  offiziell  oder  wenigstens  privat  durch  den  Vor- 
stand oder  vereinzelte  Lehrkräfte  an  der  Berufsberatung  der  Schul- 
entlassenen ?      An  der  Stellenvermittlung  für  Fortbildungsschüler  ? 

7.  Teilnahme  der  Eltern  an   Schulfesten  ?    Entlaßfeiern  ?    Prüfungen  ? 

IV.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  die  Jugendorganisationen. 

1.  Bestehen  gesellige,  wissenschaftliche  usw.  Jugendvereine  oder  -gruppen  an 
dem  Orte  ? 

2.  Wer  hat  sie  eingerichtet?     Leitet  sie? 

.3.  Gibt  es  Jugendorganisationen,  welche  von  politischen  oder  konfessionellen 
Parteien  unterhalten  werden? 

4.  Gibt  es  Jugendgruppen  mit  bestimmten  kulturellen  Tendenzen  ?  (z.  B. 
Abstinenz  usw.). 

5.  Hat  eine  der  zur  Jugendbewegung  im  engeren  Sinn  gehörige  Organi- 
sation (Wandervogel)  Ausbreitung  gefunden?  Oder  eine  der  im  Jung- 
deutschlandbund zusammengefaßten?  (Wehrkraft,  Pfadfinder?)  Welche 
Kreise  begünstigen  und  unterstützen  derartige  Organisationen? 

6.  Wie  verhält  sich  die  Schule  offiziell  zu  diesen  Jugendorganisationen  ? 

V.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  die  Fortschritte  in  der  Methodik  der  einzelnen 

Fächer. 

1.  Stellung  des  Religionsunterrichts  im  Stundenplan?  Wer  erteilt  den 
Religionsunterricht?  Ist  auch  die  weltliche  Lehrkraft  zur  Mitarbeit 'am 
Religionsunterricht  verpflichtet  ?  (Bibelstunde  ?  Abfragen  und  Repetieren 
des  Katechismus?) 

2.  Wird  der  Lehrplan  des  Religionsunterrichtes  ausschließlich  von  der  geist- 
lichen Obrigkeit  ausgearbeitet  und  überwacht? 

3.  Ist  die  Schule  verpflichtet,  ihre  Schüler  zur  Erfüllimg  der  Pflichten  ihres 
religiösen  Bekenntnisses  auch  außerhalb  der  Schule  anzuhalten  ?  (Sonntags- 
gottesdienst, Beichte  usw.?)     Siehe  II,  Teil  12. 

4.  Welche  Hilfsmittel  werden  auf  der  Unterstufe  des  Religionsunterrichts  be- 
nützt  ?  Bilder  ?  Religiöse  Prosa  ?  Arbeiten  ?  usw.  Welche  auf  der  Mittel- 
und  Oberstufe  ?  (Biblische  Landeskunde  ?  Kirchengeschichte  ?  Religiöse 
Lektüre?    Apologetische  Besprechung  von  Zeitfragen?) 

5.  Wird  auf  der  Oberstufe  mit  dem  Religionsunterricht  eine  Art  Lebenskunde 
verbunden?    (Philosophische  Propädeutik.) 

6.  Gibt  es  einen  eigenen  Moralunterricht?  Seit  wann?  Für  welche  Kinder ? 
Wer  entwirft  den  Lehrplan?  Und  überwacht  seine  Durchführung?  Wer 
trägt  die  Kosten  (freireligiöse  Gemeinden?) 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw.  461 

7.  Ist  die  sexuelle  Belehrung  des  Kindes  speziell  dem  Religions-  und  Moral- 
unterricht zugewiesen  oder  beteiligen  sich  alle  Lehrkräfte  je  nach  der  Eignung 
ihres  Faches  daran  ?  Ist  eine  solche  überhaupt  nicht  vorgeseben  ?  Warum 
nicht  ?  Wird  wenigstens  das  Elternbaus  auf  die  hier  möglichen  Aufgaben 
aufmerksam  gemacbt? 

8.  Werden  Lesen  und  Schreiben  vereint  oder  getrennt  unterrichtet?  Wenn 
mit  dem  Leseunterricht  allein  begonnen  wird,  wann  beginnt  er  dann?  In 
welchem  zeitlichen  Abstand  folgt  der  Beginn  des  Schreibunterrichts  ? 

9.  Wird  zum  elementaren  isolierten  Leseunterricht  eine  Fibel  benützt?  Ein 
Bilderalphabet  ?  Merkbilder  ?  Von  Anfang  an  ?  Oder  ein  Setz-Lesekasten  ? 
Seit  wann  ?  Wann  folgt  auf  den  Setzkasten  der  Gebrauch  der  Fibel  ?  Ist  die 
Fibel  illustriert  ?  Ist  sie  literarisch  oder  heimatkundlich  wertvoll  ?  (Beleg- 
exemplar!) 

10.  Mit  welcher  Schriftart  (Antiqua?  Fraktur?  Eigene  Fibelschrift?  Spieser? 
Greyerz?  Seyffert?  Schreiber?)  und  mit  welchem  Alphabet  derselben 
(groß,  klein)  wird  begonnen? 

11.  Werden  mit  dem  Leseunterricht  gleichzeitig  oder  als  Vorbereitung  auf 
Schreib-  imd  Orthographieunterricht  phonetische  Übungen  getrieben  ?  Ein 
einfacher  phonetischer  Unterricht  erteilt  ?  Mit  welchen  Hilfsmitteln  ?  (Laut- 
tafeln, Modelle  des  Sprechapparates  usw.) 

12.  Geht  bei  gesondertem  Lese-  und  Schreibunterricht  dem  Beginne  des  Schreib- 
unterrichts eine  motorische  Vorübung  voran  ?  Wie  lange  dauert  sie  ?  Auf 
welche  Formen  erstreckt  sie  sich  ?  Erfolgt  sie  beidhändig  ?  An  der  großen 
Schultafel  ? 

13.  Welche  Hilfsmittel  werden  im  Schreibunterricht  verwendet?  (Griffel?  Blei? 
Tinte?  Zusammenhang  mit  dem  Zeichenunterricht?)  Wird  ein  eigener 
Schönschreibunterricht  erteilt?     (Probeschriften?) 

14.  Wird  mit  dem  Schreibunterricht  von  Anfang  an  ein  einfacher  orthogra- 
phischer Unterricht  verbunden?  Ist  auf  der  höheren  Stufe  die  Benützung 
eines  Orthographie-Wörterbuches  gestattet?  Welches  orthographische 
Wörterbuch  ist  im  Gebrauch? 

15.  In  welcher  Verbindung  steht  der  Deutschunterricht  mit  dem  Schreib- 
Lese- Unterricht  auf  den  höheren  Stufen  ? 

16.  Ist  in  der  Sprachlehre  eine  eigentliche  grammatische  Unterweisung  vorge- 
sehen ?     Auf  welcher  Stufe  ?     Mit  welchen  Zielen  ? 

17.  Ist  der  freie  Aufsatz  gestattet ?  Ausschließlich  gepflegt ?  Seit  wann?  Warum 
nicht?     Welche  Arten  von  Themata  werden  behandelt? 

18.  Wird  die  deutsche  Literatur  in  den  Schulunterricht  einbezogen?  In  welcher 
Weise  ?     Mit  welchen  Hilfsmitteln  ? 

19.  Was  tut  die  Schule  zur  Anregung  und  Überwachimg  der  Privatlektüre? 
(Schülerbibliothek,  Lesezirkel,  Zeitungen,  Kampf  gegen  die  Schundliteratur.) 

20.  Gibt  es  Lesehallen?  Rezitationsnachmittage?  Schülervorstellungen  im 
Theater?  Wie  besucht?  Wie  sind  diese  Veranstaltungen  dem  Unterricht 
eingegliedert  ?  Wer  trägt  die  Kosten  ?  Spielen  die  Kinder  selbst  Theater  ? 
In  der  Schule  ?     Außerhalb  derselben  ? 

21.  In  welchem  Alter  wird  der  Rechenunterricht  begonnen?    Gehen  seiiem 


462  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw. 

Beginn  Informationen  darüber  voraus,  wie  weit  das  Kind  allgemeine  Quan- 
titäts-  und  Ordnungsbegriffe  besitzt? 

22.  Welche  Hilfsmittel  zur  „Veranscbaulichung"  der  Zahl,  zur  Übung  im  Zählen 
werden  gebraucht  ?    (Zahlbilder,  Finger,  Eechenmaschine  usw.) 

23.  Wird  der  Rechenunterricht  im  ganzen  auf  bestimmte  Tätigkeiten  der  Er- 
wachsenen basiert?     (Spielgeld  und  Kaufgeschäft.) 

24.  Wird  auf  den  Oberstufen  absichtlich  dahin  gestrebt,  daß  das  Kind  die  wich- 
tigsten Sachgebiete  des  werktätigen  Lebens  (Haushalt,  volkswirtschaftliches 
und  statistisches  Material,  Marktbücher  usw.)  mittels  der  Zahl  gewandt  und 
sicher  zu  erfassen  und  in  Form  von  Aufgabestellung  und  Ausgabelösung 
selbständig  zu  bearbeiten  lernt? 

25.  Auf  welchen  Gebieten  wird  der  Rechenunterricht  sonst  noch  gepflegt  bezw. 
mit  angewandt? 

26.  In  welchem  Umfange  ist  auf  der  Unterstufe  geographische  und  ge- 
schichtliche Belehrung  möglich?  In  der  Heimatkunde  enthalten? 
Wann  differenziert  sich  aus  dem  heimatkundlichen  Gesamtunterricht  ein 
eigener  Geographie-  und  Geschichtsunterricht  heraus? 

27.  Werden  im  Geographieunterricht  das  Zeichnen  und  Formen  bzw.  die  Her- 
stellung von  Reliefs  als  Lehrhilfen  benützt? 

28.  Schulatlanten?    Lehrreliefs?    Generalstabskarte? 

29.  Schülerausflug?  Schülerreise?  Anleitung  zu  Verständnis  von  Fahrplan 
und  Kursbuch?  Wie  weit  erstreckt  sich  die  Schülerreise?  Wer  hat  die 
Initiative  dazu  ergriffen?     Wer  trägt  die  Kosten? 

30.  Werden  mit  dem  Geographieunterricht  volkswirtschaftliche  Belehrungen 
verbunden?     In  welchem  Umfange? 

31.  Werden  die  Originalarbeiten  großer  Forscher  und  Geographen  auszugsweise 
von  den  Lehrern,  von  den  Schülern  zur  Belebimg  des  Geographieunter- 
richts benutzt? 

32.  Wird  im  Geschichtsunterricht  die  Originalquelle  verwendet?  Als  Ausgangs- 
punkt? Zur  Belebung?  Befinden  sich  Quellenbücher  in  der  Hand  der 
Schüler?  Welche? 

33.  Wird  die  deutsche  Dichtung  in  den  Dienst  der  Geschichte  gestellt? 

34.  Welche  Rolle  spielt  der  freie  Vortrag  des  Schülers  im  Geschichtsunterricht  ? 

35.  Welche  Rolle  spielt  der  Besuch  von  Sammlungen  und  Museen? 

36.  Werden  Geschichts-  und  Geographieunterricht  zusammen  benützt,  um  die 
Elemente  der  Bürgerkunde  und  staatsbürgerlichen  Belehrung 
zu  vermitteln?  Oder  besteht  ein  eigener  staatsbürgerlicher  Unterricht? 
Auf  welcher  Stufe  ?    Von  wem  erteilt  ?    Welches  sind  die  Hilfsmittel  ? 

37.  Naturkundlicher  Anschauungsunterricht? 

38.  Naturkimdliche  Exkursionen? 

39.  Bestehen  physikalische,  chemische  und  biologische  Schülerübungen?  In 
eigenen  Räumen  ?  Für  welche  Altersstufe  ?     Auch  für  Mädchen  ? 

40.  Ist  die  Chemie  der  Hauswirtschaft  und  Ernährung  besonders  als  Schulfach 
anerkannt  ? 

41.  Ist  ein  elementarer  anthropologischer  und  hygienischer  Unterricht 
lehrplanmäßig  vorgesehen  ?   Wird  er  freiwillig  erteilt  ?   Von  wem  ? 


Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw.  463 

42.  Welche  Einrichtungen  dienen  zur  Pflege  des  ästhetischen  Gefühls  und  der 
Kunsterziehung? 

43.  Welches  sind  die  Ziele  und  Hilfsmittel  der  einzelnen  technischen  Fächer? 

a)  Singen  (Ton wort-Methode ?     Volkslied?     Kunstgesang?     Schüler-Orche- 
ster ?    Schulkonzerte  ?    Konzertbesuch  ?  usw.) 

b)  Zeichnen  (als  Prinzip  ?  als  Fach  ?  mit  wievielen  Stunden  ?   Als  Vorschule 
für  den  ästhetischen  Genuß?) 

c)  Turnen ?  (Turnspiele ?    Mädchenturnen?) 

d)  Handarbeiten   (weibliche?   Knabenhandarbeit?    Ist  eine  eigene  Werk- 
stätte vorhanden?    Eigene  Handfertigkeitslehrer?) 

44.  In  welchen  Fächern  erteilt  die  Volksschule  fakultativen  Unterricht? 
Welches  sind  die  Ziele  der  Lehrgegenstände,  die  Methoden  und  Hilfs- 
mittel dieses  fakultativen  Unterrichts?  (Stenographie,  Buchführung, 
Fremdsprachen  ?) 

45.  Bietet  die  Zielsetzung  und  Methodik  der  Fortbildungsschule  wesentlich 
neue  Gesichtspunkte?  Wie  arbeiten  Werkstätte  und  Lehrmeister  mit 
Schule  und  Fachlehrer  zusammen?  In  welcher  Verbindung  stehen  die 
„allgemeinbildenden"  Fächer  und  ihr  Betrieb  mit  dem  Ziel  der  Fach- 
schule ? 

VI.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  der  schulhygienischen  Fortschritte. 

1.  Ist  ein  Schularzt  tätig?  Seit  wann?  Nur  zur  Untersuchung  oder  auch 
behandelnd?     Wer  trägt  die  Kosten? 

2.  Berücksichtigt  der  Stundenplan  hygienische  Forderungen  ?  Zahl  der  Unter- 
richtsstunden am  Tag?  Zahl  und  Länge  der  Pausen ?  Zahl  der  Unterrichts- 
stunden pro  Woche  ?    für  die  einzelne  Lehrkraft  ? 

3.  Ungeteilte  Unterrichtszeit?  Seit  wann?  Mit  welchem  Erfolg ?  Warum 
noch  nicht? 

4.  Langstunde?    Kurzstunde? 

5.  Lage  und  Länge  der  Ferien? 

6.  Die  Raumverhältnisse  des  Schulhauses  und  Klassenzimmers :  Größe,  Orien- 
tierung, Heizung,  Lüftung,  Umgebung? 

7.  Ist  ein  Schulhof  da?  Ein  Spielplatz  für  die  Pausen?  Müssen  die  Pausen 
im  Freien  zugebracht  werden?     Auch  im  Winter? 

8.  Welche  Trinkanlage  ist  vorhanden? 

9.  Sind  für  Schwerhörige,  Kurzsichtige  usw.,  soweit  sie  inNormalklassen 
verbleiben,  besondere  Plätze  und  Lehrmittel  vgrgesehen? 

10.  Wie  werden  die  Kinder  mit  leicht  ansteckenden  Krankheiten  be- 
handelt? Wie  wird  bei  Epidemien  verfahren  ?  Wie  werden  die  Rekonvales- 
zenten behandelt  ?  Wie  groß  ist  die  Frist  zwischen  erlangter  Genesung  und 
Wiederbeginn  des  Schulbesuchs? 

11.  Sind  bestimmte  Krankheiten  (der  Zähne,  des  Herzens,  der  Limge  usw.) 
und  Defekte  der  Sinnesorgane  in  der  Gegend  auffallend  häufig  ?  Warum  ? 
Leidet  die  Schularbeit  darunter?  Welche  Maßregeln  zur  Bekämpfung  sind 
vorhanden  ?  erforderlich  ? 


464  Entwurf  eines  Fragebogens  zu  periodischen  Erhebungen  usw. 

12.  Wird  den  Schülern  im  Interesse  der  Fürsorge  und  hygienischen  Erziehung 
ein  einfacher  anthropologischer  und  hygienischer  Unterricht  erteilt?  (Siehe 
III.  Teil  41.)    Auf  welche  Kapitel  erstreckt  er  sich  besonders? 

13.  Erhalten  sie  hygienische  Merkblätter?  Etwa  beim  Schulaustritt?  Mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Sexualhygiene  ?  Seit  wann  ?  Durch  wen  ? 
(Belege  erbeten!) 

14.  Wie  ist  für  erkrankte  Kinder  gesorgt?  Gibt  es  Schülerkassen  ?  Wieweit 
erstreckt  sich  die  allgemeine  Krankenversicherimg  auf  Fortbildungsschüler 
(als  Lehrlinge,  kaufmännische  Angestellte  usw.)? 


VII.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur    Erhebung    über    die    Wohlfahrtseinrichtungen    und    Vorkeh- 
rungen zur  Leibespflege. 

1.  Schulspeisung?  Frühstück?  Ist  überhaupt  eine  Gelegenheit  da,  Nah- 
rungsmittel zu  bekommen? 

2.  Waschgelegenheiten?  Schulbad?  Brausebad?  Schwimmbad?  Im 
Haus  ?     Im  Freien  ? 

3.  Hygienische  Vorschriften  für  das  Verhalten  im  Schulgebäude  ? 

4.  Besteht  Schulgeldfreiheit?     Teilweise?     Unter  welchen  Bedingungen? 

5.  Besteht  Lehrmittelfreiheit?  Teilweise?  Unter  welchen  Bedingungen ? 
Seit  wann? 

6.  Gibt  es  für  Kinder,  die  zu  Hause  keine  Aufsicht  und  keinen  geeigneten 
Kaum  haben,  Aufenthaltsmöglichkeiten  während  der  schulfreien 
Zeit?  Welche?  (Hort?  Bewahranstalt?  Lesezimmer?  Spielsäle?  Turn- 
platz ?) 

7.  Unterstützt  die  Schule  gewisse  für  die  Leibespflege  und  Jugendfreude  ge- 
troffene Einrichtungen?  (Wandervogel,  Pfadfinder,  Wehrkraftverein, 
fakultative  Vereinigungen  zur  Pflege  der  Turnspiele,  des  Radsports,  des 
Ruderns?) 

8.  Gibt  es  Rekonvaleszentenheime?  Waldschulen?  Seeheime?  Ferien- 
kolonien? Wer  ist  zu  ihrem  Genuß  berechtigt  ?  Wie  wirken  sie  ?  Speziell 
im  Hinblick  auf  die  Schulziele  ? 

9.  Besteht  ein  wirksamer  Schutz  gegen  die  Ausnützung  der  Kinder 
in  der  Heimarbeit  ?  Im  Laufdienst  ?  Zur  Bettelei  ?  Welcher  Art  sind  diese 
Schutzmaßregeln  ? 

10.  Bestehen  besondere  Gerichte  und  Anstalten  für  die  kriminell  ge- 
wordene Jugend?    Welche?    Seit  wann?    Mit  welchem  Erfolg ? 

11.  Gibt  es  Schulfeste?  Schulfeiern?  Aus  welchem  Anlaß?  Wie  viele  im 
Durchschnitt  ? 

12.  Bestehen  Vorschriften  über  den  Gasthausbesuch  der  älteren  Schüler? 
Über  den  Besuch  von  Theatern  imd  Kinotheatern  ?  Über  die  Teilnahme  an 
Ausflügen  und  sportlichen  Veranstaltungen?  An  anderen  Vergnügungs- 
einrichtungen ? 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugend wanderns.  466 

Vin.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  Schulaufsicht  und  Schulverwaltung. 

1.  Ist  zwischen  Schulauisicht  mit  Disziplinarbefugnis  und  Schulverwaltung 
sachlich  und  in  den  damit  betrauten  Personen  unterschieden  ?  Wer  übt  die 
Schulaufsicht  aus?     Wer  die  Schulverwaltung? 

2.  Gibt  es  einen  technischen  Schulleiter?     Fachaufsicht?     Seit  wann? 

3.  Besteht  daneben  die  geistliche  Schulaufsicht?  Besteht  sie  ausschließlich? 
Welches  sind  ihre  gesetzlichen  Befugnisse? 

4.  Wer  ist  zur  Bekleidung  höherer  Stellen  im  Schuldienst  qualifiziert? 

5.  Welches  sind  die  Befugnisse  der  einzelnen  höheren  Schulämter?  (Prorek- 
torat, Oberlehrerstelle,  Inspektorat,  Schulratamt?) 

,6.  Welche  Neuerungen  in  der  Regelung  der  Befugnisse  und  der  Besetzung  dieser 

höheren  Stellen  sind  vorgekommen?    Wann?    Warum? 
7.  Welche  Neuerungen  werden  erstrebt?     Von  wem? 

IX.  Teil  des  Fragebogens. 

Zur  Erhebung  über  die  Mitarbeit  des  Schulwesens  und  der  Lehrer- 
schaft an  der  pädagogischen  Forschung. 

1.  Besteht  die  Möglichkeit  zu  Lehrversuchen?    Unter  welchen  Bedingungen? 

2.  Bestehen  ganze  Versuchsklassen?     Versuchsschulen?     (Siehe  I.  Teil,  12.) 

3.  Haben  außer  Lehrern  und  Schulleitern  auch  andere  Personen  das  Recht, 
Anträge  zur  Erprobung  neuer  Verfahren  zu  stellen?  (Psychologen,  Ärzte, 
Eltemrat,  theoretische  Pädagogen.)  Oder  Einsicht  in  den  inneren  Schul- 
betrieb sich  zu  verschaffen? 

4.  Wie  und  durch  wen  erfolgt  die  Begutachtung  der  Lehrbücher  und  Lehr- 
mittel? 

5.  Welche  Einrichtungen  sind  für  die  Fortbildung  der  Lehrerschaft  vorhanden  ? 
(Konferenzen,  Spezialkurse,  Institute,  Hochschulstudium,  letzteres  seit 
wann  und  unter  welchen  Bedingungen?) 

6.  In  welchem  Maße  beteiligen  sich  die  Lehrkräfte  Ihrer  Anstalt  an  der  päda- 
gogischen Forschung  und  Publizistik?     (Belege  erbeten!) 

(Zu  Teil  VIII  siehe  Fragebogen  H.  Th.  M.  Meyer  betreffend  Ausbildung  und 
Fortbildung  des  Volksschullehrers  in  Arbeiten  des  Bundes  für  Schulreform  6, 
Leipzig  1913.) 

Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

Von  Gurt  Zeidler. 

In  dem  Arbeitsprogramm  der  (Pädagogischen  Vereinigung  von  1905  in 
Hamburg  nehmen  die  in  den  Ferien  und  an  Sonntagen  von  ihr  veranstal- 
teten Kinderausflüge  eine  hervorragende  Stelle  ein.  Von  anderen  Organi- 
sationen mit  ähnlichen  Aufgaben  unterscheidet  die  Vereinigung  sich  vor- 
nehmlich durch  eine  entschiedene  Betonung  der  rein  erziehlichen  Werte  des 
Jugendwanderns,    die   sie   in  ihrer  praktischen  Arbeit  durch  Begünstigung 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Piychologi«.  3Q 


466  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwand erns. 

alles  dessen  zu  gewährleisten  sucht,  was  geeignet  ist,  ein  inniges  Vertrauens- 
verhältnis der  in  einer  Gruppe  wandernden  Kinder  zueinander  und  zu  ihrem 
Führer  entstehen  zu  lassen.  Darum  nicht  mehr  als  15  Kinder  in  einer 
Gruppe,  darum  eine  den  Kindern  nahestehende  Persönlichkeit,  wenn  mög- 
lich der  Klassenlehrer,  als  Führer.  Bei  diesem  Interesse  der  Vereinigung 
an  der  pädagogischen  Ausgestaltung  und  Vertiefung  des  Jugendwander- 
gedankens, der  bei  seiner  wachsenden  Popularität  in  der  Tat  in  Gefahr  ist 
zu  verflachen,  lag  es  nahe,  dieses  Problem  in  exakter  Weise  in  Angriff  zu 
nehmen.  So  versuchte  die  Vereinigung  durch  Verteilung  von  Fragebogen, 
die  Kinder  zu  Äußerungen  und  Urteilen  über  ihre  Ausflüge  zu  veranlassen. 
Über  das  Ergebnis  dieses  interessanten  Versuchs  soll  im  nachstehenden  be- 
richtet werden. 

Die  Aushändigung  der  Bogen  an  die  Kinder  erfolgte  während  des  Aus- 
flugs, und  zwar  kurz  vor  seiner  Beendigung.  Die  vorgedruckten  Fragen 
waren  von  den  Kindern  schriftlich  zu  beantworten.  Sie  lauteten  wörtlich: 
„Wie  heißt  du?  (Den  Vornamen  ausschreiben!)  Wie  alt  bist  du?  Wo  gehst 
du  zur  Schule?  In  welcher  Klasse  bist  du?  Welche  Ausflüge  hast  du  bei 
uns  mitgemacht?"  Nach  diesen  orientierenden  Vorfragen  dann  die  eigent- 
lichen Hauptfragen: 

I.   „Welcher  von  diesen  Ausflügen  hat  dir  am  besten  gefallen?    Sag  auch 

warum!" 
II.   „Was    gefällt   dir   auf    unseren  Ausflügen   am  meisten?    Warum  ge- 
fällt es  dir?" 

III.   „Was  hat  dir  heute  nicht  gefallen?" 

Die  Führer  waren  gebeten  worden,  darauf  achtzuhaben,  daß  eine  gegen- 
seitige Beeinflussung  der  Kinder  beim  Schreiben  nicht  stattfand.  Die  Ant- 
worten, bei  denen  dennoch  eine  solche  erfolgt  war,  wurden  vom  Führer 
gekennzeichnet  und  bei  der  Verarbeitung  als  unverwertbar  ausgeschieden. 
Um  alle  störenden  Einflüsse  fernzuhalten,  war  den  Führern  empfohlen 
worden,  die  Ausfüllung  im  Freien  vornehmen  zu  lassen.  —  Der  Versuch 
wurde  um  des  Ausgleichs  etwaiger  Zufallsresultate  willen  zweimal  angestellt, 
zuerst  am  1.  August  1912  (Ziel:  Alstertal — Saseler  Heide),  dann  wiederholt 
am  13.  August  1912  (Kiekeberg — Rosengarten).  Abgeliefert  wurden  am 
ersten  Tage  279  ausgefüllte  Fragebogen,  darunter  171  von  Knaben,  108  von 
Mädchen  herrührend,  am  zweiten  Tage  428  Bogen,  233  von  Knaben,  195 
von  Mädchen,  so  daß  im  ganzen  ein  Material  von  707  ausgefüllten  Bogen 
vorlag. 

Eine  aus  diesen  Bogen  gewonnene  Zusammenstellung  der  beteilig- 
ten Kinder  nach  dem  Alter  hatte  das  folgende  Ergebnis:  In  allen 
4  Reihen  (zweimal  die  Beteiligung  der  Knaben,  zweimal  die  der  Mädchen) 
konnte  ein  ständiges  Wachsen  der  Beteiligungsziffer  mit  zunehmendem 
Alter  beobachtet  werden.  Sie  erreichte  aber  seltsamerweise  schon  bei 
'12  Jahren  ihren  Höhepunkt,  um  dann  sehr  schnell  wieder  abzuschwellen. 
Wir  standen  also  vor  der  uns  höchlich  überraschenden  Entdeckung,  daß 
die  Teilnahme  an  unseren  Ausflügen,  sowohl  bei  den  Knaben  als  auch  bei 
den  Mädchen,  gegen  Ende  der  Schulzeit  scheinbar  erheblich  nachläßt.  Um 
diese  eigenartige  und  uns  sehr  bedeutungsvoll  erscheinende  Tatsache  gründ- 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 


467 


lieh  nachzuprüfen,  wurde  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahres  1913  auf  sämt- 
lichen Ferien-  und  Sonntagsausflügen  das  Alter  der  an  ihnen  teilnehmen- 
den Kinder  notiert.  Abschweifend  sei  mir  gestattet,  in  Kürze  das  Ergeb- 
nis dieser  sehr  viel  umfangreicheren  und  somit  zuverlässigeren  Statistik 
darzustellen. 


Alter 

6 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

i 
a 

o  ® 

IS 

4  Sonntagsausflüge            |  Sädchen 

1,7 

0,9 

4.9 
5,5 

10,2 
9,1 

15,5 
12,6 

18,8 
13,7 

15,9 
15,9 

15,7 
15,9 

11,6 
16,4 

3,2 
6,5 

5,5 
3,5 

56,1 
43,9 

811 
635 

5  Ausflüge  in  den  Oster-  /  KnaDen 
ferien                                  \  Mädchen 

4  Ausflüge  in  d.  Pflngst-  ?  Knaben 
ferien                                  |  Mädchen 

6  Ausflüge  in  den  Som-  i  Knaben 
merferien                           {   Mädchen 

0,1 

0,0 
0,7 
0,7 
1,2 
1,5 

U,6 
1,3 

3,9 
3,8 
4,0 
4,7 

4,3 

2,4 
10,7 

9,8 
10,4 

8,0 

12,1 
11,4 
15,4 
16,5 
14,6 
14,5 

15,1 
18,2 
18,4 
19,9 
16,2 
16,1 

21,3 
21,2 
20,0 

17,8 
19,0 
15,1 

22,4 

20,6 
14,4 
16,2 
17,8 
17,4 

19,9 
18,2 
13,8 
12,5 
11,6 
14,4 

4,1 

6,2 
2,6 
2,0 
4,9 
6,4 

0.Ö 
0,5 
0,1 
0,8 
0,3 
1,7 

57,7 
42,3 
51,7 
48,3 
61,2 
38,8 

136Ö 
995 
1354 
1263 
2604 
1651 

Feriendurchschnitt            |  Mädchen 

0,7 

0,7 

2,8 
3,3 

8,5 
6,7 

14,0 
14,1 

16,6 
18,1 

20,1 

18,0 

18,215,1 
18,1 1 15,0 

3,9 
4,9 

0,2i56,9]6318 
l,0i43,l  13909 

Prozente 

Besser  als  viele  Worte  es  vermögen,  zeigt  die  vorstehende  Tabelle, 
die  in  Prozenten  die  Beteiligung  der  einzelnen  Altersstufen  angibt,  bezogen 
auf  die  Gesamtzahlen  aller  Knaben  bzw.  Mädchen,  wie  durch  die  weiteren 
Feststellungen  die  ersten  Vermutungen  bestätigt  und  übertroffen  wurden: 
Zwischen  10  und  12  Jahren  die  stärkste  Beteiligung,  dann  ein  starkes 
Sinken  der  Kurve.  Die  erstaunlich  geringe  Beteiligungsziffer  der  Kinder 
von  14  Jahren  und  darüber  darf  freilich  nicht  wunder  nehmen.  Sie  ist 
dadurch  erklärt,  daß  in  dieser  Jahreszeit  nur  ganz  wenige  der  an  den  Aus- 
flügen teilnehmenden  schulpflichtigen  Kinder  schon  ihr  14.  Lebensjahr 
vollendet  haben;  die  meisten  Kinder  zählen  bei  Antritt  ihres  letzten  Schul- 
jahres erst  volle  13  Jahre.  Aber  selbst  wenn  wir  von  den  letzten  beiden 
Rubriken  völlig  absehen,  tritt  die  gekennzeichnete  Erscheinung  mit  genügen- 
der Deutlichkeit  zutage.  Über  ihre  Ursachen  lassen  sich  die  verschiedensten 
Vermutungen  aufstellen,  die  aber  eben  nur  Vermutungen  bleiben  können: 
Das  in  diesem  Alter  der  .beginnenden  Pubertät  sich  regende  Selbständig- 
keitsgefühl, das  einzelne,  früher  reife  Kinder  von  der  Schar  der  übrigen, 
von  der  Aufsicht  des  Lehrers  losreißt  und  sie  zu  selbständigen  Unter- 
nehmungen drängt;  eine  gewisse  Übersättigung  und,  damit  in  Zusammen- 
hang stehend,  die  in  diesem  Alter  zuerst  in  größerem  Umfange  sich  geltend 
machenden  Sensationswirkungen  großstädtischen  Amüsements  (Kino,  Flirt 
usw.),  die  dann  zugleich  gegen  die  feineren  Reize  naturgemäßer  Erholung 
abstumpfen;  soziale  Gründe:  Regelmäßige  Unterstützung  der  Eltern  im 
Broterwerb  durch  Laufstellen  u.  dgl.;  bei  den  Knaben  auch  wohl  die  „Kon- 
kurrenz" anderer  Veranstaltungen,  wie  der  Pfadfindervereine,  die  sich  bereits 
an  dieses  Alter  wenden  u.  a.  m.  Eine  umfangreiche,  vielleicht  durch  die 
Schulen  vorzunehmende  Umfrage  zu  stichprobeweiser  Feststellung  der  Muße- 
beschäftigung der  Kinder  etwa  an  Sonntagen  oder  in  den  Ferien  würde 
möglicherweise  ein  Licht  werfen  auf  die  inneren  Zusammenhänge  dieser  Er- 

30* 


468  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

scheinung  mit  der  inneren  Entwicklung  des  Kindes  einerseits,  andererseits 
auch  mit  dem  Ganzen  unserer  großstädtischen  Verhältnisse. 

Nach  dieser  Abschweifung  nun  zu  der  ersten  Hauptfrage:  „Welcher 
Ausflug  hat  dir  am  besten  gefallen?  Sag  auch  warum?"  Bei  der 
Bearbeitung  dieser  Frage  durften  natürlich  nur  die  Antworten  der  Kinder 
gewertet  werden,  die  nicht  nur  diesen  einen  Ausflug  mitgemacht  hatten. 
Man  beabsichtigte  mit  dieser  Frage,  eine  etwaige  Vorliebe  der  Kinder  für 
bestimmte  Ausflugsziele,  gewisse  Landschaftsformen  zu  erkunden.  Daher  war 
auch  eine  Begründung  verlangt  worden.  Diese  ist  nun  in  der  Tat  seltsam 
genug  ausgefallen.  „Der  Ausflug  hat  mir  gefallen,  weil  wir  so  schön  gewatet 
haben",  „weil  wir  gerudert  haben",  „weil  das  Spiel  so  schön  war",  „weil  wir 
gutes  Wetter  hatten".  Als  typisch  gebe  ich  die  Ausführungen  eines  neunjährigen 
Mädchens  wieder:  „Der  Ausflug  Kiekeberg  hat  mich  am  besten  gefallen.  Es 
hat  mir  gefallen,  wie  ein  junger  Herr  ^auf  dem  Dampfer  auf  die  Zupfgeige 
spielte  und  die  Knaben  und  Mädchen  sangen  mit.  Ich  hatte  eine  Flasche 
Himbeersaft  mit  und  6  Schnitten  Brot  mit  dickbelegte  Wurst.  Nachher  bin 
ich  den  Berg  hinuntergefallen.  Mit  einemmal  fand  ich  viele  Bickbeeren  und  aß 
sie  auf.  Dann  haben  wir  Hase  gespielt."  Ahnlich  ist  die  Begründung,  wo 
überhaupt  eine  gebracht  worden  ist,  fast  überall  ausgefallen.  Also  keine 
selbständige  Bewertung  des  Landschaftlichen  oder  irgendwelches  Eingehen 
auf  das  für  sie  Charakteristische,  vielmehr  eine  Beurteilung  des  Verlaufs 
der  Veranstaltung;  eine  Bewertung  mehr  der  Erlebnisse  in  der  Natur 
als  der  Natur  selber.  Ich  habe  deshalb  darauf  verzichtet,  eine  geson- 
derte Zusammenstellung  der  Gründe,  die  für  die  Kinder  bei  der  Beantwor- 
tung der  ersten  Frage  maßgebend  waren,  zu  geben  und  habe  siß  mit  ver- 
arbeitet bei  der  2.  Frage:  „Was  gefällt  dir  auf  unsern  Ausflügen  am  meisten? 
Warum  gefällt  es  dir?"  Ich  hielt  eine  Verschmelzung  dieser  beiden  An- 
gaben auch  deshalb  für  vorteilhaft,  weil  die  meisten  Kinder  die  Verschieden- 
artigkeit der  Angaben  unter  I  und  II  überhaupt  nicht  begriffen  haben,  so 
daß  beide  Fragen  ihnen  zu  einer  einzigen  ineinanderflössen.  So  haben 
manche  Kinder  auch  unter  II  landschaftliche  und  Natureindrücke  wieder- 
gegeben, freilich  ohne  damit  ausschließlich  auf  das  von  ihnen  als  das  schönste 
hingestellte  Ziel  sich  zu  beziehen.  Demnach  bringe  ich  nunmehr  unter  I 
eine  Darstellung  der  Beliebtheit  der  verschiedenen  Ausflugsziele,  wie  sie 
aus  unseren  Feststellungen  bedingungsweise  sich  ergibt,  ohne  nähere  Be- 
gründung, und  unter  II  eine  Zusammenfassung  alles  dessen,  was  in  an- 
erkennendem, positivem  Sinne  von  den  Kindern  über  ihre  Ausflüge  gesagt 
worden  ist.  —  Vielleicht  wäre  die  erste  Frage  ergebnisreicher  beantwortet 
worden,  wenn  die  Frageformulierung  eine  glücklichere  gewesen  wäre,  etwa: 
„Wohin  möchtest  du  nächstes  Mal  wandern,  wenn  du  wählen  dürftest?" 
Die  direkte  Beziehung  auf  den  äußeren  Verlauf  eines  vergangenen  Ausflugs 
wäre  dann  unmöglich  gemacht,  obgleich  es  auch  so  noch  nicht  ganz  aus- 
geschlossen gewesen  wäre,  daß  die  Kinder  die  durch  ein  fröhliches  Erleben 
gewonnenen  positiven  Gefühlswerte  unbewußt  in  die  Landschaft  hinein- 
projiziert  und  etwa  deshalb  eine  Gegend  als  ihnen  besonders  lieb  angegeben 
hätten,  weil  sie  dort  einmal  ein  wohlgelungenes  Kriegspiel  ausgeführt 
haben. 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  469 


Ein  Blick  auf  die  durch  unsere  Fragestellung  gewonnene  Statistik  lenkt 
nun  in  allen  4  Reihen  (a:  1.  Ausflug,  Knaben,  b:  Mädchen,  c:  2.  Ausflug, 
Knaben,  d:  Mädchen)  unsere  Aufmerksamkeit  auf  2  Zahlen,  die  alle  übrigen 
weit  hinter  sich  zurücklassen.  Von  den  150  in  Frage  kommenden  Knaben 
des  ersten  Ausflugs  erklären  42,  d.  h.  28  Proz.,  den  Ausflug  ins  Alstertal, 
also  den  gegenwärtigen,  für  den  besten.  Bei  den  Mädchen  am  gleichen 
Tage  sind  es  35  Proz.,  also  noch  ein  gut  Teil  mehr.  Auf  dem  Ausflug 
nach  dem  Kiekeberg  entschieden  sich  für  diesen  18  Proz.  der  Knaben  und 
31  Proz.  der  Mädchen.  Im  ganzen  wählten  am  ersten  Tage  23  Proz.  aller 
Kinder  den  noch  unbeendigten  Ausflug  des  gleichen  Tages,  wenn  nichts 
weiter,  so  jedenfalls  ein  ganz  interessanter  statistischer  Nachweis  für  die 
köstliche  Fähigkeit  der  Kinder,  die  Gegenwart  zu  genießen  und  in  der 
Freude  des  heiteren  Augenblicks  die  Vergangenheit  zu  vergessen.  Die  Tat- 
sache, daß  beide  Male  dieses  Urteil  von  seiten  der  Mädchen  beträchtlich 
häufiger  ausgesprochen  wird  als  von  den  Knaben,  verdient  Beachtung.  Wie 
sehr  diese  Urteile  aus  dem  Augenblick  geboren  sind,  um  in  der  Regel  auch 
mit  diesem  einer  neuen  und  andersartigen  Meinung  zu  weichen,  das  zeigt 
die  erstaunliche  Erscheinung,  daß  von  10  Kindern  (7  Kn.,  3  Md.),  die  am 
ersten  Tage  sich  für  das  Alstertal  entschieden  hatten  und  auf  dem  zweiten 
Ausflug  anwesend  waren,  nur  2  (1  Kn.,  1  Md.),  ihr  Urteil  aufrecht  hielten. 
Die  Hälfte  der  übrigen,  also  4  Kinder  (2  Kn.,  2  Md.),  die  am  1.  August 
mit  dem  Vollton  der  Überzeugtheit  für  das  Alstertal  gestimmt  hatten,  er- 
klärten 12  Tage  später  den  Kiekeberg  für  das  schönste  Ziel;  offenbar  weil 
sie  gerade  an  diesem  Tage  dort  waren. 

Nächst  dieser  Zahl  fällt  eine  zweite  vor  allen  andern  ins  Gewicht.  Eine 
beträchtliche  Anzahl  Kinder  erklärt  einfach:  Alle  Ausflüge  haben  mir 
gefallen.  In  der  bekannten  Reihenfolge  beantworten  die  erste  Frage  in 
dieser  Weise:  21  Proz.,  13  Proz.,  25  Proz.,  10  Proz.,  im  ganzen  am  ersten 
Tage  18  Proz.,  am  zweiten  Tage  19  Proz.,  also  annähernd  ^k  aller  Kinder, 
deren  Urteil  verwertbar  ist.  Wenn  wir  bei  einigem  Optimismus  ja  vielleicht 
Veranlassung  haben,  dieser  radikalen  Zustimmung  zu  unseren  Veranstal- 
tungen uns  zu  freuen,  so  darf  man  doch  nicht  übersehen,  daß  das  letzte 
Motiv  dieser  Art  des  Urteils  in  vielen  Fällen  mehr  in  gedanklicher  Un- 
regsamkeit  zu  suchen  sein  wird. 

Auffällig  i8t,wie  sehr  die  Knaben  bei  den  Urteilen  dieser  Gattung  über- 
wiegen. Sollten  Knaben  mehr  zu  derartig  summarisch-oberflächlichen  Urteilen 
neigen  als  Mädchen? 

Nahezu  die  Hälfte  aller  Kinder  gibt  auf  Frage  I  eine  der  genannten 
Antworten,  und  in  weitem  Abstand  folgen  dann  die  verschiedenen  Zahlen 
für  die  einzelnen  zurückliegenden  Ausflüge,  die  einzigen  für  unsere  Absichten 
wirklich  brauchbaren  Angaben.  —  Auch  hier  bestätigt  sich,  daß  im  all- 
gemeinen diejenigen  Ausflüge,  die  am  wenigsten  weit  zurückliegen,  also 
relativ  am  frischesten  in  der  Erinnerung  sind,  die  größte  Zustimmung  finden. 
Der  Cuxhaven ausflug,  der  letzte  vor  der  Verteilung  der  Fragebogen,  steht 
am  ersten  Versuchstage  mit  23  Stimmen  obenan.  Ihm  folgt  mit  22  Stim- 
men der  Ausflug  nach  Schulau,  der  freilich  mehr  als  eine  Woche  zurück- 
liegt, aber  für  die  zahlreichen  mit  Dauerkarten  versehenen  Kinder  der  letzte 


470  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

war,  an  dem  sie  sich  beteiligten.  Aber  während  dieser  Ausflug  am  zweiten 
Versuchstage  seine  Stimmen  bis  auf  6  verloren  hat,  scheint  bei  den  19  Stim- 
men, die  sich  trotz  der  längeren  Zeitspanne  (es  waren  inzwischen  14  Tage 
verflossen)  auf  den  Cuxhavenausflug  vereinigen,  das  Interesse  für  diesen 
stetiger  zu  sein.  —  Eine  ähnliche  Beobachtung  läßt  sich  in  bezug  auf  das 
Ziel  Blankenese — Wittenbergen  machen.  Obgleich  der  letzte  Ausflug  dort- 
hin bereits  14  Tage  zurücklag  und  die  Kinder,  die  am  1.  August  mit 
Dauerkarten  erschienen,  also  ein  beträchtlicher  Teil  der  Beantworter,  durch 
ihre  Dauerkarten  nicht  zur  Teilnahme  an  diesem  Ausflug  berechtigt  gewesen 
waren,  entschieden  sich  16  Kinder  für  dieses  Ziel.  Diese  Zahl  erhöht  sich 
am  zweiten  Tage  gar  auf  35,  trotzdem  auch  hier  10  Tage  verflossen  waren, 
seit  das  Ziel,  das  zweimal  auf  dem  Plan  der  Sommerferien  stand,  zuletzt 
aufgesucht  worden  war.  —  Drittens  sind  in  diesem  Zusammenhange  die 
Zahlen  für  den  Ausflug  Geesthacht — Tesperhude  heranzuziehen.  Am  ersten 
Tage  erklärten  sich  7,  am  zweiten  gar  14  Kinder  dafür.  Wenn  man  auch 
hierbei  berücksichtigt,  daß  dieser  Ausflug  in  den  großen  Ferien  nur  ein- 
mal, und  zwar  als  erster,  ausgeführt  worden  ist,  daß  demnach  am  ersten 
Versuchstage  bereits  3  Wochen,  am  zweiten  4  ^2  Wochen  seitdem  verstrichen 
waren,  so  wird  man  sich  sagen  müssen,  daß  dieser  Ausflug,  um  so  nach- 
wirken zu  können,  in  der  Tat  einen  sehr  starken  Eindruck  hervorgerufen 
haben  muß.  Auf  Grund  dieser  Angaben  glaube  ich  mit  verhältnismäßig 
großer  Sicherheit  aus  unserm  Versuch  feststellen  zu  können,  daß  diejenigen 
Ausflüge,  die  eine  kürzere  oder  längere  Dampferfahrt  mit  sich  bringen 
und  die  Möglichkeit  eines  Aufenthaltes  am  Strande  gewähren,  in  unserer 
Kinderwelt  am  meisten  geschätzt  werden. 

Nicht  minder  interessant  sind  die  Urteile  der  Kinder  über  die  Nacht- 
ausflüge, i)  19  Kinder  entschieden  sich  am  1.  August  für  den  Nachtaus- 
flug nach  der  Neugrabener  Heide,  der  wenige  Tage  vorher  stattgefunden 
hatte.  Man  dürfte  also  Verdacht  haben,  daß  es  sich  hier  wieder  um  einen 
augenblicklichen  Begeisterungsrausch  handelt,  wenn  nicht  am  13.  August 
noch  10  Kinder  der  gleichen  Meinung  wären.  Am  selben  Tage  stimmten 
19  Kinder  für  den  vor  wenigen  Tagen  stattgefundenen  Nachtausflug  nach 
Buchwedel.  Eine  Nachprüfung  in  bezug  auf  die  Stetigkeit  dieses  Urteils  ist 
ja  nicht  möglich.  Übrigens  dürfte  es  interessieren,  daß  unter  diesen 
19  Urteilen  11,  unter  den  oben  erwähnten  10  Urteilen  vom  gleichen  Tage 
8  von  Mädchen  herrühren.  Ein  Beweis  dafür,  daß  solche  Nachtausflüge 
keineswegs  bloß  das  Interesse  der  Knaben  beanspruchen.  Im  Gegenteil  darf 
man  annehmen,  daß  Mädchen,  die  man  im  allgemeinen  mehr  von  derartigen 
Veranstaltungen  fernzuhalten  pflegt  als  Knaben,  gerade  deswegen  den  sen- 
sationellen Reiz  eines  Nachtausfluges  viel  stärker  empfinden  als  jene.  — 
Am  1.  August  sagten  4,  am  13.  August  10  Kinder  aus,  daß  sie  ganz  all- 
gemein Nachtausflüge  allen  andern  vorzögen.  —  Angesichts  all  dieser  über- 
einstimmenden Urteile  glaube  ich  als  zweites  Resultat  unserer  Untersuchung 


1)  So  nennen  wir  der  Kürze  halber  anderthalbtägige  Ausflüge,  die  am  frühen 
Nachmittag  beginnen  und  am  Spätnachmittag  des  zweiten  Tages  enden.  Die 
Kinder  übernachten  im  Stroh. 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  471 

— — — — —  ^;^  -        — -— — 

hinstellen  zu  dürfen,  daß  neben  den  Wasserfahrten  die  Nachtausfliige  einer 
weitgehenden  Zustimmung  unter  unserm  Kinderpublikum  begegnen. 

Bemerkenswert  unter  den  Angaben  des  zweiten  Versuchstages  sind  sodann 
die  folgenden  beiden:  23  Kinder  stimmen  für  die  Fischbecker  Heide,  11  für 
das  Ziel  „Fuchsberg — Forst  Höpen".  Das  erste  Ziel  wurde  erst  5  Tage 
vorher  aufgesucht  und  war  für  Inhaber  von  Dauerkarten  der  letzte  Ausflug, 
das  andere  lag  8  Tage  zurück  und  galt  für  die  gleiche  Dauerkarte,  war 
also  für  diese  Kinder  ihr  vorletztes  Ziel.  Weil  man  nicht  annehmen  darf, 
daß  das  Erinnerungsbild  nach  einem  so  kurzen  Zeitraum  sich  genügend  ab- 
geklärt hatte  und  für  diese  Ausflüge  eine  Nachprüfung  durch  ein  zweites 
Urteil  nicht  vorliegt,  wird  man  diese  Angaben  kaum  benutzen  dürfen.  — 
Alle  weiteren  unter  Punkt  I  gemachten  Aussagen  sind  von  geringerem  In- 
teresse und  ohne  grundlegende  Bedeutung.  Zu  erwähnen  wäre  noch,  daß 
das  Zahlenverhältnis  von  Knaben  und  Mädchen  nirgendwo  etwas  Bemerkens- 
wertes aufweist. 

Während  die  Bearbeitung  dieses  einen  Punktes  verhältnismäßig  einfach 
sich  gestaltete,  komplizierte  sich  die  Registrierung  bei  der  II.  und  III.  Frage: 
„Was  gefällt  dir  auf  unsern  Ausflügen  am  meisten?  Warum  ge- 
fällt es  dir?"  und  „Was  hat  dir  heute  nicht  gefallen?"  Unter  II  war 
nunmehr  alles,  was  an  positiven  Urteilen  aus  dem  Versuch  sich  ergab, 
zusammenzutragen,  unter  III  waren  alle  negativen  Urteile  zu  sammeln,  alle 
ablehnenden  Äußerungen.  Um  inhaltlich  Zusammengehöriges  nicht  ausein- 
anderreißen zu  müssen,  wird  man  mir  gestatten,  Punkt  II  und  III  neben- 
einander darzustellen. 

Erfreulich  ist  zunächst,  daß  unter  den  mehr  als  2000  auf  diese  Weise 
gewonnenen  Kinderurteilen  427  ablehnenden  nahezu  1600  anerkennende 
gegenüberstehen,  erfreulich  als  kindliche  Bestätigung  der  überwiegend  posi- 
tiven Werte  unserer  Ausflugsarbeit.  Interessant  aber  ist  die  Verteilung 
dieser  Urteile  auf  die  Geschlechter.  Zunächst  bei  Frage  II.  Am 
ersten  Versuchstage  lieferten  hierzu  171  Knaben  insgesamt  360  Urteile. 
Die  durchschnittliche  Zahl  der  Antworten,  die  auf  jeden  fiel,  war  demnach 
2,1.  Dem  standen  am  gleichen  Tage  die  Mädchen  mit  durchschnittlich 
3,0  Antworten  gegenüber.  Am  zweiten  Versuchstage  waren  die  entsprechen- 
den Zahlen  1,8  und  2,5.  Das  Resultat  beider  Tage  zusammengezogen  er- 
gibt, daß  die  Zahl  der  abgegebenen  Urteile  bei  den  Knaben  im  Durchschnitt 
1,9,  bei  den  Mädchen  2,7  betrug,  d.  h.  auf  2  Antworten  der  Knaben  kamen 
etwa  3  der  Mädchen. 

Bei  Frage  III  waren  die  entsprechenden  Zahlen  am  ersten  Tage  0,6  bei 
den  Knaben,  1,1  bei  den  Mädchen,  am  zweiten  Tage  0,4  und  0,6.  Gesamt- 
resultat beider  Ausflüge:  Jeder  Knabe  0,5  negative  Urteile,  jedes  Mädchen 
0,8,  d.  h.  wieder:  Auf  2  Antworten  der  Knaben  kommen  etwa  3  der  Mäd- 
chen. —  Was  oben  bei  der  Erörterung  der  Antworten  unter  I  angedeutet 
wurde,  erfährt  somit  hierdurch  eine  gewisse  Bestätigung:  Knaben  scheinen 
in  der  Tat  in  ihrer  Kritik  —  sei  sie  nun  anerkennender  oder  ablehnender 
Natur  —  oberflächlicher,  gleichgültiger  zu  sein.  Eine  geringere  Urteils- 
fähigkeit der  Knaben  läßt  sich  daraus  nicht  ohne  weiteres  herleiten. 
Aber  was  den  Mädchen  zur  Klarheit  wird  und  sich  ihnen  sprachlich  for- 


472  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

muliert,  darüber  mögen  Knaben,  in  deren  Unterbewußtsein  vielleicht  ähn- 
liche Gefühle  schwingen,  nicht  erst  nachdenken.  Es  scheint  sich  demnach 
a,u8  unserm  Versuch  zu  bestätigen,  daß  Mädchen  nachdenklicher,  zum  min- 
desten offenbarungsbedürftiger,  mitteilsamer  veranlagt  sind  als  Knaben.  — 
Was  die  Zahl  der  abgegebenen  Urteile  nach  Altersstufen  betrifft,  so  läßt 
sich  hier,  wie  zu  erwarten,  im  allgemeinen  eine  deutliche  Zunahme  ent- 
sprechend dem  Alter  wahrnehmen. 

Unter  den  Antworten  auf  die  II.  Frage  nimmt  nun  eine  eine  bevorzugte 
Stellung  ein  —  alle,  die  in  der  praktischen  Ausflugsarbeit  stehen,  werden 
das  als  selbstverständlich  hinnehmen  — :  „Das  Spielen  gefällt  mir  an 
den  Ausflügen."  Wer  mit  dem  Sprachschatz  unserer  Kinder  einigermaßen 
vertraut  ist,  der  weiß,  daß,  wenn  auf  einem  Ausflug  vom  Spielen  gesprochen 
wird,  immer  Bewegungsspiele  gemeint  sind,  wie  Jäger  und  Hase,  „Insche^) 
und  Trapper",  Grenzwächter,  Bergstürmen,  Kriegspielen  usw.  Andersartige, 
wie  Gesellschafts-  und  Unterhaltungsspiele,  werden  immer  besonders  charak- 
terisiert. Bei  einer  Anzahl  von  Kindern  löst  der  bloße  Gedanke  an  das 
Spiel  einen  solchen  Wirbelsturm  von  Lustgefühlen  aus,  daß  sie  es  sich 
nicht  versagen  können,  ihr  ganzes  spielvolles  Herz  auszuschütten.  So  kom- 
men solche  Leistungen  zustande  wie  die  des  dreizehnjährigen  Knaben  E.  W., 
der  in  anerkennenswerter  Gewissenhaftigkeit  den  ganzen  Bogen  benutzt,  um 
ihn  mit  einer  detaillierten  Beschreibung  von  dem  Verlauf  seines  Kriegspiels 
zu  füllen: 

„Der  Ausflug  am  8.  August  1912  nach  Fischbecker  Heide  hat  mir  am 
besten  gefallen.  Weil  wir  uns  in  zwei  Abteilungen  eingeteilt  haben,  und 
dann  mußte  die  eine  Abteilung  die  andere  suchen.  Wenn  sie  nun  die 
Abteilung  gefunden  hatte,  so  mußte  sie  einen  Angriff  versuchen,  und  wer 
die  meisten  gefangen  nahm,  hatte  das  Spiel  gewonnen.  Es  wurden  drei 
weggeschickt,  die  sich  verstecken  mußten,  und  wenn  sie  gesehen  wurden, 
mußten  sie  da  sitzen  bleiben.  Dann  versteckten  die  drei  sich  weit  weg 
vom  Lager.  Dann  schickten  die  übrigen  Patrouillen  aus,  damit  sie  uns 
suchen  sollten.  Als  sie  uns  gefangen  genommen  hatten,  kamen  die  drei 
vorm  Gericht.  Der  eine  wurde  zum  Tode  verurteilt.  Der  andere  wurde 
am  Baum  gebunden,  und  einer  mußte  ihn  befreien.  Dann  kam  die 
andere  Partei  wieder  hinter  der  einen.  Wenn  sie  ihn  zu  fassen  kriegen, 
wurde  er  wieder  vors  Gericht  geladen  und  dann  doppelt  bestraft.  Der 
andere,  der  ihn  befreit  hatte,  wurde  aufgehängt.  Diesen  Ausflug  habe 
ich  bei  Herrn  ....  gemacht." 

Um  eine  Übersicht  über  die  Verteilung  der  ausgesprochenen  Urteile  auf 
die  Altersstufen  zu  [gewinnen,  teile  ich  die  Kinder  in  8  Gruppen  ein, 
entsprechend  den  Jahresstufen  von  7  bis  14.  Die  wenigen  Kinder  von 
6  und  15  Jahren  sind  den  7-  bezw.  14  jährigen  angegliedert.  Die  Zahlen 
der  ersten  beiden  Altersstufen,  besonders  der  ersten,  müssen  mit  Vorsicht 
hingenommen  werden,  weil  es  sich  hier  um  die  Angaben  nur  weniger  Kinder 
handelt,   also   Zufallsresultate   sehr  viel  wahrscheinlicher    sind   als   bei   den 

1)  Indianer. 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwandems. 


473 


übrigen  Altersstufen,  bei  denen  man  durchaus  mit  einem  natürliclien,  durch 
die  größere  Zahl  gegebenen  Ausgleich  rechnen  kann. 


Alter 

6u. 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 
u. 
15 

Durch- 
schnitt 

..Ver,uohstag..{KnaW 
2.Versuohstag..{Knabe„_^ 

50 

100 

25 

57 

50 
30 
25 
59 

44 
69 
47 
36 

55 

87 
61 
39 

53 
89 
61 
55 

71 
75 
69 
62 

60 
67 
67 
66 

78 
64 
73 
54 

58 
69 
59 
53 

Prozente 

Die  vorstehende  Tabelle  gibt,  in  Prozente  umgerechnet,  die  Zahl  der 
Kinder  an,  die  das  Spiel  in  positivem  Sinne  hervorheben.  Die  Prozente 
beziehen  sich  auf  die  Gesamtzahl  der  Knaben  bzw.  Mädchen  der  jeweiligen 
Altersstufe,  die  sich  an  dem  betr.  Ausfluge  beteiligt  haben,  so  daß  z.  B.  am 
ersten  Tage  von  allen  Knaben  im  Alter  von  6  und  7  Jahren,  die  sich  be- 
teiligten, 50  Proz. ,  das  ist  die  Hälfte,  das  Spielen  auf  dem  Ausfluge 
rühmen  usw.  Danach  ergibt  sich  bei  den  Knaben  des  ersten  Tages  ein 
deutliches  Aufsteigen  der  Linie  mit  dem  Alter,  ein  zweifelsohne  höchst 
überraschendes  Ergebnis.  Am  zweiten  Tage  ist  bei  den  Knaben  die  Steigung 
noch  deutlicher  und  kaum  unterbrochen.  Auffallend  ist  die  Übereinstimmung 
der  Durchschnittszahl  beider  Tage:  Fast  genau  beidemale  ^/s  aller  Knaben 
heben  das  Spiel  als  etwas  ihnen  an  unseren  Ausflügen  Erfreuliches  hervor. 

Die  entsprechenden  Zahlen  bei  den  Mädchen  zeigen  zunächst  wiederum 
ein  deutliches  Aufsteigen;  dann  tritt  eine  Senkung  ein,  am  ersten  Tage 
früher,  am  zweiten  ganz  nach  dem  Ende  hin.  Beidemale  aber  führt  die 
Senkung  der  Kurve  nicht  unter  50  hinunter.  Die  Durchschnittszahlen 
zeigen,  daß  auch  über  die  Hälfte  aller  Mädchen  das  Spiel  in  anerkennendem 
Sinne  erwähnen. 

Aus  diesen  Feststellungen  folgt  zweierlei:  Es  ist  falsch  anzunehmen,  daß 
Mädchen,  denen  Gelegenheit  zu  freier  körperlicher  Betätigung  gegeben  wird, 
im  allgemeinen  erheblich  geringeres  Wohlgefallen  an  Bewegungsspielen  finden 
als  Knaben.  Zweitens  ist  auch  die  Annahme  falsch,  daß  bei  Knaben  im 
Schulpflichtalter  mit  zunehmenden  Jahren  das  Interesse  für  Bewegungsspiele 
sich  verringere;  gerade  das  Gegenteil  scheint  der  Fall  zu  sein.  Bei  den 
Mädchen  jedoch  scheinen  gegen  Ende  der  Schulzeit  diese  Interessen  teil- 
weise andersartigen  zu  weichen,  nehmen  aber  selbst  dann  noch  einen  breiten 
Raum  ein  im  Interessenkreise  des  Kindes. 

Nun  ist  das  Bewegungsspiel  nur  eine  Äußerung  —  auf  dem  Ausfluge 
freilich  wohl  die  hervortretendste  —  des  kindlichen  Triebes  nach  körper- 
licher Betätigung  überhaupt.  Wenn  ein  Kind  z.  B.  schreibt:  „Mir 
hat  heute  das  Herumsitzen  nicht  gefallen;  ich  möchte  lieber  herumspringen 
und  -toben,"  so  geht  daraus  hervor,  daß  das  Kind  zwar  ausgiebige  körper- 
liche Bewegung  sich  wünscht;  daß  diese  durch  ein  organisiertes  Spiel  auch 
planvoll  gemacht  werde,  scheint  ihm  jedoch  nicht  unbedingt  erforderlich.  In 
der  Tat  legen  eine  Reihe'^von  weiteren  Urteilen  beredtes  Zeugnis  dafür  ab,  daß 
dieser  körperliche  Betätigungstrieb  des  Kindes  auf  die  mannigfaltigste  Weise 


474 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 


sich  zu  äußern  versteht.  28  Knaben  und  18  Mädchen  freuen  sich  am 
ersten  Tage  über  das  Bergeklettern  und  -hinabrutschen  und  -laufen,  19  Kn. 
und  47  Md.  am  zweiten  Tage.  Das  Marschieren,  das  Wandern  an  sich 
wird  gerühmt  von  15,  10,  25,  22  Kindern  (gleiche  Anordnung).  Große 
Zustimmung  findet  das  Waten  mit  30,  27,  17,  20  Stimmen.  Nicht  viel 
geringer  (geringer  wohl  nur,  weil  selten  gestattet)  ist  bei  den  Knaben  die 
Begeisterung  für  das  Baden,  das  13  und  28  Anhänger  findet,  die  dann, 
entrüstet  über  das  leider  wohl  notwendige  Badeverbot,  ihren  Enttäuschungs- 
gefühlen in  manchmal  arg  temperamentvoller  Weise  Luft  machen  und  durch 
die  Größe  der  gewählten  Schriftzüge,  mehrfaches  Unterstreichen  und  Hinzu- 
fügung einer  Summe  von  Ausrufungszeichen  die  innere  Bedeutung  ihrer 
Worte  glauben  äußerlich  markieren  zu  können.  —  Einige  Knaben  begeistern 
sich  am  Rudern.  9  bzw.  10  Mädchen  finden  Wohlgefallen  am  Kreisspiel 
und  Tanz.  Vereinzelt  sind  erwähnt:  Springen  und  Toben,  Barfußgehen, 
Grubenspringen,  Umherstreifen  durch  die  Büsche  u.  a.  m. 

Insgesamt  bezogen  sich  auf  körperliche  Tätigkeiten  201,  145,  239,  211 
Urteile,  das  sind  am  ersten  Tage  51  Proz.,  am  zweiten  Tage  49  Proz.,  also 
die  Hälfte  aller  Urteile. 


Alter 

6u. 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 
u. 
15 

Durch- 
schnitt 

1.  Versuchstag..  {g-Sa 

2.  Versuohstag..{  Knaben^ 

75 
75 
75 
60 

72 
57 
55 
60 

63 
58 
59 
41 

61 

48 
60 
38 

50 
43 
65 
41 

54 
41 

56 
44 

47 
40 
51 
37 

43 
36 

50 
46 

56 
45 

57 
43 

Prozente 


Im  einzelnen  zeigt  die  vorstehende  Tabelle  in  Prozenten  das  Verhältnis 
der  anerkennenden  Urteile,  die  sich  auf  körperliche  Tätigkeit  beziehen,  zu 
der  Gesamtzahl  aller  gefällten  positiven  Urteile  der  betr.  Altersstufe.  — 
Bei  den  Knaben  beobachtet  man  ein  deutliches  Abschwellen  mit  zunehmen- 
dem Alter.  Das  steht  scheinbar  im  Widerspruch  zu  der  vorhin  festgestellten 
Tatsache,  daß  bei  Knaben  das  Interesse  für  Körperspiele  mit  dem  Alter 
eher  zu-  als  abnehme.  Aber  nur  scheinbar!  Denn  hier  sind  die  Zahlen 
eben  bezogen  auf  die  Gesamtzahl  der  Urteile,  nicht,  wie  vorhin,  auf  die 
Zahl  der  beteiligten  Kinder.  Zwar  ist  das  Interesse  für  körperliche  Betäti- 
gung geblieben  oder  gar  stärker  geworden;  aber  mit  dem  Alter  mehrt  sich 
die  Zahl  der  Interessen  überhaupt,  und  so  treten  die  ersteren  —  relativ, 
nicht  absolut!  —  mehr  und  mehr  zurück.  Ahnlich  läßt  sich  bei  den  Mädchen 
am  ersten  Tage  eine  deutliche  Senkung  erkennen;  am  zweiten  Tage  ist  die 
Kurve  unruhiger  und  eine  Gesetzmäßigkeit  kaum  ersichtlich.  —  Bemerkens- 
wert ist  die  Übereinstimmung  der  Durchschnittszahlen  beider  Tage,  bei  den 
Knaben  sowohl  wie  bei  den  Mädchen;  bei  diesen  jedesmal  mehr  als  10  Proz. 
weniger  als  bei  den  Knaben.  Wenn  schon,  wie  wir  gesehen  haben,  die 
Mädchen  in  bezug  auf  körperliche  Betätigung  nicht  beträchtlich  weniger 
interessiert  sind  als  Knaben,  so  sind  sie  augenscheinlich  vielseitiger,  und 
jene  Interessen  treten  infolgedessen  im  Verhältnis  weniger  hervor. 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  475 

Zur  Ergänzung  und  Bestätigung  unserer  Ergebnisse  mögen  wir  gleich 
hier  die  unter  Frage  III  abgegebenen  negativen  Urteile  heranziehen,  so- 
weit sie  körperliche  Tätigkeiten  betreffen.  5  Kinder  (4  Kn.,  1  Md.) 
beschweren  sich  am  ersten  Tage  über  das  „ewige  Spielen"  und  über  Spiel- 
zwang. 2  Kinder  am  ersten,  4  am  zweiten  Tage  mögen  nicht  Bergesteigen, 
3  Mädchen  wollen  nichts  von  Tänzen  und  Kreisspielen  wissen.  Eine  größere 
Zahl  aber  ist  unzufrieden  mit  der  ihr  zugemuteten  Marschleistung:  3  Knaben 
und  8  Mädchen  am  ersten,  14  Knaben  und  34  Mädchen  am  zweiten  Tage, 
wo  die  Marschleistung  allerdings  auch  erheblich  größer  gewesen  sein  wird, 
wenn  die  betreffenden  Gruppen  das  angesetzte  Ziel  (Kiekeberg — Rosengarten) 
wirklich  aufgesucht  haben.  Irgendeine  Gesetzmäßigkeit  in  der  Verteilung 
auf  die  einzelnen  Altersstufen  ist  hier  nicht  zu  erkennen.  Die  übrigen  in 
diese  Gruppe  gehörigen  Urteile  sind  nur  von  einzelnen  Kindern  ausge- 
sprochen worden  und  ohne  Bedeutung.     Ich  darf  sie  deshalb  verschweigen. 

Zum  Vergleich  lasse  ich  in  der  festgesetzten  Reihenfolge  die  absolute 
Zahl  der  abgegebenen  positiven  und  negativen  Urteile,  soweit  sie  körper- 
liche Betätigung  betreffen,  unter  Voranstellung  der  ersteren  nebeneinander 
folgen:  201—13,  145—14,  239—22,  211—40.  Man  sieht,  daß  die  ab- 
lehnenden Äußerungen  einen  geringen  Bruchteil  der  anerkennenden  ausmachen, 
eine  Bestätigung  dafür,  daß  Kinder  beiderlei  Geschlechts  körperlicher  Bewegung 
durchweg  zugeneigt  sind  und  nur  in  Ausnahmefällen,  wie  bei  Überanstrengung, 
sich  dagegen  wehren.  Daß  diese  bei  Mädchen  wegen  ihrer  zarteren  Kon- 
stitution im  allgemeinen   leichter  eintritt  als  bei  Knaben,  ist  bekannt. 

Der  Interessengruppe,  mit  der  wir  es  bisher  ausschließlich  zu  tun  hatten, 
der  bedeutungsvollsten  und  am  klarsten  von  allen  übrigen  abgrenzbaren, 
stehen  nun  noch  eine  Reihe  anderer  gegenüber.  Ich  nenne  des  inneren 
Zusammenhangs  willen  zuerst  die  Gruppe  der  Urteile,  die  sich  auf  körper- 
liche Erholung  und  Ruhe  beziehen.  Im  ganzen  wird  6 mal  von  Knaben, 
14  mal  von  Mädchen  die  lange  Zeit  des  Lagerns  auf  einem  Platze  ge- 
rühmt. Ich  weiß,  daß  darin  sehr  wohl  ein  Lob  des  Spiels  liegen  kann,  das 
während  dieser  Zeit  ausgeführt  worden  ist,  daß  nicht  ohne  weiteres  ein 
Rühmen  körperlicher  Passivität  darin  zu  liegen  braucht.  Dennoch  konnte 
ich  diese  Urteile  nicht  wohl  an  anderer  Stelle  unterbringen.  Die  mäßige 
Marschleistung  wird  2  mal  von  den  Knaben,  12  mal  von  den  Mädchen  an- 
erkannt. Ihre  Freude  über  die  schöne  Mahlzeit  im  Freien  drücken  aus 
2  Knaben  und  7  Mädchen.  3  Knaben  und  4  Mädchen  mochten  gern  in 
„in  der  Sonne"  oder  „im  Grünen"  liegen.  —  Aber  was  dem  einen  angenehm 
ist,  das  ist  dem  anderen  Grund  zur  Klage.  2  Knaben  und  7  Mädchen  be- 
schweren sich  über  die  lange  Lagerzeit.  5  Knaben  und  6  Mädchen  klagen 
darüber,  daß  gar  nicht  oder  nach  ihrer  Meinung  zu  wenig  gespielt  worden 
ist.  9  Knaben  und  4  Mädchen  stellen  mit  Entrüstung  fest,  daß  das  Baden 
verboten  ist  und  versuchen  mit  ihrer  ganzen  Beredsamkeit  darzutun,  daß 
diese  Vereinsverordnung  von  Grund  aus  verfehlt  sei. 

Bei  den  Knaben  des  ersten  Ausflugs  betrug  die  Summe  der  hierher  ge- 
hörigen Urteile,  soweit  sie  anerkennender  Natur  waren,  9;  soweit  sie  sich 
gegen  die  zu  weit  gehende  Ruhe  und  Beschränkung  der  körperlichen  Be- 
tätigung wandten,  gleichfalls  9.     Weiter  lauten   die  entsprechenden  Zahlen 


476  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

unter  Voranstellung  der  positiven  Urteile:  21 — 16,  5 — 11,  14 — 5,  so  daß 
sie  sich  annähernd  aufheben.  Bei  einer  prozentmäßigen  Berechnung  dieser 
Werte,  bezogen  auf  die  Summe  aller  positiven  bzw.  negativen  Urteile,  ergibt 
sich  in  dieser  Gruppe  natürlich  ein  vollständiges  Übergewicht  der  ablehnen- 
den Urteile  (2 — 9,  7 — 17,  1 — 11,  3 — 4)  ein  neues  Moment,  das  wiederum 
das  Überwiegen  der  Interessen  der  körperlichen  Betätigung  bei  Kindern 
erhärtet.' 

Eine  besondere  Abteilung  ließ  sich  aus  den  Urteilen  bilden,  die  sich  auf 
die  mehr  unterhaltende  Beschäftigung  der  Wandergruppe  bezogen. 
Über  allerlei  Unterhaltungs-  und  Scherzspiele,  vorgetragene  und  vorgelesene 
Geschichten  und  Witze  äußern  sich  anerkennend  3  Knaben  und  12  Mädchen, 
ablehnend  1  Knabe.  Man  erkennt  ein  deutliches  Überwiegen  dahingehender 
Interessen  bei  den  Mädchen.  Interessant  sind  die  Meinungen  der  Kinder 
über  das  Singen  beim  Wandern.  Es  rühmen  das  Singen  11  Knaben,  aber 
36  Mädchen,  mehr  als  dreimal  soviel.  Wer  über  praktische  Erfahrung  ver- 
fügt, kann  bestätigen,  wie  außerordentlich  viel  schwerer  es  ist,  eine  nicht 
schon  gut  geschulte  Knabengruppe  zum  Singen  zu  begeistern  als  eine 
Mädchengruppe.  1  Knabe  klagt,  daß  zu  viel,  1  Mädchen,  daß  zu  wenig 
gesungen  werde. 

Zu  einer  weiteren  Gruppe  lassen  sich  die  auftauchenden  Interessen  des 
Besitzerwerbs  zusammenfassen.  4  Knaben  können  die  Äpfel  und  Birnen 
nicht  vergessen,  die  sie  unterwegs  bekommen  haben;  andere  freuen  sich 
über  schönes  Trinkwasser,  das  sie  unterwegs  gefunden  haben,  über  geschenkten 
Sauerbrunnen,  gefundene  Muscheln  und  Tannenzapfen.  6  Knaben  sind  auf 
der  Suche  nach  Tieren  und  Pflanzen  oder  gar  auf  der  Eichhörnchenjagd 
gewesen.  Man  kann  versucht  sein,  einzelne  dieser  Interessen  mit  unter  die 
körperlichen  zu  bringen.  Vermutlich  gehen  hier,  wie  überhaupt  in  vielen 
Fällen,  mehrere  Interessenmotive  nebeneinander  her.  5  Knaben  und  6  Mädchen 
berichten,  daß  sie  Blumen  und  Heide  gepflückt  haben.  Aber  die  Zahl  dieser 
ist  gering  gegenüber  denjenigen,  die  von  geplünderten  Bickbeer-  und 
Himbeersträuchern  zu  erzählen  wissen:  24  Knaben,  38  Mädchen.  Das  sind, 
die  Gesamtbeteiligungsziffern  der  Geschlechter  berücksichtigt,  genau  doppelt 
soviel  Mädchen  als  Knaben.  Ein  exakter  Nachweis  für  die  größere  Empfäng- 
lichkeit des  weiblichen  Geschlechts  gegenüber  allem  Süßen  und  Naschbaren! 

Pädagogisch  bedeutsamer  als  alle  vorangegangenen  ist  die  Gruppe  der 
Urteile,  die  sich  auf  von  den  Kindern  angestellte  Beobachtungen,  auf 
allerlei  Geschautes,  passiv  Erlebtes  beziehen.  —  Ein  zehnjähriger  Knabe 
antwortet  unter  II:  „Mir  gefällt,  daß  wir  ordentlich  marschieren.  Dann 
kriegen  wir  ordentlich  was  zu  sehen."  Also  ein  deutliches  intellektuelles 
Interesse,  ein  Ausdruck  der  Freude  an  der  Bereicherung  des  Vorstellungs- 
schatzes. Ahnlich  äußert  sich  ein  zwölfjähriges  Mädchen:  „Mir  gefällt  am 
meisten  auf  den  Ausflügen,  daß  ich  die  schöne  Gegend  besehen  kann.  Da- 
mit ich  es  auch  lernen  und  später  auch  Fräulein  werden  kann."  Einzelne 
Kinder  führen  bestimmte  Sehenswürdigkeiten  an,  die  ihnen  in  der  Erinne- 
rung geblieben  sind.  Das  Schloß  (gemeint  ist  wohl  das  Mausoleum)  in 
Friedrichsruh  wird  einmal,  die  Kugelbake,  die  Kanonen  in  Cuxhaven  werden 
mehrfach  erwähnt.     Andere  Kinder  berichten  erfreut,  daß  sie  ein  Dorf  be- 


l 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  477 

sichtigt  haben  oder  in  einem  Bauernhaus  gewesen  sind.  Derartige  Urteile 
werden  10  mal  von  Knaben,  5  mal  von  Mädchen  ausgesprochen.  Daß  diese 
Interessen  nicht  auf  Ortlichkeit  und  Landschaft  sich  beschränken,  beweisen 
u.  a.  die  Ausführungen  eines  Selektaners,  in  denen  es  an  einer  Stelle  heißt: 
„Ferner  hat  mir  der  Ausflug  noch  gefallen,  weil  unser  Führer  uns  alles  er- 
klärte, wonach  wir  fragten,  und  oft  zeigte  er  uns  auch  noch  etwas,  was 
wir  nicht  gesehen  hätten,  z.  B.  das  Zerpflücken  des  Frauenhaarmooses." 

Das  im  allgemeinen  schöne  Wetter,  die  gute,  gesunde  Luft  preisen 
13  mal  die  Knaben,  20  mal  die  Mädchen.  Man  hat  hier  zuweilen,  wie  häu- 
figer bei  Urteilen  dieser  Gattung,  den  Eindruck,  daß  sie  nicht  ganz  frei  von 
angelernter  oder  angenommener  Phrase  seien.  Überzeugender  wirkt  es 
jedenfalls,  wenn  am  ersten  Tage  50  Knaben  und  47  Mädchen,  am  zweiten 
Tage  11  Knaben  und  27  Mädchen  über  das  regnerische  Wetter  klagen. 
An  beiden  Tagen  fiel  kurze  Zeit  ein  leichter  Regen. 

Eine  Reihe  von  Urteilen  ergibt  die. Wertschätzung,  welcher  die  verschie- 
denen Landschaftsformen  begegneten.  11  Knaben  und  4  Mädchen  lieben 
den  Strand  und  bestätigen  somit  das  unter  I  gewonnene  Ergebnis.  Andere 
rühmen  Berge,  Moor,  Wiese  und  Feld,  10  Knaben  und  18  Mädchen  die 
Heide,  37  Knaben  und  67  Mädchen  den  Wald,  der  damit  an  erster  Stelle 
steht.  —  Bei  der  Registrierung  dieser  Antworten  kam  ich  wiederholt  in 
die  Verlegenheit,  eine  für  die  Beurteilung  wichtige  Entscheidung  aufs  Gerate- 
wohl treffen  zu  müssen.  Wenn  ein  kleiner  Junge  seine  Wanderfreude  be- 
kräftigt mit  den  Worten:  „ —  wegen  daß  wir  soviel  Wald  haben,"  so  glaube 
ich  eine  ehrliche  primitive  Freude  am  Wald  daraus  entnehmen  zu  können. 
Häufiger  aber  taucht  der  Satz  auf:  „ —  weil  wir  im  Walde  gespielt  haben." 
Es  handelt  sich  für  mich  nun  darum  zu  entscheiden,  ob  der  Nachdruck 
auf  das  Wort  „Wald"  oder  das  Wort  „Spiel"  zu  legen  war.  Wenn  ich  auch 
nach  dem  Ergebnis  unserer  Feststellungen  und  nach  meiner  eigenen  Erfah- 
rung annehmen  mußte,  daß  die  Vorstellung  des  Spiels  alle  anderen  neben 
sich  verdunkelt,  so  mußte  ich  doch  mit  der  Möglichkeit  rechnen,  daß  die 
Umgebung,  ganz  abgesehen  davon,  daß  der  Wald  als  geeignete  Spielgelegen- 
heit eine  hohe  Wertschätuing  genießt,  doch  dem  Spiel  einen  eigenartigen 
Reiz  verlieh,  der  aber  als  nicht  greifbare  zarte  Gefühlsvibration  im  Unter- 
bewußtsein verblieb.  Ich  habe  in  allen  diesen  Fällen  einen  positiven  Gefühls- 
ton dem  Walde  gegenüber  angenommen  und  dementsprechend  vermerkt, 
obwohl  ich  wußte,  daß  in  vielen,  vielleicht  den  meisten  Fällen,  das  Wort 
„Wald"  in  dem  angegebenen  Zusammenhang  keine  größere  Bedeutung  als 
die  eines  schmückenden  Beiworts  beanspruchen  darf.  Man  wird  also  von 
den  großen  Zahlen,  die  scheinbar  eine  schwärmerische  Begeisterung  unserer 
Kinder  für  den  Wald  verraten,  ein  gut  Stück  abstrahieren  müssen. 

Damit  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  Naturgefühle  bei  Kindern  eine  Un- 
möglichkeit seien.  Oder  ist  es  nicht  ein  Ausdruck  des  Gefühls  der  Be- 
freiung von  dem  atembeklemmenden  Druck  der  Großstadt,  eines  Gefühls, 
dem  unsrigen  ganz  ähnlich,  wenn  eine  kleine  Elfjährige  sagt:  „Der  Aus- 
flug nach  dem  Kiekeberg  war  der  beste.  Weil  ich  hier  Berge  und  Heide 
gesehen  habe;  denn  in  der  Stadt,  wo  ich  wohne,  sehe  ich  doch  nur  Häuser!" 
Oder  wenn   ein  Zwölfjähriger  seine  Vorliebe  für  den  Cuxhavenausflug   mit 


478  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

den  Worten  begründet:  „Ich  hatte  mich  da  freier  gefühlt."  Ich  kann 
nicht  umhin,  eine  Andeutung  des  Gefühls  beim  Anblick  des  Meeres  darin 
zu  erblicken,  das  uns  Erwachsenen  allen  bekannt  ist  und  das  in  sehnsuchts- 
voller Hingebung  an  die  Größe  der  Unendlichkeit  die  Brust  uns  schwellen  macht. 

Auch  einzelnen  Erscheinungen  der  Naturwelt  gegenüber  offenbaren  manche 
Kinder  ein  unerwartetes  Verständnis,  ein  überraschendes  Mitfühlen.  Ein 
dreizehnjähriges  Mädchen  sagt  von  seiner  Cuxhavenfahrt:  „Man  sah,  wie 
man  in  die  Nähe  der  Nordsee  kam,  wie  die  Wellen  aufstiegen,  und  es  sah 
aus,  als  wenn  es  Schneeberge  wären."  Wenn  man  auch  solch  —  ich  möchte 
es  fast  nennen:  poetischem  Erfassen  der  Natur  selten  begegnet,  so  darf 
man  doch  aus  der  Seltenheit  ihrer  Formulierung  nicht  das  Nichtvorhanden- 
sein solcher  Naturgefühle  bei  Kindern  herleiten  wollen.  —  Ein  paar  weitere 
Zeugnisse  liebevoller  Naturbeobachtung  wird  man  mir  anzuführen  gestatten.  — 
Ein  neunjähriger  Junge  rühmt  den  Ausflug  nach  dem  Alstertal:  „Weil  wir 
gewatet  haben.  Und  die  Schleuse  rauschte  so  laut,  und  das  Wasser  stieg 
sehr  hoch."  Ein  zwölfjähriges  Mädchen  mag  gern  im  Wald  sein,  „weil  er 
grün  ist,  weil  die  Bäume  so  rauschen."  Ein  zwei  Jahre  jüngeres  Mädchen 
weiß  davon  zu  sagen:  „Wenn  wir  durch  den  Tannenwald  gehen,  riecht  es 
sehr  schön."  Eine  Beobachtung,  auf  die  bei  dem  rückgebildeten  Geruch- 
sinn  des  Großstädters  die  wenigsten  Kinder  verfallen.  —  Daß  die  Natur- 
beobachtung zuweilen  gar  zu  einem  liebevollen  Versenken  in  das  Leben  der 
Kleinwelt  führt,  zeigt  die  Äußerung  eines  Elfjährigen:  „Wenn  man  ruhig 
im  Versteck  liegt,  macht  man  oft  allerlei  Beobachtungen."  —  An  weiteren 
Erlebnissen  und  Beobachtungen  ähnlicher  Art  greife  ich  heraus:  Ein  ein- 
samer Aufenthalt  in  der  Heide  und  im  Walde,  der  frühe  Morgen,  die  abend- 
liche Sonne,  bewundernswerte  Tiere,  Beobachtungen  von  Kühen  und  Stör- 
chen auf  der  Wiese. 

Daß  bei  der  immerhin  groben  Art  der  Feststellung  durch  unser  Verfahren 
wir  im  allgemeinen  nur  die  am  leichtesten  zutage  tretenden,  gewisser- 
maßen voluminösesten  Interessen  der  Kinder  auffangen  konnten,  daß  hin- 
gegen feinere  Gefühlsregungen,  wie  die  zuletzt  charakterisierten,  durch  die 
Maschen  des  Netzes  schlüpfen  mußten,  kann  niemanden  wundernehmen. 
Unsere  wenig  präzise  und  spezialisierte  Fragestellung  bedeutete  eine  so  ge- 
ringe Reizung  des  kindlichen  Vorstellungsinhalts,  daß  nur  die  mit  einem 
starken  natürlichen  Auftrieb  versehenen  Vorstellungen  über  die  Bewußtseins- 
schwelle drängten.  Das  ist  der  Vorzug  unseres  Versuchs  und  ist  auch  sein 
Mangel.  Wenn  dabei  auch  Vorstellungen  mit  nach  oben  gerissen  wurden, 
deren  Erscheinen  wir  kaum  erwarten  konnten,  so  mögen  wir  einerseits 
dieser  quantitativ  zwar  weniger  ergiebigen,  aber  inhaltlich  bedeutsamen 
Ausbeute  uns  freuen;  andererseits  dürfen  wir  vermuten,  daß  in  den  Tiefen 
des  kindlichen  Bewußtseins  Vorgänge  sich  abspielen,  die  sich  bisher  im  all- 
gemeinen unserer  Kenntnis  entziehen,  und  man  wird  über  feinere  Methoden 
nachsinnen  müssen,  um  das  vielumstrittene  ^und  angezweifelte  Verhältnis 
des  Kindes  zur  Natur  sorgfältiger  und  einwandfreier  beobachten  und  fest- 
stellen zu  können. 

Eigenartig  wirken  neben  diesen  mannigfachen  Lustbezeugungen  die  ver- 
einzelt auftauchenden    und    meist   reichlich    naiv    anmutenden    negativen 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  479 


Urteile  dieser  Gattung.  So  schreibt  ein  vierzehnjähriger  Junge:  „Es 
gefällt  mir  nicht,  weil  in  den  Wäldern  so  viele  Tannennadeln  liegen. 
Will  ich  ein  Berg  hinaufgehen,  so  rutsch  ich  wieder  hinunter."  —  Ander© 
Vereinzelte  beklagen  sich  über  nassen  und  „matschigen"  Boden,  die  stechen- 
den Tannennadeln,  über  Ameisen  und  „andere  häßliche  Tiere."  Ein  neun- 
jähriges Mädchen  jammert:  „Die  Bienen  haben  mir  gepiert."  Damit  ist 
diese  Gattung  Urteile  genügend  charakterisiert,  und  ich  kann  darüber  hin- 
weggehen. 

Ganz  interessant,  weil  vorher  Festgestelltes  bestätigend,  ist  die  Meinung 
der  Kinder  über  die  angenehmste  Fahrgelegenheit.  23  Knaben  und 
33  Mädchen  ziehen  eine  Dampferfahrt  jeder  anderen  vor.  Eisenbahnfahrten 
finden  mir  7  Freunde.  Dagegen  protestieren  6  Kinder  gegen  Straßenbahn- 
fahrten, die  nicht  einen  Verteidiger  finden.  Ein  Knabe  klagt  über  die 
„Stickluft"  in  den  Wagen.  Der  Grund  für  die  bevorzugte  Stellung  der 
Wasserfahrten  wird  wohl  ganz  richtig  von  einem  dreizehnjährigen  Mädchen 
angegeben,  wenn  es  sagt:  „—  weil  man  dann  mehr  von  der  Natur  hat 
und  spielen  kann."  Die  geringere  Behinderung  der  Bewegungsfreiheit  auf 
dem  Dampfer  wird  für  die  Stellungnahme  der  Kinder  ein  ausschlaggebendes 
Moment  gewesen  sein. 

