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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE
PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN UND O. SCHEIBNER
UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON
A. FISCHER UND H. GAUDIG
XV. JAHRGANG
1914
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
o.
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Inhaltsverzeichnis.
A. Abhandlungen.
Seite
Zur Frage der Erziehungsziele. Von Dr. E. Meumann, Prof. am öffentlichen
Vorlesungswesen in Hamburg 1
Montegsori's pädagogischer Versuch der „Case dei bambini" in der Eindergarten«
bewegung. Von Dr. U. Saffiotti, Prof. an der Universität Rom . 9
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. Von Stadtarzt Prof. Dr. med,
W. V. Drigalski, Privatdozent an der Universität Halle .... 17
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes. Von Dr. K. K. Prinz v. Löwen-
stein-Freudenberg in München 25
Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführungen. Von
Gerichtsassessor Dr. jur. A. Hellwig, wissensch. Beirat d. juristischen
Fakultät Berlin 37
Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindungen und Bewegungsvor-
stellungen bei Formkombinationen. Von Geh. Medizinalrat Prof. Dr.
phil. et med. Th. Ziehen in Wiesbaden 40
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. Von Dr. H. Rupp,
Privatdozent an der Universität Berlin 44; 217; 408
Deskriptive Pädagogik. Von Privatdozent Dr. A. Fischer in München . . 81
Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung. Von Lehrer R. Peter in
Hamburg 96
Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik und Psychologie.
Von Dr. G. Deuchler, Dozent für Pädagogik an der Universität
Tübingen , 114; 145; 229
Moralpsychologische Auswertung freier Einderzeichnungen von taubstummen
Schülern. Von R. Lindner, Lehrer an der Königl. Taubstummen-
anstalt in Leipzig 160
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildyerständnis. Von Rektor
O. Hasserodt in Hamburg • 184
Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule. Von Prof,
J. Duck in Innsbruck 177
Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie. Von Privat-
gelehrten Dr, A. Huther in Heidelberg 195
Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und sein Zusammenhang mit der Auf-
klärung. Von Universitätsprofessor Dr. v. Aster in München . . 209
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. Von
Oberlehrer Dr. W. Krassmöller in Berlin 257; 313
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter.
Von Lehrer F. Rössel in Hamburg 265
Arbeitsfeld und Ziele der Schulhygiene. Von Regierungsrat Professor Dr, phil.
Dr. jur. hon. c, L. Burger stein, Privatdozent an der Universität
Wien 283
Der Begriff des Interesses in psychologischer Ableitung. Von Privatgelehrten
Dr, A. Huther in Heidelberg 280
Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie. Von Universitätsprofessor Dr.
W. Stern in Breslau 306
IV Inhaltsverzeichnis.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit und Urteilsbeständigkeit
der Schulkinder. Von Lehrer A. Lode in Chemnitz i. Sa. . . 327; 369
Zwei neue Ergographen. Von Dr. G, Anschütz, Assistent am psychologischen
Institut in Hamburg 336
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß. Ein Beitrag zur experimentellen
Gruppenpsychologie. Von Dr. W. Mode, Assistent am Institut für
experimentelle Pädagogik in Leipzig 353
Die Milieuerkrankung des Kindes. Von Professor Dr. F. Kühner in Eisenach 369
Zahlbildung und Finger. Von Dr. H. Walsemann, Direktor des Oberlyzeums
zu Schleswig 403
„Unsere Jugend'*. Bericht über die pädagogische Ausstellung in Essen. Von
Oberlehrer Dr. J. Weber in Wattenscheid 419
„Wir Deutschen". Aus dem Seelenleben unserer Zeit. Von Schulrat Prof.
Dr. H. Gaudig in Leipzig 449
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen über den Fortschritt der
Verbesserungen der öffentlichen Volksschulen im Deutschen Reiche. Von
Privatdozent Dr. A. Fischer in München 454
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. Von Lehrer
C. Zeidler in Hamburg 465
Die Ermüdung und das Antikenotoxin. Von Lehrer F. Lorenz in Berlin . . 482
Über psychische Idiosynkrasien bei Schülern und ihre heilpädagogische Behandlung.
Von Dr. J. Girstenberg in Berlin 484
Zur Psychologie der Schrift des Kindes. Von Prof. F. Kuhlmann in Bremen "488
Untersuchungen über die Rechtschreibung yon Volksschülern. Von Schuldirektor
Dr. H. Tittmann in Leipzig 492; 550
Der Krieg und die Schule. Von Universitätsprof. Dr. A. Messer in Gießen . 529
Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts. Von Geh. Re-
gierungsrat Universitätsprof. Dr. P. Cauer in Münster 540
Formauffassung und SchreibTersuch im Kindergartenalter. Von Dr. A. Huth
in München 566
Die echte Idee des Kindergartens nach Fröbel. Von Dr. A. Prüfer, Dozent
und Verwaltungsdirektor der Hochschule für Frauen in Leipzig . 592
B. Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Alkoholkriminalität der Jugendlichen 244
Arbeitsplan einer Versuchsschule 338
Aufgaben der psychologisch -pädagogischen Forschung im Gebiete des Religions-
unterrichts 64
Ausstellung der pädagogischen Fachpresse der Welt 203
Amerikanische Koedukationsschulen 136
Berufserkrankungen des Lehrers 600
Berufsständiges Herkommen der Volksschullehrerschaft 61
Ein deutsches Schulmuseum in Leipzig 601
Deutsches „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht" 340
Elternbelehrung über die Versuchsklassen im Elementarunterrichte 205
Erste Einzelerinnerung 204
Erprobung der „Linkskultur" in den Berliner Hilfsschulen 55
Ein Fall von Kleptomanie im Schüleralter. Von KurtTucholsky. . . . 55
Ferienheilsprachkursus für unbemittelte Schulkinder 600
Für stotternde Schulkinder , 58
Gegen die „Warnung vor den Übergriffen der Jugend-Psychoanalyse" .... 201
, Gesellschaft für Psychologie und Hygiene* 140
Institut für Jugendkunde in Bremen 512
Internationaler Kongreß für Volkserziehung und Volksbildung 341
Internationale pädagogische Fachpresse 516
Inhaltsverzeichnis.
Internationale Regelung der Kinderarbeit 138
Eerschensteiners Leitsätze über „Die nationale Einheitsschule" 242
Kinder- und Jugendselbstmorde 134
Medizinisch-pädagogische Fürsorge- und Beratungsstelle zu Eisenach 427
Nachrichten 66, 250. 295, 341, 517
Neue Theorie über die Ursache der Schulkurzsichtigkeit 57
Pädagogik in den Vorlesimgen der deutschen Hochschulen für das Sommer-
halbjahr 1914 . 293
Pädagogisch-psychologisches Institut zu München 425
Pädagogisch-psychologisches Laboratorium an der Landeslehrerakademie In Wien 513
Pädagogische Zentrale 62
Phonetisches Laboratorium des Hamburgischen Kolonialinstitutes 65
Praktische pädagogische Ausbildung von Studenten an einer Volksschule . . . 599
Preisausschreiben 139, 250, 427
Prüfung für Hilfschullehrer 60
Psychologie der Rechtschreibungsfehler bei Schulkindern. Von Otto Schreyer 132
Psychologisches Institut in Hamburg 339
Religions-psychologischer Fragebogen 423
Richtlinien für militärische Vorbildung 611
Selbstregiening in der Erziehung 423
Statistik der Selbstmorde Jugendlicher in Preußen 293
Stellung des deutschen Lehrervereins zur pädagogischen Wissenschaft 422
Theodor Lipps. Von Aloys Fischer 603
Über ein neuropsychologisches Grundgesetz 389
Umfrage über die Wirkungen des Kindergartens. Von Nelly Wolffheim . . 931
Umfrage über die Wirkung der Ortsschulaufsicht auf den Unterricht 61
Unterschiede der Abstraktionsfähigkeit bei Knaben und Mädchen 598
Vergleich der schulärztlichen Befunde bei Schülerinnen der Höheren Mädchen-
schule und der Volksschule 57
Vergleichende Pädagogik. Von Johannes Kretzschmar. 200
Versuchsweise Einführung einer Schulreform 60
Vertretung der Pädagogik auf der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe
und Graphik , 246
Wesen und Prinzipien der Elementarbildung 697
Wilhelm Wundt über den „wahrhaften Krieg" 607
Zehn Gebote einer Kriegspädagogik 609
Zur Frage der rangmäßigen Schulplätze 135
Zur Soziologie der erwerbsunfähigen Schwachsinnigen 59
C. Literaturbericht.
Ament, Dr. W., Die Seele des Kindes. Otto Scheibner 441
Anderson, David Allen, The School System of Norway. Dr. F. W.Meisnest 255
Anschütz, G., Die Intelligenz. Eine Einführung in die Haupttatsachen, die
Probleme und die Methoden zu einer Analyse der Denktätigkeit.
Fritz Giese 71
Baeumker, Clemens, Anschauung und Denken. A. Huther 76
Baumgartner, H., Psychologie oder Seelenlehre mit besonderer Berück-
sichtigung der Schulpraxis für Lehrer und Erzieher. Otto Scheibner 141
Bechterew, Bildhches Schreiben der Kinder. W. J. Ruttmann 431
Bechterew, Prof. Dr. O. v., Objektive Psychologie oder Psychoreflexologie,
die Lehre von den Assoziationsreflexen. Johannes Handrick . . . 252
Beck, Fr., Americana Paedagogica. Aloys Fischer 349
Bloch, Robert, Die Grundlagen der Rechtschreibung. Otto Scheibner . 607
Brandenberger.K., Die Zahlauffassung beim Schulkinde. Gustav Deuchler 604
Brandi, Karl, Unsere Schrift. Carl Jesinghaus 606
VI Inhaltsverzeichnis.
Budde, Gerhard, Moderne Bildungsprobleme. Dr. A, Huther 67
Busse, Ludwig, Geist und Körper, Seele und Leib. Dr. Aloys Fischer . 70
Dritter deutscher Kongreß f. Jugendbildung und Jugendkunde zu
Breslau am 4., 5. u. 6. Oktober 1913. Paul Ficker 346
Die Deutsche Unterrichtsausstellung. Dr. Rieh. Tränkmann 256
Dürr, Prof. Ernst, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Rieh. Tränkraann 298
Ebbinghaus, Herm., Abriß der Psychologie. Rieh. Tränkmann .... 342
Eucken, R., Zur Sammlung der Geister. Lic. Paul Krüger. ...... 66
Fauth-Finkbeiner, Grundlagen des Zeichen- und Kunstunterrichts.
W. J. Ruttmann ' 430
Flagstad, Ch. B., Psychologie der Sprachpädagogik. Dr. Hermann Schmitt 73
Freud, Prof. Dr. Sigism., Die Traumdeutung. Paul Ficker ...... 603
Fröscheis, Dr. Emil, Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für Ärzte,
Pädagogen und Studierende. Dr. Ernst Levy 253
Gabius, Dr. P., Denkökonomie und Energieprinzip. Joseph Herkomer . . 344
Gesamtunterricht im ersten und zweiten Schuljahre. Rieh. Tränkmann . . 608
Geyser, Joseph, Die Seele. Werner Bloch 601
Gerlach, A., Von schönen Rechenstunden. Kurt Döring 442
Gerlach, A., Des Kindes erstes Rechenbuch. Otto Scheibner 301
Giese, Fritz, Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen.
J. Handrick 142
Goddard, Die Familie Kalikak. Ferdinand Kühne 524
Henning, Dr. Hans, Der Traum, ein assoziativer Kurzschluß. Paul Ficker 437
Hensel, Paul, Hauptprobleme der Ethik. Hans Frey er 78
Herbarts Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Dr. Joh. Kretzschmar 80
Hönigswald, Rieh., Studien zur Theorie pädagogischer Grundbegriffe.
Otto Scheibner 606
Ivanoff, E., Recherches experimentales sur le dessin des ecoliers de la
Suisse romande. W. J. Ruttmann 430
Jodl, Fr., Das Problem des Moralunterrichts in der Schule. Gustav Deuchler 346
Kafka, Gustav, Einführung in die Tierpsychologie. Aloys Fischer . . . 522
Kerrl, Dr. Th., Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Otto Scheibner . . 254
Kind und Schule. Rieh. Tränkmann 441
Krukenberg, H., Der Gesichtsausdruck des Menschen. Aloys Fischer . . 252
Kohler, Josef, Recht und Persönlichkeit (Kultur der Gegenwart). Werner
Bloch 522
Külpe, Osw., Einleitung in die Philosophie. Fritz Low 296
Kunzfeld,A., Naturgemäßer Zeichen- und Kunstunterricht. W. J. Ruttmann 431
Lay, Dr. W. A., Reform des Psychologieunterrichts, verdeutlicht an Schüler-
arbeiten. Rieh. Tränkmann 299
LippB, G. F., Über die geistige Entwicklung des Schulkindes. Seh. . . . 525
Lobsien, Marx, Kinderzeichnung und Kunstkanon. W. J. Ruttmann . . 430
Lobsien, Marx, Das Gedächtnis. Rieh. Tränkmann 523
Luquet, G. H., Les dessins d'un enfant. W. J. Ruttmann •....,. 430
Luquet, G. H., Le premier äge du dessin enf antin. W. J. Ruttmann . . 430
Meumann,E., Abriß der experimentellen Pädagogik. Prof. Dr. R. Tränkmann 439
Meumann, Dr. E., Intelligenz und Wille. Rieh. Tränkmann 343
Meßmer, Der zeichnerische und der sachliche Blick. W. J. Ruttmann . . 432
Montessori, Dr. Maria, Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter.
Nelly Wolffheim 299
Murtfeld, Wilhelm, Grundlagen und Stoffe für Hilf sschuUehrpläne. Otto
Scheibner • . 256
Muth, Über Ornamentationsversuche mit Kindern im Alter von 6—10 Jahren.
W. J. Ruttmann 433
Muthesius, Karl, Die Berufsbildung des Lehrers. Max Brahn .... 77
Nagy, Ladislaus, Psychologie des kindlichen Interesses. (Übersetzung
aus dem Ungarischen.) A. Huther 207
Inhaltsverzeichnis. VII
Pfordten, O. v. d., Das Gefühl und die Pädagogik. A. Huther 438
Penzig, Rudolph, Ernste Antworten auf Kinderfragen. Aloys Fischer . 76
Potpeschnik, Luise, Aus der Kindheit bildender Kunst. W. J. Ruttmann 433
Prüfer, Dr. Joh., Kleinkinderpädagogik . . . Friedrich Fröbels „Mutter und
Koselieder" . . . Vorläufer Fröbels . . . Quellen zur Geschichte der
Kleinkindererziehung . . . Johannes Kühnel 525
Prüfer, Dr. Johannes, Kleinkinderpädagogik. Nelly Wolf f heim .... 68
Ranschburg, Paul Dr., Psychologische Studien. K. G. Szidon 602
Rothe, K. C, Sonderelementar klassen für sprachkranke Kinder. Otto
Scheibner 348
Rouma, G., Le langage graphique de l'enfant. W. J. Ruttmann 430
Ruttmann, W. J., Die Hauptergebnisse der modernen Psychologie mit be-
sonderer Berücksichtigung derlndividualforschung. Rieh. Tränkmann 297
San dt, Dr. Hermann, Die Pädagogik Wicherns. Lic. Paul Krüger ... 437
Schanoff, Botju, Die Pädagogik des Rechnens. Dr. A. Huther .... 75
Scheindler, August, Methodik des Unterrichts in der lateinischen Sprache.
A. Huther 144
Schlager, Paul, Pädagogik, Psychologie, Philosophie. Kritischer Literatur-
bericht. Paul Ficker 346
Schmidt, Prof. Dr. med. E. A., Das Schulkind nach seiner körperlichen Eigen-
art und Entwicklung. Otto Scheibner 441
Schmidt, Alfr., Kunsterziehung und Gedichtbehandlung. A. Huther . . 300
Scholz, Prof. Dr. W. Rein, Eine kurzgefaßte Darstellung seines Lebens
und Wirkens. Otto Scheibner 348
Schriften des Deutschen Fröbelverbandes, Heft 2. Nelly Wolffheim . . . 347
Schulwartkatalog. Ein Lehr- und Lernmittelverzeichnis. Paul Ficker . 348
Schulze, Rud,, Experimente aus der Seelenlehre. Kurt Schleif 70
Schumann, Religion und Wirklichkeit. H. v. Müller 519
Seguin, S.Edward, Die Idiotie und ihre Behandlung nach physiologischer
Methode. Ernst Levy 524
Siercks, H., Jugendpflege. Johannes Kühnel 208
Stern, Victor, Einführung in die Probleme und die Geschichte der Ethik.
Hans Freyer 80
Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. Werner Bloch . . . 518
Vierkandt, Das Zeichnen der Naturvölker. W. J. Ruttmann 432
Viertel Jahrsverzeichnis neuer Schriften 301
Vorträge über wissenschaftliche und kulturelle Probleme der Gegenwart.
R. Tränkmann 436
Wagner, P. A., Das freie Zeichnen von Volksschulkindern, W. J. Ruttmann 433
Wähmer, Richard, Spracherlernung und Sprachwissenschaft. Hermann
Schmitt 444
Weber, Alfred, Schriften zur Soziologie der Kultur. Dr. Werner Bloch . 206
Weber, Ernst, Zeichnerische Gestaltung und Bildungsarbeit. W. J. Ruttmann 430
Wohl r ab, E. H., Lebensvoller Unterricht axif der Unterstufe. Joh. Kühnel 608
Wohlrab, E. H., Zum dritten Schuljahr. Joh. Kühnel 608
Wulffen, Erich, Das Kind. Sein Wesen und seine Entartung. Dr. E. Levy 142
Wyneken, G., Schule und Jugendkultur. Dr. Hans Freyer 68
Ziertmann, P., Pädagogik als Wissenschaft und Professuren der Pädagogik.
Dr. Gustav Deuchler 264
Zur Frage der Erziehungsziele.
Von Ernst Meumann.
Die Pädagogik unsrer Zeit ist in Gefahr, sich durch die Fülle neuerldeen
und neuer Vorschläge „zur Umkehr", „zur Reform", zum Einschlagen „neuer
Bahnen", zur ,, Gewinnung von Neuland" und dergleichen zu zersplittern,
und es entspricht daher einem dringenden Bedürfnis, wenn die Praktiker
und Theoretiker der Pädagogik neuerdings dem Beispiel aller großen wissen-
schaftlichen und praktischen Bewegungen der Gegenwart gefolgt sind und
eine Aussprache und einen Ausgleich der Gegensätze auf pädagogischen
Kongressen herbeigeführt haben.
Das wichtigste, aber zugleich das schwierigste Ziel zur Verständigung und
Einigung der Geister wäre eine Klärung der Frage der Erziehungsziele —
nicht bloß des Bildungszieles, wie es auf dem vorletzten Kongreß des
Bundes für Schulreform in München als Thema gestellt war. Denn die Ziele
(oder das Ziel), die sich der einzelne Pädagog — bewußt oder unbewußt,
mit mehr oder weniger bestimmter wissenschaftlicher Formulierung und
Begründung — stellt, bestimmen natürlich seine ganze pädagogische Tätig-
keit, und sie legen bei dem Systematiker der Pädagogik seine „Richtung"
oder seinen ,, Standpunkt" fest.
Mag man nun die Aufgabe und das Wesen der Erziehung auffassen, wie
man will, auf das eine kommen alle Definitionen der Erziehung hinaus, daß
wir das heranwachsende Geschlecht durch die Erziehung zu einem uns vor-
schwebenden menschlichen Ideal heranzubilden suchen: zu einem Ideal,
dessen Inhalt natürlich sehr verschieden bestimmt werden kann und das in
den verschiedenen Zeiten und Generationen auch sehr verschieden bestimmt
worden ist. Bald hat man mehr darauf Wert gelegt, daß die Erziehung die
Vermittlerin und Überlieferin des von den früheren Generationen erworbenen
Bildungsgutes sein soll (Willmann), dann wird man den Erwerb dieses
Bildungsgutes als einen ,, Hauptwert" des Erziehungszieles betrachten; bald
betont man melir die Fähigkeit der heranwachsenden Generation, sich der
kulturellen, wissenschaftlichen und sozialen Aufgabe ihrer Zeit zu bemäch-
tigen und sich ihnen gewachsen zu zeigen (so die meisten gegenwärtigen
pädagogischen Reformer).
Die Bedeutung der Erziehungsziele äußert sich naturgemäß auch darin,
daß die großen historischen Gegensätze in der Pädagogik (als Theorie
und Praxis), die „Strömungen", „Richtungen" und ,, Standpunkte", die uns
in der Geschichte der Pädagogik entgegentreten, durch die Verschiedenheit
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1
Zur Frage der Erziehungsziele.
der Ziele bestimmt werden, welche von einzelnen Pädagogen oder ganzen
Zeitströmungen als Erziehungsideale anerkannt wurden. Je nachdem das
Erziehungsziel eine mehr formale oder materiale (inhaltlich bestimmte)
Formulierung erhielt, trug auch die ganze Erziehungs- und Unterrichts-
arbeit bald mehr formalistischen Charakter, bald wurde sie bis in die Aus-
wahl und Behandlung der einzelnen Lehrgegenstände hinein von bestimmten
materialen „Idealen" durchdrungen. So ist Pestalozzis Erziehungsziel und
seine ganze Didaktik mehr formalistischer Natur: die einzelnen Kenntnisse
des Schülers treten in allen Unterrichtsfächern für ihn zurück hinter der
Wertschätzung der formalen Fähigkeiten des Intellektes und des Willens,
die der Schüler erwirbt, während umgekehrt bei den Philanthropen — trotz
ihrer stark formalistischen Beeinflussung durch Rousseau und Pestalozzi —
die Betonung des Nützlichkeitsgesichtspunktes wieder die Wertschätzung
des Wissens gegenüber bloß formalem Können in den Vordergrund drängt.
Im ganzen Mittelalter und noch weit darüber hinaus, z. B. in den humani-
stischen Gymnasien der Reformation herrscht die Wertschätzung bestimmter
Kenntnisse — besonders natürlich lateinischer Sprachkenntnisse — in
solchem Maße vor, daß dieses materiale Ziel die ganze Erziehung beeinflußt.
Soll doch — nach einer ungefähren Berechnung — Johannes Sturm (in
Straßburg) die Kenntnis von rund 20000 lateinischen Vokabeln von seinen
Schülern gefordert haben.
Die relativ material bestimmten Erziehungsziele erzeugten aber viel
durchgreifendere Gegensätze im Erziehungswesen. Wo Bildung und Kennt-
nisse am höchsten geschätzt wurden, entstand der pädagogische Intellek-
tualismus; wenn die ethischen Ziele allen anderen übergeordnet wurden,
entstand der pädagogische Ethizismus; wenn die religiöse Bildung bevor-
zugt oder ausschließlich betont wird, sehen wir teils den Konfessionalis -
mus entstehen, teils Erziehungsideale vom Charakter einzelner Auffassungen
des religiösen Lsbens, wie das pietistische, methodistische oder das Jesuitische
(soweit es für die Ordensschüler selbst gedacht war). Einseitige Wert-
schätzung ästhetischer und künstlerischer Bildung brachte den pädagogischen
Ästhetizismus hervor (Schelling; der schroffste Gegensatz dazu findet
sich vielleicht bei Sören Kierkegaard). Die einseitige Schätzung der Brauch-
barkeit des Zöglings für das praktische Leben erzeugt einen eigentümlichen
pädagogischen Utilitarismus (der sich keineswegs mit dem ethi-
schen Nützlichkeitsstandpunkt deckt): wir sehen ihn in ausgeprägter Form
bei Basedow, dessen Erziehung ,,zum gemeinnützigen, patriotischen und
glückseligen Leben" oft in recht banaler Weise den Gesichtspunkt der prak-
tischen Brauchbarkeit des Zöglings betont — schon die Einteilung der Schüler
am Philanthropin in Dessau beruhte darauf. Und innerhalb der material
bestimmten Erziehungsziele sind nun wieder sehr verschiedene Standpunkte
möglich je nach der genaueren Bestimmung des Gesamtziels. Der pädago-
gische Ethizismus kann das Erziehungsziel bald mehr im Sinne der Kant-
schen Pflichtethik bestimmen, dann erhalten wir einen pädagogischen Rigo-
rismus; bald mehr im Sinne der Glückseligkeitsethik (pädagogischer Eudä-
monismus oderHedonismus), bald mehr im Sinne des ethischen Utilitarismus,
der Perfektionsmoral usw. Fast alle diese Möglichkeiten finden wir auch in
Zur Frage der Erziehungsziele.
der Geschichte des Erziehungswesens verwirklicht, und es fragt sich nun,
wie soll sich unsere gegenwärtige Pädagogik zu dieser Fülle historisch aus-
geprägter Standpunkte stellen? Gibt es unter den historisch gewordenen
Erziehungszielen eines, das sich noch dazu eignet, das einheitliche Ziel
unsrer Zeit zu sein? Gibt es unter den vom systematischen Gesichtspunkt
aus möglichen Zielen eines, das die Gegensätze unsrer Zeit zu einigen ver-
mag, oder eines, das wir als den vollen, allumfassenden Ausdruck oder als den
Kern unsrer ,, modernen" Erziehungsideen ansehen können?
Lassen wir einmal die verschiedenen Möglichkeiten der Zielbestimmung
,Revue passieren' unter dem Gesichtspunkt, ob eine von ihnen als das uns
völlig befriedigende Erziehungsziel unsrer Zeit angesehen werden kann!
Da haben wir zunächst den Gegensatz der mehr formal oder mehr material
bestimmten Ziele. Es ist zu beachten, daß der ganze Gegensatz formaler und
inhaltlich bestimmter Ziele ein bloß relativer ist! Es gibt mehr oder
weniger formalistische Zielangaben und mehr oder weniger bestimmte
Inhaltsangaben bei der materialen Zielbestimmung. Zu den extrem for-
malen Zielbestimmungen gehören einige der heutzutage besonders beliebten
Angaben, wie die Erziehung „zur Kraft", „zur Tat" (W. A. Lay), „zum
Handeln", zur ,, Selbsttätigkeit", „zum Willen", zur „Ausdrucksfähigkeit"
oder gar die Zielbestimmungen, die sich auf die Angabe einzelner formaler
Willenseigenschaften beschränken, wie die ,, Erziehung zur Konsequenz",
,,zur Willensstärke" und dergleichen.
Alle diese extrem formalen Zielangaben sind völlig unbrauchbar, um
die Fülle und Mannigfaltigkeit der Erziehungsbestrebungen unsrer Zeit zu
umfassen, oder auch, um deren einheitlichen Grundgedanken anzugeben.
Denn einerseits haben alle rein formalen Zielbestimmungen große Nach-
teile — die wir sogleich sehen werden — , sodann sind diese heute so behebten
Formeln sogar ganz beschränkte Einseitigkeiten, die höchstens einige ein-
seitige Verirrungen unsrer ,, modernen" Pädagogik zum Ausdruck bringen.
Die Nachteile rein formaler Zielbestimmungen sind einmal ihre völlige Leer-
heit und Inhaltlosigkeit und damit ihre Indifferenz gegenüber
Wertangaben. Die Erziehung „zur Kraft", ,,zurTat", zur „Konsequenz" und
dergleichen sagen ja nichts darüber, in welchem Sinne und in welcher
Gesinnung nun die „Tat", die ,, Konsequenz" usw. gemeint ist: ob im sitt-
lichen oder unsitthchen, im rein utilitarischen, sozialen, antisozialen, indi-
vidualen usw. Sinne. Es hat auch konsequente Verbrecher gegeben, und
unter der brutalen, gewissen- und skrupellosen Ausbeutung der Mitmenschen,
die wir heutzutage wohl als ,,Amerikanismus" bezeichnen (ob mit Recht oder
Unrecht, das wollen wir dahingestellt sein lassen !), finden sich die klassischen
Beispiele einer ,, Erziehung zur Tat", sogar in deren idealster Form der
„Selbsterziehung zur Tat"; der ,,Selfmadegauner", wie ihn ein moderner
Humorist genannt hat, ist in der Tat die höchste formale Verkörperung
einer Selbsterziehung zur Tat! Sodann bringt die Inhaltlosigkeit formaler
Zielbestimmung einen weiteren Nachteil mit sich, nämlich die Schwierigkeit
ihrer Anwendbarkeit. Jede Anwendung eines solchen Zieles (sowohl
in der Wissenschaft wie in der Praxis) auf den einzelnen Fall stellt uns vor
ein neues Problem, oft sogar vor ein Rätsel, weil wir stets wieder aufs neue
1*
Zur Frage der Erziehungsziele.
ZU bestimmen haben, ob und in welchem Sinne das in dem allge-
meinen Ziel ausgesprochene Prinzip auf den einzelnen Fall zutrifft.
Einige Beispiele! Erziehung zur „Konsequenz" — ja, was ist denn im ein-
zelnen Falle „konsequent" handeln, die absolut starre und mechanische Be-
folgung eines Entschlusses oder einer Form des Handelns oder aber die An-
passung des Handelns an die jeweiligen Umstände unter möglichster
Aufrechterhaltung eines früheren Entschlusses? Ich habe mir etwa vor-
genommen, einem Bettler nichts zu geben, weil ich darin die Gefahr der
Begünstigung der Faulheit, Arbeitsscheu, Vagabondage und dergleichen
erblicke ; nun tritt einmal ein Bettler an mich heran, von dem ich weiß, daß
er in wirklicher unverschuldeter Not ist, kein Arbeitsscheuer, kein Vagabund,
— was ist dann ,, Konsequenz", die Gabe zu verweigern oder nicht? Oder
mein Prinzip sei die „Erziehung zur Tat", nun steht ein Zögling vor der ,, bangen
Wahl", seinem Feinde eine Beleidigung zu erwidern oder den anderen durch
Selbstbeherrschung zu entwaffnen; was ist da die ,, Erziehung zur Tat";
das Losschlagen (das doch sicher eine ,,Tat" ist) oder die Selbstbeherrschung?
Kurz, alle rein formalen Ziele machen im einzelnen Falle stets erst eine be-
sondere Entscheidung nötig, wie sie anzuwenden sind. Man verzeihe mir
diese populären Überlegungen, aber sie sind angesichts der ,, Sicherheit",
mit der heutzutage Erziehungsziele von ganz ungenügendem Charakter auf-
gestellt werden, nötig.
Ferner sind die vorhin erwähnten ,, modernen" Ziele auch abgesehen von
ihrem inhaltleeren und indifferenten Charakter ungenügend wegen ihrer
geradezu beschränkten Einseitigkeit. Ich habe schon angedeutet, wie wenig
solche Angaben zu bedeuten haben, wie die Erziehung zum Handeln, zur
Tat, zur Selbsttätigkeit und dergleichen; man kann noch hinzufügen: er-
schöpft sich denn wirklich unser gegenwärtiges Erziehungsstreben in ein
paar derartigen einseitig voluntaristischen Zielen? Sind Gefühls- und
Phantasiewerte, sind intellektuelle Eigenschaften wie die Selb-
ständigkeit und Produktivität des Denkens für uns nichts mehr? Kommt
es unsrer heutigen Erziehung wirklich nicht mehr darauf an, ob dabei Wille
und Tat ,,als solche" gemeint sind, oder-ob wir einen von der Intelligenz
und von einer bestimmten Gefühl sdisposition geleiteten „Tatwillen" in
der Jugend heranzubilden streben ? Ist es uns gleichgültig, ob dieses Han-
deln, diese Selbsttätigkeit, diese „Tat" individual oder sozial gerichtet ist?
Man braucht solche Überlegungen nur anzudeuten, um die Beschränktheit
der Auffassung des Erziehungswerkes zu erkennen, die sich in den genannten
Formeln ausdrückt! Noch schlimmer steht es mit der Erziehung zur „Aus-
drucksfähigkeit", die auf dem letzten internationalen Kongreß für Zeichnen
und Kunsterziehung in Dresden (1912) allen Ernstes als das Erziehungsziel
hingestellt wurde! Was ist denn eine ,, Ausdrucksfähigkeit" wert, wenn wir
gar keinen Inhalt angeben, den der Zögling „ausdrücken" soll? Und was
wäre eine reine Erziehung zur Ausdrucksfähigkeit ohne voraus- und parallel-
gehende Erziehung des Zöglings zur Empfänglichkeit und zur Ein-
drucksfähigkeit? Und was ist Ausdrucksfähigkeit als eine Eigenschaft
der Persönlichkeit; ist sie wirklich ihre Grundeigenschaft? Können wir
uns nicht auch eine reiche und tiefe Persönlichkeit denken, deren Ausdrucks-
Zur Frage der Erziehungsziele.
fähigkeit eine relativ unvollkommene ist ? Gewiß ist ein solcher Mensch in
mancher Beziehung benachteiligt, aber der Kern seiner Persönlichkeit, seine
Grundgesinnung, sein Wollen, sein Gemütsleben, ja selbst die Klarheit
seines Denkens und die Folgerichtigkeit seines Schließens braucht darunter
nicht zu leiden.
Neben den extrem formalen Erziehungszielen kennen wir die relativ
inhaltlich bestimmten, die aber noch keinen bestimmten Zielinhalt nennen,
wie die Erziehung zur Vollkommenheit, zur harmonischen Ausbildung aller
Scelenkräfte, zur Persönlichkeit (als solchen) und dergleichen. Sie teilen
die erwähnten Nachteile der rein formalen Angaben, aber sie geben in jenen
Begriffen doch schon bestimmtere Ziele an, weil sie gewisse Möglichkeiten
ausschließen, die in den zuerst erwähnten Zielbestimmungen offen gelassen
werden. Eine ,,Persönnchkeit", einen vollkommenen Menschen, eine in sich
harmonische Natur können wir uns z. B. nicht zugleich als unsittlich, oder
als mit sozialen oder auch großen ästhetischen Defekten behaftet denken;
jeder derartige Defekt degradiert auch die in jenen Begriffen angedeuteten
Ideale. Immerhin bleiben auch sie zu unbestimmt, um in einer an inhalt-
lichen Ideen so reichen Erziehungsbewegung wie der der Gegenwart als völhg
ausreichende Zielbestimmungen dienen zu können.
Es bleiben die material bestimmteren Ziele, wie wir sie durch die einzelnen
,, Wertgebiete" angeben können, also in der Hauptsache: das sittliche, das
sittlich-religiöse, das rein rehgiöse, das ästhetische, das rein praktische und
das rein intellektuelle Erziehungsziel.
Gegenüber diesen durch die Erziehung im Zögling auszubildenden Werten
erhebt sich nun die fundamentale Frage: dürfen wir eines von ihnen
allen überordnen, und wenn das der Fall ist, welches Ziel hat Anspruch
darauf, in der Erziehung das höchste zu sein, und wie ordnen sich die anderen
ihm unter? Wir bedürfen in diesem Falle also einer Wertskala oder einer
subordinierenden Stufenfolge der Erziehungsziele nach ihrem relativen
Werte für die Erziehung. Das ,,für die Erziehung" ist dabei zu betonen,
denn es ist nicht ohne weiteres gesagt, daß die Skala dieser Werte unter
anderen Gesichtspunkten, z. B. dem der Persönlichkeit oder des sozialen
Lebens sich mit der pädagogischen Wertskala decken muß! Für Er-
ziehungszwecke könnten z. B. dann die intellektuellen Ziele höher stehen als
die übrigen, wenn sich zeigen ließe (wie Herbart meinte), daß alle Erziehung
,,vom Gedankenkreise" des Zöglings ausgeht.
Neben der Unterordnung der Erziehungs werte besteht aber ferner die
Möglichkeit, sie vollständig zu koordinieren. Das heißt, man
könnte meinen, daß jede Subordination (dem Werte nach — nicht logische
Subordination!) der Erziehungsziele vom pädagogischen Gesichtspunkt aus
unberechtigt sei, teils weil sie notwendig in der Praxis zur Unterschätzung,
Vernachlässigung, Benachteiligung eines oder mehrerer Teilziele der
Erziehung führen müsse, teils weil es in der Natur der Teilziele und der übrigen
Werte der Erziehung liege, daß sie auch keine systematisch-wissenschaft-
liche Einordnung in ein Hauptziel vertragen: jedes Wertgebiet habe viel-
mehr seine eigenartige und völlig selbständige Bedeutung auch
für die Erziehung, diese müsse also auch aufrecht erhalten werden. Das
Zur Frage der Erziehungsziele.
schließt aber eine Wertabstufung der Partialziele in der Erziehung schein-
bar vollständig aus. Ein Beispiel möge das klar machen. Die intellek-
tuellen Ziele, also die Vermittelung von Kenntnissen und von intellek-
tuellen Fähigkeiten (wie Beobachtungsgabe, Gedächtnisleistung, Phantasie-
und Denkfähigkeiten) haben zweifellos eine völlig selbständige Bedeu-
tung für den Unterricht. Der Unterricht mag noch so sehr als ,, erziehen-
der" aufgefaßt, als „ethisch gerichteter" gekennzeichnet werden. Niemand
kann leugnen, daß die Erziehung und die Sittlichkeit für den Unterricht
nur sekundäre Ziele sind, jeder Pädagoge hat naturgemäß beim Unter-
richten unmittelbar und als primäres Ziel die Vermittelung bestimmter
Kenntnisse und intellektueller Fähigkeiten im Auge, alles andere
erscheint dem gegenüber als ein in zweiter Linie zu erstrebender Mit erfolg — •
es mag so wertvoll sein wie es will. Und für die Praxis des Unterrichtens
bringt z. B. eine Überordnung sittlicher oder ästhetischer Gesichtspunkte
die Gefahr mit sich, daß der Erwerb von Wissen und Kenntnissen, die Schulung
des Denkens und dergleichen vernachlässigt wird. Nun erscheint aber wieder
der Unterricht neben der erziehlichen Beeinflussung im engeren Sinne als
eine völlig selbständige Partialtätigkeit in dem Ganzen der Erziehung, die
ihre eigenartige Bedeutung hat und durch nichts anderes ersetzt werden
kann. Der Erwägung, daß ein Unterricht ohne sittliche Orientierung wertlos
sei, kann der Vertreter des Koordinationsprinzips entgegen halten, daß es
wohl eine befriedigende sittliche Erziehung ohne Unterricht nicht gibt —
sittliche Erziehung ohne alle sittliche Belehrung und Hebung der sittlichen
Einsicht ist undenkbar. So scheint es mit allen Erziehungswerten zu stehen;
Jeder hat in den Grenzen der Erziehung seine eigenartige, durch nichts zu
ersetzende Bedeutung, deshalb scheint auch keiner dieser Partialwerte dem
anderen übergeordnet werden zu dürfen, es sei denn auf Kosten dieser
selbständigen Bedeutung der übrigen Werte.
Alle diese — zugunsten der Nebenordnung der Erziehungsziele an-
gestellten Überlegungen sprechen also gegen ihre Unterordnung. Aber
auch eine volle Nebenordnung der genannten pädagogischen Wert-
gebiete gibt zu großen Bedenken Anlaß. Wie sollen wir uns z.B. die
Erziehung denken, wenn zwei Wertziele in Konflikt geraten? Die
Probleme der sexuellen Aufklärung bieten ein Beispiel dafür ! Das Interesse
an intellektueller Belehrung verlangt gebieterisch, daß wir den Kindern
keine falschen Vorstellungen von den sexuellen Vorgängen und keine un-
richtige Erklärung von ihnen geben; das Interesse der sittlichen Erziehung
kann dagegen große Bedenken erheben — wenigstens für gewisse Lebens-
jahre des Kindes. Welches Partialziel hat nun hierbei den Ausschlag zu
geben ? Die modernen Anhänger der sexuellen Aufklärung fordern zum Teil
unbedingt das erstere, nicht wenige Ethiker halten auch ein längeres Ver-
harren des Kindes in unrichtigen Sexualbegriffen für notwendig. Wir scheinen
also in der Praxis der Erziehung ohne eine bestimmte Wertordnung der
Partialziele der Erziehung nicht auszukommen! Aber ferner scheint der
Koordinationsstandpunkt überhaupt kein einheitliches Gesamtziel der Er-
ziehung zu kennen, und wenn es auch logisch möglich ist, zu sagen: die Er-
ziehung hat alle jene Werte gleichmäßig im Zögling heranzubilden, so muß
Zxir Frage der Erziehungsziele.
das doch in der Praxis zu einer Zersplitterung des Erziehers wie des Zöglings
oder zu einer „Vielseitigkeit" im übelsten Sinne des Wortes führen. Die
Konsequenz dieses Standpunktes in der pädagogischen Praxis scheint ja
die zu sein, daß wir die gleiche Zeit und Kraft auf sittliche wie auf
künstlerische, auf formal- und material-intellektuelle wie auf religiöse Bildung
verwenden — ein in praxi unmögliches Verfahren. Kurz: beide Standpunkte
in der materialen Zielbestimmung scheinen auf unlösbare Schwierigkeiten
zu stoßen.
Ein klassisches Beispiel für die Art, wie man diese Schwierigkeiten nicht
lösen soll, bietet die Pädagogik Herbarts dar. Herbarts Pädagogik mußte
eigentlich nach ihrer psychologischen und metaphysischen Grundlage eine
rein intellektualistische sein, denn die Seele hat nach Herbart nur
eine Art von Tätigkeit, die des Vorstellens. Wille und Gefühl werden
aus diesem erst sekundär abgeleitet und sind bei Herbart nur in Worten
vorhanden, also mußte auch die erzieherische Beeinflussung der Kindesseele
in letzter Linie immer nur eine Beeinflussung von Vorstellungen sein, also
rein intellektuelle Beeinflussung. In der Erkenntnis dieses Mangels
seiner Pädagogik half sich Herbart mit einem Gewaltstreich: er setzte trotz-
dem das ethische Ziel („Charakterstärke der Sitthchkeit") als höchstes
ein und schuf den Begriff des „erziehenden Unterrichts", als eines Unter-
richts, der sitthchen Zwecken dient. Dieser Begriff ist bei Herbart eine klare
Inkonsequenz, oder w^enn man will, eine Tautologie ; denn die „Erziehung" eines
rein intellektuell bestimmten Wesens wie der Seele, kann nichts anderes
sein als intellektuelle Beeinflussung. Die Folgen der inneren Zusammen-
hangslosigkeit dieser beiden Begriffe zeigen sich nun bei den Herbartianern
darin, daß fortgesetzt die ethischen Gesichtspunkte auch bei der Methodik
des Unterrichts mit Gewalt und ohne jede Motivierung aus dem Wesen
des Unterrichts selbst herbeigezogen werden, wobei zugleich die eigentüm-
liche intellektuelle Bedeutung des Unterrichtes verkannt wird. Die bedenk-
lichsten Mißgriffe sind dabei befürwortet worden, indem Stoffe, die inhalt-
hch gar keine Beziehung zum sittlichen Leben zeigen, wie geographische
und naturkundliche, zu ,, Gesinnungsstoffen" umgestempelt wurden. Weil
Herbart gar kein Prinzip haben kann, um den Unterricht im engeren Sinne
erziehend wirken zu lassen, suchten die Herbartianer in prinziploser Weise
erziehende Tätigkeit in den Unterricht hineinzutragen, und über all den
„Gesinnungsstoffen" wurde die so außerordentlich wichtige formal-or-
ziehende Bedeutung im Unterricht, die Erziehung zur Gewissenhaftigkeit,
Genauigkeit, zum Fleiß, zur Energie, zur Konsequenz, durch die Form der
Tätigkeit des Zöglings übersehen.
Welchen Ausweg gibt es aus diesen Schwierigkeiten? Die gegenwärtige
Pädagogik betont mit Recht die außerordentliche Bedeutung, welche die
Heranbildung der Persönlichkeit des Zöglings hat. Aber sie begnügt
sich nicht damit, einen inhaltlecren Persönlichkeitsbegriff als Ziel der Er-
ziehung aufzustellen, sondern wir suchen diesen Begi'iff auf drei Wegen
zum Erziehungsziel geeignet zu machen. Einmal durch die psycho-
logische Persönlichkeitsforschung, die uns immer mehr zu der Erkenntnis
dessen führt, was in der Persönlichkeit das Bestimmende, sie Konstituierende
8 Zur Frage der Erziehungsziele.
ist, und das heranzubilden, ist ein Hauptziel der Erziehung. Sodann dadurch,
daß wir nicht nur fordern, der Zögling muß „zur Persönlichkeit" gebildet
werden — wobei immer die Gefahr vorliegt, daß wir ihm ein abstraktes,
seiner Eigenart nicht entsprechendes Persönlichkeitsideal auf-
zwingen — , sondern indem wir die bestimmtere Forderung aufstellen, so
zu erziehen, daß die individuelle Eigenart jeder einzelnen Persön-
lichkeit zur Geltung kommen muß. Nicht ein abstraktes Persönlich-
keitsideal, sondern die Einzelpersönlichkeit, die sich in voller
Eigenart zu behaupten vermag, ist unsre bestimmtere Formulierung
des Erziehungszieles. Das ist auch der tiefere Sinn aller gegenwärtigen Be-
mühungen um die Hebung der ,, Selbsttätigkeit" (besser: Selbständigkeit),
Spontaneität und Aktivität des Zöglings, die an Stelle passiven Aufnehmens
treten soll.
Aber wir würden mit jenem Ziel der Herausarbeitung der Einzelpersön-
lichkeit einem planlosen und wahllosen Individualismus verfallen, wenn
wir nichts anderes als die Ausbildung der Einzelpersönlichkeit und ihrer
bestimmenden Grundzüge ins Auge faßten, vielmehr denken wir uns die
Einzelpersönlichkeit wieder als eine mit allen jenen Erziehungs werten ausge-
rüstete, als eine ethisch, ästhetisch, intellektuell und praktisch so gebildete,wie
sie es ihrer Anlage und ihren Fähigkeiten nach überhaupt zu erreichen vermag,
und wir suchen deshalb durch eine dritte Art von Untersuchungen zu zeigen,
wie eine bestimmt geartete Einzelpersönlichkeit diese Werte in sich ver-
wirklichen kann.
Es läßt sich nun zeigen, wie mit dieser Auffassung des Erziehungszieles
auch die Schwierigkeiten gelöst werden, die sich auf dem Standpunkt der
Subordination wie der Koordination der Erziehungswerte zeigten. Die
Pädagogik hat von ihrem Gesichtspunkte aus keinen Grund, eines jener
Wertgebiete allen anderen überzuordnen — wenn sie es tut, so begibt sie
sich damit in Abhängigkeit von einem bestimmten wertphilosophischen
Standpunkt und verfällt notwendig allen Einseitigkeiten seiner Auffassung
auch für die Erziehung — eine Gefahr, die durchaus zu vermeiden ist. Viel-
mehr kann die pädagogische Lösung dieser Fragen nur die sein: wir haben
alle jene Werte im Zöghng heranzubilden, wir müssen ihn ebensowohl in
die sittliche, wie die rehgiöse, wie die ästhetische und intellektuelle Seite
der Bildung einführen, aber wir haben ihn zugleich zu einer solchen Per-
lichkeit zu erheben, die imstande ist, über die Über- und Unterordnung
dieser Werte im eigenen Leben selbst zu entscheiden. Dann zwingen
wir dem Zögling kein seiner Eigenart nicht entsprechendes Persönlichkeits-
ideal auf, wir fallen nicht der Gefahr anheim, die Eigenart der einzelnen Er-
ziehungstätigkeiten aus dem Auge zu verlieren und falsche Gesichtspunkte
in die Partialziele der Erziehung hineinzutragen, ein Partialziel anderen zu
opfern und dergleichen. Wir lassen die autonome Persönlichkeit des Zög-
lings selbst diejenige Subordination der Wertgebiete vornehmen, die ihr
entspricht, und suchen ihn zu dieser autonomen Persönlichkeit heranzubilden.
Will man dieser Zielbestimmung einen Namen geben, so mag sie vielleicht
als der Standpunkt der autonomen Einzelpersönlichkeit bezeichnet werden.
Diese ganze Überlegung, die hier nur in einigen Grundzügen angedeutet
Montessoria pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw.
wurde, verlangt noch eine mehrfache Ergänzung. So muß z. B. betont
werden, daß in dieser Zielbestimmung wichtige weitere Forderungen ein-
geschlossen liegen, wie die Angabe der Grundzüge, die in der Einzelpersön-
lichkeit heranzubilden sind, damit sie ihrer Aufgabe, ihr eigener Wertgesetz-
geber zu sein, gerecht werden kann. Ferner ist es selbstverständlich, daß das
Kind, solange es noch nicht die nötige Selbständigkeit hat, sich in hohem
Maße von dem Erzieher in seinen Wertschätzungen abhängig zeigen wird —
aber daran ändert kein pädagogischer Standpunkt etwas, und darum muß
doch das Ziel aller Erziehung die immer mehr zu entwickelnde autonome
Entscheidung des Zöglings sein. Dieses Schicksal, daß wir unser Erzieh-
ungsziel nicht sogleich an dem unentwickelten Kinde verwirklichen können,
teilt es mit allen anderen Erziehungszielen — auch die Selbständigkeit
und Produktivität können wir nicht sogleich dem fünf- oder sechsjährigen
Kinde zumuten. Und die Schwierigkeit, die einzelnen Wertgebiete in
der Erziehungspraxis gleichmäßig zu berücksichtigen, regelt sich von selbst
durch die Rücksichtnahme auf den geistigen Entwickelungsgang des
Kindes; wir können z. B. ästhetische Werte erst relativ spät an das
Kind heranbringen, weil es lange Zeit für den eigentlich ästhetischen
Eindruck nicht zugänglich ist. Die Ent Wickelung des Kindes selbst und
sein sukzessives Zugänglichwerden für die einzelnen Erziehungswerte stellt
für die Praxis der Erziehung einen naturgemäßen sukzessiven Stufen-
gang her. Auch das ist kein Bedenken, daß damit dem Individualismus
im ungesunden Sinne Tür und Tor geöffnet sei, denn so verschieden
sind die Menschennaturen nicht, und auf der anderen Seite kann kein
noch so rücksichtsloser Erziehungszwang (im Sinne einer extrem hetero-
nomen Pädagogik) verhindern, daß der eine Mensch sich kraft seiner
angeborenen Anlage mehr zum religiösen Bekenner, der andere mehr zum
Intellektualisten entwickelt, daß der eine empfängHcher bleibt für die Welt
des Sittlichen, ein anderer für die künstlerische und ästhetische Seite des Lebens.
Wo wir überhaupt auf die selbständige Persönlichkeit stoßen, da sehen wir
sie auch in erster Linie ihre Wertskala selbst bestimmen. Warum sollte
also die Erziehung das nicht zu ihrem Ziele machen? Bilden wir nur die
Einzelpersönlichkeit so reich und so selbständig aus, daß sie im Besitz aller
Werte ist und die Fähigkeit hat, autonom ihr Leben so zu gestalten, wie es
ihrer Abstufung der Werte entspricht!
Montessori's pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini''
in der Kindergartenbewegung.
Von F. Umberto Saffiotti.
Die neue Methode der Kindererziehung nach Dr. med. Marie Montessori,
Privatdozentin an der Universität Rom, Montessorische Methode genannt,
hat fast in allen Ländern, die an der Spitze der pädagogischen Bewegung stehen,
einen ungewöhnlich großen Erfolg zu verzeichnen. Deutschland, die Vereinigten
10 Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw.
Staaten, die Schweiz, England, Frankreich, auch Japan, Indien und Australien,,
haben viel dazu beigetragen, Interesse für diese Methode zu erwecken, die
nach der Meinung ihrer Schöpferin eine Revolution der veralteten pädagogischen
Methoden und der heutigen Lehrpläne des niederen und höheren Schulwesens
fördern soll. In dem Chor von Lob und Bewunderung schwieg fast vollständig
Italiens Stimme, obgleich es das Geburtsland der neuen Methode war. Warum ?
Sollte es dem Bibelwort „nemo propheta inpatria" treu geblieben sein ? Oder sollte
die Entwicklung seines Schulwesens, die Orientierung seines wissenschaftlichen
Geistes in bezug auf die pädagogische Anwendung nicht auf der Höhe stehen,
um die Vorzüge der Montessorischen Methode so zu übersehen? Ich glaube
weder das eine noch das andere.