Ein    besonderes   Interesse    dürfen    diejenigen   Urteile  für  uns   haben,  die 
sich  mit  der  Organisation    und    der  Ausführung    unserer   Ausflüge 
im    besonderen    beschäftigen.  —   Zunächst    zur    Frage    des    Einkehre ns. 
8  Knaben    nnd    13  Mädchen    sind    fürs  Einkehren   und   beklagen  sich  teil- 
weise darüber,  daß  ihre  Gruppe  gar  nicht  oder  erst  so  spät  am  Tage  ein- 
gekehrt ist.     Hingegen   lehnen    12  Knaben    und    5  Mädchen    grundsätzlich 
das  Einkehren  ab,  ein  erfreuliches  Kennzeichen  dafür,  daß  gesunde  Wander- 
sitte auch  unter  unsern  Kindern  immer  weiter  um.  sich  greift.  —  6  Knaben 
und    17    Mädchen    sind    darüber  '^ungehalten ,    daß    das    Abpflücken    von 
Blättern,  Zweigen,  Blumen  usw.  durch  Vereinsverordnung  verboten  ist.    Das 
auffällige  Überwiegen  der  Mädchen  ist  auch  hier  charakteristisch.    Dagegen 
versichern  2  Kinder  (1  Knabe,  1  Mädchen),  daß  sie  das  Verbot  „sehr  ver- 
nünftig" finden.     Also  dürfen  wir  uns  trösten.     3  mal  wird  gewünscht,  daß 
die  Ausflüge  recht  früh  des  Morgens  beginnen  möchten.     Die  Billigkeit  der 
Ausflüge  wird  6  mal,  die  Austeilung  von  Verbandsdosen  an  die  Führer  (ent- 
haltend Pflaster,  Binde  usw.)  2  mal  rühmend  anerkannt.     Einen  neunjährigen 
Knaben  freut  es,  daß  er  unterwegs  den  Fragebogen  ausfüllen  muß,  4  Knaben 
und  2  Mädchen  haben  sich  darüber  geärgert.  —  Auch  über  die  Zusammen- 
setzung   der    Gruppen    äußern    sich    die    Kinder.      Eine    dreizehnjährige 
Selektanerin  sagt  darüber:     „Daß  nicht  so  viele  Kinder  in  einer  Gruppe  ge- 
nommen werden,  gefällt  mir.    Werden  viele  Kinder  in  einer  Gruppe  genom- 
men, so  kommen  sie  nicht  mit,  und   man   kann   im   schönsten  Marschieren 
stehen  bleiben.     Sind  wenig  Kinder  in  einer  Gruppe,  so  braucht  man  nicht 
so    oft   nachzuzählen,    und    wir    werden    im   Singen   und  Marschieren   nicht 
gestört.     Daß  die  Gruppen  sich  nachher  verteilen  und  nicht  alle  zusammen 
bleiben,  gefällt  mir."     Ihrer  Meinung  sind  mehrere;  im  ganzen  äußern  sich 
11  Kinder  lobend  über  die  geringe  Gruppenstärke.    4  Kinder  beklagen  sich 
darüber,    daß   ihre  Gruppe   zu   groß    war;    nur    1   Junge  sähe  gerne  mehr 


480  Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns. 

Kinder  in  der  Gruppe.  Weitere  9  Kinder  wollen  von  einem  Zusammensein 
oder  einem  Zusammenspiel  mehrerer  Gruppen  nichts  wissen.  Das  letztere 
wird  nur  einmal  rühmend  hervorgehoben.  Es  scheint  also  auch  in  den 
Kindern  das  Bedürfnis  vorwiegend  dahin  zu  gehen,  den  Tag  in  engum- 
schlossenem Kreise  zu  verleben. 

Die  Kinder  haben  durchaus  ein  Gefühl  dafür,  wie  sehr  eine  gegenseitige 
Vertrautheit  die  Stimmung  einer  Wanderung  zu  heben  vermag.  7 mal 
wird  ausdrücklich  hervorgehoben,  wie  vorteilhaft  und  schön  es  sei,  wenn 
immer  dieselben  Führer  und  dieselben  Kinder  sich^'wieder  zusammenfänden. 
Ein  Kleiner,  dem  dieses  Glück  anscheinend  selten  blüht,  berichtet  freude- 
strahlend, daß  er  mit  seinem  Klassenlehrer  gewandert  sei.  —  Die  frische, 
lebensfrohe  Stimmung  beim  Spielen  und  Wandern  wird  hier  und  da  sehr 
wohl  als  solche  empfunden.  „Wir  sind  alle  immer  so  vergnügt  zusammen." 
Das  ist  die  einzige  Antwort,  die  ein  zwölfjähriges  Mädchen  auf  Frage  II 
zu  geben  weiß.  Dieser  erfreulichen  Wirkung  des  Kinderausflugs  auf  die 
Gemüter  verleihen  10  Kinder  Ausdruck.  6 mal  wird  die  Freiheit  und 
Zwanglosigkeit,  die  in  unsern  Gruppen  herrscht,  ausdrücklich  anerkennend 
hervorgehoben  und  einigemale  zu  der  schulgemäßen  Gepflogenheit  in  be- 
wußten Gegensatz  gebracht.  —  Daß  diese  Zwanglosigkeit  aber  bei  manchen 
Kindern  auch  ausarten  und  für  die  übrigen  zur  Plage  werden  kann,  dafür 
haben  auch  die  Kinder  schon  ein  gesundes  Verständnis.  9  Knaben  und 
5  Mädchen  klagen  über  freches,  albernes,  launisches,  wildes  Benehmen 
einzelner  Kinder.  5  Mädchen  bedauern,  daß  in  ihrer  Gruppe  etwas  weg- 
genommen sei,  5  anderen  Kindern  ist  das  „unvernünftige  Gedränge"  am 
Dampfer  oder  an  der  Bahn  unangenehm.  Ein  Selektaner  schreibt:  „Mir 
hat  sonst  alles  gefallen.  Bloß  daß  die  Jungen  die  Verbote  und  Rufe  nicht 
beachten.  Es  wäre  wünschenswert,  daß  solche  ungehorsamen  Jungen  be- 
straft würden  oder  scharf  angefaßt  würden."  Das  hört  sich  recht  altklug 
an.  Und  doch,  wenn  ich  an  ähnliche  Empfindungen  denke,  die  mir  im 
gleichen  Alter  wiederholt  kamen,  so  möchte  ich  annehmen,  daß  dieser 
Junge  ein  Gefühl,  das  ihm  vielleicht  schon  lange  auf  der  Seele  brannte  und 
das  auszusprechen  er  sich  scheute,  in  einem  unbewachten  Augenblick  aufs 
Papier  brachte  in  der  Hoffnung,  es  nun  an  die  richtige  Adresse  befördert 
zu  haben.  Die  zuweilen  recht  weichliche  Nachgiebigkeit  mancher  Jugend- 
führer gegenüber  den  Launen  der  ihnen  anvertrauten  Jugend,  die  sich 
vielleicht  noch  gar  damit  ziert,  „moderne"  Pädagogik  darstellen  zu  wollen, 
muß  immer  da  ihre  Grenzen  finden,  wo  der  Führer  als  der  mächtigere  und 
einflußreichere  dazu  berufen  ist,  sich  zum  Bundesgenossen  der  edleren 
Regungen  des  Kindes  zu  machen.  Er  mag  dann  getrost  scharf  und  rück- 
sichtslos gegen  alles  vorgehen,  was  diese  zu  gefährden  droht  und  darf  über- 
zeugt sein,  daß  er  auch  dann  noch  seine  pädagogischen  Maßnahmen  „vom 
Kinde  aus"  orientiert  hat  und  daß  selbst  äußerlich  widerstrebende  Elemente 
seinem  Tun  Verständnis  oder  gar  innere  Zustimmung  entgegenbringen.  In- 
sofern ist  mir  die  herangezogene  Äußerung  des  Knaben  überaus  wertvoll.  — 
Es  scheint  überhaupt  in  dieser  Beziehung  nicht  überall  zum  besten  zu 
stehen.  Wenn  ein  Mädchen  schreibt:  „Wir  haben  gespielt,  Jäger  und 
Hund.     Mir  hat  das  gefallen,  weil  kein  Streit  war,"   so  scheint  fast  daraus 


Beiträge  zur  Psychologie  und  Pädagogik  des  Jugendwanderns.  481 

_ 

hervorzugehen,  daß  nach  Meinung  des  Kindes  dieser  Verlauf  des  Spiels  als 
Ausnahmeerscheinung  besondere  Erwähnung  verdient.  —  Welchen  Einfluß 
der  Führer  durch  seine  bloße  Beteiligung  am  Spiel  auf  den  Verlauf  des- 
selben auszuüben  imstande  ist,  bezeugt  der  Ausspruch  eines  kleinen  Zehn- 
jährigen: „Ich  mag  gern  spielen,  aber  nur,  wenn  der  Lehrer  mitspielt,  weil 
dann  keiner  mugscht^)."  4  Kinder  erheben  —  berechtigterweise  —  bittere 
Klage  über  ihren  Führer  oder  ihr  „Fräulein",  weil  [sie  sich  am  Spiel  nicht 
beteiligen  wollten  oder  gar  sie  allein  gelassen  {haben.  Dagegen  steht  das 
erfreuliche  Zeugnis  von  30  Knaben  und  44  Mädchen,  die  aussagen,  daß  ihr 
Führer,  ihre  Führerin  so  freundlich  und  „nett"  zu  ihnen  gewesen  sei  und 
fein  mit  ihnen  gespielt  habe,  —  Man  wird  mit  mir  den  Eindruck  haben, 
daß  diese  schlichten  Aussagen  uns  einen  flüchtigen  Blick  haben  tun  lassen 
in  ein  bisher  besonders  wenig  bearbeitetes  und  hochwichtiges  Gebiet  der 
Wanderpädagogik:  Das  Problem  der  Bedeutung  des  Jugendwanderns  für 
die  Charakterentwicklung,  die  moralische  und  Willensbildung  des  Kindes, 
dem  man  künftig  m.  E.  mit  ganz  besonderem  Ernst  sich  wird  zuwenden 
müssen. 

Mehr  um  der  Kuriosität  als  der  inneren  Bedeutung  willen  erwähne  ich 
eine  letzte  Gruppe  von  Urteilen,  derjenigen,  die  irgendeiner  erlebten 
Sensation  auf  der  einen,  allerlei  persönlichem  Mißgeschick  auf  der 
andern  Seite  ihre  Entstehung  verdanken.  „Wir  haben  das  Scharfschießen  der 
Jäger  beobachtet,  ein  junger  Herr  spielte  die  Zupfgeige  auf  dem  Dampfer, 
wir  sind  photographiert  worden,  haben  den  Zeppelin  gesehen"  usw.  Derartige 
kleine  Außergewöhnlichkeiten  verleihen  bei  manchen  Kindern  dem  Ausflug 
einen  solchen  Reiz,  daß  sie  darüber  alles  andere  vergessen.  —  „Ich  bin  in 
einen  Graben  oder  ins  Wasser  gefallen,  dieses  oder  jenes  Kleidungsstück  ist 
verloren  gegangen  oder  beschädigt  oder  beschmutzt,  ich  habe  mir  weh  getan, 
ich  bin  von  meinem  Lehrer  angeschnauzt  worden,  habe  einen  Backs  ge- 
kriegt, die  Kinder  haben  mich  naßgespritzt,  ich  hatte  überhaupt  nie  Lust." 
Solch  kleine  Leiden  und  Geringfügigkeiten  können  unter  Umständen  doch 
den  Kindern  die  Freude  erheblich  beeinträchtigen. 

Damit  ist  das  Ergebnis  unseres  Versuchs  Jim  wesentlichen  erschöpft. 
Manche  uns  interessierende  Frage  der  Wanderpädagogik  ist  uns  —  wenn 
wir  rückschauend  das  Gesamtergebnis  dieses  unseres  ersten,  zaghaft  tasten- 
den und  gewiß  nicht  überall  einwandfreien  Versuchs  überblicken  —  vom  Stand- 
punkte des  Kindes  aus  in  eine  neue  und  eigenartige  Beleuchtung  gerückt 
worden;  Dinge,  die  wir  bisher  nur  ahnen  und  fühlen  konnten,  haben  sich 
uns  überraschend  bestätigt.  Freilich  wollen  wir  uns  nicht  verhehlen,  daß 
die  Mehrzahl  der  Probleme  noch  in  sehr  unvollkommener  Weise  einer 
Lösung  nahegebracht  worden  sind.  Es  wird  Aufgabe  nicht  nur  der  Ver- 
einigung, von  der  diese  Anregung  ausgeht,  sondern  aller  an  der  Jugendpflege 
interessierten  pädagogischen  Kreise  sein,  die  hier  begonnene  Arbeit  fortzu- 
setzen, auszubauen  und  für  die  Praxis  fruchtbringend  zu  gestalten.  Mächtig 
hat  die  moderne  Jugendpflegebewegung  in  die  Breite  sich  entwickelt.  Daß 
die  künftige  Entwicklung  auch  in  die  Tiefe  gehe,  muß  die  Sorge  der  päda- 


1)  Streit  machen,  sich  trotzig  absondern. 

Zeitschrift  f.  pBdaffOff.  Psycttologi«.  31 


482  I^i®  Ermüdung  und  das  Antikenotoxin. 

gogischen  Welt  sein.  Gegenüber  den  vielfacli  planlos,  mit  großer  Zielun- 
ßicherheit  oder  irrtümlicher  Orientierung  arbeitenden  Bestrebungen  heißt  es, 
die  Bewegung  psychologisch  zu  durchdringen,  pädagogisch  zu  vertiefen, 
damit  sie  zu  dem  werde,  was  sie  sein  könnte  und  müßte:  einer  ernst  zu 
nehmenden  pädagogischen  Bewegung. 


Die  Ermüdung  und  das  Antikenotoxin. 

Eine  Entgegnung. 
Von  Friedrich  Lorentz. 

Die  von  dem  Erlanger  Gelehrten  Prof.  Dr.  W.  Weichardt  inaugurierten 
Kenotoxinforschungen,  über  deren  Anwendung  zur  Erforschung  der  Schüler- 
ermüdung ich  in  dieser  Zeitschrift  (Jahrg.  13,  S.  472 ff.)  eingehender  berichtet 
habe,  finden  auch  außerhalb  der  speziellen  Fachkreise  eine  immer  eingehendere 
Beachtung.  So  erwünscht  nun  auch  solche  Nachprüfungen  der  bislang  ge- 
machten Beobachtungen  von  selten  der  Fachphysiologen  und  Fachhygieniker 
sind,  so  dürfen  dabei  doch  keineswegs  die  pädagogischen  Anforderungen  an 
die  Schülerexperimente  so  vernachlässigt  werden,  wie  es  augenscheinlich  in 
einer  Arbeit  der  Fall  ist,  die  neuerdings  Dr.  Hacker  unter  dem  Titel  „Die 
Wirkung  des  Antikenotoxins  auf  den  Menschen"  in  den  „Fortschritten  der 
Psychologie  und  ihrer  Anwendungen",  herausgegeben  von  Prof.  M  a  r  b  e 
(1914.  Bd.  IL  Heft  6),  veröffentlicht  hat.  Die  Hacker  sehe  Arbeit,  die 
auch  auf  meine  hier  veröffentlichten  Beobachtungen,  sowie  diejenigen  eines 
anderen  pädagogischen  Beurteilers  Bezug  nimmt,  wirft  anderen  Autoren 
oberflächliche  Ausführung  ihrer  Versuche  vor,  während  sie  selbst  zahlreiche 
Ungenauigkeiten  und  Fehlschlüsse  enthält,  die  unbedingt  berichtigt  werden 
müssen. 

Herr  Hacker  weist  darauf  hin,  daß  bei  den  Versuchen  über  Muskel- 
arbeit jede  Autosuggestion  ausgeschaltet  werden  müßte.  Darauf  hat  schon 
Weichardt  verwiesen,  wenn  er  bei  seinen  ersten  Versuchen  mit  sehr  hoch- 
wertigen Antikenotoxinpräparaten  schreibt:  „Das  suggestive  Moment  aus- 
zuschalten, gelingt  einzig  und  allein  nur  dann,  wenn  das  Versuchsindividuum 
vollkommen  im  Unklaren  darüber  bleibt,  worauf  es  beim  Versuche  über- 
haupt ankommt".  Trotzdem  behauptet  Herr  Hacker:  „Ob  die  Versuchs- 
personen von  der  erwarteten  Wirkung  des  Mittels  wußten,  gibt  Weichardt 
nicht  an". 

Aber  auch  die  Meinung,  daß  es  bei  der  Hantelfußübung  gelingt,  „bei  ent- 
sprechender Willensanstrengung  das  Mehrfache  des  Erreichbaren  zu  leisten" 
ist,  völlig  haltlos.  Meine  zahlreichen  Versuche  haben  dargetan,  daß  es  bei 
exakter  Ausführung  der  Hantelfußübung  mit  absoluter  Sicherheit  möglich  ist, 
die  muskuläre  Höchstleistung  zu  bestimmen.  Jede  persönliche  Willkür  wird 
z.  B.  ausgeschlossen,  wenn  man  die  Übung  in  der  Weise  modifiziert,  daß 
die  Haltung  der  Hände  und  das  Emporheben  der  Füße  durch  Leinen  an 
einem  im  Turnsaal  überall  vorhandenen  Sprunggestell  fixiert  werden.  Das 
Herabfallen  der  Schnur  zeigt  unwiderleglich  das  Ende  der  Übung  an;  auch 


Die  Ermüdung  und  das  Antikenotoxin. 


483 


i8t  ein  Ausdruck  der  geleisteten  Arbeit  in  Kilogrammetern  hierbei  leicht 
möglich.  Vorbedingung  zur  Erzielung  gleichbleibender  Leistungen  ist  aller- 
dings ein  gehöriges  Training,  dessen  Durchführung  jedem  exakten  Beob- 
achter geläufig  sein  sollte,  um  den  Übungszuwachs  bis  auf  das  geringste 
Maß  herabzudrücken.  Die  Hacker  sehe  Modifikation  der  Hantelfußübung 
(Ausschalten  der  unteren  Körpermuskulatur)  ist  keineswegs  eine  Verbesserung 
dieser  Ermüdungsmaßmethode,  da  eine  ausreichende  Toxinproduktion  hierbei 
nicht  erzielt  werden  kann.  Unrichtig  ausgeführt,  verliert  jede  Ermüdungs- 
maßmethode ihren  Wert;  sie  ist  nur  brauchbar,  wenn  vollkommen  Trainierte 
die  Übung  (in  der  von  mir  vorhin  angegebenen  Weise)  ganz  gleichmäßig 
wiederholen.  Versuchsergebnisse,  gewonnen  an  Individuen,  die  nur  an 
2  Tagen  an  den  Versuchen  teilnahmen,  sowie  mit  solchen  „älteren  Versuchs- 
personen" (bei  Hacker  figurieren  darunter  außer  einem  66jährigen,  die 
Jahre  40,  22  und  43),  die  äußerst  schwer  ermüdbar  sind,  müssen  von  vorn- 
herein als  ausschlaggebend  abgelehnt  werden. 

Unklarheit  in  den  serologischen  Begriffen  beweist  Herr  Hacker  insbe- 
sondere durch  die  Prägung  des  Satzes:  „Daß  sich  die  Wirkung  des  Anti- 
kenotoxins  als  eines  die  Antigenbildung  (???)  anregenden  Stoffes  gar  nicht 
deutlich  zeigen  könne".  Der  Verfasser  zeigt  hier,  daß  ihm  geläufige  Vor- 
stellungen der  Immunitätsforschung  fehlen.  Antikenotoxin  ist  ja  gar  nicht 
fähig,  Antigenbildung  zu  veranlassen. 

Das  Wichtigste  der  Hack  er  sehen  Veröffentlichung  ist  unzweifelhaft  seine 
Nachprüfung  meiner  Schulversuche  über  Leistungsbeeinflussungen  durch 
Antikenotoxin. 

Herr  Hacker  legt,  und  zwar  mit  Kecht,  großen  Nachdruck  auf  die 
Rechenergebnisse,  welche  in  nachstehender  Tabelle  übersichtlich  zusammen- 
gestellt sind : 


Vereuchstag 

Morgens 

Mittags 

Zerstäubung  von 

Differenz 

8V4  Uhr 

11  Uhr 

Wasser,  8V«  Uhr 

14.  Januar 

6964 

7508 

ohne  Antikenotoxin 

544 

16. 

7332 

7072 

mit                „ 

640 

22. 

8208 

8600 

ohne              „ 

392 

23.        „ 

8692 

9042 

mit                 „ 

350 

24. 

9096 

9628 

ohne              „ 

532 

26. 

8960 

9460 

mit                 ., 

500 

28.         „ 

9052 

9548 

ohne              „ 

496 

29. 

9380 

9836 

mit                 „ 

456 

30.        „ 

9336 

10044 

ohne              „ 

708 

31. 

9820 

10488 

mit                 „ 

668 

Die  Hack  ersehen  Ergebnisse  weisen  kontinuierliche  Zunahme  der  Leistun- 
gen im  Laufe  der  10  Tage  und  ganz  regelmäßige  Mehrleistungen  bei  den 
Mittagversuchen  auf.  Herr  Hacker  folgert  hieraus  das  Fehlen  jedweder 
besonderen  Einwirkung,  trotzdem  am  15.,  23.,  26.,  29.  und  31.  Januar 
Antikenotoxin  in  der  Klasse  versprayt  wurde.  Ich  selbst  vermag  die 
kontinuierliche  Zunahme    der  Leistungen    nicht    ohne    weiteres    einzig    und 

31* 


484  Über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  usw. 

allein  als  normalen  Leistungszuwachs  anzuerkennen;  dazu  ist  diese  Zunahme, 
in  anbetracht  der  doch  vorausgehenden  8  Übungstage,  entschieden  viel  zu 
hoch.  Die  Kinder  errechneten  am  14.  Januar  früh  6964  und  am  31.  Januar 
9820,  also  nahezu  1/3  mehr.  Ganz  ähnliche  Kesultate  ergeben  die  11  Uhr 
Werte.  Solche  Höchstleistungen  habe  ich  —  wie  auch  neuerdings  Marx 
Lobsien-Kiel  in  seiner  Entgegnung  auf  die  gleiche  Arbeit  (s.  Archiv  für 
Pädagogik  IL  Jahrg.  Heft  4)  betont  —  niemals  erzielen  können,  ohne  Anti- 
kenotoxinwirkung  gleichzeitig  dabei  festzustellen.  Viel  ungezwungener  er- 
klärt sich  dieses  überreichliche  Anwachsen  der  Leistungen,  wenn  man  der 
Antikenotoxinwirkung  ihren  Anteil  nicht  vorenthält. 

Bei  seiner  Versuchsanordnung  hat  offenbar  Hacker  die  ihm  übrigens 
bekannte  (s.  S.  332)  Nachwirkung  der  Präparate  —  nach  Weichardt  bis 
ca.  30  Stunden  —  nicht  beachtet,  sonst  hätte  er  sich  doch  sagen  müssen, 
daß  so  schnell  wiederholte  Antikörperanwendung  (zumeist  am  3ten  Tage) 
doch  den  folgenden,  angeblich  antikenotoxinfreien  Tag  mit  beeinflussen 
muß !  Dazu  kommt,  daß  bei  so  gehäufter  Antikenotoxinversprayung  ein 
Zimmer  an  den  folgenden,  sogenannten  antikenotoxinfreien  Tagen  für  Leer- 
versuche unbrauchbar  ist. 

Damit  fallen  alle  weiteren  Erwägungen  bezüglich  der  Differenzen  voll- 
kommen; denn  die  Kinder  standen  unter  einer  kontinuierlichen,  und 
zwar  wachsenden  Antikenotoxinein  Wirkung.  Die  mit  den  Hacker  sehen 
Werten  zu  erzielende  Kurve  ist  somit  eine  durch  geringen  Übungszuwachs 
etwas  verstärkte  prächtige  Antikenotoxinkurve,  die  beste,  welche 
bisher  der  Forschung  auf  diesem  Gebiete  zu  Gebote  steht. 

Die  jüngsten  Untersuchungen  von  Abderhalden  über  die  Abwehr- 
fermente des  Körpers  lassen  die  Weichardt  sehen  Ergebnisse  in  neuem 
Licht  erscheinen.  Es  ist  daher  eine  dringende  Forderung,  daß  die  Hy- 
gieniker  und  Physiologen  die  Ergebnisse  einer  eingehenden  Nachprüfung 
unterziehen.  Aber  es  dürfen  dabei  keinesfalls  so  wichtige  Tatsachen  der 
Immunitätsforschung  und  der  experimentellen  Psychologie  übersehen  werden, 
wie  es  Herr  Hacker  offenbar  getan  hat.  Aus  so  magerem  Versuchsmaterial 
und  noch  dazu  mit  wenig  trainierten  Personen  lassen  sich  keinesfalls  der- 
artige Schlüsse  ziehen. 


Über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  und  ihre 
heilpädagogischc  Behandlung. 

Von  J.  Girstenberg. 

Das  Wort  Idiosynkrasie  kommt  bekanntlich  von  dem  griechischen  t8io<;  eigen 
und  auyxpaatt;  Vermischung.  Es  bedeutet  etwa  Eigenmischung,  d.h.  eigentümliche 
Mischimg  von  Körpersäften.  Nach  einer  veralteten  medizinischen  Ansicht  näm- 
lich sollten  die  verschiedenen  Mischungen  von  Körpersäften  die  Ursachen  von 
Krankheiten  oder  krankhaften  Zuständen  sein.  Heute  versteht  man  unter 
Idiosynkrasie  die  eigentümliche,  von  der  Norm  abweichende  Reaktionsweise 
eines  Individuums  auf  bestimmte  Reize,  die  bei  normalen  Menschen  anders  wirken. 


über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  usw.  486 

^\ • ■ 

Dem  praktischen  Arzte  ist  die  idiosynkratisch  ausgeprägte  Empfindlichkeit 
gewisser  Personen  eine  wohlbekannte  Erscheinung.  Kommt  es  doch  recht  häufig 
vor,  daß  Kinder  und  Erwachsene  nach  dem  Genüsse  von  Erdbeeren,  Birnen, 
Hummern,  Krebsen  usw.  in  charakteristischerWeise  von  Nesselsucht  oder  anderen 
Hautausschlägen  befallen  werden,  ist  doch  die  übermäßige  Empfindlichkeit 
vieler  Säuglinge  gegen  Kuhmilch,  femer  die  Arzneimittel-Idiosynkrasie  gegenüber 
der  offiziellen  Dosierung  ohne  Zweifel  auch  auf  eine  pathologische  Disposition 
zurückzuführen.  Kinder  leiden,  wie  schon  angedeutet,  besonders  häufig  an  Idio- 
synkrasien. So  ist  Strophulus  (Schälknötchen)  bei  Kindern  oft  der  Ausdruck 
einer  idiosynkratischen  Beschaffenheit,  wobei  es  sich  in  diesem  Falle  um  so- 
genannte Organidiosynkrasie  handelt:  die  Haut  allein  reagiert  auf  Ernähnmgs- 
störungen  so  stark  und  nachhaltig,  daß  es  zu  wirklichen  entzündlichen  Prozessen, 
zur  Bildung  von  Strophuluspapeln  kommt.  Allgemein  bekannt  ist  übrigens  auch 
die  abnorme  Art,  in  der  manche  Individuen  auf  gewisse  Gerüche  wie  Heu-  und 
Lindenduft  reagieren  (Heufieber,  Lindenkrankheit). 

Außer  der  pathologisch  gesteigerten  Reaktion  auf  materielle  Reize,  der  so- 
genannten somatischen  Idiosynkrasie,  gibt  es  aber  auch  ausgesprochen  psychiscbe 
Idiosynkrasien,  die  einen  seelischen  Widerwillen  gegen  gewisse  Vorstellungen 
bedeuten.  Diese  psychischen  Idiosynkrasien  beruhen  ohne  Zweifel  auf  einer 
pathologisch  gesteigerten  Reizbarkeit  des  Nervensystems  und  finden  sich  spe- 
ziell bei  neurasthenischen  und  psychasthenischen  Kindern  in  Verbindung  mit 
anderen  psychopathischen  Stigmaten. 

Einige  Beispiele  aus  der  heilpädagogischen  Praxis  mögen  als  Beleg  dienen. 

Heinrich  X.,  14  Jahre  alt,  schwach  begabt,  kommt  in  keiner  öffentlichen  Schule 
mit.  Sprache  unzusammenhängend,  beinahe  etwas  polternd,  besonders  beim 
Lesen.  Schrift  trotz  unaufhörlicher  Übungen  und  Besserungsversuche  unordent- 
lich :  die  einzelnen  Buchstaben  werden  exzessiv  auseinandergezogen,  sind  ungleich 
in  Größe  und  Lage.  H.  kann  auch,  obgleich  er  sehr  gute  Augen  hat,  die  Linie  nicht 
einhalten.  Offenbar  ist  die  Koordination  der  einzelnen  Muskelbewegungen,  die 
beim  Schreiben  in  Frage  kommen,  pathologisch  gestört.  Das  Gedächtnis  ist 
mangelhaft,  die  Ermüdbarkeit  erhöht,  die  Aufmerksamkeit  läßt  schnell  nach. 
Durch  Zufall  bemerke  ich  folgendes.  Beim  Spiel  im  Freien  wollen  einige  Jungen 
in  H.s  Gegenwart  als  Kraftprobe  einen  größeren  Stein  mit  einer  Hand  aufheben. 
H.,  der  sonst  recht  phlegmatisch  ist,  gerät  hierbei  in  größte  Aufregung  und  schreit : 
,,Um  Gottes  willen,  hört  bloß  auf,  pfui  Teufel,  mit  den  Nägeln  dagegen,  schreck- 
lich mit  den  Nägeln  an  den  Stein  I"  Er  hält  sich  die  Ohren  zu,  verzerrt  das  Ge- 
sicht und  wendet  sich  schließlich  mit  allen  Zeichen  des  Grauens  zur  Flucht. 

Ähnlich  liegt  folgender  von  mir  beobachtete  Fall. 

Ein  löjähriger,  herzleidender  Junge,  erblich  belastet  (Vater  im  Sanatorium, 
Mutter  schwer  nervös),  kann  keine  Wolle  anfassen.  Er  ist  nicht  imstande,  wollene 
Wäsche  anzuziehen,  ja  er  fürchtet  geradezu  die  Berührung  wollener  Gegenstände 
wie  z.  B.  Handschuhe.  Aber  nicht  bloß  das  ist  ihm  zuwider,  er  fürchtet  sogar  die 
Vorstellung,  daß  er  mit  wollenen  Gegenständen  in  Berührung  kommen  könne. 
Wenn  man  ihm  z.  B.  einen  wollenen  Handschuh  nur  hinhält,  ohne  ihn  damit  zu 
berühren,  gerät  er  schon  außer  sich.  Schon  die  Erwähnung  von  spezifisch  wollenen 
Sachen,  wie  z.B.  Sweater  u.a.,  regt  ihn  auf.  Demselben  Jungen  istes  auch  unerträg- 
lich, wenn  jemand  mit  ausgestreckten  Fingern  sich  ihm  langsam  nähert.   Ja,  ea 


486  Über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  usw. 

ist  gerade,  als  ob  er  die  eigentümliclie  Fähigkeit  hätte  zu  fühlen,  wenn  man  ihm 
in  der  geschilderten  Weise  von  hinten  nahe  kommt,  ohne  daß  er  einen  sehen  kann. 
Er  schreit  dann  laut  auf  und  ergreift  die  Flucht.  Dabei  ist  er  aber  keineswegs 
kitzlig  im  gewöhnlichen  Sinne.  Übrigens  leidet  er  auch  an  der  ziemlich  häufigen 
Idiosynkrasie  gegen  Plüsch.  Wenn  er  gezwungen  ist,  sich  auf  ein  Plüschsofa 
oder  einen  Plüschstuhl  zu  setzen,  so  steht  er  angeblich  Qualen  aus.  Er  legt  dann 
die  Hände  krampfhaft  in  den  Schoß,  um  nur  ja  nicht  aus  Versehen  den  ,, ekel- 
haften Plüsch"  anzufassen.  Die  Schilderung,  die  er  mir  selbst  gibt,  schließt  mit 
den  Worten:  ,,Ach,  Herr  Doktor,  mir  wird  schon  ganz  übel,  wenn  ich  nur  daran 
denke." 

Ein  anderer  Fall: 

A.  B.,  12  Jahre  alt,  sehr  begabt,  äußerst  sympathischer  Junge,  ehrgeizig  und 
fleißig,  Vater  überarbeitet,  Gelehrter  in  hoher  Stellung,  Mutter  sehr  nervös. 
A.  B.  litt,  als  er  zur  Schule  ging,  an  nervösem  Erbrechen.  Er  konnte  nie  vor 
der  Schule  morgens  frühstücken,  ohne  alles  wieder  von  sich  zu  geben.  Nachts 
fürchtete  er  sich  oft  vor  Mäusen,  angeblich,  weil  er  einmal  auf  dem  Lande  eine 
Maus  aus  Versehen  totgetreten  hatte.  Körperlich  war  er  sehr  weich  und  schlaff, 
besonders  in  den  G-elenken. 

Dem  Jungen  wurde  schon  bei  der  Vorstellung  von  einem  Fleischladen  übel, 
auch  wenn  man  etwa  nur  den  Geruch  von  Fleisch  erwähnte.  Merkwürdigerweise 
aß  er  gerne  und  ohne  Widerwillen  Braten,  Schinken,  Wurst.  Aber  es  wäre  ihm 
angeblich  unmöglich  gewesen,  einen  Fleischerladen  zu  betreten,  ohne  ohnmächtig 
zu  werden.  Sein  Vater,  der  diese  Aversion  seines  Sohnes  für  Unsinn  hielt,  befahl 
ihm  einmal,  ihn  zum  Schlächter  zu  begleiten.  Der  Junge  gehorchte,  mußte  aber 
sofort  wieder  ins  Freie  gebracht  werden,  da  er  erblaßte,  Schweiß  auf  seine  Stirne 
trat  und  er  umzusinken  drohte. 

Ein  psychisch  minderwertiger,  sowohl  in  direkter  als  auch  kollateraler  Hinsicht 
hereditär  stark  belasteter  Junge  von  13  Jahren  hatte  eine  pathologisch  betonte 
Abneigung  gegen  die  gelbe  Farbe.  Sogar  an  einem  gelben  Papierkorb  nahm  er 
gelegentlich  Anstoß.  Der  Junge  wurde  durch  Maßnahmen  der  allgemeinen  Er- 
ziehung von  seiner  Nervosität  geheilt  und  von  vielen  seiner  unzähligen  Absonder- 
lichkeiten befreit.  Es  gelang  mir,  dabei  auch  seinen  krankhaften  Widerwillen 
gegen  Gelb  zu  beseitigen,  indem  ich  ihm,  der  für  Poesie  sehr  empfänglich  war, 
eines  Tages  scheinbar  ganz  ohne  Absicht  bei  der  Lektüre  Homers,  als  von  der  Eos 
mit  safranfarbenem  Gewand  die  Rede  war,  erzählte,  daß  im  Altertum  Gelb  weit 
und  breit  eine  gottgeweihte  Farbe  war.  Ich  sprach  möglichst  pathetisch  von  dem 
Safranpeplos  der  Athene,  von  dem  gelbglänzenden  Bernstein,  der  den  Alten  ge- 
radezu als  ein  Produkt  der  Sonne  galt  —  Helios  weinte  Bernsteintränen  —  und 
zitierte  endlich  Goethe,  seinen  Lieblingsdichter,  der  Gelb  die  Farbe  ,,der  Ehre 
und  Wonne"  nennt.  Von  da  an  war  sein  Widerwille,  der  wohl  nur  eine  aus 
Ästhetendünkel  entstandene  Autosuggestion  war,  verschwunden. 

Bei  einem  anderen  meiner  Schüler,  der  ebenfalls  aus  einer  sehr  nervösen 
Familie  stammte,  konnte  ich  eine  eigentümliche  Unfähigkeit,  Watte  anzufassen 
konstatieren.  Besonders  das  Auseinanderziehen  von  trockener  Watte  bereitete 
ihm  die  größte  Pein.  Er  behauptete,  die  Watte  „knirsche"  so  unerträglich. 
Besonders  grauenhaft  war  ihm  angeblich  der  Gedanke,  daß  er  trockene  Watte 
sich  in  die  Nase  oder  in  die  Ohren  stecken  müsse. 


über  psychische  Idiosynkrasien  bei  Schülern  usw.  487 

Gegenüber  den  unzähligen  Fällen  von  negativen  Idiosynkrasien,  bei  denen 
es  sich  also  um  die  Ablehnung  eines  unangenehm  empfundenen  Reizes  handelt, 
sind  nach  meiner  Erfahrung  Beispiele  für  positive  Idiosynkrasien  verhältnismäßig 
selten.  Doch  kann  ich  auch  hierfür  einige  Beispiele  aus  meiner  pädagogischen 
Praxis  anführen. 

Derselbe  Junge,  von  dem  ich  berichtete,  daß  er  den  Geruch  des  Fleischer- 
ladens nicht  erträgt,  kann  sich  nichts  Schöneres  vorstellen  als  Butter  zu  berühren. 
Ja,  es  wäre  für  ihn  ein  ganz  außergewöhnliches  Vergnügen,  ein  großes  Stück 
Butter  nach  Herzenslust  mit  den  Händen  kneten  und  drücken  zu  dürfen.  Ein 
anderer —  ISjähriger  —  Junge  hält  das  Berühren  von  Pelzen,  besonders  von  weißem 
Kaninchenfell  sowie  das  Anfassen  von  Seide  für  einen  der  höchsten  Genüsse. 

Was  nun  die  Frage  der  heilpädagogischen  Behandlung  psychischer 
Idiosynkrasien  angeht,  so  muß  man  sich  m.  E.  hüten,  jede  ungewöhnlich  starke 
Aversion  von  Kindern  gleich  als  krankhaft  gelten  zu  lassen.  Auch  hier  kommt  es 
in  der  Hauptsache  darauf  an,  ein  Kind  schon  in  der  Wiege,  wenn  ich  so  sagen 
darf,  an  Gehorsam,  Ordnung  und  Selbstbeherrschung  zu  gewöhnen.  Sobald 
jedoch  das  Pathologische  des  kindlichen  Widerwillens  durch  einen  Nervenarzt 
oder  Kinderarzt  festgestellt  ist,  dann  darf  man  nicht  etwa  mit  körperlichen 
Strafen  oder  Moralpredigten  dem  Übel  beikommen  wollen,  sondern  man  wird 
möglichst  abzulenken,  zu  verhindern  suchen,  vor  allem  aber  alles  tun,  um  den 
kleinen  Idiosynkratiker  durch  Sport  und  Spiel,  viel  frische  Luft,  kräftige  Kost, 
heitere  Lebensbedingungen  zu  stärken  und  zu  heben.  Von  größter  Bedeutung 
ist  es  namentlich,  ihn  zur  Selbstbeherrschung  zu  erziehen.  Wenn  dann  die  ge- 
eignete Persönlichkeit,  d.  h.  ein  mit  der  nötigen  Suggestivkraft  begabter  Erzieher 
in  scheinbar  unbefangener  Weise  seinen  Einfluß  psychotherapeutisch  geltend 
macht,  dann  gelingt  es  meistens  mit  einiger  Geduld,  das  Kind  von  seinem  psy- 
chischen Widerwillen  zu  heilen.  , 

Über  die  Idiosynkrasien  als  psychische  Phänomene  haben  meines  Wissens 
wenige  Philosophen  spekuliert.  Eine  geistreiche  psychologische  Erörterung, 
,,Idio8ynkra8eologie",  findet  sich  in  einem  älteren  Buche,  nämlich  in  der  ,, Philo- 
sophie des  Geistes"  von  dem  Philosophen  und  Literarhistoriker  Joseph  Hille- 
brand.^)  Dieser  Forscher  sieht  in  den  Idiosynkrasien  rein  subjektiv-individuelle 
und  damit  gleichsam  ausnahmsweise  Tätigkeitsäußerungen.  Die  Bedeutung 
der  Idiosynkrasie  ist  nach  Hillebrand  diese,  daß  sie  das  rein-individuelle  eigen- 
tümliche Sensitiwerhältnis  der  Seele  ausdrückt.  Im  Leben  besonderer  Tier- 
gattungen allerdings  verliert  die  psychische  Idiosynkrasie  das  ihr  eigene  Merkmal. 
Die  sinnlich-individuelle  Isolierung  der  sensitiven  Seelentätigkeit  ist  das  eigentlich 
Idiosynkratische.  Sein  Prinzip  ist  die  besonders  „konstitutive"  (die  objektive 
Wesenheit  bestimmende)  Natürlichkeit  eines  Individuums.  Es  offenbart  sich 
also  in  den  Idiosynkrasien  nur  individuelle  Naturbestimmtheit  in  einer  besonderen 
Tätigkeitsrichtung.  Der  nähere  Grund  idosynkratischer  Erscheinungen  liegt  in 
einer  gesteigerten  Reizbarkeit  der  Nerven.  Sie  erhöht  das  G«meingefühl  und 
modifiziert  dadurch  nicht  nur  die  Sinnesempfindimgen,  sondern  steigert  sie  auch. 
Die  idiosynkratischen  Erscheinungen  zerfallen  in  intuitive  und  instinktive, 


>)  ,, Philosophie  des  Geistes  oder  Encyklopädie  der  gesamten  Oeistoslehre".   Heidel- 
berg  1835. 


488  ^"'^  Psychologie  der  Schrift  des  Kindes. 

je  nachdem  sie  durcli  (äußere  und  innere)  Anschauungen  oder  durcli  Triebe  be- 
stimmt sind.  Zu  den  intuitiven  Idiosynkrasien  rechnet  Hillebrand  auch  das 
Empfinden  verborgener  Metalle  und  Quellen,  das  Wittern  der  Gegenwart  ge- 
wisser Tiere,  das  Vorempfinden  künftiger  Ereignisse  in  der  Natur  wie  im  mensch- 
lichen Leben,  das  Schauen  entfernter  Dinge  und  Menschen,  ,, Ahndungen"  usw. 
Zu  den  instinktiven  Idiosynkrasien  gehören  nach  Hillebrand  die  rein  indivi- 
duellen Sympathien  und  Antipathien  in  bezug  auf  Menschen,  Tiere,  Nahrung  usw., 
ferner  ungewöhnliche  geistige  Neigungen,  wie  z.  B.  der  unwiderstehliche  Drang 
nach  besonderen  Wissenszweigen,  endlich  auch  moralische  Eigentümlichkeiten, 
wie  z.  B.  die  Lust  an  Mord  und  Grausamkeit. 

Man  sieht,  wie  weit  Hillebrand  den  Begriff  Idiosynkrasie  faßt.  Nach  ihm  wären 
also  Lustmord  und  sadistische  Perversität  psychische  Idiosynkrasien,  d.  h.  eigen- 
tümliche Reaktionsweisen  auf  Reize,  die  normal  entgegengesetzt  wirken.  In 
diesem  Sinne  könnte  natürlich  fast  jede  psychische  Absonderlichkeit  als  Idiosyn- 
krasie angesprochen  werden,  insbesondere,  wenn  man  wie  Hillebrand  den  Begriff 
auch  in  positivem  Sinne  gelten  läßt.  Moderne  Forscher  tun  das  bekanntlich  nicht ; 
sie  gebrauchen  den  Idiosynkrasiebegriff  meist  nur  in  negativem  Sinne,  i) 

Die  Erklärung  der  idiosynkratischen  Erscheinungen  findet  Hillebrand  gegeben 
in  einer  dispositiven  (angeborenen,  angeerbten)  oder  erworbenen,, eigentümlichen 
Steigerung  der  Reizbarkeit  des  Organismus  über  das  regelmäßige  Allgemein- 
verhältnis desselben  zur  geistigen  Subjektivität". 

In  der  Hauptsache  erklärt  Hillebrand  die  Idiosynkrasie  aus  einer  inneren 
Potenzierung  des  organischen  Lebens. 


Zur  Psychologie  der  Schrift  des  Kindes. 

Von  F r'i t z  K u|h'l mann. 

Gleich  von  vornherein  soll  es  [gesagt  werden:  Wir  haben  noch  keine 
Psychologie  der  Kinderschrift!  Die  Ursache  dazu  liegt  in  der  Tatsache, 
daß  wir  überhaupt  keine  eigentliche  Kinderschrift  |haben,  nichts  von  der 
wahren  Schrift  des  Kindes  wissen,  sie  nicht  kennen.  Jeder  wird  mich 
auf  die  vor  aller  Welt  daliegende  Tatsache  hinweisen,  daß  heute,  wie  schon 
seit  vielen  Jahrzehnten,  alle  Kinder  schreiben  lernen,  gesunde  wie  kranke, 
lahme  wie  blinde,  und  wird  es  mit  Kopfschütteln  entgegennehmen,  wenn 
ich  gleichwohl  behaupte:  Wir  haben  trotzdem  keine  Kinderschrift!  Man 
wird  ganz  unbedingt  glauben  und  mir  sagen:  Was  unsere  Kinder  schreiben, 
das  ist  doch  Kinderschrift,  was  sollte  es  denn  anders  sein? 

Demgegenüber  behaupte  ich:  Die  Schriften  unserer  Kinder  sind  keine 
Kinderschriften;  es  ist  ein  großer  Irrtum,  wenn  man  sie  als  solche  bezeichnet 
und  wertet. 

Da  wird  man  fragen:  Was  sind  denn  diese  Schriften,  wenn  sie  keine 
Kinderschriften  sind? 


*)  Eduard  Hess,  Über  Idiosynkrasien.    Abhandhingen  der  Naturforschenden  Ge- 
sellschaft zu  GörUtz.     26.  Bd.,   1.  Heft  1906. 


Zur  Psychologie  der  Schrift  des  Kindes.  489 

Darauf  zur  Antwort:  Was  man  heute  als  Kinderschriften  ansieht,  ist  eine 
Schrift,  mit  der  das  Kind  innerlich,  psychisch,  nichts  oder  doch  nur  in 
den  größten  Ausnahmefällen  irgend  etwas  gemein  hat.  Es  ist  deshalb  in 
Wahrheit  nicht  des  Kindes  Schrift;  es  ist  die  Schrift  anderer,  die  Schrift 
der  Erwachsenen,  die  Schrift  von  Schreiblehrern,  Kupferstechern  und  Litho- 
graphen; und  was  uns  Kinderschrift  dünkt,  ist  nichts  weiter  und  nichts 
anderes  als  das  ungelenke,  krampfhafte  Quälen  und  Mühen  des  Kindes, 
die  ausgeklügelte  und  gekünstelte  Schrift  der  Erwachsenen  und  Kalligraphen 
imter  dem  Zwange  der  Schule  sich  anzueignen.  Die  Verzerrungen  und 
Verrenkungen,  die  das  Kind  dabei  zutage  fördert,  dünken  der  Welt  heut 
als  das  »Kindliche«  in  der  Schrift. 

Nun,  ist  denn  dieses  Mühen,  dieses  Ungeschick  nicht  kindlich? 

Ohne  Zweifel!  Das  macht  aber  diese  Schrift  noch  nicht  zu  einer  wahren 
und  natürlichen  »Kinderschrift«,  ebensowenig  wie  das  krampfhafte  Mühen 
des  Kindes,  die  vollendete  und  erkünstelte  Sprache  der  Erwachsenen  nach- 
zuahmen, die  dadurch  entstehende  Sprache  zur  »Kindersprache«  macht. 
Die  Sprache  wird  vielmehr  zu  ihrem  Gegenteil,  zu  einer  Sprache,  die  un- 
kindlich und  unnatürlich  ist,  weil  sie  dem  Wesen  und  Charakter  des  Kindes 
widerspricht.  Wie  denn  ja  auch  die  mühsam  nachgequälte  Zeichnung  eines 
Erwachsenen  seitens  des  Kindes  keine  Kinderzeichnung  im  rechten  Sinne  ist. 

Schrift  ist  Ausdruck,  wie  es  Sprache  und  Zeichnung  sind. 

Schrift  ist  zugleich  fixierte  Bewegung. 

Das  führt  zu  einem  andern  Vergleich:  So  wenig  es  eine  Kinderbewegung 
ist,  wenn  das  Kind  den  Gang  oder  die  Geste  des  Erwachsenen  nachahmt, 
80  wenig  ist  die  Nachahmung  der  durch  die  Bewegung  Erwachsener  ge- 
formten Schulschrift  durch  das  Kind  eine  Kinderschrift  im  rechten  Sinne. 
Wie  als  Kindersprache  nur  die  natürliche,  vom  Kinde  selbst  unmittelbar 
geformte  Sprache  angesehen  werden  kann,  so  als  Kinderschrift  nur  die  Schrift, 
die  nicht  den  Stempel  der  Nachahmung  der  künstlichen  Schrift  der  Schreib- 
meister und  Kupferstecher  trägt,  dagegen  den  Charakter  des  unmittelbaren 
Ausdrucks  kindlichen  Empfindens  und  kindlicher  Bewegung  zeigt. 

Die  Kindersprache  kämpft  heute  noch  mit  nur  geringem  Erfolg  um 
Bürgerrecht,  Anerkennung  und  Pflege  in  der  Schule.  Noch  schwereren 
Stand  wird  die  Kinderschrift  haben,  weil  wir  sie  noch  gar  nicht  kennen, 
sie  erst  entdecken,  suchen  und  entwickeln  müssen.  Die  Arbeit  ist  umso 
schwerer,  weil  weder  die  Augen  der  Lehrer,  noch  der  Eltern,  noch  weniger 
die  der  Schulleiter  und  Behörden  für  die  Kinderschrift,  für  die  Erkenntnis 
ihrer  Merkmale  und  Einschätzung  ihrer  psychischen  Momente  entwickelt 
sind.  Wie  wir  Lehrer  erst  lernen  mußten  und  es  mit  der  letzten  Reform 
des  Zeichenunterrichts  erst  gelernt  haben,  Kinderzeichnungen  zu  beurteilen 
und  mit  dem  rechten  Verständnis  zu  genießen,  so  werden  wir  auch  erst 
lernen  müssen,  wirkliche  Kinderschriften  recht  zu  sehen  und  zu  beurteilen. 
Und  wie  wir  als  Erstes  lernen  mußten,  das  Kind  zum  unmittelbaren,  unge- 
zwungenen zeichnerischen  Ausdruck  zu  führen  und  anzuregen,  so  werden  wir 
jetzt  ein  Gleiches  in  bezug  auf  den  Ausdruck  durch  Schrift  zu  lernen  haben. 
Wir  können  auf  diesem  Gebiete  heute  noch  nichts  und  wissen  deshalb  auch 
noch  nichts  von  der  rechten  Kinderschrift. 


490  Zur  Psychologie  der  Schriffc  des  Kindes. 


Wir  wissen  nur,  wie  das  Kind  schreibt,  wenn  es  sich  abmüht,  die  vom 
Lehrer  ihm  vorgeschriebenen  Buchstaben  des  von  der  Behörde  vorge- 
schriebenen Schulduktus  nachzumalen.  Wir  wissen  aber  nicht  und  haben 
es  noch  nie  untersucht,  wie  das  Kind  die  Buchstaben  der  Richtung  nach 
steiler  oder  schräger  stellen,  wie  es  die  Form  umgestalten,  welche  Größe 
es  wählen,  wie  es  den  Druck  verteilen  würde,  wenn  man  es  ihm  gestattet, 
sein  eigenes  Ich,  seinen  Charakter  in  der  Schrift  auszudrücken,  seine  eigenen 
Kräfte  zu  betätigen.  So  viel  freilich  wissen  wir  —  und  das  zwingt  uns  zu 
den  bis  jetzt  versäumten  psychologischen  und  physiologischen  Untersuchun- 
gen —  daß  es  vielen  Kindern  nach  ihren  psychischen  wie  nach  ihren 
physischen  Verhältnissen  ganz  unmöglich  ist,  nach  den  heute  strikte  ohne 
Ansehen  des  Individuums  durchgeführten  Schul- Vorschriften  zu  schreiben, 
wie  wir  weiter  wissen,  daß  die  Lage,  Form,  Größe  der  Schrift,  gewisse 
Ecken,  Bogen,  Haken  usw.  zumeist  nicht  sowohl  durch  äußeren 
Zwang  und  Gewohnheit,  als  vielmehr  durch  Charaktereigenschaften,  also 
inneren  Zwang  erzeugt  werden  und  bedingt  sind.  Wir  fühlen  uns  genötigt, 
daraus  zu  schließen,  daß  es  eine  seelische  Tortur  für  ein  charaktervolles, 
nach  Ausdruck  verlangendes  Kind  sein  muß,  wenn  man  es  dauernd  zwingt, 
fremde,  seinem  Wesen  widersprechende,  nach  einem  beliebigen  Schema  ge- 
formte Schrift  sich  anzueignen  und  zu  gebrauchen. 

Angesichts  der  eingangs  erhobenen  Behauptung,  daß  wir  noch  keine 
Psychologie  der  Schrift  des  Kindes  haben,  wird  man  darauf  hinweisen,  daß 
es  bereits  grundlegende  und  anerkannte  Werke  über  die  Psychologie  des 
Schreibens  gibt.  Das  ist  mir  wohlbekannt,  und  die  besten  dieser  Werke, 
»Die  Psychologie  des  Schreibens«  von  Preyer  und  »Handschrift  und  Cha- 
rakter« von  Schneidemühl  liegen  vor  mir.  Aber  gerade  diese  Forscher 
geben  mir  recht,  ja  veranlassen  mich  im  Grunde  zu  meinen  Behauptungen 
und  Betrachtungen;  denn  Preyers  Untersuchungen  setzen  erst  bei  der  Schrift 
der  Erwachsenen  ein,  und  er  gibt  als  Grund  dafür  an,  die  Schrift  der 
Kinder  sei  unnatürlich  und  verstellt,  weil  nachgeahmt,  und  lasse  Schlüsse 
auf  Seele  und  Charakter  deshalb  nicht  zu.  Als  für  uns  bedeutungsvoll  er- 
wähnt dieser  Gelehrte  die  Tatsache,  daß  Erwachsene,  sofern  ihnen  daran 
liegt,  ihr  wahres  Wesen  möglichst  zu  verschleiern,  ihre  individuelle  Hand- 
schrift möglichst  aufgeben  und  sich  der  in  der  Schule  erlernten  Schrift 
bedienen.  Von  nicht  geringerer  Bedeutung  und  wenig  günstig  für  die  Schul- 
schrift ist  die  Beobachtung,  daß  nur  unselbständige  Charaktere  an  ihr 
dauernd  festhalten.  Wie  dem  aber  auch  sein  möge,  als  Kinderschrift  im 
wahren  Sinne  des  Wortes  kann  also  die  Schulschrift  der  Kinder  auch  auf 
Grund  der  Untersuchungen  dieses  Gelehrten  niemals  angesprochen  werden. 

Der  zweite  der  genannten  Forscher,  Schneidemühl,  widerspricht  zwar 
Preyer,  indem  er  sich  auf  .das  Urteil  eines  Dritten,  Ufer,  bezieht  und 
behauptet,  es  ließen  sich  aus  den  Schriften  der  Kinder  doch  Schlüsse  auf 
ihre  Psyche  ziehen.  Aber  dieser  Widerspruch  bestätigt  in  seiner  Begründung 
durchaus  das  von  mir  eingangs  Behauptete.  Denn  diese  beiden  Forscher 
begründen  diesen  Standpunkt  mit  der  Erfahrung,  daß  es  trotz  allen  Schul- 
drills und  der  äußersten  Strenge  nicht  bei  allen  Kindern  gelinge,  die  Indivi- 
dualität in  der  Schrift  zu  unterdrücken     Sie  stellen  fest,  und  das  bestätigt 


Zur  Psychologie  der  Schrift  des  Kindes.  491 

- 

meinen  Standpunkt,  daß  trotz  allen  Zwanges  des  Schreiblehrers  schon  früh- 
zeitig, oft  schon  im  Alter  von  10 — 12  Jahren,  die  Individualität  in  der 
Schrift  sich  zeige  und  daß  es  niemals  gelinge,  auch  nur  eine  geringe  An- 
zahl der  Kinder,  nicht  einmal  Geschwister,  zu  gleicher  Schrift  zu  bringen. 
Damit  ist  zugleich  der  Einwendung  der  Freunde  des  Schulduktus,  daß 
Kinder  weder  Neigung  noch  Begabung  zu  individueller[Schrift  hätten,  treffend 
begegnet.  Indem  diese  Forscher  die  erwähnten  Tatsachen  feststellen,  be- 
kunden sie  1)  daß  beim  Kind«  die  Schrift,  sofern  sie  sich  natürlich  und 
ohne  Hemmung  entwickelt,  ebenso  wie  beim  Erwachsenen,  individuell  ist 
und  im  Gegensatz  zur  Normal-Schulschrift  steht,  2)  daß  auch  da,  wo  wirk- 
lich die  seelische  Kraft  des  Kindes  den  Schulzwang  sprengt,  nimmermehr 
von  einer  natürlichen,  wahren  Kinderschrift  die  Rede  sein  kann,  weil  ihre  Ent- 
wicklung ja  gehemmt,  der  unmittelbare  Ausdruck  gestört  und  gefälscht  wurde. 

So  ist  denn  auch  nach  dem  Urteil  dieser  Forscher  die  Schrift  unserer 
Schulkinder  keine  Kinderschrift  im  wahren  Sinne,  und  es  war  somit  niemals 
eine  Grundlage    gegeben,    eine   Psychologie    der  Kinderschrift    zu    schaffen. 

Schrift  ist,  wie  schon  gesagt  wurde,  fixierte  Bewegung,  und  nachgewiesen 
ist  es  längst,  daß  die  Schreibbewegung  vom  Gehirn  aus  geleitet  wird,  nicht 
die  ausschließliche  Angelegenheit  äußerer  Organe,  nicht  Resultat  der  Ge- 
wöhnung und  des  Drills  ist,  daß  sie  mit  der  Sprache  zusammenhängt  und  vom 
Charakter  beeinflußt  wird.  Da  nun  aber  kindliche  Bewegungen  in  Wesen 
und  Art  ganz  anders  sind,  als  die  von  Erwachsenen,  so  kann  und  darf 
das  Kind  nicht  gezwungen  werden,  durch  die  Bewegung  seiner  Hände 
Buchstaben  zu  bilden  in  der  gekünstelten  und  vollendeten  Form,  die  Litho- 
graphen und  Kupferstecher  (denn  von  ihnen  stammt  die  heutige  Normal- 
schrift) ihr  gegeben  haben.  Wie  es  keine  Normal-Gehbewegung  für  Kinder 
geben  kann,  so  wenig  darf  es  eine  in  allen  Teilen  ausgebildete  Normal- 
schrift für  sie  geben.  Nur  ein  Normalgerüst  der  Buchstaben  darf  festgesetzt 
werden,  das  nach  Richtung,  Form,  Größe  vom  Kinde,  seinem  Charakter 
und  Wesen  gemäß  zur  Entwicklung  gelangt,  unter  Beobachtung  der  Forde- 
rungen des  guten  Geschmacks,  wenn  anders  auch  im  Schreibunterricht  die 
Grundforderung  aller  Erziehung :  Natürlichkeit  und  Wahrheit,  Erfüllung  finden 
soll.  Der  Zwang  des  Kindes  im  Schreibunterricht  zu  den  bekannten  Formen  des 
Schulduktus,  wirkt  auf  das  Kind  genau  so  hemmend  und  quälend,  als  regu- 
lierte man  sein  Laufen  und  Gehen  im  Turnunterricht  durchHand-[und  Fußfesseln. 

Es  wäre  verlockend,  weiter  zu  untersuchen,  wie  nun  die  Schule  den 
Schreibunterricht  einzurichten  hat,  daß  sich  die  Kräfte  des  Kindes  darin 
wirklich  entwickeln  und  seine  Individualität  in  der  Schrift  zum  Ausdruck 
kommt.  Doch  bedarf  das  so  weitgehender  Einzelausführungen,  daß  hier  davon 
abgesehen  werden  muß. 

Es  sei  genug,  festgestellt  zu  haben,  daß  es  angesichts  des  Zwanges  des 
Kindes  zu  einer  unpersönlichen  Normalschrift,  eine  Kinderschrift  bis  heute 
nicht  gibt,  daß  der  herrschende  Schreibunterricht  eine  unzeitgemäße,  höheren 
erziehlichen  Forderungen  ins  Gesicht  schlagende  Fesselung  des  Kindes  be- 
deutet, angesichts  der  eine  Reform  desselben  unbedingt  notwendig  erscheint. 
Es  bietet  sich  hier  pädagogisches  Neuland,  ein  weites,  dankbares  Feld  der 
Arbeit,  sowohl  für  wissenschaftliche  Forscher  wie  für  praktische  Pädagogen. 


492  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


Untersuchungen  über  die  Rechtsehreibung  von  Volksschülern. 

Von  H.  Tittmann. 

I.  Laut  und  Lautzeichen. 

Aus  Versuchen  und  einer  umfangreiclien  Felilerstatistik,  die  ich  in  einer  großen 
Leipziger  Volksschule  aus  sämtlichen  Aufsätzen  und  Diktaten  eines  ganzen 
Jahres  zusammengestellt  habe,  gewann  ich  die  Überzeugung,  daß  ein  großer  Teil 
der  orthographischen  Fehler  lediglich  auf  den  Umstand  zurückzuführen  sei, 
daß  den  Schülern  bis  in  die  erste  Klasse  hinauf  mehT  oder  weniger  die  Fähigkeit 
mangelt,  für  den  gehörten  oder  gesprochenen  Laut  das  entsprechende  Lautzeichen 
zu  setzen.  Zum  Beweise  hierfür  seien  ein  paar  beliebig  herausgegriffene  Bei- 
spiele für  einige  Vokale  und  Konsonanten  angeführt. 

1.    Fehlerhafte  Bezeichnung  der  Vokale,  einschließlich  Umlaute 

und  Diphthonge. 

0.  Die  Rase,  die  Kahlen,  die  Kartaffel,  das  Brat,  der  Schlasser,  die  Sada,  der 
Hanig,  am  Margen,  die  Margenliift,  ein  schöner  Samertag,  die  liebe  Sänne,  die  Mäbel, 
der  Känig,  die  Vägel,  der  Asterhase,  das  Äl,  schan,  var,  dart,  kämmt,  begamt  (be- 
kommt), du  härst,  die  Mutter  kacht,  gewarden. 

ä.  Der  Ber,  die  Leden,  der  Maigefer,  das  Medchen,  das  Schefchen,  der  Sebel,  das 
Redsei,  Retsei  und  Retzel  (Rätsel). 

Das  Görtchen,  der  Lörm,  der  Örmel,  die  Öpfel,  die  Bönke,  die  Tumgeröte,  anföngt, 
beschöftigen,  geschöftig,  rückwörts,  vorwörts. 

i.  Die  Kürschen,  der  Füsch,  der  Kürchturm,  der  Würt,  bewürten,  die  Wündmühle, 
die  Bürke,  das  Geschürr,  das  Gebürge,  der  Silberblück,  der  Wüpfel,  die  Bümen, 
der  Quürl,  die  Flüge,  der  Schürm,  die  roten  Fümen,  das  Fürmament,  der  Südepunkt, 
der  Lügestütz,  mit  früschen  Wangen,  fünster,  schümpfen,  würbelt,  wuscht,  würst. 

ei.  Arbiet,  Miester,  Kliester,  Lieter,  Zwieg,  Röslien,  Würmlien,  rief,  wiech,  klien, 
zwie,  ienst,  riech,  wiel,  wieter  usw.  Auch  wurde  umgekehrt  das  ie  als  ei  geschrieben: 
die  Scheinen,  die  Weisen,  die  Leibe,  die  Schmeide,  das  Leid,  die  Zeigelei,  dei  (die), 
fleißen,   speilen,   neidlich,   veile,  leiblich  usw. 

au.  Der  Räch,  der  Schlach,  die  Schäkel,  das  Lastato,  die  Satzassage,  das  Has, 
in  der  Schule  wund  (wohnt)  der  Hasmann,  habtsächlich,  brachen  (brauchen). 

eu,  äu.  Das  KJröz,  die  Mose  (Mäuse),  der  Löchter  (Leuchter),  der  Löchtkäfer, 
die  Belöchtung,  lochten,  es  lochtet,  die  Höserreihe,  das  Kehöse  (Gehäuse),  das  Höschen 
(Häuschen),  das  Seitengeböde,  das  Föer,  die  Sole  (Säule),  die  Stöern  (Steuern),  sie 
ißt  gern  Windbödel,  die  Ferköferin  und  Ferküferin,  drömt  (träxxmt),  ströhen  (streuen) 
—  Tind  umgekehrt:  es  herrschte  die  größte  Freulichkeit,  das  freuliche  Ernten,  strävimt 
(strömt),  in  den  wäurmeren  Ländern. 

Anmerkung:  Im  letzten  Beispiele  hat  der  Schüler  statt  wärmeren  wörmeren  ar- 
tikuliert; infolge  des  Einflusses  des  bilabialen  w  ist  ä  zu  ö  gerundet,  dann  aber 
wegen  des  ähnlichen  Klanges  als  äu  geschrieben  worden. 

Wie  große  Schwierigkeiten  die  Darstellung  des  Lautes  eu  bereitet,  möge  man 
aus  der  mannigfaltigen  Schreibung  des  Wortes  Feuer  ersehen.  Zum  Verständnis 
der  dabei  entstandenen  Fehler  sei  daran  erinnert,  daß  die  Buchstabenverbindung  eu(äu) 
dem  in  Frage  kommenden  Laute  nicht  entspricht,  denn  er  ist  phonetisch  oi  oder  oe. 
Durch  das  voraufgehende  f  wird  dieser  Zwielaut  oi  zu  ui  verdunkelt.  Obgleich  die 
Schüler  über  den  phonetischen  Wert  des  eu  nicht  unterrichtet  waren,  schrieben  sie 
doch  oi  bzw.  ui.  Außerdem  machte  sich  in  den  Fehlem  der  ähnliche  Klang  des  eu 
mit  dem  ö  wieder  geltend,  sowie  auch  die  Bezeichnimig  äu.  Von  weiteren  Faktoren, 
die  die  korrekte  Darstellung  des  eu  bzw.  des  ganzen  Wortes  Feuer  beeinträchtigten, 
sind  zu  erkennen:  Verdrehungen,  mangelndes  Lautbewußtsein  und  infolgedessen 
Unfähigkeit,  das  Wort  lautlich  zu  analysieren,  fehlendes  Scliriftbild. 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  493 

^:: 

Also:  Für  Feuer  wxirde  in  den  siebenten  Klassen  (2.  Schuljahr)  geschrieben:  Feur, 
Veuer,  Feui,  Veuher,  Fäuer,  Väner,  feuer,  Feuer,  Fetiier,  feur,  feüer,  Feure,  Fäeur, 
Feußer,  Fäer,  Feuo,  Füeer,  Feuher,  fäuer,  fäer,  Fenner,  fäüer,  faur,  Faür, 
Fäuher,  Pf  euer,  fähr,  Fäier  — feir,  fieer,  Veier,  feier,  Feier,  Feihr,  Fier,  Fie  —  Foir, 
Voier,  fom.  Vor,  f oen,  foler,  föne,  foher,  Foer,  for,  fo,  —  Fuir,  Pfuaer,  fuier,  Huiär, 
Füer,  Für,  Vüer,  für,  Füeer,  Fier,  füer  —  Föher,  Föier,  Föuer,  För,  Vöer,  Föer,  Föhr, 
för,  ör,  Pföer  —  fre,  Pf,  fr,  sar,  er,  ä,  r,  her. 

2.  Fehlerhafte  Bezeichnung  einiger  Konsonanten  und  Konsonanten- 
verbindungen. 

ch  (a,ch-Laut) :  Der  Ztir  (Zug),  der  Drare  (Drache),  der  Kuren  (Kuchen),  der  Gnoren 
(Knochen),  der  Narbar,  das  Sprarrohr,  mit  Hochartung,  der  Karrelofen,  mare  (mache), 
er  mart  imd  gemärt  (macht  und  gemacht),  nor  nicht  (noch),  dor  (doch),  nar  (nach), 
darte  (dachte),  einfaren  (einfachen),  hör  (hoch),  zerbrar  (zerbrach). 

r.  Der  Moch  (Mohr),  die  Moche  (Möhre),  die  Fuche  (Fuhre),  Rotbacht,  die  Wage 
(Ware),  das  Papiech  (Papier),  der  Köchber  (Körper),  der  Gechuch  (Geruch),  die 
Phachisäer,  klache  (klare),  lerchnen  (lernen),  chuft  (ruft),  fachen  (fahren),  höchen 
(hören),  angefrochen  (angefroren),  verlochen  (verloren),  wachen  (waren). 

ch  (ich-Laut).  Das  Lischt  (Licht),  die  Kusche,  der  Teisch,  die  Milsch,  der  Schunge 
(Junge),  das  Bäschlein,  die  Flasche,  das  Gedischt,  das  Bäumschen,  das  Lämmschen, 
leischt,  dursch,  rescht,  frosch,  weisch,  zeischte,  rieschen,  scha  (ja),  scheden  (jeden).  — 
Die  Beleustung  (Beleuchtung),  leist  (leicht),  fürsterlich  (fürchterlich),  tüstig  (tüchtig), 
erreisten  (erreichten). 

seh.  Der  Fich,  das  Gechenk,  der  Tich,  das  Fleich,  der  Fleicher,  die  Muchel,  die 
Tache,  reife  Elirchen,  der  Kirchbaum,  Schlittchuhe,  die  Wachfrau,  die  Wichtüscher.  — 
Das  Gesenk,  der  Snee,  der  Slauch,  der  Smetterling,  der  Sonnensein,  der  Simmer, 
der  Srank,  das  Swein,  das  Saufenster,  der  Snürsenkel,  die  Sule,  das  Sulzimmer, 
snell,  sön,  süttet,  sickte. 

ng.  Der  Finer,  Dinwörter,  Bäckerjune,  Vorhäne,  Sprinschnur,  im  Gefänisse, 
Zöglin,  Hunersnot,  jvmes,  jünste,  änstlich,  hunrig,  hinen,  ginen,  gerinste,  lansam, 
vergänlich,  die  abhänige  Rede. 

f.  Der  Storch  pfängt  Pfrösche,  die  Suppfe,  die  Pf  lache,  der  Umpfang,  die  Zunpft, 
der  Kopf  er  (Koffer),  das  pfaule  Blind,  pfüttert,  pf  liegen,  gepf  lochten,  unbepf  leckt, 
träupfelte,  die  Krapft. 

qa.  Kwirl,  Qwirl,  Qwelle,  Gwelle,  Qwark,  Qark,  Gwecksilber,  Axuator,  beywem*) 
(bequem). 

8.  Die  Zense  (Sense)  und  Senze,  die  Sehnzucht,  der  Greiz  (Greis),  zetzen,  entzetzlich, 
die  Zenzuren,  unz,  unzer,  floizig,  zerreizt  (zerreißt). 

z,  tz.  Die  Sunge,  das  Hers,  die  Pflansen,  die  Seilen,  die  Erßähltmg,  der  Weißen 
(Weizen),  susammen  und  suzanunen,  der  einselne,  su  (zu),  seigte,  glänst,  nun  tziehon 
wir  intz  Freie,  tzeigen,  tzelen  (zählen),  die  Tsiege  (Ziege)  und  Siege  und  ßige,  die 
Dampfsprise,  Katse,  Kadse,  Kaße  und  Gasse  (Katze). 

bl,  br.  Die  Bume,  das  But,  die  Buten,  das  Batt,  Zifferbatt,  die  Bätter,  der  Bick, 
der  Beistift,  der  Bitz. 

Der  Bief,  Biefträger,  das  Bötchen,  der  Buder,  der  Bunnen,  die  Bautstühle,  der 
Schiffbuch,  beit,  baun,  bennt,  verbacht. 

Ich  glaube,  schon  diese  Auswahl  aus  dem  umfangreichen  Fehlermaterial, 
das  mir  zur  Verfügung  steht,  wird  genügen,  um  erkennen  zu  lassen,  daß  die 
Falschschreibung  der  hier  verzeichneten  Wörter  darin  besteht,  daß  die  Laute 
bzw.  Lautverbindungen  nicht  durch  die  entsprechenden  Zeichen  (Buchstaben) 
wiedergegeben  sind.  Welche  Ursachen  physiologischer  und  psychologischer 
Art  hierbei  wirksam  sind,  mag  vorläufig  unerörtert  bleiben.    Ich  werde  später 


^)  Man  stelle  sich  alle  die  fehlerhaft  geschriebenen  Wörter  In  Kurrentachrif t  vor  1 


494 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülem. 


Gelegenheit  nehmen,  darauf  näher  einzugehen.  Wir  bescheiden  uns  für  jetzt, 
zusammenstellend  zu  konstatieren,  daß  in  den  angeführten  Fehlerbeispielen 
eingesetzt  worden  ist: 


für  den 

o 

ä 

i 

ei 

au 

eu 

ch  (ach- 

r 

ch  (ich-    seh 

ng 

f 

qu 

s 

z 

tz 

bl 

br 

Laut 

Laut) 

Laut) 

der 

a 

e 

ü 

ie  u.  um- 

a 

ö(oi, 

r 

ch 

seh  u.  s 

chu.s 

n 

pf 

kw.qw, 

z 

8,  tS, 

8,    ß. 

b 

b 

Buch- 

gekehrt 

ui) 

gW,  XU, 

u.  tz 

ts,ds 

stabe 

yw 

Beim  Nachdenken  über  die  vorgefundenen  Fehler  tauchten  nun  verschiedene 
Fragen  auf,  die  einesteils  rein  wissenschaftliches  Interesse  beanspruchen, 
andernteils  sich  direkt  auf  die  Praxis  des  Kechtschreibunterrichtes  beziehen. 

1.  Sind  die  Lautfehler  dadurch  hervorgerufen,  daß  die  Laute  im  Worte  in 
Verbindung  mit  anderen  auftreten  oder  zeigen  sie  sich  auch,  wenn  sie  isoliert 
dargeboten  und  schriftlich  fixiert  werden  ?  2.  Welcher  Art  sind  in  letzterem  Falle 
die  event.  Fehler,  verglichen  mit  jenen  im  Worte  vorkommenden  ?  3.  Geschieht 
die  Vertauschung  der  Laute  regellos  oder  lassen  sich  hierfür  bestimmte  Normen 
ableiten?  4.  Wie  ist  es  in  den  verschiedenen  Klassenstufen  überhaupt  um  die 
Fähigkeit  der  Schüler,  den  Laut  durch  sein  Schriftzeichen  darzustellen,  bestellt  ? 
5.  Was  muß  geschehen,  um  die  Schreibung  lauttreuer  Wörter  fehlerlos  zu  ge- 
stalten ? 

Zur  Beantwortung  dieser  Fragen  bediente  ich  mich  —  neben  dem  statistischen 
Fehlermaterial  aus  Aufsätzen  und  Diktaten  und  besonders  veranstalteten  Wort- 
diktaten —  des  Lautdiktates.  An  ihm  waren  1319  Kinder  in  37  Klassen  des 
2.  bis  8.  Schuljahres  beteiligt.  Das  Diktat  bestand  aus  folgenden  61  bzw.  62  Lau- 
ten und  Lautverbindungen,  wovon  36  in  kleinen  und  25  bzw.  26  in  großen  Buch- 
staben wiederzugeben  waren  (bei  den  7.  und  6.  Klassen  -wurde  das  Qu  weggelassen). 
Im  ganzen  waren  81  371  Buchstaben  zu  schreiben.  Die  diktierten  Laute  waren 
folgende : 

a,  ch  (ich-Laut),  e,  g,  i,  1,  n,  p,  s,  u,  w,  b,  d,  f,  ch  (ach-Laut),  k,  h,  m,  o,  r, 
seh,  t,  ü,  eu,  ö,  ä,  ei,  br,  fl,  bl,  dr,  kl,  st,  schw,  fr,  pf. 

M,  K,  W,  G,  P,  A,  F,  D,  Pf,  Sp,  Seh,  O.  S,  B,  Z,  Br,  H,  E,  I,  T,  U,  J,  L, 
R.  N,   Qu. 

Dazu  kamen  nachträglich  in  4  Klassen  noch  ng  und  nk. 

Zu  dieser  Lautreihe  sei  folgendes  bemerkt:  sie  repräsentiert  alle  Buchstaben 
des  Alphabets  mit  Ausnahme  des  x;  denn  für  f  konnte  auch  v,  für  z:  c,  für  i:  y, 
für  s :  s,  ß  geschrieben  werden.  Von  den  gebräuchlichen  konsonantischen  Laut- 
verbindungen ist  nur  eine  Auswahl  geboten,  damit  das  Diktat  durch  zu  große 
Länge  nicht  ermüdete.  Die  Keihenfolge  der  Laute  ist  im  allgemeinen  zufällig, 
nur  eu  und  ö,  H  und  E,  I  und  T,  R  und  N  stehen  absichtlich  hintereinander, 
und  zwar  eu  und  ö  des  ähnlichen  Klanges,  die  übrigen  genannten  Paare  der 
Ähnlichkeit  der  Schriftzeichen  wegen.  Die  Artikulation  der  Laute  beim  Dik- 
tieren erfolgte  im  allgemeinen  in  Übereinstimmung  mit  der  Phonetik.  Es  wurden 
also  insbesondere  b,  d,  g,  j  mit  Stimme  gebildet  und  zwar  g  als  stimmhafter  Ver- 


Untersuchtingen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  495 

schlußlaut,  nur  bei  s  und  r  wurde  absichtlich  die  phonetische  Sprechweise  un- 
berücksichtigt gelassen,  da  stimmhaftes  s  und  Zungen-r  meinen  Versuchsperso- 
ilen  gänzlich  unbekannt  waren.  Zum  Verständnis  der  verzeichneten  Fehler  muß 
ich  noch  darauf  hinweisen,  daß  k  mit  der  Mundstellung  des  e,  h  mit  der  Mund- 
stellung des  a  artikuliert  wurden.  Die  Vokale  erhielten  die  geschlossene  (lange) 
Aussprache:  a  wie  in  Abend,  e  wie  in  Esel  usw. 

Da  aus  Versuchen  Gutzmanns^)  bekannt  ist,  daß  die  Auffassung  vieler  Laute 
bedeutend  erschwert  ist,  wenn  die  Beobachtung  des  sprechenden  Mundes  und 
die  ,, eklektische  Kombination"  ausgeschaltet  werden,  ließ  ich  in  meinen  Versuchen 
die  diktierten  Laute  von  den  Schülern  unt^r  den  natürlichen  Perzeptionsbe- 
dingungen  aufnehmen.  Ja,  sie  wurden  sogar  noch  besonders  ermahnt,  nicht  nur 
aufmerksam  zuzuhören,  sondern  mir  beim  Diktieren  auch  auf  den  Mund  zu 
sehen. 

Zum  Niederschreiben  erhielt  jeder  Schüler  ein  Quartblatt  mit  der  seiner  Klas- 
senstufe entsprechenden  Liniatur.  Um  das  Abschreiben  zu  verhindern,  ließ  ich 
die  Versuchspersonen  auf  den  zweisitzigen  Subsellien  an  die  Ecken  rücken 
und  zwischen  sich  die  Ranzen  als  Scheidewände  hochstellen.  Zudem  wurde 
das  Absehen  streng  verboten.  Die  Zeit  des  Diktierens  fiel  jedesmal  in  die  zweite 
Unterrichtsstunde  der  betr.  Klasse.  Sämtliche  Diktate  wnirden  von  ein  und  der- 
selben Person,  dem  Verfasser,  gegeben  und  auch  korrigiert. 

Als  bedeutimgsvoll  für  die  Fehlerbeurteilung  will  ich  schon  jetzt  hervorheben, 
daß  fast  alle  Schüler  der  7.  und  6.  Klassen  die  vorgesprochenen  Laute  halblaut 
oder  im  kräftigen  Flüstertone  nachartikulierend  niederschrieben.  Es  machte 
den  Eindruck,  als  ob  der  Laut  für  sie  erst  vorstellbar  und  damit  zur  schriftlichen 
Fixierung  erst  geeignet  würde,  nachdem  er  die  Zunge  passiert  hatte,  mit  anderen 
Worten,  nicht  unmittelbar  die  Klangwahrnehmung,  sondern  der  sie  auslösende 
Sprechakt,  die  Sprachbewegungsempfindung,  induzierte  die  Schreibbewegung. 
Die  schreibende  Hand  empfängt  bei  diesen  Schülern  ihre  Impulse  unmittelbar 
durch  den  Sprechakt,  vermittelt  natürlich  durch  das  Klangbild,  das  ja  bei 
Hörenden  in  unserem  Falle  nicht  umgangen  werden  kann.  Von  den  5.  Klassen 
ab  tritt  das  hörbare  Nachsprechen  der  diktierten  Laute  allmählich  zurück, 
bis  schließlich  in  den  Oberklassen  eine  Bewegung  der  Sprechorgane  äußerlich 
nicht  mehr  zu  beobachten  ist.  Hieraus  den  Schluß  ziehen  zu  wollen,  daß  nun 
an  Stelle  des  Sprechaktes  (bzw.  der  Sprechbewegungsvorstellung)  das  Klangbild 
die  Darstellung  des  Schriftzeichens  bestimme,  ist  nicht  zwingend,  da  immer  noch 
die  Möglichkeit  bestehen  bleibt,  daß  trotz  des  Unterbleibens  des  äußerlich 
wahrnehmbaren  Nachsprechens  die  Sprechmuskeln  der  Artikulation  gemäß 
innerviert  werden  und  entsprechend  dieser  Innervation  geschrieben  wird.  Welche 
von  den  beiden  Schlußfolgerungen  der  Wahrheit  am  nächsten  kommt,  kann 
erst  auf  Grund  der  Art  der  Fehler,  wie  sie  bei  unsern  Lautdiktaten  hervor- 
jT^ treten  ist,  beurteilt  werden. 

Ich  gebe  nun  zunächst  eine  zahlenmäßige  Zusammenstellung  der  Fehlschrei- 
bungen für  die  einzelnen  Versuchsklassen;  ausgelassene  Buchstaben  sind  mit 
eingerechnet  worden. 


')  H.  Gutzmann,    Über  Hören  und  Vorstehen.      Zeitschr.  f.  angew.  Psychologie 
u.  psychol.  Sammelforschung.    I.  Bd.    Leipzig  1908.    S.  483  ff. 


496 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


Übersicht  der  F 

ehlerzable 

in  in 

den  einz€ 

ilnen 

Versuchsk 

assen. 

Knaben. 

Mädchen. 

Klasse 

Zahl 
der 

Schü- 
ler 

Zahl  der 

zu 
schrei- 
benden 
Buch- 
staben 

Zahl 

der 

Fehler 

% 

Fehler- 
durch- 
schnitt 

Klasse 

Zahl 
der 
Schü- 
ler 

Zahl  der 

zu 
schrei- 
benden 
Buch- 
staben 

Zahl 

der 

Fehler 

% 

Fehler- 
durch- 
schnitt 

la 

Ib 

28 

33 

1736 
2046 

208 
230 

11,9 
11,2 

7,4 
7,0 

|7,2 

la 
Ib 

38 

26 

2356 

2232 

202 
144 

8,6 
6,4 

5,3 

4,0 

}  4,6 

IIa 

41 

2542 

260 

10,6 

6,3 

1  6,8 

2a 

37 

2294 

212 

9,2 

5,7 

IIb 

41 

2542 

304 

11,5 

7,4 

2b 

31 

1922 

188 

9,7 

6,0 

5,8 

Illa 

36 

2232 

280 

12,5 

7,7 

2c 

35 

2170 

201 

9,2 

5,7 

Illb 

38 

2356 

322 

13,6 

8,4 

8,2 

3a 

41 

2542 

317 

12,5 

7,7 

] 

IIIc 

37 

2294 

319 

13,8 

8,6 

3b 

37 

2294 

260 

11,3 

7,0 

6,8 

IVa 

32 

1984 

380 

19,1 

11,9 

3c 

38 

2356 

216 

9,2 

5,7 

IVb 

32 

1984 

228 

11,5 

7,1 

9,2 

4a 

33 

2046 

196 

9,5 

6,0 

IVc 

30 

1860 

265 

14,2 

8,8 

4b 

32 

1984 

209 

10,5 

6,4 

6,4 

Va 

43 

2666 

462 

17,3 

10,7 

1  9,7 
il2,l 

4c 

33 

2046 

224 

10,9 

6,8 

Vb 
Via 

43 
39 

2666 
2379 

373 
417 

13,9 
17,5 

8,7 
10,7 

5a 
5b 

44 
43 

2728 
2666 

319 
199 

11,6 

7,4 

7,2 
4,6 

1  5,9 

VIb 

38 

2318 

490 

21,1 

13,2 

6a 

36 

2196 

430 

19,6 

11,9 

VIc 

38 

2318 

477 

20,5 

12,5 

6b 

37 

2257 

356 

15,8 

9,6 

|ll,2 

Vlla 

32 

1952 

674 

34,5 

21,0 

6c 

32 

1952 

392 

20,0 

12,2 

Vllb 

32 

1952 

778 

39,8 

24,3 

17,2 

7a 

28 

1708 

383 

22,4 

13,7 

VIIc 

31 

1891 

200 

11,1 

6,4 

)(22,6) 

7b 

7c 

32 
32 

1952 
1952 

511 
642 

26,2 
32,8 

16,0 
20,0 

16,5 

18 

644 

39718 

6667 

17 

10,4 

19 

675 

41653 

5601 

13,8 

8,5 

Aus  dieser  Zusammenstellung  ist  ersichtlich,  daß  durch  sämtliche  Klassen 
hindurch  die  Fähigkeit,  den  Laut  durch  sein  entsprechendes  Lautzeichen  wieder- 
zugeben, recht  mangelhaft  ist.  Von  sämtlichen  3319  Versuchsschülern  hat 
nicht  ein  einziger  fehlerfrei  gearbeitet.  Die  Mädchen  sind  den  Knaben  auf  allen 
Klassenstufen  bedeutend  überlegen.  Allgemein  läuft  mit  fortschreitender  sprach- 
licher Entwicklung  von  selbst  eine  Steigerung  der  Fähigkeit  der  Lautdarstellung 
parallel.  Ein  wie  günstiger  Faktor  aber  hierbei  die  Übung  ist,  lehrt  Knaben- 
klasse VII  c,  in  der  der  Orthographieunterricht  mit  der  Lautdarstellung  begonnen 
hatte.  Wie  notwendig  diese  Vorübung  ist,  zeigen  die  übrigen  7.  Klassen,  in  denen 
die  Fehlerzahl,  besonders  bei  den  Knaben,  überaus  hoch  ist.  Dieser  bedeutende 
Mangel  rührt  aus  den  Elementarklassen  her,  in  denen  eben  auf  die  innige  Verbindung 
von  Laut-  und  Lautzeichen  nicht  genügend  Bedacht  genommen  worden  ist.  Der 
Abfall  der  Fehlerzahl  und  damit  die  Steigerung  der  Leistungsfähigkeit  ist  am  be- 
deutendsten beim  Vorrücken  der  Schüler  aus  den  7.  bis  in  die  5.  Klassen.  Bei  den 
Knaben  zeigen  die  6.  Klassen  gegenüber  den  7.  eine  Besserung  um  5,1  Fehler  oder 
8,7  %,  die  5.  gegenüber  den  6.  um  2,4  Fehler  oder  4, 1  %.  Bei  den  Mädchen  betragen  die 
entsprechenden  Differenzen  5,3  Fehler  oder  8,7%  und  6,3  Fehler  oder  9,0%.  Von 
den  5.  bis  zu  den  1.  Klassen  hinauf  treten  sowohl  bei  den  Knaben  als  auch  bei  den 
Mädchen  so  große  Unterschiede  nicht  mehr  hervor;  eine  wesentliche  Besserung 
ist  also  bei  diesen  Schülern  ohne  besondere  Übungen  nicht  mehr  zu  verzeichnen. 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


497 


Eine  vergleichende  Durchsicht  der  Fehlerverzeichnisse  für  die  einzelnen  Klassen- 
stufen ergibt  zunächst  die  für  den  Rechtschreibunterricht  überaus  wichtige  Tat- 
sache, daß  im  zweiten  Schuljahre  die  Fähigkeit  der  Lautdarstellung  außer- 
ordentlich  gering  ist.  Das  geht  aus  der  bunten  Mannigfaltigkeit  der  Verfeh- 
lungen hervor.  Die  assoziative  Verknüpfung  zwischen  Laut  und  Lautzeichen  ist 
hier  noch  so  unsicher  und  unbestimmt,  daß  die  schriftliche  Aufzeichnung  mehr  ein 
tastendes  Versuchen  und  Probieren  als  ein  geläufiges  Können  ist.  In  den  folgenden 
Schuljahren  nehmen  die  Varianten  im  allgemeinen  mehr  und  mehr  ab,  und  es  treten 
allmählich  in  der  Hauptsache  nur  noch  gewisse  Fehler  hervor.  Diese  mögen  als 
typische  bezeichnet  werden,  wenn  sie  sich  durch  alle  Schuljahre  hindurchziehen,  als 
häufige,  wenn  sie  in  mehreren  Klassenstufen  in  die  Erscheinung  treten,  und  als 
verstreute,  wenn  sie  nur  auf  einer  oder  zwei  Klassenstufen  vorkommen.  Wenn 
die  letzteren  auch  weniger  zahlreich  sind  als  die  ersten  beiden  Gruppen,  so 
dürfen  sie  doch  bei  Beurteilung  der  Fehlerquellen  nicht  unberücksichtigt  bleiben. 
Vorläufig  mögen  sie  jedoch  außer  Betracht  bleiben  und  die  Fehler  nur  nach  den 
typischen  und  häufigen  geordnet  werden.  Darnach  ergibt  sich  folgendes  Bild: 
Typische  und  häufige  Fehler  bei  der  schriftlichen  Darstellung 
der  Laute  und  Lautverbindungen. 

Einzelne  Laute. 


Laut  bzw. 
Laut- 

Typische 

Häufige 

Laut  bzw. 
Laut- 

Typische 

Häufige 

Fehler 

Fehler 

Fehler 

Fehler 

zeichen 

zeichen 

a 

— 



w 

m 

V 

A 

— 

H,  a 

W 

N 

M,  w,  V 

e 

— 

ö 

n 

m 

ng 

E 

— 

e,  Ö,  G,  Ge 

N 

M 

n,   S,  Ng 

i 

— 

— 

m 

n 

w 

I 

J 

i»  j 

Stimm- 

M 

N,  W 

m 

o 

— 

a 

hafte 

1 

— 

n,  w,  m 

Vokale 

0 



o 

Dauer- 

L 

1 

N,  W,  M,  B 

u 

— 

— 

laute 

r 

— 

ch,  R 

U 

— 

u.  V 

R 

— 

Rr,  r 

ä 

— 

äu,  e 

J 

j,  I,  Ch, 

Ü,  Schi,  Ih, 

ö 

eu 

e,  öu,  äu,  ü 

Seh,  ch 

Hi  u.  Hü, 

ü 

— 

i,  ö,  u 

Jü,  Wi,  G, 

ei 

— 

äu,  au,  ie,  eu 

Ich,  Li 

eu 

ö 

eü,e,  öu(ou), 

, 

Konso- 

ue, ei 

f 

— 

pf 

nanten  : 

h 

P 

g.  B 

F 

f 

Pf 

B 

P 

B,  Be 

s 

— 

z 

Stimm- 

S  . 

— 

Z,    f,    8.    ß 

hafte 

d 

t 

g.  k 

Stinmi- 

seh 

ch 

g,  Sch,  s 
J 

Explo- 

D 

T 

G,  B,  d,  t 

/  lose 

Seh 

8Ch 

sivlaute 

g 

k 

d,    ü 

Dauer- 

ch  (ich- 

seh,  j,  g 

ich,  f  (8,  S) 

G 

g.   Iv 

B,  Qu,  D,  k 

laute 

Laut) 
ch  (ach- 

Stimm- 

P 

b,  t 

k,  g,  pf  (fp) 

r 

h,  g,  nh 

lose 

V 

B,  p 

T,  Pf,  K,  b 

Laut) 
h 

Explo- 

t 

k 

d,ck,g,tz,T 

sivlaute 

T 

k 
K 

D 

ck,  g 
G.  k 

Tsch,  K,  G, 
t,  d 

g,  ck 

H 

h.  Ha. 

Zeitschrift  f.  pttdagog.  Psychologie. 


32 


498 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülem. 


Lautverbindungen. 


Laut  bzw. 

Tjrpische 

Lautzeichen 

Fehler 

Häufige  Fehler 

bl 

pl,  1 

bil,  m,  n,  wl,  bi,  Ib,  11,  w,  bn,  ml. 

br 

brr,  pr,  r 

ch,  bru,  Pr,  Br,  Lr,  rb. 

Br 

Brr,  Pr,  R 

BR,  br,  Lr,  PR,  pr,  Bru,  B. 

dr 

tr,  gr 

drr,  br,  kr,  trr. 

pf 

fp,   bf,    f,   V 

Pf,  ff,  bv,  fb,  p,  pv. 

Pf 

Bf,  F,  V 

pf,  Fp,  P.  B,  f,  Pp,  PF,  Ph,  Vf. 

kl 

gl 

tl,  ckl,  kn,  dl,  qu,  gr,  klü,  kü,  tu,  k. 

fl 

pf],  vi 

Fl,  fil,  fü  und  fi,  fn,  fw,  f,  l,  pf,  sl,  w. 

fr 

vr 

frr.  Fr,  r,  fru. 

schw 

— 

chw,  chm,  schm,  sohl,  sehr,  schwu,  sw. 

st 

— 

St,  zt,  sk. 

Sp 

sp. 

Schp,  schp,  Schb 

Sb,  sb,  S,  St,Stb,  Schbe,  schb,SchB,  SchP,  Schk. 

Z 

S,  Tz 

Tf,  ts,  Df,  tz,  z,  s.  St,  ZI  und  Zs,  Dz,  Pf,  Bf. 

Qu 

Q 

,   Qw,  Gw,  Kw 

Gu,  Quw,  Km,  Kr. 

Wir  ersehen  hieraus,  daß  bei  der  schriftlichen  Wiedergabe  die  Vokale  im  all- 
gemeinen weniger  Schwierigkeiten  bieten  als  die  Konsonanten  mid  diese  wiederum 
weniger  als  die  konsonantischen  Lautverbindungen.  Letztere  sind  am  schwierig- 
sten darzustellen.  Denn  bei  ihnen  kombinieren  sich  die  Schwierigkeiten,  die 
schon  aus  der  Darstellung  mehrerer  Konsonanten  erwachsen,  noch  mit  denen, 
die  aus  ihrer  Verbindung  entstehen. 

Bei  der  Aufzeichnung  der  reinen  Vokale  kommen,  außer  1=  J,  typische  Fehler 
nicht  vor,  auch  häufige  fehlen  zum  Teil,  zum  Teil  variieren  sie  in  engen  Grenzen. 
Aber  schon  bei  den  Umlauten  und  Diphthongen  werden  sie  mannigfaltiger, 
und  die  Verwechslung  von  ö  und  eu  ist  sogar  typisch. 

Die  Konsonanten  dagegen  sind  fast  durchweg  mit  typischen  Fehlern  behaftet 
und  zwar  die  Explosivlaute  durchgängig,  ebenso  die  Dauerkonsonanten  mit 
Ausnahme  von  1,  r,  f,  s  und  h.  Unter  den  häufigen  Fehlern  der  Konsonanten 
weist  J  die  meisten  Varianten  auf.  Es  gleicht  in  dieser  Beziehung  den  Lautver- 
bindungen, bei  denen  nicht  nur  in  der  Gruppe  der  häufigen  Fehler,  sondern  auch 
in  der  der  typischen  die  größte  Mannigfaltigkeit  hervortritt.  Hieraus  sieht  man, 
wie  große  Schwierigkeiten  im  besonderen  die  Lautverbindungen  den  Schülern 
bei  der  schriftlichen  Wiedergabe  bereiten. 


Die  physiologischen  und  psychologischen  Ursachen  der 

Lautfehler, 

Die  typischen  und  häufigen  Fehler,  die  bei  der  schriftlichen  Aufzeichnung 
der  Laute  zutage  treten,  vollziehen  sich  nicht  regellos,  sondern  bewegen  sich 
in  ganz  bestimmten  Richtungen.  Dies  läßt  schon  vermuten,  daß  sie  aus  be- 
stimmten physiologischen  und  psychologischen  Ursachen  hervorgehen.  Sie, 
wie  es  gemeinhin  geschieht,  als  Leichtsinns-  oder  Faselfehler  zu  bezeichnen 
und  damit  auf  mangelnde  Aufmerksamkeit  zurückzuführen,  ist  für  einen  tieferen 
Einblick  ungenügend.  Um  den  zu  gewinnen,  ist  es  notwendig,  zu  untersuchen, 
warum  dieser  vermeintliche  Mangel  eintritt,  welche  Faktoren  die  Aufmerksam- 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern,  499 

keit  überwältigen  und  verdrängen.   Und  femer,  wenn  diese  ihres  Wächteramtes 
entsetzt  ist,  wie  verläuft  der  physische  und  psychische  Mechanismus  von  selbst, 
ohne  ihre  regulierende  Überwachung. 
Die  verzeichneten  Fehler  lassen  unschwer  folgende  Ursachen  erkennen. 

1.  Sie  entspringen  aus  der  Schreibtätigkeit  =  Schreibfehler. 

2.  Sie  beruhen  auf  einem  Verhören  =  Hörfehler. 

3.  Sie  gehen  hervor  aus  Verhören  und  Verschreiben  =  Hör- Schreibfehler. 

4.  Sie  werden  erzeugt  durch  falsche  Artikulation  =  Sprechfehler. 

5.  Sie  entstehen  durch  falsche  Artikulation  und  folgendes  Verschreiben  = 
Sprech-Schreibfehler. 

6.  Sie  werden  verursacht  durch  Unkenntnis  des  Lautwertes  der  Buchstaben 
und  Buchstabenverbindungen. 

7.  Sie  haben  ihren  Grund  in  der  Einwirkung  der  Laute  aufeinander. 

Es  liegt  mir  nun  ob,  diese  Ursachen  im  einzelnen  an  der  Hand  der  Fehler- 
verzeichnisse nachzuweisen. 

I.  Schreibfehler. 

Ich  verstehe  darunter  solche  Fehler,  die  lediglich  der  Schreibtätigkeit  ent- 
springen, insofern  die  schreibende  Hand  Bewegungen  ausführt,  die  den  gewollten 
nicht  entsprechen.  Dabei  läßt  sich  aber  nicht  umgehen,  daß  wir  auch  die  der 
Schreibbewegung  zugrunde  liegenden  Vorstellungen  in  Betracht  ziehen.  Als 
nächstliegende  kommen  die  Schriftbild-  und  die  Schreibbewegungsvorstellung 
in  Frage.  Denn  wenn  ich  einen  Laut  schriftlich  fixieren  soll,  muß  ich  wissen, 
wie  sein  Schriftzeichen  aussieht  und  wie  es  geschrieben  wird.  Beides  sagen 
mir  aber  die  im  optischen  Zentrum  und  im  motorischen  Zentrum  der  Hand  ab- 
gelagerten Vorstellungen.  Zum  Zustandekommen  der  Schreibbewegung  ist  dann 
noch  nötig,  daß  zwischen  beiden  Zentren  eine  Verbindung  besteht  {Assoziations- 
verfahren), die  eine  Verknüpfung  und  gegenseitige  Erregung  der  Vorstellungen 
möglich  macht.  Erst  durch  die  Assoziation  treten  beide  Vorstellungsarten  in 
Beziehung  zueinander.  Ein  innerer  Zusammenhang  etwa  in  dem  Sinne,  daß 
mit  der  Erwerbung  des  Schriftbildes  zugleich  auch  die  Schreibbewegungsvor- 
stellung gegeben  sei,  besteht  von  vornherein  nicht,  wie  ja  auch  die  akustische 
Vorstellung  des  Lautes  keineswegs  ohne  weiteres  seine  Sprechbewegungsvor- 
stellung  einschließt,  sondern  die  Komplikation  der  Vorstellungen,  die  schließlich 
den  beabsichtigten  Schreibakt  erst  ermöglicht,  muß  durch  vielfache  Übung 
erst  erworben  werden.  Bei  Erlernung  der  Schrift  kommt  es  zunächst  darauf 
an,  das  Schriftzeichen  in  seinen  einzelnen  Teilen  und  deren  Anordnung  genau  zu 
erfassen,  damit  eine  klare  Schriftbildervorstellung  entsteht.  Dann  gilt  es  weiter, 
dieser  die  entsprechende  Schreibbewegung  zuzuordnen,  die  ja,  wie  bereits  er- 
wähnt, mit  der  Übermittlung  des  Schriftbildes  noch  keineswegs  zugleich  gegeben 
ist.  Dazu  bedarf  es  eines  Aufsuchens  und  Probierens  aller  der  Arm-  und  Hand- 
muskeln, die  geeignet  sind,  die  dem  Schriftbilde  entsprechenden  Bewegungen 
auszuführen.  Ist  diese  Auswahl  nach  manchen  tastenden,  unvollkommenen 
Versuchen  und  mit  Unterdrückung  unnötiger,  störender  Mitbewegungen  endlich 
gelungen,  so  müssen  die  verschiedenen  Muskeln  zu  einheitlicher  Zusammenarbeit 

32« 


500  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

eingeübt  werden,  bis  die  notwendige  Koordination  der  Bewegungen  erzielt  ist.^) 
Das  ist  bei  der  Kompliziertheit  des  Vorganges  und  dem  nahen  Zusammenliegen 
der  an  ihm  beteiligten  Muskelstränge  mit  großen  Schwierigkeiten  verbunden. 
Schwierig  nicht  sowohl  für  die  arbeitenden  Muskeln,  die  ja  nur  dem  Befehle 
gehorchen,  den  ihnen  die  motorischen  Nerven  überbringen,  als  vielmehr  für  das 
nervöse  Zentralorgan,  das  so  mannigfache  nach  Richtung  und  Stärke  fein  ab- 
gewogene Bewegungsreize  zur  Gesamtbewegung  zahlreicher  Muskeln  zugehen 
lassen  muß.  Aber  indem  die  verwickelte  Bewegung  immer  und  immer  wieder- 
holt wird,  wird  sie  mehr  und  mehr  der  mühsamen  koordinierenden  Willens- 
tätigkeit entrückt;  es  lagert  sich  im  motorischen  Zentrum  der  Hand  ein  Er- 
innerungsbild ab,  dessen  Reproduktion  durch  das  assoziierte  Schriftbild  schließlich 
hinreicht,  um  die  ganze  nötige  Summe  von  Bewegungsreizen  in  ihren  mannig- 
fachen Abstufungen  mit  einem  Schlage  wie  von  selbst  auszulösen.  Erst  wenn 
auf  diese  Weise  der  ganze  komplizierte  Vorgang  mechanisiert  ist,  kann  eine 
leichte  und  sichere  graphische  Wiedergabe  des  Lautes  nach  Maßgabe  seiner  Schrift- 
bildvorstellung erfolgen.  Doch  darf  nicht  erwartet  werden,  daß  dieser  Mechanis- 
mus nun  jedesmal  mit  unfehlbarer  Sicherheit  abläuft,  sondern  es  bleibt  wie  bei 
jeder  technischen  Fertigkeit,  mag  sie  auch  noch  so  gut  eingeübt  und  das  Be- 
wegungsgefühl auch  noch  so  vollkommen  entwickelt  sein,  immer  noch  etwas 
Unsicherheit  übrig.  Hierin  liegt  der  Grund  für  die  mannigfachen  Schreibfehler, 
denen  wir  in  unseren  Lautdiktaten  begegnen.  Und  zwar  resultieren  sie,  abge- 
sehen von  Ungenauigkeiten,  die  schon  bei  der  akustischen  Perzeption  und  der 
sie  begleitenden  Artikulation  der  Laute  unterlaufen,  entweder  aus  Abweichungen 
von  der  Schriftbildvorstellung  oder  aus  Ablenkungen  von  der  Schreibbewegungs- 
vorstellung  oder  aber  auch  aus  Hemmungen,  die  bei  der  Reproduktion  ihrer 
Verknüpfung  sich  einstellen. 

Fehler,  die  lediglich  aus  der  schreibenden  Hand  hervorfließen,  sind  darauf 
zurückzuführen,  daß  die  einmal  eingeleitete  Schreibbewegung  sich  über  die 
gewollte  hinaus  fortsetzt,  weil  die  antagonistischen  Muskeln  im  rechten  Momente 
nicht  hemmend  eingreifen.  So  entstehen :  1  =  b,  L  =  B,  o  =  a,  0  =  A,  v  =  w, 
n  =  u,  h  =  ch,  kl  =  kb,  bl  =  bb,  seh  =  snh,  chw  (schw)  =  nhw,  fr  =  hr,  Qu  =  Gu, 
ng  =  ug,  br  =  fr.  Dieselbe  Ursache  spielt  auch  mit,  wenn  die  Elemente  der 
Buchstaben  in  falscher  Reihenfolge  niedergeschrieben  werden.  Wenn  z.  B. 
beim  k  der  untere  Bogen  vor  der  Hocke  gemacht  wird,  erscheint  es  als  t 
und  kl  als  tl. 

Ferner  können  die  Schreibmuskeln  in  ihrer  Tätigkeit  eine  andere  Richtung 
einschlagen  als  beabsichtigt,  wie  ja  auch  die  halbautomatisch  verlaufenden  Ver- 
richtungen des  täglichen  Lebens  manchmal  in  Unordnung  geraten  und  zu- 
weilen zu  recht  komischen  Vorkommnissen  führen.  In  unserem  Falle  handelt  es 
sich  um  eine  Umdrehung  in  der  Reihenfolge  der  Schreibbewegungen,  woraus 
die  bei  konstanten  Buchstabenverbindungen  so  häufig  auftretenden  Umstellun- 
gen resultieren,  wie:  br=rb,  bl  =  lb,  kl  =  lk,  ng  =  gn,  Br  =  Rp,  sch  =  chs, 
pf  =  fp,  vb  und  fb,  Pf  =  Fp,  fl  =  fpl  (pfl),  eu  =  ue,  äu  =  uä,  ei  =  ie.  Bei  den 
jüngeren  Schülern  ist  zuweilen  die  Koordinationsfähigkeit  der  Bewegung  noch 
nicht  genügend  ausgebildet,  so  daß  nicht  entsprechende  Bewegungen  induziert 


1)  Vergl.  F.  A.  Schmidt,  Unser  Körper.     3.  Aufl.    Leipzig  1909.     S.  391  ff. 


XJntersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksachülem.  50I 

werden,  die  zu  falschen  oder  unvollkommenen  Buchstabenformen  führen :  (5  =  y, 
U  =  9^,  U  =^,  SS  =  5^,  2Ö  =  ^. 

Für  den  Erfolg  der  Lautdarstellung  kommt  als  zweiter  Faktor  die  Schriftbild- 
Vorstellung  in  Frage.  Wir  bemerken  besonders  in  den  Unterklassen,  daß  ihre 
Reproduktion  auf  den  zugerufenen  Laut  keineswegs  immer  prompt  erfolgt, 
sondern  vielfach  gänzlich  ausbleibt,  wie  aus  den  vielen  Auslassungen  von  Buch- 
staben ersichtlich  ist.  Aus  solcher  Verlegenheit  versuchten  sich  die  jüngeren 
Knaben  und  Mädchen  manchmal  dadurch  zu  helfen,  daß  sie  ihren  Klassenlehrer 
zu  Rate  zu  ziehen  sich  bemühten,  indem  sie  ihn  leise  fragten:  Herr  X,  wie  wird 
denn  der  gemacht  ?  Die  bis  vor  einigen  Jahren  in  Leipzig  gebräuchliche  analytische 
Lesemethode  bot  für  solche  Fälle  in  ihren  Normalwörtern  eine  treffliche  Repro- 
duktionshilfe.  Jetzt  unterrichten  wir  in  der  Elementarklasse  nach  der  synthe- 
tischen Methode  auf  Grund  einer  Fibel  in  Antiqua.  Diese  Druckschriftform 
^vi^d  zugleich  als  erste  Schreibschrift  verwendet.  Welche  Nachteile  sich  hieraus 
für  die  Darstellung  der  Laute  in  der  üblichen  Kurrentschrift  ergeben,  wird  alsbald 
gezeigt  werden.  Die  Schriftbildvorstellung  erwdes  sich  bei  den  jüngeren  Schülern 
auch  insofern  unzulänglich,  als  die  Reproduktion  derselben  durch  den  gehörten 
Laut  oft  langsam  und  unsicher  vonstatten  ging.  Das  Niederschreiben  der  be- 
treffenden Buchstaben  erfolgte  häufig  erst  nach  längerem  Besinnen  und  unter- 
blieb deshalb,  wenn  währenddes  bereits  wieder  ein  neuer  Laut  diktiert  wurde, 
zuweilen  gänzlich,  oder  aber  seine  Wiedergabe  geschah  in  vielgestaltiger  Weise, 
wie  z.  B.  aus  den  mannigfaltigen  Varianten  des  eu  zu  erfahren  ist.  Die  Ähnlichkeit 
gewisser  Schriftzeichen  bringt  es  mit  sich,  daß  sich  ihre  Vorstellungen  verwischen 
und  bei  der  Reproduktion  gegenseitig  hemmen.  Die  Folge  davon  ist,  daß  bei  der 
schriftlichen  Aufzeichnung  leicht  eine  Verwechslung  ähnlicher  Buchstaben  ein- 
tritt. Sie  liegt  vor  bei :  I  und  T,  I  und  J,  H  und  E,  N  und  St,  N  und  S,  V  und  W, 
v  und  w,  g  und  q,  G  und  Q,  f  und  s,  U  und  A,  U  und  N,  L  und  B.^) 

Eine  andere  Schwierigkeit  für  die  graphische  Darstellung  der  Laute  erwächst 
aus  dem  Umstände,  daß  für  denselben  Laut  verschiedene  Schriftzeichen  ge- 
bräuchlich sind,  so  allgemein  neben  den  kleinen  die  großen  Kurrentbuchstaben 
und  für  unsere  Verhältnisse  noch  im  besonderen  die  Antiquatypen.  Es  ist  klar, 
daß  mit  der  Häufung  der  Zeichen  ihre  Assoziation  mit  dem  Klangbild  einerseits 
und  der  Schreibbewegung  andererseits  um  so  schwieriger  wird  und  daß  dadurch 
auch  ihre  Reproduktion  eine  ungünstige  Beeinflussung  erfährt.  Von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  bedeutet  die  Einführung  der  Antiqua  als  erster  Schreib- 
schrift eine  bedauerliche  Zeit-  und  Kraftvergeudung.  Bei  dem  Widerstreite, 
in  den  die  verschiedenen  Schriftbildvorstellungen  eines  Lautes  bei  der  Repro- 
duktion geraten,  prävaliert  diejenige,  die  am  leichtesten  über  die  Schwelle  des 
Bewußtseins  emporsteigt.  Als  solche  erscheint  die  zuerst  erworbene  bevorzugt 
vor  den  später  hinzugekommenen  und  die  häufiger  reproduzierte  vor  der  weniger 
häufig  wiederholten.  Es  ist  eine  allgemeine  Erfahrung,  daß  die  ersten  Eindrücke, 
die  die  Kinder  in  der  Schale  empfangen,  die  frischesten  und  nachhaltigsten  sind. 
Und  so  sehen  wir  in  der  Tat  im  zweiten  Schuljahre  die  in  der  Elementarklassc 
erlernte  Antiqua  zuweilen  noch  die  Kurrentbuclistaben  verdrängen.  Wir  finden: 


*)    Man    muß    sich    hier    immer   wieder   die   geschriebenen    Kurrentbuchstaben 
vorstellen ! 


502  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

A  und  a  für  q,  E  für  ©,  L  für  l,  S  für  j,  U  für  u,  St  für  ft,  R  für  S5r,  R  für  91^, 
U  für  U,  N  für  9^,  Auch  die  vielfach  verzeichnete  Aneinanderreihung  zweier 
großer  Buchstaben  bei  konstanten  Verbindungen  ist  dem  Einflüsse  der  Lapidar- 
schrift zuzuschreiben.  Es  steht:  BR  und  PR  für  Br  —  PF,  PV  und  BV  für  Pf  — 
SP,  sP,  SB,  sB  und  StP  für  Sp  —  tS  für  Z  —  schW  und  schM  für  schw.  Ähnliche 
Fehler  traten  auch  bei  Wortdiktaten  auf,  insofern  mitten  im  Worte  große  Buch- 
staben geschrieben  wurden:  eMil,  ReGen,  LeVe  (Löwe),  faDer  (Vater),  MuDer 
und  MutDe  (Mutter),  sOnta,  SonDag  und  sotAr  (Sonntag),  PuPe  (Puppe), 
POst,  LamPe,  gaZe  (Katze),  AbPfeb  und  aFöl  (Apfel),  tRare  (Drache),  SchPüne 
(Spinne),  JäGer,  SleiF  und  liFe  (Schleife),  KaPe  und  naP  (Knabe),  PferD, 
bauM  usw.  Derartige  orthographische  Ungeheuerlichkeiten  sind  erst  möglich 
geworden,  seitdem  wir  eine  Antiquafibel  besitzen.  Es  ist  daraus  ersichtlich, 
daß  es  durchaus  keine  gleichgültige  oder  untergeordnete  Frage  ist,  welche  Schrift 
die  Elementaristen  zuerst  erlernen,  sondern  im  Interesse  der  Rechtschreibung 
und  speziell  zur  Erzielung  einer  sicheren  Lautdarstellung,  die  eine  feste  Asso- 
ziation zwischen  Laut,  Schriftbild  und  Schreibbewegung  zur  Voraussetzung  hat, 
muß  von  vornherein  die  Kurrentschrift  eingeübt  werden. 

Wie  selbst  schon  der  Gebrauch  des  kleinen  und  großen  Alphabets  nebeneinan- 
der die  Assoziation  und  Reproduktion  ungünstig  beeinflußt,  ersieht  man  daraus, 
daß  häufig  Buchstaben  aus  dem  einen  für  solche  aus  dem  anderen  eintreten. 
Da  die  kleinen  viel  häufiger  geschrieben  und  wohl  auch  meist  vor  den  großen 
eingeübt  werden  (wenn  man  nicht  gerade  auf  die  Antiqua  verfällt),  so  sind  ihre 
Schriftbild-  und  Schreibbewegungsvorstellungen  auch  fester  mit  dem  Klang- 
bilde verknüpft  mid  tauchen  daher  auf  den  Zuruf  des  Lautes  auch  leichter  und 
lebhafter  im  Bewußtsein  auf  als  die  großen.  Die  Folge  davon  ist,  daß  sie  bei 
der  Lautdarstellung  bevorzugt  werden.  Hierin  liegt  zu  einem  Teil  wohl  auch  der 
Grund  für  die  häufig  bemerkte  Kleinschreibung  der  Hauptwörter.  Kleine  für 
große  Buchstaben  treten  in  imseren  Lautdiktaten  vielfach  als  typische  oder 
häufige  Fehler  auf,  nämlich :  g,  1,  p,  f ,  k,  seh,  j  —  i,  w,  b,  d,  h,  o,  t,  r,  n  für  die 
entsprechenden  Großbuchstaben.  Viel  seltener  und  meist  nur  in  den  7.  und 
6.  Klassen  sind  die  umgekehrten  Fälle  zu  verzeichnen. 

Andererseits  ist  wieder  zu  bemerken,  daß  die  Schriftbildvorstellung  sehr  leicht 
verblaßt  und  damit  ihren  bestimmenden  Einfluß  auf  die  Schreibbewegung  ver- 
liert. Der  Schreibakt  erfolgt  in  solchem  Falle  direkt  als  Auslösung  der  optischen 
oder  sprechmotorischen  Empfindung.  Der  Ausfall  der  Schriftbildvorstellung 
aber  hat  zur  Folge,  daß  ganz  ungebräuchliche  Buchstabenverbindungen  aus  der 
Feder  fließen,  die  als  visuelle  Erinnerungsbilder  niemals  im  optischen  Zentrum 
abgelagert  worden  sein  können,  sondern  durch  den  Klang  oder  die  Artikulation 
veranlaßt  erst  kombiniert  werden.  So  wurde  geschrieben :  vr  für  fr  —  bv  und  bf 
für  pf  —  Bf  für  Pf  —  vi  für  f  1  —  Sb,  Schb,  Schp  für  Sp  —  eü,  öu  usw.  für  eu  —  sd 
für  st.  Hieraus  ist  deutlich  zu  erkennen,  wie  schon  bei  der  Schreibung  der  ge- 
bräuchlichen konstanten  Mitlautverbindungen  (erst  recht  bei  Wörtern)  die 
Schriftbildvorstellung  ihre  Wirksamkeit  zugunsten  des  Klangbildes  oder  der 
Artikulationsempfindung  versagt. 

Fassen  wir  vorstehende  Ausführungen  zusammen,  so  erhalten  wir  folgendes 
Resultat : 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  503 

Die  Schreibfehler  entstehen 

1.  aus  Ablenkungen  von  der  Schreibbewegungsvorstellung : 

a)  durch  Fortsetzung  der  Schreibbewegung  über  die  gewollte  hinaus, 

b)  durch  falsche  Reihenfolge  bei  Anordnung  der  Elemente  der  Buchstaben, 

c)  durch  Umkehrung  der  Schreibbewegung  bei  Buchstabenverbindungen, 

d)  durch  ungenügende  Koordinatinationsfähigkeit  der  Bewegungen; 

2.  aus  Abweichungen  von  der  Schriftbildvorstellung: 

a)  indem  die  Reproduktion  des  Schriftbildes  gänzlich  ausfällt, 

b)  indem  sie  unsicher  (und  langsam)  geschieht, 

c)  indem  ähnliche  Buchstaben  verwechselt  werden; 

3.  aus  ungenügender  Assoziation  zwischen  Schriftbild  und  Schreibbewegung: 

a)  durch  Gebrauch  mehrerer  Schriftzeichen  für  einen  Laut, 

b)  durch  Überwiegen  der  akustischen  und  sprechmotorischen  Empfindungen 
über  das  Schriftbild. 

(Fortsetzung  folgt.) 


[Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Theodor  Lipps.  Am  17.  Oktober  1914  ist  Theodor  Lipps  im  Alter_von 
63  Jahren  nach  langer  schwerer  Krankheit  verschieden.  Ein  Leben  hat 
geendet,  das,  auch  äußerlich  bebrachfceb,  nach  Schicksalen,  Wirkungen  und 
Erfolgen  selten  gewesen  ist,  ein  Mann  ist  gestorben,  dessen  gewaltige  For- 
schungs-  und  Lehrarbeit  in  der  Geschichte  der  Philosophie  unvergänglich 
fortleben  und  fortwirken  wird,  eine  geschlossene,  feste  und  unabhängige 
Persönlichkeit,  die  vielen  Freunden,  Schülern  und  Bewunderern  mehr  war 
als  ein  großer  philosophischer  Forscher. 

Die  Lebensarbeit  des  großen  Forschers  gliederb  sich  deutlich  in  mehrere 
Abschnitte.      Seine    wissenschaftliche    Jugend    fiel    noch    in    jene   Epoche 
der  neudeutschen  Geistesentwicklung,  in  der  man  die  Philosophie  überwunden 
zu    haben    glaubte    und  ihr  Erbe  an   eine  größere  Zahl  von  neuen   Fach- 
wissenschaften aufteilte.    Besonders  die  Psychologie  und  eine  ausgebreitete, 
gelehrte  Behandlung  der  Geschichte  der  philosophischen  Theorien  galten  als 
berufen,  die  Philosophie  zu  ersetzen;  selbst  die  Werbwissenschaften  verloren 
an  Ansehen  und  innerem  Leben;  die  Fragen  der  Mebaphysik  endlich  wurden 
selbstverständlich  als  Scheinprobleme  betrachtet,  die  als  solche  erkannt  und 
damit    aus    dem  Bereich    der    wissenschaftlichen  Arbeit  ausgeschlossen    zu 
haben    die    junge,    vielfach  dem  Vorbild  der  exakten  Naturwissenschaften 
nachstrebende  Psychologie  als  eines  ihrer  Hauptverdienste  pries.     Als  Lipps 
nach  ausgedehnten  Studien,  die  namentlich  durch  den  mathematisch-natur- 
wissenschaftlichen   und    kunstgesohichtlichen  Einschlag    von   dem    üblichen 
Bildungsgang  des  Studierenden  der  Philosophie  abwichen,  seine  selbständige 
.wissenschaftliche  Arbeit  begann,  waren  es  vorzugsweise  Einzelproblome   der 
Psychologie,    besonders  der  Raumwahrnehmung,    des  Zeitbewußtseins,    des 
Gefühls-  und  Affektlebens,  und   solche  der  Ästhetik,  die  reiche  Förderung 
durch   ihn  erfuhren.     Daneben  aber  machte  sich  das  ursprüngliche  philo- 
sophische Interesse  in  ganz  eigenartiger  Weise  geltend:  durch  die  Zeit- 


504  Kleine  Beiträge  und   Mitteilungen. 

läge  sozusagen  verdrängt,  äußerte  es  sich  in  einer  enttäuschten  Unzufrieden- 
heit mit  dem  vielfach  an  den  Kandzonen  des  Seelenlebens  haftenden  Betrieb 
der  Psychologie,  in  einer  einschneidenden,  aber  durch  ihre  Wirkung  segens- 
reichen Kritik  der  damaligen  Psychologie,  die  allzuängstlich  die  von  Fechner 
und  Helmholtz  eingeschlagenen  Bahnen  wandelte  und  so  Gefahr  lief,  im 
Streben  nach  mathematischer  und  experimenteller  Exaktheit  die  Kraft  zur 
Erfassung  des  seelischen  Lebens  einzubüßen.  Auch  die  häufige  Blick- 
wendung nach  den  Tatsachen  des  ästhetischen  Bewußtseins  und  des  sitt- 
lichen Lebens  lassen  erraten,  daß  der  junge  Forscher,  der  sich  hier  zum 
Worte  meldete,  mehr  ist  als  ein  Nur-Psychologe,  so  leidenschaftlich  er  auch 
seine  Versicherung  wiederholt,  nichts  anderes  sein  zu  wollen.  Als  die  Werke, 
welche  den  Geist  dieser  ersten  Epoche  am  deutlichsten  kennzeichnen,  müssen 
„die  Grundtatsachen  des  Seelenlebens"  und  „die  Psychologischen  Studien" 
gelten. 

Die  psychologische  Fachbegabung  und  das  philosophische  Interesse,  von 
Anfang  ungeschieden,  durchdringen  sich  in  dem  zweiten  Abschnitte  seiner 
Entwicklung  vollständig;  die  immer  erneuten  geistigen  Bemühungen  von 
Theodor  Lipps  gelten  im  Grunde  dem  Aufbau  einer  neuen  Philosophie,  der 
Konzeption  einer  Logik,  Ethik,  Ästhetik  und  Ontologie,  die,  besser  fundiert 
als  vieles  von  dem  traditionellen  Gedankengut,  durch  Einheitlichkeit  und 
systematischen  Aufbau  das  Ideal  einer  Philosophie  als  strengen  Wissenschaft 
verwirklichen  sollte.  Aber  die  Denkmittel  und  Methoden,  mit  denen  er 
diese  gewaltige  Aufgabe  in  Angriff  nahm,  waren  zum  wesentlichen  die  psy- 
chologischen, nämlich  die  Analyse  der  Bewußtseinstatsachen  bis  zum  letzten 
unmittelbar  Gegebenen.  Aus  dieser,  wohl  durch  die  persönliche  Veranlagung 
wie  durch  den  Geist  der  Zeit  in  gleichem  Maß  bedingten  Verbindung  psy- 
chologischer und  philosophischer  Problemstellung  und  Betrachtungsweise 
erwuchs  jene  Philosophie,  die  eine  spätere,  vielfach  unberechtigt  abschätzige 
Kritik  Psychologismus  genannt  hat.  Theodor  Lipps  vertrat  diese  Verbin- 
dung zweier  Wissenschaften  mit  einer  für  beide  gleich  großen  Begabung, 
verfolgte  den  Versuch,  vom  Boden  der  Psychologie  aus,  richtiger  gesagt: 
von  der  Phänomenologie  des  Bewußtseins  aus,  philosophische  Einsichten  zu 
verarbeiten  mit  einem  jahrelang  viele  gleichzeitige  Forscher  mitreißenden 
Schwung.  Und  als  ihm  selbst  —  das  leitete  den  dritten  Abschnitt  seiner 
Entwicklung  ein  —  Zweifel  aufstiegen,  als  Zweifel  von  anderer,  auch  be- 
freundeter Seite  laut  wurden,  verteidigt  er  das  Eecht  seines  Standpunkts 
mit  einer  Hartnäckigkeit,  die  den  Gegner  leicht  sich  zum  Feinde  macht, 
wenn  dieser  nicht  auch  von  unermüdlicher  Liebe  zur  Wahrheit  beseelt  ist. 
Beide  Gebiete,  Psychologie  und  Philosophie,  verdanken  den  Arbeiten  gerade 
dieser  Epoche  unverlierbare  Erkenntnisse  und  fruchtbare  Methoden.  In  der 
Psychologie  kam  die  Phänomenologie  zu  ihrem  vollen  Recht;  in  immer 
zentralere,  wesenhaftere  Gebiete  des  Seelenlebens  drang  vorsichtig  spürend 
die  Analyse  ein,  und  speziell  in  der  Zergliederung  des  geheimnisvollen  Ge-, 
fühlslebens  und  im  Verständnis  der  Gesamtstruktur  von  Persönlichkeiten 
ist  kein  Psychologe  weiter  gedrungen  als  Theodor  Lipps.  Von  den  philo- 
sophischen Disziplinen  erfuhren  Ethik  und  Ästhetik  wie  die  reichste  Pflege 
so    auch    die    reichste  Förderung,    waren   Logik    und  Naturphilosophie    die 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  505 

_  _ 

Gebiete,  auf  denen  der  innere  Wandel  sich  am  deutlichsten  zeigte.  Unter 
den  großen  Systemen  der  Ästhetik  der  Gegenwart  steht  das  Werk  von 
Th.  Lipps  weitaus  an  erster  Stelle.  Vorzugsweise  psychologisch  orientiert 
—  es  nennt  sich  im  Untertitel :  Psychologie  des  Schönen  und  der  Kunst  — 
aber  überall  über  die  psychologische  Fragestellung  hinausdrängend,  bohren 
seine  Forschungen  in  den  Kern  des  ästhetischen  Erlebnisses,  von  immer 
anderen  Ausgangspunkten,  an  immer  wechselnden  Beispielen,  unter  geist- 
reicher Auseinandersetzung  mit  anderen  Standpunkten  versucht  er  den  Ein- 
fühlungsbegriff der  Romantik  tiefer  zu  fassen  und  einheitlich  durchzuführen 
für  alle  Einzelfälle  des  ästhetischen  Genusses  und  alle  Gattungen  der  Kunst. 
Mag  die  Darstellung  schwierig,  die  sachliche  Berechtigung  einzelner  Be- 
hauptungen zweifelhaft  sein,  vorbildlich  bleibt  der  unnachgiebige  Ernst, 
mit  dem  nach  einer  Formel  für  das  Unformulierbare  gerungen  wird, 
und  alle  Lösungen,  auch  wenn  sie  gelegentlich  in  sehr  dogmatischem  Ton 
vorgetragen  werden,  immer  wieder  überprüft,  in  Zweifel  gezogen  und  zu 
neuen  Fragestellungen  Anlaß  werden.  In  der  Ethik  waren  es  weniger  die 
kasuistischen  und  phänomenologischen  Problemgebiete,  als  die  psycho- 
logische Analyse  des  wertenden,  wollenden,  handelnden  Menschen,  und  die 
eminent  philosophische  Frage,  die  Grundfrage  der  Moral  nach  der  Berech- 
tigung und  Begründung  des  sittlichen  Sollens,  die  unter  dem  Einfluß  der 
Ethik  Kants  im  Mittelpunkte  seiner  Überlegungen  standen.  Die  ethische 
Forschung  hat  gewiß  auf  anderen  Gebieten  Fortschritte  gemacht,  die  Phäno- 
menologie des  sittlichen  Bewußtseins  ist  anderen  Forschern  vollständiger 
bekannt;  aber  ich  glaube  mich  nicht  zu  täuschen,  wenn  ich  meine,  daß  zu 
dieser  Grundfrage  nur  auf  dem  von  Lipps  bereiteten  Boden  maßgebende 
Beiträge  möglich  waren. 

Psychologie,  Ethik  und  Ästhetik  waren  auch  die  Hauptgebiete  seiner 
Vorlesungstätigkeit;  ihnen  entnahm  er  die  Probleme  der  seminarischen 
Übungen;  für  sie  suchte  er  seine  Zuhörer  und  Schüler  zu  begeistern.  Von 
jedem  Einzelproblem  eröffnete  er  den  Ausblick  auf  die  letzte  grundwissen- 
schaftliche Fragestellung;  wie  tief  er  selbst  auch  in  dieser  Zeit  von  den  im 
engeren  Sinne  philosophischen  Fragen,  von  den  erkenntnistheoretischen  und 
ontologischen  Problemen  bewegt  war,  das  konnte  man  erkennen,  wenn  man 
im  persönlichen  Verkehr  mit  ihm  über  die  inzwischen  beginnende  Renaissance 
der  Philosophie  diskutierte  oder  in  einem  der  nur  selten  gelesenen  Kollegien 
ihm  zuhörte,  in  denen  er,  ganz  unzünftlerisch  und  scheinbar  ungelehrt,  aber 
persönlich  tief  bewegt,  die  Geschichte  der  philosophischen  Gedanken  ent- 
rollte, oder,  wie  in  den  letzten  Vorlesungen  über  Logik,  mit  dem  Neu- 
aufbau seiner  eigenen  geistigen  Welt  rang. 

Das  Streben  nach  einem  Anfang  von  vorne  kennzeichnet  nämlich  die 
letzte  Phase  seiner  Entwicklung.  Die  neuen  Fachwissenschaften  der  Psycho- 
logie und  Biologie,  der  fachwissenschaftliche  Betrieb  auch  einzelner  philo- 
sophischer Disziplinen  hatten  inzwischen  der  Erneuerung  der  Philosophie 
die  erforderlichen  Vorarbeiten  geleistet.  Die  Fortbildung  vergangener 
Systeme  genügte  dem  philosophischen  Trieb  ebensowenig  mehr  wie  der  aus 
der  Überschätzung  der  Naturwissenschaften  erwachsene  naive  Naturalismus 
und  der  immer  genauer  als  Grenzüberschreitung,    als  unberechtigte  Über- 


506  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

tragung  psychologischer  Betrachtungsweise  auf  andere  Fragegebiete  erkannte 
Psychologismus.  Die  Philosophie  ist  nach  den  Zeiten  der  drohenden  Auf- 
lösung in  Geschichte  der  Philosophie,  Psychologie  und  anderes  wieder  im 
Begriff  zu  erstarken.  Von  verschiedenen  Ausgangspunkten  her,  namentlich 
aber  unter  dem  Einfluß  der  gerade  von  Lipps  mitbegründeten  phänomeno- 
logischen Forschungsweise,  wurden  die  Probleme  der  Ontologie  und  Meta- 
physik, des  Seins  und  der  Geltung,  wieder  aufgenommen,  vielfach  unter 
anderem  Namen;  es  mehrten  sich  die  Ansätze  zur  Systembildung.  Ins- 
besondere wurden  die  von  allen  psychischen  Erlebnissen,  in  denen  sie  erfaßt 
wird,  verschiedene  objektive  Welt  der  Wahrheit,  der  Geltungen  und  Ver- 
pflichtungen, der  Gegenstandsordnungen  immer  deutlicher  gesichtet.  Mit 
einer  Rücksichtslosigkeit,  die  heroisch  heißen  muß,  weil  sie  sich  auch  gegen 
eigene  Gedanken  und  Überzeugungen  richtete,  begann  Lipps  die  Aus- 
einandersetzung mit  den  neuen  Strömungen,  die  Revision  seines  Stand- 
punktes, und  bis  zuletzt  hat  er,  unermüdlich  nach  Wahrheit  strebend,  ein- 
gerissen und  wieder  aufgebaut.  Die  geistige  Hochspannung,  die  sein  ganzes 
Leben  ausgezeichnet  hat,  erreichte  in  diesen  Jahren,  die  auch  sonst  an 
Erregungen  reich  waren,  ihren  Höhepunkt;  leider  hat  Lipps  die  große  und 
nach  den  letzten  Proben  aus  seinen  gesunden  Tagen  erfolgreiche  Arbeit 
nicht  fortführen  können  —  ein  langsam  sich  steigerndes  Siechtum  ver- 
hinderte ihre  Vollendung. 

So  spiegelt  das  philosophische  Werk  von  Theodor  Lipps  die  typischen 
Etappen  des  Entwicklungsganges  der  neuen  deutschen  Philosophie  wider, 
von  der  es  selbst  ein  Teil,  und,  wie  ich  meine,  ein  nicht  kleiner  Teil  ge- 
wesen ist.  Sein  Schöpfer  steht  würdig  neben  den  beiden  Genien,  die  ihn 
am  nachhaltigsten  beeinflußt  haben,  neben  David  Hume  und  Hermann 
Lotze,  dem  einen  verwandt  durch  die  erstaunliche  Fähigkeit,  die  komplexen 
Tatbestände  unseres  Seelenlebens  und  seine  verborgenen  Hintergründe 
analytisch  zu  durchleuchten,  dem  anderen  ähnlich  durch  die  Energie,  mit 
der  er  aus  allen  Einzelheiten  'der  Fachwissenschaften  nach  Einheit  des 
Weltbildes,  nach  letzter  Erkenntnis  und  Wertung  des  Ganzen  der  Welt 
strebte,  beiden  überlegen  durch  die  Leidenschaftlichkeit,  mit  welcher  er 
seine  Forschungsarbeit  und  Lehrpflicht  erlebte  und  seine  wissenschaftlichen 
Überzeugungen  auch  in  der  Beurteilung  und  Gestaltung  der  Lebenswirklich- 
keiten nicht  verleugnete. 

Daß  ein  philosophischer  Forscher  von  seiner  Prägung  auch  als  Lehrer 
nachhaltig  zu  wirken  verstand,  bedarf  beinahe  keiner  Versicherung;  es  lehrt 
ja  doch  letzten  Endes  die  Persönlichkeit,  nicht  die  Methode.  Gerade  an 
der  Universität  München  erreichte  die  Lehrtätigkeit  von  Theodor  Lipps 
ihren  Höhepunkt.  Er  gründete  das  Psychologische  Seminar  dieser 
Universität,  schuf  eine  umfassende  psychologisch  -  philosophische  Fach- 
bibliothek und  wurde  nicht  müde,  für  die  Gründung  eines  psychologischen 
Institutes  zu  arbeiten.  Schon  bei  seiner  Berufung  nach  München  1894  war 
ihm  durch  den  damaligen  Kultusminister  v.  Müller  ein  Institut  zugesagt 
worden;  wenn  zuweilen  die  wissenschaftliche  Arbeit,  zu  der  er  anregte, 
unter  dem  Mangel  an  Räumen  und  Hilfsmitteln  litt,  vertröstete  er  seine 
Schüler   immer   wieder    auf    das    sicher    kommende    Institut.    Als    der    Er- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.        SOT""  507 

^ 

Weiterungsbau  der  Universität  durchgeführt  wurde,  erreichte  er  es  endlich, 
daß  auch  für  das  ersehnte  Institut  Räume  vorgesehen  wurden.  Und 
als  die  Räume  fertiggestellt  waren  und  er  daran  denken  konnte,  sie  ein- 
zurichten und  der  wissenschaftlichen  Arbeit  in  seinem  Geiste  zuzuführen, 
mußte  er  von  seinem  Werk  zurücktreten. 

Über  diese  organisatorische  Arbeit  der  Schaffung  der  äußeren  Bedingungen 
für  das  philosophische  und  psychologische  Studium  ragt  aber  an  Bedeutung 
weit  hinaus  die  Wirkung  seiner  Vorlesungen,  Vorträge  und  Übungen.  Ein 
Meister  des  Wortes,  ganz  auf  die  Sache  gerichtet,  zog  er  seine  Zuhörer 
unwiderstehlich  in  den  Bann  seiner  Gedanken;  selber  suchend  verstand  er 
es  vorzüglich,  hilfsbereit  auf  Fragen,  Zweifel,  Einwände  einzugehen,  allen 
ein  Vorbild  unbestechlichen  wissenschaftlichen  Ernstes  und  rastlosen  Strebens 
So  wirkte  er  auf  eine  lange  Reihe  von  Schülern,  ohne  doch  eine  eigentliche 
Schule  zu  begründen;  denn  —  so  charakterisiert  ihn  zutreffend  Alexander 
Pfänder  1)  als  philosophischen  Erzieher  —  er  wollte  nicht  Schüler  im  Sinne 
von  gläubigen  Nachbetern  und  bloßen  Verkündern  überlieferter  Wahrheiten. 
Seine  Schüler  sollten  vor  allem  durch  strenge  methodische  Schulung  dazu 
befähigt  werden,  gemäß  ihren  Anlagen,  Fähigkeiten  und  Kräften  möglichst 
selbständig  und  gründlich  philosophisch  zu  forschen.  Damit  war  die  wissen- 
schaftliche Entwicklung  des  einzelnen  unter  ihnen  so  frei  gelassen,  daß  sie 
dieselben  auf  verschiedene,  bisweilen  entgegengesetzte  Wege  geführt  hat. 
Gerade  dafür  waren  und  sind  seine  Schüler  Theodor  Lipps  zu  besonderem 
Dank  verpflichtet,  und  gerade  dadurch  bewies  er  sich  als  geborenen  und 
berufenen  Lehrer.  Soweit  seine  Schüler  auch  heute  noch  persönlichen  und 
geistigen  Zusammenhang  pflegen,  liegt  ihre  Einheit  nicht  in  der  Gemein- 
samkeit eines  Lehrgutes,  einer  Schulmeinung,  sondern  in  derjenigen  einer 
wissenschaftlichen  Gesinnung  und  Arbeitsweise. 

Der  Forscher  und  Lehrer,  dessen  Arbeit  ich  hier  würdigen  wollte,  hat 
auch  am  öffentlichen  Leben  teilgenommen,  so  oft  es  ihm  als  Gewissens- 
pflicht erschien.  Die  Lauterkeit  der  Gesinnung,  die  seinem  Wort  in  weiten 
Kreisen  Gehör  verschaffte,  ist  unvergessen  geblieben,  als  auch  die  Krank- 
heit ihn  nach  und  nach  der  öffentlichen  Wirksamkeit,  der  Lehrkanzel,  der 
literarischen  Produktion  und  schließlich  selbst  dem  Umgang  mit  Schülern 
und  Freunden  entzog.  Das  leuchtende  Bild,  das  alle  von  seiner  Persön- 
lichkeit aus  der  Zeit  ihrer  höchsten  Entfaltung  gerettet  haben,  wird  un- 
vergänglich fortleben. 

München.  Aloys  Fischer. 

Wilhelm  Wundt  über  den  „wahrhaften  Krieg*.  Für  Leipzig  war  es 
ein  eindrucksvolles  Erlebnis,  als  der  greise  Philosoph  der  Universität  — 
sonst  abhold  öffentlichem  Hervortreten  —  kürzlich  vor  einer  Gemeinde 
von  Tausenden  als  Redner  stand  —  nicht  in  der  Weise  und  mit  der 
Wirkung  des  zündenden  Volksredners,  aber  zur  Ehrfurcht  und  Andacht 
erhebend  als  Denker,  der  mit  Geistesgewalt  die  Wahrheit  erkennbar  macht, 

*)  In  der  Einleitung  zu  den  „Münchener  philosophischen  Abhandlungen",  die 
frühere  Schüler  Theodor  Lipps'  zu  »einem  60.  Geburtstage  gewidmet  haben. 
(Leipzig  1911.) 


508  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

die  Erscheinungen    in  ihren  Wurzeln  aufdeckt,   den  Geschehnissen  auf  den 
Kern    geht   und    der    Dinge    letzte    und    höchste  Zusammenhänge   aufweist. 
Es  seien   einige'  der    allgemeiner   und   philosophisch   gehaltenen  Gedanken- 
gruppen des  bedeutenden  Vortrags  hervorgehoben,  i)    Mit  dem  Leitgedanken 
seiner  Ausführungen  ließ  Wundt  daran  erinnern,  wie  Fichte  2)  im  Sommer 
des  schicksalschweren  Jahres  1813  vor  seinen  Zuhörern  der  Berliner  Hoch- 
schule   das  Wort    vom    „wahrhaften  Kriege"    prägte  und   den  Begriff  also 
erklärte:  Ein  wahrhafter  Krieg  ist  derjenige,  den  ein  Volk  aufnimmt  gegen 
den  Feind,    der  ihm  Freiheit  und   Selbständigkeit  rauben  will.     Frei  und 
selbständig    aber    ist    ein  Volk    nicht    schon    dadurch,    daß  jeder  Einzelne 
innerhalb  der  Grenzen  der  Eechtsordnung  seines  Staates  sich  frei  bewegen, 
Güter  nach  eigenem  Willen   erwerben  und  verwenden  kann,   sondern  wenn 
es  von   äußerer   Gewalt  wie  von  Neid  und  Mißgunst  anderer  Völker  unbe- 
hindert ist,  seine  Kraft  in  den  Dienst  der  allgemeinen  menschlichen  Kultur- 
arbeit zu  stellen,  und  wenn  es  so  zu  seinem  Teil  auf  den  ihm  durch  Natur 
und  Geschichte  zugewiesenen  Gebieten  die  Pflichten,  die  ihm  in  der  Kultur- 
gemeinschaft der  Völker   auferlegt   sind,   erfüllen    kann.     Das  Problem   des 
gegenwärtigen  Krieges,  so  führte  dann  Wundt  aus,  ist  nun  größer  als  das 
der  Befreiungskriege.    Damals  kämpfte  der  Deutsche  nur  um  die  Sicherung 
des  friedlichen  Lebens  innerhalb   der   Grenzpfähle;    heute  aber  ist   in    uns 
das  Bewußtsein  lebendig  geworden,  daß  der  Einzelne  nicht  bloß  Staatsbürger, 
sondern    daß  er  zugleich  auch  Weltbürger  ist,  freilich  ein  Weltbürger,   der 
vor  allen   in  der  eigenen  Erde,   in  seinem  Volke  und  Staate,  festgegründet 
stehen    muß,    wenn    er    in    der  Welt    und    für    die    Welt    dauernde  Werte 
schaffen    will.      Das    Leben    der    Völker    ist  heute  überall  in  Handel  und 
Wandel,    in  Erzeugung    und  Austausch    der    materiellen  nicht  minder  wie 
der    geistigen  Güter    auf    den    Verkehr    der  Völker    gestellt,    und  so  stehen 
nicht    mehr,    wie    zur  Zeit    unsrer    großen  Dichter    und    Denker    der    Ver- 
gangenheit,  bloß   die  Kunst   und   die  Wissenschaft  unter  dem  Zeichen   des 
Weltverkehrs,    sondern   Leben    und  Eigentum,    Recht    und  Sitte,    Industrie 
und  Technik  wurzeln  ebenso  wie  alle  geistigen  Schöpfungen  in  dem  Ganzen 
des    nationalen    Lebens.      England    aber,    als    der    Hauptschuldige    bei    der 
Anfachung    des    Weltbrandes,    hat    sich    in  der   Beseitigung   der   deutschen 
Nation  aus  dem  Rat  der  Völker  sein  klar  erkennbares,  durch  keine  Schein- 
gründe   und  Phrasen    mehr    zu    verhüllendes   Ziel    gesetzt.     Man    hat  wohl 
zuweilen    einen  Widerspruch    darin  gefunden,    daß   der  einzelne  Engländer 
ein  ehrenwerter,    zuverlässiger   Charakter   ist,    daß   aber   der  Engländer   als 
Nation    diese  Eigenschaft    vermissen    läßt.     Doch    der    Geist    eines    Volkes 
findet    schließlich    seinen    treuesten   Ausdruck    in    seiner  Philosophie,   aller- 
dings nicht  in  derjenigen,  die  ein  Land  hervorgebracht  hat,  aber  sicherlich 
in   derjenigen,    die    in    ihm    die   herrschende    geworden    ist.     Die    populäre 
Philosophie    des    heutigen  Englands    aber    ist    nicht    die    eines  Bacon  und 
Locke,  eines  Shaftesbury,  Berkeley,  Hume,  auf  die  wir  mit  Ehrfurcht  blicken; 

*)  W,  Wundt,  Über  den  wahrhaften  Krieg.  Rede  gehalten  in  der  Albert- 
halle   zu   Leipzig  am  10.  Sept.  1914.    Leipzig  1914.    Alfred  Kröner.  40  S.  0,50  M. 

')  Joh.  Gottl.  Fichte,  Über  den  Begriff  des  wahrhaften  Krieges.  Leipzig  1914. 
Verl.  F.  Meiner,  1,00  M. 


IQeine  Beiträge  vind  Mitteilungen.  509 


die  Moral,  von  der  England  im  Grunde  seines  Herzens  erfüllt  wird,  ist 
vielmehr  die  Nützlichkeitsmoral  mit  ihrem  Grundaxiom :  Jeder  tue,  was  ihm 
selbst  nützlich  ist.  Dieser  Utilitarismus,  dessen  philosophischer  ^Interpret 
der  Jurist  Jeremias  Bentham  war,  rechtfertigt  anderen  Nationen  gegen- 
über den  schnödesten,  rücksichtslosesten  Egoismus.  Und  da  der  Erwerb 
und  die  Erhaltung  der  Glücksgüter  nach  der  Lehre  des  englischen  Utilitariers 
das  Ziel  alles  menschlichen  Strebens  ist,  wird  das  allgemeine  Tauschmittel, 
das  Geld,  zum  Wertmaßstab.  Was  mehr  Geld  kostet,  ist  das  höhere  Gut. 
So  will  England  den  Lohn  der  Soldtruppen  erhöhen,  um  den  Patriotismus 
zu  steigern.  Wir  Deutsche  aber  kennen  keine  Soldtruppen,  sondern  unsere 
Söhne  und  Brüder,  unser  Volk  selbst  führt  diesen  uns  aufgezwungenen 
Krieg,  und  wir  führen  ihn  nicht  wie  die  Briten  als  ein  Handelsgeschäft. 
Darum  ist  dieser  Krieg  im  vollsten  Sinne  ein  wahrhaftiger  Krieg;  denn  er 
ist,  wenn  wir  uns  nicht  selbst  aufgeben  wollen,  ein  notwendiger  und,  weil  er 
unsere  höchste  Pflicht  in  sich  schließt,  ein  heiliger  Krieg.  —  Wie  nun 
jedes  Ding,  nach  dem  Worte  des  deutschen  Idealisten  Jakob  Böhme,  sein 
Gegenteil  neben  sich  hat,  steht  neben  dem  wahrhaften  Krieg  der  unwahre, 
der  trügerische  und  lügenhafte.  Welcher  Krieg  aber  trüge  mehr  diese  Merk- 
male als  der  von  unseren  Feinden  gegen  uns  geführte  ?  Lüge  von  Anfang  an !  — 
Uns  Deutschen  ist  es  nicht  gegeben,  die  Hände  müßig  in  den  Schoß  zu 
legen.  Die  friedliche  Arbeit  ist  unser  Leben.  Je  mächtiger  unser  Staat 
wird,  je  reichere  Hilfsquellen  dadurch  auch  dem  Einzelnen  zu  friedlicher 
Arbeit  sich  eröffnen,  um  so  größer  werden  auch  die  Pflichten  sein,  die 
nicht  nur  unserem  Staate,  sondern  die  uns  allen  auferlegt  sind,  damit 
unser  Volk  in  der  Mitarbeit  an  den  großen  Gütern  der  menschlichen  Kultur 
die  führende  Stellung  gewinne  und  bewahre,  die  ihm  gebührt.  Darum  gilt 
Kants  Wort:  Das  Höchste  für  den  Menschen  ist  die  Pflicht,  und  das 
Größte  unter  den  Gütern  der  Welt  ist  der  sittliche  Wille. 

Zehn  Gebote  einer  Kriegspädagogik  —  im  Stile  des  Jägerschen  päda- 
gogischen Testamentes  gehalten  —  veröffentlicht  Theobald  Ziegler  in 
der  „Frankf.  Zeitung". 

1.  Du  sollst  auf  Zucht  und  Ordnung  sehen  unter  deinen  Schülern  und 
sie  nach  wie  vor  anhalten  zu  pflichtmäßiger  Erfüllung  dessen,  was  ihnen 
obliegt.  Denn  du  bist  deinem  Volke  heute  mehr  als  je  verantwortlich 
für  die  nächste  Generation.  Aber  darum  sei  doch  kein  Schultyrann, 
heute  weniger  als  je,  und  verstehe  die  Kunst,  gelegentlich  auch  fünf 
gerade  sein  zu  lassen.  Und  gib  ihnen  nicht  viel  auf:  sie  müssen  ja  täg- 
lich die  Zeitung  lesen. 

2.  Du -sollst  den  Krieg  nicht  zum  Amüsement  werden  lassen  für  die 
Schuljugend;  denn  er  ist  eine  gar  ernste  Sache.  Darum  feiere  nicht  jeden 
Sieg  durch  einen  schulfreien  Tag. 

3.  Du  sollst  deine  Schüler  zu  Staatsbürgern  erziehen.  Du  hast  jetzt 
die  beste  Gelegenheit  dazu,  denn  der  Krieg  ist  ein  staatsbürgerlicher  Er- 
zieher allerersten  Ranges. 

4.  Du  sollst  noch  interessanter  unterrichten,  als  es  sonst  schon  deine 
Pflicht  war;  denn  die  Gedanken  der  Schüler  gehen  jetzt  gar  zu  leicht  ihre 


610  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

eigenen  Wege.  Deshalb  setze  allen  Unterricht  in  Beziehung  zu  den  Er- 
eignissen des  Tages  und  der  Stunde.  Wo  es  sich  leicht  macht,  da  laß 
dir  die  Gelegenheit  ja  nicht  entgehen;  wo  es  schwer  ist,  da  ziehe  sie  getrost 
an  den  Haaren  herbei. 

5.  Du  sollst  noch  mehr  als  bisher  jede  Stunde  zu  einer  deutschen 
Stunde  machen  und  deine  Schüler  lehren  den  Stil  des  General- 
quartiermeisters V.  Stein.  Das  kannst  du  auch  im  Lateinischen  tun 
und  in  der  Mathematik. 

6.  Du  sollst  im  deutschen  Unterricht  Schiller  lesen,  soviel  du  kannst 
und  magst;  denn  er  ist  doch  der  männlichste  unter  unseren  Dichtern ;  und 
Ästheten  zu  erziehen,  hat^vorläufig  keinen  Wert  mehr. 

7.  Du  sollst  im  Geschichtsunterricht  viel  von  Schlachten  reden  und 
dich  freuen,  daß  du  es  wieder  tun  darfst  unbeschrien;  deine  Jungen  inter- 
essieren sich  dafür  und  können  sie  in  den  Pausen  gleich  umsetzen  in  die 
Praxis:  das  tut  ihnen  gut.  Und  du  sollst  sie  sachte  hinweisen  auf  das 
Schreiten  der  Gottheit  in  der  Geschichte,  das  sich  heute  so  wunderbar  und 
wundervoll  unter  uns  offenbart. 

8.  Du  sollst  dich  nicht  [ängstlich  kümmern  um  Lehr-  und  um  Stunden- 
plan. Ist  dir  vorgeschrieben,  von  Hinterindien  zu  reden,  so  mache  ruhig 
eine  Kriegsstunde  daraus  und  führe  deine  Tertianer  den  Weg  von  Metz 
nach  Paris  oder''  zu  den  Masurischen  Seen.  Auch~  in  den  Schulbehörden 
sitzen  ja  keine  Unmenschen,  sondern  vernünftige  und  patriotische  Männer. 

9.  Du  sollst  dir  überlegen,  ob  nicht  wirklich  ein  Unterschied  ist  zwischen 
Mann  und  Frau  und  zwischen  dem  Heldentum  des  Mannes  und  dem  Helden- 
tum der  Frau;  deshalb  darfst  du  dir  die  Frage  der  Koedukation  wohl 
wieder  zum  Problem  werden  lassen,  wenn  auch  du  schon  Geheimer  Studien- 
rat bist.  Denn  wir  brauchen  männliche  Männer  und  wir  brauchen  frau- 
liche Frauen,  und  jeder  Teil  hat  seine  besondere  Gabe  und  Aufgabe  im  Krieg. 

10.  Du  sollst  dich  freuen,  daß  es  aus  ist  mit  dem  Jahrhundert  des 
Kindes;  denn  das  war  ein  ganz  törichtes  Schlagwort.  Unsere  Heerführer 
sind  Männer  zwischen  50  und  70  Jahren,  und  auch  die  rührenden  Knaben, 
die  als  die  Jüngsten  so  todesmutig  hinausziehen  ins  Feld,  werden  als  ernste 
Männer  heimkehren  von  ihrer  schweren  Männerarbeit  und  auch  der  Zeit 
nachher^ihren  Stempel  aufdrücken. 

Richtlinien  [für  die  militärische  TorMldung    gibt   ein   im  Eeichsan- 

zeiger  veröffentlichterj  Ministerialerlaß.  Sie  sind  bestimmt  für  die  älteren 
Jahrgänge  der  Jugendabteilungen  während  des  gegenwärtigen  Kriegszustandes, 
haben  aber  darüber  hinaus  auch  eine  allgemeinere  Bedeutung  und  sind  mit 
ihrer  starken  Betonung  der  geistigen  Ausbildung  von  psychologischem 
Interesse.     Es  heißt  in  dem  Erlaß:; 

Vor  allen  Dingen  ist  Vaterlandsliebe,  Mut  und  Entschlossenheit  anzufeuern; 
Hingabe  für  das  Vaterland,  für  Kaiser  und  Reich  zu  entflammen  durch 
den  Gedanken'  an  die  ungeheure  Gefahr,  in  der  diese  sich  befinden. 

Es  ^ist  klar  [zu  machen,  daß  Deutschland  untergehen  würde,  wenn  wir 
nicht  siegen,  so  daß  wir  siegen  müssen,  und  jeder  einzelne  Vaterlandsver- 
teidiger bis   zum   jüngsten  hinab  den  festen  Willen  dazu  im  Herzen  trägt. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  511 

Die  vorzunehmenden  Übungen  werden  folgende  sein: 

Schnelles  lautloses  Antreten  in  den  einfachsten  Auf  Stellungsformen:  der 
Linie,  der  Gruppenkolonne.  Sammeln  in  denselben  Formen  im  Stehen 
und  in  der  Bewegung  nach  bestimmten  durch  den  Führer  angegebenen 
Richtungen.  —  Das  Zerstreuen  aus  diesen  Formen  und  das  schnelle  laut- 
lose Wiederzusammenschließen;  die  Jungmannschaft  ist  dabei  anzuhalten, 
Richtung  und  Fühlung  selbsttätig  einzunehmen.  Einige  einfache  Bewe- 
gungen in  der  Gruppenkolonne  ohne  Tritt  mit  Richtung  Veränderungen  auf 
Zuruf  und  Wink.  Marschübungen  mit  Unterweisungen  in  den  Marsch- 
regeln, namentlich  hygienischer  Natur.  Regelung  des  Schrittmaßes  und 
der  Geschwindigkeit.  Ein  Janger  freier  Schritt  ist  zu  erzielen.  Der  An- 
marsch und  Rückmarsch  zum  Übungsplatz  kann  ;  hierzu  ausgenutzt 
werden,;  die  allmähliche  Verlängerung,  die  Marschfähigkeit  steigern.  Lehre 
vom  Gelände  ist^  damit'  zu  verbinden.  —  Bildung  einer  Schützenlinie, 
Bewegung  von  Gruppen,  Zügen  im  Gelände,  stets  mit  überraschenden 
Übungen  im  Sammeln  verbunden,  um  die  Aufmerksamkeit  zu  wecken.  — 
Jede  Bewegung  derf  Jugendabteilungen  soll  den  Eindruck  von  Frische 
und  Munterkeit  machen,  ohne  daß  auf  exerziermäßige  Genauigkeit  gehalten 
wird.  Unbedingt  ^ist  aber  auf  pünktlichste  Folgsamkeit  gegenüber 
Zurufen  und  Befehlen  der  Führer  zu  halten.  Schnelles  Antworten  und 
Vortreten  Aufgerufener  ist  zu  erziehen.  Einfache  Lehre  vom  Gelände, 
seine  Bedeutung  undj  seine  Benutzung  für  den  Kampf,  mit  kurzer  Angabe 
über  die  heutige  Waffenwirkung  verbunden.  —  Geländebeschreibungen 
mit  Angabe  auch  der  kleinsten  Gegenstände  als  Vorbereitung  zum  Ziel- 
erkennen. —  Augenübungen  aller  Art.  —  Entfernungsschätzen.  —  Schnelles 
Schätzen  und  Abzählen  gleichartiger  Gegenstände.  —  Gedächtnisübungen 
als  Vorübung  für  Meldungen  über  angestellte  Beobachtungen.  —  Horch- 
übungen. —  Spurenlesen,  d.  h.  Ziehen  richtiger  Schlüsse  aus  den  im  Gelände 
gemachten  Beobachtungen,  t—  Genaues  und  unbedingtes  zuverlässiges 
Wiedergeben^  von  angestellten  Beobachtungen.  —  Richtiges  Weiter- 
geben von  kurzenj  Anordnungen.  —  Genaues  Zurechtweisen  anderer  im 
Gelände.  —  Gebrauch  von  Uhr,  Kompaß,  Fernsprecher,  Kenntnis  der  Morse- 
schrift. —  Benutzung  der  Karte.  —  Winkerdienst.  —  Mauer-  und  Baum- 
ersteigen. —  Kleine  Behelfsarbeiten:  Knotenbinden,  Herstellen  von 
Schwimmkörpern,  Flößen,'  Behelfsbooten,  Biückenstegen,  Beobachtungs- 
warten, Übergängen  aller  Art.  Ferner:  Zeltebau,  Hüttenbau,  Kochlöcher- 
graben, Feueranmachen'  und  i  Abkochen,  Lagereinrichtungen  aller  Art.  — 
Tragbahrenbau.  Erste  Hilfeleistungen  bei  Verwundeten.  —  Benutzung 
des  Geländes  als  Deckung  und  zur  Annäherung  an  den  Feind.  —  Einnisten 
von  Schützenlinien,  Anlage  von  Schützengräben.  —  Vorgehen  aus  einer 
Deckung;  Zurückgehen  in  eine  solche.  —  Lösung  ganz  einfacher  kleiner 
Aufgaben  zweier  Abteilungen  gegeneinander.  —  Erklärung  des  Vorposten- 
dienstes; Aufstellung  von  Vorposten  usw.  —  Bei  allen  diesen  Übungen 
ist  jede  Gelegenheit  zu  benutzen,  um  die  Jungmannechaft  mit  selbständigen 
Aufträgen  in  Ordonnanz-,  Verbindungs-,  Relais-,  Erkundungsdienst  zu 
versehen,  damit  sie  sich  an  Selbständigkeit,  Verantwortlichkeit,  Zu- 
verlässigkeit  gewöhnt.  ■ —  Alle  Mittel    sind  zu    benutzen,  um  Ausdauer 


612  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

und  Willen  der  Jungmannschaft  zu  stählen.  Kein  Auftrag,  den  sie 
einmal  übernommen  hat,  darf  von  ihr  im  Stiche  gelassen  werden.  Jeder- 
mann hat  seine  Pflicht  bis  zum  Äußersten  zu  .erfüllen.  —  Die  rein  körper- 
liche Ausbildung  durch  Freiübungen,  Gymnastik,  Laufübungen,  einfache 
Sportspiele  usw.  ist  in  die  bisher  abgehandelten  Jungdeutschland-Übungen 
hineinzulegen  und  besser  öfter,  als  jedesmal  lang  andauernd  zu  treiben. — 
In  den  Abendstunden  hat  einfacher  theoretischer  Unterricht  über 
Feld-,  Wach-  und  Lagerdienst  stattzufinden.  Vor  allen  Dingen  aber  ist 
auf  die  Herzen  der  Jugend  durch  Erzählung  von  den  Großtaten  der 
Väter  einzuwirken,  durch  Mitteilung  von  Kriegsnachrichten  der  Zorn 
gegen  den  Feind  zu  entfachen,  der,  zumal  im  Osten,  wo  er  deutschen 
Boden  betritt,  alle  Dörfer  in  Flammen  aufgehen  läßt  und  die  Einwohner 
vertreibt  oder  tötet. 

Das  Institut  für  Jugendkunde  in  Bremen,  das  im  Sommer  1911  be- 
gründet worden  ist  und  unter  der  Leitung  von  Oberlehrer  Dr.  Valentiner 
steht,  gibt  in  den  Statuten  über  seine  Absichten  und  Arbeitspläne  die 
folgende  Auskunft: 

„Das  Institut  verfolgt  den  Zweck,  Eltern  und  Lehrer  in  ihrem  Wirken  am 
Kinde  und  Jugendlichen  weiterzubilden,  sie  mit  den  Zielen,  Aufgaben  und  Er- 
gebnissen der  Jugendkunde  und  Jugendbildung  bekannt  zu  machen  und  die 
wissenschaftliche  und  praktische  Arbeit  auf  diesen  Gebieten  in  jeder  Weise 
zu  fördern. 

Diesem  Zwecke  dienen  vor  allem  folgende  Veranstaltungen : 

a)  Vorträge  über  Jugendkunde  und  Jugendbildung ; 

b)  eine  Bibliothek,  enthaltend  wissenschaftliche  Werke  und  Schriften  jeder 
Art  über  Jugendkunde  und  Jugendbildung,  sowie  Jugendschriften; 

c)  Arbeitsräume   und  Arbeitsmittel,   sowie    eine  praktischen    und  wissen- 
schaftlichen Zwecken  dienende  Kinderlesehalle ; 

d)]  wissenschaftliche  und  praktisch  wertvolle  Arbeiten  des  Institutes  (z.  B. 

Herstellung  von  Verzeichnissen  empfehlenswerter  Jugendschriften) ; 
e)  Sammlungen   und  Ausstellungen   von  Schülerarbeiten,  Jugendschriften, 

Bildern,    Spielsachen,    die  Hygiene   des  Kindes   betr.  u.  a.,    verbunden 

mit    Führungen    und    Referaten;     Schülervorstellungen,     bestehend    in 

Märchenerzählungen  mit  Lichtbildern  u.  ä." 
Aus  den  bisher  ins  Leben  gerufenen  Einrichtungen  und  den  in  die  Wege 
geleiteten  Veranstaltungen  sei  erwähnt,  daß  eine  wissenschaftliche  Bibliothek 
begründet  worden  ist,  die  der  Orientierung  über  die  jüngsten  jugendkund- 
lichen  Arbeiten  dienen  soll,  ferner  auch  eine  Sammlung  von  Jugendschriften 
in  dem  Bestreben,  den  Jugendlichen  im  Leihverkehr  gute  Bücher  zugänglich 
zu  machen,  daß  eine  große  von  Dr.  Valentin  er  geleitete  Arbeit  „Über  den 
freien  Aufsatz  von  Schülern  beiderlei  Geschlechts"  im  Gange  ist  und  bereits 
auf  der  Breslauer  Ausstellung  des  Bundes  für  Schulreform  Teilergebnisse 
vorlegte,  daß  weiterhin  im  Dezember  1913  eine  Reihe  von  Vorträgen 
die  Frage  der  Jugendschriften  behandelte,  nachdem  schon  früher  im  An- 
schluß an  eine  Ausstellung  von  Schülerarbeiten  (Zeichnungen,  Knet-  und 
Klebearbeiten)  eine  Vortragsreihe  veranstaltet  worden  war,  und  daß  schließ- 


Kl^e  Beiträge  und  Mitteilungen.  513 

lieh  auch  eine  Beteiligung  an  den  Arbeiten  der  Sektion  für  Jugendkunde 
im  Bunde  für  Schulreform  stattfindet.  Für  dieses  Jahr  ist  geplant,  10000 
Schulaufsätze  nebst  anderen  Schülerarbeiten  auszustellen.  Das  Institut  er- 
hofft auch,  die  Mittel  zur  Gründung  einer  Kinderlesehalle  zu  erhalten,  um 
zugleich  mit  der  literarischen  Anregung  und  Erziehung  der  Kinder  niederer 
Schichten  die  Gelegenheit  zum  Studium  der  Psychologie  der  kindlichen 
Lektüre  zu  finden. 

Bas  pädagogisch-psychologische  Laboratorinm  an  der  Landeslehrer- 
akademle  in  Wien    erstattet    in    willkommener    ausführlicher   Darstellung 
den  Bericht    über    sein    arbeitsreiches    erstes    Studienjahr.     Leiter    des    im 
Mai  1913  gegründeten  Institutes  ist  der  verdienstliche  Professor  Dr.  Willi- 
bald   Kammel.      Für    das    Jahr    1913 — 1914    hat    der    nordösterreichische 
Landesausschuß  3000  Kr.  bewilligt  und  diese  Unterstützung  auch  für  weiter 
in  Aussicht  gestellt.     Untergebracht  ist  das  Laboratorium  in  einem  geräu- 
migen Zimmer    des    n.-ö.   Pädagogiums    in  Wien    (I.  Bezirk,  Hegelgasse  12 
oder  Schellinggasse  11).     Für  die  zweckentsprechenden  Einrichtungsgegen- 
stände wie  Kasten,  Experimentiertische    und  dergleichen    hat  ebenfalls  die 
Landesverwaltung  Sorge  getragen.    Elektrischer  Strom  kann  als  Licht-  und 
Kraftquelle  benützt  werden.     Ein  Schuldiener  und   ein  zweiter  Diener,   der 
Mechaniker    ist,    stehen    für    die    Bedürfnisse    des    Laboratoriums    zur  Ver- 
fügung.    Wie    die    meisten    psychologisch-pädagogischen  Laboratorien    ver- 
folgt auch  das  an  der  n.-ö.  Landes-Lehrerakademie  einen  zweifachen  Zweck: 
1.  Es  wird   dort   die  Pädagogik   als   empirische  Forschung  gepflegt.     2.  Es 
will  Lehrer  und  Lehrerinnen  verschiedener  Schulkategorien  und  allen  an  der 
Erziehung  interessierten  Personen  zur  Übermittlung  theoretischer  und  prak- 
tischer Kenntnisse    auf    dem   Gebiete    der    Pädologie    dienen.     Dem    ersten 
Punkte  hat  der  Leiter  einstweilen  durch  2  Veröffentlichungen,  denen  andere 
bald    folgen,    entsprochen  (Über    ästhetische    oder    außerästhetische  Gefühle 
und   Urteilsreaktionen    bei    Schulkindern     [Pharus,    V.  Jahrg.]:    Eine    neue 
Methode   zur   Bestimmung    der   Ermüdbarkeit    mit   Demonstrierung    eines 
neuen  Gewichtsdoppelästhesiometers  [Kösel,   Kempten  1914]),  dem  zweiten 
durch  Vorträge.     Außer    den    regelmäßigen    an    der  Lehrer-Akademie    hielt 
der  Leiter   30  Vorträge,   die  von   mehr    als  1200  Personen  besucht    waren. 
Ein  schon  reiches  Instrumentarium  und  eine  planmäßig  angelegte  Bücherei 
dienten  als  Arbeitsmittel. 

Das  reichhaltige  Verzeichnis  der  hierzu  im  Institute  ausgeführten  Unter- 
suchungen, von  denen  die  meisten  im  Zusammenhange  mit  den  Arbeiten 
für  die  geplante  Psychographie  einer  Schulklasse  in  Verbindungen  stehen, 
dürfte  allgemein  interessieren  und  brauchbare  Anregungen  geben: 

1.  Über  ästhetische  oder  außerästhetische  Gefühls-  und  Urteils- 
reaktionen bei  Schulkindern.  Die  Versuchspersonen  dieser  Untersuchung 
waren  44  Schüler  der  I.  Klasse  B  der  Staatsrealschule  im  18.  Wiener  Bezirke. 
Der  Leiter  des  Laboratoriums  konnte  dadurch,  daß  er  seine  Vpn.  zu  einer  spon- 
tanen Betätigung  des  Gefühls  und  Urteils  veranlaßte,  zeigen,  daß  sich  seine  Vpn. 
bei  der  Prüfung  des  Farbensinns  in  ihren  Gefühls-  und  Urteilsreaktionen  in  zwei 
Dritteln  von  allen  Fällen  von  außerästhetischen  Nebenassoziationen  leiten  ließen, 
eine    Tatsache,   die,    wenn   weitere  Untersuchungen   sie   verifizieren,   intensivere 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Paycliologie.  33 


514  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Pflege    des  Farbensinns   bei   Schulkindern  heischt,    damit    ihr    außerästhetisches 
Urteilen  allmählich  in  ein  ästhetisches  hinübergeleitet  werde. 

2.  Untersuchung  der  zeichnerischen  Begabung.  An  der  Untersuchung 
beteiligten  sich  23  Schüler  der  I.  Bürgerschulklasse  der  Übungsschule  des  n.-ö. 
Landeslehrerseminars  und  24  Schüler  der  3.  Klasse  B  derselben  Anstalt.  Den 
Vpn.  war  als  Aufgabe  gestellt  worden,  ein  kleines  Wohnhaus  mit  allem,  was  da- 
zu gehört,  1.  zu  zeichnen,  2.  zu  modellieren.  Da  die  Schüler  beider  Klassen  bis 
zum  Tage  des  Experimentes  noch  keinen  Unterricht  im  Modellieren  erhalten 
hatten  und  gerade  die  Modellierarbeiten  bei  den  älteren  Schülern  weit  besser 
als  die  Zeichnungen  ausgefallen  sind  und  bei  den  Volksschülern  sich  beide  Arten 
der  Bearbeitung  dieser  Aufgabe  als  gleichwertig  erwiesen,  so  zeigen  diese  ver- 
gleichenden Untersuchungen  im  plastischen  und  zeichnerischen  Darstellen  neuer- 
dings, wie  namhafte  Vertreter  der  experimentellen  Pädagogik  recht  haben  (Meu- 
mann,  Kerschensteiner,  Lay  u.  a.),  wenn  sie  verlangen,  daß  Zeichnen  und  Modellieren 
nicht  nur  Lehrgegenstand,  sondern  im  Sachunterricht  geradezu  Unterrichtsprinzip 
sein  sollen.  Die  Untersuchungen  werden  im  kommenden  Schuljahre  in  größerem 
Umfange  durchgeführt  werden. 

3.  Anthropometrische  Messungen  der  Schüler  der  3.  Klasse  B  der  Übungs- 
schule des  n.-ö.  Landeslehrerseminars.  Gemessen  wurden  die  Körperhöhe,  der 
Brustumfang  (Inspirium  und  Exspirium),  das  Körpergewicht.  Die  Messungen 
wurden  während  des  Schuljahres  fortgesetzt. 

4.  Bestimmung  der  Reaktionsweise  bei  Kindern  nach  der  Methode  der 
Häufigkeitskurven.  Schüler  der  Klassen  I B,  II A  und  III B  der  Übungsschule. 
Die  Versuche  wurden  mit  akustischer  Reizung  und  chronoskopischer  Registrie- 
rung durchgeführt. 

6.  Bestimmung  der  individuellen  Taktart  zweier  Schüler  der  I.  Klasse 
der  Übungsschule  mit  Hilfe  der  graphischen  Registrierung. 

6.  Ermüdungsmessungen  wurden  vorgenommen  mit  dem  Ergographen 
nach  Dubois  und  dem  Gewichtsdoppelästhesiometer  nach  Kammel.  Als  Versuchs- 
personen dienten  bei  den  ergographischen  Messungen  teils  Erwachsene,  teils 
Schüler.  Bei.  den  ästhesiometrischen  Untersuchungen  waren  Schüler  der  I.  Klasse 
B,  der  5.  Klasse  A  und  B  der  Staatsrealschule  im  18.  Wiener  Bezirk  Versuchs- 
personen, Das  Ergebnis  der  letzteren  Untersuchungen  ist  auf  der  83.  Tagung  deut- 
scher Naturforscher  und  Ärzte  in  Wien,  September  1913,  mitgeteilt  worden;  das 
Ergebnis  der  ergographischen  Messungen,  die  sich  zum  Teil  über  mehrere  Wochen 
erstrecken,  wird  in  Kürze  publiziert  werden. 

7.  Urteile  von  Schülern  über  Funddiebstahl  und  ,, Naschen".  Diese 
Umfragen  wurden  unternommen,  um  diejenigen  Ginzyckis  in  Berlin  zu  über- 
prüfen. 

8.  Umfrage  über  die  Frage  der  Koedukation  und  Koinstruktion. 
Die  11  Fragen  enthaltenden  Fragebögen  wurden  zahlreichen  Lehrern,  welche 
längere  Zeit  an  Schulen  mit  Koedukation  und  Koinstruktion  tätig  waren,  mit 
der  Bitte  übergeben,  ihre  Erfahrungen  niederzuschreiben.  Die  Sammlung  des 
Materials  ist  noch  nicht  abgeschlossen. 

9.  Prüfung  des  Zahlengedächtnisses  von  sechs  Schülern  der  3.  Klasse 
B  der  Übungsschule  nach  der  Methode  Ranschburgs. 

10.  Prüfung  der  Suggestibilität  aller  Schüler  der  3.  Klasse  B  mit  Hilfe 
von  Erinnerungsvorgängen.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  ein  sogenannter  „Sugge- 
stivkasten" hergestellt,  der  6  Objekte  enthielt.  Unter  den  Fragen,  welche  beim 
Verhör  an  jeden  Schüler  einzeln  gerichtet  wurden,  befanden  sich  einige  Sug- 
gestivfragen, um  den  Widerstand  der  Schüler  gegen  dieselben    zu    kontrollieren. 

11.  Bestimmung  des  interindividuellen  Vergleiches  der  Vorstellungs- 
weise von  Schulkindern.  Die  umfangreichen  experimentellen  Untersuchungen 
dieser  Frage  nahmen  beinahe  einen  Monat  in  Anspruch  und  ergaben  die  Bestim- 
mung der  Vorstellungsweise  der  Schüler  einer  Klasse  mit  Hilfe  der  Fehler,  die 
bei  der  Ausführung  von  einfachen  Rechenoperationen  in  den  Operationszeichen 
gemacht  wurden. 


Kleine  Beiträge  wad  Mitteilungen.  515 

12.  Umfrage  über  den  Genuß  geistiger  Getränke.  Die  Umfrage  erstreckt 
sich  zunächst  nur  auf  die  Schüler  der  3.  Klasse  B  der  Übungsschxile.  Das  Er- 
gebnis ist  nebenbei  bemerkt  als  ein  günstiges  zu  bezeichnen,  da  nur  zwei  Schüler 
(unter  23)  täglich  regelmäßig  alkoholische  Getränke  genießen. 

13.  Über  Intelligenzprüfungen  einiger  Schüler  nach  dem  Binet-Simon- 
schen  Textverfahren.  Untersucht  wurden  Schüler  der  Klassen  I  B,  II A  u.  HI  B 
der  Übungsschule.  Die  Prüfungsergebnisse  sprechen  neuerdings  für  die  Brauch- 
barkeit des  Binet-Simon  sehen  Verfahrens  zur  Ermittlung  der  Intelligenz  eines 
Schulkindes.  Nichtsdestoweniger  sollen  im  nächsten  Schuljahre  an  den  einzelnen 
Tests  Modifikationen  vorgenommen  werden,  die  diese  Prüfungsmittel  für  Wiener 
Kinder  noch  geeigneter  machen  dürften. 

14.  Das  Ideal  von  Kindern  (künftiger  Beruf).  Unter  den  24  Vpn.  der  3. 
Klasse  B  der  Übungsschule  bevorzugten  beinahe  die  Hälfte  der  Schüler  aka- 
demische Berufe  (Ingenieur)  und  den  Wehrstand,  eine  Interessenrichtung,  die 
uns  bei  Knaben  wohlsituierter  Eltern  nicht  überrascht. 

15.  Überprüfung  der  von  Univ.-Prof.  Marbe  in  Würzburg  formulier- 
ten Gleichmäßigkeit  des  psychischen  Geschehens  in  bezug  auf  die 
Nennung  einer  beliebigen  Farbe  oder  Zahl.  Versuchspersonen  waren  die  Schüler 
der  Kltissen  III A,  III B,  IV  und  V  der  Volksschule  und  der  I.  Klasse  der  Bürger- 
schule der  Übungsschule  des  n.-ö.  Landeslehrerseminars,  des  IV.  Jahrganges 
dieser  Anstalt,  des  IV.  Jahrganges  des  k.  k.  Lehrerbildungsanstalt  im  IIL  Bezirke 
Wiens,  die  Schülerinnen  von  vier  Klassen  einer  Mädchenbürgerschule  in  Wien 
und  die  Schülerinnen  von  sieben  Klassen  einer  Mädchenvolksschule.  Diese 
Umfrage  bestätigt  im  großen  und  ganzen  Marbes  Ansicht. 

16.  Untersuchung  des  unmittelbaren  Behaltens  (Gedächtnis).  Es  wur- 
den mit  den  Schülern  der  III.  Klasse  B  zwei  Parallelversuche  durchgeführt,  ein- 
mal mit  sinnvollen,  das  anderemal  mit  sinnlosen  Wörtern.  Im  nächsten  Schul- 
jahr soll  vor  allem  deis  Problem  des  unmittelbaren  und  mittelbaren  Behaltens 
des  Lehrstoffes  in  einigen  Klassen  der  Übungsschule  und  des  Seminars  durch- 
geführt werden, 

17.  Prüfung  der  Qualität  freier  Assoziationen.  Den  18  Vpn.  der  III. 
Klasse  B  wurden  Reizwörter  in  Ranschburgs  Mnemometer  dargeboten.  Die  Er- 
gebnisse wurden  als  Kontrolle  zu  den  Intelligenzprüfungen  verwendet.  Von  einer 
chronoskopischen  Registrierung  wurde  bei  diesen  Experimenten  abgesehen,  da 
der  zeitliche  Ablauf  derartiger  Assoziationen  in  zahlreichen  Versuchen  mit  Hilfe 
des  Schallschlüssels  nach  Hempel  und  des  Hipp  sehen  Chronoskopes  im  Monat 
Juni  gemessen  werden  wird. 

18.  Bestimmung  der  Intensität  und  des  Gleichmaßes  der  Konzen- 
tration der  Aufmerksamkeit  nach  der  Methode  von  Bourdon.  Auch  das 
Ergebnis  dieses  Experimentes  wurde  bei  der  Beurteilung  der  Intelligenz  der 
Schüler  der  IH.  Klasse  B  herangezogen. 

19.  Das  liebste  Spielzeug  der  Schüler  der  IH.  Klasse  B.  Wie  zu  erwarten 
war,  wählten  fast  90°/o  aller  Schüler  sich  bewegende,  die  konstruktive  Tätigkeit 
fördernde  Spielzeuge. 

20.  Die  Korrelation  zwischen  der  Begabung  für  Mathematik  und 
Gesang.  Als  Vpn.  dienten  die  Schüler  des  III.  Jahrganges  A  und  B  des  n.-ö. 
Landeslehrerseminars.  Diese  Untersuchung  wurde  durchgeführt,  um  die  in 
letzter  Zeit  in  einigen  pädagogisch-psychologischen  Zeitschriften  erschienenen  Ar- 
beiten über  diese  Frage  einer  Überprüfung  zu  unterziehen. 