In Italien, wie auch anderswo, muß man Kämpfe gegen die traditionelle,
rein aprioristische Pädagogik führen, aber zu gleicher Zeit können wir nicht
behaupten, daß unser Land mit seinen pädagogischen Problemen außerhalb
der übrigen wissenschaftlichen Bewegung geblieben ist; im Gegenteil, wir haben
hier eine Tradition, an die sich das Werk der Montessori anschließt. -, | |i'|| ^
Die wissenschaftliche Pädagogik in Italien geht zurück auf den berühmten
Anthropologen Prof. Sergi. Er war der erste, der die Anwendung der
experimentellen Psychologie auf pädagogische Probleme in
Fluß brachte; er war es, der die Notwendigkeit einer ,, anthropologischen
Psychologie", deren Voraussetzung die Kenntnis der kindlichen Individualität
unter psychophysischem Gesichtspunkt wäre, befürwortete. Aber sein Gedarke
fand eine einseitige Anwendung, die über den rohen Messungen das grundlegende
Prinzip der Revision der ganzen Methode und Theorie der Pädagogik übersah.
Eines der am meisten erörterten Probleme in Sergis Kreise war die Erziehvrg
der Anormalen. Montessori nun wandte sich diesem Problem zu und fand neben
Sergi ihre Lehrer in Stard und Seguin. Das amerikanische Werk von Dr. Seguin
— Idioty and its treatment by the physiological method 1866 — entwickelte
den Gedanken, daß die physiologische Methode, d. h. diejenige, welche die
individuelle Kenntnis des Schülers und der erzieherischen Faktoren durch die
genaue Analyse der physischen und psychischen Tatsachen gewinnt, auch lür
die normalen Kinder gelten und, entsprechend angewandt, zugleich die Regene-
ration der Menschheit hervorbringen müsse. ,,Seguins Stimme schien mir die
eines Wahrsagers zu sein; ich umarmte im Geiste die Größe des bedeutenden
Werkes, das die Reform der Schule und Erziehung herbeizuführen imstande wäre.
Montessori dachte zuerst an die Anwendung der speziellen Methoden bei der
Erziehung derAnormalen auf die Schüler der ersten Volksschulklasse ; dann aber,
unter Einfluß von gewissen Erscheinungen, die ich unten angebe, richtete sie
ihre Aufmerksamkeit auf das Kleinkinderwesen und die Organisation der vor-
schulpflichtigen Erziehung.
In der Hälfte des letzten Viertels des XIX. Jahrhunderts entwickelte sich
in Rom eine fieberhafte Bautätigkeit; der Stadtteil ,,San Lorenzo" wurde 1884 bis
1888 gebaut, vornehmlich zu Wohnungszwecken für die arme Bevölkerung,
ohne jedes Bedenken um Hygiene oder Moral. Als Folge der Bautenkrisis kam
eine Not, die die allerärmsten Elemente hier zusammenbrachte. Das Zusammen-
drängen von mehreren Familien in sechs oder sieben dunklen ungesnuden Zimmern
ohne Licht und Luft, in Not, Laster, oft in Verbrechen dahin ^vegetierend — das
Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw. 11
ist das Bild dieses Viertels zu jener Zeit. Man kann sich leicht vorstellen, was
ein Leben in dieser Umgebung von Schmutz und Elend für die Kinder bedeutete.
Da erschien eine Abhilfe: „das römische Institut der Immobilienbesitzer" kaufte
die alten Häuser an, riß sie nieder und errichtete an ihrer Stelle gesunde, prakti-
sche Wohnungen zu geringem Mietspreis für jede Familie einzeln ; es verpflichtete
sich sogar, den Einwohnern eine gewisse kulturelle Ausbildung zu gewähren.
Heutzutage gibt es mehrere von solchen großen Häusern in verschiedenen Stadt-
teilen, und ihr Anblick macht wirklich einen angenehmen Eindruck: in der
Mitte ist ein Hof mit Blumen und Bäumen bepflanzt, die einzelnen Wohnungen
sind im Besitze modernen Komforts, als da sind: Badezimmer, gemeinsamer
Lesesaal, Vereinszimmer, Arzt für jedes Haus, Separatzimmer für Kranke (bei
Ansteckungsfällen), gemeinsame Waschküche usw., und für die Kinder, die während
der Tagesstunden, die ihre Eltern bei der Arbeit verbringen müssen, allein sind,
hat man einen Klub gegründet, eine Art von kindlicher Familie, wo die Kleinen
versorgt, gepflegt und unterrichtet werden, kurz gesagt: es entstand auf diese
Weise eine echte ,,Casa dei Bambini", wie sie von Frau Olga Lodi genannt
wurde (Kinderhaus, Maison des enfants,Houseof Childhood oderChildrensHouse).
Die Lehrerin oder eine Vorsteherin hat ihre Wohnung in demselben Hause ; sie
kennt alle Eltern von ihren kleinen Zöglingen, die sie lieben und verehren. Dieses
auf solche Weise verwirklichte Wohltätigkeitsideal trug zur andauernden so-
zialen Besserung gewisser Volksschichten bei. Zu diesem sozialen Werke wurde
Dr. Montessori berufen, um die Organisation der neuen Kinderschulen zu leiten.
Die Methode Montessori verdankt nun ihre Entstehung zwei günstigen Ge-
legenheiten, einer ideellen: dem Erscheinen des Buches von Dr. Seguin, und
einer materiellen: der Einladung vom Direktor der Römischen Gesellschaft
des Grund- und Bodenbesitzes, Ed. Talamo, zur Leitung der ,,C. d. B.". Ihre
Methode ist — nach der Darlegung von Montessori in ihrem Buche^) — ein Syste-
matisierungs versuch auf dem empirischen Boden einiger allgemeinen Prinzipien
der experimentellen Psychologie und verschiedener Strömungen der modernen
Pädagogik, ein Systematisierungsversuch auf Grund des didaktischen Materials,
gesammelt bei Seguin, Bourneville, Fröbel, von anderen schon in Italien be-
stehenden Schulen (Arbeits- und industriellen Schulen) und von der Initiative eini-
ger Erzieherinnen, hier und da verändert und den neuen Forderungen angepaßt.
Anderseits ist diese Methode von großer Bedeutung: sie stellt ein vollzogenes
Experiment dar, das zum Zweck der praktischen und konkreten pädagogischen
Orientierung dienen sollte. Das ganze Buch von Montessori durchzieht fol-
gender grundlegende Gedanke: die pädagogische Methode muß experimentell
sein, gegründet auf Beobachtung und geleitet durch die spontanen natürlichen
Tatsachen der psychophysischen Entwickelung des kleinen Individuums. Dieser
Gedanke soll zur Richtungslinie der modernen Pädagogik werden. Bleibt Mon-
tessori konsequent ? Wenn wir einige der allgemeinen prinzipiellen Darlegungen
in ihrem Werke betrachten, sehen wir eine Unsicherheit des Schließens, das sich
in einem Zirkel dreht: ist es die experimentelle Psychologie, die ihre Ergebnisse
der wissenschaftlichen Pädagogik liefert? oder ist es die Pädagogik selbst, sind
es die pädagogischen Experimente, die uns Aufschluß über die Psychologie
der Kinder liefern sollen ?
') ,, Selbsttätige Erziehung". Übersetzt von O. Knapp.' Stuttg. 1913.
12 Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw.
Wenn es wahr ist, daß „die Pädagogik die Aufgabe hat, nicht die Empfindungen
zu messen, sondern die Sinne zu erziehen", so ist es unzulässig zu behaupten:
,,wir gehen hier nicht von den Ergebnissen der experimentellen Psychologie aus,
d. h. nicht die Kenntnis der sensoriellen Bedingungen jeder Alterstufe ist es,
die uns zu bestimmten pädagogischen Anwendungen zwingt", und es ist
inkonsequent, den Schluß zu ziehen: ,,wenn wir von einer Methode, als dem
Ausgangspunkt sprechen, ist es wahrscheinlich, daß die Psychologie selbst ihre
Ergebnisse in der so aufgefaßten Pädagogik findet und nicht umgekehrt";
zu gleicher Zeit wird aber behauptet, daß die an Kindern gemachten Beobachtun-
gen ,, imstande sind, die Kinderpsychologie zu rekonstruieren, um die experi-
mentelle Pädagogik vorzubereiten".
Diese Denkweise ist zweideutig: sie muß sich auch bei der praktischen Durch-
führung als solche bewähren, und wirklich haben sich die ,,Case dei Bambini"
in Laboratorien der experimentellen Pädagogik umgestaltet, denen aber jeder
wissenschaftliche und psychologische Zweck fehlt. Es ist wirklich schade,
daß die Unmenge von Bsobachtungen, die in diesen ,,nurseries psychologist",
um mit Baldwin zu sprechen, gesammelt wurde, keinen Beitrag zur Erforschimg
der psychologischen Entwicklung des Kindes lieferte.
Auf dieser zweideutigen Grundlage wird das psychologisch und pädagogische
Prinzip der Methode aufgebaut: ,, Freiheit" des Kindes und „Passivität" der
Erzieherin. Montessori hält viel auf dieses Prinzip, und es gibt in ihrem Werke
wandervolle und interessante Seiten, worin sie scharfe Kritik an der ausschließ-
lich formellen und rationellen Ausbildung der Lehrerschaft übt, die in keinem
Kontakt mit der Kinderseele ist und zu sein versteht. Montessori beansprucht
das Recht der quasi neuen Forderung der Vorbereitung des Lehrerpersonals
für alle Schulstufen: die Vorbereitung soll mehr praktischer, konkreter Natur
sein, als es bis jetzt der Fall war, damit die Entwickelung des Kindes mehr natür-
lich und spontan sein kann. Diese Forderung ist im allgemeinen nicht neu,
aber im Bereiche der vorschulpflichtigen Erziehung bildet sie eine begründete
Reaktion gegen die theoretischen Abstraktionen und gegen die Degeneration
der automatischen und leeren Anwendung des Fröbelianismus. Diese Schätzung
des Prinzips aber führt Montessori zu weit: sie vergißt, daß sie
,,die Pädagogik" zu begründen imd nicht ,,der Psychologie" die Methode zu
schaffen hat, und sie kommt infolgedessen zu ihrer grundlegenden Behauptung,
die jedoch ohne pädagogische Bedeutung bleibt : die Erzieherin soll passiv bleiben,
wenn ein Kind einen Fehler macht; sie soll es nicht verbessern, sondern ruhig
gehen lassen ; der Tag wird schon kommen, wo das Kind auf Grund einer Unter-
richtsstunde oder eines anderweitigen Eindruckes den Fehler selbst sieht und erfaßt.
Wir stimmen dem Montessorischen Prinzip der Aktivität in gewissem Um-
fange zu, aber wir können es nicht gänzlich billigen. Um ein Beispiel herauszu-
greifen: sie hat unrecht, wenn sie jede Fehlerkorrektur verbietet. Das Kind,
welches rot mit blau verwechselt und keine Verbesserung erfährt, verliert die
natürliche Gelegenheit der richtigen Benennung einer Empfindung gerade
in dem Augenblicke, wo seine Aufmerksamkeit ganz von ihr in Anspruch ge-
nommen wird. Wenn dieses Kind ein andermal zur richtigen Benennung gelangt,
welches zuversichtliche Kriterium werden wir dann besitzen, daß es nicht wie-
derum eine zufällige Erkenntnis ist? Man vergißt hier augenscheinlich eine
Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw. 13
der fundamentalen Tatsachen für die psycliische Entwickelung des Kindes:
die Suggestion und den direkten Einfluß der erziehenden Persönlichkeit. Ander-
seits scheint diese spezielle Vorbereitung für die „C. d. B." doch schließlich
nicht von großem Nutzen für die berufliche und die wissenschaftliche Ausbildung
des Lehrpersonals zu sein. Zuerst ist sie zu einseitig, zu sehr auf das Mechanische
dieser Methode, für die, wie M. zugibt, eine wissenschaftliche Veranlagung
nötig ist, beschränkt. Eine derartige Vorbereitung schreitet sehr bald zur Me-
chanisierung des Technischen der Methode, und der Begriff einer ideellen
Lehrerpersönlichkeit, die uns M. schildert, die zugleich Christus mit seiner Liebe
für die Menschheit und Wissenschaftler mit ganzer Hingabe an die Forschung
sein soll, ist sicher schön, aber unreal in der Praxis der Welt.
Das ganze Werk von Montessori durchweht ein ausgesprochener Optimismus,
ein Mystizismus des Auserwählten, der die Schule zu einer Kirche macht, die
leidenschaftliche Phantasie der Verfasserin führt uns in die erhabenen Regionen
der Zukunft.
Heutzutage sind die ,,C. d. B." nicht mehr der Ausdruck eines sozialen und
moralischen Werkes, das für das Volk bestimmt war ; sie sind vielmehr zum Thema
der aristokratischen Salons geworden und wollen sich im übrigen den anderen
Anstalten für Vorschulpflichtige beiordnen. Unter diesem Gesichtspunkt wollen
wir sie betrachten; es soll uns wenig ihr idealer Ursprung angehen, wir wollen
sie auf ihre bleibenden Werte hin prüfen.
Die Pflege und die Erziehung der kleinen Kinder in den ,,C. d. B." kann unter
folgende Punkte zusammengefaßt werden:
1. allgemeine ärztliche Beaufsichtigung: vom medizinisch - pädagogischen
Gresichtspunkte aus ist die Anwendung der ,,Personalienbücher"i) zu erwähnen;
2. hygienische Behandlung: Anleitung zur Körperpflege, wie Reinhalten der
Hände, Zahnputzen, Waschen, Baden usw.;
3. Anleitung zur Erfüllung der praktischen Lebensforderungen: sich An-
und Ausziehen, Ordnen der Sachen, Abstauben, Decken und Abdecken, das
gegenseitige Helfen in kleinen Hausleistungen, das Begrüßen und Abschied-
nehmen, das Handreichen usw.;
4. physische Bildung: a) praktische Gymnastik — Herauf- und Heruntersteigen
einer Treppe, sich Bewegen ohne Lärm, Muskelkoordinieren usw.; b) erzieherische
Gymnastik — Übungen im Erdegraben, Pflanzenbegießen, Tierepflegen, Kücken-
nähren, dann Auf- und Zuknöpfen, Knotenmachen und -lösen, Schleifenbinden;
unter diese Rubrik fällt auch die Gjnnnastik der Atmungsorgane und der Sprach-
werkzeuge ;
5. Handfertigkeitsunterricht — Anfertigung von verschiedenen Sachen:
Tonvasen ohne Modelle, Bechern, Häuschen, Karren, Spielsachen usw. ;
6. intellektuelle Erziehung: diese umfaßt die Erziehung der Sinne, die Anfänge
des Lesens, Schreibens und Rechnens ;
7. moralische Erziehung: Abschaffung von Strafen und Belohnungen, „Seif
^) Das Personalienbuch enthält eine sehr ausgedehnte Skala der anthropometri-
schen Maße jedes Kindes, dann Bemerkungen über die physische Konstitution,
über die trophischen Bedingungen der Muskeln, über Haut- und Haarfarbe, über
erbliche Belastung, über persönliche Eigentümlichkeiten. Das ganze Personalien-
buch enthält keine psychologischen Data.
14 Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw.
governement" (Selbstregierung), Entwickelung der sozialen und der religiösen
Gefühle bei den Kindern.
Wie wir wohl sehen, stellen diese einzelnen Punkte im Zusammenhang einen
großzügig gefaßten Plan der Kindererziehung dar; mit Ausnahme von einigen
Einzelheiten können wir ihm wohl beistimmen.
Der ganze Plan aber enthält nichts Neues : er ist ein Ergebnis der neuen Ten-
denzen unserer Pädagogik, und Montessori hat nur das Verdienst ihrer Anwendung
und Verbreitung. Sehen wir uns näher an, wie die theoretischen Prinzipien
bei Montessori praktische Verwirklichung erfahren.
Die wichtige Erziehung der Sinne wird sehr unbestimmt durchgeführt : den
Kindern wird zwar genügend abgestuftes Material geboten, aber seine Durch-
arbeitung ist der Willkür, dem Zufall und dem Interesse der Kleinen preisge-
geben. Die Kinder dürfen bei dem Material verweilen, so lange sie wollen, sie
können es verlassen, wenn es ihnen kein Interesse mehr einflößt. Wenn sie Fehler
machen, brauchen sie ihren Fehler nicht zu verbessern, ja die Leiterin soll sie
oft gar nicht auf ihre Mängel aufmerksam machen. Bei solchem Betriebe fehlt
das wichtigste erzieherische Element bei der Ausbildung der Sinne: nämlich die
Erziehung zur willkürlichen Aufmerksamkeit fällt vollständig weg, sie wird
dadurch eigentlich ganz verneint. Und doch erhalten wir erst durch die Richtung
der Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmungen ,,das utilitäre Bewußtsein"
von unseren Sinnen. Das Außerachtlassen dieses Gesichtspunktes brachte die
empirische Mechanisierung der technischen Fertigkeiten in den „C. d. B." statt
der richtigen Sinneserziehung mit sich.
Rousseau predigte uns die natürliche Freiheit des Kindes ; Montessori predigt
seine soziale Freiheit. Wie sieht bei ihr diese Freiheit aus ? Im Grunde deckt
sie sich vollständig mit einer sozialen Disziplin, die, wenn sie in einer Klasse
herrscht, bald zum Sklaventum jeder individuellen Tätigkeit führt. Das funda-
mentale Prinzip der Freiheit, das die wichtigste Bedingung jeder pädagogischen
Entwickelung bildet, ist hier derartig übertrieben und, um mit dem Prinzip der
Disziplin im Einklang zu bleiben, derartig überspannt, daß die Kinder zu echten
Automaten werden, ohne in ihren Bewegungen, in ihrer Auswahl und in ihrem
ganzen Verhalten wirklich frei zu sein. Vielleicht erhält man einen günstigen
Eindruck von ihrem Hin- und Hergehen, Spielen und Arbeiten, aber dies ganze
,,L3ben" erinnert uns allzusehr an die Ordnung und Regelmäßigkeit eines Stückes,
das von Marionetten, deren Fäden uns unsichtbar sind, gespielt wird. Treten
wir z. B. in eine Casa dei Bambini ein! In einem Augenblicke sind wir von einer
ganzen Schar von Kleinen umgeben, sie reichen uns die Hände, begrüßen und
küssen uns und wollen ihr Können zeigen. Wenn wir einige Stunden mit den
Kleinen verbringen, wirkt die absolute Stille der Klasse ganz merkwürdig;
wenn die Kinder sprechen müssen, lispeln sie; wenn sie sich bewegen, gehen sie
still, ganz still. Es ist keine fröhliche, lachende, lebhafte, sorglose, oft schreiende,
überlaute Kinderschar mehr, — es sind kleine Erwachsene, die ernst, überlegend,
sinnend arbeiten. Die Klasse ist hier zugleich der Platz des Mystizismus einer
kindlichen Religion. Und diese Religion hat auch ihre Zeremonie: es ist die
Hervorruf ung des Schweigens.
Auf welche Weise es eingeübt wird, erfahren wir auch aus dem Absatz über
die Erziehung des Gehörsinnes, wo es heißt: „Ich rufe das Schweigen durch
Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw. 15
gewölmliclie Mittel hervor, und dann vertiefe ich es durch die Laute ,,st! st!"
in einer abgestuften Reihe von Tönen, von sehr klangvollen, langen, bis zu leisesten
von sehr kurzer Dauer. Die ^leinen werden allmählich entzückt. Von Zeit
zu Zeit sage ich: ,, Noch mehr Schweigen, noch mehr", und ich spreche meinen
Laut immer schwächer und wiederhole ,,Noch mehr, mehr" ! fast mit ersterbender
Stimme. Dann sage ich fast dramatisch, als wenn man mitten im Meere eine
Glocke gehört hätte, mitVerwunderung ,,Hier, man hört dieUhr", ,,Hier, man hört
die Fliegen" usw. Die Kinder verbleiben dann in solch einem absoluten Schweigen,
daß man glauben könnte, das Zimmer sei leer. ,, Schließen wir die Augen!" Ich
glaube, daß Übungen dieser Art die|Kinder dermaßen an Unbeweglichkeit
und absolutes Schweigen gewöhnen, daß mir später nur ein Ton, ein Blick genügt,
um Ordnung und Stille wieder herzustellen. Nach dem Einüben der Stille ist
es erzieherisch ratsam, den Kindern die Schönheit der Glocken vorzuführen:
sie wirken beruhigend durch ihre ernsten und süßen Töne, anderseits erregend
durch die kleinen Glöcklein. Und wenn man zu sagen imstande ist, daß man außer
der Gehörserziehung die , ,vibratorische" Erziehung des ganzenKörpers, der Muskeln,
der Venen erreicht hat, kann man zugleich sicher sein, daß der erreichte ,,fibrilläre
Friede" derKinder von selbst „das Schreiende" in ihrerEntwicklungvermeiden wird. "
Das alles ist nicht natürlich; es ist vielmehr ein unbewußter Versuch der
Hypnose, des Faszinierens der kleinen Kinder — diese Poesie des Schweigens
z. B. würde durch die Kinder selbst, die das Leben in seinem vollen Umfang
lieb haben, auf spontan-kindliche Weise nie erstrebt und erfaßt werden.
Bei milderer Beurteilung können wir sagen, daß die ,,C. d. B." statt des
Materials zum Aufbau der Kinderpsychologie uns eher Stoff liefert zu einer
Psychologie der Ausnahme.
Nach der Darstellung von Montessori können die ,,C. d. B." folgende Resul-
tate aufweisen:
1. Im Alter von 2 — 3 Jahren erkennen die Kinder die geometrischen
Formen und zwar mehr durch das Gefühl (den Tastsinn) als durch das Gesicht;
sie können sie auch der Größe nach ordnen, die Kegel in die für sie bestimmten
Löcher hineinstellen, die Grundfarben unterscheiden, kleine Türme aus Klötzchen
bauen; ein Kind von 2^ Jahren erkennt die Buchstaben von a — f.
2. Im Alter von 3 Jahren gewinnen die Kleinen die stereognostische
Erkenntnis der Gsgenstände durch Gefühl und Gesicht zusammen, dann die
Nuancen der Hauptfarben. Auf dem Willensgebiet erhalten sie auch die Fähig-
keit zu selbständigem und freiem Handeln.
3. Im Alter von 3 — 4 Jahren können die Kleinen Vergleiche zwischen den
Größen von mehreren Körpern anstellen; manche schreiben auch schon.
4. Im Alter von 4 Jahren besitzen sie die Fähigkeit zum Verallgemeinern,
alle können schreiben und verstehen den Aufbau der Wörter durch Buchstaben
und Silben, l^^ Monate genügen, um den Kindern das Schreiben beizubringen,
2^2, damit sie mit Feder undTinte schreiben, imd 5 Monate, damit sie im Schreiben
die Stufe der 3. Klasse einer gewöhnlichen Schule erreichen; mit 4 Jahren schrei-
ben sie selbständig kleine Briefe.
5. Im Alter von 4 — 5 Jahren: Benennung der geometrischen Körper.
Das Lesen der Adressen der Hauskorrespondenz.
6. Im Alter von 5 Jahren: Benennung der Farben; Lesen und Schreiben
16 Montessoris pädagogischer Versuch der „Gase dei bambini" usw.
wie auf der Stufe der zweiten Klasse einer gewöhnlichen Schule; das arithme-
tische Rechnen bis 100. Ein Kind, das schon schreiben kann, macht nach
14tägiger Übung perspektivische Zeichnungen und bemalt sie; kann aber die
einzelnen Teile noch nicht benennen.
7. Im Alter von 6 Jahren: geometrische Analyse, Fähigkeit der Beobach-
tung, des Voraussehens, der Geduld zur Erreichung dessen, was die anderen
leisten können; Naturempfinden; Handfertigkeit; Anfertigung von Vasen, Am-
phoren, Tripoden aus Ton — das alles bildet den geistigen Besitz der kleinen Schar.
Nach dem Verlassen der ,,C. d. B." treten die Kinder mit diesen Vorzügen ihrer
physischen und geistigen Entwickelung in die zweite Elementarklasse ein. Die
von Montessori erzielten Resultate erscheinen besonders groß, wenn man sie mit
denen anderer vorschulpflichtigen Anstalten vergleicht. Die Eltern, welche
sehen, daß die Kinder in verhältnismäßig kurzer Zeit viele praktische Fertig-
keiten erworben haben und mit 5 — 6 Jahren schon lesen und schreiben können,
sind von der ganzen pädagogischen und didaktischen Organisation der ,,C. d. B."
entzückt und drücken immer und überall ihre große Freude darüber aus.
Für uns aber, die wir der Sache objektiv gegenüberstehen, ist es wichtig
zu erfahren, ob und welche absoluten Vorzüge diese frühzeitige Erwerbung
der Kenntnisse für den allgemeinen Schulnutzen liefert.
Leider fehlen uns genaue Angaben. Auf unsere Anfragen bei den Rektoren
erhielten wir die Antwort, die Kinder aus den ,,C. d. B." seien in ihrer Entwicke-
lung und ihren intellektuellen Fortschritten nicht individuell beobachtet worden;
im übrigen unterschieden sie sich in keiner Weise von anderen Kleinen ihres
Milieus. Diese Antworten können uns kein Material, weder positives, noch
negatives, für die genaue Prüfung der erhaltenen Ergebnisse liefern. Es wäre
wünschenswert, daß in der Zukunft Vergleichstabellen der Leistungen der
Kinder aus den ,,C. d. B." und der aus dem üblichen Hausmilieu oder aus anderen
vorschulpflichtigen Anstalten hervorgegangenen Kinder im Laufe ihrer ganzen
Schulzeit aufgestellt würden — dann hätte man Anhaltspunkte zu einer objek-
tiven Beurteilung und Bewertung des Montessorischen Systems. Da uns solche
statistische Angaben vollkommen fehlen, ist jedes Lob wie jeder Tadel dieses
Systems im ganzen nicht am Platze. Was die einzelnen pädagogisch-didaktischen
Maßnahmen betrifft, so enthält es, abgesehen von den suggestiven Exaltationen
xmd den mystischen Stimmungsübertreibungen zweifellos viele treffliche Einzel-
heiten. Hervorzuheben wäre das konsequent durchgeführte Prinzip der weit-
gehenden Selbständigkeit und Selbsttätigkeit auf jeder Stufe der kindlichen
Entwickelung und die größere Ausnutzung des Muskel- bzw. des motorischen
Sinnes beim Schreib- und Leseunterricht der Kinder, als es jetzt der Fall ist.
Unsere Darlegungen verdichten wir zu folgenden summarischen Sätzen:
1. Es gibt keine originelle Montessorische Methode.
2. Ihre Darbietungen stellen einen Versuch der Systematisierung der Tatsachen
der experimentellen Psychologie und anderer bereits festgestellter und anerkann-
ter pädagogischen Ergebnisse dar.
3. Die ,,Case dei Bambini" mögen ihren ursprünglichen rein sozialen Charakter
beibehalten; als Unterrichtsanstalten entbehren sie jedes speziellen Interesses.
4. Montessoris System ist eine nützliche Reaktion auf den pädagogischen
Apriorismus. (Übersetzt von Dr. H. v. Reybekiel.)
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. 17
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren.
Von WHhelm v. Drigalski.
Wenn das Säuglingalter noch immer eine solche Fülle von Gefahren
für das Leben zu überstehen hat, daß bei uns fast ein volles Fünftel unserer
Kleinsten ihnen vor Ablauf des ersten Lebensjahres erliegt, wenn das Kindes-
alter bis zur Reifeentwicklung von zahlreichen Feinden, den infektiösen
Kinderkrankheiten heimgesucht wird, so ist unsere Jugend in der Zeit der
Pubertät äußeren Anstürmen und inneren Erschütterungen ausgesetzt, die
für die ganze körperliche, insbesondere aber auch für die geistige Leistungs-
fähigkeit, die G-esundheit des gesamten Nervensystems und damit für die
seelische Ent Wickelung von gewaltiger Bedeutung sind.
i? Für viele der Heranwachsenden ist die Entwicklungszeit eine solche der
Gefahr. Diesen Gefahren für das gesunde Geistesleben unserer Jugend hat
auch der Hygieniker seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, um in enger Füh-
lung mit den berufenen Fachleuten, dem Psychologen und Psychiater, ihnen
entgegenzutreten. Die Geisteshygiene ist ein wichtiger Zweig der Schul-
hygiene geworden. So kommt auch der praktische Hygieniker dazu, auf
dem zur Behandlung gestellten Gebiet Erfahrungen zu sammeln und Maß-
nahmon zu treffen. Nur dieser Umstand berechtigt mich, mit Unterstützung
der fachkundigen Psychologen an der Besprechung so schwieriger Fragen
teilzunehmen.
Wollen wir ergründen, welche Folgen die heute in Städten und besonders
in einer Großstadt wirksamen Einflüsse auf das geistige Werden unserer
Jugendlichen ausüben, so dürfen wir uns nicht nur auf Vermutungen oder Spe-
kulationen einlassen; ganz und gar müssen wir uns hüten, etwa eines der
modernen Schlagworte („Freiheit der Jugend", „Seelenmord in der Schule"
usw.) überwertig in unserem Denken werden zu lassen. Vielmehr ist es nötig,
so weit als möglich sachlich zuzusehen, was für ein Organismus es ist, der
sich in unserer oft so lärmvollen Umgebung entwickeln soll, welchen Ge-
setzen das Wunder der lebenden Maschinerie etwa folgt, an welchen Hebeln
erwünschte oder unerwünschte Einwirkungen einsetzen. Nach den Ent-
wickelungsbedingungen für unser Geistesleben vornehmlich soll sich die
Erziehung richten. Der Erzieher sollte daher etwas von der organischen
Ent Wickelung des Menschen wissen, mit dem er sich befassen soll.
In wunderbarer Gesetzmäßigkeit entwickelt sich der kindliche Organismus
zunächst in größter Abhängigkeit von dem mütterlichen. In dem rasch auf-
blühenden Körper sorgt ein Organ für das andere, leidet eines mit dem
anderen, blüht eins durch das andere, man kann auch sagen — hält eins das
andere in Schach. Fehlt dem Säugling die nötige Bewegung und Anregung,
so bleiben Muskulatur und Stoffwechsel zurück, damit auch die Knochen-
bildung, die Entwickelung des Blutgewebes usw. Versagt der Ernährungs-
apparat, so leiden sehr rasch alle anderen Organe not. Trennen wir aber
irgendein Organ von seiner nervösen Verbindung, so geht es raschem Schwund
entgegen. Bei so enger Verknüpfung ist es begreiflich, daß trotz der hohen
Selbständigkeit, die wir an unserem Nervensystem beobachten, auch die
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 3
18 Das Entwicklungsalter und seine Gefahren.
Tätigkeit der Nervensubstanz, insbesondere der Hirnelemente stark beein-
flußt und beeinträchtigt werden kann durch den Zustand anderer Körper-
provinzen. Daher das Wort : Mens sana in corpore sano. Das muß für ein
Organ, das wie das menschliche Hirn schließlich der Leiter und Träger der
meisten körperlichen Funktionen ist, wohl beachtet werden.
Beim Säugling finden wir bereits Ys des gesamten Hirngewichtes, ein
zweites entwickelt sich in der Kinderzeit bis zum 14. Jahre, die Ausbildung
des letzten Drittels erfolgt sehr rasch, oft genug unter stürmischen
Erscheinungen während der Entwickelungsjahre, in der Pubertät.
Aber nicht nur das nervöse Organ erfährt dann, etwa zwischen dem 14. und
17. Jahre, also in einer recht kurzen Zeitspanne eine gewaltige Zunahme an
Masse und einzelnen feinen Elementen, sondern eine Reihe bis dahin schlum-
mernder Organe erwachen, welche in der Kindheit wohl vorhanden und
nicht ganz ohne Wirkung, aber doch von unvermerktem (latentem) Einfluß
waren. Diese innere Sekretion, besonders betont von G. Anton, ist
von solcher Wichtigkeit, daß sie das Tempo der Entwickelung, die Länge
der Beine, die Gestaltung des Schädels, die Entwickelung des Denkver-
mögens beeinflußt. Nicht allein die Geschlechtsdrüsen, sondern eine ganze
Reihe drüsiger Organe dienen dieser Neuordnung und Regulierung der Vor-
gänge im menschlichen Körper. Die äußeren Zeichen sind deutlich: Der
Knabe wird zum jungen Mann, das weibliche Kind reift zur Jungfrau, die
sekundären Geschlechtscharaktere — Körperbehaarung, Schnurrbart, Stimm-
bruch, Büste, Figur — bilden sich aus. Das geistige Wesen der bislang harm-
losen Kinder ändert sich, oft sehr rasch, überraschend, oft von den Eltern
nicht ge wertet und verstanden.
Das Kind schon hat erhebliche geistige Leistungen zu vollbringen, seine
Umwelt und ihre Eigenheiten kennen zu lernen, sich mit dem Gange des
täglichen Lebens abzufinden, sein Gedächtnis mit Schulwissen zu belasten.
Seine Erziehung geht darauf aus, es mit den nötigen Gegenständen, ihrem
Gebrauch bekannt zu machen, seine Sinne zur Anwendung zu bringen, ihm
den Nutzen oder Schaden der üblichen Handlungen im kleinen Umfang
seiner Geschäfte ,, beizubringen", es zu einer gewissen Rücksicht auf seine
Umgebung zu gewöhnen, ihm eine gewisse Menge gedächtnismäßigen Wissens
einzuprägen.
Denkt das Kind? Die Frage ist nicht ohne weiteres zu bejahen. „Wes-
halb darfst du nicht lügen?" ,,Weil Papa mich dann haut." Das ist kindHche
Logik, das der Sinn der moralischen Erziehung, die eben noch keine ethischen
Werte zur Geltung bringen kann. Das Kind ist meist von sehr kurzem Ge-
dächtnis, lenksam, suggestibel, unkritisch, unüberlegt; es ist frei von ethi-
schen Vorstellungen, amoralisch, kennt daher keine eigentliche Eltern-
liebe, Dankbarkeit, ist sehr egoistisch. Wir dürfen zunächst gar nichts
anderes von ihm verlangen. Die Begriffe gut — schlecht, zweckmäßig— un-
zweckmäßig, Schuld — Sühne, prägt ihm der Erwachsene ein. Die Über-
legung, zu der die Bildung abstrakter Begriffe gehört (Recht — Unrecht, Dank-
barkeit, Pflichtgefühl) hat das Kind noch nicht, weil ihm hierzu die nervösen
Organe fehlen. Indes sehen wir schon, wie wichtig es ist, daß das Kind bei-
zeiten gute zweckmäßige Eindrücke erhält, daß seine Aufmerksamkeit auf
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. 19
nützliclie, walire, schöne Dinge gelenkt wird, daß seinem Nachahmungstrieb
ein gutes Beispiel vorgestellt, seinem Gedächtnis Eindrücke eingeprägt
werden, die ihm förderlich sind. — Wenn wir daran denken, muß uns bei
dem Gespräch, dem Anblick, den Anreizungen, die das Getriebe der Groß-
stadt an Kinder heranbringt, bedenklich werden. Und doch geht, sieht und
hört zum Glück das Kind an vielem vorüber, ohne sich etwas dabei zu denken ;
der häusliche Einfluß kann manches Unerwünschte wieder beseitigen.
Ganz anders ist es bei den im Entwickelungsalter Stehenden. Die
stärkere Ausbildung zahlreicher nervöser Elemente bedingt stärkere Er-
regbarkeit. Dinge, die vorher nicht geschaut oder geachtet wurden, wer-
den jetzt beachtet, Gutes wie Schlechtes. Die stärkere Erregung ändert auch
das Benehmen der Jugendlichen, sie reagieren schärfer, wir merken, daß
sie reizbar, widersetzlich, veränderlich werden, daß ihre Affekte gestei-
gert sind.
Die Änderung der Gedankenrichtung springt ins Auge: Die Fähig-
keit, weiter denken zu können, wird wohl vermerkt, die Gedanken sind auf
das Hohe, Ideale, Weitschweifende gerichtet, die Rechte des Erwachsenen
werden sehr rasch beansprucht.
Die Empfindung für die Weiblichkeit erwacht, Verliebtheiten,
Schwärmereien, Geschlechtsneugierde, Geschlechtstrieb erwachen, Miß-
bräuche und Verfehlungen auf diesem Gebiet sind weit verbreitet.
Es mischen sich also Züge reiferer Entwickelung mit kindlichen, nun
kindisch wirkenden. Die Stimmungen und Affekte sind ungeregelt und wer-
den nicht beherrscht. ,, Weltschmerz" kann bis zum Selbstmordversuch
treiben, um nach wenigen Stunden schon einer vergnügten Laune beim
kindlichen Spiel Platz zu machen. Von einer Logik der Affekte ist kaum
die Rede.
Die Gedanken werden jetzt in reichlicherer Folge aneinander gereiht, weit
ausschauende Pläne gemacht, zahlreiche Vorstellungen miteinander ver-
knüpft, assoziert; aber alles das geschieht zunächst noch sehr unkritisch,
und die Folgen sind häufig unüberlegte Handlungen, dumme Streiche, in
harmlosen Fällen das Schauerdrama, das der jugendliche Verfasser un-
bedenklich über die Klassiker stellt. Die Kritik ist in charakteristischer
Weise vorwiegend negativ; oft genug offenbart sie kein Unterscheidungs-
vermögen, sondern nur den Widerspruchsgeist gegen das bisher als selbst-
verständhch Geltende, gegen Eltern, Schuldisziphn usw., Selbstkritik ist
kaum angedeutet. Der erwachende Selbständigkeitstrieb stößt begreiflicher-
weise auf Widerstände, die als altmodisch, unzeitgemäß usw. empfunden
werden, weil die sehr viel weiter reichenden Vorstellungen, die ein eigenes
Verantwortlichkeitsgefühl begründen, noch nicht recht gebildet werden
können. Dagegen wird oft genug das Ungewöhnliche, mag es auch nur in
(If!r Auflehnung gegen selbstverständliche Forderungen bestehen, beifällig
aufgenommen. Hier spielen Nachahmungshandlungen, der Imitations-
ti'ieb, oft genug eine Rolle, deren Gefährlichkeit wir aus den immer häufiger
werdenden Berichten über Verbrechen Jugendlicher, die ihren Ursprung in
der Wirkung aufreizender Schundliteratur haben, über Selbstmordversuche
aus ähnlichem Anlaß usw. nur zu deutlich erkennen können.
2*
20 Das Entwicklungsalter und seine Gefahren.
Während der Sinn für den Reiz des Weiblichen in der Pubertät lebhaft
zu werden pflegt, fehlt noch jedes G3fühl für die Größe der in den Liebes-
beziehungen ruhenden MögUchkeiten, ihre G-efahr, ihre Verantwortlichkeit.
Auch schon im Knabenalter kann der Saxualtrieb vorhanden sein, aber
durch geeignete Erziehungsmaßnahmen wenigstens bei nicht ausgesprochen
Psychopathischen eingedämmt oder abgelenkt werden. Charakteristisch für
die Reifezeit ist, daß ein oft sehr lebhafter Geschlechtstrieb normalerweise
erwacht; eine Erscheinung, die zu Unrecht von vielen Erziehern immer noch
als etwas Unsittliches gedeutet wird.
Keinem Pädagogen braucht man über die mannigfachen Schwierigkeiten, die
alle diese psychologischen Verhältnisse einer glückUchen Erziehung bereiten,
längere Auseinandersetzungen zu geben. Aber was vollzieht sich bei
allen psychischen Vorgängen, durch welche Einwirkungen
werden sie bestimmt? Über diese Fragen muß man ins klare kommen,
will man unsere Adoleszenten gerecht und sorgsam zugleich während ihres
gefährüchen Alters behandeln und leiten. Daß das nicht immer geschieht,
liegt nur allzu klar zutage. Berichte von Schulärzten und Sexualforschern
(Meirowski u. a.) lassen geradezu annehmen, daß Angehörige mancher
Gymnasien und Lyzeen ganz gewohnheitsmäßig sich Zerstreuungen und
einem Geschlechtsverkehr hingeben, über deren Konsequenzen sie sich nicht
im geringsten klar sind.
Alle psychischen Vorgänge sind an die Funktion der nervösen
Elemente der Hirnrinde gebunden. Eine solche Erregung, die in einer
Zustandsänderung besteht, wird durch äußere und innere Einwirkungen auf
die nervösen Elemente, einen Reiz, zugeleitet. Die äußeren Reize vermit-
teln die Sinnesorgane (Auge, Ohr, Gefühl, Geschmack, Geruch); der Geruch
vermag z. B. in hohem Grade geschlechtlich erregend zu wirken. Innere
Reize gehen von dem Blut, der Gewebsflüssigkeit aus. Jeder Reiz, jede Er-
regung einer Hirnzelle bedingt einen Zerfall eines Teiles des Zell-
eiweißes, der Biogene, und dieser Verbrauch wird in der Ruhe wieder
ersetzt. Wiederholt sich der gleiche Reiz — ,, Eindruck" — öfters, so geht
die L3itung des Reizes in den an ihn gewöhnten „ausgeschliffenen" Bahnen
leichter vor sich, und in der Hirnzelle bleiben Residuen dieses Eingriffes
zurück: latente Erinnerungsbilder. Noch nach langer Zeit kann der gleiche
Eindruck die gleiche Tätigkeit leicht reproduzieren, ein Verhalten, das an
die rasche u. U. noch nach Jahren erfolgende Bildung von Immunkörpern
durch die tränierte Zelle bei erworbener Immunität erinnert. Von einem
Hirnrindenelem3nt wird die Erregung durch leitende Hirnfasern, Assozia-
sionsfasern (man könnte sie auch Verbindungsbahnen nennen) zu solchen ge-
leitet, die mit jenem bei gleichen früheren Anlässen schon in leitende Ver-
bindung gebracht waren. Diese „Vergesellschaftung", Verknüpfung ver-
schiedener Eindrücke und Vorstellungen wird erst dann zureichend, wenn
zahlreiche weiterführende L3itungen vorhanden sind. Diese Assoziations-
fasern werden aber in größerer Zahl im Pubertätsalter neu ge-
bildet. Erst jetzt können längere Vorstellungsreihen entstehen, und zwar
um so leichter, je öfter die Nervenbahnen ähnliche Reize erhalten und weiter
geleitet haben. Jede Vorstellung ruft (als ihre Nachfolgerin) eine durch Ver-
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. 21
bindung ihr nahestehende hervor, die zweckmäßige Aneinanderreihung ver-
schiedener Vorstellungen gelingt immer leichter, diese Reihe von Vorstel-
lungen wird zu Schlüssen und Urteilen verbunden — der Mensch lernt
denken, und zwar folgerichtig und zweckmäßig oder auch unzweckmäßig.
Lebhaft beeinflußt wird das Zustandekommen solcher Ge-
dankenreihen vom Gefühl; die am m.eisten von lebhafter subjektiver
Empfindung betonte Vorstellung obsiegt über die Schar der mit ihr an-
klingenden und behält den Vorrang. Die Affekte, rasch und anschwellend
auftretende Gefühls Vorgänge, spielen ähnlich eine große Rolle bei dem
Denken und für die von ihm beeinflußten Handlungen (übereiltes Handeln
bei Zornmütigkeit, Körperkraft des Tobenden). Zu den mannigfachen
durch Erfahrungen gesammelten Vorstellungen kommen minder
gefühlsbetonte überheferte, erlernte. Als Glaubensvorstellung religiöser,
politischer, sozialer Richtung, als Neigungen oder Abneigungen, die in der
Kinderstube erzeugt wurden, ergänzen und beeinflussen sie wesentlich die
eigene Erfahrung. Da gerade diese Vorstellungen eiserne Beharrlichkeit, Be-
geisterung, Fanatismus bedingen können, ist es ungemein wichtig, darauf zu
achten, welche Empfindungen wir in unseren Kindern erwecken, w^elche
Gefühle wir mit der Einprägung wichtiger Vorstellungen verbinden. Es ist
kein leerer Schall, wenn man von dem Einfluß der Kinderstube als einem
häufig entscheidenden spricht.
Das Aneinanderreihen zusammengehöriger Ideen, der Gedankenzusammen-
hang wird gefährdet und gestört durch Affekte, durch überwertige Ideen;
Zerstreuungen, sexuelle Vorstellungen und Erregungen können derart hem-
mend wirken. Andererseits ist die zweckmäßige Verwertung des Nach-
ahmungstriebes als eines reizfördernden Faktors sehr wesentlich: Wirkung
des guten Beispiels. Wie schlechte, kann auch gute Gewöhnung ein-
treten; bei Wiederholung der entsprechenden nervösen Reaktionen bleibt
die betreffende Neigung bestehen. Man gewöhnt sich zweckmäßig, man
, .lernt" das ,,Gute", die Ziehung von Konsequenzen, die Beharrlichkeit,
kurz die Art der nervösen Reaktionen auf gewisse Einflüsse.
Gerade im Entwickelungsalttr stürmen besonders viele verstärkte und
vermehrte Reize auf das Zentralnervensystem ein: Die reizleitenden Bahnen
sind vermehrt, durch die Neuerzeugung innerer Reizungen ist die Reiz-
schwelle für äußere Reize gleichzeitig erniedrigt, die äußeren Reize wirken
also mächtiger, dazu kommt die Reizverstärkung durch die Zunahme der
Affekte. Die nervöse Substanz ist außerordentlich vielen neuen Eindrücken,
d. li. Erschütterungen, ausgesetzt, von denen jeder einzelne Zerfall und
Wiederaufbau bedingt und verlangt. Soll der Organismus einer solchen
Steigerung der Ansprüche gewachsen bleiben, so muß der gesamte Stoff-
wechsfl in Ordnung sein, die verschiedenen körperlichen Organe müssen
rnöglielist gl( iehmäßig beansprucht und ausgebildet werden. Im anderen
Fnllc uilstdit die Gefahr, daß einer einzelnen Hirnprovinz übermäßig viele
Reize zugemutet werden, andere zurückbleiben. Dabei muß man sich der
Tatsache bewußt bleiben, daß Muskelarbeit auch Hirnarbeit ist, daß also
bei einsfitiin r Beansprueluiiig des Geistes durch Schularbeit und infolge der
Aufzucht iiijfceres Nachwuchses in engen Zimmern eine Vernachlässigung
22 Das Entwicklungsalter und seine Gefahren.
wichtiger nervöser Zentren stattfindet, von der eine mittelbare Mitwirkung
auf die intellektuelle Leistungsfähigkeit erwartet werden kann. Jene Stö-
rungen sind sehr leicht nachzuweisen. Wir haben unter den gut situierten
Schülern der höheren und der Mittelstände bei 3361 Untersuchten nicht weniger
als 19 Prozent mit Blutarmut, 11,9 Prozent mit Zeichen von Rhachitis, also
mit Störungen des Stoffwechsels, behaftet gefunden. Schwieriger ist es, ein-
wandfrei festzustellen, daß mit der Steigerung der körperlichen Leistungs-
fähigkeit bei ebenmäßiger Behandlung auch eine solche der geistigen Leistun-
gen einhergeht. Verschiedene Untersucher geben an, derartige Befunde ge-
habt zu haben, indessen schleicht sich gerade bei diesen Feststellungen leicht
der Fehler ein, daß man Dinge miteinander vergleicht, die sich nicht ver-
gleichen lassen, oder daß man die Zufallsergebnisse zu kleiner Untersuchungs-
reihen verwertet. Es ist notwendig, ganze Schulsysteme zu untersuchen.
Diese Fehlerquellen glauben wir bei Untersuchungen, die auf meine Ver-
anlassung bei rund 12000 Kindern vorgenommen wurden, vermieden zu haben.
Schon bei den Angehörigen der höheren und Mittelschulen scheint es, als
stünden die 10 vom Hundert mit schlechten Leistungen körperlich geringer
da als die 10 Prozent, denen gute Leistungen zugebilhgt wurden. Doch
schwanken diese Ergebnisse etwas, auch ist die Zahl der für die Berechnung
erfaßten — rund 3000 — m. E. noch zu klein. Eindeutiger sind schon die
Feststellungen ausgefallen, die Herr Schularzt Dr. Peters an rund 9000
Volksschülern ausgeführt hat, schon deswegen, weil hier größere Unterschiede
in der Körperbeschaffenheit auffallen. Die Körperbeschaffenheit von 1262
,, schlechten" Schülern (Remanenten) verghch Peters mit derjenigen der
Gesamtheit und fand gute Körperbeschaffenheit bei 40,7 Prozent
aller Schüler, aber nur bei 36,6 Prozent der Remanenten, also der Minder-
begabten, minder Leistungsfähigen oder Faulen.^) Es scheint darnach richtig
zu sein, daß bei körperlich schlecht Ausgebildeten bzw. Vernach-
lässigten die Gefahr der Erschöpfung oder der rascheren Ermüdung auch in
der Minderung der geistigen Leistungsfähigkeit ihren Aus-
druck findet.
In den letzten Jahren haben Bestrebungen eingesetzt, welche das erwähnte
Mißverhältnis in der Ausbildung des Organismus besonders zur Zeit des stür-
mischen Wachstums in der Pubertät vermeiden wollen. In dankenswerter
Weise haben sich für Volkserziehung interessierte Männer mit Lehrern ver-
einigt, um den Heranwachsenden die nötige körperliche Übung (Arbeit) zu
verschaffen ; Schülerwandern und Schulsport vermögen infolge der auftreten-
den Lustgefühle (Gefühlsbetonung) in der Tat zu leisten, was das meist sehr
langweilige Schulturnen nicht vermochte — eine Erfahrung, die ich aus
eigener Anschauung nur bestätigen kann. Aber kaum haben jene Bestrebungen
eingesetzt, so finden sie auch schon Widersacher, die nicht ohne einen Schein
des Rechtes anführen, daß die Mehrung der körperlichen Ausbildung der
Schularbeit Abbruch tue. Darf oder muß man sich aber auf den oben skiz-
zierten Standpunkt stellen, so muß ein billiger Ausgleich in der Beanspruchung
und Ausbildung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten, d. h. der ver-
^) Die Ermittelungen werden fortgesetzt.
Das Entwicklungsalter und seine Gefahren. 23
schiedenen Gehirnprovinzen gefunden werden. Er wird sich finden lassen,
je mehr der Erzieher imstande ist, Wichtiges vom Unwichtigen zu unter-
scheiden. Es ist gar keine R^ge, daß auch heute noch der gute Schüler
infolge seiner Gewandtheit 40 — 50 Prozent der auferlegten Aufgaben auszu-
schalten vermag, ohne daß man ihm allzu sehr auf die Sprünge kommt. ^)
Sicherlich muß die Aneinanderreihung der Vorstellungen, die ja schließ-
lich die spätere Lebensführung bedingt, in zweckmäßiger Weise ausgebildet,
erlernt werden. Wichtig sind dabei die Ausgangsvorstellungen, und es
ist sehr wesentlich, als solche gerade im Entwickelungsalter nützliche, schöne
wichtige Eindrücke fest einzuprägen. Wichtig ist ferner die Bahnung rich-
tiger Leitungen zum logischen, zweckmäßigen Gedankenablauf. Pflicht-
treue wird anerzogen. Wichtig ist die Ausbildung des Willens; die Jugend-
hchen müssen gezwungen werden, eine G^dankenreihe zu Ende zu führen,
so daß schließlich gewohnheitsmäßig eine zweckmäßige Zielvorstellung er-
reicht und eine ausführende Tat herbeigeführt wird; Zerstreuungen bilden
daher für die Ausbildung des Willens eine große Gefahr. Notwendig ist end-
lich die Hintanhaltung vorzeitiger geschlechtlicher Reizungen.
Das sind die Bedingungen, die wir für die Entwicklung unserer Jugend-
lichen verlangen müssen, aber immer stärker tritt die Tatsache hervor, daß
geradezu systematisch eine Überfülle störender Außenreize
erzeugt und infolge mangelnder Einsicht mancher Erzieher (Eltern) auch
an die in der Pubertät Stehenden herangebracht wird. Eine riesenhafte
Theater- und Literaturindustrie verherrlicht geradezu in Tausenden von
Schundfilms und Schundromanen das Verbrechen, entschuldigt die Gewalt-
tätigkeit, erzeugt die Nervenüberreizung systematisch. Die Pflichttreue,
das Großartige und eigentlich doch ganz ,, Demokratische", das im Heeres-
wesen und in der Wehrpflicht liegt, werden herabgesetzt, lächerlich gemacht,
beschimpft. Ganz systematisch wird von Interessenten, die jeden Angriff
als einen Eingriff in berechtigte Interessen hinstellen, ein Überwuchern
gleichgültiger oder schädlicher Vorstellungen, Verflachung, übermäßige Zer-
streuung herbeigeführt. Sensationen werden an Stelle des Denkprozesses
erzeugt, Athletentum statt Willensstärke gepflegt, die Ausbildung des Willens
gehemmt oder auf schädliche Ziel Vorstellungen gerichtet. In doppelter Weise
wird auf dem Gebiete des Geschlechtslebens gesündigt. Von manchen Seiten
wird in Ansehung der Gefahr grundsätzlich alles auf das Sexuelle Bezüg-
liche als bedenkUch angesehen, als verboten, schmutzig hingestellt, aber das
stete Verbot wirkt schließlich als Demonstration und erhält damit etwas
Aufreizendes. Zur erwünschten Hinausschiebung der Reife ist die Prüderie
aber sicher viel ungefährlicher als das bewußte, oft geradezu zynische Hin-
lenken auf das Gebiet des Sexuellen. Die Zweideutigkeiten und die infolge
ihres künstlerischen Schmisses besonders aufreizend wirkenden Darstellungen
im Simplicissimusstil werden je länger je stärker auch in ,, Witzblättern"
gepflegt, die sich gleichwohl als Familienblätter gerieren; in ,, französischen"
Schwänken und Lustspielen werden ganz systematisch Familienleben,
volkserhaltende Sitte, eine Summe alter fest gefügter Erfahrungen verspottet,
») S. a. Verf. „Schulgesundheitspflege", Leipzig 1912, S. 87 u. 93/94.
24 Das Entwicklungsalter und seine Gefahren.
zerrüttet, zerstört. Die Prostitution gibt ganz öffentlich trotz aller Vor-
schriften auf Straßen und Plätzen das schlechteste Beispiel. Es scheint, als
ob man sich der Gefahr, die gerade für ein in voller Ausbildung begriffenes
Nervensystem durch solches Übermaß zweckloser und schädlicher Reize
entsteht, gar nicht mehr bewußt wird, andernfalls wäre die Gedankenlosig-
keit, mit welcher Jünglingen und Backfischen Lektüre und Theaterstücke
der erwähnten Art zugänglich gemacht werden, nicht zu verstehen. Ich
glaube nicht, daß es so weiter gehen darf, sondern daß wir bei dem unge-
heueren Anwachsen der erregenden Einflüsse in ganz kurzer Zeit uns ent-
scheiden müssen, ob wir die menschlichen Hirne zur Zeit der Ausbildung des
Denkprozesses durch eine strenge, logische Erziehung zu dem Erfassen des
"Wahren, Guten, Schönen bringen oder eine Übung zulassen wollen, die zur
Verwahrlosung, Kriminalität, Prostitution führt; ob wir eine körperlich
untüchtige Jugend aufwachsen lassen wollen oder eine solche, die durch
Training des Zentralnervensystems eine Gewandtheit und Widerstandsfähig-
keit erreicht, die sie Beschwerden überwinden und Gefahren ausweichen
läßt, die wir niemals ganz ausschalten können. Die quantitativ übermäßig
gesteigerten und qualitativ bedenklichen Reize können zweifellos durch eine
verständige körperliche Pflege zum Teil ausgeschaltet werden ; zum Teil aber
müssen sie unterdrückt werden, und die Eltern müssen mehr als bisher dem
Pädagogen dabei Hilfe leisten. Die staatlichen Organe dürfen nicht weiter
dulden, daß mit dem Schlagwort der Kunst, des ,, berechtigten" Geschäfts-
interesses, der Parteipolitik oder selbst der Wohltätigkeit Produktionen ge-
deckt werden, die schlechthin verderblich wirken, wenn die Jugend ihnen
nicht entzogen bleibt. Es ist für mich keine Frage, daß unter diesem Ge-
sichtspunkt viele, selbst künstlerische Darstellungen i) die aufdringliche
Schaustellung in Schaukästen usw. nicht vertragen, die man heute überall
zuläßt. Dem Verdacht der Prüderie, in den selbst ein Otto von Leixner
bei Besprechung dieses Themas geraten ist, dürfte ich nicht leicht verfallen.
Seit 5 Jahren geben wir auf meine Veranlassung in Halle mit Zustimmung
der Eltern regelmäßig allen abgehenden Knaben und Mädchen der Volks-
und Mittelschulen Aufklärungen über die Gefahren des Alkoholmißbrauches
und des leichtfertigen Geschlechtsverkehrs; an den höheren Lehranstalten
werden nicht nur den Abiturienten ähnliche Vorträge gehalten, sondern auf
Anregung des Gymnasialdirektors Prof. Dr. Schmidt werden auch die Sekun-
daner über die Schädlichkeit vorzeitigen Tabak- und Alkoholgenusses, der
Masturbation und über die Gefahren der Prostitution belehrt. Ich fand dabei
nicht die geringsten Schwierigkeiten. . .
Auch gegenüber den Gefahren des Entwicldungsalters ist die Vorbeugung
unendhch viel wichtiger und dabei weniger kostspielig als der Versuch, ent-
standene Schäden später auszuflicken. Läßt man die im vorstehenden be-
rührten ungeheuren Reizwirkungen aber gedankenlos zu, so erscheint es
vollends als Unlogik und ein Unfug, auf den Gebieten der Jugenderziehung
^) Die Kapitolinische Venus, die von Milo, die Ariadne usw. \isw. sind hier natür-
lich nicht gemeint. Aber fast jede „Kunsthandlixng" führt die Bettbilder eines be-
kannten Zeichners im Schaufenster.
Zur Phänomenologie und Pädagogik; des Lobes. 25
vorzugsweise von der Schule Schonung, Erleichterungen und Freiheiten zu
fordern. Notwendig ist nur ^in gewisser Ausgleich. Eine gewisse Strenge
der Erziehung aber ist nichts anderes als die logische Folgerung aus
physiologischen Tatsachen.
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
Von Karl Konstantin Prinz von Loewenstein-Freudenberg."
Es ist eine häufig zu machende Erfahrung, daß die Psychologie gar oft da
versagt, wo sie in konkreten Dingen eine praktisch verwertbare Aufklärung
geben sollte. Besonders die Pädagogik interessieren viele Fragen, die über die
gewöhnliche und herkömmliche Naturgeschichte des Psychischen hinausgreifen.
So weist z. B. der Aufsatz von A. Fischer in dieser Zeitschrift „Über die Faul-
heit" auf Problemgebiete, die für den Lehrer das lebendigste Interesse haben,
die aber trotzdem von der bisherigen Psychologie nur geringe Beachtung gefunden
haben. Zu diesen etwas vernachlässigten Gebieten gehört auch eine Psycho-
logie des Lobes.
So sehr das Lob eine alltägliche Sache ist, so dürfte es doch bei näherem
Zusehen sich als ein ziemlich kompliziertes Gebilde herausstellen, dessen Be-
trachtung insbesondere wegen mannigfacher pädagogisch wertvoller Erkennt-
nisse sich als lohnend herausstellen wird.
Bei einer einstweiligen oberflächlichen Analyse finden wir, daß das Lob von
mindestens zwei Beziehungspunkten abhängt: von dem Lobenden und von dem
Lobempfänger. Bei dem echten Selbstlob (wenn es nicht nur Selbstzufriedenheit,
Selbstgefallen oder ähnliches ist) finden wir auch diese Auseinanderspannung
der beiden Faktoren, zwischen denen das Lob besteht, wenn auch in ein und
derselben Persönlichkeit. ,,Ich lobe mich" ist ein Akt, der von einem Subjekts-
punkt in mir seinen Ausgang nimmt und ein andersgestaltetes Ich betrifft, das
zwar eine Einheit mit dem erstgenannten Subjektspunkt duldet, aber doch
nicht völlig mit ihm identisch ist. Es ist dieser Akt schwer zu beschreiben,
aber doch jedem verständlich, der durch die Selbstbeobachtung gelernt hat,
seine seelischen Vorgänge zu erkennen und nicht nur in ihnen zu ,, leben".
Das Lob verlangt mindestens zwei Beziehungspunkte. Dies ist verständlich.
Es können ja auch mehr als ein Subjekt gelobt werden. A kann den B, den C,
den D usw. loben; und umgekehrt können B und C und D usw. den A loben.
Dabei ist aber einschränkend zu bemerken, daß zwar mehr als zwei Beziehungs-
punkte vorhanden sein können, teils als Lobspender, teils als Lobempfänger,
daß aber in einem Gebilde (Lob) nur eine zweipolige Auseinanderspannung sich
vollzieht. Wenn also z. B. der A den B und C und D lobt, so lobt er nicht jeden
einzelnen für sich, sondern er lobt ,,sie", etwa eine Gruppe, eine Klasse, eine
Riege. Wie A den B und den C und den D im einzelnen für sich lobt, ist nicht
mehr das Phänomen eines Lobes gegeben, sondern mehrerer Lobgebilde. Der-
selbe Fall tritt da ein, wo es sich um mehrere Loberteiler handelt. Ein Lob
ist nur dann vorhanden, wenn die Lobspender als ,,wir" in strenger Gruppen-
26 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
geschlossenlieit loben. In allen anderen Fällen handelt es sich stets um gesonderte
Lobäußerungen.
Das Lob hat nur vollen Sinn zwischen zwei Subjektpolen. Man pflegt zwar
auch Gegenständliches, wie Verordnungen, Gesetze, Arbeiten usw., zu loben,
doch geschieht dies immer da, wo das lobempfangende Subjekt mangelt, nur in
uneigentlichem Sinne. Man lobt etwa die Wasserversorgung einer Stadt.
,,Lobt" man sie wirklich, frage ich. Man hält sie für trefflich, man schätzt
oder bewundert sie, aber man kann ihr doch sinnvollerweise kein Lob spenden.
Höchstens könnte man in versteckter Art zum Ausdruck bringen, daß man die
Projektierer, Errichter und Ausgestalter dieser trefflichen Wasserversorgung lobt.
Eine gegenteilige Implikation, wie die in dem Sprichwort vom Sack und dem Esel.
Weiterhin ist zur Konstatierung des echten Lobes ein ,, Grund" nötig. Irgend-
ein Wert muß dem Gelobten durch das Lob gezeigt, offenbart werden. Ein
grundloses Lob, behaupte ich, gibt es nicht. (Wohl kann der Grund des Lobenden
für sein Lob oder auch der Grund des Lobempfängers ein zweifelhafter sein,
ein solcher, der gegenüber einer genauen Prüfung nicht standzuhalten vermag;
aber stets ist für das Lob ein Grund, ein Warum vorhanden.) Der Grund kann
willkürlich gewählt sein, aber er muß ein solcher sein, der beiden Teilen ein-
sichtig ist. Ich kann niemand wegen Eigenschaften z. B. loben, deren Vorhanden-
sein er selbst nicht kennt. Dadurch komme ich zu einer weiteren Tatsache, die
sich aus der Betrachtung des Lobes erschließt. Es ist nämlich in jedem Lob
die Aufzeigung eines wirklichen (oder vermeintlichen) Wertes an der Person
des Lobempfängers enthalten. Dieser Wert muß, wie wir sehen, sowohl dem
Lobenden wie dem Gelobten ersichtlich sein. Es scheint oft, als könne das Ver-
stehen des Wertes bei dem Lobempfänger wegfallen. Ein Schüler wird von
seinem Lehrer gelobt, er sagt, er wisse nicht warum, der Lehrer wird schon einen
Grund haben. In diesem Fall ist die Wertsetzung der Autorität des Lehrers
überlassen, und der Schüler ist für seine Person nur der Anlaß zum Lob, das eigent-
liche Gelobtwerden geschieht hier — eine schwer zu beschreibende Sache — in
der Person des Lehrers. Der Schüler legt seine mangelhafte Werterkenntnis
sozusagen in die Hand des Lehrers (leistet auf sie Verzicht) und erhält nur die
Vorteile des Lobes.
Eine völlig andersartige Sache tritt uns dann entgegen, wenn der Schüler
in der „Äußerung" des Lobes nur die Zufriedenheit des Lehrers sieht. Ein
echtes Lob ist hier nicht vorhanden; denn es fehlt der eine Beziehungspunkt.
Es dürfte (nebenbei bemerkt) eine leider in den Schulen sehr verbreitete Art
sein, Zufriedenheit an Stelle von Lob auszudrücken. Eine naheliegende Folge
hiervon ist eine Tendenz der Schüler, ihr Verhalten und ihren Fleiß nicht nach
bestimmten objektiven Gesichtspunkten einzurichten, sondern um der Zufrieden-
heit des Schuloberhauptes willen dieses oder jenes ,,zu Gefallen" zu tun. Daß
dieser mehr oder minder persönliche Gesichtspunkt nicht zum normgebenden
gemacht werden darf, ist wohl einsichtig. Der Wert des Lobes für Erziehung
und Unterricht besteht eben großenteils darin, daß dem Gelobten in dem Lob
(ebenso wie umgekehrt in dem Tadel) besondere Wertmaßstäbe offensichtlich
werden, nach denen er sein Tun und Lassen zu regulieren hat.
Fassen wir das vorbemerkend Gesagte noch einmal zusammen, so ergab sich
uns das Lob als ein Gebilde, das zwischen zwei subjektmäßigen Beziehungs-
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes. 27
punkten (dem Lobenden und dem Lobempfänger) auf Grund eines ersichtlichen
Wertes besteht. Von dieser einstweiligen Bestimmung ausgehend, wollen wir im
Nachfolgenden durch phänomehologische Betrachtung tiefere Aufschlüsse über
das Wesen und die Eigentümlichkeiten des Lobes zu erhalten suchen.
Phänomenologie des Lobes.
Wir nannten das Lob ein „Gebilde", ohne uns über die Eigenart dieses Gebildes
zu äußern. Für jeden ist es einsichtlich, daß das Lob mehr ist als die bloße
mündliche Verlautbarung bzw. die schriftliche Fixierung der Lobkundgabe.
Das ,,Lob" ist seinem Wesen nach auch mehr als die Bedeutung der kund-
gegebenen Ausdrücke. Wohl ,, bedeutet" die Lobäußerung etwas, und es gehört
selbstverständlich mit zum Wesen des Lobes, daß es etwas, auf Grund einer
verbalen, graphischen oder mimischen Äußerung bedeutet. Daß die Äußerung
,, kundgegeben" sein muß, ergibt sich mit Notwendigkeit daraus, daß eine unwill-
kürliche Äußerung niemals Grundlage eines ,, Lobes" bilden kann. Ein Zulächeln,
eine beifällige Miene drückt z. B. an sich noch kein Lob aus. (Terminologisch
sei bemerkt, daß wir jede willkürliche bedeutungsvolle Äußerung
als ,, Kundgabe" bezeichnen.) Doch ist das Lob mehr als ein kundgegebenes
Wort oder eine Geste. Während kundgegebene Worte nur bei ihrer aktuellen
Kundgab3 (die durch schriftliche Fixierung wohl beliebig verlängert werden kann)
leben, verbleibt das Lob, auch wenn die Kundgabe verschwunden oder ver-
nichtet ist. Das Lob ist bildlich wie eine Gloriole zu nehmen, die um das Haupt
des Gelobten schwebt. Wie dieser Heiligenschein ein materielles (wenn auch sehr
dünnes) Gebilde nach der Ansicht der Gläubigen darstellt, so ist das Lob ein
ideelles Gebilde. Ein Etwas, das zwar nur durch seine Komponenten geschaffen
wird und entstehen kann, das sich aber — einmal entstanden — selbständig
erhält. Es wird im Lobe wie im Tadel etwas geschaffen, das eine angebbare,
wenn auch sehr vage, eigene Wesenheit besitzt. Dies erhellt insbesondere aus den
später noch ausführlicher zu besprechenden Wirkungen des Lobes. Die Wirkungen
des Lobes und des Tadels sind derartig, daß sie nicht völlig auf Einwirkungen
des Lobenden auf den Gelobten oder auf Wirkungserhalte in dem Gelobten reduzier-
bar sind; vielmehr ist es bedeutsam, daß das Lob bzw. der Tadel, wenn er die
Stufe der aktuellen Kundgabe verlassen hat, noch als etwas verbleibt, das ich
nur als selbständige Wesenheit zu charakterisieren vermag. Das Lob bleibt
als ein Ganzes bestehen und tritt außer in seinen unmittelbaren Einwirkungen
auf den Gelobten auch noch in ein besonderes Verhältnis zu ihm: es ist sein
Lob, das ihn gleichsam wie ein guter Genius umschwebt. Ein ähnliches Gebilde,
das vielleicht geeignet ist, unsere Ansicht von derartigen Gebilden klarer zu
stellen, ist die „Ehre". Auch sie ist etwas an dem Träger, und doch nicht so sehr
er selbst, wie es z. B. seine Bewußtseinsfunktion ist. Das Psychische erlischt,
wenn der Träger des Psychischen, das Ich, zugrunde geht. Ein Toter kann nicht
mehr wollen, denken und fühlen. Aber die Ehre des Betreffenden kann auch über
sein zeitliches Existieren hinaus bestehen bleiben. Der Tadel oder das Lob,
das auf ihm ruht, kann verbleiben als Gebilde, das eben losgelöst von ihrem eigent-
lichen B^ziehungspunkt ein Sonderdasein führt. Insbesondere erscheint uns dies
bei der ,,Ehre" nicht verwunderlich. Die „Ehre" ist gleichsam etwas Dingliches
wenn auch nichts materiell — oder selbst real — Dingliches). Etwas Ding-
28 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
liches, das man verletzen, beflecken, reinigen, stützen usw. kann. Wohl hat die
Ehre bestimmte Voraussetzungen, aus denen sie erwächst, aber sie ist ebensowenig
damit zu identifizieren wie die Pflanze mit dem Erdboden, aus dem sie wächst.
So ist z. B. für die Ehre eine bestimmte soziale Basis unentbehrlich. Da, wo
keine Beziehungen sozialer Art vorkommen (wenn es gestattet ist, diese Fiktion
zu bilden), da kann es auch niemals zur Ausbildung einer Ehre kommen. Trotz-
dem ist die Ehre etwas, was nicht als eine pure soziologische Formation wie
z. B. eine Gruppe, ein Verein oder ähnliches aufgefaßt werden darf. Ich nenne
die Ehre ein ideelles Gebilde und meine damit nicht, daß sie ideell im Sinne
von geistig-überempirisch ist, daß man sie etwa den geometrischen Gebilden,
für welche man die Bezeichnung ,, ideal" gebraucht, nahebringen könnte. Nein,
es soll mit ,, ideell" nur zum Ausdruck kommen, daß hier ein Gebilde vorliegt,
das nicht materiell, nicht psychisch-real ist und das keine pure Kelation zwischen
diesen Gebilden bedeutet.
Wenn auch nicht so scharf wie bei der Ehre, so doch immer erkennbar ist
die Gebildnatur bei dem Lob. Es ist nichts von aller Ewigkeit her Seiendes,
sondern im menschlichen Zusammenleben Entstandenes, etwas, das viel-
leicht nur sehr kurze, aber immerhin selbständige Existenz besitzt. Diese selb-
ständige Natur des Lobes ist uns vor allem das Interessante; ebensowenig wie
bei der Ehre findet man darüber in der Literatur hinreichende Verdeutlichungen.
Man sagt, die Ehre lebt in den zwei Komponenten : dem, der Ehre hat, und dem
oder denjenigen, der oder die Ehre gelben. Damit ist nur etwas über das
Zustandekommen der Ehre ausgesagt, aber nichts über ihr eigenes Wesen.
Gerade so haben wir gesehen, sind für das Lob zwei Beziehungspunkte nötig,
die jedoch das Lob selbst nicht ausmachen. Wir müssen also die einfache Tat-
sache anerkennen, daß es ideelle Gebilde gibt, die nicht irgendwelche gemein-
same Phantasmen von zwei oder mehr Menschen sind, sondern die eine selbstän-
dige Existenz führen. Diese Gebilde hängen wohl häufig von der Gnade ihrer
menschlichen Schöpfer ab, sind gleichsam mit ihrem Atem gefüllte Seifenblasen,
die — solange in Reichweite befindlich — von ihren Urhebern zerstört werden
können. Sie sind aber andererseits wie die Seifenblasen besondere Existenzen,
die auch einmal ihren Erzeugern entschweben können und dann ein freies Dasein
in der Welt vortäuschen.
Es ist ein merkwürdiges Faktum, daß die Menschen ein derartiges ideelles
Gebilde, wie die ,,Ehre", das ,,Lob", den ,, Kredit", den ,, Leumund" u. ä. erzeugen
können. Gewiß sind sie dabei (die Menschen) in weitem Maße an sachliche
Momente gebunden (ein fundamentum in re muß immer vorhanden sein, wenn
diese Gebilde überhaupt einen Gehalt haben sollen); es bleibt jedoch immer
ein Spielraum für das eigentliche Schaffen dieser Gebilde übrig. Jemand unter-
gräbt die ,,Ehre" eines anderen. Auf ihn als Persönlichkeit hat er es erst in
zweiter Linie abgesehen. Die Ehre, dieses ideelle Gebilde, soll verändert wer-
den. Oder jemand will das ,,Lob", das einem anderen gehört, vernichten. Das
sind Redewendungen, die uns anzeigen, daß diese Gebilde mehr sind als echte
oder fingierte Qualitäten, die an einem Menschen haften.
Beachtenswert ist, daß diese Gebilde, so sehr sie selbständig sind, doch immer
der humanen Basis sowohl zur Erzeugung als auch zur Fortexistenz bedürfen.
Wenn z. B. sämtliche kommerziell engagierten Menschen plötzlich eines gemein-
Zvir Phänomenologie tmd Pädagogik des Lobes. 2 9
samen Todes stürben, so würde mit ihnen der ,, Kredit" eines jeden einzelnen
auch zugrunde gehen; so sehr der Kredit etwas von dem einzehien Menschen
und seinem Leben Lostrennbäres zu sein scheint. Oder wenn alle Menschen
durch ein katastrophales Ereignis vom Erdball vertilgt würden, würde wohl
nicht die Ehre oder Unehre eines jeden einzelnen wie ein trauernder Vogel die
verlassenen Stätten durchschweben.
In diesen Gebilden ist immer gewissermaßen ein menschlicher Atemhauch,
der ständig erneuert sein muß, wenn das Gebilde in seiner echten Gestalt weiter-
leben soll. Wir sehen dies deutlich an den Beispielen, die uns von der Ehre
oder dem Lob historischer Persönlichkeiten sprechen. Dieses Lob bzw. diese
Ehre hat als eigentliches Gebilde meist nur mit den Zeitgenossen Existenz. Gewiß
kann dieses Gebilde in Versteinerimg, wie die Sage oder der historische Bericht
sie bieten, weiterleben, aber ihr eigentlichstes Wesen spricht sich in diesen Ver-
steinerungen nicht aus. Wenn ich von dem Lobe spreche, das Cicero durch seine
Zeitgenossen erfahren hat, so meine ich damit etwas anderes zu treffen als die
bloße Wertschätzung, die sich sehr wohl von dem Lobe unterscheidet. Das Lob
ist etwas, das an der Persönlichkeit des historischen Menschen, Cicero, in be-
sonderer Weise haftet, das aber, da es den lebendigen Beziehungspunkt heutzu-
tage verloren hat (oder verloren haben kann) nicht mehr seine eigentliche Exi-
stenz innehat. Gewiß wird man einräumen müssen, daß auch heutzutage den
historischen Menschen Cicero, gleichviel, ob sein Tod auch Hunderte von Jahren
zurückliegt, wie eine Gloriole umschweben kann, die aber, sofern sie ein echtes
Gebilde in unserem Sinn ist, nur von der jetzigen Meinung, die lebende Menschen
von Cicero haben, abhängt. Wir müssen diesen Fall unbedingt einräumen, denn
es wäre gar leicht möglich zu sagen, daß sonst mit dem puren vitalen Vernichtet-
werden eines Menschen auch die sich ihm anschließenden Gebilde vernichtet
würden. Dies ist nicht der Fall. Wir behaupten ausdrücklich, daß zwar diese
Gebilde ständig humane Faktoren zu ihrer Auswirkung benötigen, daß aber die
rein vitale Existenz eines solchen Faktors für das Bestehen bzw. Nichtbestehen
eines solchen Gebildes nicht wesentlich ist. Um das eben Gesagte nochmals
an dem historischen Beispiele klar zu machen, so kann man von einem Lobe
Ciceros in zwiefacher Beziehung sprechen. Einmal kann man jenes vergangene
Lob meinen (jenes versteinerte Gebilde, von dem uns die Historiker berichten),
das dem Cicero durch seine Zeitgenossen gegeben war. Dieses Gebilde ist dahin.
Sodann kann man aber auch von einem zweiten Gebilde ,,Lob des Ciceros"
sprechen, nämlich demjenigen, das durch die aktuelle lobende Meinung dem
Cicero, dieser historischen Person, von unseren Zeitgenossen zuteil wird. Dieses
letztere Lob ist ein echtes und sozusagen lebendiges Gebilde, das sich nur dadurch
von dem gewöhnlich ausgesprochenen Lob unterscheidet, daß es sich auf eine
vergangene Persönlichkeit richtet.
Nachdem wir die Gebildnatur des Lobes hiermit zu verdeutlichen versucht
haben, wenden wir uns dem zu, was wir als aktuelles Lob bezeichnen, nebst
den sachlichen Voraussetzungen des Lobes. Unsere erste These besagt, daß in
dem Lob ständig ein Wert zum Ausdruck gebracht wird und zwar ein Wert,
der an dem Lobempfänger haftet resp. durch ihn gesetzt wird. Umgekehrt
faßt der Tadel einen Unwert, der an dem Getadelten haftet oder durch den
30 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
Getadelten verwirkliclit wird. Eine nähere Bestimmung der Art dieses Wertes
geht dahin, daß er ein solcher ist, der mit der freiwollenden Persönlichkeit des
Lobempfängers zusammenhängt. Es ist unmöglich, jemanden wegen Eigenschaften
zu loben, für die er — populär gesprochen — ,, nichts kann". Ein echtes Lob
bezieht sich immer auf eine aktuelle oder mindestens vermeintliche Setzung
eines Wertes durch den Lobempfänger. Dieser Wert ist in gewissem Sinne die
Vorbedingung für jedes Lob. Wo er nicht vorhanden ist, oder wo er zum wenigsten
nicht vermeint wird, ist ein Lob ausgeschlossen. Wie wir schon erwähnten,
ist das Moment der eigenen freien Setzung des Wertes für das Lob eine Voraus-
setzung. Es wird mit dem Lob eben nicht bloß der Wert des anderen oder ein
Wert an dem anderen getroffen, sondern das Lob bezieht sich auf ein tiefes
Selbst des anderen, auf seine freiwollende Persönlichkeit. Immer da, wo wir
loben, richten wir uns mit der Hervorkehrung oder der Anerkennimg der Werte
am anderen auf seine selbstwirkende Persönlichkeit. In diesem Sinne kann ich
ein Tier, sofern ich es als vitalen Automatismus auffasse, nicht loben; nur dann,
wenn ich ihm irgendein freihandelndes Wesen zuerkenne, hat es Sinn, ihm gegen-
über Lob auszusprechen. Das Lob richtet sich auf die Persönlichkeit des anderen,
aber in dem Lobe als Gebilde steckt keine derartige tiefe Bezüglichkeit.
Das Lob als Gebilde hängt vielmehr an der äußeren sozialen Figur des
anderen. Es ist nicht so, als wenn jemand, der das Lob als Gebild sehen würde,
damit auch in den innersten Kern des anderen Menschen eindränge. Das Lob
als Gebilde lebt sozusagen vielmehr von der sozialen Atmosphäre als von dem
Wesen der Persönlichkeit. Wir müssen also nach dem Vorausgehenden zwei
Aspekte wohl unterscheiden: erstens das Lob in seiner psychischen Zielung,
das aktuelle Lob, wie es vom Lobspender zum Lobempfänger sich richtet;
zweitens das Lob als Gebilde, wie es an dem Gelobten (dem Lobempfänger)
hängt. Diese beiden Arten, das Lob zu betrachten, geben zu manchen Verwechs-
lungen Anlaß. So gibt es Menschen, die der Meinung sind, das Lob bestände
eben nur in dieser Zielung von dem einen zum anderen; seine selbständige
Weiterexistenz, das Gebild, sehen sie nicht. Das, was wir Gebild nannten, glau-
ben sie für einen sozialen Reflex dieser psychischen Zielimg halten zu müssen,
Dies scheint mir aus schon früher dargelegten Gründen unrichtig zu sein, ins-
besondere aber deswegen, weil es guten Sinn hat zu sagen, das Lob ist auch ganz
unabhängig von irgendwelcher Sozietät, die den Reflex bewirken sollte.
Andererseits sehen diejenigen, welche behaupten, das Lob ist einzig ein Gebilde,
das durch irgendwelche soziale Akte formiert wird, die Tatsachen auch nicht recht.
Denn das besonders Charakteristische an dem Lobe, die aktuelle Schaffung
desselben durch eine psychische Zielung, verschließt sich denen, die in dem Lobe
einzig das Gebild sehen.
Ich sagte, daß in dem Lob bestimmte Werte des anderen oder an den anderen
ergriffen werden. Zu einer genauen Analyse ist hier noch eine Ergänzimg nötig.
Der Lobende kann bei einem echten Lob nicht so ohne weiteres Werte fest-
stellen, von denen er annimmt, daß sie durch den anderen gesetzt sind, wenn
nicht auch dieser andere die Werte in ihrer Eigenschaft als Werte
sieht und kennt. Es muß beim Lobgeber wie beim Lobempfänger ein gemein-
samer Maßstab für die Werte vorhanden sein, auf die Bezug genommen wird.
Ist dies nicht der Fall, so verändert sich das Lob in eine Wertbemessung des
I
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes. 31
anderen. Ein einfaches Konstatieren, du hast diese und diese Werte verwirklicht,
macht in gar keiner Weise ein Lob aus, erst dann, wenn der Maßstab, nach dem
gelobt wird, auch von dem Gelobten ersichtlich geteilt und gebilligt ist, ist die
Grundlage zum echten Lob geschaffen. Hier kann freilich noch ein besonderes
Faktum eintreten. Wenn nämlich der Lobende dem Lobempfänger gegenüber
als besondere wertsetzende oder werterkennende Autorität gilt, dann kann der
Fall eintreten, daß mit dem Lobe für den Gelobten der bezügliche Wertmaßstab
ersichtlich wird. Die Autorität ersetzt in diesem Falle die selbständige Erkenntnis
des Wertes auf selten des Lobempfängers.
Eine weitere Besonderheit des Lobes, sofern es als psychische Zielung betrachtet
wird, ist die Hinneigung des einen Menschen zu dem anderen. Das Lob hat stets
einen bestimmten freundschaftlichen Charakter, auch da, wo ein um vieles
höher gestellter Lobgeber einen niedrig gestellten lobt, ist es eine gewisse Herab-
beugung, ein Heruntergehen zu dem anderen. Der Gelobte wird, wenn auch
nur in einer Hinsicht, als ein Gleichgestellter betrachtet. Ohne dieses freund-
schaftliche Moment würde das Lob der eigentümlichen Wärme und Zutraulich-
keit entbehren, die es doch für den Gelobten im aktuellen Erleben hat. Diese
Basis, die dem Lobe in der freundschaftlichen Gesinnimg geschaffen wird, ruht
in tieferem Betracht auf einem Akt des liebenden Sich-Zuneigens.
Damit kommen wir zu den Voraussetzungen, welche von selten des Lobgebers
vorhanden sein müssen, damit das Lob entsteht. Der Lobgeber, wenn er wirklich
lobt und nicht etwa nur Zufriedenheit, Billigung oder Anerkennung usw. aus-
spricht, muß, so sagte ich, in einer freundschaftlichen Gesinnung zu dem Lob-
empfänger stehen. Diese Gesinnung selbst wird durch einen Akt der Liebe
fundiert (diese Liebe ist natürlich im Sinn eines rein geistigen Aktes verstanden
und hat ihrem Wesen nach mit sexueller Zuneigung nichts zu tun). Für die ak -
tuelle Loberteilung ist die Liebe selbst nicht erforderlich und notwendig, son-
dern nur die durch die Liebe geschaffene Gesinnung. Freilich ein der Liebe
entgegengesetzter Akt, wie der Haß, macht das Lob unmöglich (nicht die Aner^
kennung, wie ich bemerken möchte), da er die Gesinnung, aus der das Lob
erwächst, auflöst und zerstört.
Das aktuelle Lob, diese psychische Zielung kleidet sich bei seiner Kundgabe
im wesentlichen in zwei Formen. Einmal tritt es auf als die Konstatierung von
Werten an der Persönlichkeit des Lobempfängers (z. B.: ,,Du bist ein fleißiger
Knabe"): direktes Lob. Sodann als die Konstatierung von Werten, welche
durch die zu lobende Persönlichkeit selbst verwirklicht wurden (oder werden).
(Bsp.: ,,Das hast du brav gearbeitet, das hast du schön gemacht" usw.): in-
direktes Lob. Beide Klassen von Lob entbehren nicht der Mittelstufen und
Übergänge; ebenso wie sie vereinigt in einem ,,Lob" vorkommen können.
Wir trennen diese beiden Arten hauptsächlich deshalb, weil sie in ihrer Wirkung
auf den Lobempfänger sehr verschieden sein können.
Für das aktuelle Lob ist, wie wir sahen, neben dem Lobgeber der Lobempfänger
notwendig. Der Lobgeber muß in bestimmtem Kontakt mit dem letzteren stehen,
zwar nicht, um die Erzeugung des Lobgebildes, sondern um die psychische
Zielung aktualisieren zu können. Dieser Kontakt setzt die beiderseitige reale
Existenz voraus. Wer einen Gestorbenen lobt und damit mehr tut, als ein bloßes
Lobgebilde in die Welt setzt, das sich an die Persönlichkeit des Verblichenen
32 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
anlehnt, der muß eine reale Weiterexistenz nach dem Tode voraussetzen. Nicht
nötig ist es, daß der betreffende Lobempfänger weiß, daß er gelobt wird} auch
in seiner Abwesenheit kann er gelobt werden, nur müsssen (und das ist wichtig)
Abnehmer für das Lob dasein, Zeugen, die an seiner statt das Lob auffassen. Ob
das Lob hinterbracht wird oder nicht, bleibt gleichgültig. Das Lob muß
nur den existierenden Lobempfänger treffen können. Der Gläubige kann Gott,
die Heiligen oder sonstige Venerabilia ,, loben", da er als gläubig der Überzeugung
lebt, daß Gott oder die Heiligen sein Lob vernehmen.
Ganz unabhängig ist das Lob als Gebilde und als psychische Zielung von der
Wirkung, die es auf den Lobempfänger ausübt. Seinem Wesen nach ist das Lob
nicht dieser Wirkung wegen da, sondern das aktuelle Lob ist eine freie Meinungs-
kundgabe über Werte mit einer besonderen Zielung auf die andere Persönlichkeit.
Von dem eventuellen Einfluß, den es auf den anderen hat, braucht eine Phäno-
menologie des Lobes nichts zu erwähnen. Dies resultiert schon aus dem Umstand,
daß gar oft gelobt wird, ohne daß eine bestimmte Wirkung bei dem anderen,
dem Gelobten, vorausgesetzt wird (wenn ich z. B. den Landesfürsten lobe,
ohne gerade auf ein Gnadengehalt zu spekulieren, oder wenn ich Gott lobe).
Des weiteren kann man auch nicht von allgemeinen Folgen, die aus dem Ijobe
entspringen, reden, denn das Lob wird stets von Fall zu Fall verschiedene Wir-
kungen je nach der Art des lobempfangenden Individuums haben. Den einen
wird das Lob angreifen, den anderen wird es kalt lassen ; der eine wird durch das
Lob innerlich gehoben werden, der andere (ein Negativist z. B.) wird sich durch
das Lob gedrückt fühlen. Nicht nur das Mitleid, wie Nietzsche sagt, sondern
auch das Lob kann gegen die Scham sein.
Wenn ich trotzdem versuche, hier einige Wirkungen des Lobes anzugeben,
so geschieht dies einzig wegen der pädagogischen Bedeutung des Lobes, Das Lob
ist ein mächtiges Erziehungsmittel, das wird jeder zugestehen, insbesondere
derjenige, welcher sich beruflich mit Erziehung und Unterricht abzugeben
hat. Wenn es auch nicht im eigentlichen Sinne des Lobes liegt, Wirkungen auf
den Gelobten auszuüben, so ist es doch von eminenter praktischer Bedeutung
auf Grund der Wirkungen, die es tatsächlich ausübt. Daß diese Wirkungen
nicht eindeutig sind (oder zum mindesten bei dem jetzigen Stande der Unter-
suchungen nicht eindeutig erhellbar), kompliziert sowohl die Erörterungen über
die Wirkung des Lobes als auch die faktische richtige Anwendung desselben.
Die nachfolgenden Erörterungen über die Wirkung des Lobes bitte ich also nach
dem eben Gesagten nur als approximative Regeln, aber nicht als feststehende
"Gesetzmäßigkeiten zu verstehen.
Normalerweise glaube ich drei hauptsächlichste Wirkungen des Lobes fest-
stellen zu können. Diese Wirkungen teile ich nach Gesichtspunkten ein, die mir
die Analyse des Lobes selbst an die Hand gibt. Wir fanden, daß das Lob auf
Werte Bezug nimmt ; wir fanden weiter, daß es sich auf das Selbst einer anderen
Persönlichkeit bezieht, und schließlich, daß es aus einer freimdschaftlichen
Gesinnung entspringt. Diese drei Momente werden ims bei dem Nachfolgenden
hauptsächlich leiten.
In dem Lob wird der Gelobte auf Werte hingewiesen, die ihm teils
bekannt sind, die er teils durch die werterkennende Autorität des Lobgebers
Tiacherkennt. In allen diesen Fällen ist das Lob ein Mittel, um in dem Gelobten
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes. 33
die Richtung auf diese Werte zu. fixieren. Wenn der Lobempfänger z. B, nur eine
vage Erkenntnis der Werte hat, so wird das Lob diese Erkenntnis der Werte
befestigen und insbesondere seifie, des Lobempfängers, Stellungnahme zu den
Werten stabilisieren. Hat jemand ein bestimmtes Verhalten als gut eingesehen
imd wird eben dieses Verhalten ihm auch von anderer Seite (durch das Lob
nämlich) als gut bestätigt, so ist es eine psychologische Erfahrungstatsache,
daß die Hinneigung zu diesem als gut erkannten Verhalten eine größere ist, als
wenn der Betreffende mit seiner Erkenntnis allein steht. An dieser Stelle könnte
man noch die verschiedensten Beispiele, in welcher Weise für den Gelobten
die Werte wirksam werden, anführen, doch würde hierdurch der prinzipiellen
Tatsache, die wir eben konstatierten, keine weitere hinzugefügt.
Eine zweite Wirknmg des Lobes besteht darin, daß sie das Selbstgefühl des
Grelobten erhöht und vermehrt. Das Lob — als psychische Zielung — geht auf
das Selbst des anderen und sieht es als ein wertvolles. Dieser Umstand bedingt
es, daß eine Steigerung des Selbstgefühls eintritt. Das gelobte Individuum
erscheint sich als ein würdigeres, als ein fähigeres, überhaupt als ein höheres
nach dem Lobe als vor ihm. Dies ist eine bekannte Tatsache und bedarf keiner
näheren Erörterung.
Wenn ich bei den Wirkungen des Lobes hauptsächlich diejenigen ins Auge
fasse, welche durch die psychische Zielung entstehen, so muß ich an dieser Stelle
auch derjenigen gedenken, welche durch das Lob als Gebilde erzeugt werden.
Nicht nur das aktuelle Lob erhöht und vermehrt das Selbstgefühl, sondern
auch dieses eigentümliche Gebilde, was wir im Anfang dieser Abhandlung zu
charakterisieren versuchten. Ja, es scheint, daß gerade dieses Gebilde etwas
an sich hat, was rückwirkend seinen Träger beeinflußt. Der Träger des Lob-
gebildes fühlt sich von dem Lobe umgeben, er spiegelt sich in dem Lobe, er
zieht quasi aus dem Lobe geistige Nahrung. (Diese Wirkung des Lobes hat ins-
besondere Carl Lambek^) in seinem Buche ,,Zur Harmonie der Seele", Abschnitt
vom Lobe, im Auge, wenn er sagt, das Lob sei eine Art konzentriertester Nahrung,
die wir dem anderen eingeben.) Gerade die Nachhaltigkeit, welche man oft
in der Wirkung des Lobes verspürt, läßt sich nur auf Grund dieses Lobgebildes
erklären. Der pure Eindruck, der Einfluß des aktuellen Lobes, ja selbst die
Erinnerung daran, ist längst geschwunden, und trotzdem ist etwas da, was das
Individuum erhebt, was es stolz und erhaben macht.
Eine dritte Wirkung des Lobes besteht in der Kenntnisnahme der freund-
schaftlichen Gesinnung des anderen. Der Gelobte wird durch das Lob dieser
Gesinnung versichert. Nun ist es eine allgemeine Erscheinung, daß die guten,
die freundlichen Gesinnungen, die die Menschen uns gegenüber haben, für uns
selbst und unseren psychischen Zustand förderlich und nützlich sind. Der Mensch,
der sich von rachsüchtigen, mißtrauischen, ihn beargwöhnenden Gesinnungen
umgeben wähnt, dieser Mensch wird in den meisten Fällen kein ruhiges, fried-
liches und sicheres Dasein führen. Das Feindliche der Gesinnungen wird auf seinen
seelischen Habitus schädigend einwirken, und ebenso werden im Gegenteil dazu
gute Gesinnungen einen angenehmen seelischen Habitus bei dem Menschen
^) C. Lambek: Zur Harmonie der Seole. Aus dem Dänischen übersetzt^ von
Elisabeth Dauthendey. (Jena 1907. E. Diederichs.) i,-?^;
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3
34 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
erzeugen. Nun gibt es viele Wege, die Gesinnungen anderer Menschen zu fassen,
viele sind umständlich und nur indirekt zum Ziele führend. Wir können z. B.
die Gesinnungen anderer Menschen daran studieren, wie sie sich einer Auffor-
derung von unserer Saite gegenüber verhalten, oder wir werden aus ihren Mienen
und Gasten, aus dem Ton ihrer Rede zu entnehmen suchen, wie sie sich innerlich
zu uns stellen. Aber jedermann kennt die vielen Täuschungsquellen, die uns die
Gesinnung unserer Mitmenschen verdunkeln. Nur selten erleben wir eine echte
spontane Gesinnungskundgabe des anderen. Eine solche liegt aber stets in dem
Lobe vor. Ja, wir haben insbesondere auch bei dem Lobe noch ein Kriterium
für die Echtheit dieser Gesinnung. Das falsche Lob, das jemand erteilt, bloß
der Schmeichelei halber, das keine echte Gesinnung zu verraten braucht, das
falsche Lob ist in den meisten Fällen von dem Lobempfänger selbst zu durch-
schauen. Die Werte, die durch dieses Lob enthüllt werden, sind meistens solche,
an denen der Gelobte nur wenig oder gar kein Teil hat, die ihm eben nur un-
berechtigter weise attribuiert werden. Das echte Lob dagegen wird sehr selten
gespendet werden, wenn der Lobende nicht in freundschaftlicher Gesinnung
zu dem Gelobten steht. Ja, ich halte es sogar prinzipiell für ausgeschlossen,
daß ohne freundschaftliche Gesinnung ein echtes Lob zustande kommt. Man
kann wohl Anerkennung aussprechen, seine Billigung für etwas ausdrücken,
aber loben kann man denjenigen nicht, dem man indifferent oder feindlich
gegenübersteht. Wenn sich auch oft die Anerkennung in der Form eines Lobes
gibt, so ist doch für den feinfühligen Menschen in dem Lobe eine gewisse Tinktion
enthalten, die es von der Anerkennung unterscheiden läßt.
Verwandte Erscheinungen.
E? erübrigt sich uns, noch auf Erscheinungen hinzuweisen, die dem Lobe ähnlich
oder verwandt sind. Gar oft scheint etwas als Lob sich zu geben, was in Wirklich-
keit nur etwas Ähaliches, oft aber sogar nur etwas ganz äußerlich dem Lobe
Nahestehendes ist. Wir haben im Laufe unserer Untersuchung schon verschiede-
nes derartige kennen gelernt, z. B. das Anerkennen, die Billigung, die Zu-
friedenheit. Wir wollen hier noch die hauptsächlichsten Arten dieser dem Lobe
nahekommenden Erscheinungen feststellen.
Das Preisen, Schätzen, Werten hat insofern mit dem Lobe Verwandtschaft,
als es auch auf Werte geht, Werte feststellt, unterscheidet sich aber von dem Lobe
dadurch, daß es keine ausschließliche Beziehung auf Persönlichkeiten als Wert-
träger hat. Wir preisen, schätzen dieses und jenes, und es erscheint als eine
ganz nebensächliche Sache (für das Wesen des Schätzens, Preisens), wenn wir
eine Persönlichkeit im Auge haben.
Viel näher scheint dem Lob die Anerkennung zu stehen. Hier ist auch (wenigstens
gewöhnlich) die Richtung auf eine Persönlichkeit mitgegeben. Irgend jemand
wird anerkannt, oder das Verdienst, die guten Taten von irgend jemand werden an-
erkannt. Die Anerkennung hat auch mit dem Lobe gemeinsam, daß sie wertgemäß
ist. Aber die Anerkennung ist sozusagen ein kühleres Verhalten als das Lob.
In der Anerkennung ist nicht wesentlich jene freundschaftliche, liebenswürdige
Gesinnung, die für das Lob Voraussetzung ist. Anerkennen kann man auch den-
jenigen, dem man in größter Feindschaft gegenübersteht.
Die Zufriedenheit wird oft gleichbedeutend als Lob gebraucht. Doch sahen
Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes. 35
wir gleich zu. Anfang, daß in der Zufriedenheit nicht jene Beziehung auf den Träger
der Werte besteht wie im Lobe. Zufriedenheit ist der Ausdruck eines mehr
egozentrischen Tatbestandes. "Irgend jemand wird zufriedengestellt und gibt
daan eventuell seiner Zufriedenheit Ausdruck. Die Beziehung auf denjenigen,
welcher diese Zufriedenheit veranlaßt hat, ist gar nicht nötig. Freilich tritt
oft die Zufriedenheit in einer gewissen VerbiDdimg mit dem Lobe auf, so daß
ihre Unterscheidung schwer wird. Immer dann, wenn man sagen kann: „Ich
lobe dich, weil ich zufrieden bin". Für ein echtes Lob allerdings ist diese Be-
gründung (das Zufriedengestelltsein) nicht hinreichend, sondern es ist außerdem
noch nötig, die Werte anzuzeigen, welche die Zufriedenstellung bewirkt haben.
Ein wahres Lob muß, wie wir sagen, immer auf einen objektiven Wertmaßstab
aufgebaut sein mid kann nicht durch das pure Zufriedenstellen irgendeines
Subjektes seine genügende Begründung finden.
Der Beifall, den ich jemandem spende, braucht auch seinem Wesen nach kein
Lob zu sein. Selbst wenn ich den Beifall mit einer Anerkennmigsäußerung
verbinde, so bleibt er immer noch eine pure Kundgabe, sei es meiner Freude
oder meiner Zufriedenheit, er wird aber nur dann zum Lob, wenn jene Faktoren
hinzutreten, welche wir in unserer vorausgehenden Analyse als für das Lob
notwendig gefunden haben. Der Beifall kann also sich mit dem Lobe verbinden,
er braucht aber nicht seinem Wesen nach dem Lobe zugerechnet zu werden.
Das ursprünglichste Faktum des Beifalls ist die Kundgabe meiner Freude und
Billigung angesichts von Werten, die durch einen anderen verwirklicht sind.
Auch das Kompliment rangiert ganz in der Nähe des Beifalls, insbesondere
bezieht sich das, was man gesellschaftlich ,, Kompliment" nennt, nicht auf
Werte, die selbsttätig durch ein Individuum verwirklicht werden, sondern
mehr auf solche Werte, die durch Natur oder zufällige Bedingtheit an dem
anderen sind.
Eine letzte Art von Erscheinungen, die dem Lobe nahestehen, glaube ich
in der Belobigung und der Ermunterung zu finden. Die Belobigung kann
natürlich ein echtes Lob enthalten, dann interessiert sie uns aber hier nicht.
Wir meinen unter Belobigung diejenige Erscheinung, welche die Gestalt des
echten Lobes anzunehmen bestrebt ist, die aber ihrem Wesen nach ganz anders
gerichtet ist. Die Belobigung ist quasi ein Bonbon, das ich jemand für irgend
etwas (z. B. für seine Freundlichkeit oder für seinen Fleiß usw.) gebe. Die Be-
lobigung bemüht sich nicht, die Werte zu sehen und zu entdecken, sondern sie
hat vielmehr den Charakter einer Entlohnung. Das Fleißbillett insbesondere
erscheint mir als ein solches Symptom der Belobigung. Die Belobigung wird
auch vielfach nur als Mittel zu irgendwelchen erzieherischen Zwecken ange-
wendet und steht dann der Ermunterung nahe. Die Ermunterung will vor allem
etwas, sie will, daß der Ermunterte etwas leiste, es leichter tue, Mut zu sich
selbst fasse usw. Um dies zu erreichen, gebraucht die Ermunterung oft ebenso
wie die Belobigung die Form des Lobes. Es liegt jedoch wohl in den seltensten
Fällen bei der Ermimterung ein echtes Lob vor, meist wird die Ermunterung ganz
wahllos, ob die betreffenden Werte, welche dem ermunterten Individuum zu-
geschrieben werden, bestehen oder nicht, verwendet. Während das Lob von dem
Gelobten nichts will, ihn quasi in Ruhe läßt, soll die Ermunterung etwas bei
ihm bewirken und ausrichten. Einen Unterschied zwischen Belobigung und
3*
36 Zur Phänomenologie und Pädagogik des Lobes.
Ermunterung sehe ich darin, daß die Belobigung der äußeren Form des Lobes
sich näherstellt als die Ermunterung.
Zur pädagogischen Verwendung des Lobes.
Wie ich schon erwähnte, hat das Lob für die Pädagogik große Bedeutung.
Das Lob ist ein vortreffliches Erziehungsmittel, was für jeden deutlich werden
wird, der sich unseren Abschnitt über die Wirkungen des Lobes vergegenwärtigt.