21.  Über  die  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Unterrichtsfächer 
im  Urteile  der  Schüler.  Im  Anschlüsse  an  die  Arbeit  Kammeis  im  „Pharus" 
(IV.  Jahrgang,  1913)  hat  Fräulein  Klima  bei  den  Schülerinnen  einer  Bürgerschule 
in  Wien  eine  Umfrage  über  die  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Unterrichts- 
gegenstände veranstaltet.  Als  beliebtester  Gegenstand  ist  bei  ihren  Vpn.,  die 
Mädchen  waren,  Turnen  zu  nennen,  während  die  Geographie  und  Geschichte 
von  denselben  Mädchen  abgelehnt  wurden.  Das  Material  der  Umfrage  bei  den 
Schülern    der   III.  Klasse  B    der  Übungsschule    wurde    noch    nicht   verarbeitet, 

33* 


516  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

ebenso  noch  nicht  das,  welches  von  den  Schülern  der  I.  Klasse  der  Bürgerschule 
dieser  Anstalt  abgeliefert  wurde.  Zweck  der  letzteren  Umfrage,  welche  mit  der 
besonderen  Erlaubnis  des  Herrn  Seminarlehrers  A.  Strolz  vorgenommen  wurde, 
war,  festzustellen,  wie  diesen  Schülern  der  Arbeitsunterricht  gefallen  h'atte.  Die 
provisorische  Sichtung  des  Materials  ergab,  daß  der  Arbeitsunterricht  die  Vpn. 
bis  auf  eine  partielle  Ablehnung  (Modellieren)  sehr  stark  interessiert  hatte. 

22.  Versuche  über  die  Auffassung  simultan  dargebotener  homogener 
Reize,  welche  in  dem  Mnemometer  nach  Ranschburg  optisch  vorgeführt  wurden. 
Für  die  23  Schüler  der  III,  Klasse  B  der  Übungsschule  wurden  die  Reizkarten 
No.  I — III  bei  einer  Exposition  des  Reizbildes  von  0,1  Sekunde  =  100  Sigmen 
verwendet.  Aus  den  protokollarischen  Aufnahmen  sei  kurz  mitgeteilt,  daß  nur 
je  sieben  Schüler  imstande  waren,  drei,  beziehungsweise  vier  homogene  Reize  zu 
erfassen,  obgleich  die  tachistoskopische  Darbietung  länger  dauerte  als  bei  den 
Experimenten  von  James  Catell,  Goldscheider,  Freeman  und  anderen. 

23.  Umfrage,  betreffend  die  Freundschaften  der  Schüler.  Die  Ant- 
worten, welche  die  Schüler  der  III.  Klasse  B  darauf  gaben,  sind  als  Ergänzungen 
der  Frage  nach  den  Idealen  der  Schüler  aufzufassen. 

24.  Aufnahmen  der  Mimik  der  Aufmerksamkeit  nach  der  von  Univ.- 
Prof.  Sommer  erfundenen  graphischen  Methode.  Vpn.:  Schüler  der  Vorbereittmgs- 
klasse  des  n.-ö.  Landeslehrerseminars  und  zwei  erwachsene  Personen. 

25.  Bestimmung  des  Einflusses  der  Aufmerksamkeit  auf  die  Atem- 
tätigkeit mit  Hilfe  der  kymographischen  Registrierung.  Mehrere  Schüler  der 
III.  Klasse  B  der  Übungsschule  dienten  als  Vpn. 

26.  Tachistoskopische  Leseversuche,  ausgeführt  mit  allen  Schülern  der 
III.  Klasse  B  der  Übungsschule.  Als  Tachistoskop  wurde  das  Mnemometer  von 
Ranschburg  verwendet  und  die  Reizbilder  100  Sigmen  exponiert.  Diese  für  die 
Kenntnis  des  Leseprozesses  wichtigen  Experimente  werden  im  nächsten  Schul- 
jahre mit  Schülern  der  ersten  Klasse  vorgenommen  und  dann  veröffentlicht 
werden. 

Die  internationale  pädagogische  Fachpresse  wurde  in  der  Über- 
sicht auf  der  „Bugra",  der  internationalen  Ausstellung  für  Buchgewerbe 
und  Graphik  in  Leipzig,  gezeigt.  Es  war  wohl  das  erste  Mal,  daß  dieser 
schwierige  Versuch  durchgeführt  und  bei  dem  Zusammentreffen  einer  Reihe 
ungewöhnlich  günstiger  Umstände  gelungen  ist.  Die  lehrreiche  Veranstaltung 
ist  dem  Lehrer  Max  Döring  zu  danken  gewesen. 

Man  zählt  zurzeit  allein  im  deutschen  Sprachgebiete  nicht  weniger 
als  rund  500  pädagogische  Zeitschriften  und  andere  Periodica.  Sie  waren 
zum  größten  Teile  in  Sachgruppen  ausgestellt  und  gaben  in  sehr  anschau- 
licher Weise  ein  Bild  von  dem  vielgestaltigen  pädagogischen  Leben  unserer 
Zeit.  Man  braucht  z.  B.  nur  an  irgend  eine  pädagogische  Frage  zu  denken 
—  sagen  wir  „Jugendfürsorge"  oder  „Weibliche  Bildung"  oder  „Psycho- 
logische Pädagogik"  —  und  man  hat  in  der  Anzahl  der  aufgelegten  Zeit- 
schriften einen  guten  Maßstab  für  die  Aktualität  und  zugleich  für  die  ein- 
ander oft  widerstrebenden  Strömungen  eines  dieser  Sondergebiete. 

In  einer  historischen  Abteilung  wurde  die  Entwicklung  der  deutschen 
pädagogischen  Presse  gezeigt.  Sie  setzt  etwa  in  der  Mitte  des  18.  Jahr- 
hunderts ein  und  schreitet  vom  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  bis  in  unsere 
Zeit  hinein  geradezu  stürmisch,  um  nicht  zu  sagen  „beängstigend"  vorwärts. 
Von  besonderem  Reiz  ist  es,  die  Organe  namhafter  Pädagogen  (Basedow, 
Pestalozzi,  Diesterweg,  Dittes  u.  a.)  in  den  Originalen  vor  sich  zu 
sehen.     An  einer  Reihe  sehr  anschaulicher  statistischer  Tafeln  konnte  man 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen.  517 

sich  über  die  Entwicklung,  Verbreitung  und  den  Umfang  der  pädagogischen 
Presse  leicht  orientieren. 

Die  pädagogische  Presse  des  Auslandes  kam  wohl  zum  ersten 
Male  systematisch  gesammelt  in  übersichtlichen  Zusammenstellungen  zur 
Geltung.  Auch  hier  wirkte  ganz  überraschend  die  ungemeine  Reichhaltigkeit. 
Der  Gesamteindruck  lehrte  auf  das  eindringlichste  vor  allem  eins:  die  päda- 
gogische Idee  ist  zurzeit  lebendiger  denn  je  zuvor,  sie  führt  ein  kräftiges 
Eigenleben  in  allen  Ländern  der  Welt.  Es  sei  nur  hingewiesen  auf  die 
außerordentlich  reichhaltige,  selten  gut  ausgestattete  Presse  der  Vereinigten 
Staaten  von  Nordamerika  und  auf  die  in  mehr  als  einer  Beziehung  sehr 
interessante  Japans,  die  z.  B.  in  vielen  Punkten  das  deutsche  Vorbild  verrät. 

Mitteilnngen.  1.  Im  81.  Halbjahre  der  Wissenschaftlichen  Vorlesungen 
des  Berliner  Lehrervereins  (Winter  1914/15)  sind  für  Pädagogik  und  Psycho- 
logie die  folgenden  Veranstaltungen  angesetzt:  Oberlehrer  Dr.  Buchenau: 
A.  Geschichte  der  Pädagogik.  III.  Semester:  Rousseau.  Zeitalter  des 
Neuhumanismus.  Romantik  und  Reaktion.  Mit  Übungen  über  Fichte, 
W.  V.  Humboldt  und  Schleiermacher.  Sozialpädagogen  der  Gegenwart: 
Rißmann,  Kerschensteiner,  Tews,  F.  W.  Foerster.  Darstellung  und  Kritik. 
Dr.  Poppelreuter:  I.  Vorlesung:  Psychologie  an  Hand  der  Beispiele: 
Lernen,  Sprechen,  Lesen,  Schreiben,  Rechnen,  Zeichnen.  IL  Praktische 
Übungen  im  Anschluß  an  Themata  der  Vorlesung.  IIL  Leitung  und 
Besprechung  selbständiger  Arbeiten.  Oberlehrer  Dr.  Buchenau: 
Schwierige  Kapitel  aus  der  Ostermannschen  Psychologie.  (Zugrundegelegt 
wird  die  fünfzehnte  Auflage.  Oldenburg,  1914.)  Zur  Behandlung  kommen 
u.  a.  folgende  Gebiete:  Entstehung  der  Raumvorstellung;  Gedächtnis, 
Apperzeption,  Aufmerksamkeit;  die  Gemütsbewegungen;  Kinderpsycholo- 
gisches. Es  sollen  von  den  Teilnehmern  auch  kleinere  Arbeiten  geliefert 
werden.  An  die  einstündige  Vorlesung  schließt  sich  ein  30 — 40  Minuten 
umfassendes  Kolloquium  zur  Klärung  der  Probleme.  —  Den  früheren  und 
jetzigen  Teilnehmern  an  den  psychologischen  Vorlesungen  und  Übungen 
bietet  sich  in  der  Arbeitsgemeinschaft  für  exakte  Pädagogik  unter 
der  wissenschaftlichen  Leitung  des  Herrn  Dr.  0.  Lipmann  Gelegenheit  zu 
selbständigen  pädagogisch-psychologischen  Arbeiten.  Es  werden  dort  Unter- 
suchungen angestellt  über  Normalleistungen  der  Schüler  im  Rechnen  und 
im  Deutschen  und  über  Altersfortschritte  in  den  Leistungen.  Ferner 
werden  die  Versuche  mit  einer  Fehlerstatistik  und  psychologischen  Fehler- 
analyse fortgesetzt.  Außerdem  steht  es  jedem  Mitgliede  frei,  Arbeiten  nach 
eigener  Wahl  anzufertigen. 

2.  Im  Wintersemester  1914/15  finden  sich  an  der  Hochschule  für  Frauen 
in  Leipzig  unter  der  Gruppe  Pädagogik  die  folgenden  Vorlesungen  und 
Übungen  verzeichnet:  Spranger,  Systematische  Pädagogik  mit  einem  Abriß 
der  Kinderpsychologie  (Pädagogik  III.  Teil).  Brahn,  Zeitfragen  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichts.  Gedan,  Historisch-pädagogische  Übungen, 
IL  Teil:  Rousseaus  „Emil".  Spranger,  Friedrich  Fröbels  „Menschen- 
erziehung" von  1826  (mit  schriftlichen  und  mündlichen  Übungen).  Brahn, 
Übungen  zur  experimentellen  Pädagogik.     Im    Institut   für    experimentelle 


518  Literaturbericht. 


Pädagogik:  a)  für  Anfänger;  b)  für  Fortgeschrittene:  Schulorganisatorische 
Fragen.  Kretzschmar,  Übungen  zur  vergleichenden  Kinderforschung: 
Ursprung  und  Entwicklung  des  Ichbewußtseins.  (Im  Institut  für  Kultur- 
und  Universalgeschichte.)  Prüfer,  Methodisch-praktische  Übungen:  Aus- 
gewählte Kapitel  aus  der  Kinderpsychologie.  (Im  Institut  für  Erziehungs- 
kunde. Die  Probelektionen  werden  in  einer  Klasse  des  Seminars  für 
Kindergärtnerinnen  abgehalten.)  —  Einführung  in  die  Benutzung  des  im 
Erziehungsmuseum  gesammelten  Materials  durch  die  Assistentin  des  Museums. 
—  Kursus  für  Lehrerinnen  zur  Einführung  in  die  Fröbelsche  Kindergarten- 
praxis. 

3.  Des  Krieges  wegen  sind  aufgehoben  worden:  der  IV.  Internationale 
Kongreß  für  Volkserziehung  und  Volksbildung,  der  in  der  Zeit  vom  25.  bis 
29.  Sept.  in  Leipzig  abgehalten  werden  sollte,  und  der  IV.  Kongreß  für 
Jugendkunde  und  Jugendbildung,  den  der  Bund  für  Schulreform  für  die 
1.  Oktoberwoche  in  Köln  festgesetzt  hatte. 

4.  Am  9.  Juli  d.  J.  ist  zu  Dölau  bei  Halle  a.  S.  Pastor  Otto  Flügel, 
einer  der  Führer  der  Herbartschen  Schule,  Mitherausgeber  der  „Zeitschr.  für 
Phil.  u.  Päd.",  gestorben. 

5.  An  der  Kölner  Handelshochschule  hat  sich  der  Provinzialschulrat  a.  D. 
Dr.  Wilhelm  Kahl  als  Privatdozent  für  Pädagogik  habilitiert. 


Literaturbericht. 

Friedrich  Überwegs  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie.  Dritter 
Teü:  Die  Neuzeit  bis  zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  11.  mit  einem 
Philosophen-  und  Literatoren-Register  versehene  Auflage.  Vollständig  neu 
bearbeitet  und  herausgegeben  von  Dr.  Max  Frischeisen-Köhler.  Mittler  & 
Sohn.  Berlin  1914.  XI  und  439  und  144*  S.  M.  10  — ,  geb.  M.  11,75. 
Nach  dem  Todes  Heinzes  ist  es  offenbar  nicht  mehr  möglich  gewesen,  die 
Bearbeitung  aller  vier  Teile  des  „Überweg-Heinze"  einem  Herausgeber  zu 
übertragen,  und  so  haben  sich  denn  vier  Gelehrte  in  die  Aufgabe  geteilt.  Was 
besonders  diesen  dritten  Band  betrifft,  den  Frischeisen-Köhler  bearbeitet 
hat,  so  ist  er  in  wesentlichen  Teilen  völlig  umgestaltet.  Die  Anordnung  und 
Verteilung  des  Stoffes  ist  ganz  verändert.  „Nahezu  der  gesamte  Text  des  Groß- 
gedruckten (der  eine  allgemeine -Würdigung  der  Bewegungen  und  der  Denker 
gibt)  und  beinahe  die  Hälfte  von  dem  Texte  des  Kleingedruckten  (der  eine 
Reproduktion  der  Lehren  im  engen  Anschluß  an  die  Hauptschriften  der  Philosophen 
gibt)  ist  neu  geschrieben  worden."  Die  kritischen  Betrachtungen  Überwegs 
zu  den  verschiedenen  Systemen  glaubte  der  neue  Herausgeber  durchweg  streichen 
zu  sollen,  wie  er  auch  die  „Werturteile  über  die  neuere  Literatur"  offenbar  dem 
jetzigen  Charakter  des  Werkes  nicht  mehr  entsprechend  fand.  Manche  Neuerungen, 
die  er  dem  Werke  zugute  kommen  lassen  möchte,  hat  der  Herausgeber  bei 
dieser  Auflage  noch  nicht  durchführen  können,  so  daß  sie  in  einem  gewissen 
Sinn  als  Durchgangsstadium  zu  bezeichnen  ist.  Immerhin  wird  es  allgemein 
Befriedigung  hervorrufen,  daß  nun  in  absehbarer  Zeit  der  ganze  Überweg  in  einer 
dem  Stande  der  gegenwärtigen  Forschung  angepaßten  Neubearbeitung  vorliegen 
wird,  denn  dieses  Werk  hat  sich  allmählich  in  allen  Kreisen,  die  mit  der  Philo- 
sophie Berührung  haben,  unentbehrlich  gemacht. 

Berlin.  Werner  Bloch. 


Literaturberi  cht.  519 


\ 
Jahrbücher    der  Philosophie.    Eine  kritische  Übersicht  der  Philosophie  der 
Gegenwart.     Herausgegeben  in  Gemeinschaft  mit  zahlreicl^n  Fachgenossen  von 
Max     Frischeisen-Köhler.      2.     Jahrgang.      Mittler    &    Sohn.     Berlin    1914. 
V  u.  240  S.,  geh.  6  Mk.,  geb.  7,50  Mk. 

Der  vorliegende  zweite  Jahrgang  der  Jahrbücher  der  Philosophie  ist  im 
wesentlichen  der  praktischen  Philosophie  gewidmet.  Er  enthält  Berichte  über 
„Die  Grundlagen  der  Werttheorie"  von  Oskar  Kraus,  „Die  Freiheit  des  Willens" 
von  Otto  Braun,  die  „Ethik"  von  Max  Scheler,  die  „Soziologie"  von 
Othmar  Spann,  die  „Pädagogik"  von  Rudolf  Lehmann,  „Die  Bedeutung  der 
Psychologie  für  Pädagogik,  Medizin,  Jurisprudenz  und  Nationalökonomie"  von 
August  Messer.  Hier  interessieren  naturgemäß  am  meisten  die  Aufsätze  von 
Rudolf  Lehmann  und  August  Messer.  Der  Bericht  über  die  pädagogische 
Literatur  scheint  mir  unter  allen  Aufsätzen  dieses  Bandes  derjenige  zu  sein,  der 
am  meisten  seiner  Aufgabe  gerecht  wird.  Er  bietet  eine  großzügige  Orientierung 
über  die  verschiedenen  Tendenzen,  die  sich  auf  dem  Gebiet  der  Pädagogik 
geltend  machen,  er  geht  ruhig  und  sachlich  auf  die  Lehren  der  sich  bekämp- 
fenden Schulen  ein,  sucht  jedem  gerecht  zu  werden  und  hält  sich  mit  der  Kritik 
in  solchen  Grenzen,  daß  der  letzte  Zweck  des  Ganzen,  eine  Orientierung  über 
die  gegenwärtige  pädagogische  Literatur  nicht  gestört  wird.  Gewundert  hat  mich 
nur,  daß  die  von  Wynecken  ausgehende  pädagogische  Bewegung  keinerlei  Er- 
wähnung gefunden  hat.  Auch  die  kurze  Orientierung  Messers  über  die  päda- 
gogische Psychologie  ist  lesenswert,  insofern  sie  immerhin  den  Versuch  macht, 
die  einzelnen  Arbeitsgebiete  vom  Standpunkt  des  Ganzen  aus  zu  überblicken. 
Aus  Gründen  aber,  die  wohl  mehr  in  der  Sache  als  am  Verfasser  liegen,  — 
die  ganze  pädagogisch-psychologische  Bestrebung  ist  ja  einerseits  noch  jung 
und  andererseits  in  ihrer  wechselseitigen  Bestimmtheit  zur  philosophischen 
Pädagogik  noch  nicht  sicher  festgelegt  —  bietet  dieser  Überblick  weniger  große 
und  allgemeine  Gesichtspunkte,  als  eine  bloße  Ordnung  und  Nebeneinander- 
stellung der  wichtigsten  Erscheinungen.  Durchaus  begründet  scheint  mir  der 
Hinweis  auf  die  Gefahren  eines  sich  entwickelnden  pädagogischen  „Psychologis- 
mus" zu  sein.  Es  wäre  traurig,  wenn  auch  die  Pädagogik  vor  diesem  jetzt  ja  landes- 
üblichen Geschick  aller  philosophischen  Disziplinen  nicht  bewahrt  werden  sollte. 
Berlin.  Werne^r  Bloch. 

Dr.  phil.  Friedrich  Karl  Schumann:  Religion  und  Wirklichkeit 
Kritische  Prolegomena  zu  einer  Religionsphilosophie.  —  Quelle  und  Meyer 
Leipzig  1913.  —  152  S.  — 
Aus  dem  Ganzen  der  religionsphilosophischen  Fragestellung  hebt  diese  Arbeit 
ein  Problem  heraus,  das  sie  zum  Gegenstande  der  wesentlich  kritisch  gerichteten, 
Untersuchung  macht:  die  Frage  nach  dem  Wirklichkeitsanspruch  der  Religion 
genauer  gesagt  nach  dem  Rechte,  das  dieser  Wirklichkeitsanspruch  vor  einer 
wissenschaftlichen,  philosophischen  Prüfung  ausweisen  kann.  Und  zwar  stellt  sie 
sich  im  wesentlichen  die  Aufgabe,  einige  besonders  charakteristische  derjenigen 
neueren  Versuche  einer  religionsphilosophischen  Grundlegung,  die  in  ihrer  Methode 
unter  dem  Einflüsse  des  neukantischen  Kritizismus  stehen,  daraufhin  zu  prüfen, 
ob  sie  dem  Wirklichkeitsanspruch  der  Religion  gerecht  werden,  ihn  verständlich 
machen  und  so  die  Möglichkeit  bieten,  die  zentrale  Aufgabe  der  Religions- 
philosophie als  Wissenschaft,  nämlich  die  organische  Eingliederung  der  Religion 
in  das  Ganze  des  Geisteslebens  und  seine  Gesetzlichkeit,  einer  Lösung  zuzuführen. 
Für  diese  kritische  Auseinandersetzung  bereitet  sich  Schumann  zuvor  den 
Boden  durch  eine  orientierende  Untersuchung  der  Religionsphilosophie  oder  — 
\vie  er  auf  Grund  seines  wohl  wesentlich  an  Rehmke  orientierten  Standpunktes 
zu  sagen  vorzieht  —  der  systematischen  Religionswissenschaft:  nach  ihrer  Methode» 
ihrem  Gegenstande  und  ihrer  Aufgabe.  Die  letztere  findet  er  in  der  Bestimmung 
des  Wesens  des  Religiöseii,  d.  h.  dessen,  was  subjektiv  oder  objektiv  als  religiös 
vorgefunden  wird,  auf  Grund  einer  Sammlung  und  phänomenologischen  Ver- 
arbeitung des  Tatsachenmaterials.     Dabei  lehnt  es  der  Verfasser  ab,  Religions- 


520  Literaturbericht. 


Psychologie  und  Religionsgeschichte  innerhalb  der  systematischen  Religions- 
wissenschaft als  Son^erwissenschaften  anzuerkennen,  vielmehr  sieht  er  in  ihnen 
nur  aus  praktischen  Gründen  besonders  benannte  Ausschnitte  aus  der  historischen 
bezw.  psychologischen  Gesamtwissenschaft.  Das  Religiöse  als  Religiöses,  nicht  als 
psychisches  oder  geschichtliches  Faktum,  ist  der  besondere  Gegenstand  einer 
besonderen  Fachwissenschaft,  der  Religionswissenschaft.  Damit  verneint 
Schumann  auch  die  Notwendigkeit  der  Scheidung  einer  quaestio  facti  —  die 
der  Religionspsychologie  und  Religionsgeschichte  zufiele  —  und  einer  quaestio 
juris  innerhalb  der  Religionswissenschaft;  denn  diese  ist  ihm  vom  ersten  bis  zum 
letzten  Schritt  Tatsachenforschung  und^  Tatsachenbestimmung,  und  die  Wirk- 
lichkeitsbestimmung ist  nur  ein  Stück  dieser  Bestimmungsarbeit.  Allerdings 
scheint  diese  Ablehnung  jener  Scheidung  vorwiegend  der  Befürchtung  zu  ent- 
springen, daß  sie  notwendig  zu  der  psychologistischen  Auffassung  der  Religion 
führen  müsse,  die  Schumann  im  Kritizismus  bekämpft;  sachlich  scheint  sie  uns 
nicht  zwingend  begründet  und  wird  auch  von  Schumann  späterhin  nicht  voll- 
inhaltlich aufrechterhalten. 

Die  gestellte  Aufgabe  setzt  ferner  voraus,  daß  das  religiöse  Tatsachenmaterial 
selbst  daraufhin  angesehen  werde,  was  sich  aus  ihm  für  die  Frage  der  Wirk- 
lichkeit des  Gegenstandes  der  Religion  ergibt.  Bei  dem  Mangel  einer  ausgeführten 
,J*hänomenoIogie  des  religiösen  Lebens"  beschränkt  sich  Schumann  auf  einige 
allgemeine  Sätze,  die  als  „Selbstaussagen  der  Religion"  sollen  gelten  können.  Die 
Methode,  welche  zu  diesen  Sätzen  führt,  die  Frage,  in  welchem  Sinne  sie  als 
eine  „phänomenologische"  bezeichnet  wird,  sowie  ihre  Abscheidung  von  empiri- 
scher Induktion  gelangt  dabei  nicht  zu  völliger  Klärung.  Es  ergibt  sich  für 
Schumann,  daß  es  sich  in  der  Religion  um  ein  Verhältnis  des  Menschen  zu 
einer  höheren  Macht  handelt  und  zwar  um  ein], Wirkensverhältnis,  dessen  Glieder 
stets  die  menschliche  Seele  und  ein  göttliches  Bewußtsein  sind,  usw.  Gegenüber 
einer  kritizistisch  beeinflußten  Religionsphilosophie,  die  auf  Grund  ihrer  erkenntnis- 
theoretischen Voraussetzungen  ein  solches  Wirkensverhältnis  und  den  darin  be- 
haupteten „transzendenten"  Gegenstand  der  Religion  bestreiten  zu  müssen 
glaubt,  —  und  daher  genötigt  sei,  jenen  „Sachverhalt"  umzudeuten  oder  zu  ver- 
schleiern, —  muß  Schumann  diese  Selbstaussagen  der  Religion  aufrechterhalten 
und  gelangt  so  zur  Aufrollung  des  Problems  der  „Transzendenz".  Der  neuere 
Versuch  der  kritizistischen  Religionsphilosophie,  den  Transzendenzbegriff  des 
älteren  Kritizismus,  —  der  auch  dasjenige  als  unerfahrbar  ausschloß,  was  für 
den  Rationalismus  den  allgemeinen  Vernunftwahrheiten  der  Religion  „trans- 
zendent" war,  nämlich  das  nicht  rational  Wahre,  den  positiven  Offenbarungs- 
inhalt, —  zu  überwinden  und  auf  Grund  einer  Kritik  desselben  den  Gehalt  der 
Religion  als  „religiöse  Erfahrung"  zu  begründen,  —  auch  dieser  Versuch  genügt 
nach  Schumann  den  Anforderungen  des  religiösen  Gegebenen  nicht;  denn  auch 
er  enthält  noch  das  tzqcözov  tpevöog  des  alten  Kritizismus :  den  Transzendenzbegriff 
überhaupt  mit  seinen  logischen  Voraussetzungen,  und  geht  daher  von  einer 
falschen  Fragestellung  aus,  die  in  den  Tatsachen  der  Religion  selbst  keine  Unter- 
lage besitzt.  Die  folgende  eingehende  kritische  Auseinandersetzung  mit  Natorp 
und  Simmel,  die  dieses  zu  zeigen  unternimmt,  bildet  den  Hauptinhalt  der 
Arbeit.  Schumann  gibt  zu,  daß  der  Wirklichkeitsanspruch,  den  das  religiöse 
Erlebnis  stellt,  der  wissenschaftlichen  Nachprüfung  bedarf,  in  diesem  Sinne  also 
einer  quaestio  juris  unterliegt.  Wenn  andererseits  seine  Wesensbestimmung  der 
Religion  Geltung  hat,  so  wird  man  ihm  beistimmen  dürfen,  daß  weder  die  kriti- 
zistische  Ablehnung  des  Transzendenzanspruchs  stichhaltig  erscheint,  noch  die 
Begründung  der  Religion  auf  die  Sphäre  des  Gefühlsjund  seine  Formgesetzlichkeit, 
wie  sie  Natorp,  oder  auf  eine  besondere  selbständige  und  allumfassende  Kate- 
gorie des  Geistes,  wie  sie  Simmel  versucht,  dem  Wesen  der  Religion  völlig  ge- 
recht zu  werden  vermag.  Wie  aber  über  den  Wirklichkeitsanspruch  der  Religion 
letztgültig  entschieden  werden  muß,  darauf  bleibt  uns  auch  Schumann  die 
Antwort  schuldig;  vielleicht  gibt  er  sie  in  einer  eigenen  Religionsphilosophie,  die 
nach  dem  Untertitel  des  Buches  erwartet  werden  darf. 

München.  H.  v.  Müller. 


Literatiirbei-icht.  591 


Paul  Schrecker:  Henri  Bergsons  Philosophie  der  Persönlichkeit. 
Ein  Essay  über  analytische  und  intuitive  Psychologie.  —  Schriften  des  Vereins 
für  freie  psychoanalytische  Forschung:  No.  3.   München,  Ernst  Reinhardt,  1912.  — 

Die  Neurosenbehandlung  hat  sich  in  unserer  Zeit  von  den  zahlreichen  mehr 
oder  minder  unbefriedigenden  Versuchen  einer  medikamentösen  oder  —  im 
weiteren  Sinne  —  chirurgischen  Therapie  immer  entschiedener  einer  Psycho- 
therapie zugewendet.  Dieser  Weg  ist  gekennzeichnet  durch  die  Ablösung  einer 
kausal  erklärenden  Psychologie  durch  eine  verstehende.  Solche  Entwicklung 
macht  es  begreiflich,  wie  die  „Intuition"  Bergsons,  das  Sich-hineinversetzen  in 
den  „Strom"  des  seelischen  Lebens,  als  ein  wesentliches  Mittel  zum  Verständnisse 
der  Persönlichkeit  und  ihrer  pathologischen  Abarten  aufgefaßt  und  herangezogen 
werden  kann. 

Die  vorliegende  Schrift  versucht  an  Hand  einer  gedrängten  Darstellung  der 
Bergsonschen  Lehren  vom  Wesen  der  Intelligenz,  von  der  Intuition,  vom  Ge- 
dächtnis, sowie  von  dem  Verhältnis  von  Geist  und  Körper  aufzuweisen,  daß  sich 
von  diesen  Gedankengängen  aus,  unter  Mitberücksichtigung  der  Methode  der 
Wiener  psychoanalytischen  Schule  und  ihrer  Resultate,  eine  Theorie  der  Persön- 
lichkeit finden  lasse,  die  den  Ansprüchen  einer  solchen  zu  genügen  vermag,  in- 
dem sie  nicht  nur  die  Probleme  einer  Lösung  zuführe,  die  im  Wesen  der  Persön- 
lichkeit, in  ihrer  Psychologie  und  Ethik  gelegen  sind,  sondern  auch  die  Möglichkeit 
schaffe,  normale  und  pathologische  Formen  der  Persönlichkeit  in  ihrer  Genese 
und  teleologischen  Struktur  zu  verstehen. 

Soweit  die  Darlegungen  Schreckers  über  die  referierende  Darstellung 
Bergsonscher  Gedanken  hinausgehen  und  die  Parallelisierung  derselben  mit  der 
Betrachtungsweise  der  Psychoanalyse  zur  Synthese  fortzubilden  trachten,  handelt 
es  sich  allerdings  mehr  um  eine  Einpassung  der  Psychologie  Freud  scher  Schule, 
speziell  des  von  Alfred  Adler  angebahnten  Versuchs  einer  Deutung  der  Genese 
der  Persönlichkeit  und  ihrer  pathologischen  Abarten,  in  die  Struktur  der  Bergson- 
schen  Gedanken.  Es  wird  gezeigt,  wie  sich  die  Symptome  der  Neurosen,  der 
^Krankheiten  der  Persönlichkeit",  avif  Grund  der  Bergsonschen  Gedächtnis- 
theorie verstehen  lassen;  es  wird  ferner  gezeigt,  wie  von  der  von  Adler  ge- 
gebenen allgemeinen  Ätiologie  des  nervösen  Charakters  aus  die  neurotische 
Krankheit  als  ein  Mittel  zur  Erhaltung  der  Kontinuität  der  Persönlichkeit  im 
Sinne  Bergsons  aufgefaßt  werden  kann.  Schrecker  sieht  endlich  in  der 
Philosophie  Bergsons  und  ihrer  antiintellektualistischen  Tendenz  die  Möglich- 
keit einer  ähnlichen  Förderung  für  die  Menschheit  und  ihre  Erkenntnis,  wie  sie 
die  Psychoanalyse  dem  Einzelnen  gewähren  soll.  Wie  diese  dem  Menschen  eine 
Intuition  in  sein  eigenes  Leben  gestatte  und  seine  Ziele  einer  vernünftigen  An- 
passung an  die  Realität  zuführe,  so  sei  jene  imstande,  eine  Beantwortung  der 
letzten  Fragen  des  Lebens  zu  geben. 

Es  darf  bezweifelt  werden,  daß  die  psychologischen  Theoriebildungen  der 
psychoanalytischen  Autoren  durch  die  Verbindung  mit  der  Problematik  der 
Bergsonschen  Philosophie  und  Metaphysik  einen  Ersatz  für  das  gewinnen 
können,  was  ihnen  vornehmlich  mangelt,  nämlich  eine  gegründete  Fundamentie- 
rung  in  gesicherten  Tatsachen  des  normalen  bezw.  abnormen  Seelenlebens. 
Auch  die  Adler  sehe  Theorie,  so  wertvoll  zweifellos  die  ihr  zugrunde  liegenden 
Gedanken  als  Gesichtspunkte  für  eine  Verständnispsychologie  der  Persönlichkeit 
sind,  ist  keineswegs  frei  von  Gewaltsamkeiten  und  schematischen  Verallgemeine- 
rungen, die  das  Erbteil  so  vieler  von  Freud  beeinflußter  Denker  zu  sein  scheinen, ') 
Eine  kritische  Stellungnahme  vermissen  wir  bei  Schrecker.  Eine  solche  ist 
aber  umso  wichtiger,  als  alle  Versuche,  auf  dem  Wege  der  Psychoanalyse  ein 
Verständnis  des  Seelenlebens  zu  gewinnen,  besonders  in  ihrer  Ausdehnung  auf 
die  Persönlichkeit  im  ganzen,  auch  ethische  bezw.  pädagogische  Bedeutung  be- 
anspruchen und  entscheidende  Folgerungen  für  die  ethische  und  pädagogische 
Theorie  und  Praxis  nach  sich  ziehen.    Es  liegt  gegenwärtig  die  Gefahr  vor,  daß 


1)  Vgl.  K.  Mittenzwey:  Zeitschrift  für  Pathopsychologie  II,  S.  626  f. 


522  Literaturbericht. 


die  psychoanalytische  Praxis  und  Therapie  zu  einer  theoretischenAuflösung 
echter  ethischer  Zielsetzung  für  die  Gestaltung  des  Charakters  führt,  an  deren 
Stelle  eine  biologisch  gerichtete  „nervenhygienische"  Einstellung  zu  den  Problemen 
der  Persönlichkeit  tritt.  Diesen  Abweg  kann  die  Psychotherapie  unseres  Er- 
achtens  nur  dann  vermeiden,  wenn  sie  sich  von  der  Orientierung  an  einem  der 
physischen  Pathologie  entnommenen  Krankheitsbegriffe  befreit  und  ihre  Motive 
sowie  ihre  wesentlichen  Mittel  und  Methoden  dem  Gebiete  entnimmt,  dem  sie 
ihrem  Gegenstande  wie  ihrer  Zielsetzung  nach  am  nächsten  steht,  nämlich  der 
Erziehung  im  weitesten  Sinne  des  Wortes. 

München.  H.  v.  Müller. 

Josef  Kohler:  Recht  und  Persönlichkeit  in  der  Kultur  der  Gegenwart. 
Deutsche  Verlagsanstalt,  Stuttgart  und  Berlin  1914.  IX  u.  278  S. 

Obwohl  der  Verfasser  dieses  Buches  der  Träger  eines  der  bekanntesten  Namen 
der  juristischen  Welt  ist,  sehe  ich  mich  doch  nicht  in  der  Lage,  das  Buch  als  ein 
besonders  lesenswertes  zu  empfehlen.  Es  mag  dem,  der  den  Rechtsfragen  der 
Gegenwart  ganz  fremd  gegenübersteht,  mancherlei  des  Wissenswerten  bieten. 
Eine  tiefere  Begründung  der  Stellungnahme  des  Verfassers  zu  den  Tagesfragen 
fehlt  durchweg.  Wie  wenig  zutreffend  der  Verfasser  die  wirklichen  Verhältnisse 
der  Gegenwart  beurteilt,  kann  wohl  nichts  schlagender  beweisen,  als  die  Prophe- 
zeiung, daß  „sich  die  Kriegsfurie  in  den  Orient  geflüchtet  hat,  um  hier  ihre 
letzten  Tage  zu  fristen.  Jetzt  kann  das  Völkerrecht  seine  Fackel  erheben;  es 
wird  dem'  Verein  der  Staaten  die  Leuchte  vorantragen,  damit  die  Konflikte 
geläutert  werden  und  in  dieser  Läuterung  ihre  rationelle  Lösung  finden.  Das 
ist  die  erfreuliche  Sicherheit,  in  welcher  wir,  trotz  aller  Ungewißheit,  der  Zukunft 
ins  Auge  sehen".  So  schrieb  der  Verfasser  noch  Silvester  1913  in  der  Vorrede 
zu  seinem  Buch.  Schlagender  als  durch  die  Ereignisse  des  Juli  und  August  1914 
konnte  er  nicht  widerlegt  werden.  Nicht  unerwähnt  kann  ich  lassen,  daß  ich 
einer  weitverbreiteten  Gelehrtenuntugend,  nämlich  der  Mißachtung  logischer  und 
grammatischer  Anforderungen  der  deutschen  Sprache,  auch  in  diesem  Buche 
leider  mehrfach  begegnet  bin. 

Berlin.  Werner  Bloch. 

Gustav  Kafka:  Einführung  in  die  Tierpsychologie  auf  experimenteller 
und  ethologischer  Grundlage.  I.  Band:  Die  Sinne  der  Wirbellosen.  Leipzig  1913. 
J.  A.  Barth.  593  Seiten  mit  362  Abbildungen  im  Text.  Preis  M.  18;  geb.  19,50. 
Es  sind  verschiedene  Interessen,  die  zur  Beschäftigung  mit  dem  Seelenleben 
untermenschlicher  {Lebewesen,  speziell  der  Tiere,  führen  können;  die  einfache, 
sozusagen  interesselose  Neugierde  des  Tierfreundes  ist  ein  ebenso  legitimes  Motiv 
wie  die  gar  nicht  mehr  am  Tierleben  als  solchen,  sondern  etwa  an  der  angeblichen 
oder  wirklichen  Ausnahmestellung  des  Menschen  im  Weltganzen  interessierte 
Spekulation  des  Philosophen;  der  Physico-chemiker,  der  grundsätzlich  auf  dem 
Standpunkt  einer  lückenlos  geschlossenen  mechanischen  Naturkausalität  steht, 
und  der  Psychologe  können  gleichfalls  in  verschiedener  Absicht  an  die  Phänomene 
herangehen,  die  als  Symptome  des  Seelenlebens  untermenschlicher  Organismen 
sei  es  behauptet,  sei  es  bestritten  werden,  sie  können  namentlich  mit  einem  ver- 
schieden weiten,  ja  einem  verschieden  orientierten  Begriff  des  Psychischen  sich 
an  ihre  Aufgabe  machen. 

Diese  Verschiedenheit  der  Endabsichten  und  Einstellungen,  der  vorwissen- 
schaftlichen Begriffe  und  Erwartungen  beeinflußt  die  Fragestellung  und  Me- 
thodik der  tierpsychologischen  Forschung,  erschwert  die  Verständigung  der 
Forscher  untereinander  und  hat  es  bis  zum  heutigen  Tage  verhindert,  daß  die 
Tierpsychologie  in  jenes  Stadium  der  Erfahrungswissenschaften  tritt,  in  dem 
neben  vielen  strittigen  und  offenen  Fragen  doch  ein  kleines  Stammgut  allgemein 
zugestandener  Resultate  sich  zu  bilden  beginnt. 

Eine  der  Hauptursachen,  welche  den  Fortschritt  hintanhielten,  war  auch 
der    Mangel    eines  Werkes,    das    die    vielen  Einzelbeobachtungen  der  Forscher 


Literaturbericht.  523 


übersichtlich  und  unter  psychologischen  Gesichtspunkten  zusammenstellte  und 
so  zeigte,  wie  viel  (oder  wie  wenig)  Material  den  entgegengesetzten  Schlüssen  und 
Deutungen  der  verschiedenen  Schulen  und  Richtungen  zugrunde  liegt. 

Kafkas  Einführung  in  die  Tierpsychologie,  deren  erster  Band  die  Sinne  der 
Wirbellosen  behandelt,  darf  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen,  diesen  Mangel 
zu  beheben  und  einer  Systematik  sowohl  der  tierpsychologischen  Problemstellung 
und  Methodik  wie  ihrer  Resultate   die  zurzeit  notwendigste  Vorarbeit  zu  leisten. 

Der  vorliegende  erste  Band  behandelt  in  einer  streng  genommen  nicht  ganz  zu- 
lässigen, aber  dem  Verfasser  als  solcher  voll  bewußten  Erweiterung  der  Bedeutung 
des  Wortes  „Sinn"  den  Tastsinn,  den  statischen  Sinn,  den  Gehörssinn,  den  Tem- 
peratursinn, den  chemischen  Sinn,  den  Lichtsinn,  den  Raumsinn,  den  Zeitsinn 
der  Protozoen,  Coelenteraten,  Echinodermen,  Würmer,  Mollusken  und  Arthropoden. 
Es  werden  mit  großer  Sorgfalt  die  von  den  einzelnen  Beobachtern  beschriebenen 
Veränderungen  in  der  Form  und  im  Verhalten  von  Exemplaren  der  verschiedenen 
Gattungen  und  Arten  zusammengefaßt,  welche  diese  auf  einen  zufälligen  oder 
absichtlichen,  mechanischen,  akustischen,  statischen,  thermischen,  chemischen, 
optischen  Reiz  haben  eintreten  sehen;  es  werden  die  Umstände  der  Beobachtung 
und  die  Vorrichtungen  des  Experimentes  genau  notiert,  es  wird  der  anatomische 
Befund,  soweit  er  ermittelt  ist,  wiedergegeben. 

Diesem  Tatsachenbericht  werden  die  bei  der  großen  Zahl  von  Umständen 
und  bedeutungsvollen  Faktoren  naturgemäß  vielfachen  Interpretationsmöglich- 
keiten andeutend  oder  ausführlicher  gegenübergestellt.  Abschließende  theore- 
tische Formulierungen  der  Konvergenzen  der  Einzelresultate  werden  für  den 
zweiten  Band  in  Aussicht  gestellt. 

In  dieser  Zeitschrift  ist  es  nicht  möglich,  ausführlicher  auf  den  Inhalt  ein- 
zugehen; vermißt  habe  ich  persönlich  einen  zusammenfassenden  Abschnitt  hinter 
jedem  Kapitel,  der  die  durch  Einzelfälle  belegten  Arten  von  Leistungen  des  jeweils 
behandelten  Sinnes  typisierend  beschreibt  und  vorläufig  nach  einem  bestimmten 
Gesichtspunkt  ordnet  (z.  B.  dem  der  Höhe,  oder  des  Mitwirkens  vorangegangener 
Reizungen  \ind  Betätigungen  gleicher  Art).  Alle,  die  sich  mit  dem  ebenso  inter- 
eaeanten  wie  schwierigen  tierpsychologischen  Teil  der  vergleichenden  Psychologie 
beschäftigen,  werden  dankbar  sein  für  die  bequeme  und  zuverlässige  Orientierung 
über  das  schon  vorliegende  Material  und  die  wertvollen  fast  30  Seiten  umfas- 
senden Literaturnachweise;  und  alle,  die  sich  erst  einarbeiten  wollen,  können 
sich  getrost  (aber  nicht  ohne  gute  zoologische  Vorkenntnisse)  seiner  Führung 
anvertrauen. 

München.  Aloys  Fischer. 

Marx  Lobsien,  Das  Gedächtnis.  Eine  übersichtliche  Darstellung  der  Ergeb- 
nisse der  neuesten  Forschungen.  21.  Bd.  vom  „Bücherschatz  des  Lehrers", 
Osterwieck  j.  Harz  1914.  Verlag  von  A.  W.  Zickfeld.  268  S.  geh.  3,30  M,  geb.  4  M. 
Das  unterscheidende  Merkmal  der  Lobsienschen  Monographie  über  das 
Gedächtnis  gegenüber  anderen  Darstellungen  des  gleichen  Gebietes  —  ^vie  z.  B. 
der  sehr  trefflichen  von  Offner  —  liegt  in  ihrem  ausgesprochen  didaktischen 
Zuge,  der  es  auch  dem  psychologischen  Anfänger  bei  einigen"grundlegenden 
seelenkundlichen  Kenntnissen  ermöglichen  dürfte,  sich  zuverlässig  unter  der 
Führung  dieses  Buches  in  das  immerhin  nicht  leichte  Gebiet  einzuarbeiten- 
In  solcher  Einstellung  werden  eine  manchmal  willkürlich  erscheinende  Auswahl 
des  Stoffes,  eine  häufig  sehr  vereinfachende  Ordnung  des  umfänglichen  Tatsachen- 
materials, eine  ausgesprochene  Schlichtheit  der  Form,  eine  hier  und  da  zu  grob 
und  sprunghaft  gehaltene  historische  Darstellung  nicht  zu  Mängeln;  denn 
letzten  Endes  gefährden  sie  hier  doch  nicht  den  Gesamteindruck  der  Wissenschaft- 
lichkeit. Ein  offenbarer  Vorzug  aber  ist  es,  daß  Lobsien  grundsätzlich' unfruchtbare 
metaphysische  Erörterungen  meidet,  daß  er  sich  durchweg  auf  den  Boden  der 
Tatsachen  stellt  und  nicht  bloß  die  Ergebnisse,  sondern  eingehend  und  geschickt 
auch  die  Methoden  der  Untersuchung  vorführt,  daß  er  am  geeigneten  Orte  Hin- 
weise   auf  die  Geschichte    der  Gedächtnisforschung  gibt,   daß  er  mit  Proben  aus 


524  Literaturbericht. 


den  Quellen  und  mit  Beispielen  nicht  geizt.  Die  gelegentliche  Einfügung  eigener 
experimenteller  Studien  des  Verfassers,  der  ja  im  Kreise  der  empirisch  forschenden 
Pädagogik  einen  guten  Namen  hat,  ist  nicht  ohne  Reiz. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  H.H.  Goddard:  Die  Familie  Kallikak.  Eine  Studie  zur  Vererbung  des 
Schwachsinnes,  übersetzt  von  Dr.  Karl  Wilker  aus:  Beiträge  zur  Kinder- 
forschung und  Heilerziehung.  Heft  No.  116.  Langensalza.  14  Tafeln.   75  S.  1,65  M. 

Die  ausgezeichnete  Studie,  durch  Unterstützung  des  bekannten  Bodenreformers 
S.  Fels  t  ermöglicht,  beweist  erneut  den  beispiellosen  Fleiß  und  die  Gründlich- 
keit, mit  der  in  den  Vereinigten  Staaten  soziale  Anthropologie  getrieben  wird. 
Ein  ganzer  Stab  von  Personen  (field  workers)  war  damit  beschäftigt,  die  2  Nach- 
kommenreihen eines  Mannes  zu  erforschen,  dessen  einer  Zweig  sich  aus  einer 
Gelegenheitssünde  des  Stammvaters  mit  einem  schwachsinnigen  Mädchen  ableitet, 
während  der  andere  auf  eine  gesunde  „normale"  Mutter  zurückgeht.  Daher  die 
Zusammensetzung  des  Pseudonyms  Kallikak.  Die  unbedachte  Vermischung  des 
Stammvaters  mit  dem  schwachsinnigen  Mädchen  hatte  in  41  Ehen  222  schwach- 
sinnige Kinder  als  Nachkommenschaft,  und  ist  damit  heute  natürlich  noch 
lange  nicht  zu  Ende!  Außer  diesen  — Prostituierten,  Trinkern,  Verbrechern, 
Idioten  —  sind  noch  258  Abkömmlinge  nachgewiesen,  die  zwar  somatisch 
normal,  aber  Träger  eines  geschädigten  und  dauernd  verdächtigen  Keimplasmas 
sind.  Daneben  geht  der  gesunde  Zweig  von  der  vollwertigen  Stammutter  aus 
und  besitzt  496  nachgewiesene  Angehörige,  von  denen  nur  3  leichte  Minderwertig- 
keiten (vermutlich  erworbener  Art)  zeigen.  In  diesem  Parallelismus  der  beiden 
Zweige  liegt  die  einzigartige  und  zermalmende  Wucht  des  gesammelten  Beweis- 
materiales ;  es  bietet  daher  auch  weit  mehr  Interesse  als  die  709  defekten  Nach- 
kommen des  berühmten  Stammbaumes  Jukes. 

Die  praktische  Lösung  —  und  eine  solche  allein  kann  die  aufgewandte 
Arbeitsmenge  rechtfertigen  —  kann  nicht  darin  bestehen,  daß  die  Menschen- 
trümmer mit  unermeßlichen  Opfern  an  Zeit,  Geld  und  Kräften  in  Hilfsschulen 
und  Idiotenanstalten  untergebracht  werden;  sie  liegt  in  den  Worten  S.  50:  „..In 
diesem  Hause  voll  dreckiger  Armut  gab  es  nur  einen  sicheren  Ausblick;  es  wird 
noch  mehr  schwachsinnige  Kinder  hervorbringen,  um  mit  ihnen  die  Räder  mensch- 
lichen Fortschrittes  zu  hemmen.  —  Die  Gesetze  unseres  Landes  erlauben  nicht, 
daß  zehnjährige  Kinder  heiraten.  Warum  wollen  sie  es  Menschen  erlauben,  deren 
geistige  Beschaffenheit  die  von  zehnjährigen  Kindern  ist?  .  ,  ." 

Die  Übersetzung  ist  sehr  gut  und  flüssig.  Sie  unternommen  zu  haben,  war 
eine  gute  Tat  von  Dr.  Wilker.  Ich  empfehle  allen  Straf  rechts  Juristen  dieser 
furchtbaren  Anklageschrift  aus  dem  Wege  zu  gehen;  sie  würde  ihnen  wehe  tun, 
und  das  ist  nicht  ihr  Zweck. 

Eisenach.  Ferdinand  Kühner. 

Dr.    S.    Edward    Seguin.       „Die    Idiotie    und     ihre    Behandlung    nach    physio- 
logischer   Methode"    herausgegeben    von    Dr.  Krenberg  er.     Verlag   von   Karl 
Graeser  &  Kie.,  Wien  1912.  —  Preis  K.  6. 
Das  Werk,   das   der  Herausgeber   nach  der  englischen  Ausgabe   des  Lehrer- 
kollegiums  der  Columbia-Universität  aus  dem  Jahre  1907  und  nach  einer  ersten 
Übersetzung  von  Heinrich  Neumann  (Wien)  bearbeitet  hat,  ist  1866  erschienen. 
In  Übereinstimmung  mit  bedeutenden  englischen,  amerikanischen  und  romanischen 
Forschern  glaubt  der  Herausgeber,  „daß  ^Seguins  Lehren  noch  bestehen",  und 
er  will  in  aller  Bescheidenheit  behaupten,  „daß  sie  bisher  von  niemanden  über- 
holt, von  keinem  erreicht  wurden,   daß  sie  gekannt  und  befolgt  werden  müssen, 
falls    man  in    der  erziehlichen  Behandlung   der  Idioten  kulturelle  und  hebende 
Erfolge  haben  will,  die  nur  halbwegs   den   allseits  für  die  Besserung  der  geistig 
schwachen  Jugend  aufgewendeten  Mühen  und  Geldmitteln  entsprechen". 

Einer  eingehenderen,  das  Vorwort  des  Herausgebers  bildenden,  kritischen 
Würdigung    Seguins,    die    überall    Beziehungen    und    Berührungen   von    dessen 


Literaturbericht.  526 


Lehren  mit  unsern  modernen  Anschauungen  dartun,  folgen  eine  kurze,  von 
Dr.  Henry  Herbert  Goddard  geschriebene  Darstellung  des  Lebens  und  Wirkens 
Seguins,  eine  Übersicht  seiner  Schriften  und  die  von  Seguin  selbst  seinem 
Buche  vorausgeschickte  Vorrede.  Das  Werk  selbst  behandelt  in  der  Einleitung 
Geschichte  und  Wesen  der  methodischen  Behandlung  und  Erziehung  von  Idioten, 
im  I.  Teil:  Idiotie,  im  IL:  Physiologische  Erziehung,  im  IIL:  Moralische  Be- 
handlung, im  IV.:  Die  Anstalt. 

In  Seguins  Werk  liegen,  wie  der  Herausgeber  mit  Recht  betont,  „drei  Jahr- 
hunderte pädagogischer  und  psychologischer  Gedankenarbeit  verwertet  vor,  und 
eine  Summe  von  Erfahrungen  ist  hier  niedergelegt  von  Männern,  welche  die  Kultur- 
welt befruchtet  und  Bildung  und  Erkenntnis  befördert  haben".  Es  ist  ein  sehr 
verdienstliches  Unternehmen  des  Herausgebers,  dieses  Standard- Werk  den  in  Be- 
tracht kommenden  Kreisen  in  so  übersichtlicher  Form  zugänglich  gemacht  zu  haben. 

München.  Dr.  Ernst  Levy. 

Prof.  Dr.  G.  F.  Lipps,  Über  die  geistige  Entwicklung  des  Schulkindes. 
Erläuterungen  zu  den  Arbeiten  des  psychologischen  Laboratoriums  der  Univer- 
sität Zürich.  Mit  4  Tafeln.  H.  Aufl.  16  S.  Preis  50  Cts.  Zürich  und  Leipzig. 
Verlag  von  Gebr.  Seemann  &  Co.  1914. 

In  nur  andeutender  Weise  berichtet  das  wissenschaftlich  belanglose  Heftchen 
über  die  Problemstellung,  über  die  Versuchsanordnungen  und  über  einige  Er- 
gebnisse von  fünf  kinderpsychologischen  Untersuchungen.  Sie  haben  zum  Gegen- 
stande die  Zahlauffassung,  die  räumliche  Auffassung,  die  Reaktion  auf  Reizwörter, 
das  Schließen,  das  Lesenlernen  nach  analytischer  und  synthetischer  Methode,  das 
Erfassen  größerer  Zusammenhänge  im  naturkundlichen  Unterrichte.  Seh. 

Dr.   Johannes  Prüfer,    Vorläufer    Fröbels.      Langensalza,   Beyer  u.    Söhne. 

36   S.      50  Pf. 
Dr.  J.  Prüfer,  Kleinkinderpädagogik.    Leipzig  1913.    Nemnich.    251  S.  geb. 

5,40  M. 
Dr.    J.    Prüfer,     Quollen    zur     Geschichte     der    Kleinkindererziehung. 

Frankfurt  a.  M.,  Diesterweg.     190  S.  geb.   1,60  M. 
Dr.  J.  Prüfer,   Friedrich  Fröbels  Mutter-   und   Koselieder.     Neuausgabe. 

Leipzig,   Wiegandt.     3,80  M. 

Es  ist  nunmehr  geläufig  geworden,  daß  die  Reformgedanken,  die  sich  unter 
dem  Namen  ,, Arbeitsschule"  sanuneln,  eigentlich  nichts  Neues  sind,  daß  vielmehr 
die  großen  Pädagogen  der  Vergangenheit  sie  fast  alle  schon  mit  mehr  oder  weniger 
Klarheit  durchdacht  haben.  Ihre  Zeit  aber  war  für  das  Verwirklichen  nicht  reif; 
daß  es  unsere  Zeit  sei,  glauben  wir  und  streben  darum  mit  aller  Kraft  nach  der 
Umsetzung  der  Gedanken  in  die  Tat.  In  diesen  unsern  Bestrebungen  sind  uns  also 
die  Klassiker  der  Pädagogik  hochwillkonunene  Helfer,  und  wir  können  zur  Begrün- 
dung unserer  Forderungen  gar  nichts  Besseres  tun,  als  uns  nicht  nur  auf  die  moderne 
psychologische  Wissenschaft,  sondern  auch  auf  die  alten  Pädagogen  zu  berufen. 
Da  ist  es  denn  ein  sehr  verdienstliches  Beginnen,  wenn  man  sich  regt,  jene  Seher- 
gestalten in  ihrem  Wollen  und  Wünschen,  in  ihren  Werken  und  Taten  uns  wieder 
näher  zu  bringen.  Besonders  ist  es  Friedrich  Fröbel,  dem  besondere  Verdienste 
um  die  Arbeitsschulgedanken  zugeschrieben  werden  müssen.  Eben  weil  jene  Zeit 
noch  nicht  reif  dafür  war,  so  galt  sein  Streben  nicht  der  Schulerziehung  jener  Tage, 
sondern  seine  Lebensarbeit  war  der  Entwicklung  und  Ausgestaltung  einer  idealen 
Erziehung  des  vorschulpflichtigen  Alters  gewidmet.  Fröbels  Wirken  und  Be- 
deutung nun  der  Gegenwart  wieder  greifbar  zu  machen,  hat  sich  Johannes  Prüfer 
als  Aufgabe  gestellt. 

Die  erste  der  oben  angeführten  Schriften  zeigt  im  Überblick,  wie  Conrad  Bitschin 
Comenius,  Rousseau,  die  Philanthropisten  —  hier  besonders  Wolke  — ,  außerdem 
Heusinger  und  Blasche,  endlich  auch  Pestalozzi  Fröbels  Vorläufer  sind. 

Das  zweite  Werk  enthält  zunächst  denselben  Stoff,  aber  in  ausführlicher  Dar- 
stellung und  ergänzt  durch  J.  J.  Wagner  und  Joh.  Pavd  Fr.  Richter.    Sodann  wird 


526  Vierteljahrsverzeichnia  neuer  Schriften, 

über  die  Entstehung  der  Spielschulen,  Kleinkinderbewahranstalten  und  Kindergärten 
berichtet,  wobei  eine  Menge  bisher  unveröffentlichtes  Material,  besonders  über 
Fröbel,  verarbeitet  worden  ist.  Der  zweite  Teil  des  Buches  bespricht  nach  einer 
allgemeinen  Grundlegung  wichtige  Einzelfragen  zur  Kleinkindererziehung  vom  Stand- 
punkte der  Gregenwart  aus,  und  zwar  Spiel,  Beschäftigtmg,  Kameraden,  Märchen, 
Kinderlügen,  Gewöhnimg,  Strafen.  Ein  Anhang  zeigt  endlich,  was  in  Fortsetzung 
dieser  Entwicklung  geschehen  müßte:  die  Kleinkinderpädagogik  ist  auf  wissenschaft- 
liche Grundlage  zu  stellen,  die  Mütter  sind  mehr  zu  interessieren,  die  bestehenden 
öffentlichen  Einrichtungen  sind  besser  zu  organisieren.  Es  ist  interessant,  zu  sehen, 
wie  der  Verfasser  auf  Grund  historischer  Studien  auf  dem  Gebiete  der  Kleinkinder- 
pädagogik zu  denselben  Forderungen  gelangt,  die  die  heutige  Reformbewegung  auf- 
stellt in  bezug  auf  die  Schulpädagogik:  wissenschaftliche  Grundlegung,  Gewinnung 
der  Elternkreise  (und  der  Lehrherren  für  die  Fortbildungsschule),  endlich  Verbesse- 
rungen in  der  Organisation. 

Die  dritte  imd  vierte  Schrift  sind  eine  Ergänzung  zu  den  beiden  ersten.  Die 
„Quellen"  bringen  gewissermaßen  das  Anschauungsmaterial,  und  zwar  sorgfältig 
ausgewählte  Abschnitte  aus  den  oben  genannten  Autoren  (Herbart  und  Middendorf 
kommen  noch  hinzu),  wobei  Heusingers  Abhandlung  ,,Über  die  Benutzung  des  bei 
Kindern  so  tätigen  Triebes,  beschäftigt  zu  sein"  undFröbels  „Entwurf  eines  Planes" 
vollständig  abgedruckt  werden.  Der  Neudruck  der  ,, Mutter-  und  Koselieder"  aber 
wird  den  Freunden  und  Sammlern  pädagogischer  Schriften  eine  bibliographische 
Freude  sein. 

Leipzig.  Johannes  Kühnel. 

III.  TierteljahrsTerzeichnis  neuer  Schriften  1914. 

Eucken,  Rud.:  Der  Sinn  u.  Wert  des  Lebens.     4.,  umgearb.   u.  erweit.  Aufl. 

15—17.  Taus.  V,  180  S.  mit  Bildnis.     Leipzig,   Quelle  &  Meyer.     2.80  M;  geb.  in 

Leinw.  3.60  M. 
Ziegler,  Theob.:  Menschen  u.  Probleme.  Reden,  Vorträge  u.  Aufsätze.  IX,  424  S. 

Berlin,  G.  Reimer.     7. —  M;  geb.  8.50  M. 
Cohn,   Prof.  Jonas:    Der  Sinn   der  gegenwärtigen  Kultur.     Ein  philosoph. 

Versuch.     XI,  297  S.     Leipzig,  F.  Meiner.     8.—  M;  geb.  9.—  M. 
Sauerbeck,  Ernst:  Vom  Wesen   der  Wissenschaft,    insbesondere    der    drei 

Wirklichkeitswissenschaften,  der  „Naturwissenschaft",   der  „Psychologie"  u.  der 

„Geschichte".  Ein  Programm.  XVI,  192  S.  Leipzig,  O.  R.  Reisland.  4. —  M. 
Häberlin,    Prof.    Paul:    Die   Grundfrage  der  Philosophie.     Berner  Antritts- 

vorlesg.  31.  S.     Basel,  Kober.     —.60  M. 
Levy,  Dr.  Heinr.:  Über  die  apriorischen  Elemente  der  Erkenntnis.    1.  Tl.: 

Die   Stufen  der  reinen  Anschauung.     Erkenntnistheoretische  Untersuchgn.   üb. 

den  Raum  u.  die  geometr.  Gestalten.  IX,  204  S.  Leipzig,  F.  Meiner.  6. —  M. 
Herzog,    Ob.-Realsch.-Prof.    Dr.    K.:    Ontologie    der    religiösen    Erfahrung. 

Spekulativer    Beitrag    zur    Metaphysik    der    Relgionspsychologie.     VI,    279    S. 

Leipzig,  A.  Deichert  Nachf.     7. —  M. 
Baldwin,    Dr.    James    Mark:    Das    Denken    u.    die    Dinge    od.    Genetische 

Logik.     Eine  Untersuchg.  der  Entwickig.  u.  der  Bedeutg.  des  Denkens.   Unter 

Mitwirkg.    des    Verf.    ins  Deutsche    übertr.    v.  W.  F.  G.  Geisse.     III.  Bd.:    Das 

Interesse  u.  die  Kunst.   Der  realen  Logik  I.  Genetische  Epistemologie.   XIII, 

324  S.     Leipzig,  J.  A.  Barth.     10.—  M. 
Bernstein,  Dr.  Xenja:  Die  Kunst  nach  Wilh.  Wundt.   VIII,  107  S.   Nürnberg, 

Heerdegen  &  Barbeck,     b  2. —  M. 
Kongreß  f.  Ästhetik    u.    allgemeine    Kunstwissenschaft  Berlin  7. — 9.  10. 

1913.     Bericht.  ;Hrsg.  vom  Ortsausschuß.     (Erstattet  von  Drs.   Gust.  v.  Allesch, 

Prof.  Max  Dessoir,  Curt  Glaser,  Wem.  Wolffheim,  Prof.  Osk.  Wulff.)     IV,  534  S. 

Stuttgart,  F.  Enke.     b  14.— 
Hilber,  Heinr.:  Über  Willenseinheit  bei  Arbeitsgemeinschaft  u.  Arbeits- 
teilung.   Als  Vorarbeit  zu  e.  Ethik.    VII,  142  S.    Leipzig,  Buchh.  G.  Fock  2.50  M. 


Vierteljahrsverzeichnis  neuer  Schriften.  527 

_ 

Lobedank,  Ob.-Stabsarzt    Dr.:    Das    Wesen    des    menschlischen    Geistes- 
lebens   u.    das    Problem    der    Strafe.      89   S.     Einzelpr.  2.10.     1.  u.  2.  Heft 
der    Grenzfragen,    Juristisch-psychiatrische.      Zwanglose    Abhandlgn.    Hrsg.    v. 
Drs.  Geh.  Justizr.   A.  Finger,  Geh.  Hofr.    A.  Hoche,  Proff.,  u.  Gb.-Arzt  Joh.  Bresler. 
X.  Bd.     Halle,  C.  Marhold.     Der  Bd.  v.  8  Heften  8.—  M. 
Strich,  Walt.:  Prinzipien   der  psychologischen  Erkenntnis.   Prolegomena 
zu  e.  Kritik  der  histor.  Vernunft.     VII,  363  S.  9.40  M.   Aus:  Beiträge  zur  Philo- 
sophie,    gr.  8".  Heidelberg,  Carl  Winter. 
Ziehen,  Prof.   Dr.    Th.:    Leitfaden    der    physiologischen   Psychologie    in 
16  Vorlesungen.     10.,  völlig  umgearb.  Aufl.   V,  504  S.  m.  69  Abbildgn.     L.    Jena, 
G.  Fischer.     10. —  M;  geb.  in  Leinw.  11. —  M. 
Legahn,    Dr.    Fr.   A.:    Entwicklungsgeschichte     des    Bewußtseins.      (Auf 
physiolog.  Grundlage.)   VII,  544  S.  m.  179  Fig.   Leipzig,  W.  Engelmann.    17.60  M. 
Höffding,  Prof.  Dr.  Harald:  Psychologie  in  Umrissen  auf  Grundlage  der 
Erfahrung.     5.   deutsche,  nach   der  vielfach    geänderten  6.   dän.   bearb.  Ausg. 
VIII,  502  S.     Leipzig,  O.  R.  Reisland.     10.—  M;  geb.  11.40. 
Offizieller  Bericht  der  Verhandlungen  des  internationalen  Vereins  f.  medizinische 
Psychologie  u.  Psychotherapie  in  Wien  vom  19. — 20.  9.  1913  unter  dem  Vorsitze 
V.  Prof.  Bleuler.   226  S.   9. —  M;  1.  Ergänzungsbd.  der  Zeitschrift  f.  Pathopsycho- 
logie.     Hrsg,  v.  Wilh.  Specht.     Ergänzungsbd,  gr.  8".    Leipzig,  W.  Engelmann. 
Stern,  Prof.  William:  Psychologie  der  frühen  Kindheit  bis  zum  6.  Lebens- 
jahre.    Mit  Benutzg.  ungedruckter  Tagebücher  v.  Clara  Stern.     VII,  372  S.   m. 
6  Taf.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer     7. —  M;  geb.  in  Leinw.  8.60  M. 
Kramaf  jun.,    Prof.  Dr.  Udalrich:    Neue    Grundlagen    zur  Psychologie  des 
Denkens.     Eine  psycholog.  Untersuchg.     127  S.     Brunn,  C.  Winiker.     3. —  M. 
Bobertag,  Assist.  Otto:  Über    Intelligenzprüfungen    nach   der  Methode 

v.  Binet  u.  Simon.     II,  175  S.     Leipzig,  J.  A.  Barth.     4. —  M. 
Stock,   Heinz  Rieh.:    Die   optischen  Synaesthesien  bei  E.  T.  A.  Hoffmann. 

37  S.  München,  R.  Müller  &  Steinike.  1.25  M. 
Friederici,  Dr.  Hugo:  Über  die  Wirksamkeit  der  sukzessiven  Attention. 
Ein  Beitrag  zur  Lehre  vom  Willen.  4.  Heft  der  Untersuchungen  zur  Psycho- 
logie u.  Philosophie.  Hrsg.  v.  Prof.  Narziss  Ach.  II.  Bd.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 
VIII,  88  S.  3.—  M. 
Böhm  t»  Sem.-Lehr.  J.:  Praktische  Erziehungs-  u.  Unterrichtslehre.  Für 
den  Unterricht  in  Lehrerbildungsanstalten  u.  f.  Volksschullehrer.  8.  Aufl.  der 
Erziehungslehre.  10.  Aufl.  der  Unterrichtslehre.  Bearb.  v.  Sem.-Lehr.  Alb.  Fritz 
u.  Volksch.-Lehr.  Karl  Böhm.  2  Bde.  München,  R.  Oldenbourg.  geb.  in 
Leinw.  7.80  M. 

l.  Bd.  Psychologie    u.  Logik.     1.  Aufl.  (XIV,   197   S.  ra.  37  Abbildg.)  geb.  in 
Leinw.   3. — .     2  Bd.   Allgemeine    Unterrichtslehre    u.    Erziehungslehre. 
10.  Aufl.  (X  355  S.)  geb.  in  Leinw.  4.80  M. 
Brecht,  F.  A.:  Methode  zur  Schulung  der  Phantasie.     160  S.  m.  Bildnis. 

Berlin,  R.  Halbeck.     geb.  in  Leinw.  b  4.50. 
Flügel,    Dr.    Otto:    Der    Voluntarismus    u.    die  Pädagogik.     Aus   Schul-  u. 
Erziehungsfragen.     Untersuchungen    aus    dem   Gebiete    der  Pädagogik  u.  ihrer 
Hilfswissenschaften.     Hrsg.:    Dir.    Th.    Fritzsch.     Lex.  8»  Leipzig,  K.  F.  Koehler. 
31  S.     —.75  M. 
Hierl,  Ernst:   Die   Entstehung   der   neuen    Schule.     Geschichtliche  Grund- 
lagen   der    Pädagogik    der    Gegenwart.     IX,   211    S.     Leipzig,   B.    G.  Teubner. 
2.—  M;  ^eb.  in  Halbleinw.  3.20  M. 
Holmes,  E.  A.'  G.:  Das  Montessori-System  der   Erziehung.    (Die  Arbeits- 
schule in  Itahen.)     Hrsg.  vom  „Board  of  education",  London.    Frei    übers,   v. 
Lehr.  Art.  Rippor.     27  S.  u.  8.  S.  Brunn.     (Leipzig,  Hahns  Sort.)     —.40  M. 
Just,  Prof.  Dr.    Karl:    Charakterbildung    u.    Schulleben   od.  Die  Lehre  v, 
der  Zucht.     Vorträge,   geli.    bei    den    Ferienkursen    in    Jena.     2.,    durchgeseh. 
Aufl.    IV,  85  S.     Ostorwieck,  A.  W.  Zickfeld.     1.60  M. 
Hanf,  Dr.  Erwin:  Die  Notwendigkeit  der  Errichtung  v.  Elternseminaren, 


528  Vierteljahrsverzeichnis  neuer   Schriften. 

abgeleitet  aus  dem  Gange  der  Kulturentwicklung  u.  deren  Verhältnis  zum 
Zwecke  der  Erziehung.  Rede  zur  Eröffnung  des  Elternseminars,  der  ersten 
Einrichtg.  zur  erzieher.  Belehrg.  aller  Eltern  u.  jungen  Leute,  geh.  vom  Be- 
gründer des  Elternseminares,  B.,  u.  m.  einigen  erläut.  Zusätzen  in  Druck  gegeben. 
20  S.     Greifswald,  Ratsbuchh.  L.  Bamberg.     — -.65  M. 

Hepp,  Joh.:  Die  Selbstregierung  der  Schüler.  Erfahrungen  m.  F.  W.  Försters 
Vorschlägen  f.  e.  vertiefte  Charakterbildg.  in  der  Schule.  2.,  verm.  u.  verb. 
Avifl.     110  S.     Zürich,  Schultheiß  &  Co.     2.—  M. 

Roller,  Ob.-Realsch.-Ob.-Lehr.  Priv.-Doz.  Prof.  Dr.  Karl:  Schulkind  u.  Eltern- 
haus.    III,  98  S.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer.     1.20  M. 

Kassowitz,  weil.  Prof.  Dr.  Max:  Die  Gesundheit  des  Kindes.  Zur  Belehrg. 
f.  junge  Eltern.     III,  73  S.  m.  Bildnis.     8°.     Wien,  M.  Perles.     1.50  M. 

Grimm,  Schuldir.  Dr.  Ludw.:  Vom  Mutterboden  des  Kinderstils.  Sprach- 
liche Ausdrucksbildung  im  Kindergarten  u.  im  Schulberrich.  Aus  Unter- 
richt, Schaffender.  Hilfsbücher  zur  Förderg.  der  Selbständigkeit  des  Lehrers 
u.  der  Schüler.  Hrsg.  v.  Lehr.  Fei.  Heuler  u.  Rekt.  Herm.  Laue.  gr.  8».  Langen- 
salza, F.  Kortkamp.    VH,  158  S.  u.  16  S.  Abbildgn.    3.—  M;  geb.  in  Leinw.  3.80  M. 

Lay,  Dr.  W.  A.:  Der  Rechenunterricht  auf  experimentell-pädagogischer 
Grundlage.  (Umschlag  u.  Einbd.:  Führer  durch  den  Rechenunterricht.)  Um- 
gearb.  u.  verm.,  3.  Aufl.  1.  Tl.  Unterstufe.  VIII,  299  S.  m.  Abbildgn.  u.  4  Taf. 
Leipzig,  Quelle  &  Meyer,     4  M;  geb.  in  Leinw.  4.80  M. 

Reichel,  Realprogymn.-Ob.-Lehrer  Dr.  Walt.:  Mathematischer  Werkunter- 
richt. Eine  Anleitg.  zur  Herstellg.  u.  Verwendg.  einfacher  mathemat.  Modelle  f. 
Lehrer  u.  Schüler.    VII,  63  S.  m.  Abbildgn.  gr  8°.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  1.—  M. 

Spilger,  Ob.-Lehr,  Dr.  Ludw.:  Biologische  Beobachtungsaufgaben.  Im  An- 
schluß an  das  naturwissenschaftl.  Unterrichtswerk  v.  Prof.  Dr.  O.  Schmeil  u.  zu 
selbständ.  Gebrauche  bearb.  (Schmeils  naturwissenschaftl.  Unterrichtswerk). 
VIII,  132  S.  m.  32  Abbildgn.  Leipzig,  Quelle  &  Meyer.  2.20  M;  geb.  in  Leinw. 
2.60  M. 

Klinghardt,  H.:  Artikulations-  u.  Hörübungen.  Praktisches  Hilfsbuch  der 
Phonetik  f.  Studierende  u.  Lehrer.  2.,  völlig  umgearb.  Aufl.  VTH,  255  S. 
Cöthen,  O.  Schulze  Verl.    6.—  M. 

Jugend-Bewegung,  Unsere.  Hrsg.  vom  Bonner  Bez.-Verband.  kathol.  Jugend- 
vereine. (Das  Titelbild  zeichnete  Maler  Willy  Stucke.)  80  S.  m.  Abbildgn- 
Bonn,  (M.  Rahm)     —.60  M. 

Hoff  mann,  RoK.  Jos.:  Fug  u.  Unfug  der  Jugendkultur.  Hinweise  u,  Fest- 
stellgn.  nebst  zahlreichen  Dokumenten  jugendl.  Erotik  bei  Knaben.  VII,  82  S. 
Greiz,  O.  Henning.     2. —  M. 

Jahrbuch  f.  praktische  Jugendpflege.  Ratgeber  u,  Nachschlagebuch  f.  alle 
Fragen  der  prakt.  Jugendpflege,  unter  Mitwirkg.  namhafter  Fachleute  u.  unter 
Benutzg.  amtl.  Materials  hrsg.  v.  Alfr.  Rosenthal.  1.  Jahrg.  1914.  438  S.  m. 
Abbildgn.     Bielefeld-Gadderbaum,    W.    Bertelsmann,     geb.    in  Leinw.  b  5. —  M. 

Jahresberichte  (1913)  aus  der  privaten  Hamburger  Jugendfürsorge.  Hrsg.  v. 
Past.  Otto  Bahnsen.  IV,  171  S.  Hamburg.  Verlag  v.  Kinderschutz  u.  Jugend- 
wohlfahrt.    1. —  M. 

Hemprich,  Sem.-Ob.-Lehr.  K.:  Handbuch  u.  Wegweiser  f.  die  Arbeit  in  der 
Jugendpflege.  3.  umgearb.  Aufl.  VIII,  238  S.  Osterwieck,  A.  W.  Zickfeldt. 
3.20  M;  geb.  in  Leinw.  n3.80  M. 

Deutsch,  Dr.  Jul.,  Die  Kindarbeit  u.  ihre  Bekämpfung.  (Volks-[Titel-]Ausg.) 
XI,  247  S.    Zürich,  Rascher  &  Co.    2.50  M. 

Jahres-Verzeichnis  der  an  den  deutschen  Schulanstalten  erschienenen  Abhand- 
lungen. XXV.  1913.  III,  74  S.  Berlin,  Behrend  &  Co.  b  1.20;  einseitig  be- 
druckt 1.20  M:  beide  Ausg.  zusammen  2. —  M. 


yv'^ 


Der  Krieg  und  die  Schule. 

Von  August  Messer. 

Durch  den  Krieg  ist  der  seelische  Zustand  von  Lehrern  und  Schülern 
so  tiefgreifend  verändert,  daß  es  eine  wichtige  und  dringliche  pädagogische 
Aufgabe  geworden  ist,  darüber  nachzudenken,  wie  dieser  ungewohnten  Ge- 
samtlage Rechnung  getragen  werden  kann. 

Was  zunächst  die  Lehrer  betrifft,  so  wird  ein  bestimmtes  Gefühl  bei 
gar  vielen  vorherrschen:  die  Trauer  darüber,  daß  sie  nicht  selbst  wie 
Tausende  ihrer  Amtsgenossen  mit  ins  Feld  ziehen  konnten.  Diese 
Stinmiung  wie  zugleich  auch  die  innere  Unruhe,  die  mit  der  ständigen 
Erwartung  neuer  Nachrichten  vom  Kriegsschauplatz  und  der  Sorge  um 
teuere  Angehörige,  die  im  Felde  stehen,  gegeben  ist,  hat  aber  die  Tendenz, 
die  gewohnten  Interessen  und  Wertschätzungen  in  hohem  Grade  zu  ver- 
ändern oder  ihre  Motivkraft  zu  mindern. 

Die  Beschäftigung  mit  wissenschaftlichen  Dingen  erscheint  leicht  schal 
und  bedeutungslos;  es  fällt  schwer,  auf  andere  Gegenstände  als  die  prak- 
tischen Fragen  des  Tages  seine  Aufmerksamkeit  zu  konzentrieren.  Selbst 
die  Arbeit  in  der  Schule  trägt  für  viele  —  und  zwar  umsomehr,  je  mehr 
sie  den  Kampf  fürs  Vaterland  ersehnen  und  schätzen  —  den  Charakter  des 
Minderwertigen. 

Darunter  aber  muß  diese  Arbeit  selbst  leiden;  denn  das  ist  doch  eine 
feststehende  psychologische  Tatsache,  daß  eine  Arbeit  um  so  besser  gelingt, 
je  mehr  wir  mit  ganzer  Seele,  d.  h.  mit  unserem  vollen  Interesse  und  mit 
unwillkürlicher  Aufmerksamkeit  dabei  sind,  und  eine  je  intensivere  Wert- 
schätzung unseres  Tuns  und  seiner  Ziele  uns  durchdringt. 

Soll  darum  eine  schwere  Schädigung  der  ganzen  Schularbeit  während  der 
Dauer  des  Krieges  abgewendet  werden,  so  muß  sich  jeder  Lehrer  von  der 
Überzeugung  durchdringen  lassen:  Das,  was  du  als  Erzieher  und  Lehrer  zu 
leisten  hast,  ist  nicht  minderwertig  gegenüber  dem  Kampf  mit  der  Waffe. 
Zwar  ist  die  Verteidigung  des  angegriffenen  Vaterlandes  heute  die  dring- 
lichste Pflicht,  aber  der  Krieg  selbst  empfängt  doch  nur  seine  sittliche 
Rechtfertigung,  sofern  er  notwendiges  Mittel  zum  Schutze  unserer  natio- 
nalen Kultur  ist.  An  deren  Erhaltung  und  Förderung  aber  mitzuarbeiten, 
ist  der  Lehrer  unmittelbar  berufen. 

Wer  in  dieser  Erwägung  nicht  volle  Beruhigung  findet,  der  sage  sich 
noch,  daß  jeder,  der  heute  vom  Dienst  mit  der  Waffe  gegen  seinen  Wunsch 
ausgeschlossen  ist,  es  aus  einem  gesetzlichen  Grunde  ist.  Unsere  Pflicht 
dem  Vaterlande  gegenüber  aber  besteht  darin,  daß  wir  ihm  dienen  an  der 
Stelle,  wo  wir  nach  Recht  und  Gesetz  hingestellt  sind,  nicht  an  der,  wo- 

ZeitBchrift  f.  pttdagog.  Psychologie.  34 


530  Der  Krieg  und  die  Sciiule. 


hin  wir  uns  gerade  wünschen  und  sehnen.  Auch  im  Heere  wird  gar 
mancher  sich  an  einen  anderen  Platz  wünschen,  als  den,  der  ihm  gerade  zu- 
gewiesen ist.  Daß  es  uns  Lehrern  aber  während  der  Kriegszeit  schwerer 
wird,  unsere  Gedanken  auf  die  Berufsarbeit  zu  konzentrieren,  ist  psycho- 
logisch sehr  begreiflich,  aber  das  Bewußtsein  unserer  Pflicht  ist  hoffent- 
lich ein  ausreichend  intensives  Motiv,  um  die  willkürliche  Aufmerksamkeit 
da  herbeizuführen,  wo  die  unwillkürliche  sich  nicht  einstellen  will. 

Es  wäre  nun  freilich  eine  ganz  falsche  Berufsauffassung,  wenn  der  Lehrer 
es  für  seine  Pflicht  hielte,  seine  Tätigkeit  genau  so  zu  gestalten  wie  im 
tiefen  Frieden,  und  in  der  Schule  sich  so  zu  verhalten,  als  existiere  der 
Krieg  überhaupt  nicht.  Bei  einer  derartig  pedantischen  Auffassung  würde 
man  gerade  verkennen,  daß  die  Schule  dem  Leben  dienen  und  mit  dem 
Leben  in  innigster  Fühlung  stehen  soll.  Wer  die  gewaltigen  Ereignisse, 
die  wir  heute  miterleben,  im  Unterricht  kühl  ignorieren  wollte,  um  ja  dem 
vorgeschriebenen  Lehrplan  und  dem  gewohnten  Verfahren  treu  zu  bleiben, 
der  würde  die  Kluft  zwischen  Schule  und  Leben  für  seine  Zöglinge  un- 
erträglich machen;  er  würde  unersetzliche  Gelegenheiten,  tiefgreifende 
Wirkungen  auf  die  Jugend  zu  üben,  verpassen  und  um  schematischer 
Korrektheit  willen  höheren  Aufgaben  seines  Berufs  gegenüber  kläglich 
versagen. 

Damit  aber  der  Lehrer  den  neuen  und  eigenartigen  Anforderungen,  die 
vor  allem  an  seine  erziehliche  Tätigkeit  aus  der  Zeitlage  erwachsen,  gerecht 
werden  könne,  muß  er  für  sich  selbst  einen  festen  sittlichen  Standpunkt 
für  die  Beurteilung  des  Krieges  gewinnen. 

Als  allgemein  zugestanden  darf  ich  hier  wohl  voraussetzen,  daß  nicht 
der  Kriegs-,  sondern  d'er  Friedenszustand  unter  den  Einzelnen  wie  unter 
den  Völkern  als  der  sittlich  wertvolle,  als  der  eigentlich  seinsollende  zu 
gelten  habe.  Wie  läßt  sich  nun  der  Krieg  überhaupt  sittlich  rechtfertigen? 
Ist  er  nicht  Selbst  wert,  so  kann  er  nur  abgeleiteten  sittlichen  Wert 
besitzen  als  unentbehrliches  Mittel  zu  einem  sittlichen  Eigenwert.  Um  ihn 
als  ein  solches  Mittel  darzutun,  hat  man  hingewiesen  auf  gewisse  sittliche 
Gefahren,  die  ein  langer  Friedenszustand  für  die  Völker  mit  sich  bringt, 
und  andererseits  auf  die  hohen  sittlichen  Leistungen,  die  der  Krieg  hervor- 
zurufen pflegt.  So  erklärt  selbst  Kant,  obwohl  er  den  „ewigen  Frieden" 
als  einen  Idealzustand  anerkennt:  „Der  Krieg,  wenn  er  mit  Ordnung  und 
Heiligachtung  der  bürgerlichen  Rechte  geführt  wird,  hat  etwas  Erhabenes 
an  sich  und  macht  zugleich  die  Denkungsart  des  Volkes,  welches  ihn  auf 
diese  Art  führt,  uns  um  desto  erhabener,  Je  mehr  Gefahren  es  ausgesetzt 
war  und  sich  mutig  darunter  hat  behaupten  können;  da  hingegen  ein 
langer  Friede  den  bloßen  Handelsgeist,  mit  ihm  aber  den  niedrigen  Eigen- 
nutz, Feigheit  und  Weichlichkeit  herrschend  zu  machen  und  die  Denkungs- 
art zu  erniedrigen  pflegt."  Auch  Hegel  sieht  im  Kriege  ein  unentbehr- 
liches Mittel,  um  Staaten  und  Völker  vor  sittlicher  „Fäulnis"  und  „Ver- 
sumpfung" zu  bewahren  und  ihre  „sittliche  Gesundheit  zu  erhalten".  Von 
ähnlichen  Erwägungen  aus  ist  Moltke  sogar  zur  Ablehnung  des  Ideals  des 
„ewigen  Friedens"  gekommen;  an  einer  viel  zitierten  Briefstelle  schreibt 
er:   „Der  ewige  Friede  ist  ein  Traum  und  nicht  einmal  ein  schöner,  und 


Der  Krieg  und  die  Schule.  53 1 

^- 

der  Krieg  ist  ein  Element  in  Gottes  Weltordnung.  In  ihm  entfalten  sich 
die  edelsten  Tugenden  der  Menschheit,  Mut  und  Entsagung,  Pflichttreue 
und  Opferwilligkeit  mit  Einsetzung  des  Lebens.  Ohne  den  Krieg  würde 
die  Welt  im  Materialismus  versumpfen." 

Zweifellos  enthalten  derartige  Aussprüche  viel  Wahres,  und  jeder  von 
uns  hatte  wohl  Gelegenheit  zu  beobachten,  wie  auch  der  jetzige  Krieg  zur 
„Entfaltung  der  edelsten  Tugenden"  Veranlassung  geboten  hat  und  fort- 
dauernd bietet. 

Trotzalledem  scheint  mir  diese  Art,  den  Krieg  sittlich  zu  rechtfertigen, 
nicht  ausreichend. 

Zunächst  kommt  doch  in  Betracht,  „daß  —  um  wieder  mit  Moltke  zu 
reden  — ,  jeder  Krieg,  auch  der  siegreiche,  ein  Unglück  für  das  eigene 
Volk  ist;  denn  kein  Landerwerb,  keine  Milliarden  können  Menschenleben 
ersetzen  und  die  Trauer  der  Familie  aufwiegen",  i) 

Wer  würde  seinem  Volk  und  Land  die  Pest  oder  ein  Erdbeben  wünschen, 
weil  auch  sie  Gelegenheit  bieten,  „die  edelsten  Tugenden  zu  entfalten"?! 
Schwerer  noch  wiegt,  daß  der  Krieg  zugleich  Anlaß  und  Anreiz  zu  sittlict 
verdammungswürdigen  Taten  bietet,  wie  sie  ja  auch  diesmal  massenhaft 
von  unseren  Gegnern  berichtet  werden:  zu  Rechtsbruch,  brutaler  Zerstörungs- 
wut, wildem  Haß  und  feiger  Tücke,  erbarmungsloser  Grausamkeit  u.  a. 
Wer  vermißt  sich  abzuschätzen,  ob  der  moralische  Gewinn  oder  der  mora- 
lische Verlust,  der  dem  Menschengeschlecht  aus  einem  Kriege  erwächst, 
überwiegt?  Und  dann:  ist  der  Krieg  wirklich  das  einzige  Mittel,  um 
ein  Volk  vor  sittlicher  Fäulnis  zu  bewahren?  Wie  viel  gesicherte  geschicht- 
liche Erfahrungen  hierüber  müßten  wir  haben,  um  einen  solchen  Satz  aus- 
reichend zu  begründen!  Man  erwäge  auch  dies:  der  moralische  Zustand 
unseres  Volkes  nach  dem  70  er  Kriege  war,  nach  dem  Urteil  einsichtiger 
Beobachter,  kein  besonders  erfreulicher.  Man  denke  z.  B.  an  die  „Gründer- 
zeit" der  70er  Jahre!  Hat  andrerseits  der  lange,  dreiundvierzigjährige  Friede 
uns  moralisch  versumpfen  lassen?  Würde  endlich  eine  Regierung  sittlich 
handeln,  die  absichtlich  Krieg  herbeiführte,  lediglich  um  ihr  Volk  vor  den 
sittlichen  Gefahren  eines  dauernden  Friedens  zu  bewahren?  Da  gibt  es 
denn  doch  andere  Mittel.  Sie  liegen  in  den  gesunden  sittlichen  Instinkten 
eines  Volkes,  in  dem  Erziehungs-  und  Bildungswesen,  in  der  Religion,  in 
der  Philosophie,  schließlich  in  dem  Daseinskampf  selbst,  der  ja  für  die 
meisten  auch  im  Frieden  hart  genug  durchzufechten  ist. 

Wie  wenig  jene  Art,  den  Krieg  zu  rechtfertigen,  dem  allgemeinen  sitt- 
lichen Bewußtsein  unsres  deutschen  Volkes  entspricht,  geht  schließlich  klai- 
aus  folgender  Tatsache  hervor:  uneingeschränkte  Billigung  hat  unser  Kaiser 
gefunden,  da  er  alles,  was  er  mit  Ehren  tun  konnte,  tat,  um  seinem  Volke 
und  Europa  den  Frieden  zu  wahren. 

Eine  Rechtfertigung  des  Krieges  wird  nur  dann  jedes  sittliche  Bedenken 
siegreich  überwinden,  wenn  er  wirklich  als  notwendiges,  als  noch  einzig 


*)  In  änlichem  Sinne  erklärte  Bismarck:  „Ich  betrachte  auch  einen  siegreichen 
Krieg  an  sich  immer  als  ein  Übel,  welches  die  Staatskunst  den  Völkern  zu 
ersparen  bemüht  sein  muß." 

34* 


532  ^^^  Krieg  und  die  Schule. 

mögliches  Mittel  zur  Erhaltung  eines  absolut  notwendigen  sittlichen  Eigen- 
wertes erscheint. 

Es  wird  nun  die  Behauptung  schwerlich  Widerspruch  finden,  daß  unsere 
deutsche  Kultur  —  sofern  sie  auch  unser  sittliches  Bewußtsein  einschließt 
und  vor  dessen  Urteil  besteht  —  einen  solchen  Eigenwert  darstellt,  und 
daß  ihre  Erhaltung  und  Weiterentwicklung  sowohl  um  ihrer  selbst  willen 
als  auch  um  der  Kultur  der  Menschheit  willen  gefordert  erscheint. 

Ist  es  nun  richtig,  daß  unsere  staatliche  Selbständigkeit  und  unsere  Welt- 
stellung  eine  notwendige  Voraussetzung  ist  für  das  Gedeihen  unseres  Volkes 
und  unserer  Kultur,  dann  muß  auch  der  Krieg  gerechtfertigt  sein,  wenn 
er  als  letztes,  unvermeidliches  Mittel  zur  Wahrung  dieser  Güter  sich  dar- 
stellt. Das  gilt  aber  nicht  nur  für  unser  Volk  in  seiner  jetzigen  Lage, 
sondern  das  gilt  —  wie  ethische  Sätze  überhaupt  —  unter  den  gleichen 
Umständen  allgemein. 

Durch  derartige  Erwägungen,  denke  ich,  kann  die  gefühlsmäßige  Sicher- 
heit von  unserem  guten  Recht  zur  Kriegsführung  in  eine  klare,  ihrer  Gründe 
bewußte,  sittliche  Überzeugung  verwandelt  werden.  Eine  solche  scheint  mir 
aber  ein  wichtiges  seelisches  Erfordernis  zu  sein  für  die  besonderen  erziehlichen 
Aufgaben,  die  während  der  Kriegsdauer  dem  Lehrer  gestellt  sind. 

Eine  weitere  Voraussetzung  dafür  ist,  daß  er  als  Psychologe  die 
seelischen  Wirkungen  des  Krieges  auf  die  ihm  anvertraute  Jugend 
beobachte.  Eine  reiche  Fülle  von  Erscheinungen  ,wird  sich  ihm  dabei 
darbieten.  Und  nun  wird  es  wieder  darauf  ankommen,  diese  ethisch  zu 
bewerten  und  je  nach  ihrer  negativen  oder  positiven  sittlichen  Bedeutung 
die  geeigneten  Maßnahmen  zu  ergreifen.  Nur  an  ein  paar  Beispielen  mag 
dies  veranschaulicht  werden. 

Vor  allem  gilt  es,  einer  Verwirrung  und  Erschütterung  gewisser 
sittlicher  Grundanschauungen  vorzubeugen.  Die  Gefahr  einer  solchen 
ist  groß.  Heilig  gilt  sonst  das  Gebot:  Du  sollst  nicht  töten.  Jetzt  wird 
es  freudig  begrüßt,  wenn  Tausende  von  Feinden  gefallen  sind;  jetzt  feiert 
unsere  Technik  ihre  Triumphe  darin,  möglichst  wirksame  Werkzeuge  zur 
Tötung  von  Menschen  herzustellen. 

Hier  gilt  es  nun,  der  Jugend  zum  Bewußtsein  zu  bringen,  daß  der  Krieg 
einen  —  an  sich  nicht  wünschenswerten  —  Ausnahmezustand  darstellt, 
der  nur  erlaubt  sei  in  der  Notwehr  und  als  unentbehrliches  Mittel,  um 
einen  möglichst  dauernden  Frieden  wieder  herzustellen. 

Es  ist  auch  —  wenn  sich  Anlaß  bietet  —  klar  zu  machen,  wie  die 
Verwundung  und  Tötung  eines  Feindes  sich  völlig  von  dem  unterscheidet, 
was  als  „Körperverletzung"  oder  „Mord"  von  Moral  und  Strafrecht  schlecht- 
hin verpönt  ist.  Der  Soldat  verwendet  seine  Waffe  gegen  den  Feind  einem 
berechtigten  Gebot  gehorchend;  er  braucht  dabei  keinen  Haß  gegen  die 
Person  des  Feindes  zu  hegen,  ja  er  sollte  es  nicht.  Und  sobald  dieser 
kampfunfähig  geworden  ist  oder  sich  ergibt,  darf  er  ihn  nicht  mehr  ver- 
letzen oder  töten.  Dem  verwundeten  Feinde  wird  ebenso  Pflege  zuteil 
wie  dem  Verwundeten  des  eigenen  Heeres. 

Ein  besonders  schwieriges  Problem  erwächst  aus  Folgendem.  Es  ist 
psychologisch  durchaus  begreiflich,  daß  durch  den  Kriegszustand  die  Kampf- 


Der  Krieg  und  die  Schule.  533 

__ 

Instinkte,  die  in  der  männlichen  Jugend  ohnehin  stark  zu  sein  pflegen, 
mächtig  gereizt  und  genährt  werden.  Sie  erlebt  ja  den  eigentlichen  Krieg 
(soweit  sie  nicht  in  den  Grenzbezirken  selbst  von  ihm  betroffen  wird)  nur 
in  der  Phantasie  mit.  An  diesem  Phantasiebild  arbeiten  mit  all  die  Instinkte 
für  das  Abenteuerliche,  das  Heldenhafte,  für  Mut,  Kraft  und  List  —  aber 
die  gräßlichen  und  niederdrückenden  Seiten  des  Krieges  treten  stark  zurück, 
ja  kommen  kaum  zur  Geltung.  Und  so  kann  das  Gesamtergebnis  eine 
kriegerische  Stimmung,  eine  kritiklose  Begeisterung  für  den  Krieg  sein, 
wie  sie  wahrscheinlich  neun  Zehntel  derer,  die  aus  dem  Krieg  zurück- 
kommen, nicht  teilen  werden  und  gegen  die  auch  ernste  sittliche  Bedenken 
bestehen. 

Andrerseits  wäre  es  aber  doch  falsch,  die  kriegerischen  Instinkte  unsrer 
Jugend  und  die  jetzt  besonders  stark  aufflammende  Kriegsbegeisterung  bei 
ihr  schlechthin  bekämpfen  zu  wollen.  Die  Lage  unsres  Volkes,  das  von 
den  Feinden  sozusagen  umringt  ist  und  für  absehbare  Zeit  umringt  bleiben 
wird,  macht  eine  Erziehung  der  Jugend  zur  inneren  Kriegsbereitschaft 
und  zur  Kriegstüchtigkeit  zu  einer  gebieterischen  Pflicht  der  Selbst- 
erhaltung. 

Es  gilt  hier  nun  pädagogisch  derselbe  Grundsatz,  wie  er  für  die  Behand- 
lung des  Instinktiven,  des  naturhaften  Trieblebens  und  der  daraus  erwach- 
senden Wertschätzungen  überhaupt  gilt:  nicht  auszurotten  ist  die  seelische 
Energie,  die  in  dem  allen  sich  regt  und  nach  Auswirkung  ringt,  es  ist 
nur  dafür  zu  sorgen,  daß  der  jugendliche  Mensch  allmählich  Herr  wird 
über  diese  naturhaften  Gewalten  in  seinem  Innern,  und  daß  er  fähig  wird, 
sie  seinen  sittlichen  Wertschätzungen,  d.  h.  seinem  Gewissen,  entsprechend 
zu  lenken.  Dazu  ist  neben  der  praktischen  Übung  die  sittliche  Klärung 
eine  wichtige  Vorbedingung.  Gerade  unsere  Zeit  wird  reichlich  Anlaß 
bieten,  wenigstens  mit  älteren  Zöglingen  die  Frage,  wann  ein  Krieg  sitt- 
lich berechtigt  ist,  zu  erörtern.  Was  ich  darüber  oben  an  grundsätzlichen 
Gedanken  kurz  andeutete,  das  kann  —  in  elementarer  und  konkreter 
Form  —  auch  Kindern  und  Jugendlichen  sehr  wohl  zum  Verständnis 
gebracht  werden.  Man  vergesse  dabei  nicht  von  der  klärenden  Wir- 
kung des  Kontrastes  Gebrauch  zu  machen  durch  den  Hinweis  auf  die 
Hauptmotive,  die  —  aller  Wahrscheinlichkeit*)  nach  —  unsere  Gegner 
zum  Kriege  trieben :  bei  den  Russen  Streben  nach  Macht,  bei  den  Franzosen 
Sucht  nach  „Revanche"  und  Erneuerung  ihres  alten  Kriegsruhms,  bei  den 
Engländern  Geldgier  in  der  Form  des  schnöden  Geschäftsgeistes,  der  einen 
gefährlichen  Konkurrenten  nicht  durch  Verbesserung  der  eigenen  wirt- 
schaftlichen Leistung  überwinden,  sondern  durch  tückischen  Angriff  mit 
Übermacht  beseitigen  will.  Bei  allen  mochte  zudem  mitwirken:  Mißgunst 
und  Neid  auf  Deutschlands  neu  erworbene  politische  und  wirtschaftliche 
Großmachtsstellung,  Ärger  über  deutsche  Rührigkeit  und  Betriebsamkeit 
auf  allen  Kulturgebieten,  die  die  anderen  aus  bequemem  Dahinleben  auf- 


•)  Natürlich  lassen  sich  diese  Fragen  nur  mit  Wahrscheinlichkeit  beant- 
worten ;  tatsächlich  werden  sie  aber  in  Deutschland  mit  großer  Übereinstimmung 
HO  beantwortet,  wie  im  Text  angegeben. 


534  ^^^  Krieg  und  die  Schule. 

rüttelte  und  zu  stärkerer  Anspannung  ihrer  Kräfte  nötigte,  endlich  Miß- 
trauen gegen  Deutschland  und  Furcht  vor  seiner  gewaltigen  Landmacht 
und  seiner  wachsenden  Flotte  —  ein  Mißtrauen  und  eine  Furcht,  die 
psychologisch  begreiflich  sind,  wenn  wir  ihnen  auch  im  Hinblick  auf 
Deutschlands  mehr  als  vierzigjährige  beharrliche  Friedenspolitik  die  ob- 
jektive Berechtigung  absprechen  müssen. 

Man  wird  nun  leicht  durch  den  Hinweis  auf  die  Motive  unserer  Gegner 
auch  die  Zustimmung  der  Jugend  dafür  finden,  daß  ein  Krieg,  der  aus 
solchen  Beweggründen  hervorging,  vom  ^Gewissen  nicht  gebilligt  werden 
kann,  während  der  Verteidigungskrieg,  den  Deutschland  und  Österreich 
führen,  ohne  weiteres  als  ein  gerechter  Krieg  beurteilt  werden  wird.  Aus 
diesen  konkreten  Fällen  läßt  sich  dann  aber  ohne  weiteres  die  allgemeine 
Einsicht  abstrahieren,  daß  Krieg  nicht  schlechthin  und  unter  allen  Um- 
ständen etwas  sittlich  Billigenswertes  sei,  sondern  daß  es  durchaus  auf 
seine  Motive  und  Zwecke  ankommt. 

Dabei  mag  noch  eine  Nebenfrage  gestreift  werden,  die  völkerpsycho- 
logisch interessant  ist  und  die  auch,  wenn  sich  Anlaß  bietet,  mit  der 
Jugend  zu  deren  sittlicher  Klärung  besprochen  werden  kann,  nämlich  die 
Frage,  wie  die  Motive  der  Gegner  im  Vergleich  zu  einander  zu  bewerten 
sind.  Auch  hierüber  herrscht,  soweit  ich  beobachten  konnte,  bei  den  Er- 
wachsenen eine  auffällige  Übereinstimmung:  am  mildesten  urteilt  man 
über  die  Franzosen,  schärfer  über  die  Russen,  am  schärfsten  über  die 
Engländer.  Die  Motive  dieser  Beurteilung  sind  natürlich  nicht  völlig  ein- 
fache und  eindeutige  (so  spielt  gegenüber  den  Engländern  die  Entrüstung 
darüber  eine  Rolle,  daß  sie  trotz  ihrer  Stammesverwandtschaft  uns  an- 
greifen usw.),  aber  es  macht  sich  dabei  hauptsächlich  die  uns  auch  sonst 
geläufige  Rangordnung  in  der  Bewertung  ihrer  Hauptziele:  Ruhm,  Macht, 
Geld,  geltend.  Daß  derartiges  in  interessante  Fragen  der  Psychologie  des 
Bewertens  hineinführt,  ist  leicht  ersichtlich.  — 

Mit  psychologischer  Notwendigkeit  wird  aber  der  Gedanke  an  unsere 
Gegner  und  ihre  Motive,  ferner  die  Nachrichten  über  die  Art  ihrer  Kriegs- 
führung bei  unserer  Jugend  Gefühle  der  Erbitterung,  des  Hasses  und 
der  Rachsucht  wecken.  Damit  kommen  wir  auf  einen  weiteren  Punkt, 
wo  es  gilt,  seelischen  Schädigungen  unserer  Jugend  durch  den  Krieg  vor- 
zubeugen. Wir  haben  es  bisher  als  einen  besonderen  Vorzug  unseres 
deutschen  Volkes  geschätzt,  daß  es  ernstlich  bestrebt  war,  gerecht  zu 
urteilen  über  andere  Völker,  auch  über  seine  Feinde;  daß  es  besonders 
fähig  und  geneigt  war,  fremdes  Volkstum  zu  verstehen  und  fremde  Vor- 
züge neidlos  anzuerkennen  und  sich  zum  Muster  zu  nehmen.  Es  scheint 
mir  eine  heilige  Pflicht  unserer  gesamten  Lehrerschaft  zu  sein,  daß  sie 
diese  echt  humane  Gesinnung,  deren  Wertschätzung  wir  bei  unseren 
größten  und  edelsten  Denkern  finden,  unserer  Jugend  unversehrt  über- 
mitteln, und  daß  sie  dadurch  an  ihrem  Teil  dafür  Sorge  trage,  daß  durch 
den  Krieg  unser  Volk  nicht  Schaden  leide  an  seiner  Seele. 

Zwar  kann  man  es  nur  begrüßen,  wenn  der  Krieg  einen  starken  Anstoß    \ 
dazu   gegeben   hat,   der  bei   uns   vielfach   bestehenden  urteilslosen  Über- 
schätzung des  Fremden  zu   Ungunsten  heimischer  Leistungen   (vor  allem 


Der  Krieg  und  die  Schule.  535 

auf  dem  Gebiete  der  Kunst  und  der  Mode)  und  dem  Gebrauch  von  Fremd- 
wörtern i),  wo  wir  gut  deutsche  Ausdrücke  dafür  haben,  scharf  entgegen- 
zutreten. Die  Erfahrungen,  die  der  Krieg  uns  brachte,  werden  voraus- 
sichtlich auch  unser  Volk  mit  gutem  Grund  dazu  führen,  gegen  Angehörige 
fremder  Staaten  vorsichtiger  zu  sein  und  ihnen  geistige  Güter  und  tech- 
nische Errungenschaften  nicht  so  freigebig  wie  bisher  zu  liefern,  da  die 
Japaner  und  Russen  uns  gezeigt  haben,  daß  sie  Dankbarkeit  nicht  kennen 
und  gegen  uns  als  Waffe  mißbrauchen,  was  sie  durch  unsere  Großmut  und 
unseren  Sinn  für  die  Einigung  der  Menschheit  empfingen.  Aber  deshalb 
wollen  wir  nicht  blindem  Haß  gegen  alles  Fremde,  nicht  einmal  gegen  die 
uns  jetzt  bekämpfenden  Völker  verfallen.  Wir  wollen  uns  insbesondere 
auch  davor  bewahren,  die  Fremden  als  Einzelne  zu  hassen.  Auch  die 
Jugend  soll  es  wissen,  daß  bei  all  diesen  Völkern,  besonders  bei  den  Eng- 
ländern, es  nicht  an  solchen  fehlte,  die  den  Krieg  mißbilligten,  ja  daß 
wohl  überhaupt  die  eigentliche  Masse  der  Völker  den  Frieden  vorgezogen 
hätte,  daß  die  Hauptschuld  am  Kriege  bei  gewissen  Gruppen  von  Hetzern 
(die  besonders  durch  einen  Teil  der  Presse  Macht  gewannen)  und  bei  den 
Regierungen  liegt. 

Vor  allen  geeignet,  Haß-  und  Rachegefühle  auszulösen  —  auch  gegen 
die  Feinde  als  Personen  —  sind  die  Nachrichten  von  den  mannigfachen 
Greueln,  Gewalttätigkeiten  und  heimtückischen  Schädigungen,  die  sie  gegen 
uns  verüben.  Es  wäre  nun  freilich  unter  pädagogischem  Gesichtspunkte 
das  Rätlichste,  der  Jugend,  insbesondere  den  Kindern,  die  Kenntnis  solcher 
Dinge  möglichst  zu  ersparen.  Fast  in  jedem  Menschen,  zumal  beim  männ- 
lichen Geschlecht,  schlummern  gewisse  Instinkte  der  Rache  und  der  Grausam- 
keit, die  leicht  zu  sittlich  verwerflichem  Wünschen  und  Tun  auch  gegen- 
über Volksgenossen  führen  und  die  besonders  schwer  zu  versittlichen  sind. 
Eltern  und  Lehrer  werden  also  in  erster  Linie  darauf  bedacht  sein  müssen, 
vom  Kinde  alles  fern  zu  halten,  was  diese  dunklen,  unheimlichen  Gewalten 
reizen  und  stärken  kann.  Aber  das  wird  sich  —  zumal  in  der  gegenwärtigen 
Zeit  —  nur  sehr  unvollkommen  durchführen  lassen.  Und  so  wird  man 
Sorge  tragen  müssen,  Gegenmotive  gegen  jene  bedenklichen  Instinkte  zu 
erwecken  und  auch  sie,  soweit  möglich,  sittlich  zu  läutern  und  umzubilden. 

Es  ist  also  hinzuweisen  auf  die  allgemeine  Unkultur  und  Roheit  weiter 
Teile  der  russischen  Bevölkerung;  es  sind  die  Beispiele  menschlicher,  ritter- 
licher Kriegsführung,  die  bei  unsern  Feinden  auch  nicht  fehlen,  zur  Geltung 
zu  bringen;  es  ist  schließlich  der  allgemeine  sittliche  Grundsatz  einzuprägen, 
daß  wir  nicht  in  erster  Linie  fragen  dürfen:  wie  treiben  es  die  andern, 
sondern:  was  sind  wir  uns,  unserem  Gewissen  und  unseren  Idealen  schuldig? 

Dies  unser  Gewissen  fordert  nun  freilich  nicht,  daß  wir  alles  Frevelhafte 
und  durch  das  Völkerrecht  Verpönte  von  Seiten  unserer  Feinde  ruhig  und 
sanftmütig  hinnehmen.  Nur  gilt  es,  den  persönlichen  Haß  gegen  die 
Täter  zur  sachlichen  Entrüstung  über  derartiges  Tun  (gleichgültig,  von 
wem   es  verübt   wird)   und  den  Rachetrieb  zum  positiven  Streben  nach 

')  Freilich  muß  sich  gerade  die  Bekämpfung  der  Fremdwörter  sorgfältig  davor 
hüten,  nicht  unersetzliches  Sprachgut  zu  verwerfen  und  nicht  ins  Läppische  und 
Kindische  zu  verfallen. 


536  Der  Krieg  und  die  Schule. 


Abwehr  und  Schutz  der  Unseren  umzubilden.  An  einem  Beispiel  mag  das 
Letztere  veranschaulicht  werden.  Viel  wurde  in  letzter  Zeit  geklagt  über 
die  barbarische  Behandlung  der  in  England  festgehaltenen  Deutschen.  Der 
Racheinstinkt  fordert:  Behandeln  wir  die  bei  uns  weilenden  Engländer 
ebenso  schlecht  oder  noch  schlechter!  Und  dieser  Racheinstinkt  will  sich 
vor  unserem  Gewissen  rechtfertigen  als  Verlangen  nach  „Vergeltung'*.  Aber 
die  sittliche  Berechtigung  der  Vergeltung  ist  heute  vielen  unter  uns  zweifel- 
haft geworden.  Es  ist  etwas  Böses  geschehen:  welchen  Sinn  soll  es  nun 
haben,  ein  weiteres  Böses  hinzuzufügen!?  —  Aber  werden  wir  darum  jene 
üble  Behandlung  unserer  Landsleute  geduldig  hinnehmen?  Durchaus  nicht; 
im  Gegenteil,  unser  Gewissen  mißbilligt  es,  daß  wir  so  lange  ruhig  zugesehen 
haben.  Was  es  aber  fordert,  das  ist  nicht  etwas  so  Negatives  wie  Rache, 
sondern  etwas  Positives:  die  schärfsten  Maßnahmen,  um  Jene  aus  ihrer 
Lage  zu  befreien.  Wenn  wir  als  einzig  mögliches  Mittel  hierzu  der 
englischen  Regierung  die  Festnahme  der  Engländer  androhen  und,  falls  sie 
die  Unsrigen  nicht  freigibt,  diese  auch  wirklich  durchführen,  so  ist  das  ein 
Handeln,  dessen  Sinn  und  Zweck  selbst  alle  die  billigen  werden,  denen 
die  Berechtigung  der  Vergeltung  zweifelhaft  geworden  ist.  — 

Dieses  Beispiel  leitet  zu  einer  weiteren  Frage,  zu  deren  Erörterung  mit 
der  Jugend  dringender  Anlaß  vorliegt  in  dem  gegen  die  Deutschen  so  laut 
erhobenen  Vorwurf  der  „Barbarei"  —  (zumal  auf  Grund  ihres  Vorgehens 
gegen  Löwen  und  Reims  ist  er  laut  geworden).  Auch  Kinder  können  schon 
einsehen,  daß  Zerstören  aus  bloßer  Lust  am  Zerstören  und  Zerstören  aus 
Notwendigkeit  der  Kriegsführung  etwas  ganz  Verschiedenes  ist.  Es  unter- 
scheidet sich  das  psychologisch  nach  den  Motiven  und  ethisch  nach  unserem 
Gewissensurteil  darüber.  Wenn  überhaupt  ein  Krieg  als  ein  sittlich 
berechtigter  von  uns  anerkannt  ist,  so  muß  alles  gebilligt  werden,  was 
als  unumgängliches  Mittel  zur  Erreichung  des  Kriegszweckes  (die  Besiegung 
des  Gegners  und  weiterhin  die  Herstellung  des  Friedens)  erscheint.  Wenn 
dazu  ungeheuerliche  Opfer  erforderlich  sind  nicht  nur  an  wirtschaftlichen 
Gütern  und  an  Kulturwerten  aller  Art,  sondern  auch  an  Menschenleben,  so 
kann  im  Hinblick  darauf  schon  dem  jugendlichen  Menschen  eine  Ahnung 
dafür  aufgehen,  daß  es  sittliche  Pflichten  gibt,  die  geradezu  Härte  von  uns 
verlangen  (ohne  daß  wir  uns  deshalb  der  Grausamkeit  und  Barbarei  schuldig 
machen);  daß  ferner  menschliches  Leben,  Glück  und  Behagen  „der  Güter 
höchstes"  nicht  ist,  sondern  die  ernste  Durchführung  des  als  sittlich  richtig, 
als  „Pflicht"  Gefühlten  oder  Erkannten.  — 

Wir  haben  bisher  wesentlich  solche  Beziehungen  des  Kriegs  ins  Auge 
gefaßt,  bei  denen  es  gilt,  Schädigungen  des  jugendlichen  Gemüts  abzu- 
wenden und  die  Eindrücke,  die  bedenklich  wirken  könnten,  zum  Guten  zu 
wenden.  Kürzer  können  wir  uns  fassen  bezüglich  der  Erfahrungen,  von 
denen  von  vornherein  vorwiegend  günstiger  Einfluß  erwartet  werden 
kann.  Hier  gilt  es  zunächst,  der  Jugend  die  Augen  zu  öffnen  für  das 
Große  und  Gewaltige,  für  das  Edle  und  Erhabene,  das  wir  jetzt  in  Fülle 
erleben,  draußen  im  Felde  wie  auch  zu  Hause. ^) 

*)  Freilich  auch  hier  liegt  eine  Gefahr  nahe,  auf  die  ich  mit  einem  Wort  hin- 
weisen will.     Wir  wollen  nicht  in  der  Jugend  einen  Begeisterungstaumel  und  ein 


Der  Krieg  und  die  Schule.  537 

Wenn  es  vor  dem  Kriege  eine  ernste  Sorge  war  für  den  Patrioten  und 
Volkserzieher,  wie  der  inneren  Zerklüftung  unsres  Volkes  abzuhelfen  sei: 
dem  Klassenhaß,  dem  Parteizank,  der  konfessionellen  Verärgerung,  so  hat 
der  Krieg  mit  einem  Schlag  das  ganze  Volk  wieder  innerlich  geeint,  und 
an  diesem  großen  Segen,  den  er  uns  schon  gebracht  hat,  soll  auch  die 
Jugend  Anteil  bekommen.  Ihr  muß  dieses  erhebende  Schauspiel  besonders 
nachdrücklich  vor  die  Seele  gestellt  werden,  denn  der  würde  einer  argen 
Selbsttäuschung  unterliegen,  der  etwa  glaubte,  die  wichtige  Aufgabe  der 
inneren  Einigung  und  Versöhnung  unsres  Volkes  sei  nun  durch  den  Krieg 
für  die  Dauer  gelöst.  Ist  der  Friede  einmal  wieder  im  Land,  so  werden 
auch  die  Gegensätze  wieder  sich  geltend  machen.  Diese  sind  sozialpsycho- 
logisch zu  tief  begründet,  und  den  Deutschen  zumal  wohnt  die  Neigung 
zur  Parteiung  und  Eigenbrödelei  besonders  stark  inne.  Daß  Gegensätze 
bestehen  und  sich  auswirken,  gehört  zur  inneren  Gesundheit  und  Lebendig- 
keit eines  Volkes.  Nur  bleibt  es  höchst  wünschenswert,  daß  der  Kampf 
möglichst  sachlich  und  vornehm  geführt,  und  daß  über  dem  Trennenden 
das  Gemeinsame  nicht  vergessen  werde.  Dieses  ruht  aber  vor  allem  in 
der  inneren  Zugehörigkeit  zu  demselben  Staat  und  Volke,  in  der  Vater- 
landsliebe. 

Der  ganze  Verlauf  des  Krieges  hat  bisher  gezeigt,  daß  die  Vaterlandsliebe 
viel  mächtiger  in  unserem  Volke  lebt  und  wirkt,  als  gar  mancher  vorher 
zu  hoffen  wagte.  Damit  ist  aber  auch  bewiesen,  daß  diejenigen  Pädagogen 
den  richtigen  psychologischen  Blick  hatten,  die  meinten,  man  solle  nicht 
viel  von  Patriotismus  auf  die  Jugend  einreden;  man  solle  ruhig  vertrauen, 
daß  die  Vaterlandsliebe  ganz  von  selbst  in  ihr  wachse. 

Dabei  bleibt  aber  doch  eine  wichtige  Aufgabe  die,  welche  man  seit  einigen 
Jahren  erst  in  ihrer  großen  Bedeutung  erkannt  und  als  staatsbürgerliche 
Bildung  und  Erziehung  bezeichnet.  ^)  Hierfür  ist  jetzt  eine  geradezu  ideale 
Zeit.  Wenn  es  sonst  nicht  ganz  leicht  ist,  Interesse  und  Verständnis  der 
Jugend  für  den  Staat  zu  gewinnen  wegen  seines  abstrakten,  ungreifbaren 
Wesens  und  wegen  der  Selbstverständlichkeit,  womit  sein  Walten  uns  umgibt, 
80  tritt  jetzt  sein  Wirken  viel  augenfälliger  hervor;  es  ist  auch  darin  so 
vieles  anders  als  in  der  Friedenszeit  und  drängt  sich  daher  (nach  einem 
bekannten  psychologischen  Gesetz)  dem  Bewußtsein  viel  schärfer  auf;  und 
endlich  wird  der  Einzelne  gewissermaßen  durch  einen  Anschauungsunter- 
richt nachdrücklichster  Art  darüber  belehrt,  wie  viel  Bande  ihn  an  seinen 
Staat  und  an  sein  Volk  fesseln,  und  wie  sein  eigenes  Wohl  und  Wehe 
von  dem  Ergehen  des  Ganzen  abhängt.  Wenn  schon  in  der  Friedenszeit 
alle  Unterrichtsfächer  ihren  Beitrag  leisten  können  für  die  staatsbürger- 
liche Bildung,  so  drängt  die  Kriegszeit  die  Anlässe  dazu  geradezu  auf. 
Nur  meine  man  ja  nicht  —  nochmals  sei  es  betont  — ,  aus  pedantischer 


übersteigertes  Selbst-  und  Nationalgefühl  aufkommen  lassen,  als  ob  nun  alles,  was 
deutsch  heißt,  ohne  weiteres  sittlich  vollkommen  sei.  An  einzelnen  betrübenden 
Erscheinungen  fehlt  es  auch  jetzt  nicht.  Man  denke  an  manche  Versuche,  durch 
Wucherpreise  die  Notlage  der  anderen  auszunützen  u.  a. 

')  Vgl.    darüber   meine  Preisschrift   „D&a  Problem  der  staatsbürgerlichen  Er- 
ziehung, historisch  und  systematisch  behandelt"  (Leipzig  1012). 


538  I^ß^  Krieg  und  die  Schule. 


Pflichtauffassung  heraus,  den  Unterricht  genau  so  gestalten  zu  müssen  wie 
im  Frieden,  Es  bedeutet  z.  B.  wahrlich  nicht,  „Allotria"  im  Geschichts- 
unterricht treiben,  \venn  der  Lehrer  einmal  mit  seinen  Schülern  die  Ursachen 
des  jetzigen  Krieges  oder  seinen  bisherigen  Verlauf  oder  einzelne  wichtige 
neue  Ereignisse  bespricht.  Man  erwecke  auch  ihr  Interesse  und  ihr  Ver- 
ständnis für  das,  was  im  Innern  für  die  erfolgreiche  Durchführung  des 
Krieges  geleistet  werden  muß:  die  Ausbildung  des  Ersatzes,  die  Pflege  der 
Verwundeten,  den  Nachschub  an  Proviant,  Munition,  Kriegsmaterial  aller 
Art,  die  Sorge  für  die  Ernährung  unsres  Volkes  („Höchstpreise"),  die  Ein- 
wirkungen der  Lahmlegung  des  Seeverkehrs,  die  Stockungen  in  der  Industrie, 
die  Aufbringung  der  Gelder  für  den  Krieg  usw.  Nur  angedeutet,  nicht 
erschöpft  soll  hier  die  reiche  Fülle  von  Themen  werden,  die  der  staats- 
bürgerlichen Belehrung  dienstbar  gemacht  werden  können. 

Derartige  Besprechungen  führen  aber  zwanglos  hinüber  zu  der  erzieh- 
lichen Seite.  Wir  ^yollen  voll  Hochgefühl  uns  sagen,  daß  v/irklich  der 
Krieg  in  unserem  Volke  einen  überraschenden  Reichtum  von  „edlen  Tugenden" 
offenbart  hat,  und  auch  die  Jugend  soll  das  merken.  Wir  brauchen  ihr 
jetzt  die  Beispiele  von  Mut,  Entsagung,  Opferwilligkeit,  glühender  Vater- 
landsliebe nicht  mehr  nur  aus  der  Vergangenheit  vorzuführen:  wir  können 
sie  ihr  in  ihrer  unmittelbaren  Umgebung  aufweisen.  Wir  haben  das  erhebende 
Bewußtsein,  daß  wir  nicht  bloß  Epigonen  einer  großen  Zeit  sind,  daß  wir 
vielmehr  selbst  Großes  erleben  und  leisten,  und  auch  davon  soll  die  Jugend 
ergriffen  werden. 

Sie  soll  aber  nicht  nur  in  tatlosem  Hochgefühl  schwelgen  oder  vergeb- 
lich sich  sehnen,  selbst  mit  der  Waffe  schon  für  das  Vaterland  kämpfen 
zu  können.  Es  soll  ihr  vielmehr  das  Verständnis  dafür  eröffnet  werden, 
daß  sie  jetzt  schon,  auch  im  noch  nicht  waffenfähigen  Alter  dem  Vater- 
land dienen  kann  —  vor  allem  durch  treueste  Erfüllung  der  gewöhn- 
lichen Pflichten.  Auch  die  Jugend  kann  schon  begreifen,  daß  nicht  nur 
kriegerischer  Sinn  und  kriegerische  Leistung  Deutschland  groß  gemacht 
hat,  sondern  auch  die  deutsche  Wissenschaft  und  Technik,  die  deutsche 
Ordnung,  Rührigkeit  und  unverdrossene,  sorgfältige  Arbeit.  Aber  auch 
darauf  ist  hinzuweisen,  daß  die  Kriegszeit  der  Jugend  noch  besondere 
Pflichten  auferlegt:  sie  kann  mancherlei  Helferdienste  bei  der  Fürsorge  für 
Verwundete,  für  durchziehende  Truppen,  für  Flüchtlinge  aus  den  Grenz- 
gebieten oder  sonstige  Notleidende  leisten;  sie  kann  sich  an  den  allerorts 
organisierten  Vorübungen  für  den  Heeresdienst  beteiligen,  die  weibliche 
Jugend  mancherlei  Liebesgaben  anfertigen  usw.  Aber  auch  im  häus- 
lichen Leben  bringt  die  schwere  Zeit  für  die  Kinder  besondere  Pflichten 
mit  sich:  können  sie  nicht  in  erster  Linie  die  Mutter  trösten,  wenn  der 
Vater  im  Felde  weilt  und  vielleicht  schon  Tod  oder  Verwundung  erlitten 
hat?  Können  sie  nicht  mannigfach  sparen  helfen,  wo  die  Einkünfte  durch 
den  Krieg  aufgehört  haben  oder  sehr  vermindert  sind?  Und  auch,  wo 
dies  nicht  der  Fall :  können  nicht  Kinder  wohlhabender  Eltern  durch  kleine 
Entsagungen  aus  ihrem  Taschengeld  gar  manches  für  gemeinnützige  Zwecke 
erübrigen?  In  welcher  Weise  man  ihnen  das  nahe  legen  kann,  dahin 
möchte    ich    sozusagen    eine    kleine   „Lehrprobe"    einschieben.    Ich   hatte 


Der  Krieg  und  die  Schule.  539 


jüngst  Veranlassung,   in   meinem  Wohnort  Folgendes  in  dem  gelesensten 
Lokalblatt  zu  veröffentlichen: 

Offener  Brief  an  die  Schüler  höherer  Lehranstalten. 

Liebe  Jungen!  Die  meisten  von  Eucli  würden  jetzt  sieher  Heber  im  Krieg  sein 
und  für  das  Vaterland  Leben  und  Gesundheit  opfern,  als  behaglich  im  warmen 
Zimmer  auf  der  Schulbank  sitzen;  und  ich  weiß:  wenn  Euch  jemand  zeigt,  hier 
und  dort  könntet  Ihr  selbst  etwas  tun  für  die  große  Sache,  so  würdet  Ihr  nicht 
zögern,  es  zu  vollbringen. 

Nun  gut,  ich  will  Euch  eine  solche  Gelegenheit  zeigen. 

Kürzlich  ging  ich  an  einer  höheren  Schule  vorbei,  als  gerade  Pause  war.  Da 
sprangen  viele  in  eine  nahe  Konditorei,  und  sie  kamen  zurück  mit  Törtchen, 
Cremschnittchen  und  anderen  leckeren  Sächelchen.  —  Ich  habe  mich  über  den 
guten  Appetit  gefreut,  mit  dem  das  verzehrt  wurde,  aber  zugleich  kam  mir  doch 
der  Gedanke  an  die  Tausende  Vertriebener  oder  Arbeitsloser,  die  jetzt  in  unserm 
\'aterland  Not  leiden,  und  an  die  vielen  wichtigen  Aufgaben,  für  die  jetzt  dringend 
Geld  gebraucht  wird.  Und  ich  dachte  mir:  wenn  jetzt  unsere  Jugend  statt  der 
teueren  Konditorwaren  —  Brot  äße  und  das  ersparte  Geld  für  vaterländische 
Zwecke  sammelte,  das  bewiese  echte,  männliche  opferwillige  Vaterlandsliebe, 
das  wäre  schlichtes  Rittertum.    Ist  das  im  Grunde  nicht  auch  Eure  Ansicht? 

Und  vielleicht  findet  Ihr  bei  näherer  Überlegung  noch  andere  Gelegenheiten 
zu  solch  wertvollen  Entsagungen  im  Dienste  des  Vaterlandes  ?  Wie  steht  es  denn 
z.  B.  mit  dem  Trinken  und  Rauchen  und  Euren  Weihnachts wünschen?  Ich  bin 
sicher:  Eurem  findigen  Geist  fällt  noch  Tausenderlei  ein,  woran  ich  Alter  gar  nicht 
denke.     Wie  wäre  es,  wenn  Ihr  damit  Ernst  machtet? 

Euer  alter  Freund  A.  M. 

Natürlich  meine  ich  nicht,  daß  für  den  Lehrer  der  gegebene  Weg  — 
die  Zeitung  wäre,  er  hat  nähere;  aber  da  ich  nur  noch  an  der  Universität 
\vii"ke,  so  wählte  ich  diesen.  — 

Nur  kurz  angedeutet  sei,  wie  noch  manches  andere  Gute  gerade  während 
der  Kriegszeit  in  der  Jugendlichen  Seele  gepflanzt  werden  kann:  die  Dank- 
barkeit gegen  die,  welche  draußen  im  Felde  ihr  Leben  für  uns  einsetzen 
und  unsägliche  Entbehrungen  und  Mühen  und  Beschwerden  ertragen;  das 
hoffnungsfreudige  Vertrauen  auf  die  Leitung  unsres  Staates  und  Heeres 
und  auf  die  Kriegstüchtigkeit  unserer  Land-  und  Seemacht;  die  Herrschaft 
über  Ungeduld  und  Zaghaftigkeit  in  Zeiten,  da  der  Krieg  gleichsam  ins 
Stocken  gerät;  Enthaltung  von  Übermut  und  Ausgelassenheit  bei  Siegen 
und  innere  Stärke  bei  Mißerfolgen  und  ähnliches  mehr.  Auch  das  wollen 
wir  nicht  übersehen :  was  eine  gesundem  Fortschritt  huldigende  Pädagogik  in 
den  letzten  Jahren  an  Reformen  verlangt  hat,  dessen  Bedeutung  wird  durch 
den  Krieg  auch  dem  Voreingenommenen  vor  Augen  geführt.  Über  die  staats- 
bürgerliche Erziehung  habe  ich  bereits  gesprochen.  Nicht  minder  bedeutsam 
ist  die  Forderung,  daß  die  Schule  ihren  etwas  weit-  und  gegenwartsfremden 
Charakter  verliere,  daß  die  innigste  Wechselbeziehung  zwischen  Schule  und 
Lf'ben  hergestellt  werde:  ferner  daß  auf  die  körperliche  Ertüchtigung 
der  Jugend  viel  mehr  Wert  gelegt  werde;  daß  gesundheitliche  Schädigungen 
aller  Art,  z.  B.  auch  durch  den  Alkohol,  viel  entschiedener  fern  gehalten 
werden.  Endlich  sei  der  Mahnung  gedacht,  daß  die  Schule,  besonders  die 
Iiöhere,  nicht  so  einseitig  an  Verstand  und  Gedächtnis  sich  wende,  daß  sie 
mehr  erzieherisch  wirke;  daß  unser  Volk  nicht  in  gleichem  Maße  Gelehrte 


540         Zur  Psychologie  und  Methodik  des  matlieinatischen  Unterrichts. 

wie  sittlich  gerichtete  Willens-  und  Tatmenschen  brauche,  und  daß  die 
Schule  nicht  nur  den  intellektuellen  Begabungstypus  berücksichtigen  dürfe. 
Überhaupt  darf  es  uns  mit  einem  gewissen  freudigen  Vertrauen  auf  unsere 
Pädagogik  und  ihre  wichtigsten  Grundlagen,  unsere  Psychologie  und  Ethik, 
erfüllen,  daß  der  Krieg  die  Vertreter  dieser  Fächer  nicht  etwa  rat-  und 
hilflos  gemacht  oder  genötigt  hat,  in  wichtigen  Punkten  umzulernen.  Er 
kann  sie  vielmehr  in  der  Zuversicht  bestärken,  daß  sie  auf  dem  richtigen 
Wege  sind,  und  daß  unsere  Lehrerschaft  mit  dem  geistigen  Rüstzeug,  das 
sie  diesen  Wissenschaften  entnimmt,  den  ungewohnten  und  großen  Aufgaben, 
die  der  Krieg  in  überraschender  Weise  für  sie  gebracht  hat,  gerecht  zu 
werden  vermag.  Es  gehört  nur  etwas  geistige  Weite,  Beweglichkeit  und 
Anpassungsfähigkeit  des  Einzelnen  dazu. 


Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts. 

Von  Paul  Cauer. 

Unter  der  Ägide  von  Felix  Klein  sind  innerhalb  einer  Reihe  von  Ab- 
handlungen über  „Einzelfragen  des  höheren  mathematischen  Unterrichts" 
drei  Hefte  erschienen,  die  für  sich  eine  Art  von  Einheit  bilden;  sie  be- 
wegen sich  auf  Grenzgebieten,  die  auch  dem  Nichtfachmann  zugänglich 
und  jedem,  der  an  der  Gesamtaufgabe  höherer  Geistesbildung  Anteil  nimmt, 
interessant  sind.^) 

Dr.  D.  Katz,  Privatdozent  an  der  Universität  Göttingen,  hat  sich  die 
Psychologie  der  Mathematik  und  des  mathematischen  Unterrichts  zum 
Thema  genommen.  Mit  den  Methoden  der  experimentellen  Pädagogik  ver- 
traut, untersucht  er  die  Entwicklung  der  Zahlvorstellung  wie  der  Raum- 
vorstellung beim  Kinde,  weiter  die  Bedeutung  der  Lehre  von  den  Vor- 
stellungstypen für  den  mathematischen  Unterricht,  die  Besonderheiten  der 
mathematischen  Begabung,  von  ihrem  Versagen  bei  Schwachsinnigen  und 
Mindersinnigen  an  bis  zu  den  übernormalen  Leistungen  der  Zahlenvirtuosen 
und  Rechenkünstler.  Obwohl  er  den  Wert  experimenteller  Ergebnisse  für 
die  pädagogische  Praxis  [nicht  überschätzt,  ist  der  Verfasser  imstande, 
dem  Lehrer  manchen  beherzigenswerten  Wink  zu  geben.  Er  mahnt,  die  Di- 
daktik des  elementaren  Rechenunterrichts  mehr  nach  praktischen  als  nach 
philosophischen  Gesichtspunkten  einzurichten,  warnt  vor  dem  Versuche, 
etwa  nach  der  Parallelität  geistiger  Entwicklung  bei  Kindern  und  bei 
primitiven  Völkern  einen  Lehrgang  zu  konstruieren.  Wie  sich  Begabung 
und  Neigung  zueinander  verhalten,  prüft  er  an  der  Hand  von  Erfahrungen 


*)  Martin  Gebhardt:  Die  Geschichte  der  Mathematik  im  mathematischen 
Unterricht  der  höheren  Schulen  Deutschlands,  dargestellt  vor  allem  auf  Grund 
alter  und  neuer  Lehrbücher  und  der  Programmabhandlungen  höherer  Schulen. 
1912.  VII,  157  S.  —  Alex.  Wernicke:  Mathematik  und  philosophische  Propä- 
deutik. 1912.  VII,  138  S.  —  D.  Katz:  Psychologie  und  mathematischer  Unter- 
richt. 1913.  IV,  120  S.  —  Hefte  6—8  des  III.  Bandes  der  „Abhandlungen  über  den 
mathematischen  Unterricht  in  Deutschland",  veranlaßt  durch  die  Internationale 
Mathematische  Unterrichtskommission,  herausgegeben  von  F.  Klein. 


Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.  54I 


und  findet,  daß  sich  ein  tiefes  Interesse  für  eine  Disziplin  auch  da  ein- 
stellen kann,  wo  es  an  besondrer  Begabung  für  sie  fehlt:  eine  Erkenntnis, 
die  sich  ohne  weiteres  nützlich  erweist,  um  die  einzelnen  Schüler  sach- 
gemäß zu  führen  und  gerecht  zu  beurteilen. 

Martin  Gebhardt  stellt  auf  Grund  von  Lehrbüchern  und  Programm- 
abhandlungen den  Anteil  dar,  den  seit  Ende  des  18.  Jahrhunderts  die 
Geschichte  der  Mathematik  an  dem  mathematischen  Unterricht  unserer 
höheren  Schulen  gehabt  hat.  Mit  großem  Fleiß  ist  ein  weitschichtiges, 
zum  Teil  entlegenes  Material  zusammengebracht  und  übersichtlich  ver- 
arbeitet. Im  letzten  Abschnitt  wird  dann  erwogen,  in  welcher  Weise  es 
für  die  Praxis  verwertet  werden  könne.  Der  Verfasser,  Professor  am 
Vitzthumschen  Gymnasium  in  Dresden,  kennt  nur  diese  Schulart.  Wenn 
er  glaubt,  daß  sich  bei  ihr  die  geschichtliche  Betrachtung  der  Mathematik, 
die  ja  unvermeidlich  ins  klassische  Altertum  führt,  am  besten  pflegen  lasse, 
so  hat  er  gewiß  recht.  Aber  daraus  möchten  wir  nicht  mit  ihm  schließen, 
daß  es  „die  Aufgabe  speziell  der  Gymnasien"  sei,  „die  Jugend  mit  der 
Geistesarbeit  bekannt  zu  machen,  welche  die  vergangenen  Zeiten  ihr  teils 
in  fertigen  Resultaten,  teils  in  noch  zu  lösenden  Problemen  hinterlassen 
haben"  (S.  59).  Durch  die  Beschäftigung  mit  den  Griechen  wird  der 
historische  Sinn  von  selber  wach;  deshalb  müssen  Schulen,  denen  dieses 
Element  fehlt,  umsomehr  darauf  bedacht  sein,  das  Studium  jeder  einzelnen 
Wissenschaft  geschichtlich  zu  vertiefen. 

„Mathematik  und  philosophische  Propädeutik",  so  lautet  der  Titel  eines 
inhaltreichen  Heftes  von  Alexander  Wernicke,  Direktor  der  Oberreal- 
schule und  Professor  an  der  Technischen  Hochschule  in  Braunschweig. 
Auch  er  beginnt  mit  einem  geschichtlichen  Rückblick,  zeichnet  dann  auf 
der  einen  Seite  die  allgemeine  Aufgabe  der  philosophischen  Propädeutik, 
auf  der  anderen  den  gegenwärtigen  Stand  des  höheren  Schulwesens  in 
Deutschland  —  wo  sich  manches  einwenden  ließe  — ,  und  würdigt  von 
hier  aus  zunächst  die  Schwierigkeiten  dessen,  was  er  in  Angriff  nehmen 
will.  Im  zweiten  Hauptteile  bemüht  er  sich,  an  Kant  anknüpfend,  in 
gründlicher  erkenntnistheoretischer  Untersuchung  die  Beziehungen  zwischen 
Mathematik  und  Philosophie  ins  Klare  zu  bringen.  Der  letzte  Teil  enthält 
auch  hier  die  Folgerungen  für  den  Unterricht.  Wernickes  Erfahrungen 
liegen,  anders  als  die  Gebhardts,  im  Bereiche  der  Oberrealschule;  im 
übrigen  ist  es  natürlich,  daß  er  sich  mit  diesem  wie  mit  Katz  vielfach 
berührt.  Daran  wird  hier  und  da  noch  zu  denken  sein,  wenn  wir  jetzt 
versuchen,  etwas  von  dem  Ertrag  hervortreten  zu  lassen,  den  die  drei 
Schriften  zusammengenommen  dem  Lehrer  vermitteln  können.  Daß  er  zu 
gutem  Teil  in  Fragen  besteht,  die  angeregt  werden,  entspricht  der  Natur 
der  Gegenstände  und  stimmt  wohl  auch  zum  Charakter  des  ganzen  Unter- 
nehmens, dem  sich  deren  Behandlung  verständnisvoll  einfügt. 

Von  Anschauung  zu  Begriff!  das  ist  jetzt  ein  anerkannter  Grundsatz. 
Doch  hält  es  Katz  nicht  für  überflüssig,  „gegen  den  schädlichen  Logizismus 
im  mathematischen  Unterricht  anzukämpfen".  Seine  Ausführungen  beziehen 
sich  unmittelbar  nur  auf  die  erste  Einführung,  und  sind  da  gewiß  zutreffend; 
auch    der  weitergehenden   Mahnung  möchte   man   zustimmen:    „vor  und 


542         Zur  Psychologie  und  Methodik  des  matliematischen  Unterrichts. 

Während  der  Pnbertätsentwicklung  nicht  zu  hohe  Anforderungen  an  die 
Abstraktionsfähigkeit  zu  stellen  und  mehr  einen  die  Anschauung  berück- 
sichtigenden Unterrichtsgang  einzuschlagen"  (S.  69).  Aber  nun  ist  es  doch 
auch  eine  erzieherische  Aufgabe  der  Mathematik  —  oder  wird  darüber  ge- 
stritten? — ;  das  naive  Vertrauen  zur  Anschauung  zu  erschüttern,  ein  Be- 
dürfnis nach  dem  Beweise  zu  wecken.  Wann  und  wie  soll  der  Übergang 
gemacht  werden?  Katz  hat  diese  Frage  nicht  aufgeworfen.  Und  doch 
möchte  man  sich  gerade  hier  mit  dem  Psychologen  beraten.  Vor  dreißig 
Jahren  hatte  ich  eine  Tertia  des  Kieler  Gymnasiums  nach  dem  Lehrbuche 
von  Julius  Petersen  (Kopenhagen  1881)  zu  unterrichten,  wo  der  Satz  von 
der  Gleichheit  des  Sehnentangenten -Winkels  mit  dem  Peripherie -Winkel 
über  der  Sehne  so  bewiesen  wird,  daß  ersterer  nur  als  ein  spezieller  Fall 
erscheint.  Man  denkt  sich  den  Scheitel  auf  der  Peripherie  gleitend,  während 
die  Schenkel  dauernd  durch  die  beiden  Endpunkte  der  Sehne  gehen;  in 
dem  Augenblick,  wo  der  Scheitel  mit  einem  dieser  Endpunkte  zusammenfällt, 
deckt  sich  der  eine  Schenkel  mit  der  Sehne,  der  andere  tritt  ganz  aus  dem 
Kreise  heraus,  er  wird  zur  Tangente;  und  dabei  ist  der  Winkel,  als  Hälfte 
des  zugehörigen  Zentriwinkels,  immer  derselbe  geblieben:  die  Richtigkeit 
der  behaupteten  Beziehung  springt  in  die  Augen.  Solches  Beweisverfahren 
im  Elementarunterricht  war  mir  neu,  empfahl  sich  aber  sofort  durch  über- 
zeugende Anschaulichkeit.  Offenbar  beruhte  es  auf  dem  Grundgedanken 
der  Differenzialrechnung,  die  Tangente  als  Grenzfall  aus  der  Sekante, 
durch  Zusammenrücken  ihrer  Schnittpunkte,  entstehen  zu  lassen.  Aber 
eben  hieraus  erhob  sich,  so  sehr  mir  die  neue  Methode  gefiel,  nun  doch 
ein  Bedenken.  Wurde  damit  nicht  in  den  Schülern  eine  Anschauung  ge- 
weckt und  alsbald  zum  Beweise  verwertet,  über  deren  Berechtigung  sie 
sich  noch  keine  Rechenschaft  geben  konnten?  War  nicht  zu  fürchten, 
daß  sie  sich,  an  dergleichen  Folgerungen  gewöhnt,  künftig  auch  da  auf 
den  Augenschein  verlassen  würden,  wo  es  eben  ein  bloßer  Schein  wäre? 
In  späteren  Jahren  habe  ich  deshalb  diese  Betrachtung  zwar  immer 
wieder  gern  heranzogen,  aber  nur  da,  wo  der  rechnerische  Beweis  —  mit 
Hilfe  des  rechtwinkligen  Dreiecks  —  schon  geführt  war.  Da  folgte  denn 
also  Anschauung  auf  Begriff:  das  Auge  brachte  lebendige  Bewährung  für 
das,  was  der  Verstand  hatte  zugestehen  müssen.  Dabei  kam  jeder  von 
beiden  zu  seinem  Rechte,  jeder  hatte  etwas  zu  leisten;  zeigt  man  die 
Gleichheit  jener  beiden  Winkel  zuerst  anschaulich,  so  macht  nachher  der 
exakte  Beweis  den  Eindruck  des  Überflüssigen  und  wird  wie  eine  Zumutung 
empfunden.  Hier  haben  wir  es  ja  gerade  mit  dem  Alter  zu  tun,  vor  dessen 
zu  starker  Inanspruchnahme  für  abstraktes  Denken  gewarnt  wurde,  dessen 
Neigung,  es  nicht  allzu  genau  zu  nehmen,  doch  auch  wieder  bekämpft 
werden  muß. 

Ein  Beispiel  wie  dieses  reicht  aus,  nicht  etwa  um  die  Frage  zu  ent- 
scheiden, wohl  aber  um  den  Zweifel  zu  wecken:  ob  die  Reihenfolge  An- 
schauung —  Begriff  schlechthin  die  pädagogisch  richtige  ist,  ob  nicht  unter 
Umständen  gerade  im  Elementarunterricht  Gründe  gegeben  sein  können,  um- 
gekehrt vorzugehen.  In  etwas  reiferem  Alter,  wenn  der  kritische  Sinn  sich 
schon   befestigt  hat,  wird   man   sicherer  von   der   Anschauung   ausgehen 


Zui"  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.         543 

können.  Bleiben  wir  noch  bei  der  Tangente.  Daß  ihre  Strecke  von  irgend- 
einem Punkt  aus  mittlere  Proportionale  ist  zwischen  den  vom  selben  Punkt 
aus  gerechneten  Abschnitten  der  Sekante,  läßt  sich,  wenn  diese  bis  zur 
Grenzlage  gedreht  wird,  wie  durch  ein  Experiment  finden.  Es  ist  eine 
Entdeckung;  daß  die  aber  streng  geprüft  und,  ehe  man  .sie  dem  Wissen 
einordnet,  bewiesen  werden  muß,  darüber  besteht  jetzt  zwischen  Schülern 
und  Lehrern  im  voraus  schon  Einverständnis.  Je  höher  hinauf,  desto 
fruchtbarer  wird  diese  Grundform  des  Denkens.  An  den  pythagoreischen 
Lehrsatz  kann  man  von  verschiedenen  Seiten  herankommen,  u.  a.  wieder 
so,  daß  man  ihn  als  Grenzfall  beobachtet.  Die  Schenkel  eines  Winkels, 
die  verschieden  lang  gemacht  sind,  läßt  man  in  Gedanken  langsam  auf- 
und  zuklappen,  während  ihre  Endpunkte  stets  durch  eine  dritte  Gerade 
verbunden  bleiben.  Ist  der  Winkel  sehr  spitz,  so  ist  das  Quadrat  der  ver- 
änderlichen dritten  Seite  augenscheinlich  kleiner  als  die  unveränderliche 
Summe  der  beiden  andern  Quadrate;  ist  er  sehr  stumpf,  so  ist  das  Gegen- 
teil ebenso  deutlich.  Wächst  der  spitze  Winkel,  so  wächst  das  Verhältnis 
des  dritten  Quadrates  zur  Summe  der  beiden  gegebenen ;  nimmt  der  stumpfe 
Winkel  ab,  so  nimmt  dieses  Verhältnis  ab.  Einmal  im  Laufe  der  Bewegung 
muß  es  durch  die  Gleichheit  hindurchgehen,  und  der  Winkel  durch  die 
Größe  des  Rechten:  da  liegt  die  berühmte  Beziehung  auf  der  Hand.  Be- 
darf es  noch  eines  Beweises?  —  Doch!  Denn  es  steht  nicht  an  sich  fest, 
daß  beide  Übergänge  im  gleichen  Augenblick  stattfinden.  Dieser  Einwand 
wird  in  einer  zum  Zweifeln  erzogenen  Klasse  nicht  lange  auf  sich  warten 
lassen:  und  wenn  nun  der  Beweis  gegeben  wird,  so  entspricht  er  einem 
Wunsche,  der  nach  ihm  ausschaute,  der  sich  deshalb  auch  durch  die  Um- 
ständlichkeiten des  euklidischen  Gedankenganges  nicht  wird  abschrecken 
lassen. 

Je  höher  hinauf,  desto  freier  wird  der  Blick;  je  reifer  die  Schüler,  desto 
natürlicher  ist  es,  daß  sie  erst  mit  der  Anschauung  —  man  könnte  sagen 
mit  der  Phantasie  —  das  Ziel  erfassen,  um  dann  selber  die  Wege  zu  suchen, 
auf  denen  sich  der  Verstand  Schritt  für  Schritt  heranarbeitet.  Aber  solcher 
EntWickelung  wirkt  eine  andere  Tendenz  entgegen,  die  durch  ein  erlebtes 
Beispiel  deutlich  werden  mag.  Am  Schluß  eines  Unterrichts,  der  wissen- 
schaftlich auf  beträchtlicher  Höhe  stand  und  in  seiner  Art  als  Muster 
gelten  konnte,  war  an  einer  Oberrealschule  u.  a.  folgende  Prüfungsaufgabe 
gestellt:  „Ein  Rautenzwölfflach  entsteht  aus  einem  Würfel,  wenn  man  den 
Mittelpunkt  des  Würfels  an  allen  Würfelflächen  spiegelt.  Es  ist  dieser 
Körper   im  Schrägbild   zu   konstruieren   und   die  Zahl  seiner  Ecken  und 

Kanten  und  sein  Rauminhalt  zu  bestimmen.  (w==30ö,  w«=— J  .  Zeich- 
nung und  Rechnung  war  von  allen  geleistet.  Sie  hatten  die  Kantenlängen 
berechnet,  von  ihnen  aus  den  Inhalt  des  Gesamtkörpers,  und  waren  so, 
langsam  und  sicher,  dieses  Teiles  der  Aufgabe  Herr  geworden.  Keinem 
war  im  voraus  der  Gedanke  gekommen,  dnß  durch  Spiegelung  des  Mittel- 
punktes nach  jeder  von  sechs  Seiten  hin  (im  V^erdoppelung  des  Raum- 
inhaltes unmittelbar  gegeben  sei;  keinem  auch  nur  nachträglich,  bei  der  p]in- 
fachheit  des  Resultates,  etwas  auf-  oder  eingefallen.    Durch  die  Gewöhnung 


544         Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts. 

an   streng  rechnerische  Behandlung  auch  geometrischer  Beziehungen  war 
der  Trieb  verkümmert,  aus  der  Anschauung  Tatsachen  abzulesen. 

„Arithmetisierung  der  Mathematik"  —  als  vor  zwei  Jahrzehnten  Felix 
Klein  diesen  Ausdruck  prägte,  war  es  seine  Absicht,  vor  der  Gefahr  einet 
Einseitigkeit  zu  warnen.^)  Dabei  hatte  er  wissenschaftliche  und  päda- 
gogische Ziele  gleich  lebhaft  ins  Auge  gefaßt:  naturgemäß  werde  „der 
Lernende  im  Kleinen  immer  denselben  Entwicklungsgang  durchlaufen,  den 
die  Wissenschaft  im  Großen  gegangen  ist".  Was  er  der  Forschung  als 
Aufgabe  hinstellte,  daß  man,  wenn  eine  Zeitlang  die  Raumanschauung 
zurückgedrängt  worden  sei,  „die  auf  arithmetischem  Wege  gewonnenen 
Resultate  mit  der  Raumanschauung  wieder  in  Verbindung  setze,"  dürfen 
wir  ohne  weiteres  auf  die  erzieherische  Tätigkeit  des' Unterrichts  übertragen. 
Und  wir  freuen  uns,  wenn  ein  hervorragender  Kenner  und  Könner  die 
psychologische  Grundlage  der  Mathematik  dahin  bestimmte,  daß  die  An- 
schauung, als  Betätigung  angebornen  Talentes  verstanden,  „auf  ihrem 
Gebiete  dem  logischen  Denken  überall  voraneilt  und  also  in  jedem  Momente 
einen  weiteren  Bereich  besitzt  als  dieses".  Darüber  mögen  vielleicht  andere 
anders  urteilen.  Aber  auch  Gegner  können  sich  in  dem  Gedanken  zu- 
sammenfinden, mit  dem  damals  Klein  seine  Ausführungen  schloß:  bei 
„einem  Baume,  der  seine  Wurzeln  nach  unten  immer  tiefer  in  das  Erd- 
reich treibt,  während  er  nach  oben  seine  schattengebenden  Äste  frei  ent- 
faltet," solle  man  nicht  fragen,  ob  Wurzeln  oder  Zweige  das  Wesentlichere 
seien,  sondern  von  den  Botanikern  lernen,  wie  „das  Leben  des  Organismus 
auf  der  Wechselwirkung  seiner  verschiedenen  Teile  beruht". 

Den  vollen  Anblick  solcher  Wechselwirkung  bietet  die  Mathematik  der 
Griechen.  In  Euklids  Lehre  von  den  Proportionen  scheinen  Raumgrößen 
und  Zahlgrößen  ineinander  überzugehen;  vielmehr,  sie  haben  sich  noch 
nicht  voneinander  gelöst.  Man  meint  es  mit  zu  erleben,  wie  die  Arith- 
metik danach  drängt,  sich  von  der  Geometrie,  an  der  sie  erwachsen  ist, 
abzutrennen  und  selbständig  zu  werden.  Leider  ist  dieser  Zusammenhang 
in  der  historischen  Studie  von  Gebhardt  nicht  zur  Geltung  gekommen. 
Er  rühmt  (S.  75)  Pythagoras'  Verdienst,  das  Irrationale  entdeckt  zu  haben; 
aber  auf  welchem  Wege  war  er  dazu  gelangt?  Danach  zu  fragen  ist  doch 
wichtiger  als  das  Anknüpfen  der  Entdeckung  an  einen  berühmten  Namen. 
Aus  dem  pythagoreischen  Lehrsatz  ergab  sich  die  Möglichkeit,  ein  Quadrat 
zu  zeichnen,  das  doppelt,  dreimal,  fünfmal  so  groß  war  als  ein  gegebenes. 
Nun  verglich  man  die  Seiten,  und  sah,  daß  sie  zu  der  des  ersten  kein 
Verhältnis  hatten;  denn  ein  Verhältnis  ßöyog)  kannte  man  nur  zwischen 
ganzen  Zahlen  (ccQi^f^dg  Jtgdg  uqi&^öv).  Und  doch  war  auch  hier  eine 
feste  Größenbeziehung,  mit  der  sich  mußte  rechnen  lassen :  so  schuf  —  oder 
fand?  —  man  eine  besondere  Art  von  Größe,  {äXoyog,  irrationalis)  und 
mit  ihr  eine  Fülle  wichtiger  Aufgaben.  Erzeugt  worden  ist  der  neue  Be- 
griff durch  Ausdehnung  einer  geläufigen  Methode  auf  ein  Gebiet,  das  ihr 
von  Natur   unzugänglich   zu   sein   schien,  das  nun  eben  mit  seiner  Hilfe 


*)  „Über    Arithmetisierung  der  Mathematik'-,   in  den  Nachrichten  der  K.  Gesell- 
schaft der  Wissenschaft  zu  Göttingen.     Geschäftliche  IVIitteilungen,   1895,  Heft  2. 


Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.         545 

,- — 

erobert  wird;  die  negative,  die  imaginäre  Zahl  sind  ebenso  entstanden. 
In  unserm  Falle,  bei  der  Entdeckung  —  oder  Erfindung?  —  des  Irrationalen 
ist  der  Anstoß  zur  Erweiterung  des  Zahlbegriffes  sichtbar  von  der  Geometrie 
ausgegangen.  Wie  sich  das  tatsächlich  zugetragen  hat,  darüber  streiten 
die  Gelehrten:  das  mag  man,  ohne  auf  Einzelheiten  einzugehen,  den  Schülern 
sagen.  Für  sie  ist  das  Wesentliche  die  Einsicht,  daß,  ehe  jemand  daran 
denken  konnte  die  Irrationalität  eines  bestimmten  Verhältnisses  nach- 
zuweisen, der  neue  Begriff  selber  gefunden  sein  mußte,  und  zwar  gefunden 
beim  Suchen  nach  etwas,  das  noch  nicht  er  war. 

Wenn  Katz  daran  erinnert,  daß  mathematische  Sätze  oft  nicht  so  ge- 
funden werden,  wie  man  sie  später  beweist  (S.  58),  so  gilt  das  einigermaßen 
auch,  wie  hier,  von  der  Gewinnung  neuer  Denkformen.    Bei  Ableitung  der 
trigonometrischen  Funktionen  geht  der  Unterricht  mit  Bedacht  einen  andern 
Weg,  als   auf  dem   die  Wissenschaft  einst  vorgeschritten  ist.    Worauf  es 
für  die  Erziehung  des  Geistes  ankommt,  ist  doch,  daß  man  überhaupt  die 
Begriffe  nicht  als  fertige  mitteilt,  sondern  das  Bedürfnis  danach  aus  einer 
Betrachtung  erwachsen  läßt,  zu  der  die  bisher  erworbene  Erkenntnis  fort- 
entwickelt wurde.    Wo  nun  aber  der  tatsächliche  Hergang  seinerzeit  ein 
solcher  gewesen   ist,   daß   er  diesem  Zwecke  dienen  kann,  wird  man  ihn 
doch  nicht  verschmähen.    Und  damit  dürfte  allgemein  ein  Gesichtspunkt 
gefunden   sein,  von   dem  aus  sich  bestimmen  läßt,  welche  Stellen  in  der 
großen   Geschichte    der  Wissenschaft    für    den   Unterricht  wertvoll    sind. 
Gebhardts  Beantwortung  dieser  Frage  hält  sich  zu  sehr  im  Negativen:  es 
„braucht   im  Laufe    der   Schulzeit   kein   zusammenhängender  Kursus   in 
Geschichte  der  Mathematik  geboten  zu  werden";  man  soll  das  Geschicht- 
liche weder  ausschalten,  noch   zur  Hauptsache  machen,  es  nicht   „zum 
Gegenstande  des  Einpaukens,  der  peinlichen  Wiederholung  oder  zur  Quelle 
von  Schulstrafen"  werden  lassen.    Auch  seine  positiven  Vorschläge  —  Be- 
handlung in  einer  Festrede,  Benutzung  von  Vertretungsstunden,  Stellung 
geschichtlicher  Themata  für  Fachaufsätze   usw.  —  bieten   keinen  Anhalt 
für  die  Auswahl,   die  getroffen   werden   soll.    Der  ergibt  sich  am  besten 
aus  den  Bedürfnissen  des  Unterrichts  selber:  wo  die  Einführung  eines  neuen 
Begriffes,  der  Eintritt  in  eine  neue  Disziplin  zur  Besinnung  einladet  und 
es  sich   zugleich  so  trifft,   daß  der  geschichtliche  Verlauf  den  Übergang 
vermitteln  kann,  weil  er  einem  inneren  Zusammenhang  entspricht,  da  ist 
die  Hilfe  willkommen.    Draußen  bleibe  alles,  was  biographische  Notiz  ist, 
Entwickelung  von  Problemen,  von  Betrachtungsarten  ist  das  Fruchtbare. 
Damit  ist  bereits  ein  philosophisches  Element  gegeben;  denn  Philosophie 
ist  Wissenschaft  vom  Wissen,  Nachdenken   über  das  Denken.    Den  Wert 
des  „Geschichtlichen  der  Mathematikstunde"  für  philosophische  Proprädeutik 
erkennt  grundsätzlich  auch  Wernicke  an  (S.  85 f.);  aber  auf  die  Frage  ist 
er   nicht   eingegangen,   inwieweit  die  äußere  Reihenfolge   in  der  Erweite- 
rung mathematischen  Wissens  durch  innere  Beziehungen  bedingt  sei.  Wenn 
er  in  systematischer  Behandlung  die  Arithmetik  der  Geometrie  voranstellt 
(S.  96 f.),  so  hat  er  seine  guten  Gründe,  die  ich  zu  verstehen  glaube;  aber 
daß  der  geschichtliche  Hergang  umgekehrt  gewesen  ist,  gibt  doch  zu  denken. 
Wernicke  nimmt  darauf  keine  Rücksicht;  ja  stellenweise  klingt  es  so,  als 

/cH-^chrift  f.  T'Mngn^   Psychologie.  36 


546         Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts. 

wolle  er  nicht  einmal  die  Tatsache  gelten  lassen.  Unter  seinen  „allgemeinen 
Gesichtspunkten"  für  den  Unterricht  stellt  er  auch  den  auf:  es  sei  „zur 
Erkenntnis  zu  bringen,  daß  die  Reihenfolge  Arithmetik  (Zahl),  Geometrie 
(Raum),  Phoronomie  (Zeit)  und  Dynamik  (Masse)  eine  fortschreitende 
Eroberung  der  Wirklichkeit  bedeutet,  deren  Ziel  es  ist,  eine  eindeutige 
Ordnung  des  Geschehens  zu  erkennen  und  darzustellen"  (S.  811).  Viel- 
leicht ist  nur  der  Ausdruck  nicht  glücklich  gewählt;  aber  das  nun  gerade 
an  einer  Stelle,  wo  es  sich  um  ein  so  wichtiges  Grundverhältnis,  Ja  das 
grundlegende  Verhältnis  handelte:  der  Ordnung  des  Denkens  zu  der  Ord- 
nung des  Seins.  Kurz  vorher  ist  von  den  Beziehungen  zwischen  Wissen- 
schaft und  Praxis  die  Rede;  dabei  meint  der  Verfasser:  „Was  den  selbstän- 
digen Wert  der  Mathematik  anbelangt,  so  wird  für  die  Schule  immer 
Schillers  Epigramm"  'Archimedes  und  der  Schüler'  maßgebend  sein:  Die 
Mathematik  war  eine  göttliche  Kunst,  ehe  sie  die  Mauern  der  Stadt  vor 
der  Sambuka  beschützte,  und  so  wird  es  immer  bleiben."  —  Nimmermehr! 
Dem  Range  nach  geht  die  Wissenschaft  Jeder  Anwendung  voran;  der  Zeit 
nach  aber  steht  es  sehr  oft  so,  daß  der  Ausdruck  „Anwendung"  überhaupt 
nicht  paßt,  weil  eine  praktische  Aufgabe  es  gewesen  ist,  durch  die  zuerst 
der  Spürsinn  gestachelt  und  in  die  Richtung  geführt  wurde,  in  der  ein 
wissenschaftliches  Problem  lag.  Wenn  man  deshalb  den  Einfluß  rühmt, 
den  Mathematik  und  Naturwissenschaft  auf  die  Vervollkommnung  der 
Lebensbedingungen  ausgeübt  haben,  so  soll  man  nicht  vergessen,  daß  ebenso 
sehr  und  vielleicht  in  noch  höherem  Grade  das  Streben  nach  vollkommneren 
Lebensbedingungen  die  Wissenschaft  gefördert  hat.  Auf  diesen  Zusammen- 
hang zu  achten  ist  nicht  nur  eine  Pflicht  der  Gerechtigkeit,  sondern  für 
die  Erziehung  künftiger  Mitarbeiter  vor  allem  deshalb  wertvoll,  weil  sich 
dadurch  Einblicke   in   das  innere  Getriebe  des  geistigen  Lebens  auftun.  ^) 

Und  doch  könnte  Schiller  auch  darin  recht  behalten,  daß  die  Wissen- 
schaft früher  sei  als  alle  Dienste,  die  sie  den  Menschen  leistet.  „Früheres 
und  Bekannteres  gibt  es  in  doppeltem  Sinne,"  das  wußte  schon  Aristoteles; 
,denn  es  ist  nicht  dasselbe  ,früher  von  Natur'  und  ,mit  bezug  auf  uns 
früher',  auch  nicht  ,bekannter'  und  ,für  uns  bekannter'.  Ich  nenne  mit 
bezug  auf  uns  früher  und  bekannter  das,  was  der  Wahrnehmung  näher 
liegt,  schlechthin  früher  und  bekannter  aber  das,  was  ferner  liegt."  2)  — 
Daß  die  Ursache  früher  ist  als  die  Wirkung,  die  Gattung  früher  als  das 
einzelne  Wesen,  leuchtet  ein;  aber  auch  bekannter?  wem  denn?  Doch 
wohl  dem  Schöpfer,  aus  dessen  Geiste  die  Ordnung  der  Dinge  hervor- 
gegangen ist.  Menschliche  Erkenntnis  hat  von  Jeher  den  umgekehrten 
Weg  einschlagen  müssen. 

Wenn  Wernicke  an  ein  jcqöisqov  xat  yvcoQifKbrsQov  (pvaei  gedacht  hat, 
als  er  die  wissenschaftliche  Mechanik  der  Waffentechnik,  die  Arithmetik 
der  Geometrie  voranstellte,  so  sind  wir  einig;  und  im  Grunde  hat  er  es 
wohl   so   gemeint.    Aber  in  einem  Buch  über  philosophische  Propädeutik 

*)  Gerade  mit  Bezug  auf  eine  der  Entdeckungen  des  Archimedes  und  ihre  Be- 
handlung in  der  Schule  habe  ich  dies  an  andrer  Stelle  (Palaestra  vitae^  14  ff.) 
etwas  eingehender  dargelegt. 

•)  Zweite  Analytik  I  2,  p.  71b,  33  ff. 


Zur  Psychologie  und^  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.         547 

verdiente  diese  Unterscheidung  docli  gewiß  einen  Platz.  Umsomehi*,  als 
die  Vermischung  beider  Betrachtungsreihen  im  täglichen  Leben  und  somit 
auch  in  dem  der  Schüler  gar  nicht  so  selten  ist.  Überall  da  droht  sie 
sich  einzuschleichen,  wo  eine  beobachtete  Tatsache  begründet  werden  soll 
und  nun  in  der  gleichen  sprachlichen  Form  (mit  „denn"  oder  „weil")  so- 
wohl der  Grund  des  Geschehens  wie  der  des  Erkennens  angegeben  werden 
kann.  Und  das  muß  doch,  wo  es  sich  um  Einführung  von  Philosophie  in 
den  Unterricht  handelt,  leitender  Gedanke  sein,  nicht  zu  fragen:  „Welche 
Teile  der  Philosophie  können  beanspruchen,  schon  in  der  Schule  gelehrt 
zu  werden?"  —  sondern:  „Wo  bieten  sich  in  Mathematik  und  Sprachen, 
in  Geschichte  und  Naturwissenschaft  dringende  oder  zwingende  Anlässe  zu 
vertiefter  Betrachtung?"  All  ohjects  are  as  Windows,  thvough  which  the  Philo- 
sophie eye  looJcs  into  Infinitude  itself,  sagt  Carlyle  (Sartor  Resartus  I  11). 
Solche  Fenster  gilt  es  zu  öffnen;  und  unter  den  Handhaben  dazu  sind  die 
Denkfehler  unserer  Schüler  die  natürlichsten.  Jenen  Grundsatz  wird  auch 
Wemicke  anerkennen;  aber  er  hat  ihn  wohl  nicht  streng  genug  durchgeführt. 
In  seinem  umfangreichen  grundlegenden  Teil  ist  nur  wenig  darauf  Rück- 
sicht —  oder  besser,  Voraussicht  —  genommen;  und  innerhalb  der  „Fol- 
gerungen für  die  Schule"  nimmt  das,  was  eigentlich  ein  Hauptstück  sein 
müßte  —  „Psychologisches  und  Formal-Logisches  im  Unterrichte  der  Mathe- 
matik" —  einen  recht  bescheidenen  Raum  ein  (8  Seiten  von  44,  bzw.  127). 
Vom  Definieren  ist  in  diesem  Zusammenhange  nur  kurz  die  Rede 
(S.  88 ff.),  ausführlicher  vorher  in  den  grundlegenden  Betrachtungen,  da 
wo  nach  einer  Definition  der  Mathematik  gesucht  wird,  und  weiter,  wenn 
die  Stufen  der  Begriffsbildung  psychologisch  erörtert  werden  (S.  67  ff., 
71  ff.).  Für  Propädeutik  scheint  mir  die  wichtigste  Frage,  was  „Definition" 
überall  sei;  damit  das  der  Primaner  verstehe,  muß  früh  beginnende  Ge- 
wöhnung helfen,  zu  der  alle  Wissenschaften  beitragen,  keine  doch  mehr 
als  die  Mathematik.  „Wann  bezeichnet  man  zwei  Dreiecke  als  kongruent?" 
—  „Wenn  sie  entweder  in  zwei  Seiten  und  dem  eingeschlossenen  Winkel 
übereinstimmen  oder  .  .  ."  Ein  Lehrer,  der  sich  solche  Antwort  gefallen 
läßt,  leistet  das  Gegenteil  von  philosophischer  Vorerziehung;  er  darf  sich 
nicht  beklagen,  wenn  ihm  nachher  in  Sekunda  der  Versuch  begegnet,  die 
Gleichung  „cos  a  »«  sin  (90 "  —  c)"  zu  „beweisen."  Vielleicht  beklagt  er  sich 
auch  nicht,  sondern  hält  es  sogar  mit  complementi  sinus  selber  nicht  anders. 
Und  doch  wird  jeder  zugeben,  daß  es  in  allem  wissenschaftlichen  Denken 
unerläßlich  ist,  Begriffsbestimmung  und  Lehrsatz  auseinander  zu  halten. 
Wernicke  scheint  den  Definitionen  keinen  großen  Wert  beizumessen;  ci* 
weist,  beinahe  spottend,  auf  die  Schwierigkeit  hin,  die  Katze  oder  den 
Menschen  zu  definieren,  für  Ebene,  Gerade,  Punkt  eine  vollkommene  Be- 
griffsbestimmung zu  geben.  Das  ist  natürlich  teils  schwer,  teils  unmöglich; 
diese  Begriffe  sind  zu  arm  an  Inhalt,  jene  zu  reich.  Für  den  Schüler  ist 
doch  etwas  Gutes  gewonnen,  wenn  er  die  Grundform  der  Definition  — 
Abgrenzung  des  Umfanges  einer  Art  gegen  andere  derselben  Gattung  — 
mit  Sicherheit  handhaben  lernt;  und  dazu  liefert  der  elementare  Unter- 
richt, der  geometrische  noch  mehr  als  der  arithmetische,  fortwährend 
Gelegenheit.    Das  Definieren  kann  freilich  erst  da  einsetzen,  wo  es  Gattungen 

35» 


548         Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts. 

und  Arten  schon  gibt.  Innerhalb  dieses  weiten  Bereiches  aber  bietet  nicht 
nur  die  Schärfe  der  Formulierung  dem  Verstand  eine  gute  Vorschule  für 
künftige,  schwierigere  Aufgaben,  sondern  zugleich  kräftigt  sich  der  Sinn 
für  das  Wesentliche,  wenn  auf  die  Wahl  des  artbildenden  Merkmales  ge- 
achtet wird.  Welche  verschiedenen  Definitionen  für  jeden  der  drei  Kegel- 
schnitte sind  in  der  Schule  vorgekommen?  Wir  vergleichen  sie  unter- 
einander, nehmen  die  ursprünglichen  des  Archimedes  hinzu,  der  nur  mit 
rechtwinkligen  Schnitten  arbeitete:  so  ist  das  viel  mehr  als  bloße  Gymnastik 
des  Denkens.  Ein  Blick  tut  sich  auf  in  Entwicklung  und  innere  Zusammen- 
hänge der  Wissenschaft. 

Umkehrung  eines  Urteils  ist  eine  Denkoperation,  für  die  man  in  einem 
Kursus  der  Logik  die  Beispiele  herbeischaffen  müßte.  In  der  Mathematik 
sind  die  Beispiele  da;  und  man  braucht  nur  zu  tun,  was  der  Fortgang 
des  Unterrichts  ohnehin  verlangt,  so  lernen  die  Schüler  die  Fehler  ver- 
meiden, die  dabei  gemacht  werden  können,  und  werden  des  richtigen  Ver- 
fahrens sich  bewußt.  In  einem  alten  und  verbreiteten  Lehrbuch  stand 
vor  wenigen  Jahren  und  steht  wahrscheinlich  heute  noch  zu  lesen:  „Satz. 
Wenn  von  einem  Punkte  zwei  Tangenten  an  einen  Kreis  gezogen  sind, 
so  sind  ihre  Abschnitte  bis  zum  Berührungspunkte  gleich,  und  der  Winkel, 
den  sie  bilden,  wird  von  der  Zentrale  halbiert.  —  Umkehrung.  Die 
Halbierungslinie  des  Winkels,  den  zwei  an  einen  Kreis  gezogene  Tangenten 
bilden,  geht  durch  den  Mittelpunkt."  Es  war  den  Jungen  nicht  übel  zu 
nehmen,  daß  sie  mit  dem  Beweise  nicht  reinlich  zustande  kamen,  sondern 
immer  die  Gleichheit  der  Strecken  wie  etwas  Gegebenes  mit  hereinbrachten. 
Mit  einiger  Hilfe  entdeckten  die  Klügeren  auch  den  Grund  der  Verwirrung: 
nur  die  eine  der  beiden  Behauptungen  des  ursprünglichen  Satzes  war  hier 
zur  Voraussetzung  gemacht;  der  Satz  hätte  in  zwei  zerlegt  und  dann  jeder 
für  sich  umgekehrt  werden  müssen.  Auch  für  die  Streckengleichheit  wäre 
das  ja  möglich  gewesen,  hätte  nur  eine  etwas  umständliche  Aufstellung 
und  keinen  recht  verwendbaren  Satz  ergeben.  —  Das  Beispiel  zeigt  von 
der  negativen  Seite  her,  wie  der  mathematische  Unterricht,  schon  in  Tertia, 
durch  exakte  Gewöhnung  zu  logischer  Erziehung  beitragen  kann. 

Die  Forderung,  daß  überhaupt  jede  Umkehrung,  ehe  sie  gelten  soll,  ge- 
prüft werden  müsse,  ist  ein  weiterer,  stetiger  Beitrag.  Hier  vor  allem  gilt 
es,  das  Gewissen  zu  schärfen,  das  Bedürfnis  nach  dem  Beweise  wach  zu 
halten.  Daß  dabei  der  Beweis  in  der  Regel  indirekt  geführt  wird,  ist  ein 
Übelstand,  den  man  hinnehmen  muß,  jedoch  bemüht  sein  wird,  so  viel  als 
möglich  einzuschränken.  Sehr  erfreut  war  ich  einst,  einem  Lehrer  zu  be- 
gegnen, der  die  Umkehrung  der  beiden  Sätze,  daß  in  jedem  Sehnenviereck 
die  Summen  der  gegenüberliegenden  Winkel,  in  jedem  Tangentenviereck 
die  der  gegenüberliegenden  Seiten  gleich  sind,  auf  direktem  Wege  bewies. 
Dabei  wurde  eine  unnatürliche  Figur  vermieden,  die  innere  Notwendigkeit 
unmittelbar  zur  Anschauung  gebracht. 

Auf  einer  oberen  Stufe  wird  man  gern  einmal  die  mannigfaltigen  Beweis- 
gänge, die  vorgekommen  sind,  in  gemeinsamer  Arbeit  zusammenstellen,  sie 
beschreiben  und  nach  innerer  Verwandtschaft  oder  Verschiedenheit  grup- 
pieren lassen.    Das  bedeutet  schon  etwas.    Ist  die  Klasse  befähigt,  weiter 


Zur  Psychologie  und  Methodik  des  mathematischen  Unterrichts.         549 

\ 

mitzugehen  und  den  methodischen  Gedanken,  der  in  einer  ganzen  Art  von 
Beweisen  wirksam  ist,  zu  erkennen  und  auszusprechen,  um  so  besser.  Die 
Stärke  wie  die  Schwäche  des  ausschließenden  Verfahrens  wird  dabei  klar 
hervortreten;  gefühlt  hat  sie  schon  der  Knabe:  es  erzwingt  Anerkennung, 
schafft  aber  keine  volle  Überzeugung.  Einsicht  in  das  Wesen  der  Dinge 
kann  der  negative  Schluß  nicht  gewähren,  sie  liegt  immer  im  Positiven, 
das  neu  zutage  gefördert  wird;  und  da  ist  es,  angesichts  einer  unend- 
lichen Fülle  möglicher  Beziehungen,  sehr  viel  schwerer,  den  leitenden 
Gedanken  zu  erfassen.  Poincare  sah  das  eigentlich  Schöpferische  in  der 
Mathematik  in  dem  Schlüsse  von  n  auf  n  -j- 1.  Wernicke  zitiert  diese  An- 
sicht, um  sie  erheblich  einzuschränken  (S.  59 f.);  an  der  Diskussion  darüber 
teilzunehmen,  wird  sich  ein  Laie  nicht  unterstehen.  Für  die  philosophische 
Propädeutik  aber  hat  diese  Schlußform  in  der  Tat  einen  besonderen  Wert, 
der  in  den  „Folgerungen  für  die  Schule"  wohl  stärker,  als  geschehen  (S.  89), 
hätte  hervorgehoben  werden  können:  es  ist  in  aller  Wissenschaft  der  einzige 
Fall  einer  vollkommenen  Induktion.  Das  erkennen  Primaner  auch  ganz 
gut,  wenn  man  sie  den  Plan,  der  die  Schlußreihe  zusammenhält,  finden 
läßt;  und  damit  haben  sie,  von  allem  Ertrag  für  die  Mathematik  abgesehen, 
das  Wesen  und  die  natürliche  Begrenztheit  induktiven  Denkens  besser  ver- 
standen, weil  sie  es  an  der  einen  Stelle  beobachten,  wo  die  Grenze  nun 
doch  durchbrochen  wird. 

Von  demselben  französischen  Gelehrten  führt  Katz  einige  Sätze  über  das 
Wesentliche  eines  Beweises  wörtlich  an  (S.  3):  ,J)er  Logiker  zerlegt  so- 
zusagen jeden  Beweis  in  eine  sehr  große  Zahl  Elementaroperationen. 
Wenn  man  alle  diese  Operationen,  eine  nach  der  anderen,  prüft,  und  ge- 
funden hat,  daß  jede  von  ihnen  fehlerlos  ist,  wird  man  dann  glauben,  den 
wahren  Sinn  des  Beweises  verstanden  zu  haben?  Würde  man  ihn  ver- 
standen haben,  selbst  wenn  es  durch  eine  Anstrengung  des  Gedächtnisses 
gelänge,  den  ganzen  Beweis  zu  wiederholen  mit  Ausführung  all  der  ele- 
mentaren Schritte,  in  derselben  Reihenfolge,  in  der  sie  der  Erfinder  an- 
geordnet hat?  —  Offenbar  nicht;  wir  besäßen  noch  nicht  die  volle  Wirk- 
lichkeit; das  gewisse  Etwas,  das  die  Einheit  des  Beweises  ausmacht,  würde 
uns  entgangen  sein."  —  Poincare  hat  bei  diesen  Worten  wohl  schwerlich 
an  die  Schule  und  ihren  manchmal  mühseligen  Betrieb  gedacht;  und  doch 
gelten  sie  ohne  weiteres  auch  hier.  Wir  brauchen  nichts  hinzuzufügen, 
wollen  auch  nicht  streiten,  ob  er  im  Grunde  damit  eine  Schranke  der 
Logik  oder  ihre  höchste  Aufgabe  bezeichnet  hat.  Nehmen  wir  die  Mahnung, 
wie  sie  da  steht,  und  wünschen  wir,  daß  sie  von  allen  immer  beherzigt  werde, 
die  in  mathematischem  Unterricht,  als  Lehrende  oder  Lernende,  mitzu- 
arbeiten haben. 


550  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

Von  H.  Tittmann. 
(Schluß.) 