Wir wollen hier zum Schluß nicht nochmals das früher Gesagte wiederholen, son-
dern versuchen, bestimmte Regeln anzugeben, nach welchen in der Pädagogik
das Lob verwendet werden soll. Diese Regeln ergeben sich aus Überlegungen,
wie sie imsere Analyse des Lobes mit sich brachten. Vor allem ist daran fest-
zuhalten, daß man mit dem Lobe der jugendlichen Psyche gegenüber einen
gewaltigen Hebel in der Hand hat. Derjenige, welcher dieses Instrument besitzt
imd es nicht verwendet, scheint zweckwidrig zu handeln. Lehrer und Erzieher,
welche aus prinzipieller Abneigung gegen das Lob so sparsam wie möglich es
verwenden, dürften wohl nicht richtig handeln. Insbesondere sollte das echte
Lob, d. h. dasjenige, in dem sich alle die Faktoren finden, die wir im Vorangehen-
den genannt haben, häufiger angewendet werden, als es im Durchschnitt üblich
ist. Die Ermunterung und die Belobigung als pure Äußerlichkeiten sollten
zurücktreten. ;? ''.•
Mit diesem ist auch gesagt, daß nur da gelobt werden soll, wo Grund für das
Lob vorhanden ist, d. h. wo die durch das Individuum selbsttätig gesetzten Werte
wirklich bestehen. Das grundlose Lob, das jemandem Werte zudichtet, die gar
nicht vorhanden sind (wie es z. B. auch Carl Lambek in seinem eben erwähnten
Buche „Zur Harmonie der Seele" empfiehlt), halte ich für sehr gefährlich. Wenn
der Lobempfänger merkt, daß das ihm erteilte Lob nicht auf Grund von be-
stehenden Werten gegeben wird, so wird ihn gar bald das Lob des Lobgebers
völlig gleichgültig lassen. Ja, der Lobspender selbst wird in den Verdacht kommen,
rmi die Sachen nicht richtig Bescheid zu wissen und des weiteren leicht zu einem
Objekt des Beschwindeins gemacht werden. Demgegenüber ist als Vorbeuge-
mittel anzuempfehlen, vor allem bei dem Lobe höchste Klarheit walten zu lassen,
genau anzugeben, warum man lobt und weshalb diesem einzelnen das Lob
zukommt.
Es ist darauf zu achten, den Würdigen zu loben. Nicht immer empfiehlt
es sich, die Leistung in den Vordergrund zu stellen, als wenn an ihr alles läge,imd
durch die Leistung hindurch zu loben (indirektes Lob). Die Leistung ist gar oft
von nebensächlichen Umständen mitbeeinflußt, oft sogar durch Umstände
mitbedingt, welche sich dem Lobspender entziehen. Der Takt des Lehrers
hat es zur Aufgabe, den Würdigen zu finden und ihn zu loben, auch wenn seine
Leistung nicht immer das höchste Maß seiner Fähigkeiten ausdrückt. Das direkte
Lob ist nur da zu vermeiden, wo es sich um notorisch eitle und selbstgefällige
Individuen handelt. Hier ist das direkte Lob nicht am Platze, da es einer un-
gesunden Erweiterung des Selbstgefühls Vorschub leistet.
Das Lob selbst, der lobende Akt, soll, wenn das Lob eindrucksvoll wirken soll,
mit einer gewissen Feierlichkeit und Würde ausgesprochen werden. Man
kann das Lob, die eigene lobende Äußerung erhöhen oder abschwächen, je nach
dem man es in eine würdigere oder weniger würdige Form kleidet. Es empfiehlt
Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführungen. 37
sich, für das Lob in der Schule besonders nur eine angemessene Kundgabe
desselben, da sonst der Lobspender durch ein zu billig hingeworfenes Lob sich
selbst herabsetzt. Man muß sein eigenes Lob in Wert halten.
Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen
Vorführungen.
Von Albert Hellwig.
Man hat in den letzten Jahren verschiedentlich mit Nachdruck auf die hohe
Suggestivkraft kinematographischer Vorführungen hingewiesen^) und aus ihr
die Folgerung gezogen, daß einerseits den Vorführungen gemeingefährlicher
Schundfilms energisch mit allen zu Gebote stehenden Repressivmaßregeln zu
Leibe gegangen werden müsse ^) (insbesondere auch den kriminellen Schundfilms),
daß andererseits aber auch die Anschaulichkeit kinematographischer Vorfüh-
rungen weit mehr als bisher systematisch im Dienste des Schulunterrichts und
der Volksbildung ausgenutzt werden müsse.^)
In außerordentlich interessanter Weise werden diese Darlegungen durch Be-
obachtungen gestützt, welche ein italienischer Gelehrter*) vor einiger Zeit
veröffentlicht hat. Da es sich um eine Abhandlung handelt, die den wenigsten
in Deutschland zugänglich ist, wird es nicht unerwünscht sein, wenn ich im
folgenden ein Referat über seine wesentlichsten Ausführungen gebe.
An sich und gelegentlich auch an anderen hat Ponzo bei dem Besuche kine-
matographischer Vorführungen folgende Beobachtungen gemacht. Er fand,
daß Sinneseindrücke infolge der gleichzeitigen Einwirkung der kinematographi-
schen Vorführungen derart umgedeutet wurden, daß sie sich den Vorgängen
in dem bewegten Bilde anschlössen; ja, er konnte sogar feststellen, daß mitunter,
ohne daß ein äußerer Sinneseindruck stattfindet, in dem Zuschauer Eindrücke
hervorgerufen werden, welche die Vorgänge, die kinematographisch vorgeführt
werden, ergänzen.
1) Vgl. Hellwig, „Die Schundfilms. Ihr Wesen, ihre Gefahren und ihre Be-
kämpfung" (Halle a. S. 1911); Sellmann, „Der Kinematograph als Volkserzieher ?"
(Langensalza 1912); Gaupp und Lange, „Der Kinematograph als Volksunter-
haltungsmittol" (Flugschrift des Dürerbundes) ; Götze, „Jugendpsyche und Kine-
matograph" (Zeitschrift für Kinderforschung 1911, S. 416/24); Hellwig, ,,Die Be-
ziehungen zwischen Schundliteratur, Schundfilms und Verbrechen. Das Ergebnis
einer Umfrage" (Archiv für Kriminalanthropologie, Bd. 61, S. 1 — 32).
') Hellwig, ,,ö ff entliches Kinematographenrecht" (Preuß. Verwaltungsblatt,
Bd. 33, S. 199 — 204); ,, Rechtsquellen des öffentlichen Kinematographenrechts"
(München- Gladbach 1913), Einleitung; „Die Reichsfilmzensur. Eine dogmatische
und rechtspolitische Untersuchung" (Berlin 1914).
•) Ernst Schultze, „Der Kinematograph als Bildungsmittel" (Halle a. S. 1911),
sowie zahlreiche Aufsätze der Zeitschriften „Bild und Film" (München- Gladbach)
und „Film und Lichtbild" (Stuttgart),
*) Ponzo, ,,Di alcune osservazioni psicologiche fatte dvurante rappresentazioni
cinematograficho" (Atti doUa R. Academia delle Scienze di Torino, vol. 46). Der Verf.
hat mir liebenswürdigerweise einen Sonderabdruck übersandt.
38 Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführungen.
Was zunächst die Illusionen anbetrifft, welche durch äußere Anreize ver-
anlaßt werden, so ist es z. B. nicht ungewöhnlich, daß man beim Erblicken
eines Wasserfalles, von sich bewegenden Maschinen, eines fahrenden Wagens
usw., gleichzeitig auch die entsprechenden Geräusche zu hören glaubt. Da man
im täglichen Leben gewöhnt ist, in derartigen Fällen solche Geräusche zu hören,
treten beim Erblicken des kinematographischen Bildes unwillkürlich auch die
Gehörsempfindungen auf und verstärken dadurch ganz wesentlich die Illusion.
Nicht selten ist die Suggestivkraft der kinematographischen Vorführung, die
Vortäuschung des wirklichen Lebens, so stark, daß wir momentan bei uns den
Drang verspüren, Beifall zu klatschen, indem wir für einen Augenblick ganz
vergessen, daß nicht Menschen von Fleisch und Blut vor uns auftreten, sondern
daß wir nur das Bild eines Vorganges sehen.
Die erwähnten Halluzinationen können natürlich nicht den gleich starken
und klaren Eindruck machen wie die Illusionen, welche in äußeren Vorgängen
ihren Anlaß haben. Sehr häufig sind insbesondere Verquickungen zwischen
den im Zuschauerraum hörbaren Geräuschen und den Vorgängen auf dem Film.
Wir haben dabei nicht selten die Illusion, daß ein bestimmtes Geräusch, welches
an imser Ohr dringt, aus derEichtung herkomme, in die das lebende Bild projiziert
wird, während der Schall in Wirklichkeit aus einer ganz anderen Richtung her-
kommt. Es geschieht beispielsweise häufig, daß wir irgendeinen Ton der be-
gleitenden Musik unwillkürlich mit den Vorgängen auf dem Film in eine Verbin-
dung bringen, daß wir die Empfindung haben, der Ton komme aus der gleichen
Richtung wie die Lichtwellen, und daß wir ihn unbewußt entsprechend hindeuten.
So erzählt uns Ponzo, daß er bei der Vorführung eines Bildes aus Birma, auf
welchem zwei Burschen mit Stöcken auf Glocken einer Pagode schlugen, zu
seiner Überraschung bei jedem Schlag zwar nicht den Glockenton, wohl aber
das eigentümliche Geräusch gehört habe, welches einem Stockhiebe gewöhnlich
nachfolge; als er versucht habe, diese Illusion aufzuklären, habe er kon-
statieren können, daß diese Illusion bewirkt war durch eine Assoziation des
Gesichtseindruckes mit einigen tiefen Noten der Streichinstrumente des
Orchesters.
Ein anderes Beispiel, wie leicht gewisse Geräusche auf die projizierten Bilder
bezogen und entsprechend umgedeutet werden können, ist folgendes. Es wurde
ein Automobilkorso bei Rio de Janeiro vorgeführt. Während dieser Vorführung
hatte Ponzo einen Augenblick den Eindruck, er höre den Motor eines aus der
Feme mit größerer Geschwindigkeit sich nähernden Automobiles. Im nächsten
Moment wurde er sich klar darüber, daß dies Geräusch von dem im Saale befind-
lichen elektrischen Ventilator herrührte.
Je kürzer derartige Gehörseindrücke sind, desto weniger leicht können
ihre wahre Ursache und der Ort, aus dem sie herkommen, erkannt werden,
weil wir dazu neigen, verschiedene Eindrücke, die wir gleichzeitig erhalten,
zu einem einheitlichen Gesamteindruck zu vermischen und diesen Eindruck
nach den besonders betonten Eindrücken, also bei kinematographischen Vor-
führungen nach den Gesichtseindrücken, zu bestimmen.
Während Ponzo einer kinematographischen Vorführung beiwohnte, in welcher
eine Mutter im Begriff war, ihrem Sohne einen Kuß zu geben, ahmte einer der
Zuschauer mit den Lippen das Geräusch des Kusses nach ; im gleichen Moment
Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführungen. 39
hatte Ponzo den Eindruck, daß er den Kuß auf der Projektionsfläche nicht
nur sähe, sondern ihn auch von dorther höre.
Besonders interessant ist, daß derartige Halluzinationen fast ausnahmslos
nur dann auftreten, wenn der Zuschauer nicht in bewußter Weise darauf ausgeht,
die zufälligen Geräusche in eine Verbindung mit den Vorgängen der kinemato-
graphischen Vorführungen zu bringen. Hieimit mag es zum Teil zusammen-
hängen, daß die bisherigen Versuche, durch Verbindung des Kinematographen
mit einem Phonographen eine gleichzeitige Gesichts- und Gehörstäuschung
zu erzielen, zu keinem rechten Ergebnis geführt haben, da die Identifikation
der Töne des Phonographen mit den durch den Kinematographen vermittelten
Gesichtseindrücken nicht glückt.^)
Ein weit wirksameres Ersatzmittel für die fehlenden Gehörseindrücke bei
den kinematographischen Vorführungen ist die uns auch von dem Theater her
bekannte Nachahmung bestimmter Geräusche, beispielsweise des Rauschens
eines Wasserfalles, des Fahrens von Wagen, des Hupens eines Autos, des Ratterns
eines Eisenbahnzugs und dergleichen durch primitive Vorrichtungen. Wenn
dies geschickt geschieht und zwar am besten hinter der Projektionsfläche, so
werden in der Regel die Gehörseindrücke mit den gleichzeitigen Gesichtsein-
drücken mühelos unbewußt identifiziert werden.
Außer Gehörshalluzinationen, die allerdings besonders häufig vorkommen
und auch am leichtesten beobachtet werden können, kann man mitunter aber auch
Halluzinationen konstatieren, welche auf anderen Gebieten liegen.
So empfand ein Nachbar Dr. Ponzos bei der Vorführung eines Films, in welchem
im Anschluß an Dantes Dichtung die Qualen der Verdammten geschildert wurden,
plötzlich ein feuchtes und kaltes Gefühl, das er in Zusammenhang mit den
Vorführungen brachte. In Wirklichkeit war diese Empfindung veranlaßt
worden durch die feuchte, kalte Luft, die in dem betreffenden Vorführungs-
raum war.
Bei einem anderen Film, welcher brandende Meereswogen zeigte, rief die
Mutter Ponzos plötzlich aus, sie glaube das erfrischende Meer zu fühlen, indem sie
die durch einen Ventilator erzeugte angenehme Frische auf die Gesichtseindrücke
bezog und mit ihnen in Zusammenhang brachte.
Ein typisches Beispiel von Geruchsillusionen erlebten Dr. Ponzo und Prof.
Kiesow unabhängig von einander zur gleichen Zeit. Der Film stellte einen
Marstall dar, in dessen Krippen sich viel Heu befand. In dem gleichen
Momente, wo dieses Heu sichtbar wurde, bemerkte Prof. Kiesow zu Dr.
Ponzo, er glaube, den Duft des Heues zu spüren; gleichzeitig machte
Ponzo zu ihm dieselbe Bemerkung. Wie sie sich nachher überzeugten, kam der
heuartige Geruch von einer Dame, welche kurz vorher eingetreten war und sich
nicht weit von ihnen entfernt gesetzt hatte; sie war mit einem Parfüm parfümiert,
•) Vgl. über diese Frage vom technischen und ästhetischen Standpunkt Lehmann,
„Die Kinematographie, ihre Grundlagen und ihre Anwendungen" (Leipzig 1911),
S. 93f. ; Wolf-Czapek, „Die Kinematographie. Wesen, Entstehung imd Ziele
des lebenden Bildes" (2. Aufl., Berlin 1911), S. 104f.; Forch, „Der Kinematograph
imd das sich bewegende Bild" (Wien und Leipzig 1913), S. 220f.; Tannenbaum,
„Kino und Theater" (München 1912), S. 8 Anm.; Häfker, „Kino und Kunst"
(München-GIadbach 1913), S. 69f.
40 Illusionen und Halluzinationen bei kinematographischen Vorführvmgen.
dessen Art zwar nicht näher festgestellt werden konnte, das aber nicht im gering-
sten an den Duft des Heus erinnerte.
Bei den Beobachtungen Ponzos handelt es sich um Illusionen und Halluzi-
nationen, wie sie wohl schon ein jeder von uns bei dem Besuche kinematographi-
Bcher Vorführungen an sich selbst erlebt hat, und zwar gerade dann, wenn er sich
dem Gegenstand der Vorführung ganz hingab und nicht etwa mit dem Zuschauen
besondere Zwecke verfolgte, insbesondere nicht etwa psychologische Beobach-
tungen machen wollte.
Es handelt sich hier um Illusionen und Halluzinationen, deren Charakter von
den betreffenden Zuschauern erkannt wird, wenngleich es ihnen^ nicht immer
möglich ist, ihre Entstehung hinreichend aufzuklären. Charakteristisch ist ferner
noch, daß es sich hier immer nur um momentane Sinnestäuschungen handelt,
welche keinerlei Nachwirkung zeigen. Immerhin zeigen die zahlreichen Fälle
von Sinnestäuschungen bei kinematographischen Vorführungen bei geistig
gesunden Zuschauern®) in ausgezeichneter Weise, wie eindrucksvoll die kine-
matographischen Vorführungen auf die Psyche der Zuschauer wirken.')
Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindungen
und Bewegungsvorstellungen bei Formkombinationen.
Von Theodor Ziehen.'
Eine der zweckmäßigsten Methoden 'der Intelligenzprüfung bei jüngeren
Kindern, welche auf Schwachsinn verdächtig sind, ißt die sog. Legspiel-
methode.^) Sie besteht darin, daß das Kind eine geometrische Figur,] die
ihm unzerlegt gezeigt worden ist, aus mehreren Teilstücken zusammen-
zusetzen hat. Statt einer geometrischen Figur kann man auch irgendein
Bild wählen, z. B. eines Menschen, eines Tieres, einer Stube oder Landschaft
mit mehreren Menschen usw. Man kann die Aufgabe erleichtern, indem man
die Zahl der Stücke einschränkt oder indem man die unzerlegte Figur bzw.
das unzerlegte Bild dem Kind nicht nur vor dem Versuch zeigt, sondern
auch während des Versuchs als Vorlage zur Verfügung stellt. Praktisch
hat sich dieses Verfahren mir seit über einem Jahrzehnt ausgezeichnet
bewährt.
*) über Beobachtungen an nervenkranken Personen vgl. d'Abundo, „Sopra
alcuni particolari effetti delle projezioni cinematografiche nei nevxotici" (Rivista
Italiana di neuropatologia, psichiatria ed elettroterapia". Vol. IV, Heft 10) — - niir
gleichfalls freundlichst vom Verf. gesandt — werde ich wahrscheinlich in der „Ärzt-
lichen Sachverständigen-Zeitung" berichten.
') Vgl. auch Laquer, „Über die Schädlichkeit kinematographischer Veranstal-
tungen für die Psyche des Kindesalters" (Ärztliche Sachverständigen-Zeitung'*
1911, Nr. 11) und Hellwig, „Die Schädlichkeit von Schundfilms für die kindUche
Psyche" (ebendort Nr. 22).
^) Vgl. meine Psychiatrie 4. Aufl. 1911, S. 248 uad Prinzipien und Methoden
der Intelligenzprüfung; Berlin 1911; ferner Binet und Simon, Ann. psychol. 1908,
Bd. 14, Seite 18.
Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindungen usw.
41
Die Intelligenztätigkeit, welche dabei in Frage kommt, ist offenbar vor allem
die sog. Kombination. Handelt es sich um Bilder, so sind die optischen
Gesamtvorstellungen, die Form und Farbe umfassen, für die Kombination
maßgebend. Bei den geometrischen Figuren kommen nur die Form-
vorstellungen in Frage. Es bot sich daher Gelegenheit zu untersuchen,
wie weit an diesen Formvorstellungen ausschließlich optische Empfindungen,
bzw. wie weit auch kinästhetische, d. h. spezifische, nicht-optische Bewegungs-
empfindungen und entsprechende Bewegungsvorstellungen beteiligt sind.
Über Versuche, die ich in der letzten Zeit in dieser Richtung angestellt habe
und die zur Klärung der Frage wohl etwas beitragen können, will ich im
folgenden kurz einiges berichten.
p Ich habe nämlich an Kindern im Alter von 10 — 15 Jahren, sowohl nor-
malen wie leicht-schwachsinnigen wie auch einigen in frühester Kindheit
erblindeten, und an einzelnen Erwachsenen untersucht, wie weit ihnen die Zu-
sammensetzung der erwähnten geometrischen Figuren auch bei geschlossenen
Augen gelingt. Die Versuchspersonen waren also bei dem Zusammenlegen
abgesehen von der Erinnerungs Vorstellung der Form ausschließlich auf
ihre Berührungs- und Bewegungsempfindungen angewiesen. Es war vor
allem zu erwarten, daß, wenn kinästhetische Vorstellungen neben den
optischen eine wesentliche Rolle spielten, die Zusammensetzung der Figur
eventuell auch bei geschlossenen Augen und namentlich auch bei den blinden
Kindern ohne Schwierigkeit gelingen werde. Außerdem sollte durch eine
besondere Abänderung des Versuchs, die alsbald zur Sprache kommen wird,
die Unentbehrlichkeit der optischen Vorstellungen noch in einer andern
Weise geprüft werden.
Rechtecke aus Kartonpapier, wie sie die beistehenden Figuren zeigen,
jedoch ohne die auf diesen angegebenen Teilungsstriche, wurden dem Kind
Nr. 1.
/
■j- — m.
gezeigt (c. 10—15 Sek.), dann wurden ihm die durch die Striche bezeich-
neten Teilstücke gegeben und die Zusammensetzung des Rechteckes aus
den Teilstücken bei geschlossenen Augen verlangt.^) Das unzerteilte
Rechteck stand dem Kind dabei nicht mehr zur Verfügung. Das Resultat
war, wie vorauszusehen, daß die Zusammensetzung bei geschlossenen Augen
wesentlich langsamer gelang als bei offenen. Die Mitwirkung der optischen
') Die Zu3amm3n33tzaag b3i offenen Aagan ist nam9ntlich bei der^J Untersuchung
schwachsinniger Kinder (s. o.) und bei manchen Herderkrankungen des Gehirns
( Sehsphäre) diagnostisch von Badeutung. Bei den letzteren gibt übrigens auch die
Untersuchung bei Augenschluß interessante Aufklärungen.
42 Versuche über die Peteiliging von Pe\regrngsemffindtingen usw.
Empfindungen erleichtert also die Aufgabe jedenfalls wesentlich. Dagegen
hatte ich nicht erwartet, daß der Unterschied so erheblich ausfallen würde.
Übrigens hat der Erwachsene ebenfalls Schwierigkeiten. Man erkennt,
wenn man den Versuch bei sich selbst machen läßt, wie unsicher das Zu-
sammensetzen bei geschlossenen Augen gelingt. Besonders gilt dies von
dem Rechteck Nr. 2, das allerdings auch dem Zusammensetzen bei offenen
Augen schon Schwierigkeiten bereitet.^) y
Eine zweite Versuchsanordnung (T-Methode) bestand darin, daß den
Kindern die unzerlegten Rechtecke vorher nicht gezeigt, sondern nur
10 — 15 Sekunden zum Betasten in die Hände gegeben wurden. Jetzt
war das Kind also nicht nur bei dem Zusammensetzen auf seine Berührungs-
und Bewegungsempfindungen beschränkt, sondern es war bei diesen Zu-
sammensetzungen auch auf ein Erinnerungsbild beschränkt, welches es
ebenfalls nur aus Berührungs- und Bewegungsempfindungen, nicht auch aus
Gesichtsempfindungen gewonnen hatte. Bei diesen ,,T- Versuchen" waren
die Resultate im ganzen noch schlechter als bei den 0-Versuchen, wie ich
diejenigen der ersten Reihe nennen will. Eine normale erwachsene Ver-
suchsperson, die in der ersten Reihe 1^/4 Minute gebraucht hatte, um das
Rechteck Nr. 1 zusammenzusetzen, brauchte bei der T-Methode, um ein
ganz analoges Rechteck zusammenzusetzen, etwa 2 Minuten. Das Resultat
ist um so bemerkenswerter, als durch den 1. Versuch der zweite sicher er-
leichtert wurde.^) Das Rechteck Nr. 2 wurde von derselben Versuchsperson
zuerst nach der T-Methode zusammengesetzt. Sie brauchte dazu 12 Minuten.
Nach einer Pause brauchte sie für dasselbe Rechteck nach der 0-Methode
2 Minuten. Sie v/urde nun nach einer abermaligen Pause (30 Min.) aufgefordert,
das Rechteck nochmals nach der T-Methode zusammenzusetzen und brauchte
wieder 10 Minuten. Hieraus und aus ähnlichen andern Versuchen, namentlich
bei Kindern, scheint sich doch mit Sicherheit zu ergeben, daß das unmittelbar
vor ausgehende Wecken eines optischen Erinnerungsbildes die Rekonstruktion
der Form in auffallendem Maße erleichtert. Ein 14jähriger normaler Knabe
konnte ein im Sinn von Fig. 2 zerlegtes Rechteck nach der T-Methode überhaupt
nicht zusammensetzen, während es ihm nach der 0-Methode in ca. 5% Min.
gelang. Von 4 blindgeborenen bzw. sehr früh erblindeten Schülern (3 Knaben
und 1 Mädchen im Alter von 12 — 15 J.) der hiesigen Blindenanstalt vermoch-
ten zwei ein im Sinn der Fig. 2 zerlegtes Rechteck überhaupt nicht zusammen-
zusetzen. Zum Rechteck Nr. 1 brauchte ein blindgeborener Knabe 10 Min.
Exakte Zeitmessungen sind leider nicht möglich. Erstens spielt der Zufall
insofern eine Rolle, als gelegentlich einmal zufällig die Stücke in eine annähernd
richtige Lage kommen und dann die Lösung unverhältnismäßig rasch ge-
lingt. Zweitens müßte man, um exakte Resultate zu gewinnen, den Versuch
öfter wiederholen; dies scheitert aber daran, daß, wenn man Rechtecke mit
ähnlicher Zerlegung wählt, die Versuchsperson einfach die bei dem ersten
^) Bekanntlich beruht hierauf das sog. Siebenstein- oder geometrische Figuren-
spiel („Stemrätsel", „Geduldprüfer"), welchem ein nicht geringer Wert für die Ent-
wickltmg der Form Vorstellungen zukommt.
*) Um diese Erleichterung nicht so groß werden zu lassen, daß sie den Unterschied
ganz verwischte, wurde eine längere Pause eingeschaltet.^
Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindungen usw. 43
Versuch gefundene Zusammeneetzungsweiße wieder anwendet; wählt man
aber Rechtecke von ganz anderer Zerlegung, so ist ein Vergleich oder das
Ziehen eines Durchschnittes "nicht möglich, da die Schwierigkeit von der
Art der Zerlegung wesentlich abhängt. Drittens werden die Ergebnisse
auch dadurch beeinträchtigt, daß die Versuchspersonen in ganz unkontrollier-
barer "Weise logische Überlegungen (z. B. „hier ist ein rechter Winkel, das
muß eine Ecke werden") heranziehen und dadurch die Lösung bald be-
schleunigen, bald verlangsamen. Ich habe daher auch wenigstens vorläufig
auf eine systematische Durchführung und ausführliche Mitteilung der Ver-
suche verzichtet.
Analoge Versuche habe ich dann auch mit parallelepipedischen Kör-
pern gemacht, die entweder nur in 2 Stücke oder in 3 Stücke nach Analogie
von Fig. 1 zerlegt waren. Die Zusammensetzung aus 2 Stücken gelang auch
nach der T-Methode stets sehr rasch. Die blinden Kinder brauchten z. B.
nur 10 — 20 Sekunden. Die Zusammensetzung aus 3 Stücken erforderte
erheblich mehr Zeit, nämlich nach der T-Methode beispielsweise bei einer
normalen Erwachsenen 3V3 Min., bei einem normalen, mathematisch gut
veranlagten 15jährigen Mädchen iVsMin., bei einem normalen 14jährigen
Knaben ca. 6 Min., bei drei blinden Schülern 62 Sek. bzw. 4^ Min. bzw.
6 Min. 5 Sek.
Alle diese Versuche, die ich hier nur auszugsweise mitteile und die auch
noch nicht abgeschlossen sind, scheinen mir einen Satz zu bestätigen, den
ich auf Grund anderweitiger Versuchsreihen ausführlich zu begründen
versucht habe^), daß nämlich die spezifischen kinästhetischen Vorstellungen
(die nicht-optischen ,,BewegungBvorstellungen") nicht die erhebliche Rolle
spielen und überhaupt nicht so differenziert sind, wie es meistens angenom-
men wird. Hätten sie wirklich die ihnen zugeschriebene Bedeutung, so hätten
die Versuche überhaupt und besonders die Versuche nach der T-Methode
nicht so schlecht ausfallen können. Ich sehe die Bedeutung der kinästhetischen
Erregungen vielmehr vorzugsweise in der unbewußten Regulierung unsrer
Bewegungen und in dem "Wecken optischer Bewegungs- und Formvor-
stellungen, nicht aber in dem "Wecken spezifischer Bewegungsvorstellungen.^)
Bei der T-Methode würde sich der Vorgang, wenn meine Auffassung richtig
ist, im wesenthchen folgendermaßen abspielen. Bei dem Betasten des ganzen
Rechtecks werden an die Tastempfindungen optische Formvorstellungen
angeknüpft, ebenso müssen bei dem Betasten der Stücke während des
Zusammensetzens die Tastempfindungen in optische Bewegungs- und Form-
vorstellungen übersetzt werden, und erst diese können mit der optischen
Formvorstellung des ganzen Rechtecks verglichen werden, und erst auf Grund
>) Fortschr. der Psychol., herausgeg. v. Marbe, Bd. 1, S. 228—337.
*) Sehr interessant sind für diese Frage auch folgende Versuche. Man läßt Stäb-
chen von einer bestimmten Länge betafiten und dann einen Strich von gleicher Länge
zeichnen. Derselbe Versuch wird dann wiederholt, nachdem man passiv den Finger
des Kindes an dem Stätchen entlang geführt hat. ! Bei sehenden Individuen zeigt
man in einer dritten Versuchsreihe das Stäbchen und läßt dann aus der Erinnerung
einen Strich ziehen, '"der die gleiche Länge habensoll. Merkwürdig ist dabei die oft
hervortretende Neigxmg zu einer Überschätzung der gesehenen Linie.
44 Versuche über die Beteiligung von Bewegungsempfindimgen usw.
dieses Vergleichs kann die Zusammensetzung zum Ziel geführt werden.
Die zweifache Übersetzung in das Optische erschwert die Zusammensetzung
bei der T-Methode. — Erst recht ist natürlich keinerlei Veranlassung, wenn
die Zusammensetzung mit offenen Augen erfolgt, spezifisch kinästhetischen
Vorstellungen eine nennenswerte Mitwirkung zuzuschreiben. Ich glaube
daher auch, daß bei den eingangs erwähnten Legspielmethoden der Intelh-
genzprüfung die kinästhetischen Vorstellungen gegenüber den optischen
ganz zurücktreten und zwar auch dann, wenn es sich um rein geometrische
Figuren handelt.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Führer durch die Sammlung „Einfache Apparate zur experunentellen
Pädagogik« in der „Deutschen Unterrichts-Ausstellung" in Berlin.
Von Hans Rupp.
• ImFrühjahr 1912 tagte in Berlin der V. Kongreß der „Gesellschaft für experi-
mentelle Psychologie". Mehr als auf andern Kongressen war diesmal die experi-
mentelle Pädagogik vertreten, einerseits in Referaten und Vorträgen, anderer-
seits in der mit dem Kongreß verbundenen Ausstellung.
Zwei Abteilungen dieser Ausstellung bezogen sich speziell auf pädagogische
Gebiete. Die eine war vom „Institut für angewandte Psychologie" veranstaltet.
Die andere, die uns hier interessiert, bezweckte eine Zusammenstellung von
Apparaten zur experimentellen Pädagogik.
Es war wünschenswert, daß diese Ausstellungen zum Studium für die inter-
essierten Kreise dauernd erhalten bleiben. Einen willkommenen Anlaß bot hierzu
die ,, Deutsche Unterrichts- Ausstellung", die damals vom Preußischen Ministerium
ins Leben gerufen wurde. Beide Ausstellungen wurden daher, mit geringen
Änderungen, in die Räume der „D. U. A." verlegt.
Lsitend für die Auswahl der Apparate waren folgende Gesichtspunkte :
1. Es sind sowohl solche Apparate und Hilfsmittel aufgenommen, die dem
Unterricht in der experimentellen Pädagogik dienen, wie solche, die
zu wissenschaftlichen Untersuchungen verwendet werden. Manche wer-
den auch in der Praxis der Schule verwertbar sein, einerseits zur Prüfung
verschiedener Fähigkeiten, andererseits zur Erziehung, Bildung derselben,
z. B. des Augenmaßes oder Gehörs. Was den Unterricht in Pädagogik betrifft,
so ist nicht nur an Demonstrationen bei Vorlesungen zu denken, sondern auch
an die uuerläßlichen experimentellen Übungen, die in den letzten Jahren wenig-
stens an den Universitäten Eingang gefunden haben. An Seminaren scheinen
sie immer noch selten gewürdigt zu werden.
2. Wenn die Apparate zar experimentellen Pädagogik eine größere Verbreitung
finden sollen, wenn einige von ihnen sogar in der Praxis der Schule Eingang
inden sollen, so drängt sich ein Gesichtspunkt gebieterisch in den Vordergrund :
Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik. 45^'
es müssen möglichst einfache und billige Modelle ausgewählt werden.
Dieser Forderung ist in der Ausstellimg, soweit es bis heute möglich ist, Rechnung
getragen. Man wird z. B. das vielbesprochene Hipp 'sehe Chronoskop oder große
Chronographen vergeblich suchen. Für pädagogische Zwecke werden die ein-
facheren, vielleicht nicht immer bequemeren Apparate meist ausreichen. Übri-
gens scheint die Ansicht immer mehr Boden zu gewinnen, daß die Bedeutung
dieser Apparate ihrem hohen Preise nicht entspricht.
Die ausgestellten Apparate werden manchen inmaer noch recht teuer erscheinen.
Das kommt daher, daß wir gewohnt sind, die Preise nach Gegenständen des
praktischen Gebrauchs zu messen, die in Tausenden, oft Hxinderttausenden von
Exemplaren hergestellt werden. In diesem Falle, aber auch nur dann, läßt sich die
Herstellung so vereinfachen, daß die oft unglaublich billigen Preise möglich werden.
Bei imseren Apparaten können, solange der Absatz so gering ist, jedesmal nur wenige
Exemplare gebaut werden. Die Herstellung ist daher sehr kostspielig. — Eine
Reihe von Apparaten sind so primitiv, daß man sie leicht selbst herstellen kann.
Wer freilich die Zeit in Anrechnung zu bringen hat, die er darauf verwendet, wird
bald die Erfahrung machen, daß dieser Weg keineswegs der billigste ist.
3. Von der Ausstellung des ,, Institutes für angewandte Psychologie" ist unsere
Ausstellung dadurch unterschieden, daß sie nur Apparate enthält. Solange sich
die Ausstellungen unmittelbar nebeneinander befinden, ist eine derartige Ab-
grenzung erwünscht, um Wiederholungen zu vermeiden. So sind in unserer Aus-
stellung die mannigfaltigen Tests zur Untersuchung der einzelnen Fähigkeiten
nicht aufgenommen, sofern sie nicht in Verbindung mit Apparaten verwertet
werden. Freilich ist der Ausdruck Apparat in weitem Sinne genommen; so
sind z, B. Demonstrationstafeln hinzugerechnet.
Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei ausdrücklich hervorgehoben, daß
zwischen beiden Abteilungen nur dieser äußerliche Unterschied besteht. Sie
stellen nicht aber verschiedene Richtungen innerhalb der Pädagogik oder der
angewandten Psychologie dar. Probleme der differentiellen Psychologie, für die
die andere Ausstellung besonders reiches Material bietet, müssen vielfach auch
durch instrumenteile Hilfsmittel in Angriff genommen werden — ich führe als
Beispiel nur die Feinheit des musikalischen Gehörs bei verschiedenen Individuen
an — ; und dort wie hier sind differentielle Probleme nicht die einzigen, deren
Untersuchung die ausgestellten Hilfsmittel dienen.
4. Ebenso wie die „Deutsche Unterrichts- Ausstellung" überhaupt sich zur Auf-
gabe stellt, stets mit der Zeit fortzuschreiten, hat auch unsere Abteilung keine
starre Form. So ist seit dem Kongreß manches hinzugekommen, mancher Apparat
durch ein verbessertes, vereinfachtes Modell ersetzt worden. Leider wird es nie
möglich sein, daß die Ausstellung ein vollständiges Bild der instrumentellen Hilfs-
mittel gibt. Die Firmen sind nicht in der Lage, von allen Apparaten Modelle
dauernd zur Verfügung zu stellen. Und auch das Psychologische Institut Berlin
und die „Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik" des Berliner Lehrervereins,,
die bis jetzt die Ausstellung in freundlicher Weise unterstützt haben, können
die Apparate nur so weit leihen, als sie nicht gerade für Untersuchungen oder
Übungen verwendet werden.
Die folgenden Ausführungen geben ein Bild der Ausstellung. Bei der Be-
Bchreibimg von Apparaten, die ziemlich allgemein bekannt sind, kann ich mich
46 Einfache Apparate zur experimentellen. Pädagogik.
mit dem kurzen Hinweis begnügen. Die Mehrzalil der Apparate sind aber neu
und bis jetzt nicht in der Literatur beschrieben; sie sollen daher ausführlicher
behandelt werden. Aber nicht so sehr auf eine detaillierte Beschreibung der
Apparate kommt es mir an. Wichtiger ist es mir, die P r o b 1 em e , deren Unter-
suchung sie dienen, hervorzuheben und die pädagogische Bedeutung derselben
zu besprechen.
I. Gruppe: Farben Wahrnehmungen.
Ich erwähne zuerst einige physiologische Erscheinungen: Ermüdung, Simul-
tan- und Sukzessivkontrast, Dämmerungssehen und periphere Farbenblindheit.
Wenn diese Erscheinungen auch nicht in dem Grade interessieren wie die später
zu besprechenden psychologischen Phänomene, so sollte der Pädagoge doch
nicht an ihnen vorübergehen. Einmal treten sie gelegentlich als Störungen,
Fehlerquellen auf sowohl im praktischen Unterricht (beim Malen, Betrachten von
Bildern) wie namentlich bei feineren Untersuchungen über das Farbensehen.
Wichtiger ist aber folgender Punkt. Im täglichen Leben sind wir geneigt, alle
diese Erscheinungen zu übersehen. Sie sind ja nur subjektiv, gehen die objek-
tiven, eigentlichen Farben der Körper nicht an. Man denke an die blauen Schatten
auf dem weißen Schnee, die der Laie, wenn er sie auf Bildern sieht, unnatürlich,
übertrieben findet. Nun ist es eine Aufgabe, nicht bloß des Zeichenunterrichts,
sondern der Schule überhaupt, den Schüler beobachten, sehen zu lehren. Unsere
Demonstrationen kommen dieser Aufgabe in hohem Grade entgegen. Sie üben
das Sehen an auffallenden und leichten Beispielen, die durch keine Suggestion
erschwert, getrübt sind, wie es beim weißen Schnee der Fall ist. Sie leisten aber
noch mehr: sie zeigen zugleich die genaueren Bedingungen, die Gesetzmäßig-
keiten solcher subjektiven Erscheinungen, wenigstens die elementarsten Gesetze
z. B. bei den blauen Schatten, warum gerade blaue Schatten auftreten.
Zum mindesten sollte also der Lehrer selbst diese Erscheinungen kennen. Aber
auch für den Schüler sind sie nicht schwieriger zu erfassen und auch nicht weniger
interessant und wertvoll als physikalische Gesetze,
5 Tafeln zur Demonstration der Ermüdung für Farben nach
Bupp (Mechaniker Marx, Berlin). 5 Tafeln, 50 X 60, 4 mit farbigen, eine mit
weißem (mattem) Papier bespannt, in der Mitte mit einem schwarzen Fixations-
punkt F versehen. Man verdeckt zunächst die Hälfte der Tafel
mit dem beiliegenden schwarzen Karton (in der Figur schraf-
fiert gezeichnet) so, daß der Fixationspunkt noch sichtbar ist. Die
Schüler werden angehalten, F durch etwa 20 Sekunden gut zu
fixieren, anzustarren. Dann zieht man plötzlich den schwarzen
Karton weg, während F weiter fixiert wird. Die vorher ver-
deckte, linke Hälfte erscheint jetzt intensiv in der Farbe der Tafel, z. B. leuch-
tend rot, während die schon vorher gesehene rechte Hälfte ganz blaß, fahl,
manchmal fast farblos aus sieht. Für diese Seite ist das Auge eben ermüdet.
Man lernt daraus, wie enorm verschieden dieselbe Farbe auf das frische imd auf
das für die betreffende Farbe ermüdete Auge wirkt.
Konsequenzen liegen nahe. Man achte darauf, daß farbige Bilder, Gegen-
stände nicht lange angestarrt werden; man wird im Schulzimmer, wenigstens
im Zeichensaal deutliche Tönungen der Wände vermeiden, da sonst das Auge
für diese Töne stumpf wird.
Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik. 47
6 Tafeln zur Demonstration der negativen Nachbilder nach Rupp
(Mjchaniker Marx, B3rlin), und
2 Tafeln zur Demonstl-ation der negativen Nachbilder nach
Hofbr-Wita^ak, aus dar Sammlung „lO^^ psychologische Schulversuche" (Rohr-
b3C5k3 Nachfolger, Wien).
\ Die 6 erstän Tafeln bsstehen aus grauen Kartons, 50 X 60. vier mit einer
farbigen, einsrmit einsr waißen, einer mit einer schwarzen Scheibe in der oberen
Hälfte baklebt (in der Figar schraffiert gezeichnet). In der Mitte der Scheibe
ist ein Fixationspunkt F^^, ebanso ein zweiter F^, in der unteren
Hälfte dsr Tafel. Die Schüler werden wieder angehalten F^^ etwa
20 Sskunden lang gut za fixieren. Darnach sollen sie hinunter
blicken auf F2. Um F2 herum entwickelt sich dann allmählich
das negative Nachbild, Wenn man länger auf F2 hinsieht, so
kann man oft m3hrere Phasen beobachten : das Nachbild schwindet,
kommt wieder usf.
Nicht immer gelingt der Versuch dem Anfänger gleich beim erstenmal. Man
muß ihn anweisen, gat zu fixieren und vor allem auch nachher, wenn er auf F^
blickt, geduldig zuzuwarten; das Nachbild kommt oft erst nach mehreren Se-
kunden. Unter diesen Vorsichtsmaßregeln ist die Erscheinung leicht imd sicher
zu beobachten, auch von Kindern.
Negative Nachbilder sind schon beim ersten Fixieren (von F.^) zu beobachten,
näulich als farbige Ränder an der Peripherie der Scheibe; ebenso auch beim
früheren Versuch an dsr vertikalen Grenze zwischen den beiden Hälften. Diese
Nachbilder entstehen durch Blickschwankungen beim Fixieren.
Auf 2 graue Tafeln derselben Größe 50 X 60 ließ ich an Stelle der Scheiben
in der obsren Hälfte die beiden Bilder aus der genannten Sammlung von Höfler
und Witasek aufkleben. Das eine Bild ist eine Reproduktion des bekannten
S3lb3tbildnisse3 von Dürer, jedoch so ausgeführt, daß Schwarz und Weiß ver-
tauscht sind, also wie im photographischen Negativ. Im Nachbild erscheint
dann das Positiv — auch für den Kenner immer wieder eine Überraschung. Das
zweite Bild ist nicht in Weiß- Schwarz gehalten, sondern farbig. Es stellt eine
Landschaft mit einem Regenbogen dar und zwar wieder in den Kontrastfarben,
z. B. das Laub der Bäume bläulich rot; im Nachbild erscheinen Bäume und
Regenbogen in den richtigen Farben.
Die praktischen Konsequenzen, die wir früher bei der Ermüdung erwähnt
haben, gelten auch hier. Man vermeide längeres Anstarren von Farben und ver-
meide größere farbige Flächen, die auch ohne Fixation dauernd auf das Auge
wirken wie farbige Wände, farbige Unterlagen z. B. aus rotem Löschpapier.
6 Tafeln für Simultankontrast nach Stumpf (Mechaniker Marx, Berlin).
6 Kartons, 30 X 60 cm, 4 mit farbigem, 1 mit weißem, 1 mit schwarzem Papier
bespannt. In der Mitte liegt auf allen Tafeln ein gleich grauer Streifen,
der jedoch nur an seinem oberen Ende befestigt ist. Vergleicht man
nun diese Streifen, zunächst die auf den bunten Tafeln, so zeigen
sie deutliche bunte Tönung in der Kontrastfarbe der Tafel; von
den beiden grauen Streifen auf den farblosen Tafeln erscheint der auf hellem
Grund dunkler, der auf dunklem Grund heller, also wieder in der Richtung
der Kontrastfarbe verändert.
48 Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Den Tafeln liegt ein Stück des grauen Papieres bei, aus dem die Streifen ge-
sclmitten sind. Legt man dieses Papier unter den (aus diesem Grunde nur an
dem oberen Ende befestigten) grauen Streifen, so sieht der Beobachter, daß sie
farblos und alle gleich sind. Zugleich ist demonstriert, daß die Änderung nur von
der Umgebung herrührt.
Die Kontrastwirkung tritt deutlicher hervor, wenn man über das Ganze Seiden-
oder Florpapier legt („Florkontrast"). Um auch diesen Versuch ausführen zu
können, ist am oberen Rande der Tafeln ein Seidenpapier angeklebt, das sich
nach Belieben hinauf- oder auf die Tafel hinunterschlagen läßt.
Handapparat für farbige Schatten, nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin).
Besonders intensive Kontrastfarben zeigen die sogenannten farbigen Schatten.
Hering hat eine sehr wirkungsvolle Anordnung mit farbigen
Fenstern in einem sonst verdunkelten Räume beschrieben. Um
diese intensiven und doch rein subjektiven Farben auch ohne
die umständliche Verdunklung zeigen zu können, versuchte ich
die Hering 'sehe Anordnung in einem Apparat nachzuahmen, der
bei normaler Beleuchtung zu benützen ist. Freilich kannjedesmal
nur einer die Erscheinung sehen. Der Apparat ist in der Hand
zu halten und kann eventuell im Hörsaal herumgereicht werden.
Der Beobachter blickt, gegen ein Fenster gewendet, in einen
schwarzen Pappkasten. Der nebenstehende horizontale Quer-
schnitt zeigt die Einrichtung desselben. Die vordere, aus Blech her-
gestellte Wand hat 2 Spalte, die durch seitliche Schieber enger und weiter
zu stellen sind. Hinter den einen Spalt, z. B. den linken, wird ein farbiges-
Mattglas (F), hinter den andern ein weißes (W) eingeschoben. Etwa
in der Mitte des Kastens ist eine Mattscheibe eingesetzt und ein wenig
davor ein Stab St. Die beiden von den Spalten herkommenden Lichter
erzeugen auf der Mattscheibe 2 Schatten von dem Stabe St; sie sind in der Figur
mit / und k bezeichnet. Der eine Schatten / ist nur von farbigem Licht be-
leuchtet, und erscheint deutlich in der Farbe dieses Lichtes, z. B. rot. Der andere
Schatten k ist nur von weißem Licht beleuchtet. Da aber die umgebende Matt-
scheibe von dem roten Licht getroffen ist, so wird in unserem Auge auf dem
farblosen Schatten k die Kontrastfarbe grün erzeugt. Die rötliche Färbung der
umgebenden Mattscheibe ist wegen der Beimischung von weißem Licht (viel-
leicht auch aus anderen Gründen) kaum zu merken. Die Kontrastfarbe dagegen
ist sehr intensiv, ebenso deutlich wie die objektive Farbe des Schattens /.
Man muß darauf achten, daß die Lichter F und W die richtige Stärke haben.
Zu dem Zwecke sind die Schieber eingesetzt, durch die die Weite der Spalte
entsprechend reguliert werden kann. Verschiedene farbige Gläser verlangen
verschiedene Spalte. Es sind 4 ungefähr den Urfarben entsprechende Gläser
dem Apparat beigegeben. Bei der Betrachtung ist es gut, den Apparat ein wenig
nach rechts und links zu drehen ; man findet dann leicht die Lage (Beleuchtung),,
bei der die Erscheinung am deutlichsten ist. Der vordere Teil der oberen Wand
ist aufklappbar gemacht, damit man die innere Einrichtung des Apparates
überblicken kann.
Tafel zur Demonstration des (farblosen) Randkontrastes, nach
Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Der Simultankontrast wirkt dort, wo zwei
oben
=
—
~
Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik. 49
verschiedene Farben aneinander stoßen, am stärksten und nimmt von dieser
Grenze an sehr schnell ab. Er heißt darum auch Randkontrast. Sehr deutlich
ist dies bei folgender Anordnung zu beobachten.
Auf einen Karton 30 X 50 sind"scharf aneinanderstoßend 5 Streifen aufgeklebt,
der linke weiß, die rechten immer dunkler werdend. Jeder Streifen ist in sich
objektiv ganz gleichmäßig gefärbt. Allein dem Beobachter er-
scheinen sie nicht gleichmäßig, sondern jeder gegen den linken
Eand zu, wo er an einen helleren Streifen grenzt, dunkler, gegen
den rechten, wo ein dunklerer Streifen angrenzt, heller. Die Kon-
tras tfärbung nimmt aber schnell vom Rande gegen die Mitte zu ab.
Infolge dieser Schattierung sehen die Streifen zuweilen deutlich ge-
wölbt aus, das Ganze macht den Eindruck einer kannelierten Säule.
Um dem Beobachter zu zeigen, daß die Streifen objektiv gleichmäßig
grau sind, hält man rechts und links an den mittleren Streifen die beiden bei-
liegenden Kartons, die nahezu dasselbe Grau zeigen wie der genannte Streifen.
Jetzt sieht man den Streifen ganz gleichmäßig gefärbt. Die geringe Hellig-
keitsdifferenz gegen die Kartons (die obendrein auf beiden Seiten die gleiche
Richtung zeigt), vermag keinen merkbaren Kontrast zu erzielen.
Prisma zur Demonstration des farblosen Kontrastes nach Rupp
(Mechaniker Marx, Berlin). Der praktisch wichtigste Fall des Randkontrastes
ist wohl folgender: An einer Kante stoßen 2 ebene Flächen eines gleichmäßig
gefärbten Körpers zusammen; die beiden Flächen sind verschieden beleuchtet.
Dann erscheinen an der Kante die Helligkeitskontraste der 2 Flächen gesteigert.
Wir kennen alle die Erscheinung vom Zeichenunterricht her, wo wir, vielleicht
das erstemal, merkten, daß die Seiten eines Würfels oder Prismas nicht gleich-
mäßig weiß oder dunkel sind. Daß die Erscheinung nicht objektiv ist, wird man-
chem neu sein.
Für diese Erscheinung ließ ich ein Prisma herstellen, von welchem 5 Flächen dem
Beobachter zugekehrt sind. Sie zeigen, ähnlich wie die vorige Tafel, 6 verschiedene
Grau, von Weiß zu einem ziemlich dunklen Grau abgestuft. (Man achte darauf , daß
das Licht möglichst nur von einer Seite her, z. B. von links kommt.) Es zeigt sich
nun deutlich die erwähnte Schattierung: jeder Streifen erscheint gegen den linken
Rand dunkler, gegen den rechten heller. Daß die Streifen objektiv ganz gleich-
mäßig grau sind, zeigen wir auf ähnliche Weise wie im früheren Beispiel. Wir
nehmen den beiliegenden Karton, der objektiv dieselbe weiße Farbe hat wie das
Prisma und der einen rechteckigen Ausschnitt von der Breite einer Prismenseite
hat, und legen ihn so an irgendeine Prismenseite an, daß diese ganz den Aus-
schnitt ausfüllt. Dann erscheint sie nicht mehr verschieden, sondern ganz gleich-
mäßig gefärbt; und auch der ganze Karton hat die gleiche Färbung. Es wäre
ja sehr merkwürdig, wenn auf so kleinen Flächen die objektive Beleuchtung
merkliche Verschiedenheiten aufweisen würde.
Wir können wieder praktische Konsequenzen aus unseren Demonstrationen
über den Siraultankontrast ziehen. Auch wenn wir die Prismenseiten — und
Analoges gilt von den Streifen in den früheren Beispielen — ganz gleichmäßig
schattieren oder malen, so muß doch, genau wie bei unseren Demonstrationen,
der Kontrast auf treten ; er kommt ganz von selbst, ohne unsere Zeichnungen. Frei-
lich kommt er nur dann in derselben Stärke, wenn die beiden Flächen auf der
Zeitschrift t. pädagog. Psychologie. 4
50 Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Zeichnung dieselbe objektive Lichtstärke besitzen wie im Original; und auch
die Größe ist von Einfluß. Da das vielfach nicht der Fall ist, so müssen wir nach-
helfen, wir müssen den Rest durch unser Schattieren ergänzen; aber eben doch
nur den Rest!