II.  Hörfehler. 

Bei  der  schriftlichen  Aufzeichnung  der  diktierten  Laute  begegnen  uns  zahlreiche 
Fehler,  denen  man  es  auf  den  ersten  Blick  ansieht,  daß  sie  durch  ungenaues 
Hören  veranlaßt  worden  sind.  Diese  mangelhafte  Perzeption  durch  das  Ohr  ist 
um  so  auffallender,  als  die  Schüler  wiederholt  angehalten  worden  waren,  das- 
Auge  mit  zur  Hilfe  zu  nehmen.  Wenn  sie  dennoch  die  einzelnen  Lauteindrücke 
schwer  voneinander  unterschieden,  so  mag  einesteils  Unachtsamkeit,  andern- 
teils  Ungeübtheit  im  Beobachten  der  Artikulationsbewegungen  die  Schuld  tragen, 
oder  aber  dem  Gesicht  ist  überhaupt  bei  der  Auffassung  der  Laute  keine  allzu- 
große Bedeutung  beizumessen,  sondern  diese  muß,  wie  wir  bald  sehen  werden, 
einem  anderen  Faktor  zugesprochen  werden.  Keinesfalls  hat  die  Unterstützung 
durch  das  Auge  genügt,  um  Hörfehler  überhaupt  zu  vermeiden,  noch  auch  sie 
etwa  auf  solche  Laute  zu  beschränken,  deren  Artikulationsbewegungen  wenig 
oder  gar  nicht  sichtbar  sind.  Im  allgemeinen  sind  isoliert  gebotene 
Laute  schwierig  zu  verstehen,  da  Apperzeptionshilfen,  wie  sie  bei  vor- 
gesprochenen Wörtern  sich  einstellen,  hier  vollständig  fehlen.  Aber  selbst 
unter  diesen  günstigen  Umständen  sind  Hörfehler  nicht  ausgeschlossen,  wie 
Gaßmann  und  Schmidt^)  beim  Nachsprechen  von  Sätzen  konstatieren  konnten. 
Und  zwar  verlief  bei  ihnen  die  Verwechslung  der  Laute  ganz  in  derselben  Weise 
wie  bei  meinen  Lautdiktaten  und  wie  in  früheren  Versuchen  Gutzmanns^)  bei 
Prüfung  mit  sinnlosen  Silben  am  Telephon.  Unser  Ohr  erzeigt  sich  demnach 
bei  der  Perzeption  der  Laute  im  allgemeinen  und  besonders,  wenn  es  ganz  allein 
auf  sich  selbst  angewiesen  ist,  als  ein  unzuverlässiges,  trügerisches  Organ.  Seine 
Wahrnehmungen  werden  daher  —  worauf  eingangs  schon  aufmerksam  gemacht 
wurde  —  ganz  unwillkürlich  imd  unbewußt  unter  Kontrolle  gestellt,  und  zwar 
wird  diese  ausgeübt  von  den  Sprachbewegungsempfindungen.  Sie  sind  das 
Kriterium  für  den  akustischen  Wert  des  Lauteindruckes.  Die  Erklärung  hierfür 
finden  wir  darin,  daß  sich  die  Lautvorstellung  nicht  nur  als  eine  Klangempfindung, 
sondern  als  eine  Komplikation  von  dieser  und  den  entsprechenden  Artikulations- 
empfindungen erweist.  Daher  wird  auch  der  Lauteindruck  erst  dann,  wenn  mit 
seiner  akustischen  Empfindung  die  zugehörige  Artikulation  sich  assoziiert,  zur 
vollen  Klarheit  und  Gewißheit  erhoben.  Solange  diese  Assoziation  zwischen 
Laut-  und  Artikulationsempfindungen  noch  nicht  völlig  ausgebildet  ist,  ist 
auf  das  Ohr  kein  Verlaß.  Wir  vermögen  eben,  wie  Wundt^)  bemerkt,  nur  die 
Sprachlaute  vollkommen  richtig  zu  hören,  die  wir  selbst  richtig  erzeugen  können. 
Und  erläuternd  fügt  er  hinzu:  ,,Wer  im  eigenen  Sprechen  das  linguale  mit  dem 


I 


^)  Gaßmann  u.  Schmidt,  Die  Fehlererscheinungen  beim  Nachsprechen  von  Sätzen 
und  ihre  Beziehung  zur  sprachl.  Entwicklung  des  Schulkindes.  Leipzig  1913,  Quelle 
&  Meyer. 

*)  a.a.O. 

»)  Wundt,  Völkerpsychologie.  3.  Aufl.   1911.  I.  Bd.  S.  317. 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern,  551 

_ 

gutturalen  r  oder  die  Tenuis  mit  der  Media  verwechselt,  dem  entgehen  die  Unter- 
schiede meist  auch  beim  Hören  der  Laute.  Nicht  anders  verhält  es  sich  bei  der 
Aneignung  einer  fremden  Sprache,  die  darum  in  ihrem  Lautcharakter  stets 
nach  den  geläufigen  Lauten  der  eigenen  umgemodelt  wird." 

Ein  Deutscher  wird  darum  z.  B.  die  nasalierten  Vokale  ä,  o  der  französischen 
Sprache  nicht  als  solche,  sondern  als  ang,  ong  hören,  also  etwa  enfant  nicht  als 
afä,  sondern  als  angfang,  allons  nicht  als  allo,  sondern  als  allong.  Umgekehrt 
vermag  ein  französisches  Ohr  nicht  lang  und  bang  zu  vernehmen,  sondern  hört 
lä  und  bä.  Und  solange  ein  deutsches  Kind  z.  B.  die  Laute  s,  z,  ch,  seh  noch  nicht 
scharf  artikulieren  kann,  ist  es  auch  unfähig,  sie  mit  Sicherheit  durch  das  Ohr 
zu  unterscheiden.  Die  Ausbildung  des  Sprach  Verständnisses  geht  in  diesem 
Sinne  Hand  in  Hand  mit  der  Ausbildung  der  Sprechfähigkeit,  die  Schärfe  des 
Crehörs  gewinnt  mit  der  Schärfe  der  Artikulation.  Feinere  Auffassung  der  Sprache 
vermittelt  man,  indem  man  zu  feinerer  Sprechweise  anleitet.  Diese  Überzeugung 
spricht  auch  Gutzmann  in  seiner  bereits  zitierten  Arbeit  über  Hören  und  Ver- 
stehen aus,  indem  er  bemerkt:  ,,In  ähnlicher  Lage,  wie  die  kleinen  Kinder  der 
Sprache  der  Erwachsenen  gegenüber,  befinden  sich  die  Schüler  des  Berliner 
orientalischen  Seminars  den  ihnen  dort  vorgeführten  Afrikanern  gegenüber, 
deren  Sprache  sie  noch  nie  gehört  haben,  deren  Gesprochenes  sie  aber  doch 
mit  unseren  Schriftzeichen  fixieren  sollen.  Da  gibt  es  die  gleichen  Verwechs- 
lungen, wie  die,  welche  die  sprechenlernenden  Kinder  begehen,  und  manche 
Unterscheidungen,  z.  B.  die  des  labiodentalen  vom  labiolabialen  f  werden  kaum 
je  von  selbst,  d.  h.  ohne  Nachhilfe  des  Lehrers  aufgefunden  und  scheinen  docli 
nachher  so  außerordentlich  leicht  hörbar  und  auf  faßbar  zu  sein." 

Wenn  wir  uns  nun  die  Hörfehler,  die  bei  unseren  Lautdiktaten  unterliefen, 
genauer  ansehen,  so  ist  in  der  Tat  zu  bemerken,  daß  sie  sich  häufig  in  derselben 
Richtung  wie  die  Lautverwechslungen  beim  Stammeln  bewegen  und  zwar  so- 
wohl bei  den  Einzellauten  als  auch  bei  den  Lautverbindungen.  Diese  Parallele 
erklärt  sich  daraus,  daß  dem  Stammeln  des  sprechenlernenden  Kindes  ebenfalls 
ein  undeutliches  Hören  zugrunde  liegt,  hauptsächlich  bedingt  durch  die  geringe 
Geschicklichkeit  der  Sprechorgane.  Wenn  bei  dem  sprachlich  viel  weiter  ent- 
wickelten Schulkinde,  bei  dem  von  einem  dermaßen  motorischen  Ungeschick 
nicht  mehr  die  Rede  sein  kann,  trotzdem  das  Verhören  in  derselben  Weise  ver- 
läuft, so  muß  bis  zu  einem  gewissen  Grade  die  Ursache  hierfür  in  den  Lauten 
selbst  gesucht  werden  imd  zwar  einerseits  in  ihren  akustischen,  andererseits 
in  ihren  sprechmotorischen  Eigenschaften  oder  auch  in  beiden  zusammen. 

In  bezug  auf  das  akustische  Moment  des  Lautes  zeigen  unsere  Versuche,  daß 
die  klangkräftigen  öffnungslaute,  die  Vokale,  dem  Verhören  viel  weniger  aus- 
gesetzt sind  als  die  schwächer  klingenden  Hemmungslaute,  die  Konsonanten.  Bei 
ersteren  treten  Hörfehler  fast  nur  zerstreut  auf,  und  zwar  werden  nicht  immer 
differenziert  und  daher  mit  einander  vertauscht:  e  und  ö  (E  und  ö),  i  und  ü, 
o  und  u  (0  und  U),  ä  und  e,  ö  und  ü,  ei  und  äu  (eu).  Typisch  dagegen  ist  das 
Verhören  von  ö  und  eu,  die  besonders  bei  schlechter  Aussprache  einander  sehr 
ähnlich  klingen.  Daraus  erklären  sich  auch  die  Fehler  in  Wörtern  wie  Kreuz, 
Mäuse  u.  V.  a.  Ich  bin  überzeugt,  daß  bei  vorstehenden  Vokal  verhörungen  auch 
die  Artikulation  ihren  Anteil  hat.  Die  akustische  Ähnlichkeit  ist  es  in  erster 
Linie  auch  bei  den  Konsonanten,  die  ihr  Verhören  und  dadurch  weiterhin  die 


552  .Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

Fehler  bei  ihrer  schriftlichen  Fixierung  hervorruft.  Daher  treffen  wir  bei  den 
Mitlauten  mit  vokalischem  Klange,  bei  den  stimmhaften  Dauerkonsonanten 
oder  Halbvokalen,  die  meisten  und  mannigfaltigsten  Verwechslungen  an,  ein 
Umstand,  der  bei  Gehörprüfungen  z.  B.  der  Schulrekruten  wohl  zu  beachten 
ist.  Verhältnismäßig  am  besten  sind  die  stimmlosen  Reibegeräusche  zu  ver- 
stehen, dieselben  Laute  also,  die  auch  in  der  Flüstersprache  am  deutlichsten 
hervortreten  und  unterschieden  werden  können.  Die  Explosivlaute  bereiten 
der  Perzeption  durch  das  Ohr  dagegen  wiederum  größere  Schwierigkeit.  Sind 
sie  doch  außer  durch  den  gleichen  Klangcharakter  noch  durch  die  gleiche  Arti- 
kulationsart  (Verschluß!)  nahe  miteinander  verwandt.  Dieselben  verwandt- 
schaftlichen Beziehungen  bestehen  auch  bei  den  Nasalen:  m,  n,  ng.  Schließlich 
kann  bei  ganz  verschiedener  Entstehungsart  und  völlig  verschiedenem  Klange 
der  Laute  (z.  B.  w  =  b,  F  =  P)  ein  Verhören  stattfinden,  wenn  nur  die  Arti- 
kulationsstelle (Lippen,  Zähne,  Gaumen)  dieselbe  bleibt.  Nach  dem  Gesagten 
lassen  sich  demnach  für  die  Hörfehler  bei  den  Konsonanten  folgende  Regeln 
aufstellen.     Das  Verhören  derselben  geschieht: 

a)  nur  infolge  ihrer  akustischen  Ähnlichkeit, 

b)  infolge  des  ähnlichen  Klanges  und  der  gleichen  Artikulationsart, 

c)  nach  der  gleichen  Artikulationsstelle  bei  verschiedenem  Klangcharakter. 
In  Übereinstimmung  mit  unserer  ersten  Regel  kam  auch  Gutzmann  bei  seinen 

Telephon  versuchen  zu  dem  Resultate,  daß  gewöhnlich  Laute  mit  ähnlichem 
akustischen  Charakter  miteinander  verwechselt  werden.  Er  konnte  folgende 
Lautgruppen  als  miteinander  verwechselbar  aufstellen :  p,  t,  k  —  b,  d,  g  —  seh, 
f,  z,  SS,  X,  ch  —  m,  n,  ng  —  w,  s,  j.  R  und  1  wurden  dagegen  meist  richtig  perzipiert. 
Höchst  bemerkenswert  ist  auch,  daß  Gaßmann  und  Schmidt  beim  Nachsprechen- 
lassen von  Sätzen  an  dem  Lautbestande  falsch  reproduzierter  VTörter  nicht 
nur  dieselben  Hörfehler  konstatieren,  sondern  daraus  auch  dieselben  Regeln 
(nur  b  ist  nicht  ausgesondert)  ableiten  konnten,  wie  ich  sie  bei  Darbietung  iso- 
lierter Laute  erhalten  habe.  Daraus  dürfen  wir  den  Schluß  ziehen,  den  ich  auch 
durch  das  Fehlermaterial  aus  meinen  Wortdiktaten  bestätigt  finde,  daß  die 
Hörfehler  nicht  erst  durch  die  Lautfolge,  durch  die  Kontaktwirkung 
der  Laute,  wie  sie  im  Worte  vorliegt,  entstehen,  sondern  bereits  dem 
einzelnen  isolierten  Laute  anhaften.  Dieser  Satz  ist  auch  gültig  bei 
anderen  Fehlerquellen,  wie  Schreib-  und  Artikulationsfehlern.  Damit  soll  jedoch 
keineswegs  gesagt  sein,  daß  die  Kontaktwirkung  der  Laute  nicht  ihre  besonderen 
Fehler  erzeuge.  Im  Gegensatz  zu  Gaßmann  imd  Schmidt  finde  ich  in  meinen 
Versuchen  keinen  Beleg  für  das  Verhören  der  sprachgeschichtlich  so  interessanten 
Liquida  r  und  1.  Für  das  von  beiden  Autoren  auf  S.  32  ihres  Buches  angeführte 
Versprechen:  der  Blitz  ist  der  Schall  des  Donners  wähl  =  wir  nehmen  wahr, 
möchte  ich  auch  den  Grimd  nicht  in  einem  Verhören,  sondern  vielmehr  in  einer 
Beeinflussung  sprechmotorischer  Art  suchen  (Nachwirkung  des  1  von  Schall). 
Ob  und  inwieweit  dem  Verhören  eine  Bedeutung  für  gewisse  lautliche  Wand- 
lungen in  der  Sprachgeschichte  zukommt,  vermag  ich  nicht  zu  entscheiden. 
Ich  muß  mich  mit  dem  Hinweise  begnügen,  daß  vielfach  Parallelen  bestehen 
zwischen  dem  Lautwandel,  wie  er  in  der  historischen  Entwicklung  der  Wörter 
■unserer  Sprache  hervortritt,  und  den  Veränderungen  der  Konsonanten,  welche 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksachülern.  663 

sie  durch  das  Verhören  erleiden,  z.  B.  Kartoffel  aus  tartufolo,  Knoblauch  aus 
klobelouch,  Blachfeld  aus  Flachfeld  etc.^) 

In  der  folgenden  Übersicht  der  Hörfehler  sind  die  typischen  Verwechslungen 
fett  gedruckt  und  die  häufigen  in  den  gewöhnlichen  Lettern  beigegeben. 

Infolge  des  gleichen  Klangcharakters  bez.  desselben  und  der  gleichen  Artiku- 
lationsart geschieht: 

A.  Das   Verhören   bei    den   stimmhaften   Dauerkonsonanten,   und   zwar 

werden  verwechselt: 

a)  Nasale  unter  sich:  m=n  —  M=N — n=m,  ng  —  N=  M,  Ng  — ng=n. 

b)  Nasale  mit  labialen  Spiranten:  m  =  w  —  M  =  W. 

c)  Labiale  Spiranten  mit  Nasalen:  w=in  —  W=N,  M. —  schw=schm. 

d)  Labiale  Spiranten  mit  Liquiden:  schw=schl,  sehr. 

e)  Liquide  mit  Nasalen:  l=m,  n  —  L=M,  N — fl=fn — bl=bn,  bm — kl=kn. 

f)  Liquide  mit  labialen  Spiranten:  l  =  w  — L=W — fl=fw — bl  =  bw — kl=qu  (kw). 

g)  Nur  der  Stimmton,  nicht  aber  das  begleitende  Geräusch  wird  wahrgenommen, 
beruhend  aul  Unkenntnis  der  Artikulationsweise  stimmhafter  Konsonanten, 
daher  Verwechslung  mit  Vokalen:  l  =  ü  — L  =  Ü — m=ü — br=bru,  — Br=Bru, 
bl=bi,  blü  —  kl  =  ki,  gü,  kü,  klü  —  fl  =  fli,  fü,  fi  —  schw=schwu,  schu  —  dr= 
dru,  dro,  tru,  tri,  dre  —  fr=fru,  fro,  fri — J=Ü,  Ji  u.  Jü,  Schi  u.  schü. 

In  den  Versuchen  von  Gaßmann  u.  Schmidt  wurden  aus  dieser  ganzen  Konsonanten- 
gruppe verhört:  m  f ür  w,  r  für  1,  1  für  n,  m  für  n. 

B.  Verhören  bei  den  Explosivlauten. 

a)  Labiale  Explosiva  mit  dentalen:  p=t,  d  —  P=T. 

b)  ,,  ,,  ,,     gutturalen:  p=k,  g — b=g,  k — br=gr — bl=gl,  kl. 

c)  Dentale  ,,  ,,  gutturalen:  d=g,  k  —  D=G — t=k,  ck,  g  —  T=K, 
dr=gr,  kr — 8t=8k. 

d)  Dentale  Explosiva  mit  labialen:  d=b  —  D=B  — dr=br. 

e)  Gutturale  Explosiva  mit  labialen:  g=b  —  G  =  B  —  kl=qu,  gw. 

f)  Gutturale  Explosiva  mit  dentalen:  g=d  —  G=D  —  kl  =  dl. 

g)  Stimmhafte  Explosivlaute  werden  als  Vokale  oder  als  mit  Vokalen  verbunden 
gehört:  b  =  ü,  g=ü,  ö,  J=Ü,  Ji,  Hi. 

Gaßmann  u.  Schmidt  fanden  unter  den  Explosivlauten  verhört:  b  für  k,  g  für  b, 
t  für  k,  g  für  t,  t  für  p.  Gutzmann  stellt  als  verwechselbar  die  Gruppen  p,  t,  k 
und  b,  d,  g  zusammen. 

C.  Verhören  bei  stimmlosen  Dauerkonsonanten. 

ft)  f=8  —  F=S,  8  —  fr=sr  (vielleicht  nur  Schreibfehler!),  fl=8l,  sü,  su — b)  8ch=8, 
8  —  c)  ch=8. 

Gaßmann  u.  Schm. :  f  für  s,  f  für  z,  f  für  eh. 

Gutzmaim:  seh,  f,  z,  ß,  x,  ch,  verwechselbar. 

Verhören  der  Konsonanten,  wenn  der  Klangcharakter  verscliieden  ist,  aber  die 
Artikulationsstelle  erhalten  bleibt,  zeigte  sich  in  folgenden,  aber  nur  verstreut  auf- 
tretenden Fehlem: 

Labiale  vmter  sich:  W=B  u.  b  —  B=W  —  F=P  —  br=mr  —  bl  =  ml,  wl,  mn, 
wn  —  fr=pr,  wr. 

Dentale  unter  sich:  d=kn  —  t=8t  —  D=S  — T=L  —  Sp=De. 

G.  u.  Schm.  S.  :H:  b  für  w,  f  für  m,  1  für  d,  r  für  d,  s  für  d,  t  für  s,  d  für  n.  Auch 
bei  stimmhaften  Dauerkonsonanten  mag  außer  dein  gleichen  Klange  die  gleiche 
Artikulationsstelle  mit  zur  Venvechslung  beitragen.   Daß  aber  vorwiegend  der  erstere 


')  cf.  Behagel,  Geschichte  der  deutschen  Sprache.    3.  Aufl.    1911.    S.  187 ff.    Vergl. 
auch:  Meringer  und  Mayer,  Versprechen  und  Verlesen.     Stuttgart  1896. 


554 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


aiissclilaggebend  ist,  geht  aus  Fehlern  wie  W=N,  m=n,  w=r,  l  =  w,  m  hervor,  wobei 
die  gleiche  Artikulationsstelle  nicht  in  Frage  kommt. 

Verhören  bei  Lautverbindungen  (soweit  nicht  schon  besprochen).    Sie  werden  ver- 
nommen: 

a)  als  einfache  Laute  und  zwar  entweder 

a)  als  solche,  die  in  der  betr.  Verbindung  vorkommen,  wobei  der  klang- 
stärkste bevorzugt  wird :  bl=l,  br=r  (Br=R),  dr=r,  £1  =  1,  f,  fr=r,  kl=l. 
pf=f,  V,  ff  {Pf=F,  V)  —  Z  (t8)  =  S  oder 

ß)  als  völlig  neue  Laute  von  ähnlichem  Klangcharakter:  bl  =  m,  n,  w  —  fl=w. 

b)  mit  eingeschobenem  vokalischen  Klange    (mit  nachklingendem  Vokale   siehe 
vorher):  bl=bil  —  br=bur,  brur  —  fl  =  fil  —  fr=frur  —  dr=dur,  tor. 

III.  Hör-Schreibfeliler. 

Sie  gehen  hervor  aus  einem  Verhören  und  darauf  folgendem  Verschreiben,  nach 
Maßgabe  der  verschiedenen  Modalitäten,  wie  sie  unter  I  und  II  abgehandelt 
wurden.  Es  kombinieren  sich  z.  B.  Verhören  infolge  des  gleichen  Klang- 
charakters -j- Verschreiben  durch  Fortsetzung  der  Schreibbewegung,  Verhören 
auf  Grund  der  gleichen  Artikulationsstelle  +  Verschreiben  infolge  der  Ähnlich- 
keit der  Schriftzeichen  u.  s.  f.  Ohne  Kenntnis  dieser  Vorgänge  ist  eine  Beurteilung 
der  bei  der  schriftlichen  Aufzeichnung  der  Laute  bez.  Lautverbindungen  ent- 
stehenden Fehler  vielfach  ein  Ding  der  Unmöglichkeit,  wie  etwa,  wenn  man 
statt  n  b,  für  ö  ue,  statt  eu  uö,  für  br  rg  geschrieben  findet.  Die  hierher  gehörigen 
Fehler  ersehe  man  aus  der  folgenden  Zusammenstellung.  In  ihr  steht  zuerst  der 
vorgesprochene  Laut,  bzw.  die  Lautverbindung,  dann  der  verhörte  Laut  und  an 
letzter  Stelle  das  verschriebene  Lautzeichen. 


o  =  eu  =  ue 

ä  :=  ai  =  ia 

ei  =  eu  =  eü 

eu  =  öu  =  ou,   oü,   uö 

eu  ^  ei  =  ie 

n  =  1  =  b 

m  =  n  =  nn 


M  =  N  =  U,   Nn 
U  =  O  =  A 
U  =-  Ou  -=  Au 
g  =  ü  =  u 
g  =  gü  =  qü,    qu 
b  ^  g  =  qu 
T  -=  B  =  L 


D  =  g  =  ch  =  h 

br  ^=:  gr  ;:=  rg 

bl  =  bül  =  lül 

dr  =  br  =  (rb)  =  rl 

fl  =  bl  =  bf 

kl  =  kü  =  tu,   tu 

kl  =  kö  =  tö. 


Auch  sonst  noch  manche  vereinzelt  auftretende  Fehlschreibungen  finden  über 
das  Verhören  hinweg  ihre  Erklärungen. 


IV.  Artikulationsfehler. 

Während  in  Gruppe  II  die  Klangwahrnehmung  des  Lautes  das  Schriftzeichen 
desselben  bestimmt,  geschieht  dies  hier  durch  den  Sprechakt,  die  Artikulation 
des  Lautes,  bzw.  durch  die  Sprechbewegungsempfindung  oder  Sprechbewegungs- 
vorstellung.  Die  Fehler  entstehen  nicht  durch  die  Unfähigkeit  des  Ohres,  die 
Klänge  zu  unterscheiden,  sondern  durch  Ungeschicklichkeit  der  Sprechwerk- 
zeuge, die  Laute  dem  Klange  gemäß  zu  erzeugen.  Der  Klang  ist  nur  insofern 
maßgebend,  als  er  den  Anstoß,  den  Reiz  abgibt  für  die  verlangte  Schreibtätigkeit. 
Der  Erfolg  derselben  im  speziellen  aber  wird  bestimmt  durch  den  sich  ein- 
schiebenden Sprechakt,  bzw.  die  Sprechbewegungsvorstellung  und  die  damit 
verknüpfte  Schreibbewegungsvorstellung.  Zu  dieser  Überzeugung  gelangen  wir 
auf  Grund  der  Betrachtung  der  Fehlerarten  wie  auch  durch  die  Beobachtung, 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  555 

daß  das  Gros  der  Versuchsscküler  sprechend  schreibt.  Der  naive  Schreiber  be- 
gnügt sich  nicht  mit  dem  Klange,  sondern  setzt  ihn  um  in  die  Sprechbewegung, 
und  von  deren  Zentrum  aus  erfolgt  über  das  optische  Zentrum  die  Erregung 
des  motorischen  Zentrums  für  die  Hand.  Es  macht  den  Eindruck,  als  ob  für  die 
Mehrzahl  der  Schüler  der  Laut  erst  schriftlich  darstellbar  wäre,  nachdem  er 
vorher  die  Lippen  passiert  oder  die  Sprechmuskeln  wenigstens  innerviert  hätte. 
Da  nun  auch  dann,  wenn  ein  Verhören  vorliegt,  die  Sprechbewegung  beim  Nieder- 
schreiben zuhilf e  genommen  wird,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  daß  letzten 
Endes  die  schriftliche  Darstellung  des  Lautes  durch  die  Sprechbewegung  bzw. 
Sprechbewegungsvorstellung  bestimmt  wird  —  wenn  jene  nicht  im  letzten 
Moment  noch  durch  die  Schreibbewegung  selbst  modifiziert  wird.  Mit  einfachen 
Worten:  Der  Schüler  schreibt  den  Laut  so,  wie  er  ihn  spricht.  Der  Schreibakt 
erscheint  demnach  als  unmittelbare  Auslösung  des  Sprechakts.  Somit  ist  die 
Sprechbewegung  bzw.  Sprechbewegungsempfindung  die  Grundlage 
für  die  Lautdarstellung.  Die  anderen  daran  beteiligten  Momente  sind  nicht 
zu  vernachlässigen,  stehen  aber  an  Bedeutung  nach. 

Von  den  Faktoren,  die  bei  der  Lautdarstellung  wirksam  sind,  sind  es  be- 
sonders zwei,  die  bei  der  Abwägung  ihrer  Bedeutung  große  Schwierigkeit  bereiten, 
das  Klangbild  und  die  Sprechbewegung.  Man  wird  daher  bei  Beurteilung  eines 
Fehlers  sehr  oft  im  Ungewissen  sein,  ob  er  durch  diese  oder  jenes  erzeugt,  ob 
falsch  gehört  oder  falsch  gesprochen  worden  ist.  Aber  in  bestimmten  Fällen 
kann  darüber  gar  kein  Zweifel  walten.  Sind  sie  erst  erkannt,  so  haben  wir  einen 
Maßstab,  nach  dem  wir  auch  andere  weniger  klar  zutage  liegende  Fälschungen 
bemessen  können.  Derartige  unzweifelhafte  Fälle  liegen  vor  bei  den  Lauten, 
die  durch  dialektische,  also  sprechmotorische  Eigentümlichkeiten,  ausgezeichnet 
sind.  Das  sind  in  der  Leipziger  Mundart  besonders  die  Verschlußlaute  (Ver- 
wechslung der  Mediä  und  Tenues),  die  dunklen  Umlaute  (ö,  ü  =  e,  i)  und  die 
Reibelaute  ch,  (j,  g)  und  seh,  die  beide  einen  Klang  haben,  der  zwischen  ch  und 
seh  liegt.  Man  kann  einem  Leipziger  Schulkinde  wohl  10-  und  20 mal  Meter  vor- 
sagen, und  immer  noch  wird  es  ,,Meder"  artikulieren  und  darnach  auch  schreiben. 
Von  einem  Falschhören  kann  unter  solchen  Umständen  nicht  mehr  die  Rede 
sein,  hier  ist  einzig  die  falsche  Artikulation  der  Grund  zum  falschen  Schreiben. 
Hat  der  Schüler  t  eben  noch  ganz  richtig  gehört  und  er  schreitet  zur  schrift- 
lichen Wiedergabe,  so  setzt  er  den  Klang  um  in  die  ihm  geläufige  Sprechbewegung 
des  d  und  setzt  das  dieser  Sprechbewegung  entsprechende  Zeichen.  Oder  spreche 
ich  ihm  lOmal  das  Wort  Fleisch  mit  deutlich  hörbarem  seh  vor  und  er  soll  es 
darauf  niederschreiben,  so  werden  vom  motorischen  Zentrum  aus  die  ausge- 
fahrenen Nervenbahnen  zum  ch  erregt,  der  Klang  seh  also  in  die  Sprechbewegung 
ch  umgesetzt  und  demgemäß  Fleich  geschrieben.  Das  Gleiche  gilt  von  vielen 
anderen  Lauten,  natürlich  immer  bedingt  durch  die  dialektischen  Eigenheiten 
der  betreffenden  Gegend.  So  dürfen  wir  es  als  gewiß  annehmen,  daß  d  und  t, 
b  und  p,  g  und  k,  ch  und  seh,  e  und  ö,  i  und  ü,  ä  und  e,  ö  und  ü,  ö  und  eu,  euundei, 
s  und  z  dem  Klange  nach  wohl  unterschieden  werden.  Wenn  sie  aber  trotzdem 
der  Falschschreibung  anheimfallen,  so  trägt  nicht  das  Klangbild  die  Schuld, 
sondern  einzig  und  allein  der  sprechmotorische  Akt,  indem  er  im  Moment  des 
Xiederschreibens  die  Klangvorstellung  (und  die  ihm  entsprechende  Schriftbild« 
Vorstellung)  verdrängt  und  für  sie  einspringt.    Der  Erfolg  tut  sich  darin  kund. 


556  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

daß  der  betr.  Laut  in  der  Darstellung  nicht  seinem  Klange,  sondern  seiner 
dialektisclien  Artikulation  gemäß  erscheint.  Für  den  schreibenden  Schüler 
besteht  in  unserm  Falle  der  Inhalt  der  Lautvorstellung  in  der  Sprechbewegungs- 
vorstellung.i)  Nach  den  früheren  Ausführungen  gilt  dieser  Satz  auch  für  verhörte 
Laute.  Nach  dieser  Vorstellungsweise  schreibt  bei  weitem  die  Mehrzahl  der 
Schüler,  gehört  also  nach  ihrem  Verhalten  beim  Niederschreiben  diktierter  Laute 
dem  sprechmotorischen  Sprachtypus  an.^)  Er  bekundet  sich  bei  jüngeren  Schülern 
in  einem  mehr  oder  weniger  leisen  Mitsprechen  des  zu  schreibenden  Lautes,  bei 
älteren  dagegen  verbleibt  es  bei  einer  bloßen  Innervation  der  Sprechmuskeln  ohne 
sichtbare  Sprechbewegung.  Als  Konsequenz  hieraus  ergibt  sich:  Die  Erzeugung 
klarer  Sprechbewegungsempfindungen  ist  die  Grundvoraussetzung 
für  die  richtige  Darstellung  der  Laute  und  damit  für  den  orthographischen 
Unterricht,  soweit  die  lauttreue  Schreibung  in  Frage  kommt. 

Die  in  unseren  Lautdiktaten  auftretenden  Artikulationsfehler  gruppieren  sich 
wie  folgt.     Sie  betreffen : 

a)  die  Vokale:  e=ö  (E=Ö) — i  =  ü — ü=i,  ö  —  ö—e,  eu,  öu  —  ä  =e,  äu — eu=ö, 
ei  —  ei  =äu. 

b)  Die  Explosivlaute:  b=-p  (B=P,  bl  =1>1,  br=pr,  Br=pr)— p=b  (P=B,  pf  =  bf, 
Pf=Bf,  Sp-=Schb)— d=t  (D=T,  dr=tr,  tsch)— t=d  (T=:D— g=k— k  =  g,  ek 
(K-G,  kl  -gl,  ckl). 

c)  Die  Reibelaute:  f  =  pf  (fl=pfl,  fr=pfr)  — s=z  (S  =  Z,  st=zt)  — sch=cb,  g,  j  — 
seh  =s  (sehw=sw)  —  palatales  ch  —  sch,  j,  g  —  ch=s  —  J  =  Sch,  cb — gut- 
turales ch  =r,  seh,  s. 

d)  Liquida  und  Affrikatä:  r=ch  (br=:bch,  dr=tch — pf=f — z(ts)  =  s. 

e)  verschiedenartige  Laute ;  sie  werden  asperiert :  gh,  Ih,  mh,  wh,  rh  —  oder  als 
Affrikatä  gesprochen:  p  =pf,  t=tch,  tz,  tch. 

f)  Konsonanten,  mit  Vokalen  zu  Wörtern  kombiniert  und  als  solche  gesprochen: 
ch—ich  —  ch  =  ach  —  st = ist  —  P=Paar. 

g)  Aus  Unkenntnis  der  Artikulationsweise  erfolgt  eine  den  akustischen  Eindruck 
der  betreffenden  Laute  nur  ähnlich  wiedergebende  Artikulation.  Hierher  sind 
zum  Teil  die  unter  Hörfehlern  vokalisch  dargestellten  stimmhaften  Konsonanten 
und  Konsonantenverbindungen  zu  reclinen.    (Vergl.  bes.  J.) 

Die  hier  verzeichneten  Artikulationsfehler  beruhen,  wie  schon  hervorgehoben, 
zum  größten  Teile  auf  mundartlichen  Eigentümlichkeiten  und  Gewohnheiten, 
und  diese  wiederum  werden  erzeugt  durch  die  imserem  (wie  jedem)  Dialekte 
eigene Artikulations-  oder  Operationsbasisa),  d.i.  durch  die  Mundlage,  in  der  die 
Laute  ständig  gesprochen  werden.  Durch  sie  erhält  die  Lautgebung  ihre  charak- 
teristische Färbung  und  ihr  besonderes  Gepräge.  Das,  was  die  Artikulationsbasis 
des  Leipziger  Dialekts  kennzeichnet,  ist  ein  breiter  in  die  e- Stellung  gezogener 
Mund  mit  wenig  beweglichen  Lippen.  Sie  bleiben  beim  Sprechen  immer  den 
beiden  Zahnreihen  angeschmiegt,  gleichgültig  ob  ä,  e,  i  oder  o,  u,  ü  zu  artikulieren 
ist.  Die  Ringmuskeln  der  Lippen  treten  nie  in  Tätigkeit  und  bleiben  daher  ganz 
ungeübt.  Daraus  erklärt  sich's,  daß  die  Aufforderung  an  unsere  Schüler,  den 
Mund  zu  runden  oder  zu  spitzen  (bei  o — u,  ü),  meist  ohne  Erfolg  bleibt,  ja  die 
jüngeren  Schüler  sind  häufig  zunächst  gar  nicht  imstande,  diese  ungewohnte 


*)  Vergl.  Stricker,  Studien  über  Sprachvorstellmigen.     Wien  1880. 
*)  Pfeiffer,  Über  Vorstellungstypen.    Leipzig  1907. 
^)  V«rgl.  O.  Jespersen,  Elementarbuch  der  Phonetik.    Leipzig  1912.     S.  185. 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  557 

Muskeltätigkeit  ohne  Zutun  des  Lehrers  auszuführen.    Es  bedarf  vieler  Übung, 
ehe  die  trägen  Lippen  sich  von  den  Zähnen  abheben  und  sich  nach  vom  schieben. 
Eine  weitere  Eigenschaft  der  Operationsbasis  unseres  Dialekts  ist  die  Trägheit 
der  Zunge.    Sie  bleibt  meist  flach  im  Munde  liegen  imd  erhebt  sich  nur  wenig 
und  energielos  gegen  das  Gaumendach  und  die  Zähne,  so  daß  Verschlüsse  und 
Engen  mit  schlaffer  Einstellung  gebildet  werden.   Dazu  kommt  ferner  noch  eine 
oberflächliche  Atmung,  wodurch  der  Exspirationsdruck  ohne  Kraft  gegen  jene 
andrängt.   Alle  diese  Eigenschaften  der  Artikulationsbasis,  die,  wie  wir  dargelegt 
haben,  im  letzten  Grunde  nichts  als  Eigenschaften  der  Artikulationsmuskeini 
also  rein  physiologischer  Natur  sind,  bewirken  in  ihrer  Gesamtheit  die  dem 
Dialekt  eigene    Sprechbewegung    und  die   beim    Schreiben   daraus  fließenden 
Artikulationsfehler.  Die  Trägheit  der  Lippen  verhindert  die  Bildung  der  dumpfen 
Umlaute  und  der  Diphthonge  oder  gibt  zu  fortwährender  Verwechslung  mit  den 
einfachenVokalen  Anlaß,  wie  auch  von  f  und  pf .    Die  Schlaffheit  der  Zunge  ist  es 
hauptsächlich,  die  die  Unklarheiten  in  der  Darstellung  der  Reibelaute  verursacht. 
Der  häufigste  Fehler,  den  unsere  Schüler  hier  machen,  besteht  in  der  Ver- 
wechslung von  ch  und  seh.    Sie  haben  von  Haus  aus  für  beide  Konsonanten  nur 
einen  Laut,  der  akustisch  die  Mitte  zwischen  ihnen  einnimmt.    Er  wird  erzeugt, 
indem  der  Zungenrücken  sich  nur  wenig  gegen  den  harten  Gaumen  hebt  und  die 
Luft  in  breitem  Strome  über  die  unteren  Schneidezähne  abfließt,  während  die 
Lippen  die  e-Stellung  einnehmen.     Beim  Erlernen  der  Buchstaben  geht  nun 
dieser   Zwitterlaut   und   die   ihm   entsprechende    Sprechbewegungsempfindung 
sowohl  mit  der  Schreibbewegung  des  ch  als  auch  der  des  seh  eine  assoziative 
Verbindung  ein,  und  die  Folge  ist  eine  durch  die  ganze  Schulzeit  sich  fortsetzende 
Konfusion.     Sie  kann  nur  dadurch  beseitigt  werden,  daß  man  durch  scharfe, 
präzise  Artikulation  klare  und  deutlich  voneinander  unterscheidbare  Sprech- 
bewegungsempfindungen  bzw.  -Vorstellungen  zu  gewinnen  strebt.    Die  gleiche 
Bedingung  muß  erfüllt  sein,  ehe  s  und  z,  ch  und  s,  seh  und  s,  ch  und  r  fehlerfrei 
zur  Darstellung  kommen  können.     Solange  es  z.  B.  beim  gutturalen  ch  nicht 
gelingt,  auch  die  leiseste  Bewegungsempfindung  im  Zäpfchen  auszutilgen,  liegt 
immer  die  Möglichkeit  einer  Verwechslung  mit  dem  (bei  uns  gebräuchlichen) 
Uvularen  r  vor.    Weitere  Details  anzuführen,  wie  die  übrigen  Artikulationsfehler 
entstehen,  muß  ich  mir  hier  versagen  und  auf  die  Lehrbücher  der  Phonetik  ver- 
weisen.   Nur  bezüglich  der  Explosivlaute  sei  noch  bemerkt,  daß  zu  ihrer  Unter- 
scheidung das  Bewußtsein  des  geringeren  oder  stärkeren  Exspirationsdruckes 
neben  der  Vorstellung  des  lockerem  oder  festeren  Verschlusses  maßgebend  ist. 
Daß  endlich  bei  völliger  Unkenntnis  der  Artikulationsvorgänge  gewisse  Laute 
(s.  unter  g)  ganz  falsch  wiedergegeben  werden,  ist  ohne  weiteres  verständlich, 
wie  auch  die  Erscheinung  leicht  erklärlich  ist,  daß  einige  Konsonanten  aspiriert, 
andere  als  Affrikatä  gesprochen  werden.    Die  Stimmritze  schließt  sich  nämlich 
nicht  momentan  nach  der  Aussprache  der  betreffenden  Laute;  streicht  nun  der 
noch  nicht  erschöpfte  Exspirationsstrom  durch  sie,  so  erscheint  der  betr.  Kon- 
sonant behaucht,  oder  geht  bei  einem  der  stimmlosen  Verschlußlaute  die  Arti- 
kulationsstellung in  die  des  an  gleicher  Stelle  entstehenden  Reibelautes  über, 
während  der  Atem  noch  andauert,  so  erscheint  jener  angerieben. 

Hiermit  glaube  ich  genügend  nachgewiesen  zu  haben,  welch  hohe  Bedeutung 
der   Sprechbewegung  bei  der  schriftlichen  Darstellung  der  Laute   zukommt, 


558  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

und  ich  wende  mich  nun  zur  Gruppe  derjenigen  Fehler,  die  aus  falscher  Arti- 
kulation mit  nachfolgendem  Verschreiben  hervorgehen. 

V.  Sprech-Schreibfehler. 

Zu  ihrer  Erklärung  brauche  ich  nach  den  vorangegangenen  ausführlichen  Dar- 
legungen nichts  mehr  zu  sagen  und  kann  mich  hier  auf  ihre  Zusammenstellung 
beschränken.  In  der  ersten  Reihe  stehen  die  vorgesprochenen  Laute,  in  der 
zweiten  die  dafür  eingesprungenen  Artikulationsfehler,  in  der  dritten  die  ihnen 
folgenden  Verschreibe-Fehler. 


U  =  O  =  A 
U  =  Ou  =  Au 

N  =  Nh  =  Hn,   Hin 
R  =  Reh  =  Rh 
P  =  b  =  1 
k  =  ksch,   seh  =  chs 


Seh  =  ch  =  h 

Sch  =  Tsch,  Ksch=Kch, 

Seht 
st  =  zt  =  tz,   tzt 
Br  =  pR  =  Rp 
fl  ^  pfl  =  fpl 


fr  =  fch  =  chf 
kl  -  gl  =  gb 
pf  .^  f  =  h 
pf  =-  bf,   fb  -=  fh 
pf  =:  bv  =  bw. 


über  Rh,  fh  ließe  sich  streiten,  sie  könnten  auch  als  Aspiratä  mit  gehauchtem 
Absatz  gedeutet  werden,  während  man  Hn  als  Klanggeräusch  mit  gehauchtem 
Einsatz  gesprochen  auffassen  könnte. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  außer  den  beiden  Kombinationen  unter  III  und  V 
auch  noch  andere  vorkommen  können.  Wenn  z.  B.  dr  als  pfr  geschrieben  wird, 
liegt  ein  Verhören  (br  oder  pr)  mit  darauf  folgender  falscher  Artikulation  (pfr), 
also  ein  Hör- Sprechfehler  vor.  Es  ist  wichtig,  sich  alle  diese  Möglichkeiten  vor 
Augen  zu  halten,  um  die  oft  recht  sonderbar  erscheinenden  Fehler  nach  ihren 
psychologischen  Vorgängen  entwirren  zu  können,  worauf  schon  bei  Besprechung 
der  Hör- Schreibfehler  hingewiesen  wurde. 

VI.  Fehler,  verursacht  durch  Unkenntnis  des  Lautwertes  der 

Buchstaben. 

Wie  falsche  Aufzeichnungen  entstehen,  wenn  die  Schüler  infolge  mangelnder 
Kenntnis  der  Artikulationsvorgänge  nicht  imstande  sind,  den  Klangcharakter 
der  Laute  zu  erfassen  (z.  B.  bei  stimmhaften  Explosiv-  und  Reibelauten),  so 
ergeben  sich  auch  Fehler,  wenn  sie  nicht  wissen,  welcher  Lautwert  den  dar- 
zustellenden Buchstaben  zukommt.  Schwierigkeiten  erheben  sich  besonders  da, 
wo  das  Lautzeichen  dem  Laute  nicht  entspricht.  Um  ihnen  zu  begegnen,  muß 
von  vornherein  betont  werden,  daß  der  Laut  etwas  Gesprochenes  und  Hör- 
bares, der  Buchstabe  aber  nur  ein  sichtbares  Symbol  für  ihn  ist,  das  jedoch  mit 
seinen  motorischen  und  akustischen  Eigenschaften  nicht  das  geringste  gemein 
hat,  wenngleich  nicht  verschwiegen  werden  soll,  daß  mehrfach  Versuche  unter- 
nommen worden  sind,  einen  inneren  Konnex  der  Schriftzeichen  mit  der  Laut- 
sprache herzustellen.  Als  erster,  der  einen  derartigen  Versuch  machte,  wird  der 
spanische  Mönch  Juan  Pablo  Bonet  (1620)  genannt.  Ihm  bedeutet  z.  B.  das  latei- 
nische B  den  Verschluß  der  beiden  Lippen,  das  umgelegte  H  =  W  die  Hauchstel- 
lung, das  umgelegte  pf^  die  Artikulation  des  Zungenrückens  gegen  den  Gaumen, 
das  umgelegte  <J  den  geöffneten  Mund  u.  s.  f.  Für  die  deutsche  Schreibschrift 
dürften  solche  Vergleiche  wohl  schwer  herbeizuziehen  sein.  Ihre  Zeichen  stehen, 
wie  auch  die  lateinischen,  in  keinem  Zusammenhange  mit  dem  gesprochenen  Laute. 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  559 

Gleichwohl  kann  man  die  Erfahrung  machen,  daß  Kinder  und  auch  viele  Er- 
wachsene Laut  und  Lautzeichen  infolge  der  beständigen  Verknüpfung  voll- 
ständig identifizieren,  der  Buchstabe  ist  für  sie  der  Laut.  Erst  durch  Belehrung 
kann  dieser  festsitzende  Irrtum  beseitigt  werden.  Wenn  wir  hiermit  einer  deut- 
lichen, bewußten  Scheidung  von  Schriftzeichen  und  Laut  das  Wort  reden,  so 
soll  dadurch  aber  beileibe  nicht  die  innige  Assoziation  zwischen  beiden  berührt 
werden ;  denn  sie  ist  es  ja  gerade,  die  die  Voraussetzung  für  eine  leichte  und  sichere 
Reproduktion  der  Schriftzeichen  auf  zugerufene  Laute  bildet.  Hier  soll  nur 
nachdrücklich  hervorgehoben  werden,  daß  beide  Ausdrucksformen  zwei  total 
verschiedene  Dinge  sind,  so  verschieden,  daß  die  Schriftzeichen  oft  gar  nicht  dem 
akustischen  Werte  des  Lautes  —  nur  diesen,  nicht  auch  den  motorischen,  drückt 
der  Buchstabe  nach  der  allgemein  gültigen  Auffassung  aus  —  entsprechen.  So 
schreiben  wir  zwei  Zeichen,  wo  nur  ein  einfacher  Laut  erklingt :  ng,  seh,  ph,  oder 
umgekehrt,  wir  setzen  nur  eins,  obwohl  eine  Lautfolge  vorliegt:  z  =  ts,  x  =  ks, 
oder  endlich  die  Buchstaben  entsprechen  überhaupt  nicht  dem  Lautwerte:  eu 
und  äu,  phonetisch  =  oe  (oi).  Wenn  die  Schüler  über  diese  Dinge  nicht  belehrt 
werden  und  nicht  wissen,  welche  phonetische  Gültigkeit  den  einzelnen  Buch- 
staben und  Buchstabenverbindungen  zukommt  —  nach  meiner  Auffassung: 
welche  Sprechbewegungen  in  erster  Linie  wir  mit  ihnen  verbinden  — ,  so  entstehen 
Rechtschreibfehler,  wie  sie  im  folgenden  verzeichnet  sind: 


i  =  j   (I 

=  J) 

k  =  ck 

Qu  =  Kw,  Qw,  Gw,  Quw 

eu  =  oi, 

Die,   oeu,   Ö,    öu 

p£  =  V  (Pf  ==  V) 

ng  =  n 

ö  =  eu, 

öu 

pf  =  ph  (Pf  =  Ph) 

nk  =  ng  (=  zweilautig) 

s  --=.  äu, 

eu 

Sp  =  Schp  u.  schp 

,  ,  i  meinemWortfehler- 
nk  —  ngkl  Material     entnom 

ch  ^  j 
J  =  ch, 

Ch 

Z  =  Tz,   tz,   Ttz,   Dz, 
Ds,   Zs,   ß 

Ts, 

Y  YB       f  isi&n:   Schrangk  — 

■*•         *"*       >     Exsempel,  Axst 

Im  einzelnen  brauche  ich  diese  Fehlschreibungen  wohl  nicht  alle  zu  erklären, 
da  bereits  im  Vorhergehenden  auf  ihre  allgemeine  Ursache  eingegangen  ist.  Nur 
auf  einige  Irrtümer  sei  hingewiesen.  K  ist  für  unsere  Kinder  lautlich  g,  artiku- 
lieren sie  nun  die  tenuis  scharf,  so  genügt  ihnen  k  nicht  und  sie  schreiben  ck. 
Ng  wird  vielfach  nicht  als  einfacher  Laut,  sondern  als  n — g  bewertet.  Das  s 
hinter  x  steht  deshalb,  weil  der  Schüler  sich  nicht  bewußt  war,  daß  das  x-Zeichen 
den  phonetischen  Wert  ks  hat  und  darum  s  schon  mitenthält,  u.  a.  m.  Merk- 
würdig erscheint  noch  die  Bewertung  des  v  (V) ;  es  wird  durch  alle  Klassenstufen 
hindurch  dem  Klange  der  Affrikata  (pf)  gleichgesetzt.  Im  übrigen  darf  es  nicht 
Wunder  nehmen,  daß  einige  Fehlererscheinungen  hier  wieder  notiert  sind,  die 
schon  in  früheren  Gruppen  auftraten.  Sie  können  eben  aus  verschiedenen  Ur- 
sachen entsprungen  sein,  z.  B.  kann  für  eu  ö  geschrieben  sein,  weil  falsch  artikuliert 
wurde  oder  weil  der  Klangwert  unbekannt  ist  oder  gar  weil  die  Schriftbild- 
Vorstellung  nicht  mehr  gegenwärtig  war  und  darum,  durch  die  Klangähnlichkeit 
veranlaßt,  eine  andere,  geläufigere  über  die  Schwelle  des  Bewußtseins  trat; 
schließlich  können  auch  noch  allerhand  Zufälligkeiten  mit  im  Spiele  sein. 

VII.  Fehler,  verursacht  durch  Einwirkung  der  Laute  aufeinander. 

Ich  komme  nun  zur  letzten  Gruppe  der  Fehler,  die  sich  bei  meinen  Laut- 
diktaten ergeben  hat.    Sie  hat  ihre  gemeinsame  Ursache  in  der  Beeinflussung, 


560  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

die  die  Laute  aufeinander  ausüben,  Sie  tritt  zwar  als  häufige  Erscheinung  erst 
in  dem  Worte  hervor,  wo  sich  die  Sprachlaute  und  Schriftzeichen  viel  intensiver 
berühren,  doch  macht  sie  sich  auch  bemerkbar,  wenn  die  Laute  in  längerer  Reihe 
isoliert  aufeinander  folgen.  Während  sie  jedoch  im  ersten  Falle  als  Vorwirkung 
imd  Nachwirkung  auftritt,  kann  sie  im  zweiten,  wo  es  sich  um  die  Nachschrift 
diktierter  einzelner  Laute  handelt,  sich  nur  nach  einer  Richtung,  nämlich  in 
vorwärtsschreitender  (als  Nachwirkung)  geltend  machen.  Diese  Beeinflussung 
hat  ihren  Grund  in  der  Perseveration  der  Vorstellungen.  Ein  Laut  kann,  nachdem 
er  verklungen  und  geschrieben  ist,  noch  als  Vorstellung  im  Bewußtsein  ver- 
harren, während  bereits  zur  Aufzeichnung  des  folgenden  Lautes  geschritten  wird, 
so  daß  er  die  neue  Schreibbewegung  noch  einmal  beeinflußt  und  sie  in  falsche 
Bahnen  leitet.  Welche  Seite  der  Lautvorstellung  hierbei  hauptsächlich  wirksam 
ist,  läßt  sich  von  vornherein  schwer  beurteilen.  Es  kann  die  Perseveration  ent- 
weder die  Klangstellung  oder  die  Schriftbild-  und  Schreibbewegungsvorstellung 
oder  die  Sprechbewegungsvorstellung  betreffen,  ja  schließlich  kann  bei  Aus- 
schluß jeder  dieser  vier  Möglichkeiten  imd  eines  Bewußtseins  Vorganges  überhaupt 
die  rein  mechanische  Fortsetzung  des  Schreibaktes  die  Ursache  zum  Fehlschreiben 
werden.  Es  ist  denkbar,  daß  eine  Lautvorstellung  deshalb  länger  im  Bewußtsein 
verweilt,  weil  der  Laut  für  den  Versuchsschüler  aus  individuellen  Gründen 
mannigfacher  Art  ein  besonderes  akustisches  Interesse  erweckt,  oder  es  tritt 
sein  motorischer  Charakter  in  den  Vordergrund,  weil  seine  Artikulation  vielleicht 
Schwierigkeiten  bereitete  oder  die  Schreibbewegung  und  das  Schriftzeichen  im 
Augenblick  die  Aufmerksamkeit  fesselte,  oder  aber  die  einmal  eingeleitete  Schreib- 
tätigkeit kommt  nicht  im  rechten  Momente  zum  Stillstand  (wie  es  z.  B.  bei  den 
Fingerübungen  am  Klavier  der  Fall  ist),  sondern  setzt  sich  rein  mechanisch  über 
die  gewollten  Grenzen  hinaus  fort. 

Wegen  der  Unsicherheit,  die  bei  Beurteilung  der  hier  in  Frage  kommenden 
Fehler,  wie  auch  der  in  anderen  Gruppen,  nach  den  maßgebenden  Momenten 
der  Lautvorstellung  hervortritt,  ist  größte  Vorsicht  geboten,  wenn  man  sich 
anschickt,  aus  der  Art  der  Lautfehler  den  individuellen  Vorstellungstypus  der 
Versuchsperson  zu  erschließen.  Diese  Vorsicht,  scheint  mir,  ist  nicht  immer  an- 
gewendet worden.  Es  ist  z.  B.  unstatthaft,  aus  den  häufigen  Hörfehlern  p=t, 
t=k  usw.,  die  bei  einem  Schüler  auftreten,  schließen  zu  wollen,  er  hätte  vorzugs- 
weise nach  dem  Gehör  geschrieben,  sei  also  ein  auditiver  Typus.  Ohne  Zweifel 
ist  das  Gehör  hier  maßgebend  gewesen,  aber  das  ist  nicht  individuell  begründet, 
sondern  diese  Schreibung  ist  objektiv  bedingt  durch  die  Verwechslungsmöglich- 
keit infolge  der  akustischen  Ähnlichkeit  der  betr.  Laute.  Das  gleiche  gilt  für  die 
visuell  bedingten  Schreibfehler,  wie  die  Verwechslung  von  b  und  1,  v  imd  w, 
I  und  T,  H  und  E,  St  und  N  usw.  Man  kann  hierfür  ebensowenig  die  subjektive 
Vorstellungsweise  verantwortlich  machen;  denn  die  Möglichkeit  derartiger 
Verwechslungen  ist  jederzeit  und  für  jeden  Menschen  objektiv  in  der  Ähnlichkeit 
der  betr.  Schriftzeichen  gegeben.  Die  Absonderung  eines  visuellen  Typus  auf 
Grund  der  Aufzeichnungen  von  vorgesagten  isolierten  Lauten  ist  überhaupt 
untunlich,  da  bei  Vollsinnigen  die  Schreibbewegimg  wohl  stets  auf  Grund  der 
Schriftbildervorstellung  erfolgt.  Nach  dieser  Voraussetzung  haben  ja  auch  die 
Kinder  in  der  Schule  das  Schreiben  der  Buchstaben  gelernt,  und  diese  Art  der 
Einübung  bestimmt  und  beherrscht  dann  auch  in  ihrem  späteren  Leben  den 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


561 


Reproduktionsvorgang.  Der  reine  schreibmotorisclie  Typus  dürfte  bei  der  Schul- 
jugend daher  wohl  ausgeschlossen  sein.  Die  obige  Behauptung,  daß  bei  der 
Schreibbewegung  die  Schriftbildvorstellung  niemals  umgangen  wird,  besteht  also 
zu  recht  und  damit  die  daraus  gezogene  Schlußfolgerimg.  Um  Mißverständnissen 
vorzubeugen,  sei  noch  bemerkt,  daß  aus  diesen  kritischen  Bemerkungen  keines- 
falls herausgehört  werden  soll,  daß  ich  eine  typische  Vorstellungsweise  überhaupt 
leugnen  wolle.  Es  kam  mir  nur  darauf  an,  hervorzuheben,  daß  Fehler,  wie  sie  bei 
der  Lautdarstellung  hervortreten,  zur  Erkennung  des  auditiven  oder  visuellen 
Vorstellungstj'pus  imgeeignet  erscheinen.  Nichts  steht  aber  der  Behauptung  ent- 
gegen, daß  sich  die  Schüler  —  die  jüngeren  ausgesprochener  als  die  älteren  — 
beim  Aufzeichnen  diktierter  Laute  sprechmotorisch  verhalten.  Darnach  hat  es 
auch  viel  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  daß  die  Beeinflussung  der  Laute  unter- 
einander, die  zu  bestimmten  Fehlererscheinungen  Anlaß  gibt,  vorwiegend  sprech- 
motorischer Art  ist.  Die  unten  verzeichneten  Beeinflussungsfehler  wären  also 
dahin  zu  erklären,  daß  beim  Erklingen  des  folgenden  Lautes  (bzw.  Lautver- 
bindung)  die  Sprechbewegungsempfindung  des  vorhergegangenen  noch  perse- 
veriert  oder  sogar  noch  einmal  dessen  Artikulation  veranlaßt,  so  daß  der  alte 
Laut  den  neuen  vollständig  unterdrückt  und  an  seine  Stelle  tritt  oder  in  Ver- 
bindung mit  ihm  erscheint. 

Auf  e  folgte  g,  geschrieben  als  e 


t    „ 

u 

a      ,, 

ei 

br   „ 

fl 

fl             M 

bl 

kl    „ 

schw 

schw 

pf 

pf     „ 

dr 

K    „ 

W 

6 

Auf 

w 

folgte 

G,  geschrieb. 

als  m(  =  ver- 

b (==  ver- 

hörtes w) 

schrieb.  1) 

»> 

p 

A 

„   Ba,  Paar 

gi 

«) 

D 

Seh        „ 

„    Seht 

V  (=  ver- 

>5 

S 

B 

.,    Sp 

schrieben. 

7> 

B 

H 

„   Ba,   Pa 

w),  qu 

>» 

E 

I 

„   Ei 

tu 

>» 

L 

R 

„   Rl,Rh(  = 

a  (=  ä),  äi 

verschr.  1 

bl  u.  Bl. 

,, 

Pf 

>> 

Sp(Schp) 

„    Sf,     Spf, 

pfl,  pf,  vi 

Schf.Schv 

qu,   wl 

>> 

Sp(Schp) 

z 

„   Zeh    (  = 

wf,  w,  bw 

Z8ch),8ch^ 

pfr,   pf 

Seh,    Sp, 

Qu,Km{  = 

Pl,Ps,Bs, 

verhörtes 

Pz,     Bk, 

Kw) 

Kf,   ks. 

Hiermit  habe  ich  die  Mehrzahl  der  Fehler  nach  ihren  physiologischen  und 
psychologischen  Ursachen  in  bestimmte  Gruppen  untergebracht  und  damit  den 
Schlüssel  in  die  Hand  gegeben,  ihre  oft  rätselhaften  Erscheinungen  zu  erschließen 
und  einen  Einblick  in  die  Verborgenheit  des  hierbei  im  Geheimen  sich  abspielenden 
Vorstellungsablaufs  zu  tun.  An  einem  Beispiele  will  ich  dies  darlegen.  Man  sehe 
hierzu  die  bei  g  verzeichneten  Fehler  der  Reihe  nach  durch.  Dort  steht  zuerst 
g=k,  ist  Artikulationsfehler,  dann  g=G,  größere  Geläufigkeit,  vielleicht  nur  durch 
zufällige  Umstände  im  Unterricht  bedingt,  g=d,  Hörfehler,  g=ö  Hörfehler, 
vokalischer  Klang  des  stimmhaften  Verschlußlautes,  g=p  Schriftbildähnlichkoit 
oder  Hörfehler,  g=hi  Artikulationsfehler,  indem  der  stimmhafte  Verschlußlaut 
umgesetzt  wurde  in  den  stimmlosen  Reibelaut  ch,  wie  bei  uns  g  allgemein  ge- 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  36 


562  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 


sprochen  wird,  und  dann  Verschreibefehler,  nämlich  Umkehrung  der  Schreib- 
bewegung und  Fortsetzung  derselben  über  die  gewollte  Grenze  hinaus  (der  Punkt), 
g==ü  Hörfehler,  vokalischer  Klang  des  stimmhaften  Verschlußlauts  wie  bei  g=ö, 
g=n  wie  vorher,  aber  Strichelchen  fehlen,  g=K  Artikulationsfehler,  größere 
Geläufigkeit,  g=:e  siehe  g=ö  und  g=ü,  g=ck  Artikulationsfehler  imd  Unkenntnis 
des  Lautwertes  des  Lautzeichens,  g=ng  Lautwertfehler,  g=ch  Artikulations- 
fehler, g=gh  Artikulationsfehler:  gehauchter  Absatz,  g=h  gehauchter  Absatz 
allein  oder  Artikulationsfehler  mit  folgendem  Verschreiben  g=ch=h,  g=kü 
Artikulations-  und  Hörfehler:  vokalischer  Klang,  g=b  Hörfehler,  g=m  Grund? 
g=u:  Hör-  und  Schreibfehler,  nämlich  g=ü=u,  g=qu  Schriftbild ähnlichkeit. 
Wer  bisher  meinen  Ausführungen  gefolgt  ist,  wird  in  gleicher  Weise  sich  Auf- 
schluß auch  über  die  Fehler  bei  allen  übrigen  Lauten  und  Lautverbindungen 
geben  können.     Man  versuche  es  beim  p! 

Ein  kleiner  Rest  vereinzelt  auftretender  Fehler,  der  noch  übrig  bleibt  und  in 
keiner  der  sieben  Gruppen  besprochen  worden  ist,  ist  psychologisch  ohne  Be- 
deutung, da  er  meist  seine  Entstehmig  einer  augenblicklichen  Ablenkung  der 
Aufmerksamkeit  durch  äußere  Umstände  verdankt.  Der  betreffende  Laut  wurde 
gar  nicht  perzipiert.  Wenn  trotzdem  an  seiner  Stelle  ein  Buchstabe  in  der  Nieder- 
schrift erscheint,  so  ist  dieser  ein  reines  Verlegenheitsprodukt,  das  mit  dem 
diktierten  Laute  in  gar  keiner  Beziehung  steht  (vergl.  vorher  g=m). 

Zusammenfassung. 

Wenn  vorgesprochene  isolierte  Laute  und  Lautverbindungen  unter  gewöhn- 
lichen Perzeptionsverhältnissen  (Ohr  und  Auge)  schriftlich  dargestellt  werden, 
so  stellen  sich  die  mannigfaltigsten  Fehler  ein. 

Die  Fähigkeit  unserer  Volksschüler,  den  Laut  durch  sein  entsprechendes 
Schriftzeichen  wiederzugeben,  ist  im  allgemeinen  recht  mangelhaft.  Sie  ist  am 
geringsten  im  zweiten  Schuljahre,  bessert  sich  wesentlich  im  dritten  und  vierten, 
macht  aber  von  da  ab  bis  ins  achte  Schuljahr  hinauf  keinen  nennenswerten  Fort- 
schritt mehr.  Die  Mädchen  sind  den  Knaben  auf  allen  Klassenstufen  bedeutend 
überlegen. 

Diese  Mängel  stehen  in  Beziehung  zur  Perzeptions-  und  Reproduktionsfähigkeit 
der  Laute  oder  ergeben  sich  erst  bei  Ausführung  der  Schreibtätigkeit. 

Im  allgemeinen  sind  isolierte  Laute  schwierig  zu  perzipieren,  da  Apperzeptions- 
hilfen, wie  sie  beim  Hören  von  Worten  sich  darbieten,  hier  wegfallen. 

Die  bei  der  Lautdarstellung  hervortretenden  Fehler  sind  nach  ihren  physio- 
logischen und  psychologischen  Ursachen:  1.  Schreibfehler,  2.  Hörfehler,  3.  Hör- 
Schreibfehler,  4.  Artikulationsfehler  (Sprechfehler),  5.  Sprech- Schreibfehler  und 
Hör- Sprechfehler,  6.  Lautwert-Fehler,  7.  Beeinflussungsfehler. 

Fehler,  die  mit  der  Schreibtätigkeit  in  Beziehung  stehen,  haben  ihren  Grund 
entweder  in  der  mechanischen  Tätigkeit  des  Schreibens  selbst  oder  in  dieser  in 
Verbindung  mit  der  sie  unmittelbar  bedingenden  Schriftbildvorstellung. 

Ein  Verhören  findet  weniger  bei  Vokalen,  desto  mehr  aber  bei  Konsonanten 
statt.  Von  den  ersteren  sind  eu  und  ö  am  schwersten  voneinander  zu  unter- 
scheiden. Von  letzteren  weisen  die  stimmhaften  Dauerkonsonanten  und  die 
Explosivlaute  die  meisten  und  mannigfaltigsten  Verwechslungen  auf,  während 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  563 

i^. 

die  stimmlosen  Reibegeräusche  verhältnismäßig  am  besten  zu  verstehen  sind. 
Das  Verhören  der  Konsonanten  geschieht  entweder  auf  Grund  der  Gleichheit 
ihres  Klangcharakters  oder  der  Gleichheit  ihrer  Artikulations weise.  Konsonanten- 
verbindungen werden  vielfach  als  einfache  Laute  wahrgenommen,  und  zwar 
werden  sie  ersetzt  durch  die  klangkräftigsten  Konsonanten  der  Verbindung  oder 
durch  einen  vollständig  neuen,  aber  akustisch  ähnlichen  Laut. 

Der  bestimmende  Faktor  bei  der  schriftlichen  Darstellung  der  Laute  ist  im 
letzten  Grimde  der  Sprechakt  bzw.  die  Sprechbewegungsvorstellung.  Der 
Laut  fließt  so  als  Buchstabe  in  die  Feder,  wie  er  die  Lippen  passiert  hat.  Zu 
dieser  Erkenntnis  gelangen  wir  durch  die  Beobachtung  der  schreibenden  Schüler 
wie  auch  durch  die  psychologische  Beurteilung  der  Art  ihrer  Fehler.  Es  kommt 
beim  Niederschreiben  von  Lauten  nach  Diktat  alles  darauf  an,  wie  nach  dem 
Hören  der  Sprechakt  verläuft;  nach  ihm  bzw.  seiner  Vorstellung  erfolgt  die 
Auswahl  der  Schriftbildvorstellung  im  optischen  Zentrum  und  die  Erregung 
des  motorischen  Zentrums  der  Hand.  Die  Sprechbewegung  bzw.  Sprechbe- 
wegungsvorstellung ist  die  Grundlage  für  die  Lautdarstellung. 

Zur  richtigen  Lautdarstellung  ist  Kenntnis  des  Lautwertes  der  Buchstaben 
und  Buchstabenverbindnngen  notwendig. 

Folgen  Laute  in  längerer  Reihe  aufeinander,  so  tritt  oft  eine  Perseveration 
der  Vorstellungen  ein,  die  beim  Schreiben  als  Nachwirkung  sich  geltend  macht, 
und  zwar  sind  die  perseverierenden  Vorstellungen  wahrscheinlich  vorwiegend 
sprechmotorischer  Art. 

Anwendung  für  die  Schulpraxis. 

Wenn  meine  Ausführungen  richtig  sind  oder  wenigstens  in  ihrem  Hauptsatze, 
daß  bei  der  Lautdarstellung  der  Sprechakt  die  wichtigste  Rolle  spielt,  der  Wahr- 
heit nahe  kommen,  so  ergibt  sich  daraus  für  die  Unterrichtspraxis  eine  Reihe 
beachtenswerter  Folgerungen,  die  ich  in  Kürze  hier  noch  andeuten  will. 

Zunächst  ist  darauf  hinzuweisen,  daß  durch  die  vorliegenden  Untersuchungen, 
die  zum  ersten  Male  die  graphische  Wiedergabe  der  Laute  durch  Schulkinder 
verschiedenen  Alters  umfassend  behandeln,  dem  Praktiker  vor  Augen  geführt 
wird,  daß  der  Lautdarstellung  eine  größere  Aufmerksamkeit  ge- 
widmet  werden   muß,    als   es   bisher   gemeinhin   geschehen   ist. 

Zeigen  sie  doch  in  ihren  Ergebnissen  mit  aller  Deutlichkeit,  daß  die  Fähigkeit 
der  schriftlichen  Wiedergabe  der  Laute  bei  den  Schülern  nicht  als  etwas  Selbst- 
verständliches vorausgesetzt  werden  darf,  sondern  vor  oder  beim  Begiim  des 
planmäßigen  orthographischen  Unterrichts  als  dessen  Voraussetzung  durch 
besondere  Übung  bis  zur  unfehlbaren  Sicherheit  und  Geläufigkeit 
erworben  werden  muß.  Erst  wenn  die  Assoziation  zwischen  Laut  und  Laut- 
zeichen derartig  befestigt  ist,  daß  der  zugerufene  Laut  leicht  und  sicher  die 
korrespondierende  Schreibbewegung  auslöst,  kann  der  beginnende  Rechtschreib- 
unterricht mit  Aussicht  auf  bessere  Erfolge  betrieben  werden.  Darum  muß 
gefordert  werden,  daß  schon  der  Elementarlehrer  bei  Einübung  der  deutschen 
Schreibschrift  dieses  Ziel  fest  ins  Auge  faßt  und  dementsprechend  verfährt. 
Er  darf  sich  vor  allem  durch  außerhalb  der  Sache  liegende  Erwägungen  nicht 
verwirren  und  verleiten  lassen,  vor  der  endgültigen  Schreibschrift  vorübergehend 
eine  andere  zu  verwenden,  weil  dadurch  der  zu  erstrebende  Assoziationsprozeß 

36* 


564  Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern. 

verzögert  und  gestört  wird,  was  dann  fernerhin  eine  unsichere  und  fehlerhafte 
Reproduktion  der  Schriftzeichen  zur  Folge  hat.  Die  einzige  richtige  Bewegungs- 
vorstellung, die  von  vornherein  mit  der  sichtbaren  Wiedergabe  des  Lautes 
verbunden  werden  muß,  ist  die  Schreibbewegung,  nicht  aber  Bewegungen, 
die  zu  Tastempfindungen  führen,  wie  dies  beim  Stäbchenlegen  oder  Kneten 
der  Buchstaben  in  Plastilin  und  Ton  der  Fall  ist.  Hierdurch  kann  wohl  die 
Schriftbildauffassung  unterstützt  werden,  niemals  aber  die  Schreibbewegung 
selbst,  da  diese  eine  ganz  andere  Muskeltätigkeit  verlangt  als  jene.  Der  Grund- 
irrtum besteht  darin,  daß  man  die  Bewegungen,  mit  denen  beide  ausgeführt 
werden,  infolge  der  Grleichheit  der  Objekte,  identifiziert. 

Damit  nun  eine  recht  innige  Verknüpfung  von  Laut  und  Lautzeichen  zustande 
kommt,  ist  erforderlich,  daß  mit  letzterem  nicht  nur  das  Klangbild,  sondern 
auch  die  Sprechbewegungsvorstellung  verbunden  wird,  so  daß  dann  umgekehrt 
der  Buchstabe  nicht  nur  als  ein  akustisches,  sondern  auch  als  ein  sprechmoto- 
risches Symbol  erscheint.  Um  dieses  zu  erreichen,  ist  der  Artikulation 
jedes  einzelnen  Lautes  wie  auch  der  mannigfaltigen  Lautverbin- 
dungen ganz  besondere  Sorgfalt  zu  widmen.  Dieses  setzt  aber  voraus, 
daß  der  Lehrer  die  Phonetik  gründlich  beherrscht  und  vor  allem  praktisch  an- 
zuwenden versteht,  daß  er  ferner  insbesondere  auch  über  die  physiologischen 
Bedingungen  der  Lautgebung  des  in  seiner  Landschaft  gebräuchlichen  Dialekts 
aufs  genaueste  unterrichtet  ist.  Nur  wenn  er  diese  Voraussetzungen  erfüllt, 
ist  er  imstande,  seine  Schüler  zu  einer  korrekten  Aussprache  der  Laute  anzuleiten 
und  ihnen  beim  Versagen  zweckentsprechende  Hilfe  zu  leisten,  sonst  bleiben 
derartige  Versuche  eine  armselige  Stümperei.  Bei  Vornahme  solcher  Sprech- 
übungen muß  immer  im  Auge  behalten  werden,  daß  ihr  Zweck  dahin  geht, 
dem  Schüler  durch  scharfe  Artikulation  der  Laute  zu  klaren 
Sprechbewegungsvorstellungen  zu  verhelfen,  damit  er  sie  dann  mit 
dem  entsprechenden  Schriftzeichen  verknüpfe;  denn  nach  unserer  Ansicht 
sollen  ja  die  Buchstaben  nicht  nur  einen  akustischen,  sondern  ebenso  sehr  einen 
sprechmotorischen  Wert  repräsentieren.  Damit  die  Schüler  gewöhnt  werden, 
neben  dem  Klange  auch  die  Sprechbewegung  mit  in  den  Buchstaben  hinein- 
zulegen, empfiehlt  es  sich  nach  erfolgter  Einübung  der  Artikulation,  die  Laut- 
zeichen stets  sprechend  schreiben  zu  lassen  und  zwar  in  den  Unterklassen 
anfangs  mit  lautem  Chorsprechen,  das  späterhin  allmählich  zum  Flüstertone 
herabgedämpft  wird,  bis  schließlich  jeder  Schüler  einzeln  für  sich  die  Schreib- 
bewegung mit  der  zugehörigen  Sprechbewegung  oder  wenigstens  für  sich  die 
Schreibbewegung  mit  der  zugehörigen  Sprechbewegung  oder  wenigstens  der 
Innervation  zu  ihr  begleitet.  Auf  diese  Weise  werden  die  Schüler  gewöhnt,  z.  B. 
die  Empfindung  des  festen  Zungen-Zahnverschlusses  und  starken  Atemdrucks 
neben  dem  Klangbilde  in  die  Auf-Ab-Bogen-Bewegung  des  t  mit  hineinzulegen 
und  auch  wieder  herauszulesen  ,  wodurch  die  Lautdarstellung  ganz  wesentlich 
unterstützt  und  gesichert  wird.  Diese  Gewöhnung  ist  um  so  leichter,  als  die 
jüngeren  Schüler  schon  von  selbst  das  Schreiben  mit  Sprechbewegungen  be- 
gleiten. Es  ist  nur  nötig,  diese  natürliche  Neigung  in  sorgfältige  Pflege  zu  nehmen, 
um  sie  zu  einer  klar  bewußten  Tätigkeit  zu  erheben.  Analog  dem  angeführten 
Beispiele  ist  bei  jedem  einzelnen  Laute  und  jeder  einzelnen  Lautverbindung 
zu  verfahren.    Ich  habe  durch  die  vorliegenden  Untersuchungen  me  auch  durch 


Untersuchungen  über  die  Rechtschreibung  von  Volksschülern.  565 

vielfache  Beobachtungen  des  Unterrichtsbetriebes  die  feste  Überzeugung  ge- 
wonnen, daß  eine  Sicherheit  in  der  Lautdarstellung  ohne  Zuhilfe- 
nahme der  Sprechbewegungen  nicht  zu  erreichen  ist.  Solange 
diese  noch  nicht  die  volle  Präzision  erlangt  haben,  bleiben  auch  ihre  Vorstellungen 
ungenau  und  unklar  und  dadurch  für  die  schriftliche  Aufzeichnung  der  Laute 
eine  Quelle  sich  durch  die  ganze  Schulzeit  fortschleppender  Fehler.  Nach  dieser 
Richtung  hin  erheischen  für  ujisere  Gegend  besondere  Beachtung:  b  und  p — d 
und  t  —  g  und  k  —  ch  und  r  —  g,  ch,  j,  seh  —  s  und  z  —  f  und  pf  —  eu  und 
ö  —  i  und  ü  —  e  und  ö  —  ei  und  eu  —  n  und  ng. 

Hierbei  versäume  man  nicht,  bei  passender  Gelegenheit  nachdrücklich  auf 
den  Lautwert  bestimmter  Buchstaben  und  Buchstabenverbindungen  hinzu- 
weisen, wie  ich  das  früher  schon  angedeutet  habe.  In  Frage  kommen:  ng,  nk, 
seh  —  q,  X,  z  —  eu.  Da  sich  ergeben  hat,  daß  viele  Fehler  bei  der  Lautdarstellung 
auf  ein  Verhören  zurückzuführen  sind,  ist  es  notwendig,  besondere  Übungen 
zur  Schärfung  des  Ohres  vorzunehmen.  Zwar  wird  eine  solche  schon 
mit  größerer  Genauigkeit  der  Artikulation  von  selbst  eintreten,  doch  möchten 
eigens  zu  diesem  Zwecke  angestellte  Übungen  sie  noch  erhöhen.  Diese  Hör- 
übungen werden  in  der  Weise  angestellt,  daß  die  Schüler  ihr  Gesicht  vom  Sprecher 
abwenden  oder  umgekehrt  der  Sprechende  den  Hörenden  den  Rücken  zukehrt 
oder  auf  irgendeine  andere  Art  seine  Sprechbewegungen  vor  ihren  Augen  verbirgt. 
Aus  den  Fehlern,  die  sich  hierbei  noch  einstellen,  ist  zu  ersehen,  welche  Laute 
erneuter  Behandlung  bedürfen,  bis  durch  immer  genauere  Artikulation  auch 
ein  immer  feiner  werdendes  Unterscheidungsvermögen  des  Ohrs  für  geringe 
Klangunterschiede  erzielt  wird  und  so  die  Grenzen  der  sprachlichen  Perzeption 
immer  enger  gezogen  werden. 

Als  ein  vorzüglich  geeignetes  Mittel  im  Dienste  der  Artikulation  wieder  Klang- 
wahrnehmung erscheinen  uns  häufig  wiederkehrende  Lautdiktate.  Sie  sind 
so  lange  anzustellen,  bis  vollendete  Sicherheit  und  Geläufigkeit  in  der  Laut- 
darst^llung  erreicht  worden  ist. 

Hierbei  ist  jedoch  auch  noch  dem  rein  schreibtechnischen  Momente  die  nötige 
Beachtung  zu  schenken  nach  all  den  Gesichtspunkten,  wie  ich  sie  imter  dem 
Abschnitte  Schreibfehler  angeführt  habe.  Vor  allem  gilt  es,  die  Aufmerksam- 
keit wachzuhalten,  damit  die  Maschine  nicht  ohne  Wächter  ihre  eigenen  Wege 
läuft.  Sie  muß  zur  rechten  Zeit  zu  Hilfe  gerufen  werden,  um  regulierend  ein- 
greifen zu  können,  wenn  der  Schreibbewegung  im  physischen  oder  psychischen 
Mechanismus  begründete  Hemmungen  sich  entgegenstellen  oder  aber  auch  aus 
demselben  Grunde  im  rechten  Augenblicke  sich  nicht  einstellen.  Daher  macht 
es  sich  notwendig,  die  Schüler  bald  an  die  Ähnlichkeit  gewisser  Buchstaben  oder 
Buchstabenteile  zu  erinnern,  bald  sie  vor  Umkehrung  der  Schreibbewegung 
zu  warnen,  bald  der  Schreibtätigkeit  Halt  zu  gebieten,  damit  sie  nicht  über  das 
Ziel  hinaus  fortläuft  u.  a.  m. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  eine  so  intensive  Lautbehandlung,  wie  sie  nach  meinen 
Ausführungen  zum  Zwecke  einer  korrekten  Lautdarstellung  unerläßlich  ist,  der 
Orthographie  ganz  wesentliche  Dienste  leisten  wird,  natürlich  zimächst  nur 
insoweit,  als  die  lauttreue  Schreibung  in  Frage  kommt.  Aber  auch  nach  mancher 
anderen  Beziehung  hin  dürfte  die  Betonung  des  sprechmotorischen  Moments 
bei  der  Lautbildung  und  Lautvorstellung  von  Nutzen  sein,  nicht  zuletzt  auch 


566  Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

nach  der  Richtung  hin,  die  in  der  Hildebrandschen  Forderung  niedergelegt  ist : 
das  Hauptgewicht  sollte  auf  die  gesprochene  und  gehörte  Sprache  gelegt  werden, 
nicht  auf  die  geschriebene  und  gesehene.  Wenn  diese  Forderung  Rudolf  Hilde - 
brands  ebenso  oft  erfüllt  worden  wäre,  wie  sie  in  der  pädagogischen  Literatur 
seither  wiederholt  ausgesprochen  worden  ist,  so  würden  wir  in  der  Sprachbildung 
unserer  Schüler  im  allgemeinen  wie  auch  in  den  Erfolgen  der  Rechtschreibung 
im  besonderen  ein  gut  Stück  weiter  sein.  Darum  kann  ich  nur  dringend  wünschen, 
daß  jeder  Deutsch-  und  Elementar lehrer  des  gründlichen  Studiums  der  Phonetik 
sich  befleißige,  damit  endlich  mit  der  Einführung  einer  intensiven  Lautbehandlung 
in  die  Volksschule  Ernst  gemacht  werden  kann.  —  Bevor  der  Laut  als  Buchstabe 
die  Finger  passiert,  muß  er  in  den  Sprechmuskeln  sitzen ! 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  ^) 

Von  A.  Huth. 

I.  Einleitung. 

Das  Problem  der  folgenden  Untersuchung  lautet:  „Inwieweit  sind  Kinder  vor- 
schulpflichtigen Alters  selbständig  fähig,  eine  ihnen  vorgegebene  einfache  Strich- 
form nachzuzeichnen?"  Als  Vorlage  wurde  der  „c-Strich"  oder  „i-Strich" 
gewählt,  mit  dem  gewöhnlich  der  Schreibleseunterricht  einsetzt.  Die  Kinder 
hatten  die  Form  aufzufassen,  zu  analysieren  und  nachzuzeichnen,  wobei  voraus- 
gesetzt war,  daß  sie  die  erforderliche  Technik  im  Bleistiftzeichnen  inne  hatten. 

Diese  Voraussetzung  traf  bei  den  Kindern  der  zweiten  Klasse  des  Münchener 
Versuchskindergartens,  mit  denen  der  Versuch  gemacht  wurde,  in  vollem  Um- 
fange zu.  Es  waren  37  Kinder  im  Alter  von  durchschnittlich  4^  Jahren,  20 
Knaben  und  17  Mädchen.  1  Kind  war  ausgezeichnet  begabt,  8  waren  sehr  gut, 
13  gut,  8  mittelmäßig,  5  schlecht  und  2  ganz  schlecht  begabt.  Die  Schüler 
stammten  aus  allen  Bevölkerungsschichten,  es  war  mit  ihnen  nie  ein  Schreib- 
unterricht oder  eine  mechanische  Nachzeichenübung  gehalten  worden ;  sie  waren 
jedoch  geistig  reif  genug,  um  die  Aufforderung  zum  Nachzeichnen  zu  verstehen. 
Bis  zum  Beginn  des  ersten  Versuches  hatten  sie  12  Bleistiftzeichnungen  aus- 
geführt,  nämlich  nach  der  Natur:  Apfel,  Zwetschge,  Blumentopf  und 
Schuhsohlen;  aus  dem  Gedächtnis:  Straße,  Haus,  Sterne,  Christbaum, 
Schneemann,   Kommode  und  Tisch.     Ein  Ahornblatt  war  umrandet  worden. 

Während  der  Durchführung  der  ersten  beiden  Versuche  zeichneten  die  Kinder 
aus  dem  Gedächtnis  einen  Hund  und  eine  Faschingsmaske  {,,Maschkera"). 

In  der  Zeit  zwischen  dem  zweiten  und  dritten  Versuch  fallen  folgende  Zeich- 
nungen: nach  der  Natur:  Waschschüssel,  Wasserkanne,  Ostereier,  Schlüssel, 
Gartengeräte,  Schirm  und  Heckenröschen;  aus  dem  Gedächtnis:  Uhr, 
Schlafzimmer,  Bett,  Gartenhaus,  Vogelnest,  Vogel  und  Katze. 

Bis  zum  dritten  Versuch  waren  also  29  Zeichnungen  gefertigt. 

Der  Versuch  wurde  so  ausgeführt,  daß  ich  jedes  Kind  einzeln  zu  mir  rief, 
es  neben  mich  sitzen  ließ  und  ihm  dann  Bleistift  und  graues  Tonpapier  gab. 

^)  Die  Arbeit  ist  aus  dem  Pädagogisch-psychologischen  Institut  München  hervor- 
gegangen. 


Formaiiffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  5g7 

■ ^ 

Bei  der  ersten  Versuclisreihe  wurde  die  fertige  Vorzeiclinung  mit  der 
Aufforderung  zum  Nachzeichnen  vorgelegt.  Das  Kind  hatte  nicht  Ge- 
legenheit gehabt,  zu  sehen,  wie  man  den  c-Strich  macht.  Die 
geistige  Leistung,  welche  beim  ersten  Versuch  erforderlich  war  oder  richtig  ge- 
sagt, in  ihm  enthalten  ist,  ist  sehr  komplex.    Die  Kinder  hatten  die  Vorlage 

1.  aufzufassen, 

2.  zu  zerlegen,  zu  analysieren,  mindestens  die  Dreizahl  der  Striche  und  ihren 
Zusammenhang  zu  erkennen, 

3.  auf  die  technische  Aasführbarkeit  hin  zu  prüfen  (ob  man  die  drei  Striche 
in  einem  einheitlichen  Duktus  zeichnen  kann), 

4.  war  die  Richtung  der  Striche  festzustellen  und  festzuhalten, 

5.  mußte  das  Längenverhältnis  der  Nebenstriche  zum  Grundstrich  abgeschätzt, 
festgehalten  und  in  der  Zeichnung  wiedergegeben  werden, 

6.  waren  die  Druckverhältnisse  zu  unterscheiden  (der  Grundstrich  hob  sich 
auf  der  Vorlage  deutlich  von  den  Nebenstrichen  ab;  vgl.  aber  II  h), 

7.  war  dann  unter  Berücksichtigung  aller  dieser  Punkte  die  Vorlage  abzu- 
zeichnen. 

Ich  darf  hier  gleich  bemerken,  daß  kein  einziges  Kind  imstande  war,  diesen 
sechs  Anforderungen  zu  genügen,  nur  fünf  Kinder  brachten  etwa  annähernd 
richtige  Zeichnungen. 

Bei  der  zweiten  Versuchsreihe  zeichnete  ich  jedem  Kind  vor  seinen 
Augen  den  „c-Strich"  vor.  Die  ideale  Lösung  verlangt  neben  den  sechs  Punkten 
der  ersten  Versuchsreihe  die  Auffassung  des  Entstehungsprozesses  imd  die 
Nachahmung  desselben,  insbesondere  Perzeption  und  Reproduktion 

8.  des  einheitlichen  Schriftduktus  und 

9.  der  Schreibrichtung  von  links  nach  rechts. 

Bei  der  dritten  Versuchsreihe  wurde  das  Kind  aufgefordert,  seine  spon- 
tane Zeichnung  mit  der  Vorlage  zu  vergleichen  und  danach  verbessert  zu  wieder- 
holen.  Zu  den  vorherigen  Anforderungen  tritt  neu  hinzu : 

10.  der  Vergleich  der  Zeichnung  mit  der  Vorlage  (die  wie  bei  der  zweiten 
Versuchsreihe  vor  den  Augen  des  Kindes  entstanden  war); 

11.  die  Selbstkritik  des  Kindes  und 

12.  die  Verbesserung  durch  eine  neue  Zeichnung. 

Selbstverständlich  sind  durch  die  Nichterfüllung  einer  oder  mehrerer  dieser 
Forderungen  eine  Unzahl  von  Abstufungen  möglich,  die  auch  aus  den  beigegebenen 
Typentafeln  ersichtlich  werden. 

Den  drei  Schrift  versuchen  ist  eine  Freizeichnung  des  betreffenden  Kindes 
beigegeben,  um  zu  zeigen,  ob  es  in  der  Führung  des  Bleistiftes  schon  eine  gewisse 
Gewandtheit  besitzt  und  um  Vergleiche  zwischen  den  Versuchsergebnissen 
einerseits  und  der  graphischen  Ausdrucksfähigkeit  desselben  Kindes  überhaupt 
zu  ermöglichen. 

Über  jeden  Einzelversuch  führte  ich  genau  Protokoll. 

II.  Erste  Versuchsreihe. 

An  der  ersten  Versuchsreihe  beteiligten  sich  32  Kinder,  die  in  der  Zeit  vom 
9. — 15.  Febr.  1912  untersucht  wurden.    Jedem  einzelnen  Kinde  wurde  ein  Blatt 


568  Formauffassung  und  Sclireibversuch  im  Kindergartenalter. 

Tonpapier  vorgelegt,  auf  dem  mit  Bleistift  ein  ,,c"  geschrieben  war,  dessen 
Entstehung  die  Kinder  nicht  gesehen  hatten.  Dann  hieß  es:  „Zeichne  das  ganz 
genau  so  da  her,  aber  es  muß  ganz  genau  so  sein."  Die  Instruktion  war  ihrem 
Sinne  nach  genau  die  gleiche  bei  allen  Kindern;  einzelnen  mußte  sie  freilich 
variiert  gesagt  oder  wiederholt  werden.  Die  einzelnen  Ausdrücke  der  In- 
struktion waren  im  Interesse  der  Unmißverständlichkeit  von  den  ent- 
sprechenden Gesten  begleitet.  Die  Vorzeichnung  hatten  die  Kinder  wäh- 
rend der  ganzen  Dauer  des  Versuches  neben  sich  liegen.  Von  den  32  Kindern 
erhielt  ich  39  Zeichnungen,  weil  einzelne  unaufgefordert  mehrere  Versuche 
fertigten. 