Sammlung von Beispielen für Kontrasterscheinungen. Es ist
wertvoll für den Lehrer, Beispiele aus dem täglichen Leben zu kennen, wo der
Kontrast auftritt. Es sollten daher Zeichnungen, Ornamente, Bilder, kunst-
gewerbliche oder sonstige Gegenstände dieser Art gesammelt werden. Um einen
kleinen Anfang zu machen, habe ich in einer Mappe einige Beispiele, die in der
Literatur bekannt sind, zusammengestellt: Kontrast bei Flechtblättern, Kontrast-
rost nach Hermann und dergleichen. Weitere Beiträge für diese Sammlung hat
sich das Institut für angewandte Psychologie (Sekretär Dr. Lipmann, Klein-
Glienicke bei Potsdam) freundlichst bereit erklärt entgegenzunehmen. (Es
wird gebeten, Zusendungen mit dem Vermerk „Für die Apparaten- Sammlung"
zu versehen).
Tafel zur Demonstration der Farbenblindheit bei Dämmerung
(Mechaniker Marx, Bsrlin). Bei zunehmender Dämmerung werden alle Gegen-
stände farblos ; wir erkennen sie wohl noch, wir sehen hellere und dunklere Flecke
und die Konturen zwischen ihnen, aber alles Bunte ist verschwunden, jede, auch
die satteste Farbe ist in ein Grau verwandelt. Aber nicht jede Farbe ist in das
gleiche Grau verwandelt: rote Töne werden sehr dunkel, blaue und besonders
grüne bleiben relativ hell (Purkinje'sches Phänomen).
Unsere Tafel veranschaulicht diese Verhältnisse. Sie zeigt untereinander-
stehend 10 ziemlich gesättigte Farben (Rothe- Serie) in spektraler Anordnung
(in der Figur schraffiert gezeichnet) und rechts daneben die den
Farben in der Dämmerung entsprechenden Grau. Wenn man
den Raum, in welchem man demonstriert, allmählich ver-
dunkelt (die Beobachter dürfen nicht gegen helle Spalten,
die vielleicht noch übrig bleiben, blicken), so sieht man die
Farben immer ungesättigter, bis schließlich jeder bunte Stich
schwindet und jede Farbe dem rechts daneben liegenden Grau voll-
kommen gleich erscheint.
|S^Noch wirksamer ist der umgekehrte Versuch: man verdunkelt erst den Raum
und zeigt die Tafel, auf welcher der Beobachter zwei gleiche Reihen von ver-
schieden grauen Rechtecken sieht, die keinerlei Tönung zeigen (bei richtiger Be-
leuchtung). Es ist überraschend, wie sich nun bei Aufhellung des Raumes die
eine Reihe zu intensiven, leuchtenden Farben entwickelt.
Die Tafel ist eine Nachahmung der bekannten Tafel von Hippel für die
Farbenblindheit der Stäbchenseher.
Tafel zur Demonstration der peripheren Farbenblindheit nach
Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Wenn wir einen farbigen Gegenstand in die
äußeren Zonen des Gesichtsfeldes rücken, so wird er ebenfalls farblos, erscheint
in einem bestimmten Grau. Dieses Grau ist aber im allgemeinen ein anderes wie
bei Dämmerung.
Unsere Tafel ist ganz analog eingerichtet wie die frühere. Links sind dieselben
10 Farben, rechts die entsprechenden „Peripherie werte", d. h. die Grau, in welche
die Farben beim peripheren, seitlichen Sehen übergehen. Am hellsten ist das
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Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik. 51
Grau der gelben Farbe, also der Farbe, die auch, bei direkter Betrachtung als die
hellste erscheint.
Die periphere Farbenblindheit hat für die Pädagogik nur eine untergeordnete
Bedeutung. .
Eine Hauptaufgabe des Farbensehens besteht darin, die Farben zu erkennen,
ihre Ähnlichkeiten, Verwandtschaften zu erfassen und die verschiedenen Eigen-
schaften, die wir ihnen zuschreiben, klar zu sondern. An diese mehr intellektuelle
Aufgabe schließt sich die ästhetische Erfassung der einzelnen Farben und der
Farbenkombinationen.
Von der Kenntnis der Farben selbst ist wohl zu scheiden die Kenntnis, wie
sie durch Mischmig herzustellen sind. Leider werden diese Erfahrungen der
Maltechnik in die psychologische Auffassung oft hineingetragen und das wirk-
liche Sehen, Beobachten dadurch in falsche Bahnen geleitet. An der Hand unserer
Versuche lassen sich die Fragen leicht trennen.
Zur Untersuchung und Erziehung des Farbensehens wäre eines sehr erwünscht :
eine große, möglichst vollzählige Normal- Sammlung von Farben in bequemer
Form (z. B. Wollstoffe oder Papiere), so daß wir sie beliebig zusammenstellen,
ordnen können. Jede Farbe hätte hier einen Namen oder eine Nummer. Wer
immer eine Untersuchung oder Übung vornimmt, bedient sich dieser Normal-
Skala. Alle Statistiken sind auf sie bezogen. Es wird festgestellt, was die besten
Farbenkenner unter reinem Rot, Blau usw. verstehen, was sie als Ton, Hellig-
keit, Intensität usw. bezeichnen. Danach wird der Gebrauch in Schulen usw.
geregelt.
Leider sind imsere Sammlungen noch recht unvollkommen. Einen gewissen
Ersatz bieten die Mischapparate. Allein die Spektralapparate sind viel zu teuer,
und die einfacheren sind nicht so vollkommen; auch ist es für viele Zwecke er-
wünscht, fertige Farben zur Hand zu haben und sie beliebig ordnen zu können.
Ich bespreche nun die Serien, die wir besitzen, erst die bunten, dann die ton-
losen, und weise dabei auf die einzelnen Versuche und Übungen hin, die sich mit
ihrer Hilfe wenn auch nur in roherer Weise ausführen lassen. Daran füge ich
die Besprechung einiger ähnlichen Fragen dienender Demonstrationsobjekte.
Zuletzt gehe ich auf die ausgestellten Mischapparate ein.
Wollproben nach Holmgren. Zirka 130 kleine Wollbündel, sehr gesättigte
und auch ungesättigte Farben; freilich lange nicht alle Farben, z. B. im Spek-
trum empfindliche Lücken. Tonlose Farben sind überhaupt nicht vertreten.
Dennoch lassen sich über die meisten hier interessierenden Fragen einfache,
orientierende Versuche anstellen.
Was alles wird z. B. als rot bezeichnet (Umfang von ,,rot")? Was auf den
ersten Blick, was bei kritischer Betrachtung, namentlich bei Nebeneinander-
halten der Farben (Kontrast) ? Welche Farbe wird schließlich als bestes, reinstes
Rot bezeichnet? von Erwachsenen, Kindern, Malern? Die letzte Frage ist be-
sonders bei den „Urfarben" von Interesse. Genauere Bestimmungen sind aber
nur mit den Mischapparaten durchführbar.
Andererseits können wir fragen : Was alles wird, wenn auch nicht als rot, so
doch als rötlich erkannt? Erscheinen auch noch Violett und Orange rötlich?
Ein wie starker Stich ins Rote ist bei Weiß, Grau, Schwarz nötig? Reicht die
4*
52 Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Ähnlichkeit so weit, wie es nach der Farbenpyramide, unserem Idealsystem,
zu verlangen ist? oder wie weit bleibt der einzelne zurück?
Auch eine Statistik der Farbenbezeichnungen ist sehr lehrreich: Welche der
in der Serie vorhandenen Farben erhalten einfache Namen, welche werden um-
schrieben ? und wie hilft man sich bei Umschreibung ?
Alles dies geht auf Erkennung der Farben, Wenn eine Farbe aber auch nicht
erkannt wird, so kann sie doch unterschieden werden. Für rohe Versuche dieser
Art ist unsere Serie wieder verwertbar : Man läßt zu einer Wolle die ganz gleichen
suchen; welche Verwechslungen treten auf? Gröbere Fehler weisen auf Farben-
schwäche oder gar Farbenblindheit hin.
Die schwierigste Aufgabe aber ist es wohl, bei 2 als verschieden erkannten
Farben anzugeben, in welcher Hinsicht sie verschieden sind. Sie tritt schon bei
der Bezeichnung der Farben auf. Es fragt sich, ob die verschiedenen Eigen-
schaften: Ton, Helligkeit, Intensität, Sättigung usw. gesondert werden
und was das Kind, auch der Erwachsene, darunter versteht. Man gibt verschiedene
Paare und läßt den Unterschied charakterisieren, oder man läßt zu einer Farbe
die gleich hellen, gleich satten finden, oder läßt alle hellsten, intensivsten suchen,
oder läßt eine Helligkeits-, Sättigungsreihe zusammenstellen und dergleichen mehr.
Alle derartigen Versuche scheinen mir für psychologische und pädagogische
Übungen wie auch für die Schule selbst sehr empfehlenswert. Man braucht die
Ergebnisse nicht zu notieren ; man kann es im Unterricht nicht immer. Dennoch
lernt man individuelle Unterschiede, z. B. im Umfang der Begriffe, in der Er-
kennung entfernterer Ähnlichkeiten kennen, und man lernt insbesondere die
Schwierigkeiten und die Unsicherheit in der Charakterisierung der Eigenschaften
kennen und wird daraus für den Unterricht Gewinn ziehen. Man braucht dazu
natürlich nicht eine bestimmte Serie. Jedes reichhaltige Muster tu ch leistet
ähnliches. Allein für die Verständigung mit anderen ist eine Normalserie nötig,
und als solche ist unsere wohl am meisten zu empfehlen.
Gleiches wie von diesen mehr intellektuellen Aufgaben gilt von den ästhe-
tischen. Man läßt die Wirkung sowohl einzelner Farben wie von Kombinationen
beschreiben, Bilder oder bestimmte Erinnerungen angeben, die sie auslösen;
oder man läßt die schönsten Farben oder Kombinationen suchen, läßt zu be-
stimmten Anlässen, z. B. zu Festen, oder zu bestimmten Gedichten, Stimmungen
passende Farben wählen. Man kann sehr viele Versuche dieser Art anstellen, imd
sie werden immer lehrreich sein; aber man wird selten auf feste, übereinstim-
mende Ergebnisse rechnen dürfen.
Tafel und Ovale zur Erziehung des Farbensinnes nach Magnus.
Die Serie ist nicht so vielseitig wie die vorige, sie verfolgt speziellere Zwecke.
Sie enthält 9 Farben, für welche wir einfache Namen haben: braun, purpur,
rot, gelb, grün, blau, violett; jede Farbe außerdem in drei immer weißlicher
werden den Schattierungen. Diese 36 Farben, auf Papier gedruckt, sind auf
einer Tafel aufgeklebt. Der Lehrer soll die Tafel erklären.
Sodann sind dieselben Farben als Ovale auf Pappe geklebt, von jeder
Nuance sind zwei Ovale vorhanden. Damit können folgende Versuche angestellt
werden: Eine Farbe wird auf der Tafel gezeigt; es sind die gleichen Ovale heraus-
zusuchen. Oder es wird eine Nuance gezeigt, und es sind alle Nuancen desselben.
Tones zu suchen.
Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik. 53
Grau- Serie (Mechaniker Zimmermann, Leipzig). Papiere der Größe
50X60 cm, 50 Stufen von Weiß bis Schwarz. Die Stufen sind leider sehr un-
gleich, die Grau nicht frei von schwachen Tönungen, die auch bei verschiedenen
Stufen verschieden sind. Für manche Versuche kann man eine Skala von z. B.
15 — 20 Grau heraussuchen, die dann ziemlich gleichmäßig ist. Für feinere
Versuche muß man zu Mischapparaten greifen.
An die Grau-Reihe knüpfen sich folgende Probleme. Analog wie bei den
bunten Farben erhebt sich die Frage der Erkennung: Welche Stufen werden
als weiß, grau, schwarz bezeichnet ? Gibt es ein bestes Grau ? Wie weit reicht
die Weißähnlichkeit ? Ist ein nicht ganz schwarzes Schwarz schon etwas weißlich ?
Viel untersucht ist die Unterschiedsempfindlichkeit für Grau-Nu-
ancen. Wie feine Unterschiede werden noch unterschieden ? Ebenso die kompli-
zierte Frage: Können zwei Grau-Unterschiede verglichen werden? Wie
beschaffen muß ein Grau sein, damit es in der Mitte zwischen zwei anderen Grau
steht? Aber wir können noch weiter gehen: Wir können irgendeine Kombi-
nation mehrerer Grau in größere oder geringere Helligkeit übertragen. Oder
wir können eine Kombination, ein Verhältnis von Farben einmal kontrast-
reicher, einmal flauer abbilden, während doch immer das Verhältnis erhalten
bleibt. Von der Photographie her sind alle diese Fragen bekannt. Dort haben
wir aber keine Möglichkeit, die einzelnen Grau selbst zu suchen, abzustimmen
und so die Feinheit unseres Urteils zu messen.
Ist in allen diesen Fragen die Grau-Reihe an sich von Interesse, so wird sie
uns bei folgenden Versuchen durch die Beziehungen zu den bunten Farben
wertvoll. Die Helligkeit einer bunten Farbe bestimmen wir meist so, daß
wir ein gleich helles Grau suchen. Die Zuordnung muß nicht immer auf Grund der
Helligkeit erfolgen, das Grau kann auch aus anderen Gründen zur Farbe passen.
Nicht nur zu einer isolierten Farbe, sondern auch zu einer Kombination kann
eine passende Grau-Kombination gesucht werden. Damit stehen wir vor der sehr
komplizierten und schwierigen Frage der Weiß- Schwarz- Abbildung eines
farbigen Objektes oder der farblosen Reproduktion eines farbigen Bildes. Welche
Grau werden gewählt? Ist die absolute Helligkeit des Grau innerhalb größerer
Grenzen gleichgültig, und kommt es nur auf das Verhältnis an ? Wie verhalten
sich Kinder bei diesen Versuchen? Bei einzelnen Farben gelingt Kindern die
Zuordnung überraschend leicht. Zeigen sie aber auch schon Sinn für Kombi-
nationen ?
Alle diese Versuche lassen sich mit unserer Serie freilich nur unvollkommen
aasführen. Leider gibt es zurzeit keine bessere Serie ; die technische Herstellung
scheint mit großen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Für manche Fragen
reicht die Serie aber recht gut aus. So sind die Tafeln für Farbenblindheit mit
Grau aus dieser Serie hergestellt; die Unterschiede sind dort so groß, daß die
Serie ein hinreichend klares Bild gibt.
Farbenpyramide aus der Sammlung ,,100 Schulversuche** von Höfler
und Witasek (Rohrbecks Nachfolger, Wien). Sie soll das System veranschau-
lichen, das heute ziemlich allgemein als Idealsystem anerkannt wird: 6 Ur-
farben nach Hering: Rot, Gelb, Grün, Blau, Weiß und Schwarz und deren
Übergänge. Die Lokalisation der Urfarben an die Ecken eines Vierecks drückt
ihre ausgezeichnete Stellung im Farbenzirkel aus; die Lokalisation der Weiß-
54 Einfache Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Schwarz-Reihe in die vertikale Achse zeigt deren ausgezeichnete Stellung
gegenüber den bunten Urfarbenreihen (z. B. Rot-Gelb): von jeder farblosen
Nuance gibt es Übergänge zu allen bunten Tönen.
Leider sind die Farben auf der Pyramide nicht gut getroffen. Offenbar ist
die Herstellung technisch schwierig oder kostspielig. Aber das Modell ist das
einzige im Handel vorhandene. Für Schulen wäre ein gutes Modell dringend
erwünscht.
NB. Eine Sammlung verschiedener Darstellungen derselben oder anderer
Systeme wäre für die Pädagogik sehr lehrreich. Werden immer die richtigen
Farben, z. B. das beste Rot gewählt ? Geben sie ein vollständiges System ? Häufig
fehlen z. B. die Übergänge der bunten Töne zu Grau.
Tafel der photographischen Helligkeitswerte nach Rupp (Mecha-
niker Marx, Berlin). Die Tafel ist analog zusammengesetzt wie die Tafeln der
Peripherie- und der Dämmerungswerte ; nur sind die Grau nach einem anderen
Prinzip gewählt. Jeder Farbe ist jenes Grau zugeordnet, in welchem sie sich
bei einer photographischen Aufnahme abbildete. Man sieht, wie z. B. die blauen
Töne auf der Photographie relativ hell werden.
Hält man diese und die zwei früher erwähnten Tafeln nebeneinander, so
erkennt man, daß derselben Farbe häufig auf verschiedenen Tafeln andere Grau
zugeordnet sind. Es liegt nahe, eine Tafel zu entwerfen, die durch direkte Hellig-
keitsvergleichung gewonnen ist. Sie allein würde wirklich Helligkeitswerte
geben; alle anderen Methoden sind indirekt, und es ist jedesmal erst zu unter-
suchen, ob sie mit der direkten übereinstimmen. Jedoch habe ich vorläufig
davon Abstand genommen, da die Einstellungen zu sehr differieren und man
von normalen Helligkeits werten zurzeit noch nicht sprechen kann. Auch dürfte
die Zuordnung eine andere sein, wenn man das ganze Spektrum vor sich hat,
als wenn man die Farben einzeln untersucht, wie es gewöhnlich geschieht.
(Fortsetzung folgt.)
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Über die Aufgaben der psychologisch-pädagogischen Forschung im Gebiete
des Religionsunterrichtes äußert sich Universitätsdozent Dr. G. Deuchler-Tü-
bingen in folgender bemerkenswerter Weise : Im Zusammenhang mit der gegen-
wärtigen Bewegung einer Reform und Gestaltung des Religionsunterrichts nach
pädagogischen und psychologischen Prinzipien taucht natürlicherweise besonders
energisch die Frage auf nach der religiösen Entwicklung des Kindes und des Jugend-
lichen. Die Aufgaben, um die es sich hier handelt, lassen sich um sechs Fragen grup-
pieren: 1. um die des Verständnisses und der Resonanz oder Bedeutungstiefe der
Begriffe des religiösen Lehrinhalts, 2. um die der Wirksamkeit religiöser Vorbilder,
3. um die nach der Dauer und Tiefe der religiösen Affekte und Handlungen wie
Ehrfurcht, Andacht, Gebet, 4. um die nach den Bestandteilen, die auf das Vor-
handensein einer idealen und eventuell transzendenten Welt — von dem Bewußt-
sein der jeweiligen Altersstufe aus betrachtet — hinweisen, 5. um die nach den
Kleine Beiträge und Mitteilungen, 55
religiösen Bestandteilen in den ethischen Affekten, z. B. in Schuld, Reue und
Hoffnung, sowie im sittlichen Verhalten überhaupt, und 6. um die nach der
Abhängigkeit von dem religiösen Leben der Umgebung und nach der Verschie-
denheit beim einzelnen Individuum. Leicht sind diese Fragen nicht zu lösen,
und nur wer sich frei weiß von Tendenzen, die außerhalb des wissenschaftlichen
Problems liegen, und die nötige Feinfühligkeit besitzt, möge an solche Probleme
sich wagen. Von relativ geringer, oft sogar von zweifelhafter Bedeutung sind
die meisten bisherigen Untersuchungen über das Verständnis religiöser Begriffe
durch Definierenlassen derselben oder durch Ausfragen darüber. Das wertvollste
Material wird durch eine diskrete Beobachtung des religiösen Verhaltens, durch
Dialoge, die in ihren Bedingungen vollständig durchsichtig sind, und durch
sorgfältiges Registrieren der Stellungnahme im Unterrichtsgespräch zu ge-
winnen sein.
Die Erprobung der „Linkskultur" in' den Berliner Hilfsschulen hat nach
den Berichten des Stadtschulinspektors Dr. Dickhoff zu so wenig befriedigenden
Ergebnissen geführt, daß von weiteren Versuchen Abstand genommen wird.
Die eingelaufenen Gutachten, die sich auf rund 2600 Kinder in 146 Klassen be-
ziehen, sprechen sich teils ablehnend aus, teils enthalten sie sich eines abschließen-
den Urteils. Die Linkskultur wurde in der Art gepflegt, daß man neben der
rechten Hand auch die linke heranzog beim Turnen und Handfertigkeitsunter-
richt, beim Schreiben und Zeichnen. Während beim Handfertigkeits- und Zeichen-
unterricht immerhin im allgemeinen nicht ungünstige Erfahrungen gemacht
wurden, sind die Berichte einig in der Ablehnung der Linkskultur beim Schreiben.
Daß eine gesteigerte geistige Entwicklung im Gefolge der Linkskultur aufgetreten
sei, läßt sich nicht behaupten. Ja, in den Fällen, wo infolge Lähmung der rechten
Seite eine erhöhte Betätigung der linken Hand einsetzte, ist der große Erfolg,
der in der geistigen Entwicklung eintreten sollte, ausgeblieben. Fast alle Berichte
heben hervor, daß der Nutzen aus der Linkskultur in keinem Ver-
hältnis steht zu dem Aufwand an Arbeit und Mühe.
Ein Fall von Kleptomanie im Schüleralter. Bekanntlich neigen ganz be-
sonders Kinder dazu, in die fremde Eigentumssphäre einzubrechen. Die Motive
hierzu können verschiedener Art sein: meist sind es Zweckmäßigkeitsgründe,
die ein Kind veranlassen, zu stehlen. So zum Beispiel die Freude am Besitz,
Sammeltrieb und die Schadenfreude am Suchen des Bestohlenen. Wenn bei diesen
durch diebische Neigung hervorgerufenen Vergehen die nötige Aufsicht mangelt,
so kann ein solches Kind doch einmal später zu Bedenken Veranlassung geben.
Fällt aber jeder Moment der Zweckmäßigkeit fort, wird das Stehlen Selbstzweck,
dann kann nur noch als Motiv eine Zwangsvorstellung in Betracht kommen.
Dann wird der Vorgang des Stehlens selbst in den Vordergrund gerückt, die Sache,
der Gegenstand werden gleichgültig, der Diebstahl ist eine Triebhandlung,
die nicht auf Beschaffung einer Sache gerichtet, sondern Selbstzweck geworden
ist. Dies ist Kleptomanie im eigentlichen Sinn, die sehr schwer festzustellen ist
und nicht allzu häufig vorkommen dürfte. — Um so interessanter ist folgender
Fall, den ich aus nächster Nähe zu beobachten Gelegenheit hatte.
Einer meiner Privatschüler im Alter von sieben Jahren entlarvte sich als
56 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Kleptomane dieser Art, Mir war nämlich aufgefallen, daß Wochen hindurch
kleinere Gegenstände aus meinem Arbeitszimmer verschwanden. Mein Verdacht
richtete sich auf diesen Schüler X. Eines Tages gelang es mir auch, den Jungen
während einer Viertelstunde seiner Arbeitszeit allein zu beobachten. Auf einem
Tisch, drei Meter von ihm entfernt, lang eine kleine, fast wertlose Taschenbürste.
Kaum war er ihrer ansichtig geworden, mußte in ihm der Gedanke aufgetaucht
sein, sich in ihren Besitz zu setzen. Er warf begehrliche Blicke herüber, stand
einmal auf, griff auch nach ihr, sah sie sich genau an und legte sie wieder
hin. Dann setzte er sich wiederum auf seinen Platz, stand noch einmal auf und
steckte sie nun hastig, unruhig und unter allen Zeichen innerer Erregung wirklich
ein. Als ich dies anfangs sah, zweifelte ich nicht, den Urheber der kleinen
Diebstähle der letzten Zeit vor mir zu haben. Aber ich fragte mich bereits,
zu welchem Zweck er die Bürste fortnahm. Ich trat nunmehr dazwischen,
nahm ihm die Bürste wieder fort und verhörte ihn über die Beweggründe seines
Verhaltens. Es war aus ihm nichts herauszubringen, und so setzte ich mich
mit der Mutter in Verbindung. Sie durchsuchte bei dieser Gelegenheit die
Sachen ihres Sohnes und konnte mir berichten, daß sie eine Menge fremder Sachen
versteckt unter den alten Schulheften des X. im äußersten Schrankwinkel ge-
funden habe. Wir stellten nun gemeinsam fest, daß es sich in fast allen Fällen
um für den Jungen wertlose und unbrauchbare Sachen handelte. Er hatte
der Freundin seiner etwas älteren Schwester Puppenseife fortgenommen, ohne
je damit zu spielen, — das Moment des Neckens ist nach den Aussagen der Mutter
und der Schwester ausgeschlossen. Er hatte ferner allerhand Kleinigkeiten
aus dem Haushalt entwendet, die für ihn nicht den geringsten Wert besitzen
konnten. Merkwürdigerweise fanden wir auch bei ihm Löschblätter und neue
Federn, die er einem Freund fortgenommen hatte. Aber auch diese hatte er nicht
benutzt, obgleich sie schon monatelang im Schrank gelegen hatten; noch war
keine Feder — ■ wie die Schachtelaufschrift ergab — benutzt worden, kein Lösch-
blatt angerührt.
Daraus ergab sich, daß es sich um einen reinen Fall von Kleptomanie handelte.
Spätere Verhöre zeigten, daß es sich bei ihm niemals um Zweckmäßigkeits-
gründe gehandelt hat, niemals hat er eine gestohlene Sache wirklich
benutzt, niemals eine solche etwa versilbert oder überhaupt irgend-
einen Vorteil aus seiner Handlungsweise gezogen. Daher bleibt nach meiner
Vermutung nur übrig, daß der Junge unter einer Zwangsvorstellung ge-
handelt hat, daß er stehlen mußte, und daß er nicht voll verantwortlich
gemacht werden kann.
Er wurde infolgedessen auch nicht gestraft, sondern nur ermahnt, dergleichen
nicht wieder zu tun. Alle Gegenstände, die ihn etwa reizen konnten, wurden aus
seiner Nähe geschafft, im übrigen wurde er unter strenge Aufsicht gestellt.
Aus anderen ähnlichen Fällen, die allerdings nicht so deutlich lagen, ist mir bekannt,
daß sich eine solche Veranlagung häufig gibt, und daß der Kranke — gewöhnlich
in der Pubertätszeit — ■ wieder die richtigen Hemmungen in der Moral und im
Ethos findet. Jedenfalls gehört ein solches Kind nicht in die Schule, weil er für
die übrigen Schüler ein Anreiz sein könnte, sich eben derselben Handlungen
schuldig zu machen.
Berlin. Kurt Tucholsky.,
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 57
Eine neue Theorie über die Ursache der Schulkurzsichtigkeit vertrat
der Augenarzt Prof. Dr. Levinsohn-Berlin vor der Gesellschaft für soziale
Medizin, für Hygiene und Medi^inalstatistik. Nach weitverbreiteter Anschauung
wird die in der Schule entstehende Kurzsichtigkeit durch die Naharbeit ver-
schuldet, und man sucht sich den Vorgang so zu erklären, daß bei der ständigen
Annäherung des Auges an die Arbeit der Druck innerhalb des Auges steige
und hierdurch die kugelige Kapsel zu einer Eiform ausgedehnt werde. Nun haben
sich aber solche zur Erklärung angenommenen Drucksteigerungen in neueren
Untersuchungen nicht nachweisen lassen. Ebenso hat sich auch eine andere
Theorie, nach der die Naharbeit einen Muskeldruck bedinge und so die Wachs-
tumsrichtung des Auges verändert werde, als unhaltbar erwiesen; denn im 4. — 14.
Lebensjahre, in dem sich vornehmlich die Kurzsichtigkeit entwickelt, wächst das
Auge nicht mehr oder doch nur wenig. Auf Grund eingehender Studien schuldigt
nun Levinsohn die Körperhaltung als Ursache an: der Rumpf wird bei den
Schularbeiten nach vorn gebeugt, außerdem der Kopf, so daß die bei gerader
Körper- und Kopfhaltung horizonzal gerichtete Achse des Auges immer mehr
der vertikalen Richtmig genähert wird. Dabei sinkt allmählich das Auge
nach vorn, der Schwere folgend, und da es hinten und an den Seiten durch
Sehnerven, Blutgefäße, Muskeln usw. befestigt ist, so dehnt sich in dieser
Lage die Kapsel allmählich in die Länge. Dieses Herabsinken hat
Levinsohn durch Luftdruckmessung festgestellt, und später ist es von anderer
Seite auf photometrischem Wege bewiesen worden. Eine Bestätigung dieser
Theorie gibt die Tatsache, daß einige Berufe mit ausgesprochener Naharbeit,
wie Uhrmacher, Juweliere, Feinstickerinnen, verhältnismäßig wenig Kurzsichtige
zeigen. Man konnte sich das bisher nur schwer erklären. Jetzt leuchtet die
Ursache ein: Uhrmacher und Juweliere arbeiten auf niedrigen Schemeln an
verhältnismäßig hohen Tischen, also nur wenig gebückt, und die Feinstickerinnen
pflegen den Stickrahmen hoch in die Nähe der Augen zu bringen. Levinsohn
stellte weiter Versuche an jungen Hunden, Katzen, Kaninchen, vor allem aber
an Affen an. Er setzte die Affen in kleine Kästchen, so daß der Kopf durch
eine Öffnung herausragte. Über der Öffnung befand sich ein Brett, das ein Hoch-
richten des Kopfes unmöglich machte ; die Tiere waren also gezwungen, die Augen
fast senkrecht nach unten gerichtet zu halten, und blieben täglich in dieser Haitang
mehrere Stunden. Von Woche zu Woche konnte man durchweg die Entstehung und
Zunahme einer Kurzsichtigkeit feststellen, bis zu sehr hohen Graden, und die spätere
anatomische Untersuchung der Augen ergab in allem vollkommene Übereinstim-
mung mit den anatomischen Veränderungen am kurzsichtigen Auge des Menschen.
Leicht ergeben sich nun die vorbeugenden Maßnahmen: nicht in erster Linie
Vermeidung zu großer Nähe zwischen Auge und Schrift, sondern Vermeidung
gebückter Haltung beim Arbeiten. Dazu müssen die Schul- und Arbeits-
tische entsprechend eingerichtet werden. Die Schreibplatte wird man nicht
so bald überall entsprechend ändern können, aber mindestens läßt sich die Platte
jeder Schulbank für das Lesen so einrichten, daß das Buch hochsteht und das
Auge ziemlich geradeaus gerichtet bleiben kann.
Ein Vergleich der schulärztlichen Befunde bei Schülerinnen der
Höheren Mädchenschule und der Volksschule liegt für die Stadt Halle
58
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
vor.^) Er zeigt, daß die allgemeine Körperbeschaf fenheit bei den Ly-
zeumsschülerinnen durchaus nicht so erheblich besser steht, als es gemeinhin an-
genommen wird. Unterscheidet man drei Grade körperlicher Entwicklung, so er-
gibt die Verteilung der untersuchten Schülerinnen auf sie das folgende Bild:
I
II
III
Lyzeum.
38,5%
61,7%
0,6%
Volksschule
33,5%
58,7%
7,8%
Ein kaum erwartetes Ergebnis liefert nun der Häufigkeitsvergleich der wich-
tigsten in der Schule auftretenden Körperfehler: sie werden, wie das neben-
stehende statistische Bild zeigt, in der Höheren Mädchenschule bedeutend
zahlreicher gefunden als in
Wirbelsäulen- q r i.- ^^^r Volksschule, unzweifel-
^ haft eine bedenkliche Wir-
kung der Belastung mit
längerer Schulzeit, größerer
Stundenzahl, anspannen-
derem Unterricht und um-
fangreicherer Schulhaus-
arbeit. Es mag wohl aber
auch der Vorwurf zu Recht
bestehen, daß nach unserer
Erfahrung in den höheren
Schulen nicht so sorgsam
wie in den Volksschulen
auf straf feKörperhaltung —
besonders beim Schreiben
— gesehen wird. Um so
berechtigter erscheint dann das Vorgehen der Stadt Halle, die als eine der
ersten deutschen Städte eine ausgiebige schulärztliche Versorgung auch an den
höheren Lehranstalten — einschließlich der Mädchenschulen — eingeführt hat.
Es ist bekannt, wie man vielfach meint, den Schularzt hier darum entbehren zu
können, weil die Gesundheit der Schüler von Hause aus hinreichend überwacht
würde und weil schulärztliche Eingriffe den Schulbetrieb emp f indlich stören könnte.
Für stotternde Schulkinder hatte die Stadt Berlin im Schuljahr 1912/13
29 Heilkurse eingerichtet, die von 359 Schülern (190 Knaben und 169 Mädchen)
besucht wurden. Die Abschlußprüfungen fanden vom 28. Februar bis 8. März
unter Teilnahme der Schulinspektoren, Schulärzte, Rektoren und nicht selten
unter der Teilnahme der Lehrer und Lehrerinnen der stotternden Kinder statt.
Es wurden nur die Kinder als geheilt bezeichnet, deren Sprache sich in jeder
Beziehung als einwandfrei erwies. Als geheilt konnten von 337 geprüften
^) Vergl. den ausgezeichneten Bericht : Die Einrichtungen für städtische
Gesundheitspflege in Halle a. S., verfaßt im Jahre 1912/13, von Stadtarzt
Dr. V. Drigalski und Schularzt Peters. Herausgegeben vom Magistrat zu
Halle. Kommissionsverlag der Lippertschen Buchhandlung.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 59
Kindern 221 bezeiclinet werden, das sind66v.H. In den vorliergelienden
Jahren lautete die entsprechende Zahl 62 v. H. Drei Kinder mußten als
ungebessert bezeichnet werden. Die übrigen Kinder waren gebessert, d, h. die
Mitbewegungen an den Armen und Beinen und am Gesicht waren geschwunden,
ihre Sprache war meist fließend, doch noch nicht ganz ohne Tadel. Von ihnen
ist eine ganze Reihe durch den Nachkursus noch völlig geheilt worden.
Zur Soziologie der erwerbsunfähigen Schwachsinnigen gab Rektor Arno
Fuchs im Erziehungs- und Fürsorge verein für schwachsinnige Kinder die
folgenden Tatsachen uud Anregungen. Nach den Erfahrungen der Fortbildungs-
schule für Schwachbeanlagte beteiligen sich 70 — 80 Prozent der ehemaligen
Hilfsschulkinder als Lehrlinge, Arbeitsburschen, Dienstmädchen und Arbei-
terinnen an der Arbeit der Gesellschaft. 20 — 30 Prozent aber müssen davon
ausgeschlossen bleiben. Sie sind entweder bildungsunfähig (ca. 10 Prozent)
oder sie erweisen sich nur beschränkt arbeitsfähig und können bloß unter steter
Aufsicht erwerbsfähig werden (ca. 10 — 20 Prozent). Die eine Gruppe dieser
letztgenannten Menschen ist nicht unbegabt, aber manuell vollständig un-
geschickt; die andere ist ebenfalls nicht unbegabt, aber energielos, schlecht
diszipliniert und zeigt ein so häßliches Betragen, daß mit ihr in der Öffentlich-
keit nirgends auszukommen ist. Eine dritte Gruppe ist geistig unbegabt, kör-
perlich sehr ungeschickt und verbindet mit dieser geistigen und körperlichen
Schwäche noch ein besonderes Leiden, z. B. Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit.
Daß diese Unglückskinder um ihrer Schwäche und Eigentümlichkeiten willen
durchweg von der Arbeit in der Gesellschaft ausgeschlossen bleiben, daß sie
in der Gesellschaft unmöglich sind, ist klar.
Wie gestaltet sich nun das Schicksal dieser Kinder?
Zunächst werden sie vielfach privaten Anstalten zur Ausbildung überwiesen.
Diese können sie aber nicht dauernd behalten und geben sie, ohne Resultate
erzielt zu haben, den Eltern schließlich wieder zurück. Nun beginnt der Kampf
der Elternliebe gegen die Gesellschaft. Die Eltern wollen noch immer nicht
einsehen, daß ihr Kind geistig anormal ist, sie machen unendlich viele und ver-
gebliche Versuche, es doch noch irgendwo nutzbringend zu beschäftigen, bis
es schließlich in den Schoß der Familie zurückfällt. Auch die verheirateten
älteren Geschwister versuchen vielleicht, das Kind eine Zeitlang zu ertragen.
Da es aber nur ein Esser und kein Arbeiter ist, wird es ihnen auf die Dauer auch
zur Last. So endet es schließlich in der Pflegeabteilung einer Irrenanstalt oder
eines Siechenhauses oder vergrößert im späteren Leben, sofern es sich selbst
überlassen bleibt, das Heer der Asylisten, Zwangsarbeiter, Prostituierten und
Gefangenen. Also ein schwerer Leidensweg oder ein verkümmertes Leben in
der Familie ist das Ende der vorhin gekennzeichneten Kinder. Und deshalb
ist es notwendig, solche Menschen beizeiten aus der Öffentlichkeit zu entfernen
und sie in einem „Beschäftigungs- und Ausbildungsheim für geistig Schwache"
unterzubringen. Die Aufgaben eines solchen Heimes beständen in der Erziehung
der Kinder zur Arbeit, in der Verwertung der schwachen Kräfte für eine nutz-
bringende Tätigkeit. Komplizierte Arbeit müßte in Teilarbeit zerlegt werden.
Beschäftigungsmöglichkeiten böten sich im Haushalt und im Hausleben der
Insassen, im Garten und in der Landwirtschaft. Auch leichte Berufsarbeiten
60 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
könnten eingeführt werden, z. B. Bürstenbinden, Papier- und Holzarbeiten,
Flechten in Stroh und Kohr. Die Mädchen könnten in Haus und Küche Ver-
wendung finden. Nach einer gewissen Ausbildungszeit könnte man vielleicht
einige Zöglinge versuchsweise in die Familie hinausgeben. Eine solche Anstalt
müßte natürlich die nötigen Wohn-, Ausbildungs- und Beschäftigungsräume
haben. Sie dürfte nicht mit einer Irrenanstalt verbunden und niemals Pflege-
anstalt sein. Sie müßte in der Nähe einer Großstadt liegen. Auch könnte die
Altersgrenze nicht zu hoch genommen werden, damit nicht Zöglinge Aufnahme
finden, die die Arbeit schon gänzlich verlernt haben. Für viele Eltern würde
es ein Grlück bedeuten, wenn sie ihr geistig schwaches und nicht recht erwerbs-
fähiges Kind zeitlebens in einem solchen Heim aufgehoben wüßten, in dem ihm
auch noch verständige Teilnahme, Liebe und Freude geboten würden. Viele
Begüterte würden ihr Kind gern einkaufen.
Der Verein beabsichtigt vorläufig die Gründung eines Heimes für Mädchen,
weil diese am meisten allerhand Gefahren ausgesetzt sind. Er wird demnächst
eine öffentliche Umfrage über das tatsächlich vorhandene Bedürfnis ver-
anstalten.
Eine Prüfung für Hilfsschullehrer ist von dem preußischen Minister der
geistlichen und ünterrichtsangelegenheiten zum Erwerb der Anstellungsfähigkeit
eingerichtet worden (Zentralblatt für die Unterrichtsverwaltung unter U HI A
1295). Nach § 8 der Prüfungsordnung erstreckt sich die mündliche Prüfung,
neben der eine schriftliche und eine praktische hergeht, auf alle Gebiete der
Erziehung und des Unterrichts der Schwachbegabten unter Bezugnahme auf
die allgemeine Erziehungs- und Unterrichtslehre. Die Bewerber haben insbe-
sondere nachzuweisen die Bekanntschaft 1. mit der Psychologie und ihren
Zweigwissenschaften, der Psychopathologie, der Kinderpsychologie mit dem
Wesentlichen über den Bau und die Funktionen der Sinnesorgane, des gesunden
und kranken Gehirns und Nervensystems, mit der Psycho-Physiologie der Sprach-
funktionen, den wichtigsten Sprachstörungen und den Methoden ihrer Behand-
lung und Heilung; 2. mit der Methodik aller Unterrichtsgegenstände, der Ein-
richtung und den Lehr- und Lernmitteln der Hilfsschule; 3. mit der Geschichte
und der Literatur der Hilfsschule, soweit sie für ihre Entwicklung von Bedeutung
ist; 4. mit den Fragen der Fürsorge für Schwachsinnige. In die Prüfungskommis-
sion ist auch ein Psychiater aufzunehmen.
Die versuchsweise Einführung einer neuen Schulform ist in London in die
Wege geleitet worden. Nach einem Beschluß des Schulausschusses will man
in zwei Volksschulen den Normallehrplan völlig fallen lassen und dabei einen
durchweg auf die Handarbeit gegründeten Unterrichtsplan durchführen
lassen. Veranlassung zu diesem pädagogischen Versuche war vor allem die
Beobachtung, daß die Volksschule in Northey Street, einem der ärmsten Stadt-
teile Londons, keine nennenswerten Erfolge erzielen konnte. Bei günstigen
Ergebnissen der zu erprobenden Arbeitsschule soll das gesamte Schulwesen
der Londoner Grafschaft eine durchgreifende Änderung im Sinne einer An-
passimg an die jeweiligen örtlichen Bedingungen erfahren.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
61
Das berufsständige Herkommen der Volksschullehrerschaft stellt sich
für Preußen in seinen nur geringen Verschiebungen seit dem Anfang des Jahrhun-
derts so dar:
Beruf und Berufsstellung der Väter
a = SelbstÄndig, einschließlich Geschäftsleiter
und leitende Beamte. b = Aufsichts- und
Kechnungspersonal . c = Arbeitsgehilfen.
Aus den Berufsabteilungen stammen
unter 100
Lehrern
1901 1906 1911
unter 100
Lehrerinnen
1901 1906 1911
A. Landwirtschaft, Gärtnerei und Tier-
zucht, Forstwirtschaft und Fischerei
B. Bergbau und Hüttenwesen, Industrie j^
und Bauwesen |
Ic
(9.
C. Handel und Verkehr ^b
♦ Ic
D. Häusliche Dienste (einschl. persön-
licher Bedienung, auch Lohnarbeiten
wechselnder Art) c
E. MiUtär-, Hof-, bürgerl. und kirchl. f,
Dienat, auch sog. freie Berufsarten |
darunter:
Hochschul- und höhere Lehrer . .
Rektoren, Seminar-, Mittelschul- u.
Hauptlehrer
Volksschullehrer
sonstige Lehrer
F. Ohne Beruf und Berufsangabe . . a
darunter:
pensionierte Volksschullehrer . . .
sonstige pensionierte Lehrer . . .
Zusammen A — F
30,4
1,9
1,2
21,7
2,9
2,9
7,6
1,6
2,0
0,6
19,0
2,6
1,1
0,1
1,4
16,4
0,2
4,5
0,8
0,1
83,3
9,0
7,7
30,3
1,8
0,8
21,0
4,0
1,9
7,6
2,8
1,6
0,7
19,0
3,4
0,7
0,1
4,0
13,7
0,1
4.4
0,5
0,1
82,3
12,0
5,7
28,4
1,8
0,9
20,7
3,9
3,1
8,7
2,2
2,7
0,4
17,8
3,5
1,3
0,1
1,9
14,7
0,1
4,6
0,5
0,1
80,4
11,3
8,3
12,7
1,1
0,1
20,7
4,0
2,6
12,9
5,6
1,7
0,3
21,8
8,5
1,4
1,9
3,4
8,5
0,7
6,6
0,6
0,2
74,7
19,3
6,0
12,5
0,9
0,1
19,9
5,0
1,5
12,1
7,6
1,5
0,3
23,3
8,0
1,0
1,8
5,6
7,2
0,3
6,3
1,0
0,3
74,2
21,5
4,3
11,8
1,3
0,1
17,8
5,2
3,0
12,3
6,8
2,6
0,2
22,3
9,0
0,9
1,9
4,4
8,9
0,3
6,7
0,6
0,3
70,9
22,2
6,9
Eine Umfrage über die Wirkung der Ortsschulaufsicht auf den Unterricht
veranstaltet eine kleine Arbeitsgemeinschaft in Brachstedt im Saalkreis. Es
ist der Zweck der Veranstaltung, für den Gegenstand der Erhebung, der in schul-
politischen Verhandlungen häufig genug unter unsachlichen Erwägungen zu
leiden hatte, eine breite Grundlage gesicherter Erfahrungen zu schaffen. Wenn
der einzelne, so heißt es in dem Anschreiben, seine Ansichten hierüber zur All-
gemeingültigkeit emporzuheben versucht, gelangt er leicht zu unberechtigten
Verallgemeinerungen seiner individuellen, vielleicht zufälligen Erfahrung.
Ein Urteil, das entscheidende Bedeutung haben will, muß dem Individuellen
entzogen und auf eine breitere Grundlage gestellt werden. Nur wenn viele ihre
Erlebnisse und Meinungen mitteilen, kann aus dem regelmäßigen Auftreten
gewisser Wirkungen ein einwandfreies Ergebnis abgeleitet werden, das auch
bei einer Neuregelung der Schulaufsicht Beachtung verdiente. Alle Lehrer und
Lehrerinnen werden gebeten, mit zu helfen zur Klärung dieser Frage, alle,
nicht nur die, welche besonders schlechte Erfahrungen gemacht haben. Vor
62 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
allem soll die pädagogiscli-psycliologisclie Wirkung nicht unberücksich-
tigt bleiben. Über das Ergebnis wird in dieser Zeitschrift berichtet werden.
Einsendungen werden bis zum 15. Februar an Paul Blum (Brachstedt i. S.)
erbeten mit der Aufschrift „Ortsschulaufsicht" und der Adresse des Absenders.
Die Pädagogische Zentrale des Deutschen Lehrervereins war am 29. und
30. November 1913 zu einer Gesamtsitzung in Berlin vereinigt. Gegen-
stand ihrer Beratungen war zunächst die endgültige Fassung des Statuts und
die Vorbereitung einer Geschäftsordnung. Das Statut bezeichnet, gemäß dem
Gründungsbeschlusse aus dem Jahre 1908, als Aufgabe der P. Z. ,,alle Be-
wegungen auf dem Erziehungs- und Schulgebiete zu beobachten, ihren jeweiligen
Stand durch Umfragen und Erhebungen zu erkunden und darüber zusammen-
fassende, wissenschaftlich-kritische Berichte zu veröffentlichen". Ferner hat sie
,,für die pädagogisch-wissenschaftliche Arbeit in den dem Deutschen Lehrer-
Verein angehörigen Gruppen und Vereinen Anregung und Unterstützung zu ge-
währen, insbesondere durch Gründung pädagogischer Arbeitsgemeinschaften und
Vermittlung des Forschungsaustausches, sowie durch geeignete Einwirkung auf
die Schulbehörden, um für theoretisch einwandfrei begründete Reformvorschläge
die Erlaubnis zu praktischer Erprobung in Versuchsschulen und Schulversuchen
zu erlangen". Die Mitglieder der P. Z. werden vom Geschäftsführenden Aus-
schuß des Deutschen Lehrer- Vereins für die Dauer seiner Geschäftsperiode ge-
wählt; die P. Z. kann nach eigenem Ermessen für einzelne Aufgaben auch andere
Mitarbeiter heranziehen. Der Vorsitzende der P. Z. muß dem Geschäftsführen-
den Ausschuß des Deutschen Lehrer- Vereins angehören und wird von diesem
bestimmt. Die laufenden Geschäfte, die Vorbereitung der Gesamtsitzungen und
die Ausführung der in ihnen gefaßten Beschlüsse besorgt eine Arbeitskom-
mission. Kundgebungen für die Öffentlichkeit bedürfen der Ge-
nehmigung durch eine Gesamtsitzung oder durch schriftliche Abstimmung sowie
der Zustimmung des Geschäftsführenden Ausschusses des D. L. V. Die Gesamt-
sitzungen finden jährlich mindestens einmal statt. Die Arbeitsergebnisse der
P. Z. werden im Jahrbuch der Pädagogischen Zentrale veröffentlicht,
das je nach Bedarf jährlich oder in zweijährigen Zwischenräumen erscheint. Die
Kosten werden von der Kasse des Deutschen Lehrer- Vereins getragen.
Dieses Statut faßt im wesentlichen die bei der Gründung maßgebenden Inten-
tionen und die in der bisherigen Entwicklung betätigten Aufgaben der P. Z. zu-
sammen und fand mit geringenÄnderungen in der Fassung der Arbeitskommission
Annahme. Eine detaillierteGeschäftsordnung, welche den Verkehr zwischen
Arbeitskommission und den auswärtigen Mitgliedern, das Antragsrecht, den Ab-
stimmungsmodus, die Protokollierung der Verhandlungen und Bekanntgabe der
Bsschlüsse regeln soll, wird vorbereitet und gelangt wahrscheinlich auf dem
Weg der Zirkularabstimmung zur Annahme.
la den Beratungen des zweiten Tages stand im Mittelpunkt der Plan des
Jahrbuches 1914; aber die Aussprache darüber entwickelte sich weiter zu
einer prinzipiellen Debatte über Aufgabe, Sinn und Aufbau der Jahrbücher
überhaupt. Im Anschluß an die Vorbesprechung bei der letzten Sitzung und
unter Benutzung des Materials, das eine Ende September erlassene Rundfrage
ergeben hatte, war von der Arbeitskommission der Plan eines Buches ausgearbeitet
Kleine Beiträge und ]Mitteilungen. 63
worden, das eine Übersicht über die Reformversuche auf dem Gebiet
des Deutschunterrichts zum Thema haben sollte und nach dem Vor-
gang des letzten Jahrbuchs einen kleineren zweiten Teil mit Beiträgen und Be-
richten über die wissenschaftliche pädagogische Arbeit der jüngsten Zeit.
Thema und Gesamtgliederung des Buches in 2 Teile fanden sofortige Annahme;
dagegen ergab die Aussprache über die Einzeluntersuchungen, in welche das
Hauptthema zerlegt werden sollte, größere Unterschiede. Ich hebe als die drei
wesentlichen Auffassungen hervor: E. Linde (Gotha) wollte den Zweck der
Jahrbücher, der Praxis des Lehrers zu dienen, in der Weise erreicht wissen,
daß die Einzeluntersuchungen monographisch gerade schwebende Streitfragen
behandeln sollten, ohne Rücksicht auf Vollständigkeit xmd Systematik, wesent-
lich nach der Vordringlichkeit in der gegenwärtigen Diskussion. Zugleich scheint
ihm eine konkrete Formulierung („Lesebuch oder Buchlektüre in der Ober-
klasse?" ,,Wie bringt man die Kinder zum Nacherleben des im Gedicht aus-
kristallisierten Dichtererlebnisses?" „Bühnenaufführungen von Jugendlichen".
,,L3b3ndiger Sprachlehrunterricht! Wege und Winke zur Verwirklichung der
Hildebrandschen Forderungen") und direkter Zuschnitt auf die Nutzanwendung
in der Schulstube der Wirksamkeit des Jahrbuchs förderlich zu sein.
Die Aussprache über die in Lindes Vorschlägen und ihrer Begründung ent-
haltene Ansicht über die Tendenz der Jahrbücher ergab Einmütigkeit darüber,
daß nicht eine systematische Methodik des Deutschunterrichts erstrebt werden
solle, sondern lediglich eine Übersicht über die Reformversuche und methodischen
Neubildungen. Aber es schien nicht angezeigt, dabei nur einzelne dieser
Strömungen herauszugreifen, sie mögen noch so wertvoll und nachahmenswert
ssin, sie allein zu würdigen und womöglich propagandistisch zu empfehlen; die
wissenschaftliche Aufgabe der Zentrale erfordert es, daß unbeschadet der
stärkeren Betonung einzelner Forderungen und Versuche doch nach einer Ge-
samtdarstellung der neuen Ideen und Kräfte gestrebt werde und von prinzipiellen
Grundlagen aus, die wissenschaftliche Verbindlichkeit für die entgegengesetz-
testen Standpunkte der praktischen Reformarbeit beanspruchen dürfen, zu den
Tagesfragen und Tageslösungen Stellung genommen werde. Eine solche Ein-
stellung der Jahrbücher schließt die Brauchbarkeit für die Praxis keineswegs
aus, erhöht aber die Zuverlässigkeit ihres Inhaltes. In seiner letzten Tendenz
erstrebte auch Linde dieses Ziel.