Ich  habe  mich  nun  zunächst  bemüht,  diese  39  Zeichnungen  auf  einige  Typen 
zurückzuführen,  die  auf  der  beigehefteten  Tafel  I  reproduziert  sind. 
Die  einfachste  Form  ist  das  an  eine  unregelmäßige  Wellenlinie  erinnernde 
Gekritzel  (Typ  A),  das  sich  auf  5  Zeichnungen  findet.  Ansätze  zur 
Analyse  finden  sich  bei  Typ  B:  der  Grundstrich  und  ein  Nebenstrich  sind  ge- 
zeichnet, dabei  sind  vier  verschiedene  Anordnungen  denkbar.  Bl  und  B3  sind 
von  links,  B2  \uidB4  von  rechts  aus  analysiert,  B3  ist  das  um  180  Grad  gedrehte 
Bl,  ebenso  verhalten  sich  B2  und  B4.  Typ  Bl  findet  sich  bei  4  Zeich- 
nungen, B2 — 4  je  bei  einer.  Typ  C,  der  nur  auf  einer  Zeichnung  vor- 
kommt, hat  die  Vorlage  bis  zur  Dreizahl  analysiert,  stellt  aber  drei  Ab- 
striche unverbunden  nebeneinander.  Typ  Dl  (durch  2  Zeichnmigen  repräsen- 
tiert), analysiert  von  rechts  aus  und  dreht  dabei  die  Zeichnung  um  90  Grad. 
Typ  D2  und  D3  (je  2  Zeichnungen)  beginnen  mit  dem  Grundstrich,  D2  setzt 
links  unten  einen  Anstrich  und  rechts  oben  einen  Wegstrich  an;  D3  dagegen 
setzt  den  Wegstrich  links  an  den  Anstrich.  D4,  das  nur  bei  einer  Zeichnung 
vorkommt,  ist  Spiegelbild  zu  D3,  der  kleine  Mittelstrich  ist  durchaus  nicht  als 
Grundstrich  aufzufassen.  Typ  E,  der  in  5  Zeichnimgen  vertreten  ist,  ist  Dl  in  um- 
gekehrter Richtung,  die  Ansätze  sind  verfehlt :  Der  Anstrich  ist  unten,  der  Weg- 
strich oben  an  den  Grundstrich  angesetzt.  Typ  F,  der  sich  bei  2  Zeichnungen 
findet,  stellt  eine  richtige  Zeichnung  dar,  nur  haben  die  Kinder  von  rechts  aus 
analysiert  und  bei  Fl  um  90  Grad  gedreht.  Typ  Gl  mit  seinem  Spiegelbild  G2  (je 
eine  Zeichnung)  haben  mit  dem  Grundstrich  begonnen  und  dann  noch  die  drei 
Striche  richtig  angehängt.  Typ  H  ist  die  im  allgemeinen  richtige  Zeichnimg, 
die  aber  in  Bezug  auf  Längen-  und  Druckverhältnisse  noch  weit  hinter  der 
idealen  Lösung  zurückbleibt.    Nur  8  Kinder  brachten  Typ    H  fertig. 

Eines  sagen  diese  Typen  mit  aller  Deutlichkeit:  nur  8  Kinder  konnten  die 
gestellte  Aufgabe  im  allgemeinen  erfüllen,  das  sind  20,5%.  Nur  mit  diesen 
20,5%  hätte  eventuell  ein  Schreibleseunterricht  beginnen  können. 

Die  Typen  lassen  bereits  erkennen,  nach  welchen  Gesichtspunkten  die  Zeich- 
nungen einer  Detailanalyse  unterworfen  worden  sind.  Meine  Untersuchungen 
erstrecken  sich  darauf,  ob  die  Analyse  der  Vorlage  soweit  durchgeführt  wurde, 
daß  das  Kind  die  drei  Striche,  aus  denen  sie  besteht,  richtig  erkannte,  die 
Reihenfolge,  in  der  die  Striche  beim  Schreiben  aneinandergesetzt  werden 
müssen,  das  Formganze  also,  auffaßte;  ferner  ob  es  die  verschiedene  Länge 
und  Dicke  der  Striche,  die  Art  und  Gleichheit  der  Winkel  beobachtete  und 
ob  es  dann  seine  eigene  Zeichnung  wirklich  in  einem  Zug  in  der  rechts- 
läufigen Richtung  ausgeführt  hat. 


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570  Formauffassung  und  Schreib  versuch  im  Kindergartenalter. 

a)  In  bezug  auf  die  Analyse  der  Vorlage  als  eines  Strichkomplexes  aus  drei 
Elementen  ergaben  meine  Untersuchungen,  soweit  aus  der  Ausführung  der 
Zeichnung  Rückschlüsse  auf  die  Analyse  möglich  sind : 

1.  Nicht  analysiert  haben  5  Zeichnungen 12,82% 

(Typ  A).   Diese  ausnahmslos  schwach  begabten  Kinder  haben  ent- 

weder  die  Aufforderung  zum  Abzeichnen  ausgelegt  als  eine  all- 
gemeine Aufforderung,  etwas  zu  ,, schreiben",  d.  h.  zu  kritzeln  — 
oder  sie  waren  eben  zur  Analyse  völlig  unfähig  und  glaubten  wirklich, 
mit  ihrem  Gekritzel  ein  getreues  Abbild  der  Vorlage  geliefert  zu 
haben. 

2.  Falsch  analysiert  haben  12  Zeichnungen 30,77% 

Unrichtige  Analyse  findet  sich  bei  12  Zeichnungen  und  zwar  haben 

a)  weniger  als  drei  Striche  7  Zeichnungen  (Typ  B)   .    .    .    17,95% 

b)  mehr  als  drei  Striche  5  Zeichnungen  (Typ  G  und  /).    .    12,82% 

3.  Richtig  bis  zur  Dreizahl  analysiert  haben  22  Zeichnungen    56,41% 
(Typ  C,  D,  E,  F  und  H). 

b)  Auf  die  Reihenfolge  der  Analyse  kann  man  schließen  aus  der  Reihen- 
folge, in  der  die  Striche  der  Nachzeichnung  ausgeführt  wurden.    Demnach  hätten 

1.  von  links  nach  rechts  analysiert  23  Zeichnungen 58,97% 

(z.  B.  Typ  Bl,  4,  E,  Gl,   H). 

2.  von  rechts  nach  links  analysiert  (also  wie  z.  B.  die  Türken)    20,51% 
8  Zeichnungen  (z.  B.  Typ  B2,  3,  F>  G2). 

3.  Vom  Grundstrich  aus  analysiert  3  Zeichnungen 7,69% 

(z.  B.  Typ  D2, 3,  Gl,  2).  Diesen  Kindern  ist  der  durch  den  Druck  her- 
vorgehobene Grundstrich  auf  derVorlage  zuerst  in  die  Augen  gefallen, 

und  sie  begannen  mit  ihm  ihre  Zeichnung. 

c)  Bei  der  Untersuchung  der  einzelnen  Striche  betrachten  wir  beim  Oriind- 
strich  zunächst  die  Lage  in  der  Blattebene,  speziell  im  Verhältnis  zum  unteren 
Blattrand. 

1.  Rechtsschräg  geneigt  sind  12  Grundstriche 30,77% 

2.  Senkrecht  stehen  ebensoviele  Grundstriche 30,77% 

3.  Schriftlage 17,95% 

Die  amtlich  vorgeschriebene  Schriftlage  (etwa  60 — 65  Grad 
Neigung  zur  Wagrechten)  findet  sich  bei  7  Zeichnungen. 

4.  Linksschräg  geneigt 12,82% 

Noch     stärker    linksschräg    geneigt     scheinen      5     Zeichnungen 

zu  sein.  Es  ergäben  sich  also  in  Summa  12  linksschräg  geneigte 
Grundstriche ;  wenn  man  aber  die  durch  verkehrte  Analyse  entstan- 
denen 7  Zeichnungen  abrechnet,  bleiben  nur  5  wirklich  linksschräge 
Grundstriche  gegen  24  rechtsschräge  (wobei  die  senkrechten  als 
rechtsschräg  gezählt  wurden).  83%  der  Kinder  entscheiden  sich 
also  für  die  Steilschrift. 

5.  Grundstrich  fehlt '  12,82% 

Bei  5  Z3ichnungen  findet  sich  überhaupt  kein  Grundstrich,  eben 

bei  den  5  Zeichnungen,   die  nicht  analysiert  haben. 

6.  Aufwärts  gerichteter  Grundstrich .   23,18% 


Formauf faasung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  571 

Typ  F2  zeigt  einen  aufwärts  gerichteten  Grundstrich,  der  durch 
Analyse  von  rechts  aus  entstanden  ist.  Andere  Kinder  beginnen 
richtig  von  links  aus  mit  dem  Anstrich  (Typ  E),  zeichnen  aber 
dann  den  Grundstrich  statt  nach  abwärts  (rechts  umgebogen)  nach 
aufwärts  (links  umgebogen).  So  und  ähnlich  entstanden  im  ganzen 
9  aufwärts  gerichtete  Grundstriche. 

7.  Grundstrich  zuerst  gezeichnet 30,77% 

Außer  den  3  Zeichnungen,  die  ganz  ausgesprochen  vom  Grundstrich 

aus  analysiert  haben,  finden  sich  noch  9,  die  mit  dem  Grundstrich 
begonnen  wurd«n.    (Im  ganzen  also  12  Zeichnungen.) 

8.  Grundstrich  später  umgedeutet 23,08% 

In  den  ebengenannten  9  Fällen  wurde  der  Grundstrich  später  um- 
gedeutet, d.  h.  als  Anstrich  oder  Wegstrich  aufgefaßt. 

9.  Zwei  Grundstriche  finden  sich  auf  6  Zeichnungen,  z.  B.  Typ  0   15,38% 
d)  Beim  Anstrich  untersuchen  wir  besonders  den  Winkel  zum  Grundstrich, 

die  Verbindung  mit  dem  Grundstrich  und  das  Längenverhältnis  zwischen  Anstrich 
und  Grimdstrich. 

1.  Spitzer  Winkel  zwischen  Anstrich  und  Grundstrich    .    .    53,84% 
Der  Winkel  zwischen  Anstrich  und  Grundstrich  ist  spitz,  also  kleiner 

als  90  Grad  bei  21  Zeichnungen. 

2.  Stumpfer   Winkel    zwischen   Anstrich  und   Grundstrich    12,82% 
Ein  stumpfer  Winkel  findet  sich  bei  5  Zeichnungen. 

3.  Anstrich    und    Grundstrich    unverbunden 7,69% 

Anstrich  und  Grundstrich  sind  in  drei  Fällen  unverbunden  neben- 
einander gestellt  (siehe  Typ  C  und  D3). 

4.  Verbindungsstrich  zwischen  Anstrich  und  Grundstrich  23,08% 
Bai  9  Zeichnungen  helfen  sich  die  Kinder  über  die  Schwierigkeit  des 
Richtungs wechseis  hinweg,  indem  sie  zwischen  Anstrich  und  Grund- 
strich einen  Verbindungsstrich  einfügen.  Entweder  umgehen  sie  den 
schwer  ausführbaren  spitzen  Winkel  durch  einen  Bogen  oder  sie 
zeichnen  erst  einen  stumpferen,  also  leichter  ausführbaren  Winkel, 
bemerken  dann,  daß  sie  die  Richtung  nicht  genug  verändert  haben 

und  biegen  deshalb  zum  zweiten  Male  ab. 

5.  Anstrich  fehlt 17,95% 

Außer  bei  den  5  nicht  analysierten  Zeichnungen  ist  noch  zweimal 

kein  Anstrich  zu  finden,  im  ganzen  also  7  Zeichnungen  ohne  Anstrich. 

6.  Anstrich  so  lang  wie  Grundstrich 17,95% 

Bei  7  Z?ichnungen  sind  Anstrich  und  Grundstrich  ungefähr  gleich- 
lang. 

7.  Anstrich  kürzer  als  Grundstrich 28,20% 

Der  Anstrich  ist  bei  11  Z3ichnungen  kürzer  als  der  Grundstrich. 

8.  Anstrich  länger  als.  Grundstrich 28,20% 

Bei  11  Zeichnungen  ist  das  Längenverhältnis  richtig,  der  Anstrich 

also  länger  als  der  Grundstrich, 

9.  Anstrich  zuletzt  gezeichnet 7,69% 

Drei  Kinder,  die  ihre  Analyse  beim  Grundstrich  begannen,  zeichneten 

den  Anstrich  zuletzt. 


672  Fornifliiffassnng  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

e)  Beim  Wegstrich  ist  außer  den  zum  Anstrich  analogen  Punkten  noch  Paralle- 
lismus und  Längenverhältnis  zwischen  Anstrich  und  Wegstrich  zu  berück- 
sichtigen. 

1.  Spitzer  Winkel  zwischen  Grundstrich  und  Wegstrich.    .    48,72% 
Einen  spitzen  Winkel  zwischen  Grundstrich  und  Wegstrich  weisen 

19  Zeichnungen  auf. 

2.  Stumpfer  Winkel  zwischen   Grundstrich  und  Wegstrich    10,25% 
Stumpfen  Winkel  zwischen  Grundstrich  und  Wegstrich  zeichneten 

4  Kinder. 

3.  Wegstrich  und  Grundstrich  unverbunden 2,56% 

Nur  bei  einem  Kind  stehen  Grundstrich  und  Wegstrich  unverbunden 
nebeneinander    (Typ  C). 

4.  Verbindungsstrich  zwischen  Grundstrich  undWegstrich     7,69% 
Zum  Wegstrich  brauchten  nur  3  Kinder  einen  Verbindungsstrich  — 

wenn  ihnen  der  zweite  spitze  Winkel  zu  schwer  wurde,  ließen  nämlich 
die  weniger  gewissenhaften  den  Wegstrich  überhaupt  weg. 

5.  Wegstrich  fehlt 30,77% 

12  Zeichnungen  haben  gar  keinen  Wegstrich.  In  dieser  Zahl  sind  die 

3  nicht  analysierten  Zeichnungen  inbegriffen. 

6.  Wegstrich  so  lang  als  Grundstrich 23,08% 

Bei  9  Zeichnungen  sind  Grundstrich  und  Wegstrich  ungefähr  gleich- 
lang. 

7.  Wegstrich  kürzer  als  Grundstrich 7,69% 

3  Kinder  zeichneten  den  Wegstrich  kürzer  als  den  Grundstrich. 

8.  Wegstrich  länger  als  Grundstrich 28,20% 

11  Kinder  trafen  das  Längen  Verhältnis  zwischen  Grundstrich  imd 
Wegstrich  richtig :  das  ist  ihnen  aber  nicht  als  besonderes  Verdienst 
anzurechnen,  denn  sie  hatten  ja  keine  Hemmimg  der  Bleistift- 
bewegung vorzunehmen. 

9.  Anstrich  und  Wegstrich  parallel 25,64% 

Anstrich  undWegstrich  sind  nur  bei  10  Zeichnungen  ungefähr  parallel. 

10.  Anstrich  so  lang  als  Wegstrich 15,38% 

Anstrich  undWegstrich  sind  ungefähr  gleichlang  bei  6  Zeichnungen. 

11.  Anstrich  kürzer  als  Wegstrich 15,38% 

Nur  bei  6  Zeichnungen  ist  der  Anstrich  kürzer  als  der  Wegstrich. 

12.  Anstrich  länger  als  Wegstrich 17,95% 

Bei  7  Zeichnungen  ist  der  Anstrich  länger  als  der  Wegstrich.  —  Die 
letzten  drei  Zahlen  setzen  mich  in  Erstaunen;  bei  weniger  zeichen- 
gewandten Kindern  wäre  sicher  die  Schreibbewegung  nicht  so  leicht 
gehemmt  worden,  der  Wegstrich  wäre  weit  öfter  länger  geworden  als 

der  Anstrich. 

f)  Nach  der  Untersuchung  der  einzelnen  Striche  betrachten  wir  den  Schrift- 
duktus,  insbesondere  die  Stellen,  an  denen  beim  Zeichnen  abgesetzt  wurde,  die 
Strichrichtung  und  den  Ansatz  der  Nebenstriche  an  den  Grundstrich. 

1.  In  einem  Zuge 56,41% 

22  Zeichnungen  sind  in  einem  Zuge  entstanden.  Mit  diesen  22  Kin- 
dern, die  die  Einheit  des  vorgelegten  Schriftduktus  erkannt  haben, 


I 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  573 

wäre  eventuell  schon  ein  Schreibimterriclit  möglicli,  soweit  sie  nicht 
durch  andere  Kennzeichen  ihre  Unreife  bewiesen  haben.  Beispiels- 
weise haben  die  5  Zeichnungen  des  Types  A  den  einheitlichen  Schrift- 
duktus, ohne  zur  Analyse  fähig  zu  sein. 

2.  Einmal  abgesetzt  und  dann  im  gleichen  Punkte  fort- 
gefahren 8  Kinder.  Diese  Unterbrechung  hatte  wahrscheinlich  nur 

den  Zweck,  Zeit  zur  Überlegung  zu  gewinnen 20,51% 

3.  Einmal  abgesetzt  und  dann  an  einem  anderen  Punkte 
fortgefahren  haben  6  Kinder.  Vgl.  Typ  C,  D2,  3,  4.  Bei  den 
hierher  gehörigen  Zeichnungen  wurde  die  Analyse    wahrscheinlich 

beim   Grundstrich  begonnen 15,38% 

4.  Mehrmals  abgesetzt  haben  4  Kinder 10,25% 

Außer    Typ    C    sind    es    Zeichnungen,    die    einmal    absetzten, 

um  zu  überlegen,  und  später  wegen  unrichtiger  Analyse  an 
einem  anderen  Punkte  neu  begannen. 

5.  Anstrich  vom  Grundstrich  weg 23,08% 

In  9  Fällen  ist  der  Anstrich  vom  Grundstrich  weg  gezeichnet  (z.  B. 

Typ  C  und  D3). 

6.  Wegstrich  zum  Grundstrich  hin 2,56% 

Nur  einmal  ist  der  Wegstrich  deutlich  erkennbar  zum  Grundstrich 
hingezogen. 

7.  Alle  Striche  abwärts 2,56% 

Typ  C  zieht  alle  drei  Striche  abwärts. 

Mit  Ausnahme  der  unter  5,  6  und  7  angeführten  11  Zeichnungen  ist 

also  die  Richtung  der  Nebenstriche  richtig  gemacht  worden.    .    .    84,62% 

8.  Anstrich  unten  angesetzt 25,64% 

Der  Anstrich  wurde  wie  bei  Typ  E  (Erläuterung  vgl.  oben  c6)  unten 

an  den  Grundstrich  angesetzt  in  10  Fällen. 

9.  Wegstrich  oben  angesetzt 23,08% 

In  9  von  diesen  Zeichnungen  wurde  auch  konsequenterweise  der  Weg- 
strich oben  angesetzt,  bei  der  10.  Zeichnung  fehlt  der  Wegstrich  ganz. 

g)  Sehen  wir  nun  zu,  inwiefern  sich  an  den  Zeichnungen  die  Zeichenfertigkeit 
der  Kinder  erkennen  läßt,  insbesondere  ob  die  einzelnen  Striche  gerade,  ab- 
gebogen oder  zittrig  sind.    (Strichart.) 

1.  Grundstrich  gerade 41,03% 

Der  Grundstrich  ist  bei  16  Zeichnungen  eine  gerade  Linie.  Von  ge- 
ringfügigen Abweichungen  (die  z.  B.  davon  herrühren,  daß  manche 
Kinder  vom  Handgelenk  aus  zeichnen,  ohne  die  Fingerglieder  selbst 

zu  beugen  oder  zu  strecken)  ist  hier  wie  in  den  nachfolgenden  Punkten 
abgesehen  worden. 

2.  Grundstrich  einmal  abgebogen 15,38% 

Der  Grundstrich  weist  bei  6  Zeichnungen  einmal  eine  deutliche  Bie- 
gung auf. 

3.  Grundstrich  zweimal  abgebogen 7,69% 

Bei  3  Zeichnungen  ist  der  Grundstrich  deutlich  zweimal  abgebogen. 

4.  Grundstrich  zittrig 20,51% 


574  Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

In  8  Fällen  ist  der  Grundstrich  zittrig,  diese  Kinder  haben  noch  keine 
Sicherheit  in  der  Bleistiftführung  erreicht. 

5.  Anstrich  gerade 43,59% 

Ein  gerader  Anstrich  findet  sich  bei  17  Zeichnungen. 

6.  Anstrich  abgebogen 20,21% 

Abgebogen  ist  der  Anstrich  bei  8  Kindern. 

7.  Anstrich  ist  zittrig  in  7  Fällen 17,95% 

8.  Wegstrich  gerade 41,03% 

16  Zeichnungen  weisen  auch  einen  geraden  Wegstrich  auf. 

9.  Wegstrich  abgebogen 7,69% 

Nur  in  drei  Fällen  ist  der  Wegstrich  abgebogen. 

10.  Wegstrich  zittrig 15,38% 

Einen  zittrigen  Wegstrich  haben  6  Zeichnungen. 

11.  Mehrfachen  Strich 17,95% 

7  Zeichnungen  zeigen  einen  mehrfachen  Strich.  Während  die  Un- 
vollkommenheiten  der  Punkte  2,  3,  4,  6,  7,  9  und  10  aus  technischem 
Unvermögen  entstanden  sind,  hat  der  mehrfache  Strich  in  einzelnen 
Fällen  sicher  seine  Ursache  in  einer  nachträglichen  genauen  Analyse. 

Das  zeichnende  Kind  verglich  seine  noch  unfertige  Zeichnung  mit  der 
Vorlage  und  bemerkte  nun  erst  die  Druckverhältnisse,  die  es  dann 
durch  mehrfachen  Strich  auszudrücken  bestrebt  war .  (Vgl.  die  unter 
/,  1 — 3  der  Typentafel  beigefügten  Zeichnungen.) 

12.  Im  Strich  abgesetzt 5,14% 

Im  Strich  abgesetzt  —  und  zwar  im  Grundstrich  —  haben  zwei  Kin- 
der ;  sichtlich  aus  dem  Bestreben  heraus,  das  Längenverhältnis  richtig 

zu  treffen :  der  zuerstgezeichnete  Grundstrich  erschien  ihnen  zu  kurz, 

wurde  darum  später  verlängert, 
h)  Bei  Betrachtung  der  Druckverhältnisse    dürfen    wir    nicht   vergessen, 
daß  die  Bleistifttechnik,  wie  sie  beim  vorliegenden  Versuch  notwendig  war, 
die  Verstärkung  ungemein  erschwerte,   obwohl  die  Vorlage   die  Verstärkung 
aufwies  und  dadurch  den  nachzeichnenden  Kindern  nahelegte. 

1.  Gar  kein  Druck      69,24% 

Bei  27  Zeichnungen  findet  sich  gar  kein  Druck. 

2.  Druck  durch  mehrfachen  Strich 12,82% 

5  Kinder  halfen  sich  durch  mehrfachen  Strich  aus  der  Verlegenheit. 

3.  Wirklicher  Druck 5,14% 

Nur  bei  2  Kindern  ist  ein  wirklicher  Druck  deutlich  erkennbar, 

4.  Druck  in  Punktform 2,56% 

Ganz  originell  ist  die  Lösimg  des  Druckproblems  durch  ein  Mädchen, 

das  am  Grundstrich  unten  einen  kräftigen  Punkt  ansetzte. 

i)  Sonstiges. 

1.  Rechte  Hand 81,25% 

Die  rechte  Hand  gebrauchten  26  Kinder. 

2.  Linke  Hand 18,75% 

Linkshänder  sind  nur  6  Kinder,  diese  6  zeichnen  auch  sonst  mit  der 
Linken,  verrichten  überhaupt  alle  Arbeiten  links. 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  575 

■ ^ 

3.  Bleistift  in  Kreidehaltung 2,56% 

Den  Bleistift  faßte  ein  Kind  in  Kreidehaltung  (wie  in  Amerika  üb- 
lich). Das  scheint  mir  rein  zufällig  zu  sein,  der  Bleistift  wurde  eben 
schnell  vom  Tisch  aufgenommen  und  die  paar  Striche  gezogen,  das 

Kind  ließ  sich  nicht  Zeit,  erst  mühsam  die  Bleistifthaltung  ein- 
zunehmen, die  ihm  beim  Zeichnen  gezeigt  worden  war.  Das  zeigt  sich 
schon  daran,  daß  derselbe  Knabe  beim  zweiten  und  dritten  Versuch 
den  Bleistift  wie  gewöhnlich  handhabt. 

4.  Zeichnung  im  Eck 12,82% 

5  Kinder  setzten  ihre  Zeichnung  in  die  Ecke  des  Zeichenpapieres, 
trotzdem  ihnen  doch  das  ganze  Blatt  zur  Verfügung  steht.    Soweit 

hier  nicht  Zufälligkeiten  der  Lage  des  Blattes  bzw.  der  Haltung  des 
Kjndes  vorliegen,  ist  diese  vielfach  beobachtete  Erscheinung  trotz 
mancher  Hypothese  noch  dunkeL 

5.  Haken  beim  Absetzen 10,25% 

Bei  4  Zeichnungen  findet  sich  ein  Haken  beim  Absetzen,  ein  Zeichen 

dafür,  daß  das  schnell  arbeitende  Kind  bemerkt,  daß  es  den  Weg- 
strich eigentlich  schon  zu  lang  gezeichnet  hat ;  nun  möchte  es  schnell 
aufhören,  es  vermag  aber  nicht  schnell  genug  die  Schreibbewegung 
zu  hemmen ;  als  Resultante  zwischen  der  nach  dem  Trägheitsgesetz 
fortdauernden  Schreibbewegung  und  dem  vom  Willen  geforderten 
Aufheben  des  Bleistiftes  entsteht  der  Haken. 

k)  Einer  besonderen  Untersuchung  unterzog  ich  noch  die  Verbindungs- 
striche zwischen  Anstrich  und  Grundstrich  einerseits  und  zwischen  Grundstrich 
und  Wegstrich  andrerseits.  Entweder  kann  dieser  Verbindungsstrich  gerade 
sein,  so  daß  sich  zwei  Ecken  an  den  beiden  Enden  des  Verbindungsstriches  er- 
geben —  oder  der  Verbindungsstrich  ist  rund,  so  daß  nirgends  Ecken  entstehen  — 
oder  endlich  der  Verbindungsstrich  ähnelt  einem  Viertelkreis,  so  daß  an  einem 
Ende  des  Verbindungsstriches  eine  scharfe  Ecke  zustande  kommt,  während 
das  andere  Ende  mit  dem  Grundstrich  verschmilzt.  Der  gerade  Verbindungs- 
strich kommt  dreimal  vor,  der  gebogene  im  ganzen  achtmal,  nämlich  sechsmal 
zwischen  Anstrich  imd  Grundstrich  und  zweimal  zwischen  Grundstrich  und  Weg- 
strich, die  dritte  Art  findet  sich  nur  auf  einer  Zeichnung.  Auf  der  Typentafel 
sind  diese  verschiedenen  Möglichkeiten  unter  den  Buchstaben  L,  M  und  N  auf- 
geführt. 

Einer  Spezialuntersuchung  unterwarf  ich  auch  die  verschiedenen  Striche  hin- 
sichtlich ihrer  Abweichung  von  der  Geraden.  Nachdem  ich  schon  unter  g  die 
verschiedenen  Stricharten  nach  den  drei  Strichen  ausgeschieden  hatte,  kann 
ich  jetzt  die  Unterscheidung  zwischen  Anstrich,  Grundstrich,  Wegstrich  und 
Verbindungsstrich  fallen  lassen.  Bei  der  Betrachtung  der  Striche  an  sich  erhielt 
ich  die  Typen  O — W. 
Typ  O:  Der  gerade  Strich  in  senkrechter,  wagrechter  oder  schräger 

Lage  fand  sich  in  38  Fällen 34,23% 

Typ  P:  TypP — /S stellen  die  einmal  abgebogenen  Formen  dar  und  zwar 

Typ  P  der  nach  links  offene  Bogen,  der  sich  auf  14  Zeichnungen  findet    12,61  % 
Typ  Q:  Einen  nach  rechts  offenen  Bogen  stellen  9  Striche  dar  .    .    .      8,10% 


576  Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

Typ  R:  4  Kinder  zeichneten  einen  nach  oben  geöffneten  Bogen   .    .      3,60% 

Typ  S:  Den  nach  unten  geöffneten  Bogen  konnte  ich  auf  5  Zeichnungen 

feststellen 4j50% 

Typ  T:  Die  Typen  T,  U  und F  sind  die  vorgekommenen  Fälle  von  zwei- 
mal abgebogenen  Strichen,  Typ  T  stellt  eine  Wagrechte  dar,  die  zum 
ersten  Male  nach  oben  abgebogen  wird  und  dann  eine  zweite  Biegung 
erleidet,  so  daß  der  dritte  Teil  des  Striches  dem  ersten  parallel  er- 
scheint        4,50% 

Typ  U:  Typ  U  kann  man  sich  aus  Typ  T  entstanden  denken,  indem  T 
um  seinen  Mittelpunkt  um  90  Grad  entgegengesetzt  dem  Uhrzeiger- 
sinn gedreht  wird.  U  erscheint  also  als  eine  Senkrechte,  die  nach  rechts 
oben  gebogen  ist  und  dann  zum  zweiten  Male  nach  links  umbiegt,  so 
daß  erster  und  dritter  Teil  parallel  sind.    U  findet  sich  in  9  Fällen    .      9,01  % 

Typ  F:  F  entsteht  aus  T,  wenn  T  um  seinen  Mittelpunkt  um  90  Grad 
im  Uhrzeigersinn  gedreht  wird.  F  ist  die  Form,  die  im  Schreibunter- 
richt als  Flammenstrich  bezeichnet  wird  und  beispielsweise  in  den 
deutschen  Kurrentbuchstaben  F,  I,  L,  B  und  K,  in  den  lateinischen 
Kurrentbuchstaben  L,  S,  I,  T,  F,  P,  B,  R  und  D  vorkommt  .    .      8,10% 

Typ  W:  17mal  brachten  die  Kinder  nur  ein  Gekritzel  fertig,  das  in  12 

dieser  Fälle  wenigstens  noch  eine  ungefähre  Richtung  aufzuweisen  hat  15,31  % 
Wenn  wir  nur  die  Hauptgruppen  herausgreifen,  ergibt  sich  folgendes  Bild: 

Strich  gerade  38  Fälle  =  34,23% 

Strich  einmal  abgebogen  32  „  =  28,83% 
Strich  zweimal  „  24  „  =  21,62% 
Strich  zittrig  17     „      =  15,32% 

Zu  diesen  Zahlen  bemerke  ich,  daß  ich  bei  der  Einordnung  der  Striche  als  gerade, 
abgebogen  oder  zittrig  äußerst  weitherzig  war,  geringfügige  Abweichungen  von 
der  Geraden  zählte  ich  noch  als  gerade.  Trotzdem  genügte  nur  ein  Drittel  der 
Kinder  den  Anforderungen  der  Vorzeichnung.  Und  das  sind  Kinder,  die  schon 
eine  Menge  gezeichnet  haben! 

k)  Unter  Typ  /,  1 — 3  bringe  ich  noch  drei  besonders  merkwürdige  Zeichnungen : 
1  1,  zu  Typ  H  gehörig,  beginnt  die  Analyse  mit  dem  Grundstrich,  versucht 
durch  eine  Parallele  zum  Grundstrich  den  Druck  anzugeben  und  setzt  dann 
erst  Wegstrich  und  Anstrich  an. 

/  2  imd  I  3  sind  vom  gleichen  Kind.  Bei  /  2  betrachte  ich  den  vierten  Strich 
als  die  eigentliche  Zeichnung  (zu  Typ  H  gehörig),  alles  andere  sind  tastende  Vor- 
versuche. Die  Verstärkung  ist  durch  mehrfachen  Strich  ausgedrückt,  der  Junge 
hat  also  gesehen,  daß  ein  Strich  dicker  war  als  die  anderen,  später  erst  begann 
er  die  Form  zu  analysieren.  (Strich  4.)  /  3  ist  ähnlich  zu  erklären.  Als  Beweis 
dafür,  daß  ich  bei  der  Beurteilung  der  Kinderzeichnungen  sehr  milde  verfuhr, 
führe  ich  an,  daß  ich  die  beiden  Zeichnungen  /  3  und  /  4  mit  zu  Typ  H  rechnete, 
weil  der  Junge  ja  doch  endlich  noch  die  rechte  Form  erkannte  —  obgleich  von 
einer  Ähnlichkeit  der  Typen  H  und  /  2  und  3  nicht  mehr  gesprochen  werden 
kann.  Trotz  dieser  milden  Beurteilung  ergibt  sich  das  im  ganzen  ungenügende 
Resultat  für  die  Nachzeichenfähigkeit  unserer  Kinder. 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  577 

_  .    _    _  ■ 

Zu  den  eben  entwickelten  Zaklen  gestatte  man  einige  Bemerkungen.    Wenn 
von  39  Zeichnungen  17,  also  43%  nicht  imstande  sind,  den  einfachen  c-Strich 
bis  zur  Dreizahl  zu  analysieren,  so  ist  das  allein  schon  ein  Beweis  dafür,  daß 
alle  Versuche,  den  Schreibunterricht  zu  verfrühen,  vollständig  verfehlt  sind. 
Dabei  sind  die  Kinder,  mit  denen  der  Versuch  gemacht  wurde,  insofern  vor- 
gebildet, als  sie  schon  viel  gezeichnet  haben.    In  die  erste  Schulklasse  kommt 
aber  ein  großer  Prozentsatz  Kinder,  der  noch  nie  den  Bleistift  gehandhabt  hat, 
dem  also  noch  die  elementare  technische  Vorbelehrung  mangelt.   Es  ist  sogar 
zweifelhaft,  ob  ein  „Vorkursus"  von  einigen  Wochen  (in  München  z.  B.  nur  in 
den  drei  Schulwochen  im  September)  unter  diesen  Umständen  sein  Ziel  erreichen 
kann.  —  Nur  59%  der  Zeichnungen  sind  von  links  nach  rechts  analysiert:  auch 
diese  Zahl  dürfte  schon  etwas  beeinflußt  sein,  ursprünglich  analysieren  Kinder 
wahllos  bald  von  rechts,  bald  von  links  aus.  —  77%  haben  einen  rechtsschrägen 
oder  wenigstens  senkrechten  Grundstrich,   trotzdem  die  Vorlage  deutlich  die 
amtlich  vorgeschriebene  Schriftlage  aufwies.    Wenn  man  die  scheinbar  links- 
schrägen Grundstriche,  die  durch  falsche  Analyse  entstanden  sind,  nicht  mitzählt, 
bleiben  24  rechtsgeneigte   Grundstriche  gegen  5  wirklich  linksgeneigte,   83% 
der  Kinder  entscheiden  sich  also  für  Steilschrift.  Das  ist  deutlich  genug.  —  Wenn 
49%  der  doch  immerhin  zeichengewandten  Kinder  keinen  spitzen  Winkel  fertig 
bringen,  so  zeigt  das  klar,  welch  unerfüllbar  schwere  Forderungen  unser  Schreib- 
unterricht stellt.   Nur  rund  ein  Viertel  der  Kinder  hat  Anstrich  und  Wegstrich 
parallel,  wenig  mehr  haben  beobachtet,  daß  Anstrich  und  Wegstrich  länger  sind 
als  der  Grundstrich.   Nur  34%  bringen  einen  geraden  Strich  fertig.  —  Daß  nur 
19%  der  Kinder  Linkshänder  sind,  hängt  in  erster  Linie  von  angeborenen  Fak- 
toren der  Konstitution,  teilweise  auch  von  häuslichen  Beeinflussungen  ab:  die 
meisten  Eltern  befürchten  eine  spätere  Schädigung  ihrer  Kinder  und  verbieten 
ihnen  darum  den  Gebrauch  der  Linken. 

Schon  aus  der  ersten  Versuchsreihe  folgt,  daß  wir  gewöhnlich  die  Fähig- 
keit der  Kinder  zum  Nachzeichnen  auf  dieser  Altersstufe  beträchtlich 
überschätzen. 

in.  Zweite  Versuchsreihe. 

Bei  der  zweiten  Versuchsreihe  schrieb  ich  jedem  einzelnen  Kinde  langsam 
ein  „c"  vor,  nachdem  ich  es  zur  Aufmerksamkeit  aufgefordert  hatte.  Dann  hieß 
es  wieder:  , »Zeichne  das  genau  nach,  aber  ganz  genau."  Die  Kinderzeich- 
nung hätte  also  unter  meine  Vorzeichnung  kommen  sollen.  Der  Versuch  wurde 
mit  28  Kindern  in  der  Zeit  vom  15. — 24.  Februar  1912  ausgeführt. 

Von  den  16  Typen  der  ersten  Versuchsreihe  kehrten  nur  7  wieder.  Typ  Ä 
fand  sich  dreimal,  Bl  zweimal,  B2  und  B3  fehlten,  B4  kam  zweimal  vor,  G 
und  D  fehlten,  E  wurde  dagegegen  achtmal  gezeichnet.  Die  Kinder  hatten 
gesehen,  daß  ich  links  anfange,  bei  ihrem  Versuch,  von  links  aus  nachzuzeichnen, 
setzten  sie  dann  den  Grundstrich  in  verkehrter  Richtung  an  und  kamen  so  zu 
Typ  E.  Typ  Fl  fehlt,  F  2  findet  sich  zweimal,  O  1  einmal,  O  2  fehlt,  Typ  H, 
die  im  allgemeinen  richtige  Zeichnung,  kam  nur  siebenmal  vor.  Neu  geschaffen 
wurde  Typ  K,  die  öftere  Wiederholung  des  Typs  H  oder  E  derart,  daß  ein  Weg- 
strich gleich  als  Anstrich  der  nächsten  Zeichnung  aufgefaßt  wird.  Kl  entsteht 
so  aus  H,  K  2  aus  E. 

Zeitschrift  f,  padagog.  Psycholog!«».  87 


578 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 


Bei  der  Untersuchung  der  zweiten  Versuchsreihe  hielt  ich  mich  im  allgemeinen 
an  die  bei  der  ersten  Versuchsreihe  berücksichtigten  Punkte,  um  leichter  ver- 
gleichen zu  können. 


a)  Die  Analyse  zur  Dreizahl. 

Zahl  der        In 
Zeich-    Prozenten 
nungen 

1.  Nicht  analysiert .         3         10,71% 

2.  Falsch  analysiert 6         21,42% 

a)  weniger  als  3  Striche 2  7,14% 

b)  mehr  als  3  Striche 4  14,28% 

3.  Richtig  analysiert 19  67,83% 

Die  Analyse  ist  also  um  rund  10%  besser 

ausgeführt  worden  als  bei  der  ersten  Ver- 
suchsreihe. 


b)  Die  Reihenfolge  der  Analyse. 

1.  Von  links  nach  rechts  analysiert  .    . 

2.  Von  rechts  nach  links  analysiert  .    . 

3.  Vom  Grundstrich  aus  analysiert  .  . 
Die  Reihenfolge  der  einzelnen  Striche  war 
also  um  16%  richtiger  als  bei  der  ersten 
Versuchsreihe. 


Vergleich 
m.  d.  ersten 
Versuchsr. 

-  2,11% 

-  9,35% 
-10,81% 
+  1,46% 
+  11,42% 


I 


21 

74,97% 

+  16,00% 

4 

14,28% 

-  6,23% 

2 

7,14% 

-  0,55% 

c)  Der  Grundstrich. 

1.  Grundstrich  senkrecht 2 

2.  Grundstrich  rechtsschräg 19 

3.  Grundstrich  Schriftlage 4 

4.  Grundstrich  linksschräg — 

5.  Grundstrich  fehlt 3 

Die  drei  Kinder,  die  nicht  analysiert  haben, 
(Typ  A)  haben  natürlich  auch  keinen  Grund- 
strich. 

Im  ganzen  entscheiden  sich  bei  der  zweiten 
Versuchsreihe  21  Kinder  (84%)  für,  4  Kinder 
(16%)  gegen  die  Steilschrift,  das  sind  gegen- 
über der  ersten  Versuchsreihe  noch  einige 
Prozent  mehr  Steilschriftfreunde. 

6.  Grundstrich  aufwärts  gezeichnet.    .       12 
Ursache  ist  das  häufigere  Vorkommen  des 
Typs  E. 

7.  Grundstrich  zuerst  gezeichnet  ...         3 

8.  Grundstrich  später  umgedeutet    .    .         1 
Der   Grundstrich  wurde  als  Anstrich  auf- 
gefaßt. 


7,14%  -23,63% 

67,83%  +37,06% 

14,28%  -3,67% 

-  -12,82% 

10,71%  -2,11% 


42,84%     +19,67% 


10,71%     —20.06% 
3,57%     -19,51% 


Formauffassung  und  Schreib  versuch  im  Kindergartenalter.  579 

9.  Mehrere  Grundstriche 4         14,28%     —  1,10% 

Auch  aus  den  Punkten  7 — 9  ist  ersichtlich, 
daß  bei  der  zweiten  Versuchsreihe  die  Vor- 
Zeichnung  genauer  nachgezeichnet  wurde  als 
bei  der  ersten,  weil  die  Kinder  die  Entstehung 
der  Vorlage  verfolgen  konnten. 

d)  Der  Anstrich.  Zahl  der  In  Vergleich 

Zeich-  Prozenten  m.  d.  ersten 

1.  Spitzer    Winkel    zwischen     Anstrich  nungen  Versuchsr. 
und  Grundstrich 24  85,68%     +31,84% 

2.  Stumpfer  Winkel  zwischen  Anstrich 

und  Grundstrich 1  3,57%     —  9,25% 

3.  Anstrich     und     Grundstrich     unver- 

bunden 1  3,57%     —  4,12% 

4.  Verbindungsstrich  zum  Grundstrich         5         17,85%     —  5,23% 

5.  Anstrich  fehlt 3         10,71%     —  7,24% 

Der  Anstrich  fehlt  nur  bei  den  3  nicht  analy- 
sierten Zeichnungen  (Typ  A). 

().  Anstrich  so  lang  als  Grundstrich   .    .  11  39,27%  +11,32% 

7.  Anstrich  kürzer  als  Grundstrich    .    .  5  17,85%  —10,35% 

8.  Anstrich  länger  als  Grundstrich    .    .  9  32,13%  +  3,93% 

9.  Anstrich  zuletzt  gezeichnet     ....  1  3,57%  —  4,12% 
Festzuhalten  ist,   daß  ca.  30%  der  Kinder 

mehr  den  spitzenWinkel  fertig  brachten,  daß 
ca.  15%  mehr  das  Längen  Verhältnis  richtiger 
darstellten  als  bei  der  ersten  Versuchsreihe. 

e)  Der  Wegstrich. 

1.  Spitzer     Winkel      zwischen      Grund- 
strich und  Wegstrich 21         74,97%     +26,25% 

2.  Stumpfer    Winkel    zwischen    Grund- 
strich und  Wegstrich 2  7,14%     —3,11% 

3.  Wegstrich    und    Grundstrich    unver- 

bunden —  —  —  2,56% 

4.  Verbindungsstrich  zum  Grundstrich         6         21,42%     +13,73% 
Eben  die  Kinder,  die  erst  bei  der  zweiten  Ver- 
suchsreihe auch  den  Wegstrich  zeichneten, 

fügten  einen  Verbindungsstrich  ein.  Das  ist 
immerhin  ein  Fortschritt:  besser  Wegstrich 
mit  Verbindungsstrich  als  überhaupt  kein 
Wegstrich. 

5.  Wegstrich  fehlt 5         17,85%     —12,92% 

Also  außer  bei  den  3  nicht  analysierten  Zeich- 
nungen noch  in  2  Fällen. 

Verglichen  mit  der  ersten  Versuchsreihe 
haben  26%  Kinder  mehr  den  schweren 
spitzenWinkel,  rund  13%  mehr  Wegstriche 
sind  gezeichnet  worden. 

37* 


580 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 


Zahl  der 
Zeich- 
nungen 

6.  Wegstricli  so   lang   als    Grundstricli        8 

7.  Wegstricli    kürzer    als    Grundstricli        5 

8.  Wegstricli    länger    als    Grundstricli      11 

Das  Längen  Verhältnis  zwischen  Wegstrich 
und  Grundstrich,  ist  also  nur  um  6% 
(5+11 — 10)  richtiger  geworden.  Die  geringe 
Besserung  ist  darauf  zurückzuführen,  daß 
13  %  der  Kinder  eben  jetzt  erst  einen  Weg- 
strich zeichneten,  also  noch  nicht  auf  die 
Längenverhältnisse  achten  konnten. 

9.  Anstrich  und  Wegstrich  parallel    .    .       14 

10.  Anstrich  so  lang  als  Wegstrich  ...       13 

11.  Anstrich  kürzer  als  Wegstrich    ...        6 

12.  Anstrich  länger  als  Wegstrich     ...         5 

Bezüglich  des  Parallelismus  von  Anstrich 
und  Wegstrich  ist  also  eine  Besserung  um 
24%,  bezüglich  des  Längenverhältnisses  eine 
Besserung  um  über  30%  festzustellen. 

f)  Schriftduktiis. 

1.  In  einem  Zuge 23 

36%  der  Kinder  haben  also  den  einheitlichen 
Schriftduktus  richtig,  die  ihn  bei  der  ersten 
Versuchsreihe  noch  nicht  erkannt  hatten. 

2.  Einmal  abgesetzt,  dann  im  gleichen 
Punkte  fortgefahren 3 

3.  Einmal  abgesetzt,  dann  in  einem  an- 
deren Punkte  fortgefahren 3 

4.  Mehrmals  abgesetzt 1 

Nachdem  die  Kinder  die  Entstehung  der  Vor- 
lage sahen,  setzten  sie  weniger  ab  (ungefähr 

um  22%  weniger). 

5.  Anstrich  vom  Grundstrich  weg  ...        2 

6.  Anstrich  unten  angesetzt 10 

7.  Wegstrich  oben  angesetzt 10 

Die  Zunahme  unter  6  imd  7  erklärt  sich  aus 
dem  häufigeren  Vorkommen  des  Typs  E. 

g)  Strichart. 

1.  Grundstrich  gerade  .........       14 


2.  Grundstrich  einmal  abgebogen  .    .    . 

3.  Grundstrich  zweimal  abgebogen    .    . 

4.  Grundstrich  zittrig 

Es  ist  ein  Fortschritt  ersichtlich,  von  zittrigen 
Grundstrichen  kommen  die  Kinder  zu  ge- 
bogenen, von  gebogenen  zu  geraden.  Fort- 
schritt ca.  9%. 


In  Vergleich 

Prozenten  m.  d.  ersten 

Versuchsr. 

28,56%     -f  5,48% 

17,85%     +10,16% 

39,27%     +11,07% 


50,00%  +24,36% 

46,41%  +31,03% 

21,42%  +  6,04% 

17,85%  -0.10% 


82,11%     +35,70% 


10,71%     -9,80% 

10,71%     -4,67% 
3,57%     -6,68% 


7,14%  -15,94% 
35,70%  +10,06% 
35,70%     +12,62% 


50,00%  +  8,97% 

24,99%  +  9,61% 

17,85%  +10,16% 

7,14%  -13,37% 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  681 

\ 

Ztihl  der  In  Vergleich 

22eioh-    Prozenten  m.  d.  ersten 
nungen  Versuchst. 

5.  Anstrich  gerade 13  46,41%  +  2,82% 

6.  Anstrich  abgebogen 10  35,70%  +15,19% 

7.  Anstrich  zittrig 2  4,14%  —10,81% 

Auch  beim  Anstrich  ist  eine  Besserung  vom 

zittrigen  zum  gebogenen  zum  geraden  fest- 
zustellen, der  Fortschritt  vom  ersten  zum 
zweiten  Versuch  beträgt  etwa  9%  (nämlich 
3+15 

8.  Wegstrich  gerade 14         50,00%     +  8,97% 

9.  Wegstrich  abgebogen 8         28,56%     +20,87% 

10.  Wegstrich  zittrig 1  3,57%     —11,81% 

Beim  Wegstrich  zeigt  sich  dieselbe  Erschei- 
nung wie  beim  Grimdstrich  und  Anstrich: 
der  Fortschritt  beträgt  hier  aber  etwa  14%. 
Eigentlich  sollte  die  Zunahme  der  geraden  und 
abgebogenen  Striche  gleich  sein  der  Ab- 
nahme der  zittrigen,  also8,97+20,87=  11,81 ; 
daß  das  hier  nicht  stimmt,  kommt  davon 
her,  daß  wir  um  13%  mehr  Wegstriche 
haben  als  bei  der  ersten  Versuchsreihe. 
11.  Im  Strich  abgesetzt 1  3,57%      —  1,57% 

h)  Druckverhältnisse. 

1.  Gar  kein  Druck 21         75,00%     +  5,73% 

2.  Wirklicher  Druck 7         25,00%     +19,86% 

Der  Druck  durch  mehrfachen  Strich  kam 

nicht  mehr  vor  —  die  Kinder  hatten  gesehen, 
daß  ich  bei  der  Vorzeichnung  keinen  mehr- 
fachen Strich  anwandte.  Die  Besserung  be- 
trägt 20  %. 

i)  Sonstiges. 

1.  Zeichnung  im  Eck 2  7,14%     —  5,68% 

Dieses  Ergebnis  ist  wohl  mehr  zufällig,  denn 

bei  der  dritten  Versuchsreihe  finden  sich 
wieder  mehr  verlagerte  Raumformen. 

2.  Haken  beim  Absetzen 6         21,42%     +11,17% 

Dadurch,  daß  die  Kinder  die  Vorlage  ent- 
stehen sahen,  wurden  sie  sicherer,  arbeiteten 

daher  schneller  und  bekamen  dann  öfter  den 
Haken  beim  Absetzen. 


582  Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

Die  Detailanalyse  der  zweiten  Versuchsreihe  ergibt  also,  daß  die  Kinder  in 
sämtlichen  Punkten  vorlagerichtiger  gearbeitet  haben  als  bei  der  ersten  Versuchs- 
reihe. Dieses  Ergebnis  wird  nur  zum  kleineren  Teile  Übungseffekt  sein,  wesent- 
lich wird  es  davon  herrühren,  daß  die  Kinder  die  Entstehung  der  Vorlage  be- 
obachten konnten.  Nur  bei  der  Lage  des  Grundstriches  zum  untersten  Blatt- 
rande wichen  noch  mehr  Kinder  als  beim  ersten  Male  von  der  Vorlage  ab  und 
wählten  die  naturgemäßere  Steilschrift. 

Im  einzelnen  betrug  die  Besserung  bei  der  Analyse  13%,  beim  Längen  Verhältnis 
der  einzelnen  Striche  zueinander  17%,  beim  spitzen  Winkel  28%,  beim  Parallelis- 
mus zwischen  Anstrich  und  Wegstrich  24%,  beim  einheitlichen  Schriftduktus 
36%,  bei  der  Geradheit  der  Striche  11%,  bei  den  Druckverhältnissen  20%, 
daraus  ergibt  sich  ein   Gesamtfortschritt  um  21%. 

Die  Tatsache,  daß  die  Kinder  um  rund  ein  Fünftel  besser  arbeiten,  wenn  sie 
die  Vorlage  entstehen  sahen,  als  wenn  sie  vor  die  fertige  Vorlage  gestellt  werden, 
ist  eine  Bestätigung  der  alten  pädagogischen  Regel,  den  Kindern  nichts  Fertiges 
zu  geben,  sondern  alles  vor  ihren  Augen  entstehen  zu  lassen,  eine  Forderung, 
gegen  die  heutzutage  wohl  nirgends  mehr  gefehlt  wird. 


IV.  Dritte  Versuchsreihe. 

Der  dritte  Versuch  zerfällt  bei  jedem  Kinde  in  zwei  zeitlich  unmittelbar  auf- 
einanderfolgende Teile.  Der  erste  ist  eine  genaue  Wiederholung  der  zweiten  Ver- 
suchsreihe, der  zweite  dagegen  bringt  den  Vergleich  der  Zeichnung  mit  der 
Vorlage,  die  Selbstkritik  des  Kindes  und  eventuell  die  Verbesserung  durch  eine 
neue  Zeichnung.  Nach  der  ersten  Zeichnung  des  Kindes  hieß  es  also:  ,, Jetzt 
schau  dir 's  amal  an;  ist  des  ganz  genau  so  wie  des?"  Bei  bejahender  Antwort 
wurde  das  Kind  entlassen,  im  anderen  Falle  wurde  gefragt : ,,  Was  ist  denn  anders  ?*' 
Zum  Schluß  hieß  es  dann:  ,,  Jetzt  mach 's  noch  amal,  aber  ganz  genauso!"  — 
An  der  dritten  Versuchsreihe  beteiligten  sich  31  Kinder  in  der  Zeit  vom  24.  Mai 
bis  14.  Juni  1912. 

Neue  Typen  wurden  nicht  geschaffen.  Unter  den  ersten  Zeichnungen  fand  sich 
Typ  A  einmal,  Typ  Bl  einmal,  Typ  E  fünfmal,  F2  viermal.  Gl  zweimal, 
H  siebzehnmal  und  K  einmal.  Gegenüber  den  ersten  beiden  Versuchsreihen  fällt 
sofort  das  gewaltige  Überwiegen  des  Types  H  ins  Auge,  sicher  eine  Folge  der  zu- 
nehmenden Zeichenfertigkeit  (inzwischen  waren  ja  14  Zeichnungen  gemacht 
worden),  wohl  auch  Übungseffekt,  obwohl  zwischen  zweitem  und  drittem  Ver- 
such drei  Monate  lagen. 

Bei  den  zweiten  Zeichnungen  der  dritten  Versuchsreihe  —  also  bei  den  ,, Ver- 
besserungen" —  kamen  vor  Typ  D  4  einmal,  E  dreimal,  F 1,  F  2  und  ö  i  je 
einmal,  und  H  neunmal.  In  den  anderen  15  Fällen  erfolgte  keine  zweite  Zeich- 
nung. Wieder  sind  Typ  E  und  Typ  H  die  bevorzugtesten.  — 

In  folgender  Tabelle  ist  die  Häufigkeit  der  einzelnen  Typen  bei  den  drei  Ver- 
suchsreihen zusammengestellt: 


Formauffassung  und 

Schreibversuch 

im  Kindergartenalter.              583 

Typ 

\ 
I.  Versuchs- 

2. Versuchs- 

3. Versuchsreihe 

reihe 

reihe 

1.  Zeichnung 

2.  Zeichniuig 

Ä 

13% 

11% 

3% 

— 

Bl 

10% 

7% 

3% 

— 

B2 

3% 

— 

— 

— 

B3 

3% 

— 

— 

— 

B4 

3% 

7% 

— 

— 

C 

3% 

— 

— 

— 

Dl 

5% 

— 

— 

— 

D2 

5% 

— 

— 

— 

D3 

5% 

— 

— 

— 

D4 

3% 

— 

— 

öTo 

E 

13% 

29% 

17% 

19% 

Fl 

3% 

— 

— 

6% 

F2 

3% 

7% 

13% 

6% 

Gl 

3% 

4% 

7% 

6% 

G2 

3% 

— 

— 

— 

H 

20% 

25% 

57% 

56% 

K 

— 

11% 

3% 

— 

Die  bei  der  ersten  Versuchsreihe  auftretende  Differenzierung  macht  einer 
fortschreitenden  Vereinheitlichung  Platz,  Immey  klarer  heben  sich  die  im  all- 
gemeinen richtige  Form  {H)  und  die  Form  mit  den  verfehlten  Ansätzen  {E) 
heraus. 

Bei  der  Detailanalyse  der  Kinderzeichnungen  interessiert  uns  zunächst, 
wie  sich  die  Kinder  auf  die  Aufforderung  zur  Selbstkritik  verhielten. 
Da  fällt  vor  allem  auf,  daß  15  Kinder  behaupten,  ihre  Zeichnung  sei 
ganz  genau  so  wie  die  Vorlage.  Ich  möchte  ausdrücklich  betonen,  daß 
die  Kinder  nicht  den  Gedanken  hatten,  möglichst  schnell  fertig  zu  werden  und 
deshalb  etwa  den  Versuch  abkürzten.  Die  Zeichnung  eines  Mädchens,  bei  dem 
ich  diese  Gleichgültigkeit  beobachtete,  wurde  bei  der  Untersuchung  weggelassen. 
Unter  den  15  Kindern,  die  keinen  Unterschied  feststellen  konnten,  ist  der  Stand- 
punkt der  9  Kinder  verständlich,  die  Typ  H  zeichneten,  deren  Zeichnung  also 
tatsächlich  annähernd  vorlagerichtig  war.  Sie  waren  nicht  fähig,  die  für  den 
Erwachsene  sofort  sichtbaren  Unterschiede  zu  erkennen,  die  zwischen  der  Vor- 
lage und  ihrer  Zeichnung  hinsichtlich  des  Längen  Verhältnisses  der  einzelnen 
Striche,  der  Strichrichtung  usw.  bestanden,  oder,  wenn  sie  dieselben  erkannten, 
sie  als  wesentlich  und  wichtig  einzuschätzen. 

Verblüffen  muß  es  aber,  wenn  ein  Kind  des  Types  A,  das  also  überhaupt  nicht 
analysiert  hat,  sein  Grekritzel  als  genau  der  Vorlage  entsprechend  bezeichnet, 
wenn  Typ  B 1,  bei  dem  nur  zwei  Striche  gezeichnet  sind,  oder  Typ  K,  bei  dem 
gar  fünf  Striche  vorliegen,  meiner  Zeichnung  gleichgewertet  werden.  Nicht  gar 
so  sonderbar  sind  die  Fälle,  wo  zwischen  Typ  E  oder  F 1  und  der  Vorlage  kein 
Unterschied  festgestellt  werden  konnte.  —  Wir  stehen  also  vor  der  Tatsache, 
daß  30%  der  Kinder  eine  ungefähr  richtige,  20%  aber  eine  unbedingt  falsche 
Zeichnung  als  vollständig  richtig  ansprechen.  Daraus  folgt,  daß  die  Hälfte  der 
Kinder  nicht  fähig  ist,  zu  erkennen,  ob  ihre  Zeichnung  der  Vorlage  entspricht 


584  Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 

oder  nicht;  diese  50%  sind  nicht  imstande,  das  Wesen  des  „c"~ 
Striches,  dieses  einfachsten  Bestandteiles  unserer  Schrift,  klar  zu 
erfassen.  Dabei  war  ihnen  die  Vorlage  nicht  wie  bei  der  ersten  Versuchsreihe 
fertig  vorgelegt  worden,  sondern  sie  hatten  die  Entstehung  der  Vorlage  verfolgt, 
waren  auf  sie  ausdrücklich  hingewiesen  worden. 

Man  darf  freilich  nicht  glauben,  daß  diese  Hälfte  der  Kinder  nicht  schreiben 
lernen  würde,  wenn  man  nun  einen  systematischen  Unterricht  begänne,  mit 
Übungen  und  Drill.  Aber  es  ist  billig  zu  bedenken,  ob  eine  solch  pädagogische 
Möglichkeit  etwas  Wünschenswertes  darstellt,  und  es  nicht  klüger,  zweckmäßiger 
ist,  mit  dem  Schreibunterricht  zu  warten,  bis  die  einfachsten  Schriftformen  wenig- 
stens von  acht  Zehntel  der  Kinder  spontan  analysiert  und  im  wesentlichen  richtig 
nachgeahmt  werden. 

Wie  haben  die  anderen  50%  zu  erkennen  gegeben,  daß  ihnen  ein  Unterschied 
bewußt  geworden  ist?  —  Ein  Kind  antwortet  auf  meine  Frage,  das  sei  nicht 
genau  so,  macht  aber  trotz  alles  Bittens  keine  zweite  Zeichnung.  Es  war  fähig, 
den  Unterschied  wahrzunehmen,  nicht  aber  eine  Verbesserung  zu  machen.  Der 
sehr  gut  begabte  Knabe  hat  ohnedies  schon  Typ  H  gezeichnet,  wir  müssen  also 
annehmen,  daß  es  ihm  tatsächlich  nicht  mehr  möglich  war,  etwas  Besseres  zu 
leisten.  Richtige  Feststellung  der  Längen-  und  Druckverhältnisse,  Geradheit 
des  Striches  sind  auch  für  ihn  unerfüllbare  Forderungen. 

Ein  Kind  zeigt  auf  den  Fehler,  behauptet,  es  sei  nichts  falsch,  macht  aber 
dann  tatsächlich  eine  Verbesserung  (erst  Typ  0  1,  dann  Typ  E),  Ein  anderes 
zeigt  auf  meine  Zeichnung,  behauptet  auch,  es  sei  nichts  falsch  und  macht  dann 
eine  Verbesserung  (erst  Typ  O  1,  dann  Typ  H).  In  zwei  Fällen  wird  der  eben- 
gemachten Zeichnung  noch  ein  Strich  angefügt,  einmal  in  dem  sichtlichen  Be- 
streben, das  Längenverhältnis  zwischen  Grundstrich  und  Wegstrich  zu  ver- 
bessern. Die  zweite  Zeichnung  unterscheidet  sich  in  beiden  Fällen  nicht  wesentlich 
von  der  ersten.  Ein  Knabe  beantwortet  meine  Frage,  ob  das  genau  so  ist,  mit 
nein,  macht  aber  doch  eine  Verbesserung.  Fünf  Kinder  endlich  antworten  über- 
haupt nicht,  machen  aber  eine  zweite  Zeichnung,  die  in  allen  fünf  Fällen  besser 
ist  als  die  erste.  —  Die  ebengenannten  zehn  Kinder  haben  ihren  Fehler  erkannt, 
wenn  sie  dies  auch  noch  nicht  sprachlich  auszudrücken  vermögen.  Ihre  zweite 
Zeichnung  ist  ebensogut  oder  besser  als  die  erste. 

Es  bleiben  noch  fünf  Kinder,  die  auf  meine  Frage,  ob  das  genau  so  sei,  mit 
nein  antworteten,  auf  den  Fehler  (einmal  auf  meine  Zeichnung)  zeigten  und 
dann  verbesserten.  Drei  davon  haben  Typ  H,  aber  nicht  einmal  den  einheit- 
lichen Schriftduktus.  Zweimal  wurde  das  Blatt  vor  der  Verbesserung  gedreht  — 
ein  Versuch,  eine  leichter  nachzeichenbare  Ansicht  der  Vorlage  zu  erhalten. 

Das  Ergebnis  ist  also :  15  Kinder  (49  %)  sind  unfähig,  einen  Unterschied  zwischen 
ihrer  Zeichnung  und  der  Vorlage  zu  erkennen,  ein  Knabe  (3%)  erkennt  den  Unter- 
schied, kann  aber  nicht  verbessern,  und  15  Kinder  (48%)  verbessern,  10  davon, 
ohne  meine  Frage  richtig  beantworten  zu  können.  Nur  5  dieser  15  verbesserten 
Zeichnungen  sind  richtig,  und  auch  bei  diesen  5  muß  man  Lage  des  Grundstriches, 
Längen-  und  Druckverhältnisse  und  Geradheit  der  Striche  sehr  weitherzig 
beurteilen.  Nur  diese  16%  haben  das  Wesen  der  gestellten  Aufgabe 
erfaßt,  nur  diese  16%  waren  fähig,  die  Aufgabe  im  allgemeinen 
zu  erfüllen. 


Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  585- 

Um  im  einzelnen  Vergleiche  zu  ermöglichen,  sei  in  folgender  Tabelle  das  Er- 
gebnis der  Detailanalyse  der  drei  Versuchsreihen  zusammengestellt.  Die  beiden 
Teile  des  dritten  Versuchs  sind  gesondert  angegeben. 

A.Analyse.  1.  Ver-        2.  Ver-        S.Versuchsreihe 

suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Nicht  analysiert 12,82%      10,71%       3,33%     — ,— % 

2.  Falsch  analysiert 30,77%     21,42%     20,—%     18,75% 

a)  Weniger  als  drei  Striche  .    .    .    17,95%       7,14%       3,33%     —  —  % 

b)  Mehr  als  drei  Striche    ....    12,82%     14,28%     16,67%     18,75% 

3.  Bis  zur  Dreizahl  analysiert  .    .    .    56,41%     67,83%     80,00%     81,25% 

Die  Analyse  wird  von  Versuch  zu  Versuch  genauer.  Beim  dritten  Versuch 
sind  etwa  ein  Fünftel  der  Kinder  unfähig,  bis  zur  Dreizahl  zu  analysieren. 

B.  Reihenfolge  der  Analyse.  j  ^^^.       2  y^^_       3  Versuchsreihe 

suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Von  links  nach  rechts  analysiert.    58,97%     74,97%     76,67%     62,50% 

2.  Von  rechts  nach  links  analysiert.    20,51%      14,28%      13,33%     12,50% 

3.  Vom  Grundstrich  aus  analysiert  .      7,69%       7,14%     10,—%     25,—% 

Zweite  imd  dritte  Versuchsreihe  sind  in  der  Reihenfolge  der  Analyse  ziemlich 
gleich,  die  zweiten  Zeichnungen  der  dritten  Versuchsreihe  haben  die  Reihenfolge 
schlechter  als  die  ersten,  weil  die  Erinnerung  an  meine  Vorzeichnung  nicht  mehr 
so  frisch  war  und  weil  infolge  meiner  Fragen  eine  gewisse  vorsichtige  Unsicherheit 
über  die  Kinder  gekommen  war. 

C.  Der  Grundstrich.  ^   ^^^_        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 

suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Grundstrich  senkrecht 30,77%  7,14%  6,67%  25,00% 

2.  Grundstrich  rechtsschräg   ....  30,77%  67,83%  70,00%  50,00% 
•  3.  Grundstrich  Schriftlage 17,95%  14,28%  23,33%  18,75% 

4.  Grundstrich  linksschräg 12,82%  — ,— %  — ,— %  — ,— % 

5.  Grundstrich  fehlt 12,82%  10,71%  3,33%  —  — % 

6.  Grundstrich  aufwärts  gezeichnet.  23,08%  42,84%  30,—%  25,—% 

7.  Grundstrich  zuerst  gezeichnet  .    .  30,77%  10,71%  6,67%  12,50% 

8.  Grundstrich  später  umgedeutet    .  23,08%  3,57%  6,67%  12,50% 

9.  Mehrere  Grundstriche 15,38%  14,28%  16,67%  18,75%» 

Von  der  zweiten  zur  dritten  Versuchsreihe  ist  ein  Fortschritt  bezüglich  der 
Vorlagerichtigkeit  der  Lage  des  Grundstriches  festzustellen,  immerhin  halten 
noch  etwa  drei  Viertel  der  Kinder  an  der  Steilschrift  fest. 

D.  Der  Anstrich.  ,   ._  „  .,.  .  „         u     -u 

1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 

1.  Spitzer  Winkel  zwischen  Anstrich  suchsreihe  suchsreihe  1. Zeichn.  2.  Zeichn. 
und  Grundstrich.    , 53,84%     85,68%     83,33%     93,75% 

2.  StumpferWinkel  zwischen  Anstrich 

und  Grundstrich 12,82%       3,57%     16,67%       6,25% 

3.  Anstrich  und  Grundstrich  unver- 

bunden 7,69%       3,57%      -,-%     12,50% 


586  Formauffassung  und  Schreib  versuch  im  Kindergartenalter. 

1.  Ver-  2.  Ver-  3.  Versuchsreihe 

Suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.Zeichn. 

4.  Verbindungsstrich  zum  Grundstrich   23,08%  17,85%  13,33%      18,75% 

5.  Anstrich  fehlt 17,95%  10,71%       3,33%     — ,— % 

6.  Anstrich  so  lang  als  Grundstrich   .    17,95%  39,27%  43,33%     25,—% 

7.  Anstrich  länger  als  Grundstrich  .    28,20%  32,13%  43,33%     50,—% 

8.  Anstrich  kürzer  als  Grundstrich   .    28,20%  17,85%  16,67%     25,—% 

9.  Anstrich  zuletzt  gezeichnet    .    .    .      7,69%  3,57%  — ,— %       6,25% 
10.  Zwei  Anstriche — ,— %  — ,— %  10,—%      12,50% 

Nach  der  Aufforderung  zur  verbesserten  Zeichnung  wurde  der  spitze  Winkel 
zwischen  Anstrich  und- Grundstrich  um  etwa  10%  besser  gezeichnet,  auch  das 
Längen  Verhältnis  zwischen  diesen  beiden  Strichen  besserte  sich  um  einige  Prozent. 

E.  Der  Wegstrich. 

1.  Ver-        2.  Ver-         3.  Versuchsreihe 
Suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Spitzer   Winkel  zwischen    Grund- 
strich und  Wegstrich 48,72%     74,97%     80,—%    100,—% 

2.  Stumpfer  Winkel  zwischen  Grund- 


strich und  Wegstrich 10,25%       7,14%      16,67% 


0/ 


/o 


3.  Wegstrich    und    Grundstrich    un- 

verbunden 2,56%  — ,— %  3,33%  — ,— % 

4.  Verbindungsstrich  zum  Grundstrich  7,69%  21,42%  3,33%  18,75% 

5.  Wegstrich  fehlt 30,77%  17,85%  6,67%  —  — % 

6.  Wegstrich  so  lang  als  Grundstrich  23,08%  28,56%  26,67%  12,50% 

7.  Wegstrich  kürzer  als  Grundstrich  7,69%  17,85%  16,67%  25,—% 

8.  Wegstrich  länger  als  Grundstrich .  28,20%  39,27%  53,53%  62,50% 

9.  Anstrich  und  Wegstrich  parallel.  25,64%  50,—%  53,53%  56,25% 

10.  Anstrich  so  lang  als  Wegstrich    .  15,38%  46,41%  50,—%  37,50% 

11.  Anstrich  kürzer  als  Wegstrich  .    .  15,38%  21,42%  33,33%  43,75% 

12.  Anstrich  länger  als  Wegstrich  .    .  17,95%  17,85%  16,67%  18,75% 

Infolge  der  gesteigerten  Zeichenfertigkeit  wird  der  spitze  Winkel  beim  dritten 
Versuch  von  80%,  bei  der  Wiederholung  sogar  von  100%  fertig  gebracht.  Längen- 
verhältnis zwischen  Grundstrich  und  Wegstrich  und  Parallelismus  zwischen 
Anstrich  und  Wegstrich  weisen  fortschreitende  Besserung  auf,  bseonders  auch 
nach  meiner  Aufforderung  zur  genauen  Nachbildung.  Dagegen  ist  beim  zweiten 
Versuch  der  dritten  Reihe  das  Längenverhältnis  zwischen  Anstrich  und  Weg- 
strich schlechter  getroffen  als  beim  ersten  —  wohl  eine  Folge  der  durch  meine 
Fragen  hervorgerufenen  Unsicherheit. 

F.  Schriftduktus. 

1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 
suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  In  einem  Zuge 56,41%     82,11%     90,—%     68,75% 

2.  Einmal  abgesetzt,  dann  im  gleichen 

Punkte  fortgefahren 20,51%      10,71%       6,67%      12,50% 

3.  Einmal  abgesetzt,  dann  i  n  einem  an- 
deren Punkte  fortgefahren    .    .    .    15,38%      10,71%      10,—%     25,—% 


Formauffassung  und  Schreibversueh  im  Kindergartenalter.  587 

1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 
Suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

4.  Mehrmals  abgesetzt 10,25%       3,57%       3,33%       6,25% 

5.  Anstrich    vom    Grundstrich    weg- 


gezogen      23,08%       7,14%     10,-%     25,- 


0/ 

■  /o 


6.  Wegstrich  zum   Grundstrich  hin- 
gezogen   2,56%  -,-%  -,-%  -,-% 

7.  Alle  Striche  abwärts 2,56%  — ,— %  — ,— %  —  — % 

8.  Anstrich  unten  angesetzt  ....  25,64%  35,70%  30,—%  18,75% 

9.  Wegstrich  oben  angesetzt .    .    .    .  23,08%  35,70%  30,—%  18,75% 

Von  Versuch  zu  Versuch  wächst  die  Zahl  der  Kinder,  die  den  einheitlichen 
Schriftduktus  erkennen.  Beim  zweiten  Versuch  der  dritten  Reihe  macht  sich 
wieder  die  schon  öfters  erwähnte  Unsicherheit  geltend  und  beeinflußt  das  Er- 
gebnis in  ungünstigem  Sinne. 

G.  Strichart. 

1.  Ver-  2.  Ver-  3.  Versuchsreihe 

suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Grundstrich  gerade 41,03%  50,—%  50,—%     50,—% 

2.  Grundstrich  einmal  abgebogen.    .    15,38%  24,99%  43,33%     25,—% 

3.  Grundstrich  zweimal  abgebogen  .      7,69%  17,85%       6,67%      18,75% 

4.  Grundstrich  zittrig 20,51%       7,14%  — ,— %       6,25% 

5.  Anstrich  gerade 43,59%  46,41%  53,33%     31,25% 

6.  Anstrich  abgebogen 20,51%  35,70%  33,33%     50,—% 

7.  Anstrich  zittrig 17,05%       7,14%  16,67%      18,75% 

8.  Wegstrich  gerade 41,03%  50,—%  46,67%     37,50% 

9.  Wegstrich  abgebogen 7,69%  28,56%  26,67%     50,—% 

10.  Wegstrich  zittrig 15,38%       3,57%     26,67%     18,75% 

11.  Mehrfacher  Strich 17,95%      — ,— %     — ,— %     — ,— % 

12.  Im  Strich  abgesetzt 5,14%       3,57%     — ,— %     — ,— % 

Zweite  Versuchsreihe  und  erster  Versuch  der  dritten  Reihe  sind  ziemlich  gleich, 
der  zweite  Versuch  der  dritten  Reihe  steht  hinter  dem  ersten  zurück. 

H.  Druckverhältnisse. 

1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 
suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 

1.  Gar  kein  Druck 69,24%     74,97%     97,67%     93,75% 

2.  Druck  durch  mehrfachen  Strich    .    12,82%      — ,— %     —,—%     — ,— % 

3.  Wirklicher  Druck 5,14%     24,99%       6,67%       6,25% 

Die  Verschlechterung  der  Druckverhältnisse  von  der  zweiten  zur  dritten  Ver- 
suchsreihe scheint  mir  mehr  zufällig  zu  sein.  Es  ist  nicht  anzunehmen,  daß  die 
Kinder  erkannten,  daß  die  Bleistifttechnik  sich  nicht  zur  Darstellung  der 
Druckverhältnisse  eignet  und  deshalb  auf  jeden  Versuch  der  Darstellung  ver- 
zichteten. 

®      *  1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 

suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.  Zeichn. 
1.  Zeichnung  im  Eck 12,82%       7,14%      13,33%      12,50% 


588  Forniauffassung  und  Sehreibversuch  im  Kindergartenalter, 

Diesem  Ergebnis  ist  meiner  Ansicht  nach  kein  Wert  beizumessen. 

1.  Ver-        2.  Ver-        3.  Versuchsreihe 
Suchsreihe  suchsreihe  1.  Zeichn.  2.Zeichn. 
2.  Haken  beim  Absetzen 10,25%     21,42%     16,67%     18,75% 

Auch  hier  ist  die  Differenz  zu  gering,  als  daß  daraus  Schlüsse  gezogen  werden 
könnten. 

Die  Detailanalyse  der  dritten  Versuchsreihe  ergibt,  daß  die  ersten  Versuche 
der  dritten  Reihe  den  Versuchen  der  zweiten  Reihe  gleichgewertet  werden 
müssen,  wenn  nicht  durch  die  inzwischen  gesteigerte  Zeichenfertigkeit  der 
Kinder  günstigere  Voraussetzungen  geschaffen  worden  sind.  Dies  ist  z.  B.  der 
Fall  bei  der  Analyse  zur  Dreizahl,  beim  Längenverhältnis  zwischen  den  einzelnen 
Strichen,  beim  Parallelismus  zwischen  Anstrich  und  Wegstrich,  besonders  auch 
bei  den  spitzen  Winkehi.  —  Die  zweiten  Versuche  der  dritten  Reihe  stehen 
hinsichtlich  der  Ausführung  hinter  den  ersten  zum  Teil  ziemlich  bedeutend 
zurück,  wenn  auch  die  Gesamtform  besser  geworden  ist.  Grund  ist  eine  durch 
meine  Frage  verursachte  Zaghaftigkeit,  die  Kinder  sind  dadurch  unsicher  und 
ängstlich  gemacht  worden. 

Aus  der  dritten  Versuchsreihe  folgt: 

1.  Die  Fähigkeit  der  Kinder,  eine  gegebene  Vorlage  nachzuzeichnen,  wird 
durch  fleißige  Übung  im  Gedächtniszeichnen  und  im  Zeichnen  nach  der  Natur 
wesentlich  gefördert.  Damit  ist  die  Pestalozzianische  Forderung,  daß  der  Schreib- 
unterricht aus  dem  Zeichenunterricht  hervorwachsen  muß,  experimentell  nahe- 
gelegt, andererseits  ist  gezeigt,  daß  auch  das  Zeichnen  von  Lebensformen  für  den 
ersten  Schreibunterricht  von  Bedeutung  ist,  nicht  nur  das  den  Kindern  oft 
iminteressante  Zeichnen  geometrischer  Gebilde. 

2.  Eine  Aufforderung  der  Kinder  zur  Selbstkritik  raubt  ihnen  die  unmittel- 
bare Sicherheit  im  Schaffen,  hat  also  auf  das  Ergebnis  der  Zeichnung  im  all- 
gemeinen keinen  günstigen  Einfluß,  wenn  auch  die  Gesamtform  der  verbesserten 
Zeichnung  tatsächlich  einenFortschritt  aufzuweisen  hat.  Darüber,  ob  auf  höherer 
Altersstufe,  vielleicht  schon  auf  der  Mittelstufe  der  Volksschule,  die  Aufforderung 
und  Erziehung  zur  Selbstkritik  nicht  bessere  Früchte  trägt,  können  diese 
Untersuchungen  an  Kindergartenzöglingen  nichts  ausmachen. 

3.  Wenn  50%  der  Kinder  unfähig  sind,  das  Wesen  des  „c"-Striches  klar  zu  er- 
fassen, wenn  nur  16%  imstande  sind,  die  Aufgabe,  den„c"-Strichnachzuzeichnen, 
nachdem  er  ihnen  vorgezeichnet  worden  ist,  im  allgemeinen  richtig  zu  erfüllen, 
so  bedeutet  das  eine  geradezu  vernichtende  Kritik  aller  Bestrebungen,  den  Schreib- 
unterricht zu  verfrühen.  Wir  überschätzen  gewöhnlich  ganz  ungemein  die  Fähig- 
keit der  Bander,  eine  gegebene  einfachste  Vorlage  nachzuzeichnen, 

V.  Gesamtergebnisse. 

Nachdem  wir  die  drei  Versuchsreihen  im  einzelnen  gewürdigt  haben,  müssen 
wir  die  psychologischen  und  pädagogischen  Gresamtergebnisse  zusammenfassen. 

1.  Von  einer  Versuchsreihe  zur  nächsten  ist  ein  Fortschritt  zu  verzeichnen, 
der  bei  der  zweiten  Versuchsreihe  ein  Ergebnis  der  Versuchsabänderung  ist  (es 
wurde  nicht  mehr  die  fertige  Vorlage  gezeigt,  sondern  die  Kinder  konnten  die 


Zu  Huth,  Formauffassung  und  Schreibversuch  (15.  Jalirg.  11/12.  Heft) 


Tafel  II. 


Formauffassung  un^^  Schreibversuch  im  Kindergartenalter.  589 

Entstellung  verfolgen),    bei    der    dritten  Versuchsreihe  wirkt    die  inzwischen 
gesteigerte  Zeichenfertigkeit  günstig  auf  das  Ergebnis  ein. 

2.  Die  Kinder  analysieren  einfache  Umrisse  und  Linienzusammenhänge  ur- 
sprünglich wahllos  bald  von  links,  bald  von  rechts. 

3.  Die  Kinder  sind  im  allgemeinen  nicht  fähig,  eine  ihnen  gegebene  einfache 
Strichform  nachzuzeichnen,  auch  nicht,  wenn  sie  die  Entstehung  der  Vorlage  sehen. 

4.  Wie  schon  oben  bemerkt,  ließ  ich  von  jedem  Kinde  eine  Freizeichnung  fer- 
tigen,  die  dann  den  drei  Schriftversuchen  beigefügt  wurde.  Ein  Vergleich  zwischen 
Schreib-  und  Zeichenleistung  ergibt  folgendes :  In  7  Fällen  ist  die  Schreibleistung 
der  Zeichenleistung  gleichwertig,  in  18  Fällen  ist  die  Schreibleistimg  der  Zeichen- 
leistung überlegen  und  nur  in  3  Fällen  ist  die  Schreibleistung  schlechter  als  die 
Zeichenleistung.  Bei  Beurteilung  der  Zeichnungen  wurde  auf  die  gegenständ- 
liche Deutlichkeit  das  Hauptgewicht  gelegt. 

Bei  der  Schreibleistung  wurde  die  dritte  Versuchsreihe,  also  die  mit  den  besten 
Ergebnissen  ge wertet.  Der  Vergleich  ist  insofern  nicht  einwandfrei,  als  die  Frei- 
zeichnungen eine  Klassenarbeit  sind.  Ich  ließ  alle  Kinder  gleichzeitig  zeichnen, 
was  sie  wollten  und  mir  dann  nur  von  jedem  einzelnen  erklären,  was  die  Zeich- 
nung bedeuten  solle.  Angenommen  aber,  es  hätte  diese  anfechtbare  Versuchs- 
anordnung keinen  Fehler  zur  Folge  gehabt,  so  ergäbe  der  Vergleich,  daß  die 
Schreibleistung  besser  sei  als  die  Zeichenleistung.  Die  Kinder  strengen  sich  bei 
dem  Nachzeichenversuch  mehr  an  als  bei  der  Aufforderung,  nach  Belieben  etwas 
zu  produzieren,  die  geistige  Gesamtleistung,  der  Energieaufwand  ist  beim  Schreib- 
versuch größer.  Freilich  das  Ergebnis  des  Schreibens  ist  überaus  kläglich,, 
während  die  Zeichnungen  als  originelle  selbständige  Kinderleistungen  an- 
zusprechen sind.  —  Zur  Ergänzung  hätte  auch  noch  eine  bestimmte  Aufgabe 
fürs  Zeichnen  gegeben  werden  sollen,  irgendeine  Lebensform,  die  allen  Kindern 
vertraut  gewesen  wäre.  An  dieser  Stelle  bedürfen  meine  Untersuchungen  viel- 
leicht am  meisten  der  Nachprüfung. 

5.  Die  Untersuchung  der  Korrelation  zwischen  allgemeiner  Begabung  und 
Schriftleistung  ergibt,  daß  in  20  Fällen  Begabung  und  Schriftleistung  über- 
einstimmen, bei  10  Kindern  bleibt  die  Schriftleistung  hinter  der  Begabung  zurück 
und  in  7  Fällen  fällt  der  Schrift  versuch  besser  aus,  als  man  es  nach  der  allgemeinen 
Begabung  erwarten  sollte.  Die  schlechtere  Schreibleistung  erklärt  sich  aus  der 
Schwierigkeit  der  gestellten  Anforderungen,  bessere  Schriften  mögen  auf  zu- 
fällige Dispositionen  der  Kinder  oder  auf  Spezialbegabungen  zurückzuführen  sein. 

6.  Endlich  untersuchte  ich  die  Differenzierung  der  Geschlechter  bei  den  Schreib- 
leistungen. 35%  der  Knaben  und  nur  29%  der  Mädchen  schreiben  relativ  „gut", 
55%  der  Knaben  und  53%  der  Mädchen  „mittel",  10%  der  Knaben  und  18% 
der  Mädchen  ,, schlecht".  Es  ergäbe  sich  also,  daß  die  Knaben  mehr  gute  und 
weniger  schlechte  Leistungen  als  die  Mädchen  aufzuweisen  haben,  ein  Resultat, 
das  auch  mit  anderen  Beobachtungen  übereinstimmt.  Zu  bedenken  ist  aber, 
daß  die  Zahl  der  Knaben  größer  war  als  die  der  Mädchen  und  daß  auch  die 
Begabungen  nicht  völlig  vergleichbar  sind.  Ich  möchte  also  diesem  Ergebnis 
nur  bedingten  Wert  beimessen. 

7.  Über  drei  Viertel  der  Kinder  wählen,  wenn  sie  unbeeinflußt  bleiben,  die 
Steilschrift  -r-  es  wäre  zu  bedenken,  ob  man  den  Kindern  nicht  auch  beim  ersten 
Schreibunterricht  gestatten  sollte,  steil  zu  schreiben. 


Tafel  III 

Y. 

X/\ 

3, 

¥. 

• 

6. 

?• 

V 

yW 

^0, 

-f/. 

^ 

-11 

(V 

4^. 

yy 

Formauffassung  und  Schreibversuch  im  Kindergartenalter. 


591 


8.  Die  spitzen  Winkel  unserer  Buchstaben  bieten  den  Schülern  ungemein  viel 
Schwierigkeit  beim  Nachzeichnen.  Die  im  allgemeinen  runderen  Formen  der 
Lateinschrift  würden  ihnen  leichter  fallen. 

9.  Die  Kinder  arbeiten  besser,  wenn  sie  die  Vorlage  entstehen  sehen,  als  wenn 
ihnen  dieselbe  fertig  vorgelegt  wird. 

10.  Zeichnen  von  Lebensformen  unterstützt  das  Nachzeichnen  gegebener 
Schriftformen  wesentlich. 

11.  Eine  Aufforderung  der  Kinder  zur  Selbstkritik  scheint  nicht  empfehlens- 
wert zu  sein. 

12.  Wir  stellen  an  die  Kleinen  unerfüllbar  schwere  Anforderungen,  wenn  wir 
ihnen  schon  im  vorschulpflichtigen  Alter  Buchstabenformen  zum  Nachzeichnen 
vorlegen. 

Ich  bin  vollständig  davon  überzeugt,  daß  meine  Untersuchungen  noch  in 
vielen  Punkten  der  Nachprüfung  bedürfen.^)  Besonders  erscheint  mir  anfechtbar, 


^)  Eine  solche,  mit  genau  den  gleichen  Resultaten,  ist  inzwischen  im  Juni  1913 
von  Frl.  Stindt  am  Kindergarten  der  Hohenzollernschule  in  München  erfolgt.  Dabei 
waren  die  Buchstaben  e  u  o  gewählt  worden.  Es  beteiligten  sich  23  Kinder,  und 
zwar  4  vier-,  .3  viereinhalb-,  vier  fünf-,  2  fünfeinhalb-,  4  sechs-  und  6  sechsein- 
halbjährige. Tafel  III  bringt  die  Typen,  die  sich  beim  Buchstaben  ,,e"  ergaben. 
Dazu  folgende  Übersicht: 


rn 

1,  Versuchs- 

2.  Versuchs- 

3.  Versuchsseihe 

Typ 

reihe 

reihe 

1 .   Zeichnung 

2.   Zeichnung 

Typ     1 

4,35''.', 

4,35% 

4,35% 

8,70"o 

30,44% 

26,09% 

26,09% 

26,09",, 

3 

13,05% 

4,35% 

13,05% 

4,35% 

4 

13,05% 

4,35% 

4,35% 

4.35%, 

.,        5 

4,35% 

— 

— 

13,05% 

6 

— 

4,35% 

8,70% 

8,70% 

7 

— 

8.70% 

8,70% 

— 

»        8 

— 

— 

— 

4,35% 

9 

8.70% 

4,35% 

4,35% 

— 

.,      10 

4,35% 

— 

— 

— 

„      11 

— 

4,35% 

— 

— 

„      12 

— 

— 

4,35% 

„      13 

4,35% 

4,35% 

— 

— 

„      14 

4,35%, 

— 

— 

— 

„      15 

4,35% 

— 

— 

— 

M       16 

— 

— 

— 

4,35% 

„      17 

— 

— 

— 

4,35% 

„      18 

21,74% 

43,48  "^> 

34,79% 

niM4";, 

Typ  1  der  Tafel  III  kam  bei  meinen  Untersuchungen  nicht  vor,  weil  meine  Ver- 
suchspersonen dui'chweg  47»  Jahre  zählten,  während  Frl.  Stindt  auch  Kinder  mit 
4  Jahren  heranzog.  Typ  2  (T.  III)  entspricht  genau  dem  Typ  A  (Tafel  I),  Typ  3 
(T.  III)  dem  Typ  B  (T.  I).  Typ  4  und  5  (T.  III)  fassen  die  beiden  dicht  nebeneinander 
liegenden  Grundstriche  des  ,,e"  als  einen  auf;  Typ  5  hat  die  verfehlten  Ansätze 
(vgl.  Typ  E,  T.  I).  Bei  den  Typen  6,  7,  9,  10  und  11  (T.  III)  wurde  nicht  er- 
kannt, daß  zum  2.  Aufstrich  des  ,,e"  abgesetzt  werden  muß,  das  ,,e"  wurde  als 
,,n"  aufgefaßt  (siehe  besonders  Typ  9).  6  und  7  stellen  (ebenso  wie  3 — 5)  Ana- 
loga zu  Typ  B  der  Tafel  I  dar,  weil  sie  nicht  bis  zur  Fünfzahl  der  Vorlage  analy- 


592  Die  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel. 

daß  die  Zahl  der  untersucliten  Zeidmungen  bei  den  drei  Versuchsreihen  nicht 
übereinstimmte.  Das  hatte  zur  Folge,  daß  eine  Zeichnung  bei  der  ersten  Versuchs- 
reihe 2,56%  galt,  bei  der  zweiten  Reihe  dagegen  3,57%,  beim  ersten  Versuch  der 
dritten  Reihe  3,33%  und  beim  letzten  Versuch  gar  6,25%.  Auch  ist  das  unter- 
suchte Material  (rund  120  Zeichnungen  von  37  Kindern)  viel  zu  gering,  als  daß 
daraus  allgemeingültige  Schlüsse  gezogen  werden  könnten.  Andererseits  war  das 
Kindermaterial  beidgeschlechtig,  von  gemischter  Begabung  und  aus  allen  Be- 
völkerungsschichten. Das  ermutigt  mich  zu  glauben,  daß  wenigstens  das  Haupt- 
ergebnis allgemeine  Geltung  beanspruchen  darf:  daß  es  ein  pädagogisches 
Unding  ist,  Kinder  im  vorschulpflichtigen  Alter  mit  Schrift- 
zeichen zu  belästigen. 


Die  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel. 

Von  Johannes  Prüfer. 

Vielfach  begegnet  man  der  Meinung,  daß  die  Bezeichnung  „Kindergärten" 
für  die  von  Fröbel  gegründeten  Anstalten  unnatürlich  und  gesucht  sei  und 
daher  keine  weitere  Verbreitung  verdiene.  Dem  muß  entschieden  entgegen 
getreten  werden;  denn  es  ist  wohl  selten  ein  Name  so  organisch,  so  mit 
Naturnotwendigkeit  aus  der  Sache  herausgewachsen,  die  er  bezeichnet,  als 
dies  hier  bei  dem  Worte  „Kindergarten"  geschehen  ist.  Die  ganze  Eigen- 
art der  Fröbelschen  Weltanschauung  spiegelt  sich  in  diesem  einen  Wort 
wieder.  Es  hat  daher  für  den  Kenner  mehr  Farbe  und  [Charakter,  als 
jede  andere  künstlich  gemachte  Bezeichnung. 


sierten.  Typ  10  hat  bis  zur  Fünf  zahl  analysiert,  aber  mit  dem  Grundstrich  be- 
gonnen und  den  1.  Aufstrich  am  Schliiß  (als  Abstrich)  angefügt  (vgl.  Typ  E,  T.  I). 
Typ  11  hat  beobachtet,  daß  am  Schluß  kein  Abstrich  stehen  darf  und  daher  den 
6.  Strich  angefügt.  Typ  12  und  14,  auch  13  kommen  der  Vorlage  näher;  bei 
12  und  14  fehlt  der  Wegstrich,  bei  13  der  kleine  Aufstrich.  Zu  Typ  12  vgl.  das 
oben  über  die  Schwierigkeit  des  spitzen  Winkels  Gesagte.  Typ  15 — 17  sind  Spiegel- 
bilder, wahrscheinlich  von  Linkshändern  gezeichnet  (das  Material  des  Frl.  Stindt 
läßt  nicht  erkennen,  ob  rechts  oder  links  gezeichnet  wurde).  Bei  15  und  16  sind 
Ansätze  verfehlt;  17  stellt  die  Vorlage  genau  auf  den  Kopf.  (Vgl.  hierzu  Tafel  I, 
Typ  F2,  0  2  und  K2).  Zu  18  wurden  die  im  allgemeinen  vorlagerichtigen 
ZeichnTingen  gezählt;  daß  verhältnismäßig  viele  Kinder  (bei  der  2.  Versuchsreihe 
43%)  Typ  18  fertig  brachten,  liegt  daran,  daß  4  sechs-  und  6  sechseinhalb  jährige 
Kinder  den  Versuch  mitmachten,  während  meine  ältesten  5V2  Jahre  zählten.  Von 
der  1.  zur  2.  Versuchsreihe  ist  auch  bei  Frl.  Stindt  ein  gewaltiger  Fortschritt  er- 
kennbar (etwa  20%),  er  ist  darin  begründet,  daß  die  Kinder  die  Vorlage  entstehen 
sahen.  2.  Versuchsreihe  und  1.  Zeichnung  der  3.  Reihe  sind  ziemlich  gleichwertig, 
weil  die  Zeichenfertigkeit  der  Kinder  Frl.  Stindts  sich  gleichblieb,  während  meine 
Schüler  zwischen  2.  und  3.  Versuch  14  Lebensformen  zeichneten.  Bei  der  2.  Zeich- 
nung der  3.  Reihe  ist  genau  wie  bei  meiner  Untersuchving  einerseits  eine  gewisse 
Unsicherheit  (Zunahme  der  Typen  1  und  5),  andererseits  eine  tatsächliche  Ver- 
besserung (Zunahme  der  Typen  16 — 18)  festzustellen.  —  Vor  allen  Dingen  ist  mein 
Hauptergebnis,  daß  vorschulpflichtige  Kinder  zum  Schreibunterricht  unfähig  sind, 
dtirch  Frl.  Stindts  Nachprüfung  vollkommen  bestätigt:  trotz  des  größeren  Alters 
ihrer  Kinder  vermochten  im  besten  Falle  nur  43%  der  Vorlage  einigermaßen  gerecht 
zu  werden. 


Die  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel.  593 

_ 

Fröbels  Weltanschauung  war  durchtränkt  von  dem  starken  idealistischen 
Zuge  seiner  Zeit.  „Es  existiert  keine  Macht  als  die  des  Gedankens",  das 
war  Fröbels  tiefste  Überzeugung.  Das  Geistige  ist  das  Treibende,  das  ewig 
Gestaltende  in  der  Welt.  Die  sichtbaren  Dinge  sind  nur  Produkte,  sind 
nur  Niederschläge  des  Geistes.  Durch  rastloses  Gestalten,  gleichsam  durch 
ständiges  Ringen  mit  der  Materie  entwickelt  sich  der  Weltgeist  höher  und 
höher.  Also  nicht  die  einzelnen  Geschöpfe  entwickeln  sich  auseinander,  wie 
die  neuere  Abstammungstheorie  lehrt,  sondern  das  hinter  den  Erscheinungen 
liegende  Intelligible,  das  entwickelt  und  entfaltet  sich  und  bringt  die  immer 
neuen  und  höheren  Erscheinungsformen  hervor. 

In  allen  Geschöpfen  pulsiert  also  der  eine  Weltgeist,  die  gewaltige  eine 
Urkraft,  die  das  ganze  All  durchdringt.  Vom  unscheinbaren  Kristall  bis 
hinauf  zum  Menschen,  alles  ist  erfüllt  und  getragen,  geschaffen  und  durch- 
drungen von  der  einen  gewaltigen  Kraft,  von  dem  einen  unendlichen  Geist. 
Hinter  der  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  Hegt  eine  Einheit,  eine 
Kraft.  „Diese  Einheit  ist  Gott."  —  „Alles  ist  hervorgegangen  aus  dem 
Göttlichen,  aus  Gott  —  und  durch  das  Göttliche,  durch  Gott  einzig  bedingt. 
In  Gott  ist  der  .einzige  Grund  aller  Dinge."  ^) 

Im  Lichte  dieser  gewaltigen  „Lebenseinigung"  muß  nun  auch  das  Leben 
des  Menschen,  das  Leben  jedes  Einzelnen  betrachtet  werden.  Es  ist  nichts 
anderes  als  ein  Tropfen  aus  der  unerschöpflichen  Quelle,  ein  Strahl  des 
ewigen  Lichts,  „ein  Funke  aus  Gott".  Es  gibt  nur  darum  so  zahllos  Ver- 
schiedenes in  der  Welt,  weil  das  Göttliche  strebt,  sich  in  aller  Mannig- 
faltigkeit —  Unendlichkeit  auch  hier  —  kund  zu  tun  und  darzustellen. 
Jedes  Einzelleben  ist  seinem  innersten  Wesen  nach  der  einen  Urkraft  ver- 
wandt, es  ist  Geist  von  einem  Geist.  Hier  wie  dort  findet  sich  daher  der- 
selbe unermüdliche  Drang  nach  Selbstdarstellung  und  Höherentwicklung, 
der  unerschöpfliche  Drang  nach  Tätigkeit.  Darum  ist  kein  Trieb  im 
Menschen  stärker  als  der  Tätigkeits-  und  Gestaltungstrieb,  darum  ist  auch 
schöpferisches  Gestalten  und  Schaffen  das  höchste  Glück  des  Menschen. 
Der  Mensch,  der  die  in  ihm  wirkende  Urkraft  ungehemmt  zur  Entfaltung 
bringen  kann,  lebt  „naturgemäß"  und  glücklich.  Dagegen:  jede  Hemmung 
dieser  auf  Selbstentwicklung  hindrängenden  Urkraft  ruft  Unbehagen  und 
Enttäuschung  hervor,  macht  also  unzufrieden  und  unglücklich.  Glücklich 
ist  also  nur  der  Mensch,  der  seiner  Bestimmung  gemäß  leben,  d.  h.  der  in 
Übereinstimmung  mit  dem  in  ihm  wirkenden  Geist  leben  kann.  Also  nur, 
wer  in  diesem  Sinn  tätig  sein  kann,  wird  glücklich  sein.  Nur  der  kommt 
dem  Ziele  der  Menschheit  näher,  welches  besteht  in  der  „Darstellung  des 
Ewigen  im  Zeitlichen,  des  Bleibenden  im  und  am  Vergänglichen,  des 
Himmlischen  im  Irdischen,  des  Seins  im  Leben,  des  Göttlichen  im 
Menschlichen". 

Aufgabe  der  Erziehung  ist  es  nun,  Sorge  dafür  zu  tragen,  daß  der  Mensch 
.schon  von  klein  auf  die  in  ihm  wirkende  Kraft,  also  sein  Wesen,  ungehemmt 
und  freitätig  entfalten  kann.  Das  geschieht,  wenn  das  Kind  von  Anfang 
an  in  seiner  Weise  tätig  sein  kann  und  wenn  die  Erziehung  alle  Hinder- 
nisse  und   alle  schädlichen   Einflüsse   fernhält.     Behütend   und   nachgehend 

')  Fr. 'Fröbel  „Menschenerziehung".     Keilhau  1826,  S.  1  u.  2. 
Zeitschrift  r.  pfidagog.  Psychologie.  38 


594  Die  echte  Idoe  des  Kindergartens  nach  Fröbel. 

muß  die  Erziehung  sein,  nicht  vorschreibend  und  fordernd.  Was  nicht 
bereits  keimartig  im  Menschen  vorhanden  ist,  läßt  sich  nicht  aus  ihm 
herausholen.  Der  junge  Mensch  wächst  heran  wie  die  Blume  auf  dem 
Felde  oder  wie  der  Baum  des  Waldes.  Das  Beste  und  Stärkste  steckt 
bereits  von  Natur  aus  in  ihm.  Es  wird  sich  in  vielen  Fällen  auch  ohne 
menschliches  Zutun  und  ohne  menschliche  Kunst,  sagen  wir,  ohne  absicht- 
liche Erziehung  entfalten.  Wie  aus  dem  Eichkern  ein  stolzer,  schöner  Eich- 
baum werden  kann,  so,  meint  Fröbel,  kann  auch  aus  jedem  Kinde  ein  Voll- 
mensch werden.     Das  Meiste  und  Wichtigste  tut  ja  doch  die  Natur  selbst. 

Freilich  nicht  jeder  Keim  entfaltet  sich  so  günstig,  mancher  verkümmert. 
Und  warum?  Weil  seine  Entwicklung  durch  schädliche  Einflüsse  gestört 
wurde.  Der  Mensch  verpflanzt  daher  die  Gewächse,  an  deren  ungestörter 
Entfaltung  ihm  liegt,  in  seinen  Garten.  Hier  kann  er  fast  alles  beseitigen 
und  fernhalten,  was  schädlich  auf  die  Pflanzen  einwirkt,  andernteils  kann 
er  durch  seine  Kunst  manches  Fehlende  herbeischaffen.  Im  Garten  gedeihen 
daher  die  meisten  Pflanzen  besser  als  draußen  in  der  Wildnis.  Ebenso  ist 
es  mit  den  jungen  Menschenkeimen.  Auch  sie  brauchen  manches,  was  ihnen 
fehlt,  wenn  sie  „wild"  aufwachsen,  auch  sie  bedürfen  des  Schutzes  gegen 
schädliche  Einflüsse,  auch  sie  bedürfen  der  Sorgfalt  und  Pflege  erfahrener 
Gärtner  und  Gärtnerinnen.  Sie  sollten  daher  ebenso  in  einem  Garten 
heranwachsen  wie  zahllose  unserer  Pflanzen  —  in  einem  Garten,  nicht  in 
einem  Treibhaus.  Wie  die  Gewächse  sollten  sie  sich  entfalten  können, 
organisch,  naturgemäß,  von  innen  heraus,  nur  pflegend  behütet  von  treuen 
Menschen.  Als  bescheidene  Gärtner  sollten  sich  die  Erzieher  und  Er- 
zieherinnen fühlen,  als  Gärtner,  die  sich  dessen  stets  bewußt  sind,  daß  sie 
nichts  aus  ihren  Pfleglingen  machen  können,  was  nicht  bereits  von  Natur 
aus  in  ihnen  lebt,  die  daher  auch  gar  nichts  anderes  wollen,  als  Hüter  und 
Förderer  dessen  zu  sein,  was  Gott  in  ihre  Pfleglinge  hineingelegt  hat. 
Diesen  Idealzustand  herbeizuführen,  einen  solchen  Garten  der  Kindheit  zu 
schaffen,  einen  solchen  „Kindergarten",  dahin  zielte  Fröbels  Streben.  — 
Also  nicht  ein  Haus  mit  seinen  engen  Wänden,  nicht  eine  Anstalt  für 
kleine  Kinder  war  es,  was  Fröbel  zunächst  vorschwebte,  sondern  dieser 
Idealzustand  echtester,  tiefster  Erzieher-Gesinnung  und  treuester  behütender 
Kinderpflege.  Wenigstens  über  das  deutsche  Land  sollte  sich  dieser  Zu- 
stand erstrecken.  Das  war  es,  was  Fröbel  am  28.  Juni  1840  als  „all- 
gemeinen deutschen  Kindergarten"   begründen  wollte. 

Er  schrieb  damals:  „Je  ungeteilter  ich  mich  der  ersten  Kinderpflege  hin- 
gebe, desto  mehr  sehe  ich  ein,  daß  dasjenige,  was  notwendig  für  die  erste 
Erziehung  des  Menschengeschlechts,  für  die  Kindheit  geschehen  muß,  am 
wenigsten  durch  den  Mann  und  besonders  nicht  durch  ihn  vereinzelt 
geschehen  kann,  sondern  daß  ihm  vor  allem  der  weiblich  mütterliche  Sinn 
der  Frauen,  die  weiblich  mütterliche  Liebe  zur  Seite  stehen  muß."  In 
jedem  Frauenherzen,  meint  er,  wohnt  ein  kinderliebender  Sinn.  Dieser 
führt  nicht  nur  zu  inniger  Einigung  mit  Gott,  Natur  und  Menschheit,  sondern 
auch  ganz  besonders  zur  Einigung  untereinander.  Es  ist  ja  ein  gemeinsames 
Werk,  an  dem  alle  Frauen  und  Mütter  arbeiten:  die  Auferziehung  eines 
neuen   Geschlechtes.     Und    wenn    sie   das  Kind  nicht  nur   als  Einzelwesen 


Die  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel.  595 

betrachten,  sondern  als  Glied  des  gesamten  Menschengeschlechtes  und  als 
„Fortbildner"  desselben,  dann  werden  sie  die  Höhe  ihres  Berufes,  die  „Würde 
der  Frauenbestimmung  als  Kindheitspflegerinnen"  erkennen.  „In  der  gott- 
einigen Klarheit,  Tiefe  und  Fülle  wie  Wirksamkeit  des  weiblichen  Gemütes 
als  Pflegerin  der  Kindheit  ruht  das  ganze  Wohl  der  aufkeimenden  Mensch- 
heit." „Frauenleben  und  Kinderliebe,  Kinderleben  und  Frauensinn,  überhaupt 
Kindheitspflege  und  weibliches  Gemüt  trennt  nur  der  Verstand.  Sie  sind 
ihrem  Wesen  nach  eins.  Denn  Gott  hat  das  leibliche  wie  das  geistige 
Fortbestehen  des  Menschengeschlechts  durch  die  Kindheit  in  das  Frauenherz 
und  Gemüt,  in  den  echten  Frauensinn  gelegt  .  .  .  Allein  das  Leben  hat 
in  seinen  mannigfachen  Entwicklungen  und  in  seiner  vielseitigen  Ausbildung 
oft  gegen  das  Gefühl  der  Mutter,  überhaupt  gegen  das  weibliche  Gemüt 
und  gegen  die  Bedürfnisse  des  Kindes  durch  die  Riesengewalt  äußerer  Ver- 
hältnisse eine  unnatürliche  Trennung  zwischen  Kindheit  und  Frauenleben, 
zwischen  Weiblichkeit  und  Kinderleben  gestellt."  Vor  allem  der  ersten 
Kindheitspflege  muß  das  Frauenleben  wieder  ganz  zugewandt  werden,  „Frauen - 
leben  und  Kindheitspflege  muß  allgemein  wieder  geeint,  weibliches  Gemüt 
und  sinnige  Kinderbeachtung  muß  wieder  ein  Einiges  werden".^)  Wenn 
das  einst  überall  im  deutschen  Vaterlande  der  Fall  ist,  dann  ist  der  all- 
gemeine deutsche  Kindergarten  erstanden,  dann  ist  diese  große  Idee 
Fröbels  verwirklicht. 

Daß  dies  nicht  mit  einem  Schlage  geschehen  konnte,  das  wußte  Friedrich 
Fröbel  so  gut  wie  jeder  andere.  Aber  allmählich  hoffte  er  doch  diesem 
schönen  Ziele  näher  zu  kommen.  Zunächst  wollte  er  in  Blankenburg  eine 
große  Anstalt  gründen,  aus  der  gleichsam  der  Sauerteig  hervorgehen  sollte, 
der  die  gesamte  deutsche  Frauenwelt  nach  und  nach  durchdringen  konnte. 
An  der  geplanten  Anstalt  sollten  die  einsichtigsten  und  kenntnisreichsten, 
den  Grundgedanken  des  Ganzen  als  ihren  eigenen  Lebensgedanken  erkennen- 
den und  ausführenden  Männer  als  erziehende  Lehrer  angestellt  werden;  und 
sie  sollte  die  belehrendsten  Sammlungen  und  Bildungsmittel  in  sich  zu 
einigen  suchen.  Es  war  also  eine  Art  Seminar  für  Kindergärtnerinnen,  was 
Fröbel  in  Blankenburg  gründen  wollte.  Die  hier  ausgebildeten  Kindheits- 
pflegerinnen sollten  den  Gedanken  wahrer  Kindererziehung  allmählich  über 
ganz  Deutschland  verbreiten.  Zur  Errichtung  dieser  Anstalt  aber  brauchte  Fröbel 
sehr  viel  Geld,  „nach  einem  allgemeinen  Überschlag"  ungefähr  ein  Grund- 
kapital von  100000  Talern.  Fröbel  hoffte  diese  große  Summe  durch  Aktien 
aufzubringen,  und  zwar  rechnete  er  dabei  vor  allem  auf  das  Interesse  der 
deutschen  Frauen  und  Jungfrauen.  Aktien  zu  10  Talern  sollten  ausgegeben 
werden,  sie  waren  nicht  zu  groß  und  nicht  zu  klein,  und  bei  10000  Teil- 
nehmerinnen war  das  Geld  geschafft.  10000  Teilnehmerinnen  aber,  meinte 
Fröbel,  müßten  sich  leicht  finden,  kämen  doch  in  diesem  Falle  nur  zwei 
bis  drei  auf  jeden  namhaften  Ort  Deutschlands.  —  Aber  der  Plan  ließ  sich 
nicht  verwirklichen,  es  wurden  nur  155  Aktien  gezeichnet;  die  dadurch 
eingehende  Summe  war  zu  klein,  um  die  Anstalt  ins  Leben  zu  rufen.^) 

')  Fr.  Fröbel  „Aufruf«  vom  1.  Mai  1840. 

'^)  Ausführlicheres  siehe  „Aus  Natur  und  Geisteswelt"  Bd.  82  „Friedrich  Fröbel". 
Verl.  B.  ('■.  'r<nbnor  Leipzig  1914.  S.  75  ff. 

38* 


596  I^i^  echte  Idee  des  Kindergartens  nach  Fröbel. 

Gleichzeitig  mit  dieser  großen  Blankenburger  Anstalt  sollten  überall  im 
deutschen  Lande  Spielanstalten  gegründet  werden,  wo  die  Kleinen  nach 
Fröbelschen  Grundsätzen  gepflegt  und  beschäftigt  werden  sollten.  Diese 
Anstalten  sollten  gleichsam  Keimpunkte  des  allgemeinen  deutschen  Kinder- 
gartens werden.  Für  diese  Anstalten  wurde  etwa  seit  dem  Jahre  1843 
ganz  allgemein  die  Bezeichnung  „Kindergärten"  üblich.  Hier  sollten  die 
Kleinen  alles  das  finden,  was  für  ihre  günstige  Weiterentwicklung  notwendig 
ist:  Gelegenheit,  ihre  Kräfte  zu  entfalten,  Schutz  vor  schädlichen  Einflüssen, 
Pflege  erfahrener  Frauen.  Aber  sie  sollten  noch  mehr  sein.  Von  ihnen 
aus  sollte  sich  allmählich  die  rechte  Erziehergesinnung  verbreiten.  Sie  sollten 
Stätten  der  Anschauung  und  Belehrung  sein  in  bezug  auf  früheste  Kinder- 
pflege und  Kinderbeschäftigung,  ein  Mittelpunkt  für  alle  kinderliebenden 
Frauen  und  Mädchen  des  betreffenden  Ortes.  Darin  liegt  vor  allem  das 
große  kulturfördernde  Moment  der  Kindergärten,  ein  Moment,  das  auch  in 
der  Gegenwart  noch  längst  nicht  genügend  gewürdigt  wird.  Nicht  Selbst- 
zweck waren  unserm  Fröbel  die  Kindergärten  —  er  wußte,  daß  sie  das 
Familienleben  niemals  ganz  ersetzen  können  und  daß  der  beste  Kinder- 
garten der  Wirkungskreis  einer  ganz  ihren  Kindern  lebenden  echten  Mutter 
ist  —  sondern  sie  waren  ihm  vor  allem  Mittel  zum  Zweck:  sie  sollten 
den  „allgemeinen  deutschen  Kindergarten"  herbeiführen  helfen,  jenen  Ideal- 
zustand, in  dem  echter  Frauensinn  und  naturgemäße  Kinderpflege  ein  innig 
geeintes  Ganzes  bilden.  „Kindergarten"  konnte  er  eine  jede  dieser  Anstalten 
nennen;  denn  sie  waren  Teile  des  erträumten  „allgemeinen  deutschen 
Kindergartens".  Nur  aus  tausend  und  abertausend  solcher  Stätten  für 
wahrhafte  Kinderpflege  konnte  allmählich  der  ersehnte  Idealzustand  er- 
blühen. 1) 

In  einem  noch  ungedruckten  Manuskript  vom  Jahre  1842'  verbreitet  sich 
Fröbel  „Über  die  Bedeutung  und  das  Wesen  der  Kindergärten  überhaupt 
und  das  Wesen  und  die  Bedeutung  des  deutschen  Kindergartens  insbesondere." 
Es  ist  das  Klarste  und  Schönste,  was  Fröbel  über  die  Kindergärten  geschrieben 
hat.  Gleichsam  auf  hoher  Warte  stand  Fröbel  bei  Abfassung  dieses  Schrift- 
stückes. Zukunftsfroh  schaute  er  hinaus  über  das  weite  deutsche  Vaterland, 
und  überall  sah  er  neben  Kirchen  und  Schulen  seine  Kindergärten  erstehen, 
in  jeder  Stadt,  in  jeder  Gemeinde,  vom  Strande  der  Ostsee  bis  hinauf  an 
den  Rand  der  Alpen.  Freilich  bescheiden  sind  manche  eingerichtet,  sehr 
bescheiden.  Nur  aus  einem  freien  Platz  bestehen  sie  zuweilen  und  aus 
einem  bedeckten  Raum  für  schlechtes  Wetter,  der  nicht  einmal  immer  eine 
Stube  ist,  sondern  oft  „bloß  eine  Scheune  oder  ein  Schuppen".  Aber  was 
schadet  das?  Der  Mensch  bedarf  ja  dort,  „wo  er  mit  seiner  ganzen  Seele, 
mit  seinem  ganzen  Sein  und  Leben  heimisch  ist,  wenig".  In  der  Mitte 
der  Gemeinde  liegt  der  Kindergarten,  und  Fröbel  sieht  im  Geiste  die  Mütter, 
mit  dem  Kleinsten  auf  dem  Arme,  hinwallen  nach  dieser  Stätte,  nach  diesem 
Heiligtume  wahrer  Kindheitspflege.  „Die  Kindermädchen,  die  Kinder- 
wärterinnen, die  älteren  Geschwister  und  wem  sonst  die  Pflege  der  Kinder 
übertragen   ist",   sie   alle  kommen,   um  hier  im  Kindergarten  zu  hören  und 

*)  Vergl.  dazu  meine  „Kleinkinderpädagogik"  Verlag  von  Otto  Nemnich,  Leipzig, 
1913  S.  236  ff. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteiliingen.  597 

zu  sehen,  wie  man  die  Kleinen  richtig  behandeln  und  pflegen  soll.  Eine 
solche  Stunde  lebendiger  Anschauung  nützt  ja  viel  mehr  als  das  Durch- 
lesen eines  bogenreichen  Erziehungswerkes.  Erfahrungen  werden  ausgetauscht, 
täglich  neue  Beobachtungen  gemacht  und  so  das  Interesse  für  die  erste 
Menschenerziehung  allgemeines  Gut  der  deutschen  Frauenwelt.  —  Das  waren 
die  Kindergärten,  die  Fröbel  ins  Leben  rufen  wollte,  für  die  er  unermüdlich 
kämpfte  bis  zum  Ende  seines  Lebens:  Quellpunkte  für  die  gesamte  früheste 
Erziehung,  das  sollten  seine  Kindergärten,  sein  —  wir  sind  auch  heute  noch 
weit  entfernt  von  diesem  Ideal. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Das  Wesen  und  die  Prinzipien  der  Elementarbildung  behandelte 
in  der  „Freien  Vereinigung  für  philosophische  Pädagogik"  auf  der  Kieler 
Lehrerversammlung  Dr.  Herm.  Walsemann  aus  Schleswig  nach  folgenden 
Leitsätzen:  I.  Die  Elementarbildung  ist  die  grundlegende  Bildung,  aber 
gleichwohl  nicht  die  erste  Bildung  des  Kindes;  ihr  geht  die  Wohnstuben- 
und  Kindergartenbildung  vorher.  Diese  muß  die  Vorbedingungen  jener 
beschaffen.  II.  Vorbedingungen  einer  grundlegenden  Bildung  sind:  Die 
Einübung  der  sinnlichen  und  gefühlsmäßigen  Produktivität,  Wahrnehmungs- 
und Beobachtungsfähigkeit,  die  Gewinnung  eines  heimatlichen  Anschauungs- 
kreises, das  Werden  einer  Persönlichkeit  im  Kinde,  Verständnis  und  Gebrauch 
der  Sprache,  Einübung  körperlicher  und  geistiger  Fähigkeiten.  III.  Die 
Bildung  im  vorschulpflichtigen  Alter  wird  beherrscht  von  drei  Prinzipien: 
1.  Das  Kind  bildet  sich  an  und  in  den  konkreten  Erzeugnissen  der  Sinne 
und  des  Gefühlsvermögens  (Totalitätsprinzip).  2.  Das  Kind  stattet  die  sinn- 
lichen und  gefühlsmäßigen  Erzeugnisse  allmählich  mit  mehr  und  mit  genaueren 
Bestimmungen  aus  (Prinzip  der  zunehmenden  Bestimmtheit).  3.  Das  Kind 
dringt  von  sich  aus  erkennend  in  die  Außenwelt  vor  und  zieht  zu  den  be- 
kannten Gegenständen  neue  in  Betracht;  ebenso  macht  es  sich  nach  und 
nach  mit  einer  Mannigfaltigkeit  von  Innenerlebnissen  bekannt  (Prinzip  der 
allmählichen  Erweiterung).  IV.  Unter  der  Elementarbildung  im  genauen 
Sinne  versteht  man  eine  Schulung  in  den  Grundteilen  oder  Elementen  der 
Anschauungserzeugnisse;  sie  muß  sich  erstrecken:  L  auf  die  äußeren  Be- 
standteile der  Erscheinungen  und  Vorgänge;  2.  auf  das  innere  Wesen  der 
Gegenstände  und  Vorgänge:  3.  auf  die  einfachen  körperlichen  Betätigungen; 
4.  auf  die  Bestandteile  der  Innenerlebnisse  (Gefühle  und  deren  Motivations- 
kräfte). V.  Die  Elementarbildung  wird  beherscht  von  vier  Prinzipien: 
1.  Der  Schüler  analysiert  die  Totalitäten,  sondert  die  generellen  Bestandteile 
aus,  verselbständigt  diese  und  befestigt  sie  zu  geistigen  Typen,  die  mittels 
hinzukommender  Bezeichnungen  beliebig  verwandt  werden  können  (Prinzip 
der  Ausscheidung).  2.  Die  Entwicklung  drängt  nach  qualitativer  Verbesserung 
der  Bestimmungen,  nach  genauer  Untersuchung  komplexer  Begriffe  mittels 
künstlicher  Versinnlichungen,  ferner  nach  einer  Schulung  in  einfachen  körper- 
lichen Betätigungen  und  einer  Darstellung  des  Innenlebens  in  einzelnen 
Handlungen  mit  erkennbaren  Antrieben  (Prinzip  der  absoluten  Bestimmtheit). 


598  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

3.  Die  Kunstführung  zu  einer  auf  das  Ganze  der  Anschauungswelt  sich  er- 
streckenden und  doch  dem  Umfang  [nach  beschränkten  Bildung  erfordert: 
Gliederung  des  Ganzen  in  Fächer,  Gliederung  der  Gesamtstoffe  jeden  Faches 
in  Stoffabschnitte,  Bildung  zweckmäßiger  Lehrstücke,  den  Stoffreihen  ent- 
sprechende Reihenbildung  und  Anfänge  des  Systematisierens  (Prinzip  der 
begrifflichen  Umfassung).  4.  Die  Elementarbildung  ist  in  allen  ihren 
Zweigen  auf  Steigerung  und  Schulung  der  Anwendungskräfte  im  Kinde 
einzustellen.  In  Pflege  zu  nehmen  sind  die  Ausdrucksbewegungen  sowie 
die  sprachlichen  und  sachlichen  Darstellungskräfte,  ferner  die  Kräfte  der 
Nacherzeugung  früherer  Anschauungen  und  des  Zustandebringens  neuer 
Anschauungen  mittels  der  geistigen  Erwerbungen,  endlich  die  Schaffenskräfte 
durch  körperliche  Gestaltungen  und  die  Überwindungskräfte  durch  die 
Lösung  geeigneter  Aufgaben  (Prinzip  der  Anwendung).  VI.  Die  Entwicklung 
des  Kindes  zeigt  keine  scharfe  Trennung  in  Abschnitte;  deshalb  muß  auch 
der  Naturgang  der  Bildung  im  vorschulpflichtigen  Alter  beim  Eintritt  in 
die  Schule  nicht  „abgebrochen"  werden,  sondern  die  Kunstführung  des  Ele- 
mentarunterrichts in  sich  aufnehmen.  Diese  selbst  reicht  hinüber  in  den 
wissenschaftlichen  Jugendunterricht. 

Über  die  Unterschiede  der  Abstraktionsfähigkeit  bei  Knaben  und 
Mädchen  hat  eine  gute  Untersuchung,  die  Johannes  Habrich  angestellt  und 
in  der  Zeitschrift  für  angew.  Psych.  (Band  9,  Heft  3)  veröffentlicht  hat,  zu 
folgenden  Hauptergebnissen  geführt: 

1.  Die  Entwicklung  der  Abstraktionsfähigkeit  von  Schülern  und  Schüle- 
rinnen der  Volksschule  zeigt  bei  mannigfachen  Übereinstimmungen  charak- 
teristische psychische  Geschlechtsunterschiede. 

2.  Die  Fähigkeit  zur  Abstraktion  gleicher  Bewußtseinselemente  nimmt 
innerhalb  angemessener  Grenzen  objektiver  Schwierigkeit  bei  beiden  Ge- 
schlechtern mit  dem  Alter  zu, 

3.  Das  Wachstum  verläuft  bei  Knaben  und  Mädchen  in  zwei  deutlich 
erkennbaren  Stadien:  einer  Periode  anfänglichen  raschen  Fortschritts  folgt, 
zwischen  dem  10.  und  11.  Lebensjahre  beginnend,  ein  Zeitraum  langsamer 
Zunahme. 

4.  In  der  Abstraktionsfähigkeit  bleiben  schwächer  begabte  Schüler  und 
Schülerinnen  mehr  hinter  den  mittel  begabten  zurück,  wie  diese  hinter  den 
besser  begabten.  Das  arithmetische  Mittel  der  Klassenleistungen  liegt  unter 
dem  der  mittel  begabten  Kinder. 

5.  Das  vollständige  Gelingen  der  Hauptaufgabe  beeinflußt  qualitativ  die 
Nebenleistung,  insofern  sich  innerhalb  der  Grenzen  normaler  Anforderung 
mit  der  vollständig  gelungenen  Hauptleistung  mehr  vollständige  Neben- 
leistungen verbinden,  als  mit  der  vollständig  mißlungenen. 

6.  Die  Abstraktionsfähigkeit  läßt  sich  durch  Übung  steigern.  Der  posi- 
tiven Abstraktion  (Hervorhebung  der  gleichen  Elemente)  geht  eine  negative 
(Vernachlässigung  der  ungleichen)  parallel. 

7.  Die  Zuverlässigkeit  beider  Geschlechter  offenbart  eine  gewisse  Ab- 
hängigkeit von  der  Intelligenz,  dem  Alter  und  dem  Umfange  des  zu  be- 
urteilenden Tatbestandes. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteiliingen.  599 

,_ 

8.  Die  Repetenten  beider  Geschlechter  erreichen  trotz  höheren  Alters  und 
wiederholter  Durchnahme  des  Klassenpensums  meist  nicht  die  Durchschnitts- 
leistung der  Klasse. 

9.  Die  Lösung  leichter  Abstraktionsaufgaben  gelingt  den 
Mädchen  häufiger  als  den  Knaben.  Mit  wachsender  objektiver 
Schwierigkeit  bleiben  die  Mädchen  immer  weiter  hinter  den 
Knaben  zurück. 

10.  Für  die  Mädchen  bildet  die  Wiedererkennung  der  Figuren 
das  zuverlässige  Kriterium  des  geistigen  Fortschritts,  für  die 
Knaben  dagegen  die  Lokalisation. 

IL  Alters-  und  Intelligenzstufen  der  Mädchen  verhalten  sich  zu  den 
Nebenleistungen  ähnlich  wie  zu  den  Hauptleistungen,  während  die  Ergebnisse 
der  Knaben  in  der  Nebenleistung  die  Gesetzmäßigkeit  vermissen  lassen. 
Nimmt  man  ihre  bedeutende  Mehrleistung  in  der  Hauptaufgabe  hinzu,  so 
muß  man  schließen,  daß  die  Konzentrationsfähigkeit  der  Knaben  größer  ist 
als  die  der  Mädchen. 

12.  In  der  vollständigen  und  in  der  partiellen  Nebenleistung 
übertreffen  die  Knaben  ihre  weiblichen  Altersgenossen  ganz 
bedeutend,  trotz  ihrer  Überlegenheit  in  der  Hauptleistung;  die 
Bewußtseinsenge  der  Mädchen  ist  größer  als  die  der  Knaben. 

13.  Im  ganzen  sind  die  Leistungen  der  Knaben  qualitativ  besser 
als  diejenigen  der  Mädchen,  wie  die  nahezu  doppelte  Zahl  voll- 
ständiger Nebenleistungen  beweist. 

14.  Das  Tempo  der  geistigen  Entwicklung  der  Mädchen  ist  nach  den 
Stufenwerten  des  Leistungsumfangs  langsamer  als  das  der  Knaben. 

15.  Die  Angaben  der  Knaben  sind  weit  zuverlässiger  als  die  der  Mädchen. 

16.  In  den  Leistungen  der  Mädchen  prägt  sich  gleiche  Familienzugehörig- 
keit deutlich  aus. 

Über  die  praktische  „pädagogische  Ausbildung  von  Studenten  au 
einer  Volksschule"  in  Dresden  wird  von  Emil  Laube  in  der  Sächsischen 
Schulzeitung  berichtet.  Eine  solche  Veranstaltung,  die  doch  offenbar  von 
der  Annahme  ausgeht,  daß  der  Unterricht  der  Volksschule  auch  den  Kan- 
didaten des  höheren  Schulamts  —  es  handelte  sich  um  Studierende  der  Mathe- 
matik und  Naturwissenschaften  —  Wertvolles  zu  bieten  vermag,  ist  wieder  ein 
erfreuliches  Anzeichen  dafür,  wie  sich  mit  der  Einsicht  in  die  Notwendigkeit 
einer  wirklichen  Berufsbildung  der  höheren  Lehrerschaft  deren  bewußte 
und  oftmals  hochmütige  Abschließung  von  der  Arbeit  der  Volksschule 
mindert.  Daß  beide  Lehrerstände  sich  zu  gemeinsamem  Wirken,  wie  es 
heute  schon  in  zahlreichen  psychologisch -pädagogischen  Arbeitsgemein- 
schaften gelungen  ist,  nähern  und  verbinden,  ist  von  wahrhaftig  nicht 
geringer  nationaler  Bedeutung.  Emil  Laube  gibt  über  die  Einrichtung 
dieses  eigenartigen  pädagogischen  Seminars  das  folgende  an. 

In  den  Osterferien  1913  richtete  der  Inhaber  der  Professur  für  Philosophie 
und  Pädagogik  an  der  Dresdner  technischen  Hochschule,  Herr  Professor 
Dr.  Elsenhans,  an  den  Direktor  der  17.  Bezirksschule  das  Ersuchen,  ihm 
an  seiner  Anstalt  die  praktisch-pädagogische  Ausbildung  der  Studenten  und 


600  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Studentinnen  zu  gestatten  und  sie  zu  fördern.  Es  sollte  den  Studierenden 
erlaubt  werden,  in  der  Schule  zu  hospitieren  und  auch  selbst  zu  unter- 
richten. Der  Anregung  wurde  gern  gefolgt.  Die  Vorverhandlungen  mit 
den  Behörden  wurden  rasch  erledigt.  Überall  begegnete  das  Vorhaben 
dem  größten  Wohlwollen.  Da  anzunehmen  war,  daß  zukünftige  Lehrer 
der  Mathematik  und  Naturwissenschaften  ihr  Interesse  dem  Rechnen,  der 
Formenlehre,  der  Naturlehre,  der  Chemie  und  der  Naturgeschichte  zuwenden 
würden,  war  eine  Oberklasse  und  zwar  praktischerweise  eine  Knabenklasse 
als  Versuchsklasse  auszuwählen.  Ein  Kollege  stellte  sich  bereitwillig  in 
den  Dienst  der  neuen  Sache.  So  zog  bald  nach  Ostern  der  Professor  mit 
seinen  Studenten  in  die  Volksschule  ein.  Jeden  Sonnabend  kehrte  er  wieder. 
Zunächst  wurde  den  Gästen  ein  kurzer  Vortrag  über  die  Organisation  der 
Volksschule  im  allgemeinen  und  der  von  Dresden  im  besonderen  geboten. 
Es  wurde  auch  auf  die  anders  gearteten  Verhältnisse  der  Volksschule 
gegenüber  den  höheren  Schulen  hingewiesen.  (Keine  Auswahl  des  Schüler- 
materiales,  unsere  Kraft  gilt  den  Schwachen,  Stunden-  und  Schülerzahl, 
Klassenlehrersystem  und  die  damit  verbundenen  vielseitigen  Ansprüche  an 
die  Weiterbildung  u.  a.)  Das  erschien  nötig,  weil  manche  Studenten  die 
Volksschule  aus  eigener  Anschauung  nicht  kannten.  Dann  ging's  in  die 
Klasse,  um  dort  eine  Lektion  des  Klassenlehrers  zu  hören.  Am  Schlüsse 
des  L  Tages  wurde  eine  Arbeitsverteilung  in  der  Weise  vorgenommen, 
daß  mehrere  Personen  sich  über  ein  Fach  einigten,  in  dem  jede  eine 
halbstündige  Lektion  zu  halten  hatte.  Der  Klassenlehrer  verteilte  die 
Themen,  wie  sie  sich  in  den  Lehrgang  einordneten,  denn  es  war  Vorschrift, 
daß  eine  Abweichung  von  den  Bestimmungen  des  Lehrplanes  durch  die 
Lektionen  der  Studenten  nicht  eintreten  durfte.  Die  Vorbereitungen  seitens 
derer,  „die  dran  kamen",  wurde  mit  großem  Eifer  und  meist  unter  mehr- 
maliger Inanspruchnahme  des  allzeit  willfährigen  Kollegen  betrieben.  Die 
Lektionen  wurden  in  Gegenwart  der  Studenten,  des  Professors,  des  Klassen- 
lehrers und  des  Direktors  gehalten.  Der  Übung  folgten  eingehende  Be- 
sprechungen im  Direktorzimmer.  Bei  aller  Freundlichkeit  ließen  sie  an 
Offenheit,  besonders  seitens  der  Kommilitonen,  nichts  zu  wünschen  übrig. 
Nicht  selten  wurden  allgemeine  Gesichtspunkte  mit  erörtert,  da  die  Übungen 
auch  als  Veranschaulichung  der  theoretischen  Belehrungen  in  der  Praxis 
angesehen  werden  sollten. 

Zu  den  Uerufserkrankiingen  des  Lehrers  gibt  der  Hamburger  Neurologe 
Dr.  Sänger  im  „Deutschen  Philologenblatte"  bemerkenswerte  Ausführungen. 
Er  legt  dar,  wie  die  eindringliche  Geistesarbeit  der  unterrichtlichen 
Tätigkeit  mit  ihrer  Doppelrichtung  der  Stoffentwicklung  und  der  Schüler- 
beobachtung die  Form  der  langsam  gezüchteten  Neurasthenie  ver- 
schulde, und  er  räumt  mit  dem  verbreiteten  Vorurteil  auf,  daß  der  Lehrer- 
beruf leicht  sei.  Auf  Grund  seiner  reichen  Beobachtungen  glaubt  Sänger 
die  Behauptung  wagen  zu  dürfen,  es  komme  auf  eine  normale  Lehrstunde 
der  Ermüdungswert  von  zwei  Bureau-  oder  Kontorstunden. 

Ferien-Sprachheilkurse  für  unbemittelte  Schulkinder  hat  seit  zehn 
Jahren  N.  von  Nadolczny   in   München   abgehalten.     Von   der  Stadt  ist 


Literaturbericht.  ßOl 


ihm  dazu  ein  größeres  Schulzimmer  überwiesen  worden.  Durch  Vermittlung 
der  Behörde  werden  die  Leiter  sämtlicher  Schulen  jeweils  von  dem  Kurse 
in  Kenntnis  gesetzt.  Der  Zudrang  ist  so  stark,  daß  in  dem  letzten  Jahre 
die  Zahl  der  Zurückgewiesenen  die  der  möglichen  Teilnehmerzahl  von 
30 — 40  erreichte.  Seit  1910  ist  Gelegenheit  gegeben,  daß  die  Schüler,  bei 
denen  der  Kurs  wegen  der  kurzen  Dauer  (vom  15.  Juli  bis  Anfang  Sep- 
tember) nicht  genügte,  in  den  Sprechstunden  für  Sprachgestörte  an  der 
Kgl.  Universitäts-Ohrenklinik  eine  weitere  Behandlung  erfahren  können. 

Ein  deutsches  Schulmuseuni  in  Leipzig  wird  aus  der  Abteilung 
„Kind  und  Schule"  auf  der  Weltausstellung  für  Buchgewerbe  und  Graphik 
hervorgehen.  Der  starke  Eindruck,  den  diese  größte  pädagogische  Schau, 
die  jemals  geboten  wurde,  in  Fachkreisen  wie  auch  bei  Laien  hervorrief, 
legte  den  Gedanken  nahe,  ihre  Bestände  zu  einem  großen  Schulmuseum  zu 
vereinigen.  Leipzig  schien  für  diesen  Zweck  besonders  geeignet,  da  es  der 
Mittelpunkt  des  deutschen  Lehrmittelhandels  und  des  pädagogischen  Buch- 
handels ist.  Den  gemeinsamen  Bemühungen  der  Leipziger  Stadtverwaltung, 
der  Buchhändler-,  Gelehrten-  und  Lehrerkreise  gelang  es,  kurz  vor  Ausbruch 
des  Krieges  eine  Vereinigung  zustande  zu  bringen,  die  sich  die  Gründung 
eines  großen  modernen  Schulmuseums  zur  Aufgabe  machte.  Trotz  des 
hereingebrochenen  Krieges  haben  die  städtischen  Behörden  Leipzigs,  zunächst 
einmal,  um  die  Bestände  der  Schulausstellung  zu  retten,  5000  Mark  sowie 
die  Räume  einer  Leipziger  Schule  bewilligt,  in  der  vorerst  vorübergehend 
ein  kleines  Museum  untergebracht  wird.  Man  hofft  aber,  daß  nach  dem 
Frieden  ein  großes  neues  Museumsgebäude  errichtet  werden  wird.  Die 
Leitung  der  Kommission  für  die  Errichtung  des  Schulmuseums  liegt  in  den 
Händen  des  Leipziger  Privatdozenten  Dr.  Max  Brahn,  des  Leiters  des 
Instituts  für  experimentelle  Pädagogik. 


Literaturbericht. 

Joseph  Geyser:  Die  Seele.  Ihr  Verhältnis  zum  Bewußtsein  und  zum  Leibe. 
Wissen  und  Forschen,  Bd.  6.  FeHx  Meiner,  Leipzig  1914,  VI  und  117  S.,  br.  2,50  M., 
geb.  3  M. 

Sichedich  sind  manche  von  den  Lehren,  die  in  diesem  Buche  vorgetragen 
werden,  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  der  psychologischen  Forschung  berechtigt 
und  begründbar,  ich  kann  aber  nicht  umhin  zu  sagen,  daß  die  Begründungszu- 
sammenhänge,  in  denen  wir  sie  in  diesem  Buche  finden,  ungenügende  sind.  Die 
Widerlegung  der  Gegner  läßt  durchweg  zu  wünschen  übrig.  Geyser  beruft  sich 
zu  häufig  auf  Sätze,  die  er  nicht  beweist,  denen  er  eine  Art  von  Evidenz  zuschreibt, 
die  ihnen  durchaus  nicht  zukommt.  Ich  leugne  nicht,  daß  gewisse  Erkenntnisse 
evident  sind,  aber  das  sogenannte  „Selbstverständliche"  ist  nicht  das  „Evidente", 
So  folgt  z.  B.  daraus,  daß  wir  uns  jetzt  bewußt  sind,  eines  augenblicklich  gegen- 
wärtigen Bewußtseinsinhaltes  uns  schon  einmal  bewußt  gewesen  zu  sein,  durchaus 
nicht,  wie  Geyser  anzunehmen  scheint,  daß  wir  uns  auch  wirklich  seiner  schon 
einmal  bewußt  gewesen  sind.  (S.34.)  Wir  können  uns  darüber  in  Täuschung  befinden. 

Daß  Veränderung  an  einem  Substrat  stattfinden  müßte,  wird  zwar  allgemein 
angenommen;  nimmt  man  diese  Bestimmung  aber  in  seine  Definition  auf,  so  darf 
man  den  Begriff  der  Veränderung  auf  bestimmte  Abfolgen  eben  nur  mehr  anwenden, 
wenn   man  sich    vom  Vorhandensein  eines  Substrates  überzeugt  hat.    Will  man 


602  Literaturbericht. 


aber  aus  der  Veränderung  auf  das  Vorhandensein  eines  Substrates  schHeßen,  so 
hätte  man  vorher  nachzuweisen,  daß  jede  Abfolge  (denn  das  wird  hier  wieder 
unter  Veränderung  verstanden)  an  einem  Substrat  erfolgt,  was  Geyser  nicht 
bewiesen  hat.  (S.  39.)  Ich  kann  diese  Punkte  nur  beispielsweise  heranziehen.  Um 
auf  alle  Unebenheiten  des  Buches  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort.  Für  besonders 
verfehlt  halte  ich  aber  —  um  noch  auf  einen  anderen  Fehlertypus  einzugehen  — 
die  Behauptung,  daß  wir  vom  Subjekt  unmittelbar  wüßten,  weil  wir  unmittelbar 
von  der  Bewußtheit  wissen  und  das  Erkennen  der  Relation  die  Erkenntnis 
der  Relate  einschließt,  denn  wie  auch  immer  unser  unmittelbares  Wissen  beschaffen 
sein  mag,  ganz  bestimmt  wissen  wir  nicht  von  der  Bewußtheit  als  einer  Relation. 
Das  ist  vielmehr  eine  begriffliche  Bestimmung  der  Bewußtheit,  und  somit  würden 
wir  auch  von  ihren  Relaten  nur  durch  einen  Schluß  etwas  wissen.  Wenig  befrie- 
digend sind  auch  die  verschiedenen  Begriffsbestimmungen,  die  der  Verfasser  gibt, 
sowohl  die  vorläufige  des  Seelischen  als  auch  die  endgültige  der  Seele.  Im  Ganzen 
glaube  ich  weder,  daß  das  Buch  zur  Einführung  in  die  Psychologie  sich  eignet, 
noch  daß  es  den  Ansichten  des  Verfassers  Anhänger  zu  erwerben  geeignet  ist. 
Welches  letzten  Endes  übrigens  der  Standpunkt  des  Verfassers  über  das  Verhältnis 
von  Leib  und  Seele  ist,  habe  ich  nicht  finden  können.  Er  bezeichnet  ihn  zwar 
als  Theorie  von  der  Seinsverbindung  von  Leib  und  Seele  und  führt  ihn  auf 
Aristoteles  zurück,  ohne  ihn  indessen  näher  zu  kennzeichnen. 

Berlin.  Werner  Bloch. 

Ranschburg,  Paul  Dr.,  Psychologische  Studien.  Budapest  1913,  Buchverlag 
der  Ung.  Gesellsch.  für  Kinderforschung.     1914. 

Der  Umfang  dieses  bedeutenden  Werkes  ist  auf  drei  Bände  berechnet,  von 
denen  der  vorliegenden  erste  sich  wieder  in  vier  Hauptteile  gliedert. 

Im  Eingangsteile  beschäftigt  sich  Ranschburg  eingehend  mit  der  pädagogischen 
Psychologie  der  Unaufmerksamkeit.  Er  schildert  ihre  Hauptformen,  ihre  Ver- 
breitung, Symptome  und  die  Behandlung.  Einiges  über  die  Ursachen  der  Unauf- 
merksamkeit sei  hervorgehoben.  Der  Verfasser  beschreibt  deren  drei:  physio- 
logische, psychologische  und  pädagogische.  Unter  den  körperlichen  Bedingungen 
der  Unaufmerksamkeit  werden  genannt:  die  allgemeine  Blutarmut,  die  Unreife 
und  die  kleineren  Grade  des  Infantilismus,  die  Mangelhaftigkeit  und  Unzuläng- 
lichkeit der  Sinnesorgane.  Entwicklungsstörungen  fördern  gleichfalls  die  Unauf- 
merksamkeit, sie  vermögen  auch  ein  schwaches  Gedächtnis  hervorzurufen.  Bei 
der  aus  psychologischen  Ursachen  entspringenden  Unaufmerksamkeit  ist  an  erster 
Stelle  der  geistigen  Ermüdung  zu  gedenken,  dann  aber  auch  der  persönlichen 
Unterschiede,  die  mit  den  motorischen,  visuellen  und  auditiven  Typen  gegeben 
sind.  Bedeutung  kommt  auch  der  Erscheinung  der  Perseveration  zu.  Desgleichen 
spielt  außergewöhnliche  Assoziabilität  bei  der  Unaufmerksamkeit  eine  erhebliche 
Rolle.  Als  pädagogische  Ursachen  der  Unaufmerksamkeit  sind  zu  betrachten: 
übermäßige  Arbeitsanforderungen  samt  deren  Folgen,  dann  die  relative  oder 
absolute  Schwierigkeit  manches  Lehrgegenstandes,  ferner  das  Tempo  des  Unter- 
richts, die  Einheitlichkeit  der  Maßnahmen  und  schließlich  das  Verhalten  des 
Lehrers. 

Ranschburg  versucht  nun  weiter  eine  ausführliche  Antwort  darauf  zu  erteilen, 
warum  den  Schülern  so  oft  Namen,  Daten  und  anderes  bereits  innegehabte 
Wissen  nur  schwer  wieder  in  den  Sinn  kommen.  Hierbei  werden  Arbeiten  von 
Ribot,  Kowalewsky,  Gordon,  Müller  und  Pilzecker  berührt  und  wird  länger  bei 
Freuds  „Psychopathologie  des  alltäglichen  Lebens"  verweilt.  Die  Auffassung  des 
Wiener  Psychoanalytikers,  wonach  in  jedem  Falle  das  Vergessen  durch  ein  unan- 
genehmes Moment  verursacht  wurde,  bekämpft  Rauschburg  mit  seinen  eigenen 
experimentellen  Prüfungen  und  Erfahrungen,  die  bezeugen,  daß  Eigennamen, 
Fremdwörter,  Entschließungen,  Eindrücke  usw.  wegen  der  Hemmungen  beim 
Erfassen  schwer  zurückgerufen  werden.  Hierbei  veröffentlicht  Ranschburg  die 
Ergebnisse  eines  interessanten  Experiments,  das  er  bei  Prüfungen  des  Gesichts- 
und Namengedächtnisses  veranstaltete  und  wobei  er  zielbewußt  mittels  Anwendung 


Literaturbericht.  603 


der  Prinzipien  von  Hemmungen  bestimmte  Feliler  des  Gedächtnisses  künstlich  er- 
langte. Er  bediente  sich  mehrerer  Photographien,  die  beiläufig  gleich  groß  und  äußer- 
lich ähnlich  waren.  Jedes  Bild  wurde  einzeln  10  Sekunden  lang  vorgezeigt,  sein 
Name  genannt,  man  mußte  Gesicht  und  Namen  mit  voller  Aufmerksamkeit  er- 
fassen. Die  Darbietung  fand  dreimal  in  derselben  Ordnung  hintereinander  statt. 
Die  Prüfung  der  Zuverlässigkeit  beim  Reproduzieren  zeigte  klar  die  hemmende 
Wirkung  der  Gesichts-  und  Namenähnlichkeiten  auf  die  Reproduktion  und  spricht 
deutlich  für  die  praktische  Bedeutung  der  aus  dem  assoziativen  Zusammen- 
klingen entspringenden  assoziativen  und  reproduktiven  Hemmungen.  Eine 
verwandte  Lage  finden  wir  bei  Melodien,  die  durch  andere  gestört  werden. 
Ranschburg  widerspricht  Freud  weiter  .darin,  daß  das  Unbewußte  vom  Unan- 
genehmen vernichtet  werde  oder  daß  irgendwelcher  sexuelle  Hintergrund  vor- 
handen wäre ;  aus  seinen  an  150  normalen  Kindern  und  Erwachsenen  veranstalteten 
experimentellen  Prüfungen  stellt  er  mit  entscheidender  Sicherheit  folgenden 
Satz  fest:  Die  Wahrscheinlichkeit,  daß  jemand  auch  bei  unmittelbarer  Reproduk- 
tion, bei  Hindernissen  eher  mit  irriger  Assoziation  reagiert,  ist  größer  als  daß 
das  Individuum  gar  nicht  reagiere,  also  entweder  schweige  oder  aber  sage:  ich 
erinnere  mich  nicht. 

Beschlossen  wird  das  interessante  Kapitel  mit  hygienischen  und  pädagogischen 
Ausführungen. 

Im  zweiten  Hauptteile  des  Buches  folgen  die  biologischen  Grundlagen  für 
experimentelle  Prüfungen  des  Gedächtnisses.  Ranschburg  befaßt  sich  hier  mit 
Semons  Lehre  und  begrüßt  die  von  Netschajeff,  Lobsien,  Ebbinghaus,  Kraepelin, 
Müller  und  Schumann  ausgebildeten  Verfahren.  Er  veröffentlicht  dabei  Unter- 
suchungen aus  seinem  Budapester  Institute,  die  mit  Mädchen  angestellt  worden 
.sind.  Schließlich  kommen  die  mannigfachen  Apparate  an  die  Reihe,  unter  denen 
auch  das  Mnemometer  von  Ranschburg,  das  bereits  vor  mehr  als  einem  Jahr- 
zehnt in  den  Dienst  der  Wissenschaft  gestellt  wurde,  Erwähnung  findet. 

Den  dritten  Teil  des  Werkes  bildet  eine  Abhandlung,  in  der  der  Verfasser  bereits 
vor  5  Jahren  seine  Ansichten  über  eine  Mittelschulreform  zusammenfaßt.  Der 
Unterricht  in  der  Mittelschule,  so  legt  Ranschburg  dar,  ist  berufen,  die  harmo- 
nische Ausbildung  des  Geistes  zu  bieten.  Es  kann  vor  dem  Eintritt  in  die  Mittel- 
schule eine  Elementar-Reifeprüfung  gefordert  werden,  die  ausschließlich  über  die 
Denkreife  und  die  elementarsten  Grundkenntnisse  Auskunft  geben,  aber  keinerlei 
besondere  Vorbereitung  fordern  soll.  Das  Ideal  der  Mittelschule  ist  die  einheitliche 
Mittelschule,  welche  aber  zurzeit  in  L'ngarn  nicht  verwirklicht  werden  kann,  weshalb 
also  die  verschiedenen  Typen  in  angängiger  Form  vertreten  sein  müssen.  Immer 
sei  das  Hauptgewicht  darauf  gelegt,  daß  die  aus  der  Vielgestaltigkeit  stammenden 
gegenseitigen  Hemmungen  beseitigt  werden.  .Die  Zöglinge  müssen  mit  den  Lehr- 
gegenständen nicht  nur  bekannt  gemacht  werden,  sondern  einerseits  den  Zweck 
des  Lernens  und  anderseits  selbstbewußt  d«us  Ziel  des  Lehrfaches  und  dessen 
Wert  vom  Gesichtspunkte  der  Ausbildung  des  Geistes  begreifen  lernen ;  weshalb 
sie  Ziele  und  Wege  des  Wissenserwerbes  schon  früh  erfahren  müssen.  Dazu  ist 
erforderlich  eine  gründliche  Ausbildung  des  Oberlehrerstandes  auf  psychologischer 
Grundlage. 

Budapest.  K.  G.  Szidon. 

Prof.  Dr.  Sigm.  Freud,  Die  Traumdeutung.  Vierte,  vermehrte  Aufl.  Mit 
Beiträgen  von  Dr.  Otto  Rank.  Leipzig  und  Wien  1914.  Franz  Deutike.  498  S. 
Die  Freudschen  Lehren  sind  —  besonders  durch  die  Gegnerschaft,  die  sie 
erfahren  haben  —  so  bekannt,  daß  die  neue  Auflage  der  „Traumdeutung",  die 
in  kurzem  Abstände  auf  ihre  Vorgängerin  gefolgt  ist,  nur  der  Ankündigung  und 
nicht  der  Besprechung  bedarf.  Daß  das  Buch,  wie  sein  Verfasser  selbst  bemerkt, 
schwer  lesbar  sei,  trifft  keineswegs  zu.  Auch  wer  im  neuropathologischen  Gebiete 
liicht  Fachmann  ist,  vermag  es  bei  der  steten  Orientierung  an  konkreten  Beispielen 
zu  meistern  und  zu  ihm  Stellung  zu  nehmen.  Aus  den  jüngsten  Forschungen, 
die  zu  anderen  Anschauungen,  als  sie  Freud  vertritt,  geführt  haben,  sei  verwiesen 


604  Literaturbericht. 


auf  die  Untersuchungen  von  dem  Assistenten  am  psychologischen  Institute  der 
Akademie  zu  Frankfurt,  Dr.  H.  Henning  (Der  Traum,  ein  assoziativer  Kurz- 
schluß, Wiesbaden  1914). 

Stollberg  i.  Sa.  Paul  F icke r. 

K.  Brandenberger,  Die  Zahlenauffassung  beim  Schulkinde.  1.  Heft  der  Bei- 
träge zur  pädag.  Forschung  (Beihefte  zum  Archiv  für  Pädagogik);  Leipzig  1914; 
87  Seiten;  Preis  2.50  M. 

Die  Abhandlung  berichtet  über  drei  Versuchsgruppen:  1)  Die  Vpn.  hatten 
das  eine  Mal  4,  das  andere  Mal  7  beliebige  Zahlen  so  rasch  als  möglich  in  ent- 
sprechend viele  Felder  einzuschreiben,  also  eine  freie,  fortlaufende  Repro- 
duktion auf  dem  Gebiet  der  Zahlwörter  auszuführen.  2)  Die  Vpn.  mußten  unter 
8,  9  oder  10  Aufgaben  die  schwerste  auswählen.  Es  waren  Additionen  oder 
Subtraktionen  oder  Multiplikationen  oder  Divisionen  mit  einstelligen  Zahlen. 
Die  Aufgaben  hatte  man  auf  einer  Tabelle  so  zusammengestellt,  daß  immer  ein 
Glied  (a)  konstant  war  (a-j-x  =  y;  x-|-a  =  y;  x-|-y  =  a;  a  —  x  =  y;  x  — a  =  y; 
a.x  =  y;  x.a  =  y;  y:a  =  x;  und  y :  x  =  a).  3)  Es  wurde  die  Reaktionszeit  für  die 
einzelnen  Operationen  dadurch  bestimmt,  daß  man  die  Zeit  maß,  die  nötig  war, 
um  die  Resultate  von  10  Aufgaben  anzugeben.  Für  die  Additionen  und  Sub- 
traktionen waren  jeweils  zehn  zweistellige  Zahlen  derart  gewählt,  daß  auf  der 
Einerstelle  sämtliche  zehn  Ziffern  vertreten  waren;  die  konstante  einstellige  Zahl 
war  zu  addieren  bezw.  zu  subtrahieren.  Bei  der  Multiplikation  mußte  die  kon- 
stante einstellige  Zahl  mit  einer  der  Zahlen  von  I — 10  vervielfacht,  bei  der  Di- 
vision die  ohne  Rest  teilbare  zweistellige  Zahl  durch  eine  einstellige  geteilt  werden. 
Die  Versuche  unter  1)  und  2)  waren  Massenversuche,  die  unter  3)  Einzelversuche. 
Die  Reproduktions-,  Additions-  und  Subtraktionsversuche  erstreckten  sich  auf 
Knaben  und  Mädchen  vom  8. — 15.  Lebensjahr  (2. — 6.  Klasse  der  Primär-  und  1.— 3. 
Klasse  der  Sekundärschule  in  Zürich),  die  Multiplikationsaufgaben  bloß  auf  das 
10. — 15.  Lebensjahr.  Die  Reaktionszeiten  für  die  Subtraktion,  Multiplikation  und 
Division  wurden  außerdem  nur  von  den  Schülern  der  drei  obersten  Jahrgänge 
bestimmt.  Die  8  Jahrgänge  wurden  in  drei  Entwicklungsstufen  eingeteilt :  I  ==  8. 
und  9.,  11  =  10.— 12.,  in  =  13.— 15.  Lebensjahr. 

Die  reproduzierten  Zahlzeichen  der  ersten  Versuchsgruppe  wurden 
mittels  des  Plus-Minusverfahrens  (vgl.  diese  Zeitschr.  S.  146  d.  1.  Jg.)  daraufhin 
untersucht,  ob  die  dadurch  bezeichneten  Anzahlen  eine  mehr  steigende  oder 
mehr  fallende  Reihe  bilden  und  wie  groß  die  Zahlschritte  sind.  Es  ergibt  sich, 
daß  die  aufsteigenden  Zahlfolgen  häufiger  sind  als  die  absteigenden;  für  I  ergibt 
sich  etwa  das  Verhältnis  von  3 :  1,  für  III  das  von  2:1;  dabei  ist  dies  Verhältnis 
auf  I  für  die  Mädchen  etwas  kleiner,  auf  III  etwas  größer  als  bei  den  Knaben. 
Am  häufigsten,  von  I  nach  III  abnehmend,  tritt  das  nächstfolgende,  am 
nächsthäufigsten  von  I  nach  III  zunehmend,  das  übernächste  Zahlzeichen  auf. 

Die  meisten  Schwierigkeitsurteile  fallen  in  den  Additionsversuchen  bei 
gerader  Ausgangszahl  auf  9  und  7,  bei  ungerader  Ausgangszahl  auf  8  und  9;  dabei 
tritt  bei  den  Knaben  der  III.  Stufe  7  bzw.  8  häufiger  auf  als  9;  im  zweiten  Fall 
ist  sogar  9  weniger  häufig  als  7.  Bei  den  ersten  Subtraktionsversuchen  (a  —  x  =  y) 
kommt  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  geraden  und  ungeraden  Zahlen 
zum  Ausdruck;  am  häufigsten  tritt  auch  hier  9  und  7  als  schwierig  auf.  Die 
zweite  Subtraktionsreihe  (x  —  a  =  y),  worin  x  eine  der  Zahlen  zwischen  10  und  19 
war,  zeigt  im  allgemeinen  die  meisten  Schwierigkeitsurteile  auf  den  ungeraden 
Zahlen  und  war  ziemlich  gleichmäßig  verteilt  bei  gerader  Abzugszahl,  besonders  auf 
der  III.  Stufe,  weniger  bei  ungerader  Abzugszahl,  namentlich  auf  den  beiden  unteren 
Stufen.  Bei  der  Multiplikation  und  Division  erhalten  die  7er,  9er  und  8er  Aufgaben 
noch  eindeutiger  als  bei  der  Addition  die  meisten  Schwierigkeitsurteile.  Die  Ergeb- 
nisse sind  jeweils  in  Häufigkeitstabellen  und  -kurven  dargestellt;  auch  sind  noch 
die  Mittelwerte  berechnet  —  zum  Überfluß,  denn  sie  bringen  in  diesem  Fall  keines- 
wegs das  „Wesentliche"  zur  Darstellung,  wie  Br.  (S.  31)  meint;  das  tun  hier  viel 
besser  die  Kurven.    Das  Resultat  läßt  sich,   glaube  ich,  allgemein  dahin  zusammen- 


Literaturbericht,  605 


fassen:  Die  in  diesen  Operationen  hervortretenden  Zahlauffassungen 
enthalten  ein  Schwierigkeitsmoment,  das  von  der  Größe  der  Zahl 
direkt,  von  ihrer  Teilbarkeit  und  von  ihrer  Beziehungzum  dekadischen 
System  reziprok  abhängt;  im  Laufe  der  Entwicklung  machen  sich  die 
an  zweiter  und  wohl  auch  an  dritter  Stelle  genannten  Bedingungen 
mehr  und  mehr  geltend,  bei  den  Mädchen  weniger  als  bei  den  Knaben. 
Die  Reaktionsversuche  bilden  bloß  eine  Art  Kontrollversuche;  sind  aber 
auch  als  solche,  wie  Br.  selbst  hervorhebt  (S.  78),  unvollständig.  Die  Reaktions- 
zeit nimmt,  insbesondere  bei  den  Additionen,  beträchtlich  ab  mit  dem  Alter;  sie 
wächst  jeweils  mit  der  Größe  der  Operationszahl  (x);  die  7er  Aufgaben  treten 
entsprechend  der  Schwierigkeitsbeurteilung  zuweilen  als  die  längsten  auf,  doch 
nicht  immer  und  nicht  beträchtlich.  Ein  strenger  Zusammenhang  zwischen 
Schwierigkeitsbeurteilung  und  der  Ausführungszeit  besteht  nicht.  Zwischen 
Knaben  und  Mädchen  zeigen  sich  hier,  wie  auch  sonst  in  diesen  Untersuchungen, 
interessante  Struktur-  und  Entwicklungsunterschiede.  Daß  die  Leistungs ver- 
suche, wie  z.  B.  auch  die  Reaktionsversuche,  weniger  geeignet  sein  sollen  zur 
Untersuchung  der  Denkvorgänge  als  die  Auffassungs-  und  Beurteilungsversuche, 
weil  bei  jenen  „Gedächtnis"  und  „Übung"  eine  große  Rolle  spielen,  bei  diesen 
nicht,  dürfte  ein  Irrtum  sein.  Den  Versuchsergebnissen  einer  in  Aussicht  ge- 
stellten, mehr  praktisch  gerichteten  Untersuchung  wird  man  mit  Interesse  ent- 
gegensehen. 

Ich  habe  den  wesentlichen  Inhalt  der  Br.'schen  Untersuchungen  so  zu  geben 
versucht,  wie  er  sich  unabhängig  von  der  Theorie  lediglich  auf  Grund  der  Ver- 
suchsergebnisse darbietet.  Br.  gibt  nun  seinen  Resultaten  immer  eine  bestimmte 
Deutung.  Dies  ist  an  sich  kein  Vorwurf,  nur  muß  man  die  Berechtigung  der 
Deutung  darlegen.  Das  hat  Br.  unterlassen.  Die  Reproduktionen  der  1,  Versuchs- 
gruppe sind  doch  nicht  so  selbstverständlich  als  solche  von  Zahlbeziehungen  aufzu- 
fassen, wie  dies  Br.  tut;  es  ist  erst  zu  untersuchen,  ob  diese  Reproduktionen  Zahl- 
beziehungen enthalten  oder  als  Folge  früher  erlebter  verständlich  gemacht 
Nverden  können.  Das  setzt  aber  eine  reinliche  phänomenologische  Analyse  dieses 
' '.eproduktionserlebnisses  voraus.  Daß  dies  umfangreiche  psychologische  Selbst- 
'. .  ahrnehmungen  der  Schüler  nötig  macht,  glaube  ich  nicht;  nur  weitergehende  An- 
gaben, als  Br.  sich  über  den  zum  Resultat  führenden  Weg  machen  ließ  (S.  81  f.). 
Analoges  gilt  von  den  weiteren  Versuchen;  doch  liegt  es  im  Wesen  des  Versuchs- 
erlebnisses, daß  hier  eine  Zahlbeziehung  eher  aktuell  wird.  Es  dürfte  indessen 
kaum  einem  Zweifel  begegnen,  daß  man  alle  diese  Resultate  gewinnen  könnte 
flurch  eine  entsprechend  durchgeführte  mechanische  .Einübung  der  Zahlwörter, 
Wäre  Br,  in  der  angedeuteten  Richtung  vorgegangen,  so  hätte  auch  die  Deutung 
seiner  Ergebnisse  einen  weniger  unkritischen  und  dogmatischen  Charakter  be- 
kommen. Da  er  die  sicherlich  wertvollen,  aber  wie  ich  glaube  nicht  ausreichenden 
theoretischen  Feststellungen  über  das  Wesen  der  Zahl  von  G,  F,  Lipps  seinen 
Interpretationen  ohne  weiteres  zugrunde  legt,  so  sieht  er  in  seinen  Ergebnissen 
zugleich  eine  Widerlegung  der  „Anschauungsmethodiker",  Übrigens  schickt  es 
sich  nicht,  von  dem  „borniertesten"  Anschauungsmethodiker  zu  sprechen  (S.  12), 
und  einige  von  ihnen  werden  es  vermutlich  auch  gegenüber  manchen  Deutungen 
Br,8  „wunderbar"  finden,  „daß  man  eine  solche  Ansicht  in  unserem  Jahrhundert 
als  wissenschaftlich  aufstellen  kann"  (S.  17);  z.  B.  die  Abhängigkeit  der  Schwierig- 
keit von  der  Größe  des  Intervalls  als  Beweis  dafür,  daß  die  Zahlen  ursprünglich 
als  Glieder  einer  Reihe  aufgefaßt  werden.  Hoffentlich  zeigt  die  nächste  Arbeit 
'.i-.seine  echte  psychologische  Betrachtung  und  Interpretation,  nämlich  eine 
solche,  die  von  der  Achtung  vor  den  vorliegenden  psychischen  Tatbeständen  ^- 
leitet  ist;  denn  in  dieser  Arbeit  ist  davon  noch  nicht  viel  zu  verspüren. 

G,  F,  Lipps,  unter   dessen  Einfluß   die  Br.sche    Arbeit   zustande  gekommen 

ist,  hat  zu  diesem  Heft  eine  kurze  P^inführung  geschrieben.    Er  kündigt  da  noch 

mehrere   mit  dieser   zusammenhängende   Untersuchungen   an,  die   die  Unterlage 

für  den  Aufbau  einer  wissenschaftlichen  Pädagogik  gewinnen  lassen  sollen;  dabei 

•i  die  Ansicht  bestimmend,  „daß  die  Pädagogik  zunächst  durch  die  Psychologie 


606  Literaturbericht. 


aber  weiterhin  zugleich  mit  der  Psychologie  durch  die  Philosophie  ihre  Begrün- 
dung finde".  Die  Pädagogik  sei  „derjenige  Zweig  der  angewandten  Psychologie , 

der  die  Entwicklung  des  (seelischen  und  geistigen,  als  Bewußtsein  sich  kundge- 
benden) Lebens  in  der  heranwachsenden  Generation  der  Gesellschaft  erforscht"; 
dabei  beruhe  das  seelische  Leben  auf  dem  Organismus  des  Leibes,  das  geistige 
auf  dem  Zusammenhang  mit  anderen  Wesen.  Da  es  nun  die  Psychologie  und 
Pädagogik  mit  dem  im  Bewußtsein  sich  kundgebenden  Leben  zu  tviu  habe,  so 
werde  damit  zugleich  ihre  Loslösung  von  der  Physiologie  und  Biologie,  Hygiene 
und  Gesundheitspflege  vollzogen.  Die  für  die  psychologischen  und  pädagogischen 
Untersuchungen  wesentliche  Auffassung  alles  Lebens  bleibe  stets  von  philoso- 
phischen Gesichtspunkten  beherrscht.  Da  es  nicht  gut  durchführbar  sei,  ein 
Individuum  in  geeignet  gewählten  Zeitabschnitten  zur  Äußerung  zu  veranlassen,  so 
seien  wir  genötigt,  eine  Vielheit  von  gleichartigen  Individuen,  wie  sie  in  der  Schul- 
klasse gegeben  sind,  für  jede  Entwicklungsstufe  heranzuziehen,  wenn  wir  den  Gang 
der  Entwicklung  kennen  lernen  wollen.  Zur  Verdeutlichung  weist  dann  Lipps 
auf  die  Br.'schen  Untersuchungen  hin  und  sieht  in  ihnen  den  „Nachweis,  daß 
eine  Entmcklung  stattfindet,  die  von  der  ursprünglich  vorhandenen  und  anfäng- 
lich allein  maßgebenden  Auffassung  des  einfachen  reihenförmigen  Fortschreitens 
zu  einer,  durch  die  Ausführung  der  Zahloperationen  bedingten  Auffassung  der 
mannigfaltig  sich  verwebenden,  die  reihenförmige  Anordnung  durchbrechenden 
Zahlbeziehungen  hinführe.  Schon  das  bloße  Hinschreiben  von  Zahlen  zeige  klar 
und  deutlich  (vom  Ref.  gesp.),  daß  „die  ursprüngliche  Auffassung  an  die  Form 
der  Reihe  gebunden  ist",  sie  habe  „somit  auch  für  den  Rechenunterricht  den 
Ausgangspunkt  zu  bilden".  Diese  Verdeutlichung  dürfte  den  allgemeinen  pro- 
grammatischen Ausführungen  keine  große  Werbekraft  verleihen;  denn  so  bringt 
man  höchstens  wertvolle  theoretische  Untersuchungen  und  philosophische  Er- 
örterungen nur  in  Misskredit. 

Tübingen.  Gustav  Deuchler. 

Richard  Hönigswald,  Studien  zur  Theorie  pädagogischer  Grundbe- 
griffe. Eine  kritische  Untersuchung.  Stuttgart  1913.  Verlag  W.  Spemann. 
111  Seiten.  3,00  M. 
In  dieser  schwer  lesbaren  Schrift  wird  unter  logischen  und  erkenntnis- 
theoretischen, phänomenologischen  und  psychologischen  Gesichtspunkten  der 
Begriff  der  Anschauung  —  dieser  arg  mißhandelte  didaktische  Grundbegriff  — 
scharfsinnig  analysiert  und  wird  zwischendurch  und  anschließend  eine  ebenso 
geartete  Zergliederung  anderer  unterrichtswissenschaftlicher  Begriffe  —  u.  a.  des 
Begriffs  des  Wissens  und  Wissenserwerbes,  des  Erlebens  und  der  Erlebbarkeit 
—  versucht.  Da  hierbei  die  Methode  und  die  Ergebnisse  der  Denkpsychologie 
Verwendung  finden,  ist  es  ohne  ein  Verständnis  für  die  Terminologie  dieses  jüngsten 
Teilgebietes  der  psychologischen  Forschung  kaum  möglich,  den  in  letzte  Tiefen 
vordringenden  Gedankengängen  des  Verfassers  zu  folgen,  weshalb  empfohlen  sei, 
vorerst  des  gleichen  Verfassers  Arbeit  über  die  „Prinzipien  der  Denkpsycho- 
logie" (Berlin  1913)  zu  studieren.  Greifbare  Ergebnisse  für  das  pädagogische 
Tun  ergeben  sich  aus  den  kritischen  Untersuchungen  Hönigswalds  nicht.  Diese 
Unfruchtbarkeit  hat  ihren  Grund  nicht  etwa  darin,  daß  die  philosophischen  Per- 
spektiven, auf  die  Hönigswald  seine  Erörterungen  eingestellt  hat,  überhaupt  für  die 
Pädagogik  wertlos  seien,  sondern  darin,  daß  von  dem  Verfasser  die  Selbständigkeit 
der  pädagogischen  Begriffswelt,  in  der  „Anschauung",  „Erleben"  u.  s.  f.  ihre  eigene 
Bedeutung  haben,  verkannt  wird  und  daß  er  dort,  wo  er  auf  didaktische  Folge- 
rungen zukommt  —  vergl.  z.  B.  die  Abschnitte  über  die  „Frage"  —  im  Gebiete  der 
modernen  Unterrichtslehre  offenbar  nicht  zu  Hause  ist. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Karl  Brandi,  Unsere  Schrift,  Drei  Abhandlungen  zur  Einführung  in  die  Ge- 
schichte der  Schrift  und  des  Buchdrucks,  80  S.,  Vandenhoeck  &  Ruprecht, 
Göttingen.     Geb.  3.20  M.,  brosch.  2.60  M. 


\ 


Literaturbericht.  607 


Gegenüber  den  zahlreichen  Schriften  der  Vereine  für  Deutsch- und  Lateinschrift, 
die  sich  bitter  befehden,  versucht  dieses  Buch  des  Göttinger  Kunsthistorikers  in  rein 
sachlicher,  historisch  objektiv  würdigender  Weise  den  Werdegang  unserer  heutigen 
Druck-  und  Schreibschrift  darzustellen.  Die  erste  der  drei  Abhandlungen,  die  das 
Buch  umfaßt:  „Schrift  und  Kultiu-"  gibt  einen  Längsschnitt  dtirch  die  ganze  Ent- 
wicklung. Danach  muß  als  Ausgangsform  sämtlicher  abendländischer  Schriften 
das  alt-lateinische  Alphabet  gelten,  wie  es  innerhalb  des  weströmischen  Reiches  ver- 
breitet war  und  von  dort  seitens  der  Germanen  übernommen  wurde.  Aus  ihm  leitet 
sich  auch  die  sog.  karolingische  Minuskel  des  8.  und  9.  Jahrhunderts  ab,  die  jene 
alt-lateinische  Schrift  verdrängte.  Dm'ch  einen  fortgesetzten  Prozeß  der  Brechmig 
wandeln  sich  bis  zum  12.  Jahrhtmdert  die  runden  Formen  der  Minuskel  zu  den  be- 
kannten eckigen,  sog.  ,, gotischen"  Schriftzeichen,  die  also  schon  vor  dem  Aufkommen 
und  der  Blüte  des  gotischen  Stils  fertig  sind  und  erst  sekundär  von  demselben  beein- 
flußt werden,  so  daß  dann  die  mannigfachsten  Formen  entstehen.  Der  beginnende 
Buchdruck  übernahm  diese  zunächst  ohne  wesentliche  Änderungen.  Mit  dem  Auf- 
blühen des  Humanismus  werden  dann  die  alten  Handschriften  wieder  bekannt.  Nun 
waren  aber  die  antiken  Autoren  durch  Manuskripte  überliefert,  die  in  karolingischer 
Minuskel  geschrieben  waren;  irrtümlicherweise  hielten  die  Humanisten  diese  für  die 
echt  antike  Schrift,  erneuerten  ihren  Gebrauch  und  belegten  sie  mit  dem  Ehrennamen : 
„Antiqua"  im  Gegensatz  zu  der  ,, Gotischen".  Von  der  Buchschrift  abweichend  hatte 
sich  parallel  laufend  in  immer  flüssiger  werdenden  Formen  eine  Geschäftsschrift 
entwickelt,  die  nach  Erfindimg  des  Buchdruckes  nun  ohne  die  Wechselwirkung  zur 
Buchschrift  noch  freier  wurde.  Durch  die  Einführung  der  ,, Antiqua"  bildete  sich 
hier  nun  eine  neue  Kursivform  der  Antiqua  heraus.  Um  die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts 
ist  die  Ausbildung  der  vier  Schriften  abgeschlossen.  Das  ist  das  wesentlichste. 
Im  zweiten  Aufsatze  wird  dann  die  ,, Geschichte  der  Buchstabenformen"  im 
einzelnen  näher  behandelt.  Gerade  dieser  Abschnitt  ist  besonders  interessant,  doch 
können  wir  keine  Einzelheiten  mitteilen.  Hier  wie  auch  sonst  illustrieren  treffliche 
Abbildungen  den  Text,  so  daß  man  im  ganzen  eine  Anschauung  von  den  frühesten 
Schriften  bis  zu  den  modernsten  Typen  unserer  führenden  Gießereien  bekonunt.  In 
der  letzten  Abhandlung:  ,, Schriftzwecke  und  Stilgesetze"  nimmt  der  Verfasser 
auch  zu  dem  Deutsch-Latein- Schrift- Streit  Stellung  und  kennzeichnet  die  modernste 
Entwicklung,  indem  er  für  die  Druck-  wie  für  die  Schreibschrift  eine  fruchtbare 
Wechselwirkung  der  Formen  jener  beiden  Alphabete  konstatiert.  „Die  historische 
Erkenntnis  vermag  hier  wie  überall  ebenso  von  äußeren  Abhängig- 
keiten zu  befreien,  wie  die  höhere  Gebundenheit  zu  lehren."  Und  die 
unbefangene  Betrachtung  zeigt,  daß  die  kleinen  deutschen  Druckleltern  den  kleinen 
lateinischen  Schreibbuchstaben  vielfach  näher  stehen  als  den  deutschen;  der  Haupt- 
unterschied der  Alphabete  liegt  in  den  Versalien.  In  der  sog.  ,,Schwabacher"  aber 
haben  wir  eine  Schrift,  die  zwischen  beiden  gut  vermittelt.  Es  wäre  nun  schon  rein 
künstlerisch  barbarisch  gedacht,  wollte  man  den  wunderbaren  Reichtum  an  Formen, 
wie  ihn  die  ,, deutsche"  Fraktur  in  sich  birgt,  durch  eine  Verordnung  vernichten  und 
damit  auch  die  äußerst  fruchtbare  Wechselwirkung  zwischen  Antiqua  und  Kursiv, 
die  immer  mehr  hervortritt,  hemmen.  Es  muß  eine  möglichst  große  Ausdrucksmannig- 
faltigkeit für  die  Druckschrift  unbedingt  gefordert  werden,  damit  sie  sich  in  feinster 
Weise  den  jeweiligen  Zwecken  der  Drucksache  anpassen  kann.  Anders  liegt  es  für 
die  Schreibschrift.  Hier  sind  keine  künstlerischen  Werte  zu  schützen,  rmd  die  Er- 
lernung nur  eines  Alphabetes  wäre  pädagogisch  vorteilhaft. 

Buenos-Aires.  Carl  Jesinghaus. 

Robert  Bloch,  Die  Grundlagen  der  Rechtschreibung.  Eine  Darstellung 
des  Verhältnisses  von  Sprache  und  Schrift.  Mit  4  Abbildungen.  R.  Voigt- 
länders  Verlag.    Leipzig  1914,    80  S.,  ungeb.  1,20  M. 

Eine  gediegene  und  in  mustergültigem  Deutsch  verfaßte  Arbeit,  in  der  aus 
guter  Sachkennerschaft  heraus  die  Rechtschreibung  als  fachwissenschaftliches 
Gebiet  dargestellt  wird  und  die  dabei  besonders  der  geschichtlichen  Entwicklung 
ihres  Gegenstandes  nachgeht.    Die  Psychologie  und  Didaktik  der  Rechtschreibung 


ß08  Literaturbericht. 


finden    keine    Berücksichtigung,    so   daß    sich    im  Rahmen    dieser  Zeitschrift    ein 
näheres  Eingehen   auf  den  Inhalt  der  gut  ausgestatteten  Schrift  erübrigt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Gesamtunterricht  im  ersten  und  zweiten  Schuljahr.  Zugleich  ein  Be- 
richt über  die  Leipziger  Reformklassen.  Herausgegeben  von  Mitgliedern  der 
Methodischen  Abteilung  des  Leipziger  Lehrervereins.  Leipzig  1914.  169  Seiten. 
Geh.  2,50  M.,  geb.  3,00  M. 
Unter  Gesamtunterricht  verstehen  die  Leipziger  Reformer  des  ersten  Unter- 
richts eine  wesentlich  andere  Veranstaltung  als  Berthold  Otto  in  seiner  „Er- 
ziehungsschule", in  der  die  gesanitunterrichtlichen  Gesprächsstunden  neben  plan- 
mäßigem Fachunterricht  stehen,  während  die  Leipziger  so  weit  als  nur  möglich  die 
Spaltung  der  Schularbeit  in  „Fächer"  aufheben  wollen  und  statt  dessen  lebendige 
,,Sacheinheiten"  fordern,  die  zur  Tätigkeit  des  Lesens,  Schreibens,  Rechnens, 
Singens,  Malens  und  Formens  anreizen  und  sie  verbinden.  Die  theoretische  Be- 
gründung für  dieses  didaktische  Unternehmen  ist  seinerzeit  in  der  vom  Leipziger 
Lehrerverein  herausgegebenen  Schrift  „Die  Arbeitsschule"  gegeben  worden,  worauf  • 
nun  die  vorliegende  Veröffentlichung  einen  Einblick  in  die  praktische  Verwirklichung, 
wie  sie  in  Leipziger  Versuchsklassen  geschah,  ermöglichen  will.  Auch  wem  von  vorn- 
herein der  Gesamtunterricht  dieser  Art  als  gefährliche  Verirrung  eines  pädago- 
gischen Psychologismus  erscheint,  dem  mag  dieser  Bericht  für  die  Überprüfung 
seines  Urteils  willkommen  sein.  Schade,  daß  von  den  Leipzigern  nicht  auch  aus- 
führliche Niederschriften  —  stenographische  Unterrichts-Protokolle  —  charak- 
teristischer Szenen  aus  dem  Gesamtunterricht  im  Arbeitsleben  gegeben  sind;  sie 
werden  heute  von  den  wissenschaftlichen  wie  auch  praktischen  Pädagogen 
(Deuchler,  Henseling,  Fischer)  als  Ersatz  für  den  meist  nicht  möglichen  Gastbesuch 
in  der  Schulklasse  immer  dringlicher  verlangt. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

E.    H.    Wohlrab,     Lebensvoller    Unterricht    auf    der    Unterstufe  unserer 
deutschen  Lern-  und  Arbeitsschule.      Langensalza   1913.      Julius  Beltz.      151    S. 
2,50  M.,  geb.  3,20  M. 
E.  H.  Wohlrab,    Zum   dritten    Schuljahre.    Mit  36  Abb.    Leipzig  1913.    Wun- 
derlich.    198  S.    2,40  M.,  geb.  3,00  M. 

Wohlrab  hat  die  Arbeitsschulidee  besser  verstanden,  als  so  mancher,  der  erst 
alle  möglichen  Kurse  mitmachen  zu  müssen  glaubt,  ehe  er  den  Mut  zum  Anfangen  gewinnt. 
Auch  diese  beiden  Schriften  zeigen  wieder,  wie  bei  allem  Manualismus  oder  vielmehr 
über  allem  manuellen  Tun  die  Idee  der  Erziehung,  der  geistigen,  sittlichen,  ästhetischen 
und  religiösen  Bildung,  steht  und  wie  eben  die  Arbeitsschule  diesen  Ideen  leichter 
zur  Verwirklichung  verhilft  als  die  alte  Hörschule.  Das  zweite  der  beiden  Bücher 
schließt  sich  an  des  Verfassers  „Jahresarbeit  einer  Elementar klasse"  und  „Zweites 
Schuljahr"  an.  In  prächtigen,  lebensvollen  Ausschnitten  werden  die  einzelnen  Fächer 
vorgeführt.  Das  erste  der  beiden  Bücher  ist  mehr  eine  Gesamteinführung  in  die 
Praxis  der  Arbeitsschule  —  nebenbei  bemerkt:  bei  alten  Plänen  —  und  ist  zunächst 
für  den  bestimmt,  der  sich  mit  den  neuen  Gedanken  allgemeiner  bekannt  machen  will. 
Leipzig.  Johannes  Kühnel. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (August  Pries)  in  Leipzig. 


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