Stärker als in diesem Punkte differierten die Meinimgen über die Schul-
gattungen, welche im Jahrbuch Berücksichtigung finden sollten. Nach der
Meinung insbesondere der Vertreter der pädagogischen Theorie ist die pädago-
gische Bewegung der Gegenwart ein Ganzes und ist deshalb bei der Darstellung
von Reformversuchen in irgendeinem Fach die Ausbreitung derselben und die
Vermannigfaltigung in Volksschule, höherer Schule, Lehrerseminar und mittlerer
Fachschule ins Auge zu fassen. Aber die P. Z. hält in ihrer überwiegenden Mehr-
heit, aus buchtechnischen Gründen und infolge der Zielbestimmung der P. Z.,
eine Bsschränkung auf die Volksschule, Fortbildungsschule und die Bildung
der Volksschullehrer für unerläßlich. Nach den Erfahrungen der vorliegenden
Jahrbücher ist diese Praxis auch erfolgreich, zumal dem einzelnen Referenten
freisteht, Streifzüge auf das Gebiet der Didaktik höherer Schulen zu machen.
Der letzte Punkt betraf die konkrete Gestaltung der Disposition ; darüber wurde
64 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
schließlicli Einigkeit erzielt. Es stehen zwei grundlegende wissenschaftliche
Abhandlungen zu erwarten (,, Sprachpsychologie und Sprachunterricht". „Die
historischen Wandlungen der Sprachwissenschaft und ihre Konsequenzen für
den Sprachunterricht"), von denen eine als wesentlich neu zu bezeichnen ist
und mindestens 8 Einzelabhandlungen, die in ihrer Gesamtheit die Reform-
tendenzen des Deutschunterrichts der Gegenwart erschöpfend charakterisieren
können.
Der zweite Teil des Jahrbuchs wird eine einführende Abhandlung in die Praxis
der experimentellen Forschung auf pädagogischem Gebiet bringen und Berichte
über die Institute und Arbeitsgemeinschaften der Lehrer, besonders die im
letzten Jahr erfolgten Neugründungen.
An die Beratung des Jahrbuchs schloß sich eine freie Aussprache über die
augenblickliche Lage des pädagogischen Lebens und die Stellung der
Zentrale zu ihr. Anregungen verschiedener Art wurden geäußert: die Schaffung
einer Rednerliste wurde gewünscht, die Bestrebungen, durch Kurse verschiedener
Art zunächst die Bildung der Mittelschullehrer, indirekt der gesamten Lehrer-
schaft, endgültig von der Hochschule fernzuhalten, wurden kritisch beleuchtet,
die Achtsamkeit auf die Bewegung für Versuchsschulen herausgefordert, über die
Frage des pädagogischen Handwörterbuchs Bericht erstattet. Es ist sicher,
daß einige dieser Anregungen auf der nächsten Tagesordnung als ordnungsmäßige
Anträge erscheinen werden; ausführlicher über sie hier referieren, hieße nicht
nur der Arbeit vorgreifen, sondern auch den Erfolg derselben durch eine vor-
zeitige Preisgabe gefährden.
Nur die prinzipiellen Gedanken kann ich nicht unterdrücken: die Gegenwart
erfordert nach wie vor 1. die energische Befürwortung akademischer Lehr-
stühle für Pädagogik an allen Hochschulen, die Lehramtskandidaten ausbilden,
2. das fortgesetzte Studium der Lehrerbildungsbewegung mit seinen Grund-
forderungen: für die allgemeine Vorbildung eine 9klassige höhere Schule, für
die praktische Ausbildung ein Seminar, für die wissenschaftliche Abschlußarbeit
die Hochschule. 3. Neu vordringlich scheint mir zu werden, je mehr sich die
Fortbildungsschule als eigener, geschlossener Schultyp durchsetzt und konsoli-
diert, die Berufsbildung des hauptamtlichen Fortbildungsschullehrers. 4. Un-
ausgesetzte Beobachtung verdienen die Bestrebungen der konfessionellen und
politischen Parteien um Einfluß nicht nur auf die Schulgesetzgebung, sondern
auf Fortbildung des Schulwesens selbst. Die reine pädagogische Idee muß un-
ablässig vertreten werden. 5. Auch zu zwei weittragenden Vorschlägen: der
Errichtung schulpsychologischer Ämter und der Schaffung von Schulmuseen
großen Stils, scheint mir eine Stellungnahme der P. Z. wünschenswert.
Soviel über die Verhandlungen selbst. Mit der Sitzung war diesmal eine öffent-
liche Versammlung verbunden, am 30. November, abends 8 Uhr, in welcher
das Mitglied der Zentrale, Herr Privatdozent Dr. Max Brahn, der Leiter des
Instituts für experimentelle Pädagogik an der Universität Leipzig, das Thema:
Neue Ziele und neue Wege in der Pädagogik behandelte.
In einem Hörsaal der Universität, vor gewiß 400 Teilnehmern, entwickelte er in
großem Zuge die aus dem Unterschied der Kultur des Aufklärungszeitalters und
unserer Gegenwart hervorgewachsenenUnterschiede der Zielsetzung der Volks- und
höheren Schule einst und jetzt. Das rationalistische Ideal desVernunftmenschen
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 65
zog pädagogisch die Forderung der allgemeinen formalen Bildung nach sich, das sich
in der höheren Schule als humanistischer Universalismus, in der Volksbildung als
gleichschwebendes Interesse konkretisierte und über der sorgfältigen Pflege aller,
besonders der schwachen Anlagen und Interessen die eigentlichen Produktivkräfte,
die immer nur in einseitiger Verteilung vorhanden zu sein pflegen, allzusehr sich
selbst überließ. Zugleich folgte aus dieser universalen Zielsetzung eine Didaktik
vom Lehrer aus, weil nur er imstande war, so zu fragen, daß die Schülerentwick-
lung in der Linie des Fortschrittes auf allgemeineformale Zielehin verlaufenmußte.
Gegenüber dieser, mit einer bestimmten Kultur und dem sie beherrschenden
Persönlichkeitsideal zusammenhängenden Pädagogik erstrebt die Gegenwart aus
wirtschaftlichen und ideellen Gründen: die starke Pflege der schöpferischen Kräfte,
die Unterordnung alles nur im Dienste der praktischen Orientierung Nötigen, da-
mit zugleich eine Didaktik vom Schüler aus, dasHeimatprin zip und die Ar-
beit sgesinnung im tiefsten psychologischen Sinne ; erstrebt sie nicht nur die ,, Ver-
vollkommnung des menschlichen Verstandes", sondern auch die Veredlung der Fühl-
fähigkeit, die Willensbildung und Gemeinschaftsgesinnung, die Pflege des Körpers.
Zu diesen neuen Zielen in der praktischen Erziehungsarbeit treten die neuen
Wege in der pädagogischen Forschung: die organisierte Sammelforschung, die
allein wirkliche Durchschnittswerte ermöglicht, und das Experiment in Labo-
ratorium und Schulstube.
Mit einem Ausblick auf die Konsequenzen dieser Entwicklung der Pädagogik
für die Berufsbildung und die verantwortliche Selbständigkeit des Lehrers schloß
der Vortragende seine mit Beifall und Zustimmung aufgenommenen Darlegungen.
In der Aussprache kamen im wesentlichen nur die Zustimmungen zu Wort,
besonders in temperamentvollen Darlegungen Dr. Buchenaus über Willens -
bildimg als Zentralproblem der Sozialpädagogik und die Notwendigkeit der ver-
tieften, wissenschaftlichen Bildung des Lehrerstandes, Mir allerdings will ja
scheinen, als ob das Stadium der Einseitigkeit, Berufsbildung, Begabungsschule,
das für den Geist der neuen Pädagogik gewiß wichtig war, den gewaltigen Ein-
fluß der Wirtschaf tsbewegung auf das Bildungswesen zum Ausdruck brachte,
bereits im Entschwinden ist : eine neue Synthese bereitet sich vor, und die Schule
der Zukunft wird dazu berufen sein, ohne Preisgabe der für Erwerb, Beruf,
Geltung unseres Volkes im modernen Wirtschaftsleben nötigen neuen Errungen-
schaften und Gredanken die in der Reaktion gegen einen unmöglich gewordenen
Universalismus doch imrichtig eingeschätzten zeitlos gültigen Leitgedanken der
Menschen bildung neu zu konzipieren. —
So hat dieP. Z, wieder fruchtbare interne Arbeit geleistet, zugleich auch beach-
tenswert und vielbeachtet für die Aufklärung eines größeren Publikums Sorge ge-
tragen, und dadurch der Sache der pädagogischen Bewegung pflichtgemäß
ihren Dienst erwiesen.
München. Aloys Fischer.
Das Phonetische Laboratorium des Hamburgischen Kolonialinstitutes
hat sich von ganz bescheidenen Anfängen innerhalb dreier Jahre zu einer be-
deutungsvollen Anstalt entwickelt, die auch die Augen des Auslandes auf sich ge-
zogen hat. Professoren, Assistenten und Hörer des Kolonialinstitutes führen im
phonetischen Laboratorium Arbeiten aus über schriftlose Sprachen von Afrika,
Zoitscbrilt t. püdagog. PsycholoKie. 5
66 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Ostasien, den Südseeinseln, sowie über Idiome von Europa (u. a. wurden auch die
Mundarten der Bevölkerung der Eibinsel Finkenwerder und verschiedener Ort-
schaften der Vierlande untersucht und phonographisch aufgenommen). Ferner
untersuchen Taubstummenlehrer im Laboratorium die Atmung und den Tonfall
der Taubstummen; Spezialärzte, G-esangspädagogen, Lehrer für Schwerhörige,
Neusprachler u. a. machen sich die Vorrichtungen des Laboratoriums zunutze
zur Untersuchung spezieller theoretischer und praktischer Fragen.
Nachrichten: 1. Der nächste Kongreß für experimentelle Psycho-
logie findet vom 15. — 18, April 1914 zu Göttingen statt. Die Anmeldungen
zur Teilnahme — Nichtmitglieder der Gesellschaft für experimentelle Psycho-
logie haben eine Gebühr von 10 Mark zu entrichten — hat zu erfolgen an Prof.
Dr. G. E. Müller, Göttingen, Bergstraße 4.
2. Unter dem Vorsitz von Privatdoz. Dr. Max Brahn besteht seit Nov. 1913
nun auch in Leipzig eine Ortsgruppe des Bundes für Schulreform.
3. Im Auftrage von Professor Dr. Wilhelm His hält jetzt Dr. A. Lewan-
dowski, Schularzt der Stadt B3rlin, an der von His geleiteten ersten
medizinischen Chariteeklinik eine Reihe von Vorträgen über Jugend-
fürsorge und Jugendpflege. Sie sollen, was bisher im Uni-
versitätsunterrichte noch nicht geschah, die Studierenden über die
Fürsorge für das Säuglingsalter, für die Kleinkinder, das schulpflich-
tige Alter und auch die schulentlassene Jugend unterrichten. Die
Vorträge werden durch Demonstrationen und Führungen ergänzt werden:
in Säuglingsfürsorgestellen, in Säuglingsheimen, Kinderhorten, Wald-
schulen, Krüppelheimen, Schulzahnkliniken, Hilfsschulen, Jugendheimen und
ähnlichen Anstalten.
4. Der erste Kursus am heilpädagogischen Seminar in Essen ist im November
vergangenen Jahres eröffnet worden.
5. Ein Museum für das Mittelschulwesen ist in Frankfurt a. M. im
Werden. Es soll enthalten: Literatur, die das Mittelschulwesen betrifft, Ver-
fügungen, Jahresberichte (Programme), Formulare, Vordrucke usw., Schulbücher,
Lehr- und Lernmittel für Mittelschulen, Schülerarbeiten, Hefte, Zeichnungen
usw., aus Frankfurter Mittelschulen hervorgegangen. Bildnisse und Photo-
graphien von Frankfurter Mittelschulen und Frankfurter Mittelschullehrern und
-Lehrerkollegien. Abbildungen moderner Mittelschulgebäude. Preßstimmen
über die Mittelschulen, insbesondere über die Neuordnung des Mittelschulwesens
vom 3. Februar 1910. Leiter des Museums ist der Rektor der Hufnagel-Mittel-
schule in Frankfurt a. M., Max Zimpel.
Literaturbericht.
R. Eucken, Zur Sammlung der Geister. Leipzig, Quelle u. Meyer, 1913.
151 S. Geb. 3.60 M.
Wenn Euckens neuestes Werk auch an dieser Stelle allen, denen das innere Ge-
deihen unseres Volkes am Herzen liegt, aufs wärmste empfohlen wird, so soll hier
vor allem auf den meisterhaften psychologischen Unterbau hingewiesen werden, auf
den der Verfasser seine Aufforderung zur Sammlvmg der Geister gründet. In glänzen-
Literatvirbericht. 67
den Darlegungen gibt er sowohl von der geistigen Lage der Gegenwart als auch von
der Eigenart des deutschen Wesens eine gediegene psychologische Analyse. So
schafft er sich einen sicheren PHifstein, um einerseits die mannigfachen Zeitströ-
mungen (Monismus, Naturalismus, Subjektivismvis, Ästhetizismus, Optimismus,
Pessimismus, neue Moral) zu beurteilen, und anderseits positiv zu zeigen, wie unser
deutsches Volk in seinem durch mühevolle Arbeit errungenen, durch große Leistungen
auf den verschiedensten Gebieten bewährten geistigen Charakter einen eigenartigen,
wertvollen Typus des Menschenlebens vertritt, der in sich die Kräfte trägt, ohne
Hilfe von außen allen Aufgaben der Jetztzeit gewachsen zu sein. Die durch unsere
deutsche Natur und Geschichte gegebenen Möglichkeiten zur Entfaltung zu bringen,
dazu will E. die Geister sammeln, um so das deutsche Geistesleben avis der augen-
blicklichen Zerklüftung und Zersplitterung herauszuführen dem Ziele entgegen, das
der deutschen Eigenart entspricht.
Leipzig. Lic. Paul Krüger.
Gerhard Budde, Moderne Bildungsprobleme. Langensalza 1912. Verlag
von Beyer & So. 184 S. Preis 5,20 M.
Der Verf eisser greift aus den gegenwärtig in der Fachliteratur vielfach behandelten
Vorschlägen zur Reform des höheren Unterrichts einige heraus, die im Mittelpunkt
des pädagogischen Interesses stehen, indem er vor allem zu einem geschichtlichen
Verständnis dieser Probleme beizutragen sucht. So handelt er über Sozial- und
Individualpädagogik, Persönlichkeitspädagogik, allgemeine imd individuelle Päda-
gogik, staatsbürgerliche Erziehung, Schulhygiene, Reform des Religionsiuiterrichts,
Koedukation imd Landerziehungsheime.
Grundsätzlich wendet er sich gegen die herkömmliche enzyklopädische, auf die
Gesamtheit der sogenannten sieben freien Künste des Mittelalters zurückgehende
Gestaltung des Lehrplans der höheren Schulen. Statt deren tritt er für mög ichst
weitgehende Individualisierung des Unterrichts ein, um der besonderen Begabung
der Schüler Rechnung zu tragen. Was er in dieser Beziehung über die Forderung
der Persönlichkeitsbildung (meist im Anschluß an Eucken) sagt, kann ich voll und
ganz unterschreiben. Wenn er aber den fremdsprachlichen Unterricht vom Mittel-
punkte der höheren Schulen mehr nach der Peripherie geschoben zu haben wünscht,
so scheint er mir der eigentümlichen formalen Aufgabe jenes Unterrichts, die in der
formalen Bildung besteht, nicht gerecht zu werden. Auch Lietz, dem er sich in dieser
Forderung anschließt, hebt hervor, daß dvirch Vergleichung der fremden mit der
Muttersprache diese selbst zu bewußter Auffassung und der Schüler dadurch zu
größerer Ausdrucksfähigkeit und Gedankenklarheit gebracht wird. Außer der Auf-
fassung der logischen ist es auch diejenige der ästhetischen Form, die an der Hand
der fremdsprachlichen, insbesondere griechischen dichterischen Literatur erzielt wer-
den soll. Und es ist gerade wichtig, daß diese formale Bildung auf Grund des fremd-
sprachlichen Unterrichts gewonnen wird, der ethisch minder bedeutsam ist als die
heimische Sprache. Sollen hingegen die auf formale Bildvmg abzielenden Übungen
an der Muttersprache ins Werk gesetzt werden, so liegt die Gefahr nahe, daß diese
den Schülern verleidet wird. Außerdem bilden die Proben aus den verschiedenen
Gattungen der Literatur, die den Zöglingen in der fremdsprachlichen Lektüre geboten
zu werden pflegen, einen wertvollen Beitrag zu der kulturgeschichtlichen Bildung,
die der Verfasser neben dem naturwissenschaftlichen Unterricht in den Mittelpunkt
des Lehrplans gestellt haben will.
Was die Vorschläge betrifft, die der Verfasser zur Reform des Religionsunterrichtes
vorbringt, so scheint er mir hier mehr das Bedürfnis des gebildeten Erwachsenen
als das des Schülers zu berücksichtigen. Der jugendlichen Natur fehlen noch zu sehr
eigene religiöse Erlebnisse, als daß sie für eine vergeistigte Religion, wie sie jenem
vorschwebt, mit ihren Grundideen, wie eigener Verantwortungsfähigkeit, Erlösungs-
bedürftigkeit und Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit, empfänglich wäre. Sie
bedarf eines positiven Glauberisinhaltes, um sich in reiferem Alter selbst ihre religiöse
Anschauungsweise bilden zu können. Ob freilich die herkömmliche Religionsunter-
weisung, die sich dem kirchlichen Dogma anschließt, angesichts der neueren histo-
68 Literaturbericht.
risch-kritischen ForschTingen sich auf die Dauer wird aufrecht erhalten lassen, scheint
auch mir zweifelhaft.
Im übrigen halte ich die Darlegungen des Verfassers für sehr geeignet, den Leser in
ein geschichtlich begründetes Verständnis der einschlägigen Reformideen einzuführen.
Heidelberg. Dr. A. Huther.
G. Wyneken, Schule und Jugendkultur, Jena 1913, Eugen Diederichs Ver-
lag, 181 S., br. 3 M., geb. 4 M.
Dieses Buch wird demjenigen, der in der wissenschaftlich-pädagogischen Reform-
bewegung der Gegenwart drinsteht, willkommene Gelegenheit geben, sich prin-
zipiell über das Verhältnis zwischen pädagogischer Technik und ethischer Grund-
legung der Pädagogik, zwischen Methodik und Zielsetzung im Gebiete der Erziehung
zu besinnen. So klar es nämlich ist, daß die heutige pädagogische Wissenschaft
(soweit sie nicht als Wissenschaft vom Kind die Voraussetzungen der Erziehung
erforscht) zu ihrem weitaus größten Teil technische Disziplin, in der streng
logischen Bedeutung dieses Wortes, ist: so gebieterisch fordert sie eine allgemein-
gültige Formulierung der Erziehungsziele, und das heißt eine Einordnung der
Erziehungsleistung in die allgemeine Weltanschauung, eine Philosophie der
Erziehung, zu ihrer Ergänzung. Wyneken gibt ein philosophisch-pädagogisches
Buch in diesem eminenten Sinne des Worts; er gibt eine Philosophie der Schule
im Sinne eines an Kant und Hegel orientierten metaphysischen Idealismus.
Natürlich gehen die Bemühungen um eine Ideologie der Schule nicht beziehungs-
los neben den technisch-pädagogischen Reformbewegungen her. Schon daß Wy-
nekens Buch aus der Praxis seiner Schulgründung, der Freien Schulgemeinde
Wickersdorf , erwachsen ist, die ihrerseits selbstverständlich die Erziehung im einzel-
nen auf Grund der Resultate der zeitgenössischen Wissenschaft aufbaut, verbürgt
diesen Zusammenhang. Den in der pädagogischen Einzelforschung Stehenden wird
z. B. die Einordnung des Arbeitsschulgedankens in die allgemeine Philosophie der
Schule interessieren (S. 70ff). Besonders ein Gedanke scheint es mir zu sein, den
die moderne pädagogische Psychologie und Wyneken gemeinsam haben: Wie jene
die Klasse als soziales Ganzes und darüber hinaus die Schule als Organisation
zum Objekt ihrer Forschungen erhoben hat, so deduziert Wyneken nicht mehr,
wie die früheren philosophischen Theoretiker, die Erziehung überhaupt, sondern
die Gemeinschaftserziehung, die Schule, als notwendige Leistung im Dienste des
Geistes; so daß die Schulerziehung ihm nicht mehr, wie jenen nur zu leicht, als
rein praktisch bedingt, sondern als unabtrennbar von der Idee der Erziehung über-
haupt erscheint.
Gegenwärtig geht um Wynekens Ideen ein Kampf, der seine Formulierungen
zu Schlagworten zu verhärten droht. Aber dieses Buch ist durchaus nicht nur
oder in erster Linie als Kampfschrift von Wert, sondern es ist für jeden, der das
Problem der Ethik der Erziehung als ein Grundproblem einer ihrer selbst bewußten
Pädagogik erkannt hat, ein wissenschaftliches Buch von größter Wichtigkeit.
Berlin. Dr. Hans Freyer.
Dr. Johannes Prüfer, Kleinkinderpädagogik. Leipzig 1913. Verlag Otto
Nenmich, 251 Seiten. Preis geb. 5,40 M.
Trotz der großen Beachtiing, die man heute den Erziehungsfragen schenkt,
wurde der Erziehvmg der kleinen, noch nicht schulpflichtigen Kinder bisher
verhältnismäßig wenig Interesse zuteil. Man betont zwar allgemein die Bedeutung
früher Beeinflussung, nennt die ersten Jahre „die wichtigste Zeit" und hebt hervor,
daß hier der Grundstein für spätere Charakter- und Geisteseigenschaften gelegt
werden müsse; man macht psychologische Beobachtungen über diese Altersstufe,
und Veröffentlichungen, die Bücher von Preyer, Shinn, Stern, Skupin u. a. legen
Zeugnis davon ab, aber trotz alledem hat die Kleinkinderpädagogik in der Literatur
eine verhältnismäßig geringe Bearbeitung gefunden. Mit Ausnahme des Buches von
Karl Richard Löwe „Wie erziehe ich mein Kind bis zum sechsten Lebensjahre ?"
(siehe meine Besprechung in dieser Zeitschrift Jahrgang 1908, S. 396) ist mir eine
Literaturbericht. 69
spezielle Behandlung dieser Kindheitsstufe nicht bekannt. So ist es denn ein glück-
licher Gedanke gewesen, einmal den Standpunkt unserer Kleinkindererziehung dar-
zulegen und sie einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen, um festzustellen, was
auf diesem Gebiete eigentlich vorhanden und was davon brauchbar ist, vor allem,
um Richtlinien für einen weiteren Ausbau der Kleinkinderpädagogik zu gewinnen.
Dr. Prüfer hat es in dem vorliegenden Buche, das aus Vorlesxuigen, die er an der
Hochschule für Frauen zu Leipzig hielt, erwachsen ist, unternommen, die Lücke in
der pädagogischen Literatur auszufüllen. Er betrachtet diese Arbeit als einen Ver-
such, „die wichtigsten Seiten der Kleinkinderpädagogik wissenschaftlich zu beleuch-
ten", und er bezweckt damit, die Aufmerksamkeit der beteiligten Kreise auf diese
viel zu lange vernachlässigte Materie zu lenken und die angeregten Fragen zur Debatte
zu steüen. Es ist zu hoffen, daß sich dieser Zweck des Werkes erfüllt; der eingeschla-
gene Weg scheint mir Gutes zu verheißen. Das Buch ist eingehend, übersichtUch und
dabei auch fesselnd geschrieben; es ist wissenschaftlich und populär zugleich, so daß
es ebensowohl den Fachgelehrten wie den Seminaristen anregen und fesseln wird,
daneben aber auch die gebildeten Eltemkreise auf die Wichtigkeit des Gegenstandes
hinleiten kann.
Die „Kleinkinderpädagogik" zerfällt in einen historischen und einen theoretisch-
praktischen Teil.
Prüfer beginnt seine geschichtliche Darlegung im Gegensatz zu der allgemein
üblichen Art nicht schon mit dem Altertum oder Mittelalter, sondern er setzt erst
beim Beginn der neueren Zeit mit seinen Betrachtungen ein; seiner Meinung nach
hat es, bei aller Anerkennung der Leistvmgen früherer Epochen, an eigentlich päda-
gogisch gerichteten Köpfen gefehlt, die die Probleme systematisch und gründlich
allseitig betrachtet hätten. Die sogenannten Pädagogen jener Zeit waren in erster
Linie Philosophen, Theologen oder dergleichen und beschäftigten sich nur nebenher
mit Erziehungs- und Bildungsfragen; ihr Verdienst um die Erziehungskunst ist nur
gering, und wir haben wichtigere Aiifgaben als ihre Gedankenspäne aus ihren
Schriften herauszulösen. Der erste, der einer eingehenderen Besprechung gewürdigt
wird, ist Konrad Bitschin; nicht etwa, weil er besonderes für die Erziehungskunst
geleistet hat, wird er in seinen Ideen vorgeführt, sondern weil Prüfer ihn als typischen
Vertreter der Pädagogik am Ausgange des Mittelalters auffaßt. Bitschin hat das,
was seine Zeit in sich trug, in einem neunbändigen Werk, „De vita conjugali" nieder-
gelegt; die Kleinkinderpädagogik ist dabei ärmlich ausgefallen, sowohl in bezug auf
die Quantität, wie auch bezüglich der Art des Dargebotenen. An Bitschin ist deut-
lich zu sehen, ,,wie weit die Pädagogik am Ausgange des Mittelalters noch ziu-ück war,
wie groß also das Verdienst der folgenden Männer, der ersten wirklichen großen
Pädagogen ist. Die Pädagogik ist erst eine Frucht der neuen und neuesten Zeit. Das
muJ3 einmal mit aller Deutlichkeit gesagt werden. Erst seit den Tagen eines Comenius
ist der pädagogische Gedanke wirklich lebendig, ist er immer Neues schaffend tätig".
Comenius, Rousseau, die Philantropisten, I, H. G. Housinger, Pestalozzi, J. J. Wagner,
Jean Paul und Fröbel werden in ihrem Verhältnis zur Kleinkinderpädagogik dar-
gestellt, so daß sich vor unseren Augen eine Entwicklungsgeschichte der sich auf das
früheste Alter beziehenden Erziehungsgrundsätze aufbaut. Friedrich Fröbel, der für
unsere Zeit als grundlegender Pädagoge (nicht nur auf dem Gebiete der frühesten Er-
ziehung) betrachtet zu werden verdient, findet eine besonders eingehendeWürdigung.
Ein Anhang, der dem historischen Teil beigegeben ist, behandelt die Geschichte
der Anstalten für die früheste Erziehung: Spielschulen, Kleinkinderbewahranstalten
und Kindergärten; letztgenannte Einrichtung findet eine besonders ausführliche Be-
schreibung. Prüfer hat als spezieller Fröbelforscher ganz neue Aufschlüsse über die
Entetehungsgeschichte der Kindergärten gefunden und stützt auch seine Darlegungen
in d esem Werke auf dieselben. Wer der Kindergartenpädagogik noch fern steht,
wird in diesem Abschnitt des Buches Orientierung finden. In dem theoretisch-prak-
tischen Teil werden die wichtigsten Einzelfragen der Kleinkindererziehung erörtert,
nachdem in einer grundlegenden Abhandlung zu einigen Punkten allgemeiner Natur
Stellung genommen wird. Der Verfasser sucht das Ziel der Erziohimg zu umgrenzen
und gelangt zu dem Schlüsse, daß es sich nur um o'nzelno Aufgaben, nicht aber um
70 Literattirbericht.
ein allgemeines Endziel handeln könne: als formales Ziel läßt er allenfalls die Hin-
leitung zur Selbständigkeit des Zöglings gelten. Der Einfluß der Vererbung und somit
das Problem einer Beeinflußbarkeit des Kindes überhaupt wird dabei erörtert. Den
Schwierigkeiten, welche der praktischen Erziehung entgegenwirken, wird offen ins
Auge geschaut, aber Prüfer tritt jeder Resignation, die der Erziehungswissenschaft
die Lebenskraft unterbinden würde, entgegen und baut seine Darlegungen über die
früheste Erziehung auf zwei Tatsachen auf: auf die durch Vererbung mächtigen Triebe
des Kindes imd auf die Suggestionskraft des Milieus. Das Spiel, die Beschäftigung,
die Kameraden, Märchen, Kinderlügen, die Gewöhnung und die Strafen kormnen zxir
eingehenderen Behandlung, und ein Anhang über die Maßnahmen zur Verbesserung
der gegenwärtigen Kleinkindererziehung bildet den Schluß des Werkes. Es würde
den zur Verfügung stehenden Raum überschreiten, wenn ich im einzelnen auf alle
wesentlichen Punkte eingehen wollte, die Erwähntmg verdienten. Es bleibt mir nvir
noch hervorzuheben, daß bei aller persönlichen Stellixngnahme ein vornehmer Ton
objektiver Darstellvmg der Schrift den Stempel aufdrückt.
Berlin. Nelly Wolffheim.
Ludwig Busse, Geist und Körper, Seele und Leib. 2. Auflage mit einem
ergänzenden und die neuere Literatur zusammenfassenden Anhang von Ernst
Dürr. X und 556 Seiten. Leipzig 1913. F. Meiner. Geb. 12.50 M.
Das Buch Busses verfolgte in der ersten Auflage (1903) den Zweck, die ver-
schiedenen Anschauungen über das Verhältnis von Physischem und Psychischem
informatorisch darzustellen und in dem Streit der Meinungen eine Lanze zu brechen
für die Theorie der phychophysischen Wechselwirkung. Der ersten Absicht kann
es in der neuen Gestalt noch besser dienen als früher, insofern durch die von E. Dürr
gegebenen Ergänzungen die Übersicht über die vertretenen Theorien eine voll-
ständige geworden ist und das Literaturverzeichnis überdies gestattet, sofort die
Originalarbeiten zu finden, sobald man aus der referierenden bzw. kritisierenden
Wiedergabe im Text den Eindruck gewinnt, daß es der Mühe wert sei, das Original
selbst nachzustudieren. Selbst die Orientierungshilfen des Schemas der möglichen
Standpunkte möchte ich nicht missen, obgleich derartige Mittel geeignet sind, einem
rein wissenschaftlichen Werk etwas vom Charakter des Lehrbuchs aufzudrücken.
Die zweite Absicht, den Gedanken der psychophysischenWechselwirkung zu empfeh-
len, die Schwierigkeiten des Parallelismus aufzudecken, ist in der neuen Auflage durch
Dürrs abweichenden Standpunkt beeinträchtigt, obgleich Dürr seineÜberlegungen nicht
in den ursprünglichen Text Busses hineingearbeitet, sondern in einera getrennten,
für sich lesbaren und durchaus bemerkenswerten Anhang selbständig gemacht hat.
Es gibt gewiß Bücher, welche kürzer und in einzelnen Partien auch klarer über
die Theorien über das Verhältnis von Seele und Leib, allgemeiner von Physischem
und Psychischem informieren; ich hebe besonders Benno Erdmanns kleine Schrift:
Wissenschaftliche Hypothesen über das Verhältnis von Leib und Seele (1908) hervor;
aber Busse bleibt für alle, welche die Frage nicht bloß aus fachpsychologischem
Interesse studieren wollen, sondern wegen ihrer grundlegenden Bedeutung für philo-
sophische Fragen ihr Aufmerksamkeit schenken, die wichtigste kritische Zusammen-
fassung der Literatur. Der Brauchbarkeit seines Werkes tut es nicht einmal Ab-
bruch, wenn man den in den Schlußergebnissen mehr vorausgesetzten als aus den
vorangehenden Einzeluntersuchungen eigentlich abgeleiteten idealistischen Stand-
punkt des Verfassers nicht teilt.
Für den Einzelbetrieb der empirischen psychologischen Forschung bleibt die
Annahme der psychophysischen Wechselwirkung die einfachere und fruchtbarere
Arbeitshypothese, auch wenn man es mit Absicht unterläßt, philosophische Kon-
sequenzen aus ihr zu entwickeln.
München. Dr. Aloys Fischer.
Schulze, Rud., Experimente aus der Seelenlehre. Ein Buch für alle. Leipzig
1913. R. Voigtländers Verlag., 112 S.
Das Buch ist eine treffliche Einführung in einige der wichtigsten Abschnitte der ex-
perimentellen Psychologie, z. B. in die Empfindungsmessvmg, Gefühlsuntersuchung,
Literaturbericht. 71
Gedächtnisprüfung, Arbeitsmessung usw. Es wendet sich mit seinen gemeinverständ-
lichen Darbietiingen an die Laien, und daß es nach der Absicht des Verfassers in
weiteren Kreisen Interesse, Verständnis für psychologische Untersuchungen wecken
wird, verbürgen die geschickte Auswahl und Anordnung des Stoffes, die schlichte
Darstellung und die nicht kärgliche Ausstattung mit vorzüglichen Abbildimgen.
Das Buch ist ein Seitenstück zu des Verfassers Lehrbuch ,,Aus der Werkstatt der
experimentellen Psychologie luid Pädagogik", an das es sich textlich und in der
Bilderauswahl sehr eng anlehnt.
Leipzig. Kurt Schleif.
G. Anschütz, Die Intelligenz. Eine Einführung in die Haupttatsachen,
die Probleme und die Methoden zu einer Analyse der Denktätigkeit.
Osterwieck a. H., 1913, Verlag Zickfeldt.
Das Buch will sozusagen nur als vorläufige Mitteilung, als eine Art resümierendes
und statuierendes Programm auftreten, und man muß sich dessen bewußt werden,
um die Kritik in angemessener Weise auszuüben. Das Resümierende zeigt sich in
starker Beeinflussung durch Meumann, Binet und Lipps. Nicht in dem Sinne,
daß dem Autor Unselbständigkeit vorgeworfen sei: aber man kann seine schemati-
sierenden Einteilungen, seine Testprinzipien und seine Stellung zum Intelligenz-
begriff am ehesten verstehen, wenn man seine Berührungspunkte mit den Erwähnten
kennt, die aus der persönlichen Mitarbeit mit Lipps, Binet und Meumann stam-
men. Entschieden das Wertvollste am Ganzen sind die zahlreichen Problemstellun-
gen, die der Autor aufzudecken sich bemüht. Aber im einzelnen darauf einzugehen,
hieße vielleicht ein Referat verfassen, das an Umfang das Originalwerk kaum unter-
bietet. Wenn er im Grunde ,, Intelligenz" mit Denkvorgang identifiziert und wenn
er später dieses Prinzip einer mehr auf philosophischer Basis arbeitenden Psycho-
logie praktisch anwenden will, so dürfte dort am klarsten eine Diskrepanz zu ver-
zeichnen sein, die vielleicht schon früher bei anderen Schriften, zum Teil polemischer
Art, bei Anschütz zutage trat: ob nämlich die Intelligenz in der generellen Psy-
chologie wirklich dasselbe wäre wie in der angewandten ? Meines Erachtens ist
das ein Punkt, der es schwierig macht, eindeutige Beurteilungen der Auffassungen
zu ermöglichen; wenigstens ist durchaus nicht bei allen praktisch arbeitenden Psy-
chologen (den ,, anwendenden") eine Gleichstellung mit Denkvorgang und Intelligenz
geläufig. Der Intelligenzbegriff in der angewandten Psychologie ist viel unbestimm-
ter und zum Teil vom wirklichen ,, Denken" entfremdeter als in der generellen
Psychologie. Den trefflichen Unterschied, den Stern zwischen Prüfungs- und
Forschungsoxperiment macht, wird man am ehesten hier wiederfinden, wenn man
versucht, Denkprozeß und Intelligenz parallel oder gleich zu stellen.
Der vorzügliche historische Abriß, den Anschütz vom Intelligenzproblem gibt
(und daß psychologische Begriffe eine historische Darstellung erhalten, ist dringend
zu wünschen !), zeigt doch, daß der Übergang von der generellen zur angewandten
Psychologie im Rahmen des Intelligenz- oder Denkproblems durchaus kein klarer
ist. Im besonderen angewendet auf die Pädagogik scheint mir die ,, Intelligenz"
etwas ganz anderes zu bedeuten als das eigentliche ,, Denken". Auch Meumanns
Begabungsbegriff, der zwischen dem synthetischen und dem analytischen Denken
trennt, ist für die angewandte Psychologie nicht unbedingt zu verwenden. Ist also
bei Anschütz die Klarstellung dieser sehr verwickelten Auffassungsunterschiede
noch nicht so präzise dargestellt und ist damit eine gewisse dispositionelle Unruhe
über das ganze Buch ausgestreut, die sicherlich der Hauptmangel des Werkes ist,
so muß andererseits unbedingt ein Prinzip betont werden, auf das Anschütz inner-
halb der Intelligenzforschung immer wieder hinweist: das Problem der Aufmerk-
samkeit. An einigen demonstrativen Beispielen (die freilich auch nur als Vor-
versuche Geltung haben) leitet er aus der Qualität der Aufmerksamkeit gewisse
Typen ab, die zweifelsohne nach späterer Verbesserung deutlich zeigen, daß man
an Hand einfachster Versuche (Streck enschätzen, Arbeiten am Weilerschen Appa-
rat usw.) ein Bild der psychischen Struktur des Einzelnen erhalten kann. Wie
bereits Meumann erwähnt, mui3 man die Aufmerksamkeit und die Art ihres Ab-
7 2 Litöraturbericht.
laufes ganz besonders einer Untersuchung durch die angewandte Psychologie
empfehlen. Nicht so beipflichten wird man den Schemata der komplexen Denk-
formen, dieAnschütz aufstellt, und die zwar das richtige Prinzip verfolgen, aus ver-
schiedensten Gebieten experimentell Aufschlüsse über die Eigenart eines Menschen
zu erhalten, um ein Gesamtbild der Persönlichkeit zu gewinnen, die aber andererseits
viel zu theoretisch basiert sind, als daß man sie psychologisch anerkennen dürfte.
Am bedenklichsten scheint es mir zu sein, das (ebenfalls gewiß wünschenswerte) Prinzip
z 1 verfolgen, Tests in aufsteigender Schwierigkeit, vom peripheren zum zentralen
V jrgahand, zu konstruieren und womöglich daran die Höhe der Intelligenz zu messen.
; j^Warum das Gedächtnis etwa vor der Suggestibilität, die Rechentest^ vor den
sprachlichen, die Assoziationstests nach den Aufmerksamkeitstests in der Anschütz-
schen Skala auftreten und warum in dieser Reihenfolge etwa die Intelligenzhöhe
abgestuft sein darf, ist mir nicht klar. Das dürfte wieder eine der Konstruktionen
sein, vor denen die angewandte Psychologie vor allem sich bewahren muß. Auch
der Unterschied zwischen freier und zufälliger Produktion eines Aufsatzes, einer
Skizze usw. ist mir nicht psychologisch einwandfrei. Freie Produktion auf ein
gegebenes Thema, oder mit vorgeschriebenem Umfang oder überhaupt auf Ver-
anlassung ist psychologisch nicht mehr frei, sondern gezwungen. Für die Produk-
tionsart erhält man daraus, wie ich selbst nachgewiesen habe, nicht mehr den klaren
Tatbestand als Befund, wie bei der spontanen (,, zufälligen") Produktion. Ferner
halte ich es nicht für vorteilhaft, Tests wie: Beurteilung von zwei Gegenständen,
Personen oder Gedanken mit Angabe von Gründen und ähnliches mehr, heute noch
für die Intelligenzprüfung vorzuschlagen. Anschütz selbst gibt das Unklare des
Resultates zu. An dieser Stelle sei nochmals hervorgehoben, daß wir unbe-
dingt die Methodik der exakt arbeitenden generellen Psychologie so weit als irgend
möglich auf die angewandte übertragen müssen ! Wir müssen Tests suchen, die
eindeutige Lösungen, Lösungen nach Quantitätsunterschieden, nach exakt meß-
baren Faktoren, wie der Zeit, nach richtig und falsch, benutzen, nicht aber ver-
schwommene Ausdrucksformen, wie Schilderungen, Darstellungen, subjektiv zu
beurteilende Antworten enthalten! Auch die Tests, die Typen bringen, sind vom
Exaktheitsstandpunkte nicht verwendbar. Und damit komme ich wiederum auf
einen Punkt bei Anschütz, der auch sehr diskutabel ist: in der angewandten Psy-
chologie Denktypen aufzustellen, ist höchst bedenklich, in der generellen Psychologie
kann es nur aus vorläufigem Notbehelf geschehen. Überall, wo vom Versuchsleiter
subjektive Maßstäbe angelegt werden müssen, wird ein Prinzip der Beurteilung
eingeführt, daß, so lange wir noch nichts besseres haben, bei Massenmaterial in der
Statistik mit Vorbehalt noch annehmbar ist, das aber kaum gebilligt werden kann,
wenn man einen Einzelnen rangieren möchte. Sicherlich sind die Gegensatzpaare
und die Übergangsstufen der Denktypen, die Anschütz aufstellt, interessant: ob sie
irgendwie praktisch benutzbar werden, sei dahingestellt.
So kommt man bei diesem Buche immer wieder auf den gleichen Gegensatz:
Theorie und Anwendung, Psychologie als Geistes- und als Naturwissenschaft. Für
den philosophisch orientierten Psychologen wird das Buch viel Anregung geben.
Bei den mehr Tatsachen Suchenden wird es umso intensiver anspornen, durch prak-
tische Forschung, durch einfaches Darbieten experimenteller Ergebnisse, das In-
telligenzproblem zu bewältigen. Für beide aber wird das Buch zur Weiterarbeit
Anlaß sein : denn vielleicht ist durch die Verquickung von philosophischem Überlegen,
Schematisieren und Apriorisieren auf der einen und der Experimentalarbeit auf
der anderen Seite die Anschützsche Schrift besonders geeignet, die Nachteile und
die Vorzüge beider Methoden darzustellen. Daß eine Verschmelzung beider Arten
augenblicklich noch nicht möglich ist, scheint ebenso evident zu sein. Vielleicht finden
wir jedoch eine zukünftige Überbrückung in der Korrelationsmethode, die ver-
wunderlicherweise bei Anschütz nebensächlich behandelt wird (gleich den doch
verdienstvollen Untersuchungen Bobertags). Ein anderer Ausweg aus der Ver-
wirrung, die das Buch indirekt bezeugt und gemäß der wissenschaftlichen Sachlage
auch bezeugen muß, scheint mir bis jetzt nicht gegeben.
Leipzig. Fritz Giese.
Literaturbericht. 73
Ch. B. Flagstad, Psychologie der Sprachpädagogik. Versuche zu einer
Darstellung der Prinzipien des fremdsprachlichen Unterrichts auf Grund der
psychologischen Natur der Sprache. Leipzig u. Berlin 1913. Verlag B. G. Teubner.
XXVIII u. 370 S. Geb. 6 M.
Die Berücksichtigung einiger Erscheinungen aus dem Gebiete der sprachpsycho-
logischen Literatur, die Auseinandersetzimg mit der pädagogisch-psychologischen
Fachliteratur des- Sprachunterrichts tmd endlich die gründliche Unterrichtserfahrung
des Verfassers verleihen diesem Buche Wert und Bedeutung. Die Darstelliing ist
anregend, wenn sie auch nichts Neues zutage fördert. Wir können hier nur einiges
aus der Fülle der behandelten Fragen hervorheben.
Sofern die Wortvorstellung LautTm.g ist, stellt sie sich als eine akustisch-moto-
rische Einheit dar, in welcher der Bewegungskomponente die größte Bedeutung zu-
kommt (S. 22). Die Kultur dieser Sprechbewegungen bildet eine wichtige Aufgabe
des Sprachunterrichts. Wie bei aller Ausdruckskultur, so handelt es sich auch hierbei
um eine künstlerische Gestaltung. Für den Lehrer aber ist es gar nicht schwer, den
Schüler — besonders den Anfänger — für diese Verfeinerung in der Nachahmung
fremdartiger Sprachbewegungen zu gewinnen. Die Natur des Schülers kommt ihm
dabei weit entgegen. „Wie jede Sprachtätigkeit überhaupt ihre Wurzel und ihren
Ursprung in der Freude hat, die das kleine Kind an der Betätigung seiner Sprach-
organe empfindet, so ist auch der Trieb, sich mit fremden Sprachen zu beschäftigen,
ursprünglich an das Lustgefühl geknüpft, das die in der fremden Artikulation liegende
Abwechslung erregt, und an die Stimmung, die der Klang der fremden Sprache
hervorruft" (S. 39). Diese ästhetische Freude an dem fremden Sprachlaute und das
spontane Streben des Menschen, ihn zu meistern, muß vor allem im Anfangsimter-
richt vollauf ausgenutzt werden. Bedenkt man mm, daß das Wort als Lautung eine
Handlung ist, die durch sorgfältige, pflichttreue Übung zur Gewohnheit, zu etwas
Wohlbekanntenx werden kann, dann erhält auch die ethische Wiirzel dieses spon-
tanen Lustgefühls ihre rechte pädagogische Bewertung. „Die allgemeine erziehe-
rische Wirkung des Sprachunterrichts liegt zum nicht geringen Teil eben darin, daß
er den Schüler daran gewöhnt, sein Wesen unter anderen Formen als den bisher ge-
wohnten zu äußern, und ihn zwingt, sich selbst zu vergessen, indem er in der zu
lösenden Aufgabe aufgeht und alle Kräfte entschlossen zusammennimmt ohne Rück-
sicht auf ein mögliches Scheitern" (S. 54). Und unter diesem Gesichtspunkte hat
auch die phonetische Unterweistmg im Unterricht eine nicht zu unterschätzende
ethische Bedeutung, sofern sie den Schüler immer wieder zur Selbstbeobachtung und
-berichtigung auffordert.
Was für die Einübung des Wortes als Lautvorstellung gilt, findet auch bei der
Einprägung der Phrase Anwendung. Sicherlich beruht ihre Fügung ursprünglich
auf dem Bedeutungsgehalt der einzelnen Teile, so daß der Sprachunterricht selbst-
verständlich auf die Kläning dieses Sinnes bedacht sein muß. Weil wir aber mit den
Prä- luid Suffixen in den Kompositionsfugen in den meisten Fällen keine bestimmte
Vorstellung mehr verbinden, sollte im Unterricht diese grammatisch-formale Kon-
struktion zugunsten der akustisch-motorischen Assoziation der Teile einer stehenden
Redowendung weise eingeschränkt werden. Die einzelnen Teile der Phrase behaupten
den Platz, den sie innehaben, nicht auf Grund ihrer Bedeutung. Die akustisch-moto-
rische Einheit des Ganzen vielmehr schreibt ihnen diesen Platz dogmatisch vor
(S. 106). Ein Doppeltes also muß die Methode des Sprachunterrichts fordern: die
Realisierung des Vorstellungsgehaltes der Teile eines Ausdrucks und ihre akustisch-
motorische Verschmelzung im Bewußtsein des Redenden. Da aber im Laufe der
Entwicklung einer Sprache die Phrasen Kreuzungen eingehen, wird der zuletzt be-
schriebene Weg am häufigsten beschritten werden. Denn die — ursprünglich übrigens
immer räumlich gestaltete — Bedeutung des sprachlichen Ausdrucks ist nicht stets
80 durchsichtig wie in der Wendung: „es liegt auf der Hand", für die der Verffisser
methodisch richtig empfiehlt, man solle „sich wirklich die Sache auf einer offenen
Hand liegend vorstellen" (S. 108). Gäbe es in der Sprache keine Kontaminations-
formen, dann könnte man diese Methode sogar konsequent durchführen. Führt dem-
nach die Entwicklung der Sprache atif Grund der Organisation des menschlichen
74 Literaturbericht.
Bewußtseins zu einer Verdunkelung des Vorstellungsgehalts, so wird man doch, wo
es möglich ist, den Schüler dazu veranlassen, sich die Anschaulichkeit und eigentüm-
liche Auffassiuig eines Tatbestandes bewußt zu machen. Natürlich fordert diese Be-
trachtungsweise zur Vergleichung heraus; nicht zum ,, Übersetzen", sondern zum
,, Ersetzen" (so möchte ich es einmal nennen); und zwar zum Ersetzen eines Bildes
aus einer neuen Sprachwelt din*ch ein muttersprachliches. Mag man dieses „Ersetzen"
immerhin „Übersetzen" nennen, so ist doch von vornherein klar, daß es die Kenntnis
der zu vergleichenden Gebilde unbedingt voraussetzt vmd daher nicht am Anfang
sondern am Ende der Unterweisung in der fremden Sprache steht. E ■; ist gar nicht
einzusehen, warimi der Verfasser diese Konsequenz der direkten Methode nicht klipp
und klar zieht; um so weniger als er sich doch nachdrücklich gegen den ,, zweifel-
haften Begriff der guten Übersetzung" wendet (S. 109). Angenommen, der Verfasser
sei psychologisch im Rechte, wenn er behauptet, daß wir beim Sprechen — also auch
beim verständnisvollen Gebrauche einer fremden Sprache — ,,auf Grund der sprach-
lichen Anschauimg zur realen übergehen" (S. 166), dann spräche diese Ansicht doch
ganz zu unsern Gim.sten. Für einen Umweg über die Muttersprache liegt dann doch
am wenigsten ein Grund vor. Ganz nachdrücklich aber müssen wir uns gegen einen
Umweg über die Muttersprache wenden, wenn der Verfasser meint, es sei ,, pädago-
gisch eine bessere Übersetzung, die Feldherrn der Griechen sterben zu lassen, nach-
dem sie bezüglich der Köpfe abgehauen worden waren, als sie einfach enthauptet
werden zu lassen" (S. 109). Danach also soll doch das fremdartige Bild, statt in seiner
eigenartigen Konzeption erfaßt vmd in seiner akustisch-motorischen Einheit gewußt
zu werden, in kleinste Teilchen zerschlagen und dann in ein gänzlich anderes Material
Stück für Stück übersetzt werden !
Wie kommt der Verfasser zu dieser Auffassung, die doch im Grunde ein ganz
einseitiger Formalismus ist ? Offenbar weil er die tiefe Bedeutung der ,, inneren
Sprachform" bei W. v. Humboldt verkannt hat. Dieser Ausdruck Humboldts hat
für ihn etwas Mystisches, Unverständliches. ,,Wenn wir überhaupt von innerer
Sprachform reden wollen, müssen wir zwischen dem Inhalt, der dvirch die Sprache
ausgedrückt werden soll, und der Sprache selbst als Ausdrucksmittel \mterscheiden,
vü\d wenn wir die Sprachformen verschiedener Sprachen vergleichen, müssen wir
von den zwischen den betreffenden Nationen in bezug auf Begriffsbildung und Denk-
art bestehenden Unterschieden absehen und nur nach der Art der lediglich dem Aus-
druck dienenden VorsteFungen fragen" (S. 160). Hierin aber liegt gerade das Ver-
sehen, von dem Humboldts Darstel'ung frei ist. Für jede Art des künstler' sehen
Ausdrucks, daher auch für die Sprache, ist es unzulässig. Form und Inhalt in diesem
Sinne von einander zu scheiden. Beide bestimmen und bedingen sich gegenseitig.
Und mit innerer Spracbform ist gerade eine innere Auff- ssung und Gestalttmg in
sprachlichem Gewände gemeint. Beider Entwickliuig imd Vervollkommmmg gehen
Hand in Hand. Außerdem: nationale ,, Begriffsbildung und Denkart" bedingt selbst-
verständlich die ,,Art der lediglich dem Ausdruck dienenden Vorstellungen". Inwie-
fern ist es übrigens Humboldts Ansicht, daß die Laute eine ,, äußere Sprachform als
Gegensatz zu einer inneren konstituieren" ? (S. 161.) Mancherlei Widersprüche wären
im Anschluß daran noch zu erwähnen. Für die Wortschöpfung soll etwas wie ,, Geist
der Sprache" gelten (S. 169). Für den gesamten Bau der Sprache und den des Satzes
wird nichts dergleichen zugelassen (S. 167). Wohl aber spricht der Verfasser auch
bei ihnen von einer ,, sprachlichen Anschauungsform". Sie ,,will vms keine bestimmte
Auffassung des realen Bewußtseinsinhaltes aufzwingen, sondern nur de Möglich-
keiten so weit abgrenzen, daß wir den realen Zusammenhang ohne Mühe wiederher-
zustellen vermögen" (S. 167). Denkt man diese Begriffsbestimmung zu Ende, dann
kommt man zu Humboldts innerer Sprachform. Durch Ausdrücke wie ,, keine be-
stimmte Auffassung" und „aufzwingen" wird der Sachverhalt nwr unnötig verdunkelt.
Kurz vorher (S. 166) lesen wir: „Wir denken uns (beim Sprechen) die Sache, wie die
Sprachform es will, wenn das auch nur dimikel zum Bewußtsein kommt". Was heißt
das : die Sprachform will ? Von einem Aufzwingen soll doch gerade nicht die Rede
sein. Dann wieder heißt es (S. 167): „Die Anschauungsformen beruhen . . . für jede
Sprache auf einer Wahl zwischen unendlich vielen Möglichkeiten", wobei das Wort
Literatlirbericht.
„Wahl" bildlich zu verstehen sei. Denn ,,der Sprachgebrauch ist blind und folgt
keinen rationellen Prinzipien, sondern läßt sich von zufällig wirkenden Ursachen
beeinflussen". Was soll hier mit Sprachgebrauch gemeint sein ? Er ist doch of enbar
mehr als die Wirkvmg zxifällig vorhandener Ursachen. Denn sonst zerfiele ja eine
Sprache in eine mehr oder weniger große Zahl sprachlicher Äußerungen, die zwar
selbst durch die „sprachliche Anschauungsform" jedesmal geschaffen werden, ohne
aber durch eine allgemeine, überall in wesentlich gleicher Weise wirkende ,, sprach-
liche Anschauungsform" zusammengehalten und zu einem stilvollen Bau vereinheit-
licht zu sein. Was aber hätte es dann für einen Sinn, von „sprachlicher Anschauungs-
form" zu reden ?
Wir müssen uns hier versagen, auf die zahlreichen pädagogischen und psycho-
logischen Themata einzugehen, die in dem Buche übersichtlich geordnet behandelt
werden. Seine Lektüre sei dem Sprachlehrer warm empfohlen. Er wird die Er-
wägungen und pädagogischen Bedenken aus dem Reformstreite in neuem Zusammen-
hange rnid in erfrevdicher Vollständigkeit hier behandelt finden und sich dabei gern
der Führung eines xunsichtigen Praktikers anvertrauen. Psychologische Klärung
kann für den neusprachlichen Unterricht — und um ihn handelt es sich hier in erster
Linie — nur willkommen sein, ziunal Anzeichen dafür vorhanden sind, daß die Reform-
bewegung durch den vermittelnden Charakter der Lehrpläne nur zu einem vor-
läufigen Stillstande gekommen ist.
Königsberg i. Pr. Dr. Hermann Schmitt.
Botju Schanoff, Die Vorgänge des Rechnens. Pädag. Monographien.
Bd. XI, Leipzig 1912. Verlag Nemnich. VI u. 111 S. Preis geh. 2,80 M., geb. 4,30 M.
Der Verfasser stellt auf Grund von Aussagen erw^achsener Versuchspersonen
die psychischen Vorgänge fest, die beim Kopfrechnen erlebt werden, \ind beschränkt
eich dabei auf Rechenoperationen der vier Spezies, die in der Regel nicht über 100
hinausgehen. Insofern sich diese Vorgänge beim Erwachsenen leichter und vollstän-
diger beobachten lassen als beim Kinde, will er die vorliegende Schrift als Einleitung
eines zweiten, die gleichen Vorgänge des kindlichen Bewußtseins behandelnden
Teiles betrachtet wissen, womit die Arbeit erst ihre Bedeutung für die Didaktik
gewinnt.
Bezüglich der für die Auffassung und das Ausrechnen der Aufgaben in Betracht
kommenden Bewußtseinsinhalte wird betont, daß diejenigen anschaulicher Art
als vermittelnd imd zum Behalten der Zahlen dienen, aber nicht das Rechnen selbst
allein ermöglichen. Vielmehr finden sich optische, akustische und akustisch-moto-
rische Elemente hierbei im Bewußtsein vor. Gerechnet wird, wie der Verfasser her-
vorhebt, überhaupt nicht mit optischen oder akustischen Ziffern, sondern mit Zahlen
(mit Bedeutungsbewußtsein verbundenen Inhalten). Wir können die letzteren wohl,
soweit sie dem rechnenden Subjekte bekannte Werte darstellen, psychologisch als
beharrende spezifische Bewußtseinsdispositionen erklären, an denen teils optische,
teils akustische, teils akustisch-motorische Elemente, je nach dem vorwiegenden Vor-
stellungstypus, zu apperzeptivem Bewußtsein gelangen.
Besondere Wichtigkeit kommt indessen nach den Ausführungen des Verfassers
den Bewußtseinsinhalten gedanklicher Art zu, den Beziehungssetzungen
zwischen den Zahlen der Rechnung und ihren Teilen, den Erwägungen, Überlegungen
imd Schlußfolgerungen in betreff des anzuwendenden Verfahrens. Die Rechenopera-
tionen stellen sich vermöge dieser spontanen Akte des Subjekts nicht als
bloße Anwendung des Einsundeins und Einmaleins, sondern als eine Art des
Denkens dar.
Im übrigen kennzeichnen sich die Rechenvorgängo als komplizierte Willensvor-
gängo, die als solche angedeutet, aber nicht näher untersucht werden.
Die fleißige und gründliche Untersuchung wird denen, welche die rechnerischen
Vorgänge bei den Schülern psychologisch zu zergliedern wünschen, gewiß eine will-
kommene Anleitung bieten können.
Heidelberg. Dr. A. Huther.
76 Literaturbericht.
Clemens Baeumker, Anschauung und Denken. Eine psychologisch-päda-
gogische Studie. Paderborn 1913. VI und 154 S.
Der Verfasser gehört zu den akademischen Vertretern einer spezifisch katho-
lischen Philosophie, welche Erkennen und Glauben in Einklang miteinander zu
setzen sucht, und dieser sein Standpunkt kommt darin zvim Ausdruck, daß er einer-
seits gern auf Aristoteles und die Scholastik Bezug nimmt, andrerseits grundsätzlich
die transzendenten Beziehungspunkte des Denkens, wie Seele, Gott und eine höhere
"Ordnung der Dinge nebst einer Welt geistiger Wirklichkeit und sittlicher Werte
zur Anerkennung bringt. Seine Darlegungen, die eine psychologische Analyse der
Anschauung und des Denkens bezwecken, zeugen indessen von gründUchen, auf
eigener Kritik beruhenden Studien und erweisen sich als wohl geeignet, in den frag-
lichen Gegenstand der Untersuchung einzuführen. Überall knüpft er an die theore-
tische Erörterung wertvolle Nutzanwendungen für die Pädagogik und hebt insbe-
sondere gegenüber der oft einseitig betonten Pflege der Anschauung die Not-
wendigkeit hervor, daß auch die Ausbildung der abstrakten Verstandestätigkeit zu
ihrem Rechte komme.
Im einzelnen kann ich dem Verfasser darin nicht zustimmen, daß er (S. 102f.)
den Begriff der Zahl auf rein abstraktem Wege zu konstruieren sucht, indem er
diese für eine Synthese der einzelnen Bewußtseinsakte des zählenden Subjektes
und demnach als aus reiner Verstandessetzung entstanden erklärt. Ich sehe nicht
ein, warum die Zahl als psychologische Erscheinung anders als das Wort (im Sinne
eines mit Bedeutungs Vorstellung verbundenen Bewußtseinsinhaltes) abgeleitet
werden soll. Die Ziffer dient (soweit es sich um aus der Wahrnehmung aufgefaßte,
bereits geläufige Zahlenwerte handelt) ebenso, wie das Wort das Zeichen bestimmter
Wahrnehmungsinhalte darstellt, als Symbol bestimmter konkreter Zahlengrößen,
die zwar nicht in aktueller Bewußtseinsform, jedoch in Gestalt von psychischen
Dispositionen gegeben und jederzeit reproduzierbar sind. Für das Schulkind kommt
die Zahl jedenfalls nur als konkrete Vorste lung in Betracht, wenn diese auch, wie
B. näher ausführt, der Verdeutlichung durch Zerlegung in ihre Elemente bedarf.
Bei den Rechenoperationen treten die Zahlen freilich in abstrakter Form auf, näm-
lich in Gestalt akustischer bzw. akustisch-motorischer Bewußtseinsinhalte (s. hier-
über Botju Schanoffs Untersuchungen zur Psycholog e des Rechnens) ; es ist das
Einsundeins und Einmaleins, das, mechanisch eingeübt, hierbei Anwendung findet.
In diesem Falle haben die Zahlenbegriffe aber auch für das rechnende Subjekt ihre
eigentliche Bedeutung als bestimmte Zahlenwerte eingebüßt.
Es mag wohl eine Nachwirkung der Kant sehen Lehre von der apriorischen
Natur der Mathematik und ihrer Bestimmungen sein, welche dieser Erklärung der
Zahl als eines Produktes , .reiner Verstandessetzung" zugrunde liegt.
Heidelberg. A. Huther.
Rudolph Penzig: Ernste Antworten auf Kinderfragen. 4. erw. Auflage.
Berlin 1913. G. Reimer, geb. 4.20 M.
Ohne eine vollständige und systematische Jugendlehre sein zu wollen, be-
handelt Penzigs erfolgreiches und wertvolles Buch mit psychologischem Geschick
und großer ethischer Feinheit die Hauptprobleme der sittlichen Belehrung und Er-
ziehung, soweit diese im Rahmen der Hauspädagogik erfolgt. Etwas zu seiner
Empfehlung zu sagen, ist überflüssig ; es hat Hunderte von Vätern und Müttern in
Fällen des Zweifels, der Instinktuasicherheit gut beraten; es will auch nicht mehr,
als durch die Paradigmata selbständigen und ernsthaft ihrer Erzieherpflicht be-
wußten Eltern zur Findung eigener Wege und Lösungen behilflich sein, nicht seine
Meinungen und Verfahren als doktrinäre Schemata allen auf zwängen. Eine etwas
andere Art der Behandlung einzelner Punkte (z. B. in der sexuellen Belehrung über
die Rolle des Vaters, in der soziologischen Belehrung über die Stellung „Minnas"
zum Haus usw.) könnte deshalb gar nicht im Sinne einer Kritik vorgetragen werden.
Das Buch will anregen zu eigener pädagogischer Produktivität, nicht bekehren zu
einem starren Schematismus, und in Fällen, in welchen sein Leser doch nicht zu
einer selbständigen Lösung der Konflikte kommt, die ihn zu diesem gedruckten
Literaturbericht. 7 7
Ratgeber greifen ließen, ist eine genaue Übernahme und Befolgung von P.s Instruk-
tionen immer noch besser als eine pädagogische Unterlassungssünde. Eines muß
dem Verfasser hoch angerechnet werden: daß er nicht wie manche andere ehemalige
Förderer der ethischen Bewegung und ethischen Jugendlehre irre geworden ist an
den natürlichen sittlichen Fähigkeiten des Menschen, nicht müde wurde, die Probleme
der praktischen Charakterbildung und Moraldidaktik immer wieder durchzudenken
und sich nicht verleiten ließ, zur Festigung der moralischen Praxis und zur Begrün-
dung der ilir vorschwebenden Leitideen, der für sie gültigen Prinzipien auf Religion
und die Hilfsmittel der religiösen Praxis zu rekurrieren.
Es ist ein merkwürdiges Schicksal — Penzigs Buch legt mir diesen Gedanken
wieder nahe — das der Bewegung für eine ethische Jugendbildxmg in Deutschland
beschieden war. Anfänglich von vielen Seiten enthusiastisch begrüßt, hat die Be-
wegung für einen weltlichen Moralunterricht und eine von der religiösen Praxis
losgelöste moralische Erziehung unserer Jugend immer mehr ihre werbende Kraft
eingebüßt, je notwendiger sie wurde; der organisierte, im Besitz der politischen
Machtmittel befindliche Konfessionalismus bekämpfte sie planmäßig. Allein ich
glaube nicht, daß dieser Ansturm von außen weitgehende Schädigungen der Be-
wegung hätte bewirken können. In den Reihen der ursprünglichen Förderer und
Vorkämpfer des Gedankens selbst griff der Skeptizismus Platz, richtiger gesagt:
erlahmte die schöpferische Schwungkraft, an welche die neue Bewegung erheblich
größere Anforderungen stellt, als die sind, mit denen man eine religiöse Tradition
weitergibt. Aber auch dieser Rückzug einzelner Gründer auf die gebahnten Heer-
straßen und in den Schutz und die endgültigen Beruhigungen religiöser Sanktionierung
erklärt das Schicksal der Bewegung für ethische Jugendkultur nicht ganz. Letzt-
entscheidend ist dafür m. E. der Umstand, daß die Staatsgewalt und
die dem Gegenwartsstaat dienstbaren Parteien dem ehemals von ihnen befeh-
deten weltlichen Moralunterricht, der Lebens- und Bürgerkunde einen grund-
legend wichtigen Teil allmählich entzogen und ihn, als staatsbürgerliche
Belehrung und Erziehung, namentlich im Alter der Fortbildungsschule, der höheren
Knaben- und Mädchenschule, natürlich bona fide, so umwandelten und um-
modelten, daß er nicht nur der Gesellschaft und dem Staat überhaupt,
sondern zugleich beiden in ihrer heutigen Form und Verfassung dienst-
bar werden konnte. Wer die feinversteckten Wege der zähen Selbsterhaltung
geistiger und kultureller Gebilde kennt, wird ja nicht überrascht sein; aber es scheint
mir Tatsache, daß mit dieser Indienstnahme der Bewegung für ethische Jugendkultur
durch den Gegenwartsstaat der reine Idealismus utilitaristisch zersetzt worden.
Man mißverstehe nicht: ich halte sowohl die Sicherungsarbeiten der heutigen Ge-
sellschaft für notwendig, wie religiöse Kultur, dort wo sie noch möglich ist, für die
tiefste Form der Lebensgestaltung. Aber die ethische Bewegung, insbesondere der
Jugendzweig derselben, hat nach Ursprung und Tendenz mit beiden Aufgaben nichts
zu tun ; und Penzigs Buch darf das Verdienst in Anspruch nehmen, ohne Zugeständ-
nisse und Beschränkungen die rein ethische Richtung innegehalten zu haben. Ich
glaube freilich, daß die pädagogische Schöpfertat eines Gesamtsystems der mora-
lischen Unterweisving und praktischen Charakterbildung erst von der Zukunft zu
erwarten ist, aber Bücher wie das vorliegende sind Schrittmacher auf dem Weg
zum Aufbau einer mit unserer Kultur, soweit sie wertvoll ist, übereinstimmenden
und auf das ethische Ideal kommender Zeiten orientierten Moralpädagogik.
München. Aloys Fi scher.
Karl Muthesius, Die Berufsbildung des Lehrers. München 1913, Becksohe
Verlagsbuchhandlung, geb. 3.80 M.
Die Veränderungen der Lehrerbildung sind im letzten Menschenalter nicht
kleiner, sondern eher größer als die Reformen an anderen Schulanstalten. Und
wie Muthesius mit Recht hervorhebt, sind die Verbesserungen fast ausschließlich
der Fachbildung, der wissenschaftlichen Allgeraeinbildung zugute gekommen,
während die pädagogische Ausbildung im ganzen unverändert geblieben ist.
78 Literaturbericht.
Deren Vertiefung zu fordern und tief in den Bildungsforderungen der Zeit zu ver-
ankern, ist die Aufgabe des Buches von Muthesiuß.
Zwei Grundsätze unterscheiden nach ihm die heutige von der früheren Pädagogik
im tiefsten Wesen: das Prinzip der Selbstbetätigung und das Persönlichkeitsprinzip.
Dieselben Lehrer, die diese Prinzipien hauptsächlich vertreten und doch ohne Frage
zunehmend mehr in die Schule übertragen sollen, werden persönlich im Seminar
durchaus nicht nach diesen Grundsätzen erzogen. Wie soll sich ihnen daher der
Geist dieser Methode einprägen, wenn sie selbst jahrelang anderes gewöhnt werden ?
Darin liegt der grundlegende Unterschied zwischen der Auffassung von Muthesius
und der Auffassung, die viele Behörden von der Volksschule und damit von ihren
Lehrern zu haben scheinen. Muthesius verlangt wirkliche Bildung des Volkes und
nicht Dressur zu äußeren Fertigkeiten; — die alte Anschauung dagegen wird von
der Überzeugung getragen, daß solches nicht möglich ist. Nach dieser neueren
Auffassung muß daher auch der Lehrer ein vielseitig durchgebildeter Mensch sein,
dessen Ausbildung man nicht durch Nebenaufgaben der verschiedensten Art er-
schweren und verflachen darf.
Die Seminarübungsschule will dabei Muthesius ebenso wenig wie das Seminar
verworfen sehen: solche Art revolutionärer Gedanken liegt ihm ganz fern. Seine
Pläne ruhen auf Tatsachen und entwickeln sich aus ihnen in wirksamster Weise.
Die Vernichtung der Seminarübungsschule würde nach ihm ein großes Unglück
bedeuten; er wünscht ähnliche Einrichtungen auf die Universitäten übertragen,
wenn die Pädagogik an der Universität ihre volle Wirkung haben soll.
Im Semineir selbst will er (im Gegensatz etwa zu Seyfert und anderen) die All-
gemeinbildung nicht von der pädagogischen Bildung getrennt wissen, sondern sie
beide ineinander gearbeitet haben. Pädagogische Lehre und Praxis soll auf 3 Jahre
verteilt werden, um langsam zu reifen, wobei die ersten 2 Jahre mehr für die Theorie
bestimmt sind, das letzte für das Durchdringen von Theorie und Praxis.
Trotz aller Schwierigkeiten möchte er die Unterrichtslehre nicht an die Fach-
lehrer verteilt, sondern in eine einzige gestaltende Hand gelegt wissen. Der Semi-
narist soll zwar den Unterricht aller Fächer einigermaßen kennen lernen; aber
auch er soll seine Kraft in der Hauptsache an einem einzigen Fache erproben, das
ihm innerlich naheliegt, damit seine Entwicklung eine gründlichere und der Unter-
richt der Seminarschulen ein besserer werde.
Die Pädagogen mögen in einzelnen Punkten anderer Meinung sein, sicherlich hat
Muthesius ohne jede Tendenz und Einseitigkeit, rein aus langen Erfahrungen heraus
Anregungen in so ruhiger Art gegeben, daß man hoffen darf, sie werden mehr wie
Radikalforderungen auch auf die entscheidenden Instanzen bestimmend wirken.
Leipzig. Dr. Max Brahn.
Paul Hensel, Hauptprobleme der Ethik. 2. Auflage 1913. B. G. Teubner.
128 S.
Dieses schlicht und allgemeinverständlich geschriebene Buch darf auf das Lob,
nicht nur Philosophie, sondern philosophieren zu lehren, Anspruch erheben. Man weiß,
daß dieses Lob (eins der schönsten, die man einer philosophischen Schrift zollen kann)
davon, ob ihr Inhalt original sei oder nicht, und sogar davon, ob er wahr oder falsch
sei, bis zu einem gewissen Grade tinabhängig ist. So ist in der Tat dieses Buch weniger
neue Philosophie als neue Formulierung alten philosophischen Gutes, ruft auch wohl
stellenweise unsre Kritik auf, und läßt doch überall ein glückliches und energisches
Denken, das zum Selbstdenken anregt, lebendig spüren.
Inhaltlich betrachtet ist sein Standpunkt so zu charakterisieren, daß es, nach
einer bündigen Kritik des Utilitarismus und der evolutionistischen Ethik Spencerscher
Färbung, Kants Kritik der praktischen Vernunft zu seinem Ausgangspunkt macht,
an einigen Stellen ihre Einseitigkeiten und dogmatischen Reste beseitigt und Kants
Grundprinzip der Moral in möglichster Reinheit zu dem seinigen macht. Tut man
das, so hat man natürlich von vornherein Beträchtliches gewonnen: die Ethik ist weit
hinaus über alle Lustrechnung, über Altruismus und Egoismus, Pessimismus vmd
Optimismus, sie ist als unabhängiges Gebiet mit ureigener Gesetzgebung konstituiert.
Lteraturbericht. 79
Man erbt aber natürlich auch alle Schwierigkeiten des reinen Moralismus und steht
vor den zugespitzten Problemen, die die Kantische Philosophie an ihren Rändern
erzeugt und deren mangelhafte bösiingen wir heute als Kants Grenzen empfinden.
Wird nämlich in dem unbedingt verpflichtenden „Du sollst" des Sittengesetzes das
einzige Kriterium für sittliches Handeln festgehalten, so muß jeder Versuch miß-
lingen, dem Sittengesetz irgendeine inhaltliche Bestimmung von der gleichen Dignität
zu geben. Alle Versuche, ob sie von Kant, Fichte oder sonstwem stammen, aus der
reinen Form der Sittlichkeit irgendeinen Inhalt dediiktiv herauszuwickeln, müssen
als Erschleichungen abgewiesen werden, und H. tut das mit aller Entschiedenheit.
Die Determination des formalen Imperativs zu konkreten Normen vollzieht sich viel-
mehr unsystematisch, rein tatsächlich, indem Leben und Geschichte immer neue
Aufgaben entwickeln und dadurch jederzeit die Forderiing der Pflichterfüllung sich
als eine wohlbestimmte sittliche Tat darstellt: individuell und undeduzierbar. Das
einzige, was man in der Richtung auf ein System ethischer Normen tun kann, ist:
eine Reihe von Verhaltungsweisen aufzuzeigen, die sich im Verlauf der sittlichen Er-
fahrung des Menschengeschlechts, durch Anwendung der reinen Form des „Du sollst"
auf relativ bleibende menschliche Verhältnisse herausgebildet haben. Es wäre zu
wünschen, daß diese Erkenntnistheorie der materialen Normen, die von H. fest-
gestellt wird (S. 103), mit größerer Deutlichkeit besonders in dem Abschnitt über
Staat und Gerechtigkeit festgehalten würde, wo es so scheint, als ob der Verfasser,
durch die Analogie der unpersönlichen Art der staatlichen Forderungen mit der Sitt-
lichkeit verführt, die Forderung nach Gerechtigkeit des Staats für ganz so absolut
und aus dem kategorischen Imperativ ableitbar hielte wie Kant. Es m\xß betont
werden, daß es für den, der das erlebte ,,Du sollst" zum alleinigen &iterium der Sitt-
lichkeit macht, ein System der Normen, oder überhaupt allgemein gültige materiale
Forderungen oder auch nur eine absolute Ethik der Gemeinschaft schlechterdings
nicht gibt.
Statt eines ethischen Systems der Normen arbeitet nun H. im Laufe der Schrift
ein psychologisches System der sittlichen Erscheinungen heraus, und das führt ihn
in gewissem Sinne über Kant hinaus. Während nämlich bei Kant eine , .physiologische"
Betrachtung sittlicher Tatsachen zwar im Rahmen des Systems prinzipiell möglich
ist, aber gar keine Rolle spielt und der reine Wille eben doch aus einer zweiten Welt
in das Chaos der Triebe und Neigungen hereinragt, ist hier das Pflichtwollen mit
vollem Bewußtsein als psychologische Tatsache aufgefaßt, und seine Stellung im
psychologischen Gefüge des Gesamtbewußtseins und sogar in der psychischen Ent-
wicklung der Menschheit tritt heraus. Noch spukt zwar das Kantische Dogma, daß
es außer dem Pflichtwollen nur Streben nach Lust gebe, aber im übrigen sind wichtige
Resultate der Psychologie ethisch fruktifiziert. Besonders der Begriff „außersittlich"
und die Schilderung der psychologischen Dynamik, vermöge deren sich Pflichthand-
lungen allmählich in Gewohnheiten verwandeln, die sich ohne Betätigung des sitt-
lichen Willens vollziehen, scheint mir glücklich. Gerade an solche psychologischen
Einsichten freilich müssen sich ethische Probleme anschließen, die H. von seinem
Standpunkt aus nicht lösen kann. Findet nämlich ein beständiger Übergang zwischen
sittlichen und außersittlichen Handlungen statt und nehmen diese gerade im aus-
gebildeten Bewußtsein des Kulturmenschen eine so wichtige Stelle ein: ist es dann
nicht Willkür, nur die explicite aus Pflicht geschehenden Handlungen als ethisch
relevant anzusehen ? Machen wir nicht unwillkürlich auch in bezug auf die , .außer-
sittlichen", gewohnheitsmäßig ablaufenden Handlungen Wertunterschiede und
zwar nicht nur zwischen nützlichen und schädlichen, sympathischen und unsym-
pathischen, sondern zwischen guten und bösen? Ein Kriterium aber, um hier
etwas objektiv zu entscheiden, hat H.s Ethik nicht. Daß sie aus Pflicht geschehe, ist
das einzige Kriterium der sittlichen Handlung für ihn, und dieses ist hier generell
nicht erfüllt. Der Ausweg, die Handlungen, die aus Pflichthandlungen entstanden
sind, gut zu nennen, ist natürlich unmöglich, denn der psychologische Mechanismus
kann in verschiedenen Fällen aus demselben ganz Verschiedenes gemacht haben. —
Ein weiterer Beitrag zur psychologischen Einordnung der sittlichen Phänomene
ist das Kapitel Ethik und Kultur. Hier wird eine Theorie der Entwicklung der Sitt-
80 Literaturbericht.
lichkeit versucht: auf primitiver Stufe wirke, aus Mangel an entgegenwirkenden
Motiven, das Sittengesetz (Fichtisch gesprochen) als Vernunftinstinkt, diese Enge
des BewuiBtseins weite sich aber mit fortschreitender Kultur, die entwickelte Indi-
vidualität werde zu weitausholenden Willenshandlungen fähig, habe aber auch eine
wachsende Fülle von Hemmiuigen \ind Gegenstrebungen in sich und eine Welt von
Versuchungen um sich. Damit wachse und differenziere sich, wie die Fähigkeit zum
Laster und Verbrechen, so die zur Sittlichkeit. Das wichtige ist, daß H. nicht etwa
nur den reinen Willen durch ein beständig sich komplizierendes Gewebe von Nei-
gungen durchgreifen, sondern daß er ihn sich selbst hinsichtlich seiner Struktur ent-
wickeln läßt.
Das letzte Kapitel stellt das Problem des Verhältnisses der verschiedenen Wert-
gebiete (bes. Moral und Religion) zu einander luid löst es kritizistisch, indem es dieses
Problem als ein notwendiges Anliegen der nach Einheit strebenden Vernunft, aber
als Metaphysik der Werte und darum als überschwängliches Unternehmen des Er-
kenntnistriebes charakterisiert.
Berlin. Dr. H. Freyer.
Victor Stern: Einführung in die Probleme und die Geschichte der
Ethik. Wien, Hugo Heller, 1912. 89 S. 2.50 M.
Das Buch will nicht die Darstellung eines eigenen ethischen Systems, sondern
die Darstellung der ethischen Probleme und der verschiedenen Lösungsversuche, die
in der Geschichte hervorgetreten sind, geben. ,, Nicht in ein System, in die ganze
Mannigfaltigkeit der Systeme will es einführen." Es macht sich freilich diese Ob-
jektivität, die es von sich selbst fordert, recht bequem. Im systematischen Teile
stellt es die verschiedenen Möglichkeiten, zu einem System der Ethik zu kommen,
leblos und schematisch nebeneinander, ohne irgendwie, auf das lebendige ethische
Denken zurückgehend, die innere Dialektik der Probleme und Lösungen zu zeigen.
Der historische Teil enthält nicht eigentlich etwas Falsches ; da er aber die einzelnen
Systeme sowohl wie die historischen Übergänge zwischen ihnen so gründlich simpli-
fiziert, daß aus der ganzen Geschichte der Ethik eine höchst oberflächliche und banale
Sache wird, so kann man ebenso gut sagen: er enthält nicht eigentlich etwas Richtiges.
Das Buch ist eine Einführung in die Geschichte der Ethik im Sinne einer ersten
und flüchtigsten Übersicht, eine Einführung in ihre „Probleme" ist es sicher nicht.
Berlin. Dr. H. Freyer.
Herbarts Lehrbuch zur Einleitung in die Philosophie. Mit bisher unge-
druckten Herbartschen Diktaten sowie mit Einleitimg, Anmerkungen und Registern
herausgegeben von O. Flügel u. Th. Fritzsch. (Herbarts philosophische Haupt-
schriften, Bd. I). Leipzig, 1913. Julius Klinkhardt, XII u. 251 S. Geb. 4.— M.
Die beiden Herausgeber, der pädagogischen Welt hinreichend bekannt, haben
sich zu einer Ausgabe der philosophischen Hauptschriften Herbarts entschlossen in
der zweifellos richtigen Erkenntnis, daß für das Verständnis seiner Pädagogik die
genauere Bekanntschaft mit seiner Philosophie unerläßlich ist. Die vorliegende „Ein-
leitung", deren erste Auflage vor nxinmehr einem Jahrhundert erschien, ist die erste
dieser Hauptschriften. Ihre Neuausgabe gibt den Text der 4. Auflage mit den Ab-
weichungen der früheren Ausgaben wieder; ihr Wert wird erhöht durch die Heran-
ziehvmg von bisher ungedruckten Kollegheften zu Herbarts Vorlesungen aus den
Jahren 1837/38, sowie durch die Beigabe des Plans zu philosophischen Vorlesungen
von 1804 und der Abhandlung über Plato von 1805. Diirch diese Beilagen, ebenso
durch die Einleitung und die zahlreichen, sehr wertvollen Anmerkungen wird man
mit den schwierigen Gedankengängen Herbarts rasch vertraut, so daß auch der
moderne Pädagog das Buch nicht ohne großen inneren Gewinn aus der Hand legen
wird, selbst wenn er nicht Herbart ianer ist.
Leipzig. Dr. Joh. Kretzschmar.
?j
Deskriptive Pädagogik.
Von Aloys Fischer.
Definiert man Pädagogik als Prinzipienwissenscliaft von der
Erziehung als Tatsache und Aufgabe, so ist zwar dem Namen nach
die Einheitlichkeit der pädagogischen Wissenschaft erreicht, aber eine ver-
tiefte Besinnung auf die einzelnen Bedeutungen der Definitionsworte läßt
die Unterschiede der wissenschaftlichen Betrachtungsweise sofort wieder
zutage treten, die dadurch verdeckt werden und sich z. B. allein schon auf
die Erziehung als Tatsache richten können.
Die Erziehung ist eine Tatsache des geschichtlich-gesellschaftlichen Lebens
der Menschheit, Erziehung verstanden als eine bestimmte Praxis, ein tehsch
orientiertes Tun. Die Erziehung ist auch in der Gegenwart noch eine Tat-
sache des kulturpraktischen Verhaltens.
Wer lehrt und unterrichtet, erzieht und bessert, erkennt nicht; er hat
nicht die Aufgabe zu erkennen, weder das Kind, das er belehrt und erzieht,
noch den Stoff, den er lehrend weiter gibt, noch die Methode, nach der er
verfährt. Es ist selbstverständhch als Voraussetzung seines Tuns erforder-
lich, daß er fachwissenschaftliche Erkenntnisse besitzt, daß er erkannt hat,
was er tradieren soll; es ist auch unvermeidlich, daß er beim erziehenden
Tun nebenbei gewisse Kenntnisse und Erkenntnisse erwirbt, z. B. über die
Unterschiede der Kinderindividualitäten; es ist auch unvermeidlich, daß er
Erfahrungen sammelt über die Wirkungsweise seiner pädagogischen Maß-
nahmen und diese Erfahrungen wieder instinktiv verwertet. So steht der
praktische Pädagoge zwischen der Theorie seines Faches und der seines
Tuns, aber seine eigentliche Aufgabe, seine grundlegende Bestimmung ist
• s nicht, zu theoretisieren, zu erkennen, weder die Fachwissenschaft noch
(las Kind, noch die Methode. Der Lehrer als solcher, der Erzieher als solcher
unterrichtet, belehrt, bessert, verbessert, macht vor, redet zu, belohnt, be-
straft heraus aus didaktischen Instinkten, unter dem Einfluß konkreter
Situationen, mit Verwertung selbstgemachter oder fremder Erfahrungen,
auch nach vorgängiger Überlegung und Plansetzung.
Es ist außerordentlich wichtig, das pädagogische Tun der Menschen und
der Menschheit als solches einmal richtig zu sehen, die Erziehung als Realität
ins Auge zu fassen. Geschichtlich zum mindesten und soweit es sich um
Pädagogik als Tatsachenforschung handelt, auch sachlich geht die päda-
Zeitechrlft f. pftdagog. Psychologie. 6
82 Döskriptive Pädagogik.
gogische Tat der pädagogischen Theorie voran.^) Das instinktive päda-
gogische Tun, am Anfang der Geschichte die einzige pädagogische Reahtät,
ist auch heute noch vorhanden, wird in zahlreichen Spielarten geübt, ob-
gleich inzwischen andere und höhere Stilformen der Erziehung geschaffen
worden sind ; in der menschlich-gesellschaftlichen Kultur überlebt eben nicht
nur das Passendste oder Jeweils Höchste; es bleiben alle einmal vorhanden
gewesenen Formen erhalten, soweit die Bedingungen ihres Ursprungs fort-
dauern oder sich wiederholen. Im Laufe der Geschichte entstanden immer
kompliziertere Formen der pädagogischen Praxis : und wenn man die Gefahr
einer gewissen Schematisierung der Wirkhchkeit nicht scheut, so kann man
sagen, daß die pädagogische Praxis heute bald ein naiv-instinktives Tun ist,
bald Routine, bald Kunst, bald Technik. Wichtig ist, daß die pädagogische
Praxis der Vergangenheit und Gegenwart und zwar in keiner ihrer Formen,
Erkenntnis ist, auch dort nicht, wo sie Erkenntnisse verwertet, anwendet,
einschheßt.
Diese pädagogische Praxis muß mir nun Problem werden, wenn ich päda-
gogische Theorie treibe; sie ist ein Gegenstand, vielleicht der erste, den der
pädagogische Theoretiker sollte erkennen wollen. Pädagogik als Wissen-
schaft ist doch die Theorie, die wissenschaftliche Erforschung der Tatsache
des pädagogischen Tuns; ist dies mindestens auch.
Denkt man in dieser Einstellung über das Verhältnis von Tat und Theorie
nach, so endigt man bei einer für alle pädagogische Forschung und
Wissenschaft unerläßlich wichtigen und grundlegenden Auf-
gabe, für welche ich den Namen deskriptive Pädagogik übernehmen
möchte — trotz der etwas anderen Bedeutungen, die er dort und da in der
Literatur bereits erhalten hat. Ich halte es für notwendig, in der Gegenwart
mit ihren stark praktisch-reformerischen Tendenzen auf diese m. E. ent-
scheidende Aufgabe einer reinen, soweit als möglich interesseloser Erkenntnis
dienenden pädagogischen Theorie immer wieder hinzuweisen.
Das Verhältnis der Theorie zur Praxis der Erziehung ist nämlich vielfach
ein ganz anderes. Die Theorie kritisiert die Praxis, will sie verbessern,
reformieren, fortbilden. Es soll nicht geleugnet werden, daß die Theorie dazu
kompetent ist, aber man soll auch nicht vergessen, daß der bestbegründete
Reformvorschlag keine Antwort auf die Frage nach der Struktur der heu-
tigen pädagogischen Praxis gibt. Oder vielfach versteht man unter der päda-
gogischen Theorie eine Anleitung zum Lehren und Erziehen; namentlich
in den Lehrer- und Oberlehrerseminaren verbindet sich gern mit dem Aus-
druck ,, pädagogische Wissenschaft" dieser Sinn, wird die Stunde, in welcher
nominell Theorie der Erziehung getrieben wird, dazu verwandt, vorzumachen
und zu erläutern, wie man in dieser oder jener Disziplin zu unterrichten, in
diesem oder jenem Fall von Schul er vergehen vorzugehen habe. Auch diese
Anleitung, die den Sinn von Theorie freilich ganz verfehlt, wird oft erteilt,
ist möghch, ohne daß das Verhalten, zu dem angeleitet wird, genau be-
schrieben und analysiert wird und zu werden braucht. Ein drittes Verhältnis
^) Vgl. A. Fischer: Über die Bedeutung des Experiments in der pädagogischen
Forschiing. (3. Pädag. Jahrbuch, 1913, Leipzig, J. KUnkhardt, Seite 305 ff.)
Deskriptive Pädagogik. 83
der Theorie zur Praxis liegt in den Versuchen, eine bestehende Praxis mit
ihren Zielen und Wegen zu Ij^egründen, zu rechtfertigen, eine Schulform,
einen Lehrplan, ein Unterrichtsmittel zu rechtfertigen, rein aus Prinzipien
heraus oder mit polemischer Wendung gegen Mißverständnis und Angriff.
Auch zur Lösung dieser Aufgabe ist eine nur allgemeine Kenntnis der päda-
gogischen Praxis zulänglich.
Sehen wir scharf zu, wie heute, man kann sagen in der Mehrzahl der Fälle,
die pädagogische Forschung und Theorie zur Praxis steht, so finden wir : sie
kritisiert oder begründet, reformiert oder tradiert; und das, was für alle
diese Leistungen als Voraussetzung erforderlich ist, die genaue, sorgfältige
Beschreibung und Analyse des aktuellen pädagogischen Tuns wird darüber
so kurz als möglich behandelt, gar nicht so ernst genommen, weil jeder
meint, diese Tatsachen schon zu kennen, sobald er von ihrer
Existenz weiß, und weil die neuen Vorschläge, die Kritik an sich höher
gewertet werden als ein solides Verständnis des Bestehenden. Man neigt
dazu, das Bestehende, unbesehen und ohne den ernsten Versuch des Ver-
ständnisses, als ungenügend vorauszusetzen; diese Neigung kommt auch dem
,, Recht des Lebenden" entgegen; man will, und gerade in der Pädagogik, die
Sache so machen, wie man sich's selber denkt ; da scheint es überflüssig, zu
studieren, wie es schon gemacht wird. Jeder hat irgendeinen Spezial-
wunsch, Einfall, Teilgedanken, eine Sondererfahrung; es liegt nahe, für ihn
Pi'opaganda zu machen, ihn zu verbreiten und in die Wirklichkeit einzuführen
— ohne daß es nötig scheint, von dieser pädagogischen Realität mehr zu
wissen als eben dies, daß der fragliche Gedanke, Plan, Einfall in ihr noch
nicht realisiert ist.
Ich möchte wahrhaftig nicht der Stagnation in pädagogischen Fragen das
Wort reden; unaufhörlich muß an der Fortentwicklung des Bildungswesens
gearbeitet werden; auch die pädagogische Theorie hat Pflicht und Recht,
dabei mitzuschaffen, und zwar durchaus nicht nur als kritische Kontrolle.
Aber ich meine, daß die Theorie erst die Aufgabe hat, die Tatsache
Erziehung im Ganzen und die Einzeltatsachen der Erziehung
nach ihrem historischen und aktuellen Bestände genau zu
studieren. Und in dieser Grundaufgabe ist die Deskription eingeschlossen,
die reine, allerdings so tief als möglich geführte Beschreibung und Zergliede-
rung der Einzelheiten der pädagogischen Praxis.
Die Deskription fehlt ja in der Pädagogik nicht vollständig, das ist infolge
der Natur der übrigen wissenschaftlichen Aufgaben einfach ausgeschlossen;
sie nahm und nimmt in den einzelnen Problemgruppen einen verschieden
großen Raum ein: aber es ist doch Tatsache, daß die Deskription 1. sich
meist auf die der Geschichte, d. h. der Vergangenheit angehörigen Praktiken
beschränkt — (als ob die heutigen jedermann bekannt, durchsichtig, pro-
blemlos wären und nicht beschrieben zu werden brauchten!) und 2. daß sie
nur in seltenen Ausnahmen so getrieben wird, wie sie es kann und im Inter-
esse der Erkenntnis muß. Die Bedeutung und zugleich die Schwierigkeit
der Beschreibung wird oft unterschätzt, Beschreibung selbst als Kenntlich-
machung, Benennung, Angabe einzelner, die Identifizierung garantierender
Merkmale mißverstanden.
6*
84 Deskriptive Pädagogik.
Daß die Aufgabe der Deskription nicht nur gegenüber den der Vergangen-
heit angehörigen Praktiken der Erziehung möglich und notwendig ist, scheint
mir keines eigenen Beweises zu bedürfen. Die Geschichtsschreibung des
Bildungswesens macht reichlich von ihr Gebrauch; aber an sich ist die Be-
schreibung keine spezifisch historische Methode. Man kann sich ihr bei der
geschichtlichen Betrachtung der Erziehungstatsachen nur weniger leicht
entziehen, weil der Umstand, der die Beschreibung der Gegen wartseimich-
tungen so leicht überflüssig erscheinen läßt: die vorausgesetzte allgemeine
Bekanntheit, auf die Tatbestände vergangener Zeiten und entfernter Völker
nicht zutrifft. Allein man richte nur einmal an einen Kandidaten des höheren
Lehramts, meinetwegen sogar an einen im Beruf stehenden Lehrer die Auf-
forderung, die Vorgänge in einer einzigen Schulstunde, der er als Hospitant
anwohnte oder die er selbst gegeben hat, zu beschreiben, und man wird sich
leicht überzeugen, daß vielfach nur eine Aufzählung der einzelnen mar-
kanten Akte des Lehrers und der Schüler, bzw. einzelner von selbst im
Gedächtnis gebliebener Tatsachen als Beschreibung zum Vorschein kommt.
Genau beschreiben, was der Schüler tut — wenn er z. B. ein Gedicht inter-
pretiert, einen Satz kopiert, eine eingekleidete Rechenaufgabe durchdenkt,
um den Ansatz zu finden — erfordert eine hochentwickelte psychologische und
pädagogische Achtsamkeit, eine Weite der Einfühlung und des Nachver-
stehens, die, als Naturgabe nicht häufig, erst als Resultat einer guten Schulung
zu erlangen ist. Dabei meine ich mit Beschreibung nicht etwa die Lösung
der noch offenen Probleme der Phonetik, Linguistik usw., sondern wesent-
lich die genaue und erschöpfende Wiedergabe der im Bewußtsein des lernen-
den Kindes selbst unterschiedenen Einzelheiten des Erlebnisses.
Seine wissenschaftliche Fruchtbarkeit entfaltet das Prinzip der Beschrei-
bung sowohl für die Geschichte des Bildungswesens wie für die Theorie des
pädagogischen Tuns freilich nur dann, wenn man die Beschreibung ernst
nimmt und bis zu dem Grad der Vollendung durchbildet, dessen sie über-
haupt fähig ist. Die phänomenologische Philosophie^), die im Laufe des
letzten Jahrzehnts erwachsen ist, von mehreren Ausgangspunkten her und
mit verschiedenen, ihrer Grundabsicht nicht notwendigen Nebeninteressen
1) Man vergleiche hierzu C. Kreibig: Die jüngste Wendung im philosophischen
Denken tmd die Pädagogik (diese Zeitschrift, 1913, Heft 11, Seite ö45ff.). Leider
ist die „Phänomenologie" speziell Hiisserls als „Phänomenalismvis" bezeichnet
worden, mit dem Namen eines metaphysisch-erkenntnistheoretischen Standpunkts,
für welchen die Frage nach der Realität der Außenwelt, eines Ich, der Vergangen-
heit usw. keinen Sinn hat bzw. von vornherein als negativ beantwortet feststeht,
weil die Gegebenheiten der Erfahrtmg lediglich als Erschein\mgen gelten dürfen.
Abgesehen von dieser falschen Bezeichnung ist Kreibigs verdienstvolle Zusammen-
fassung auch in dem einen Punkt verbesserungsbedürftig, der die Bestrebungen der
Algorithmiker imd Gegenstandstheoretiker mit denen der Phänomenologen unter-
schiedslos zusammengreift. Das Interesse an den gültigen Beziehtmgen als solchen,
das für Logik, Algorithmik und Gegenstandstheorie primär ist, tritt in der Phäno-
menologie an zweite Stelle, hinter die deskriptive, auf die Schau des,, Wesens "luid die
Erkenntnis von Wesensgesetzen (erst als Spezialfall dieser werden Relationen wich-
tig 0 gehende Intention, avif Selbstgegebenheit der Sachen. In dieser Einstellving
entgeht man der Gefahr, das Wesen eines Gegenstandes aufzulösen in ein Netz
von Relationen, welcher die Algorithmiker fast nie entgangen sind.
Deskriptive Pädagogik. 85
behaftet, hat uns das Wesen der Beschreibung erst gezeigt, uns in der Be-
schreibung geübt, uns in der-^Fortbildung ihrer in allen Wissenschaften be-
reits vorhandenen Anfänge und Ansätze einen Weg zu Erkenntnissen er-
schlossen, den man mit historischer Terminologie und zugleich auf die Gefahr
vieler Mißverständnisse hin als deduktiven Apriorismus zu bezeichnen ge-
wohnt war, der jedoch in Wahrheit weder Deduktion, d. h. syllogistische
Ableitung und Bewahrheitung von Sätzen aus anderen, noch reiner Aprio-
rismus in Kantischer Auffassung ist.
Beschreibung ist nicht bloß Bezeichnung eines Gegenstandes. In
der Psychologie, beim Forschungs- wie beim Demonstrationsexperiment
macht man immer wieder die Erfahrung, daß der naive Mensch, auch der
wissenschaftlich gebildete, die Aufforderung, seine Erlebnisse, die in einem
Augenblick bei ihm vorhandenen seelischen Vorkommnisse zu beschreiben,
in der Weise erfüllt, daß er sie benennt ; es ist dabei stillschweigend voraus-
gesetzt, daß die Benennungen von der Mehrzahl der Menschen sowohl richtig
angewandt als auch richtig verstanden werden und daß mit dem usuellen
Sinn der Benennung eines Erlebnisses (z. B. als einer ,, Spannung", ,, Er-
wartung", „Enttäuschung") alles geleistet sei, was von einer Beschreibung
desselben gefordert werden könne und dürfe.
Geht man in den Anforderungen etwas weiter, so betrachtet man als die
Aufgabe der Beschreibung die Angabe kenntlich machender Be-
stimmungen; im Grunde entspringt auch diese Auffassung derselben
pra^matistischen Betrachtungsweise wie die Identifizierung von Beschreibung
und Benennung. Man sieht in der Beschreibung nicht eine Aufgabe und
Leistung wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern ein Erfordernis praktischer
Verständigung. Für diese Absicht ist es unter Umständen allerdings ge-
nügend, wenn ich ein Bild, eine Person, ein Vorkommnis in der Weise „be-
schreibe", daß ich einige Einzelheiten hervorhebe, die den Gegenstand ein-
deutig und unverwechselbar kenntlich machen, auf ihn so zwingend hin-
weisen, daß ich sicher sein kann, mein Gesprächspartner meine genau den-
selben Gegenstand, den ich eben gemeint wissen will. Aber man braucht hier
nur die Fälle konkret zu denken, so sieht man ohne weiteres ein, daß diese
kenntlich machen den Bestimmungen es nicht notwendig mit dem Wesen des
zu beschreibenden Gegenstandes zu tun haben müssen ; oft sind Äußerlich-
keiten, zufällig mit ihm verknüpfte Vorkommnisse zur eindeutigen Kennt-
lichmachung durchaus geeigneter, obgleich wir durch sie nichts über den
Gegenstand selbst erfahren, er also durch sie auch in keiner Weise beschrie-
ben wird.
Etwas weiter greift die Bestimmung, welche von der Beschreibung die
vollständige und geordnete Angabe der wesentlichen Merkmale
eines Objektes oder Tatbestandes verlangt. Wie man sieht, ist dabei von
der praktischen Aufgabe der Kenntlichmachung für einen Anderen Umgang
genommen; es sind nicht mehr beliebige Merkmale, sondern ,,die wesent-
lichen", deren Angabe gefordert ist, und diese müssen vollständig und ge-
ordnet angegeben werden. Aber wenn man nun versucht, diesen Forderungen
bei der Beschreibung zu genügen, so stellen sich zwei außerordentliche
Schwierigkeiten, ja man darf sagen Gefahren ein: entweder gerät die Be-
86 Deskriptive Pädagogik.
Schreibung bei der Häufung der Merkmale ins Unendliche oder in eine Aus-
wahl nach vorgefaßten, bewußten oder nur tatsächlich wirksamen Theorien.
Die erste Gefahr ist dann gegeben, wenn man über die ,,Wesentlichkeit"
eines Merkmals nichts präsumiert, sondern das Dasein eines Merkmals
auch als Rechtsgrund, es in der Beschreibung zu nennen, gelten läßt; die
zweite Gefahr stellt sich ein, wenn man die ,, Wesentlichkeit" urgiert; man
muß dann ein Prinzip der Auswahl, einen Gesichtspunkt haben, im Hinbhck
auf welchen den einzelnen Merkmalen die ,, Wesentlichkeit" zu- oder abge-
sprochen wird. Dabei geschieht es nun leicht, daß nicht das Wesen der
Sache selbst die Wesentlichkeit bestimmt, sondern z. B. eine
vorgefaßte Theorie, ein wissenschaftlicher Parteistandpunkt, wenn nicht
gar ein politischer, sozialer, religiöser, d. h. außerwissenschaftlicher, hetero-
nomer Gesichtspunkt maßgebend wird. Für die Beschreibung ist aber conditio
sine qua non der wissenschaftlichen Brauchbarkeit und Ergiebigkeit, daß sie
theoriefrei, in diesem Sinne voraussetzungslos geschieht.
Die von E. Husserl vor rund einem Jahrzehnt literarisch eingeleitete phäno-
menologische Forschung setzt sich die theoriefreie Beschreibung zur Haupt-
aufgabe ; sie ist inzwischen von Anhängern und Gleichstrebenden über das
Gebiet der Analyse der Erkenntnis, auf dem sie zunächst ausgebildet worden,
hinaus entwickelt und auf alle Gebiete, in denen Gegebenes und Letztes
aufzeigbar ist oder vermutet wird, angewandt worden. Es ist auch einleuch-
tend, daß Jede Wissenschaft, die in ,, Richtungen", ,, Schulen" gespalten
ist, innerhalb welcher sich Problemstellungen und Methoden, erst recht
natürhch die Resultate, divergierend gegeneinander absetzen, entweder sich
selbst aufgeben muß, als ein notwendig in die Widersprüchhchkeit des
Denkens, damit in die Unlöslichkeit der Probleme führendes Unternehmen,
oder daß sie das ttou gtco finden muß, den unbezweifelbaren Ge-
wißheitsgrund eines allgemein zugestandenen (oder wenigstens in sachlicher
Geisteshaltung zuzugestehenden) Ausgangspunktes, von dem aus es mög-
hch wird, über die ganzen Richtungen selbst kritisch zu entscheiden. Wir
sind gewohnt, eben diesen Ausgangspunkt als ,,die Tatsachen" eines Wissen-
schaftsgebiets zu bezeichnen. Aber wir übersehen bei der Handhabung dieses
Wortes sehr leicht, daß die Schwierigkeit der Forschung eben darin besteht,
sowohl formal zu bestimmen, was als Tatsache zu gelten hat, was das heißt:
„Tatsache", als sachlich die Tatsachen irgendeines Gebietes, die den Aus-
gangspunkt der Forschung bilden sollen, zu finden und zu kennzeichnen.
Es ist leichter, die Fragestellung einer Wissenschaft deuthch zu machen, als
die Tatsachen, auf die sich die Fragestellungen richten, in einer über den Hin-
weis hinausgehenden Eindeutigkeit und sachhchen Deutlichkeit zu beschreiben.
Eben diese grundlegende Aufgabe, die Tatsachen eines Ge-
bietes festzustellen, und zwar in solcher Weise, daß sie die
Voraussetzung für das Verständnis der Problemstellungen
bilden wie die letzte Instanz, auf die bei der Lösung der
Probleme zu rekurrieren ist, will die Beschreibung in ihrer
phänomenologischen Durchbildung leisten.
Aus dem Gesagten erhellt, daß die Beschreibung auch für die Pädagogik
eine große und grundlegende Bedeutung besitzt; gehört doch die Pädagogik
Deskriptive Pädagogik. 87
in erster Linie zu den Wissenschaften, in denen Schulen und Richtungen so
zahlreich und verschieden sind^ daß man überhaupt an der Möglichkeit
eines rein wissenschafthchen Systems gezweifelt hat und zweifeln kann.
Ich möchte deshalb die Möglichkeit, Aufgabe und Bedeutung einer deskrip-
tiven Pädagogik in kurzer Skizze umreißen, in der Absicht, dadurch den
Boden bereiten zu helfen oder wenigstens zu bezeichnen, auf den alle Rich-
tungen des pädagogischen Denkens : die historischen, dogmatischen, exakten,
experimentellen, die religiösen, die Herbartianer, Rousseauschüler, Plato-
niker, die Instinktpädagogen und Organisatoren — sich stellen müssen,
sowohl wenn sie ihren eigenen Standpunkt endgültig begründen oder gar mit-
einander sich verständigen bzw. in stichhaltiger Endgültigkeit auseinander-
setzen wollen, als auch sich stellen können, weil er noch keine theoretische
Stellungnahme enthält oder präjudiziert.
Die Grundfrage aller Deskription lautet, was ein (in der Erfahrung)
Gegebenes sei. Alle Pädagogik und alle Richtungen der Pädagogik reden
von ,, Erziehung", ,,von Einwirkung der älteren Generation auf die
jüngere". Wenigstens von einem ,, Verhältnis des Erziehers zum Zögling";
jede Richtung glaubt, diese so bezeichneten Tatsachen genau zu kennen,
und schickt sich dann sehr schnell an, zu sagen: was und wie ,,die Erziehung",
die „Einwirkung" nun sein soll. Aber sind die flüchtigen Angaben und Hin-
weise, mit denen die einleitenden Kapitel der Lehrbücher der Pädagogik an-
gefüllt zu sein pflegen, wirkliche Deskriptionen ? Erschöpfende Antworten
auf die Frage : Was ist? Es scheint mir, daß man über der de finitori sehen
Absicht und der Kennthchmachung des Gegenstandes die Beschreibung
vergißt.
Ich möchte auch dem Mißverständnis vorbeugen, daß mit der Forderung
der Beschreibung als einer gültigen Beantwortung der Frage: was ein
Ding sei, nichts anderes gemeint sei, als daß der Sinn der verwendeten Be-
trriffe richtig und eindeutig feststehe. Nein, es kommt nicht darauf an, daß
in der deskriptiven Fundamentierung einer Wissenschaft die verwendeten
Worte alle mit ihrer usuellen Bedeutung übereinstimmen, auch nicht dar-
auf, daß man mit anderen Worten die Bedeutungssphäre eines Be-
griffs nochmals bezeichnen kann und bezeichnet, daß der Begriff als solcher
seinen Sinn hat — solche Fragen berühren die Korrektheit des Ausdrucks,
geben Antwort auf die Zweifel von Sprachforschern, ob ein Wort hier und
jetzt richtig in seiner usuellen Bedeutung verwendet ist, aber sie sagen
nichts aus über die mit einem Namen, Wort, Begriff bezeichnete Sache.
So ist die Forderung mancher Erkenntnistheoretiker, jede Wissenschaft
müsse am Anfang den Sinn ihrer Begriffe klären, zweideutig: man kann
darunter verstehen die sprachliche Definition des unter ein Wort fallenden
Bedeutungsgebietes oder die Beschreibung der Gegebenheiten, welche dem
Wort (und allen „Begriffen") ihre Bedeutung geben. Nicht der Sinn der
Worte, d. h. die Verdeutlichung der sprachlichen Meinung, sondern die Be-
schreibung des gemeinten Etwas ist die alle Forschung grundlegende, sogar
die Fragestellung erst ermöglichende Aufgabe der Wissenschaft.
Auch in der Pädagogik muß man fragen, was eine aus der pädagogischen
Erfahrung bekannte Gegebenheit sei, darf sich nicht damit begnügen, sie
88 Deskriptive Pädagogik.
ebensoweit zu kennen, als die erste Besinnung reicht oder gar die einfache
Erinnerung den fraghchen Tatbestand festgehalten hat.
Indem ich es als Aufgabe der Deskription bezeichne, zu erkennen und zu
beschreiben, was ein Gegebenes ist, laufe ich freihch Gefahr, mißverstanden
zu werden. Man könnte nämlich einwenden, daß ein Gegebenes seinem
Wesen, seiner Konstitution und ,, wahren" Natur nach erst am Ende der ge-
samten wissenschaftlichen Forschung darüber erkannt werden kann. Spricht
jemand z. B. von Eis, so könnte man glauben, daß eine Antwort auf die Frage :
Was ist das Eis ? erst dann möghch ist, wenn man über das Gegebene, über
das Eis als Gegenstand der unmittelbaren Wahrnehmung längst hinaus-
gegangen ist, es chemisch analysiert hat und dabei feststellen konnte, daß
es Wasser in einem anderen Aggregatzustand ist.
Aber an diesem Beispiel wird zugleich der verschiedene lOang und die
verschiedene Intention der Frage: Was ist? deutlich. Als Leitfaden der
Deskription zielt diese Frage lediglich auf eine erschöpfende
Charakteristik des Gegebenen als solchen, nach den Seiten, die
unmittelbar an ihm erfaßbar sind, ohne Änderung der Gegebenheit, ohne
,, Reduktion" auf anderes, ohne Rekurs auf eine möghche Genesis. Die
letztere Aufgabe, ein Gegebenes auf ein Anderes zurückzuführen, es genetisch
aus dem Anderen herzuleiten, setzt ja doch voraus, daß das Gegebene mit
den in seiner Sphäre ihm eigentümlichen Seiten und Beschaffenheiten uns
unverwechselbar bekannt ist; sonst können wir nicht mit Sicherheit be-
haupten, wirkhch dieses Gegebene genetisch erklärt zu haben.
In den Naturwissenschaften ist die Beschreibung des Gegebenen schon eine
seit Jahrhunderten geübte Tradition; die Naturwissenschaften haben es auch
verhältnismäßig leicht, die Aufgabe der Beschreibung zu erfüllen: die Ob-
jekte sind dauerhaft, Fehler können korrigiert, Vergeßlichkeiten ergänzt
werden.
Aber in der Psychologie und auch in der Pädagogik ist die Beschreibung
nicht nur von allergrößter Tragweite, sondern zugleich sehr schwierig. Hätte
man z. B. eine genaue Deskription der Affekte in ihrer erlebten Qualifi-
zierung erstrebt, so wäre eine Theorie, wie die von C. Lange, nach der Affekte
nichts anderes sind als Verschmelzungsprodukte von Körperempfindungen,
einfach unmöglich gewesen, und niemand hätte die sogenannten künstlichen
Affekte, d. h. die durch Gifte oder Krankheiten hervorgerufenen Komplexe
von Viszeralempfindungen (welche allerdings Affekte nach sich ziehen können)
für eine Erklärung der Affekte gehalten; denn die echten Affekte selbst in
ihrer in der unmittelbaren Gegebenheit des Erlebnisses noch faßbaren Eigen-
art sind andere Tatbestände als die gleichfalls in ihrer Eigenart faßbaren
Komplexe von Organempfindungen; eine ,, genetische Theorie" erklärt also
nicht den Affekt, sondern ersetzt ihn durch einen anderen Tatbestand, der
höchstens als Teil des echten und vollen Affektes Anerkennung verdient.
Möglich wird eine solche Problemverschiebung, weil die grundlegende Auf-
gabe, die Deskription nicht oder nicht ernsthaft in Angriff genommen wurde,
das „Bekanntsein" mit Affekten für ein „Kennen" derselben genommen wird.
Am Anfang aller Wissenschaft muß man also beschreiben, d. h. fragen,
was die mit den Worten des betreffenden Gebietes bezeichneten Dinge und
Deskriptive Pädagogik. 89
Sachverhalte sind; und zwar die Sachverhalte in ihrer natürlichen, vortheo-
retischen Gegebenheit, als ,, Tätsachen", welche die Probleme der jeweils in
Frage kommenden Wissenschaft noch enthalten, erst möglich machen. Man
muß die EYage : was ein G-egenstand sei, so weit treiben, bis weiter zu fragen
evident unsinnig wird; und man muß diese Frage dabei immer richten auf
das Gegebene als solches, in seiner Daseinssphäre, sie nicht umbiegen oder
hineingeraten lassen in eine andere: ,,'Was ist?"-Frage, nämlich in die Frage
der verstehenden bzw. erklärenden Theorie.
Alle erklärende ,,Was ist"?-Frage, alle genetische Fragestellung wird in
streng wissenschaftlicher Geisteshaltung erst möglich, wenn die deskriptive,
„Was ist?"-Frage endgültig beantwortet ist. Es ist zwar faktisch möglich,
oft auch geübt worden und vielfach ohne Gefahr, daß man vorher zu erklären
anfing, aber eine wissenschafthche Garantie, daß die Probleme richtig ge-
stellt sind, die Erklärungsversuche nicht daneben treffen werden, kann man
nur dann übernehmen, wenn der Tatbestand selbst in der Gegebenheit, in
der er problematisch wird, als vollständig und richtig beschrieben gelten
kann. „Erst muß man wissen, was das ist, das man erklären will, und dann
kann man zu erklären suchen, was es ist", könnte ich paradox unter Be-
nutzung der prinzipiellen Doppeldeutigkeit der Was ist?-Frage sagen.
Wir stellen also auch in der Pädagogik die Frage; Was ist Erziehung?
Einwirkung auf andere ? Lesen ? Deklamieren ? Rechnen ? Wir stellen die
Frage am Anfang der Forschung, um die Objekte, um deren Theorie es sich
dann handeln soll, so kennen zu lernen, wie sie gegeben sind. Und wir be-
gnügen uns nicht mit Hinweisen, kenntlichmachenden Bestimmungen, An-
gabe einzelner Merkmale, sondern wir fragen immer weiter ,,was ist die Er-
ziehung?", diese Tatsache, von der wir reden, dieser Gegenstand einer theo-
retischen Pädagogik, bis wir alle Bestimmungsstücke derselben in der uns
unmittelbar zugänglichen Gegebenheit klar haben. Gelingt uns dies, so
kennen wir mit dem Objekt unserer Wissenschaft zugleich die möglichen
Problemstellungen und gewisse Richtungen der Lösung, wissen jedenfalls,
wohin wir immer zurückzukehren haben, wenn im Verfolg der theoretischen
Arbeit Unsicherheiten oder Widersprüche auftreten.
In sehr vielen Fällen ist es nun weder leicht noch ohne weiteres möglich,
das Gegebene zu beschreiben. Es ist eine eigene Einstellung dazu erforderlich,
ein „sich zur Gegebenheit bringen", in der Ausdrucksweise der Phänomeno-
logie. Man darf jedoch dieses ,,sich zur Gegebenheit bringen" weder als einen
Akt der Produktion auffassen, durch welchen das Gegebene als solches erst
entsteht, noch als einen distanzierenden, vergegenständlichenden Akt der
Rcflektion, durch welchen das Gegebene aus einem bloß Gegebenen in
ein ,, Aufgefaßtes" (,, Erkanntes" eventuell ,, Beurteiltes") umgewandelt wird;
eine solche Umdeutung würde ja die Antwort auf die Frage: was ist? ge-
radezu unmöglich machen, weil niemals der Gegenstand selbst in seiner
ursprünglichen Daseinsweise („die Wirklichkeit", „die Tatsachen"), sondern
schon Begriffe von den Gegenständen, wenn auch rohe, den Ausgangs-
punkt der wissenschaftlichen Fragestellung bilden würden. Das „sich zur
Gegebenheit bringen" ist deshalb weniger ein positiver Akt als vielmehr
eine „Abstraktion von", ein ,, nicht zur Geltung kommen lassen", eine Re-
90 Deskriptive Pädagogik.
duktion all der Einschläge, Zusätze, Namen, welche die Unmittelbarkeit des
Gegebenen beeinträchtigen und das Gegebene selbst (in „seinem Wesen")
verdecken. Zu diesen die Erkenntnis erschwerenden Verdeckungen gehören
z. B. alleWirklichkeitssetzungen, Deutungen, Zuteilungen zu irgendeinem Reich
der Realität, dem physischen, dem psychischen usw. Derartige Angaben in
die Beschreibung aufnehmen, heißt nicht voraussetzungslos verfahren, heißt
aber auch nicht mehr beschreiben, insofern Beschreibung eben auf die Quali-
fizierung des Gegebenen vor aller Theorie abzielt, des Gegebenen als
Gegebenen, der ,, reinen Tatsachen", die erst irgendwie sichtbar gemacht
sein müssen, wenn die weiteren Begriffe der Theorie, auch der vorwissen-
schaftlichen Vulgärtheorie sollen angewandt werden dürfen. Die Tat-
sachen müssen doch darüber entscheiden, welche Begriffe auf sie angewandt
werden dürfen ; dazu aber müssen diese Tatsachen selbst in einer nicht schon
mit Hilfe von ,, Theorien" (wenn auch vulgären und infolge ihrer univer-
sellen Verbreitung gern übersehenen Theorien) vollzogenen Beschreibung
festgestellt worden sein. Das unmittelbar Gegebene als solches wird nun
Phänomen genannt, nicht um es damit als etwas Unwirkliches zu charakteri-
sieren, sondern um es als den von allen Wirklichkeitssetzungen und theo-
retischen Formungen freien Tatsachenstoff zu kennzeichnen, wie er den
Ausgangspunkt der Forschung und die letzte Instanz für die Legitimation
ihrer fortwährenden Schöpfung von Begi'iffen, Gesetzen, Zusammenfassungen
und Theorien bildet.
Sagt man nun, die Erziehung sei eine Tatsache, so ist damit die Not-
wendigkeit einer theoriefreien Deskription eo ipso anerkannt ; man muß sich
die Tatsache Erziehung, oder wie ich jetzt, um die Mißverständnisse auszu-
schließen, sagen darf, das Phänomen Erziehung als Ausgangspunkt und
Diktator der Probleme sichern. Damit ist zugleich gesagt, daß diese Deskrip-
tion keine ,, historische" ist, sondern eine solche, die auch geschichthche Be-
schreibung allererst möglich macht, weil sie die Wesenslinien dessen fest-
legt, was Erziehung ist, demgemäß Jurisdiktion darüber besitzt, ob ein be-
stimmter „historischer" Sachverhalt eine „Erziehung" war. Diese Deskrip-
tion besitzt für die Geschichte der Erziehung, für die Darstellung der
Anfänge bei den sogenannten Naturvölkern gerade so Bedeutung, wie für
die Beschreibung der heutigen (also auch einer „geschichtlichen") Phase des
Erziehungswesens, wie für die Theorie der Erziehung überhaupt, ohne Rück-
sicht auf die zeithch und örtlich bedingte Mannigfaltigkeit derselben.
Will man nun einen Tatbestand, der dann erforscht werden soll, so be-
schreiben, wie er ist, in phänomenologischer Reduktion unter Verzicht auf
vorgefaßte Deutungen, dann ist dazu erforderlich, daß man ihn selbst mit
unbeirrbarer Fixation ins Auge faßt und festhält, die einzelnen Merkmale
sich deutlich machen oder deutlich werden läßt, und nicht eher einen Namen,
gar einen Terminus in Anwendung bringt, als bis die Struktur des Gegen-
standes, seine Stellung zu mir, seine Teile und abstrakten Momente, soweit
das Alles in der einfachen Gegebenheit des Gegenstandes mitgegeben oder
wenigstens mitgemeint ist, durchsichtig geworden ist.
Dazu ist aber außer der phänomenologischen Einstellung und innerhalb
derselben geistige Aktivität und der Übergang zur methodischen Beschreibung
Deskriptive Pädagogik. 91
erforderlich ; es genügt nicht, ein Gegebenes unverwandten Auges sozusagen nur
anzustieren. Gewiß schaut man^dabei auf es selbst hin, erfüllt also die erste
und elementarste Vorbedingung der Beschreibung, aber wie derjenige, der die
Augen offenhält und starr auf eine Farbe blickt, diese Farbe zwar ,, sieht", aber
nicht notwendig erkennt, nicht notwendig ,,als" Farbe, als diese oder jene
Farbe auffaßt, so ist auch der Phänomenologe verpflichtet, das Gegebene, als
solches es innerlich festhaltend, zu charakterisieren, zu qualifizieren. Handelt
es sich um Letztes, so ist diese Aufgabe niemals voll erfüllbar : das kommt in
dem längst bekannten Satz zum Ausdruck, daß Letztes (ebenso wie in
seiner Art ,, Einziges") nicht eigenthch beschrieben, sondern nur aufgezeigt
werden könne. Ich gebe das zu, meine aber, daß eben dieses Aufzeigen
erleichtert oder erschwert, die Verständigung über Letztheiten (Einzig-
keiten) ermöglicht oder gefährdet wird, je nach der Art der Ausdrücke, die
man dafür wählt, und besonders je nach der Sorgfalt, mit der man sie präzi-
siert. Außerdem: kann man Letztes auch nicht mehr beschreiben, sondern
sozusagen nm* als Sinnerfüllung von Namen festlegen, so kann man es doch
in mehr oder weniger genauer und vollständiger Weise unterscheiden,
sei es von anderem Letzten, sei es von Vorletztem. Schließhch ist ja die
Behauptung, daß etwas ein Letztes sei, selber nur realisierbar bei einer auf
Deskription gerichteten phänomenologischen Geisteshaltung im allgemeinen
und nach endgültiger Erfolglosigkeit der Versuche, anders als durch Unter-
scheidung und Entgegensetzung zu charakterisieren.
Ist das Gegebene, das beschrieben werden soll, kein Letztes (Einziges,
Einfaches), so erfordert seine Beschreibung nicht nur die möglichst genaue
Bezeichnung, die vollständige Unterscheidung von der nächstähnlichen
Gegebenheit, sondern auch die Analyse seiner Zusammensetzung, d.h.
nur die im Gegebenen als solchen ohne weiteres vorhandenen und bei
entsprechender Verteilung der Aufmerksamkeit auch entdeckbaren Teile
und abstrakten Merkmale sind dafür erforderüch. Diese deskriptive
Analyse ist scharf zu unterscheiden von jeder konstruktiven. Wenn
jemand z. B. Farbenphänomenologie treibt, d. h. Farben selbst studiert,
vergleicht, ordnet und etwa das Orange zu beschreiben hat, so ist das
Orange als Farbe quali tat in der unmittelbaren Gegebenheit einfach, un-
zusammengesetzt; es hat eine eigene, spezifische Qualität. Will man
diese Qualität besclireiben, so greift man unwillkürlich nach Ähnlichkeiten;
das Orange ist offenbar dem Rot und dem Gelb ähnlich, von Blau und Grün
verschieden; fragt man weiter, ob es dem Rot oder Gelb ähnlicher ist, so
erhält man eine verschiedene Antwort, je nach der konkreten Nuance von
Orange, Rot, Gelb. Es entwickelt sich daraus der Versuch, die „Grund-
farben" selbst als (ideale) Zielpunkte aufzufassen, denen sich die wirklichen
Nuancen mehr oder minder annähern, und die Zwischenfarben als Misch-
farben zu interpretieren. So kommt man dazu. Orange als ein Gemisch von
Rot und Gelb zu beschreiben. Allein es ist einfach Tatsache, daß wer Orange
sieht, nicht Rot und Gelb nebeneinander, übereinander sieht, etwa in kleinen
abwechselnden Punkten oder in Lasuren; Orange als Farbphänomen ist ein-
fach und einheitlich, derjenige aber, der aus Rot und Gelb Orange mischt,
es konstruiert, treibt nicht mehr Phänomenologie. Ähnlich liegt der Fall
92 Deskriptive Pädagogik.
bei der sogenannten Klanganalyse ; der Klang ist für das Ohr als Phänomen
einfach-einheitlich, an dem höchstens in abstracto Merkmale unterschieden
werden können. Die Klanganalyse, welche das Einfache des Klanges als
bedingt durch die Verschmelzung in Wahrheit einfacher Töne erzeugt aus-
weist, ist Beispiel einer konstruktiven (erklärenden), nicht deskriptiven
Analyse.
Auch darüber, ob ein Gegebenes ein Zusammengesetztes ist, ist nur bei
theoriefreier Einstellung auf es selbst und vergleichender Betrachtung anderer
Tatsachen seiner oder anderer Gegebenheitssphären sowohl Vermutung wie
Entscheid möglich.
Jedes Gegebene aber, es mag als Letztes und Einfaches vermutet werden oder
sich unmittelbar als Komplex ausweisen, muß durch Benennung, Abscheidung,
Bild so genau als möglich und als es ohne Änderung seiner Daseins weise, ohne
Zuhilfenahme theoretischer Grundbegriffe möglich ist, beschrieben werden
nach seinem Was ? (Was es selbst ist), seiner Gegebenheit (Wie es jetzt da
ist? geschaut, gemeint, gedacht, mit Worten bezeichnet), nach seiner Stellung
zum erlebenden Ich und zu den gleichzeitigen Gegenständen des Bewußt-
seins. Auf diese Weise wird es möglich, die der Sache wesentlichen
Merkmale vollständig und geordnet zunächst zu finden und
dann anzugeben. In diesem Sinne und in solcher Vertiefung muß die Deskrip-
tion auch in der Pädagogik zu ihrem Recht kommen. Es gibt kaum eine
Einzelheit der Erziehungspraxis, welche schon zuverlässig und erschöpfend
beschrieben ist, nicht einmal alle Jene sind es, die man kritisiert und ver-
bessert, also ändert. Jeder Arbeitsvorgang des Schülers und jeder Grund-
begriff der Pädagogik ist in gleicher Weise geeignet, davon zu überzeugen ;
ich greife ein einziges Beispiel heraus, dessen Anschaulichkeit seine Drastik
entschuldigen möge, um an seiner Hand die Beschreibung in der Pädagogik
und zugleich den Begriff „pädagogische Tatsache" zu verdeutlichen.
Dies Beispiel ist die körperliche Züchtigung. Ein Vater (ein Lehrer) über-
rasche sein Söhnlein (seinen Schüler) dabei, wie es (er) ihn gerade nachmacht ;
natürlich in einem Zug, der dem Vater selbst nicht sympathisch erscheint.
Verblüfft von dieser Entdeckung und ohne weitere Besinnung ahndet der
nachgeahmte Träger der Erziehungsautorität dieses Verhalten mit einem
Klaps (je nach der Gegend Ohrfeige, Maulschelle, Kopfnuß oder sonstwie
genannt).
Was für ein ,, Tatbestand" liegt nun in diesem Beispiel vor? Wenn, in
welchem Sinne ein pädagogischer Tatbestand? Das Beispiel stellt einen
juristischen Tatbestand dar, oder es ist unter juristischem Gesichts-
punkt der Tatbestand festgestellt, wenn wir wissen, daß der Vater wirklich
den Schlag geführt hat, ihn geführt hat, weil er sich durch die Nachahmung
beleidigt, lächerlich gemacht fühlte. Ob man durch die Nachahmung des
Kindes wirklich beleidigt werden kann, scheidet dabei noch aus. Den juristi-
schen Beurteiler interessiert die Wirklichkeit, die Zurechenbarkeit zu be-
stimmten Personen: die Motivation und die Rechtsauffassung des Täters.
Dieselbe Tatsache ist aber auch ein psychologischer Tatbestand,,
oder es gilt, unter psychologischen Gesichtspunkten den Tatbestand festzu-
stellen, der vorliegt, wenn der Vater seinen Sohn schlägt. Psychologisch ist
Deskriptive Pädagogik. 93
dabei wichtig, ob zwischen der Wahrnehmung der Nachahmung und dem
Vollzug des Schlages sich Überlegungen abgespielt haben, oder ob der Schlag
sozusagen reflektorisch erfolgt ist, ob und in welchen Bewußtseinsinhalten
dem Vater der Zusammenhang zwischen der Handlung des Kindes und seiner
eigenen zu Bewußtsein kam, in welchen Inhalten, optischen, kinästhetischen
usw., sich ihm die Nachahmung wie der Vollzug der Handlung zu erkennen
geben.
Wenn ist nun aber der fragliche Tatbestand, wenn sind die „Ereignisse", die
ich in dem zitierten Beispiele im Auge habe, ein pädagogischer Tatbestand ?
Wo und was daran sind die pädagogischen Tatsachen, die Ziele der päda-
gogischen Deskription, die Probleme der pädagogischen Theorie?
Es könnte der Fall sein, daß der Tatbestand der körperlichen Züchtigung
eines Kindes für eine Handlung gar kein pädagogischer ist. Wenn feststeht,
daß der Vater rein im Affekt gehandelt, gar nur reflektorisch reagiert hat,
also jede Absicht fehlte, die Absicht der Vergeltung ebenso wie die der Ab-
schreckung und Besserung, wenn ferner feststeht, daß das geschlagene Kind
nach Überwindung des ersten Schreckens und Schmerzes der Sache auch
keine Bedeutung beimaß, wenn ihm jede weiterzielende Auffassung fehlt,
ihm weder als Strafe, noch als Denkzettel der Schlag im Gedächtnis blieb,
•wenn erst recht jede Einsicht in den Zusammenhang zwischen seiner eigenen
Aktion und der Reaktion des Vaters fehlt, erst recht jede Einsicht in etwa
weitergehende Absichten des Vaters und die Motive seiner Tat — wenn alle
diese Bedingungen erfüllt sind, ist das Vorkommnis der Ohrfeige keine
pädagogische Tatsache.
Es ist nun schon teilweise ersichtlich, wenn ein bestimmter Ablauf von
Geschehnissen Anspruch darauf hat, zu den pädagogischen Tatsachen zu
gehören; es ist damit auch schon erkennbar, was beschrieben werden muß,
wenn diese pädagogischen Tatsachen der wissenschaftlichen Feststellung
zugeführt werden. Entweder müssen auf der Seite des Vaters bestinmite
Absichten nachweisbar und als Motive wirksam sein — er will durch den
Schlag entweder ein Unrecht sühnen (eine ethische Absicht, die noch nicht
ohne weiteres pädagogisch ist), oder er will durch die Bestrafung auf sein
Kind und dessen künftiges Verhalten eine bestimmte Wirkung ausüben,
erreichen, daß das Kind nicht einfach nur gedankenlos sich allen Einfällen
und Anreizen überläßt, sondern sich beherrschen lerne. Solche Absichten
sind aber nur dann vorhanden und wirksam, wenn noch weiteres, nämlich
Interesse am Kind, Bewußtsein der Verantwortung für seine Entwicklung
nachweisbar sind ; und alle diese Motive der Erziehung stehen in unmittelbar
irlebter Beziehung mit bestimmten Persönlichkeitsidealen, die auf Seite des
Vaters den einzelnen Erziehungshandlungen das einheitliche Ziel geben.
Wir beschreiben also einen Tatbestand als pädagogischen, wenn wir in den
dabei beteiligten Menschen gewisse Motive und Zielvorstellungen als vor-
handen und wirksam erweisen, die auf Beeinflussung der Menschen hindeuten,
wenn wir an den beeinflußten Menschen alle Züge hervorheben, welche die
Beeinflußbarkeit als möglich, ethisch und juristisch erlaubt und als notwendig
• ischeinen lassen. Gleichgültig ist dabei — für den Standpunkt der
Deskription — unsereWertung dieser Absichten und Ideale. Es ist
94 Deskriptive Pädagogik.
möglich, daß wir selbst die körperliche Züchtigung als Erziehungsmaßregel
verwerfen, es ist nicht ausgeschlossen, daß wir ein anderes Ideal des wohl-
erzogenen Menschen haben, mit dem es durchaus vereinbar ist, daß ein Kind
lächerliche Seiten der Autoritätspersonen auch lächerlich machen darf; in
der Beschreibung haben wir von unseren Wertungen wie von unseren vor-
gefaßten BegTiffen vollständig abzusehen; wir haben festzustellen, daß ein
Mensch bestimmte Handlungen tut. Reden spricht, Anordnungen erläßt
in der Absicht, damit andere seiner Macht zugängliche Menschen zu beein-
flussen, daß er eine solche Beeinflussung für notwendig und richtig hält,
weil er der Ansicht ist, durch ihre kumulierte Wirkung die abhängigen Men-
schen, solange sie noch plastisch sind, so zu formen, wie ein ihm vorschweben-
des PersönHchkeitsideal es als wünschenswert, als „seinsollend" erscheinen läßt.
Ein pädagogischer Tatbestand liegt aber auch vor, wenn zwar auf der
Seite des Züchtigenden die Erziehungs absieht fehlt, auf der Seite des Ge-
züchtigten aber doch eine bestimmte Wirkung eintritt. Wenn das Kind
durch die Erinnerung an die Ohrfeige tatsächlich veranlaßt wird, bei der
nächsten Versuchung zur Nachspötterei zu widerstehen, wenn es im Verfolg
dieser Entwicklung zur Einsicht in bestimmte Respekts- und Pietätspilichten
reift, so ist eben diese Wirkung eine pädagogische Seite des Sachverhalts,
auch wenn noch nicht gerade Selbsterziehung vorzuliegen braucht. Auch der
Prozeß der bewußten Formung in seinem Unterschied zu dem des Naturwachs-
tums ist ein pädagogischer Grundbegriff, der durch Beschreibung vom Stand-
punkt des Erzogenen aus gefunden und, wenn einmal gesehen, zum Problem
erhoben werden kann.
In einer dritten Hinsicht kann in dem benutzten Beispiel ein pädagogischer
Tatbestand gegeben sein, abgesehen sowohl von der Erziehungsabsicht als
auch von der tatsächlichen Erziehungs Wirkung der Ohrfeige. Die pädagogische
Tatsache, die ich hier noch im Auge habe, liegt in einer tieferen Schicht, ist
von einer bestimmten wissenschaftlichen Einstellung abhängig. Faßt man
nämlich an den ,, Tatsachen" diejenigen Momente ins Auge, durch welche
der Eingriff des Erwachsenen sozusagen provoziert wurde, so entdeckt man
eine neue Schicht der pädagogischen Tatsächlichkeit. Gesetzt, die einzelnen
Handlungen eines Menschen blieben ohne Nachwirkung, einmal vollendet
sind sie auch spurlos dahin und präjudizieren nichts für die Handlungsweise
des Menschen in der weiteren Zukunft, so läge kein Anlaß vor, das nach-
spottende Kind zu bestrafen, so wäre eine solche Bestrafung auch sinnlos ;
man könnte ja entweder getrost der Zuversicht sein, daß das Kind bei nächster
Gelegenheit entweder von selber nicht nachahmen wird, oder müßte doch
die Gewißheit haben, daß auch der Schlag es nicht davon abhalten wird,
weil er ebenso nach wirkungslos vergessen ist wie die Nachspötterei, die er
ahnden und abstellen sollte. Allein die gemachte Voraussetzung trifft nicht
zu, wir leben des Glaubens, daß alle Erlebnisse Spuren hinterlassen, den
Anfang zu Gewohnheiten legen und dadurch eine wesentliche Bedeutung
für das Schicksal und die endliche geistige Form des Menschen erlangen ; wü*
glauben, daß der Mensch plastisch ist, besonders in der Jugendzeit; dieser
Glaube ist die allerallgemeinste, darum fast regelmäßig übersehene Voraus-
setzung der Erziehung im Ganzen, eine Komponente der meisten einzelnen
Deskriptive Pädagogik. 95
Erziehungshandlungen. Auf den Konsequenzen, welche alle Erlebnisse,
unabsichtlich gemachte, durch anderer Menschen Wollen und Direktion
uns zustoßende, in der Persönlichkeit des Erlebenden hinterlassen, baut
auch jede Selbsterziehung auf; auf ihr beruht die indirekte Beeinflussung.
Im Verfolg derartiger Betrachtungsweisen wird an dem oben genannten
Beispiel die indirekte Wirkung des väterlichen Seins eine viel bedeutungs-
vollere Tatsache als der aktive Eingriff. Bedeutet die Gefahr nicht ein Gebot ?
Ein Gebot immer, nicht nur zu einzelnen Stunden und in einzelnen Stücken,
vorbildlich zu sein? Für den Vater (Erzieher) ist es wichtiger, so zu sein,
daß er nicht zu spöttischer Nachahmung herausfordert, als eine solche Nach-
ahmung mit Brachialgewalt in ihrer Äußerung zu unterdrücken. So ent-
hüllt sich uns in tieferen Schichten des Seelenlebens von Erzieher und Zögling
die pädagogische Wirklichkeit, in tieferen Schichten, als diejenigen der be-
wußten Absicht und des planmäßigen Wollens sind.
Wie wir bei der Besclireibung von Absichten und Hilfsmitteln von unserer
Wertung derselben abstrahieren müssen, um die pädagogischen Tatbestände,
welche den Ausgangspunkt der Theorie bilden, zu finden, so müssen wir
auch von jeder präsumtiven, uns überkommenen, aus vorgefaßten Theorien
parat gehaltenen Erklärung des Mechanismus ihrer Wirkung
absehen, zunächst so lange, bis wir den Verlauf der Wirkung vollständig
protokolliert haben. Derjenige beschreibt nicht mehr, welcher irgendeine
Theorie über die Wirksamkeit dei* Körperstrafe (Vergeltung und befriedigtes
Rechtsbewußtsein, Abschreckung und Schutz, Denkzettel und Vorbeugung
gegen Flüchtigkeit und Gedankenlosigkeit) als richtig voraussetzt und ihr
die Begriffe der Erklärung entnimmt. Man muß erst protokollieren, was
an psychischen und äußeren Befunden bei dem einmal (wiederholt) für einen
bestimmten Fehler (einen Fehler bestimmter Art) körperlich bestraften
Kind vorliegt, muß den Zusammenhang dieser Befunde mit dem Straferlebnis
im Bewußtsein des Kindes selbst zum Pi'oblem machen oder wenigstens durch
Ausschluß anderer Erklärungsmöglichkeiten wahrscheinlich machen, daß die
Strafe faktisch so gewirkt hat, auch wenn das Kind kein Bewußtsein von
diesem Mechanismus mehr haben sollte.
Es ließe sich das angezogene Beispiel noch weiter ausbeuten, noch genauer
beschreiben, aber ich lasse es an diesen Hinweisen genügen. Sie sollen zeigen,
daß die Deskription in der Pädagogik nötig ist — zur Festlegung dessen,
was hernach Problem wird, z. B. also zur Erhebung der Frage : wie wirkt die
Körperstrafe als Erziehungsmittel und ist (infolgedessen) ihre Verwendung
ethisch und pädagogisch einwandfrei ? — , daß sie möglich ist (auch bei
vielen Tatbeständen, die man infolge ihrer Alltäglichkeit nicht mehr zu be-
schreiben für nötig erachtet, schon genau zu kennen glaubt, während
man eben immer wieder ein falsches Bild von ihnen weitertradiert), und
daß ihre Technik von Reduktionen abhängt, nämlich von der Ausschaltung
aller vorgefaßten Begriffe, Theorien und Wertungen. Auf die Unter-
schiede zwischen der Deskription in Erkenntnistheorie und Psychologie
einerseits, in der Pädagogik andererseits, hoffe ich später eingehen zu können.
96 Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung.
Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung.
Von Rudolf Peter.
In einem Aufsatze über die psychologische Untersuchung des Zeichnens*)
analysiert Me um an n den psychischen Komplex, der beim Zeichnen gegeben ist.
Er schreibt: „Im allgemeinen wirken beim Zeichnen drei verschiedene psycho-
logische Hauptprozesse zusammen, deren jeder wieder ein mannigfaltig zusanmien-
gesetztes Ganzes von Teilvorgängen ist, nämlich
1. die Tätigkeit des Auges, oder richtiger des Gesichtssinnes überhaupt,
seiner peripheren und zentralen Partien,
2. die Tätigkeit der Hand und des Armes, oder allgemeiner gesagt: die motori-
schen Vorgänge, die der Ausführung des Zeichenaktes dienen,
3. die Apperzeptions Vorgänge bei der Auffassung des zu zeichnenden Objek-
tes, bei der Kontrolle und Überwachung der ausführenden Tätigkeit des
Zeichnens und bei der Auffassung des gezeichneten Produktes,
4. das Zusammenwirken dieser verschiedenen Vorgänge."
Bei der Analyse des 1. Teilvorganges werden genannt: Augenmaß, Tiefen-
schätzung, Raumtäuschungen, Einfluß von Augenbewegungen und Winkel-
schätzung. Vom zweiten dieser Faktoren schreibt Meumann: ,,Von beson-
derer Bedeutung ist die Tätigkeit des Auges auch bei der Schätzung der so-
genannten „Tiefe" oder Entfernung des Objektes, auf der zugleich unser plasti-
sches dreidimensionales Sehen beruht. Da hat die Psychologie vielfach die An-
sicht vertreten (die auch oft von Pädagogen geteilt wird), daß das Sehen der
Tiefenverhältnisse sich erst später entwickelt, später als das flächenhafte Sehen.
So ist es doppelt interessant, die Fähigkeit der Tiefenschätzung auch bei Kindern
durch Messung zu imtersuchen." — Wege zu zeigen, die zur Lösung der Aufgabe
führen: Wie entwickelt sich die Tiefen Wahrnehmung beim Kinde, und welche
Rolle spielt dieser Faktor beim Zeichnen ? — das ist die Aufgabe dieser Arbeit.
Vor dem Aufsuchen von Untersuchungsmethoden ist es notwendig, den
Komplex „Tiefenwahrnehmung" so weit zu zerlegen, als es der bisherigen psy-
chologischen Forschung gelungen ist. Im andern Falle würde eine experimentelle
Untersuchung zu sehr vieldeutigen, schwankenden Ergebnissen führen.
Die Psychologie der visuellen Raumwahrnehmung teilt die verschiedenen
Faktoren, die ein Urteil über die Tiefe von Objekten erzeugen, in zwei Gruppen
und nennt sie primäre und sekundäre Faktoren. Für die letzteren ist auch der
Begriff „Erfahrungshilfen" gebräuchlich. Daraus geht schon hervor, daß die
sekundären Faktoren mit Hilfe der Erfahrung erworben werden, während die
primären Faktoren — wenigstens nach Ansicht der „Nativisten" — ange-
boren sind.
Beim Tiefenschätzen, wie es das praktische Leben erfordert, spielen besonders
die Erfahrungshilfen eine große Rolle. Sie sollen jetzt der Reihe nach vorgeführt
werden. Wenn Entfernungsschätzungen im Gelände vorgenommen werden,
so wird die Tiefe eines Ortes beurteilt nach der Größe, in der wir einen Baum,
ein Haus oder einen Kirchturm sehen, die sich an jenem Orte befinden. Die
^) Zeitschrift für päd. Psychologie u. experim. Pädagogik. XIII, S. 353 ff.
*
Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabtmg. 97
Sicherheit der Schätzung wird durch den Vergleich mit einem objektiv gleich
großen, nahe gelegenen, daruuK subjektiv größer erscheinenden Gegenstande
erhöht. Darum werden Entfernungen sehr stark unterschätzt, wenn solche
Vergleichsgrößen gänzlich fehlen, z. B. auf dem Meere, in einer baumlosen Ebene
oder auf Dünen. Dieser erste Faktor sei ,, Sehgröße" genannt.
Eine Hilfe beim Entfernungsschätzen im Gelände bietet auch die sogenannte
Luftperspektive. Nahe Objekte erscheinen in satten Farben, bei fernen
werden die Farben durch ein gleichmäßiges Grau oder Blau gedämpft, mitunter
fast ausgelöscht. Darum werden bei klarem, sichtigem Wetter Entfernungen
geringer geschätzt als bei diesiger Luft. So liegt in diesem Faktor, wie übrigens
in allen Erfahrungshilfen, zugleich die Möglichkeit, eine Täuschung über die
Entfernung hervorzurufen. Wie dieses Erzeugen einer Täuschung mit Hilfe
des Sehgrößenfaktors experimentell verwertet wird, soll eingehend später ge~
zeigt werden.
Beim Beurteilen geringerer Distanzen ist eine äußerst wichtige Hilfe die
sogenannte Perspektive. Es handelt sich dabei um zwei Erscheinungen,
die aber eng verbunden sind: die perspektivische Richtung und Verkürzung
der Linien. Dabei spielt die größte Rolle die Synthese der Einzelwahrnehmungen
zur Gesamt Wahrnehmung der körperlichen Dinge. Denn an sich ist die perspek-
tivische Richtung oder Verkürzung eines Linienelementes doppeldeutig, falls
sie sich überhaupt in eine Tiefenvorstellung umsetzt.
Ähnliche Wirkung hat die Überschneidung der Konturen, oder, wie
man auch sagen könnte, das Decken von Flächen. Auch hier ist das Auffassen
von ,, Dingen" natürlich wesentlich.
Die Plastik eines Objektes, also das Wahrnehmen geringer Distanzunter-
schiede, beruht zum Teil auf der Verteilung von Licht und Schatten. So
erscheinen Gegenstände plastischer bei tiefem Sonnenstande als an einem Sommer-
mittage.
Bei nahen Objekten werden auch Kopfbewegungen der Tiefenschätzung
helfen. Bei Kopfbewegimg nach rechts wird sich der Seitenabstand zweier Ob-
jekte in verschiedener Tiefe im Sehfelde vergrößern oder verringern, je nachdem
sich das rechts gelegene Objekt ferner oder näher als das links gelegene befindet.
Man hat dieser Erscheinung den Namen : Parallaxe bei Kopfbewegungen
gegeben. Da sie auch bei monokularem Sehen eintritt, im Gegensatz zu einer
Bildverschiedenheit, die gerade an das binokulare Sehen geknüpft ist und von
der sofort ausführlich gesprochen werden soll, so wird sie auch monokulare
Parallaxe genannt.
Allen diesen Faktoren ist gemeinsam, daß sie durch Erfahrung sich ausbilden
und demnach in weitem Maße übungsfähig sind. Ist nun eine Tiefenschätzung
möglich, wenn alle diese Erfahrungshilfen fehlen? Es ist möglich, experimentell
einen solchen Zustand zu erzeugen. Da zeigt sich, daß auch bei Ausschluß aller
bisher genannten Hilfen ein sicheres Urteil über Entfernungen vorhanden ist.
ALs weitaus wichtigster Faktor ist hier die Bildverschiedenheit zu nennen,
die durch den Abstand der beiden Augen entsteht: zwei oder mehrere Objekte
in verschiedener Tiefenlage haben für jedes der beiden Augen verschiedenen
Seitenabstand im Sehfelde. Diese Verschiedenheit der Bilder wird binokulare
Parallaxe oder auch Querdisparation genannt. Da sie seit Erfindung des Stereo-
Zeitochrift f. pftdagog. Psychologie. 7
98 Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung.
skops durch Wheatstone benutzt wird, um durch Darbietung zweier Zeich-
nungen eines Gegenstandes, die dem Augenabstande entsprechen, ein körper-
liches, plastisches Sehen hervorzurufen, wird sie von anderen auch stereoskopi-
scher Effekt genannt.
Wenn die Wahrnehmung der Tiefe mit Hilfe der binokularen Parallaxe ver-
glichen wird mit der durch Erfahrungshilfen gewonnenen, so zeigen sich tief-
gehende Unterschiede. Der Tiefeneindruck, der auf binokularer Parallaxe
beruht, ist vor allem sicherer. Das zeigt sich besonders, wenn gegen ihn Er-
fahrungsfaktoren ausgespielt werden, die für sich allein wirkend, ein entgegen-
gesetztes Urteil bewirken würden. Dann ist der Faktor der binokularen Parallaxe
immer ausschlaggebend. Über systematische Untersuchungen und Experimente
dieser Art wird demnächst an anderem Orte berichtet werden. Der Tiefenein-
druck durch binokulare Parallaxe wird von allen Versuchspersonen auch als
,, anschaulicher" oder ,, sinnfälliger" bezeichnet. Erfahrungshilfen erzeugen
oft kein Tiefensehen, sondern ein Erschließen des Tiefenunterschiedes. Es sind
eben verschiedene Möglichkeiten; der betreffende Faktor kann als Element
direkt in den Wahrnehmungskomplex eingehen, er kann assoziativ mit einer
Tiefenvorstellung verbunden sein und diese infolgedessen reproduzieren, oder
schließlich besteht noch die Möglichkeit, daß auf dem Wege des Denkens, Über-
legens oder Schließens ein Urteil über die Distanzunterschiede entsteht. Nun
besteht folgender charakteristische Unterschied: bei einem Tiefenschätzen
mit Hilfe eines Erfahrungsfaktors ist dieser Faktor immer im Bewußtsein vor-
handen und vom Beobachter leicht anzugeben. Umso leichter, je ausgeprägter
der Vorgang ein Denkprozess ist. Aber auch bei Assoziation zwischen dem
auslösenden Erfahrungsfaktor und der Tiefen Vorstellung ist in den meisten Fällen
der erstere leicht anzugeben. Ganz anders ist das bei der binokularen Parallaxe !
Nur in Ausnahmefällen oder bei intensiver Aufmerksamkeitsrichtung auf diese
Tatsache ist eine Verschiedenheit der Bilder wahrzunehmen. Die Sache liegt
nicht so: wir sehen die Bild Verschiedenheit und diese löst assoziativ oder gar
durch Nachdenken das Tief enurteil aus. Sondern: wir sehen mit aller sinnlichen,
anschaulichen Lebhaftigkeit Tiefe! Darin besteht ja gerade der Unterschied
zwischen der Plastik einer gewöhnlichen und einer stereoskopischen Photographie
oder Zeichnung.
Diese Ausnahmestellung der binokularen Parallaxe hat mit dazu geführt,
sie einen primären Faktor der Tiefenwahrnehmung zu nennen. Wenn dieser
Begriff im Sinne von ,, angeboren" verstanden wird, so hat diese Ansicht aller-
dings ihren Ursprung in der allgemeinen Raumtheorie, die sich ,,Nativismus"
nennt und die überhaupt eine angeborene ,, Raumempfindung" annimmt. Sie
zeigt sich vornehmlich in den Lehren Johannes Müllers, Panums, Herings
und Stumpfs, neuerdings Hillebrands. Nach Ansicht des ,, Empirismus",
wie er in den Werken von Helmholtz und Wundt vertreten wird (Wundt
nennt seine Lehre allerdings nicht empiristische, sondern ,, genetische" Raum-
theorie), entsteht jedoch auch das durch binokulare Parallaxe hervorgerufene
Tiefensehen auf dem Wege der Erfahrung. Nach dieser Auffassung würde also
ein fundamentaler Unterschied zwischen binokularer Parallaxe und Erfahrungs-
faktoren nicht bestehen, eher ein gradueller. Dieser Gegensatz der Theorien
besteht auch heute ungemindert. Die vorliegende Frage durch experimentelle
Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung. 99
Untersuchungen an Kindern ihrer Lösung näher zu bringen, ist bisher noch nicht
versucht worden, obwohl es nahe liegt, die Frage, ob das Tiefensehen durch
Erfahrung entsteht oder nicht, durch direkte Beobachtung an Kindern verschie-
denen Alters und an denselben Kindern im Laufe ihrer Entwicklung zu lösen.
Allerdings stehen dem solche Schwierigkeiten entgegen, daß sie wohl von vorn-
herein für unüberwindbar gehalten worden sind. Über den Versuch zum Bahnen
eines solchen Weges soll im zweiten Teile dieser Abhandlung unter anderm
berichtet werden.
Wird nun außer allen Erfahrungshilfen auch die binokulare Parallaxe ausge-
schlossen, wie es ja beim monokularen Sehen möglich ist, ist dann noch eine
Tiefen Wahrnehmung vorhanden? In ziemlich engen Grenzen: ja! Das Urteil
über Tiefenverschiedenheit wird in diesem Falle durch Akkommodation hervor-
gerufen, vielleicht unter Mithilfe der die Akkommodationsänderungen reflektorisch
begleitenden Konvergenzänderungen der Augenachsen. Nach empiristischer
Auffassung werden durch wechselnde Akkommodation und Konvergenz Muskel-
empfindungen in den äußeren und inneren Augenmuskeln hervorgerufen, und
diese erzeugen, erfahrungsmäßig mit ihnen verbunden, die Tiefenurteile oder
Tiefen Vorstellungen. Da nach Wundts Theorie die Raum Wahrnehmung überhaupt
ein Assoziationsprozeß zwischen einem System intensiv abgestufter Muskel-
empfindungen und einem qualitativ abgestufter Lichtempfindungen, den soge-
nannten Lokalzeichen, ist, so muß nach seiner Meinung das durch Akkommodations-
und Konvergenzänderungen erzeugte Tiefensehen das ursprüngliche, trotzdem
nicht angeborene, sein. Nach nativistischer Auffassung dagegen ist die bino-
kulare Parallaxe der einzige primäre, d. h. in ihrem Sinne der angeborene
Faktor. Konvergenz- und Akkommodationsänderungen lösen z. B. nach Hille-
brands Meinung kein Tiefensehen aus, im günstigsten Falle nur eine indirekt
durch Erschließen gewonnene, unanschauliche Vorstellung der Tiefe, kein Sehen,
sondern ein Wissen.
So haben sich also als Mittel der Tiefenschätzung ergeben:
I. a) Binokulare Parallaxe;
b) Konvergenz- und Akkommodationsempfindungen.
IL a) Sehgröße;
b) Überschneiden der Konturen;
c) Perspektivische Richtung und Verkürzung der Linien;
d) Parallaxen Wirkung bei Kopfbewegungen;
e) Verteilung von Licht und Schatten;
f) Luftperspektive.
Kehren wir nach diesen theoretischen Darlegungen zur Hauptaufgabe zurück,
die ja forderte, den Einfluß des Tiefensehens beim Zeichnen und andererseits
die Entwicklung des Tiefensehens beim Kinde zu untersuchen.
Da sich die Tiefenwahrnehmung als ein überaus vielgestaltiges, wechselndes
€^ebilde aus ganz verschiedenartigen psychischen Elementen erwiesen hat,
l so ergibt sich ohne weiteres, daß eine gesonderte Untersuchung den einzelnen
; Faktoren zuteil werden muß. Und bei der Gesamtuntersuchung sowohl, als auch
100 Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung.
bei Untersuchung der einzelnen Faktoren werden drei Hauptpunkte zu berück-
sichtigen sein:
1. ist die Entwicklung der Tiefenschätzung beim Kinde zu beobachten;
2. welche Mittel der Tiefendarstellung vom Kinde angewandt werden ;
3. in welchem Grade beim Bildbetrachten das auf die zweidimensionale
Fläche projizierte Bild sich beim Kinde in Tiefenvorstellungen umsetzt.
Daß in diesen drei Fällen durchaus verschiedenartige psychische Leistungen
vorliegen, ergibt sich ja schon bei rein theoretischer Analyse. Daraus ergibt
sich wieder die Notwendigkeit gesonderter Untersuchung und zugleich die An-
wendung gesonderter Methoden.
So erweist sich das Teilgebiet „Tiefensehen" innerhalb des Gesamtgebietes
„Zeichnen" und „zeichnerische Begabung" als ein außerordentlich komplexes
Grebilde. Und es zeigt sich wieder an diesem Beispiel, welchen schier endlosen
Weg eine pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik noch vor sich
hat! Ehe wir daran denken können, erzieherische und unterrichtliche Maß-
nahmen aus diesen Untersuchungen abzuleiten, wird eine tiefgehende rein theo-
retisch-psychologische Analyse notwendig sein. Aber der Weg muß gegangen
werden. Ehe nicht diese Untersuchungen tiefgehend und doch umfassend genug
durchgeführt sind, wird ein Abstand zwischen experimenteller Psychologie
und pädagogischer Praxis nicht beseitigt werden. Dann aber ist eine starke
Klärung aller pädagogischen Ideen und eine wahrhafte naturgemäße Methode,
nach der Jahrhunderte hindurch gesucht wurde, zu erhoffen.
Um in der theoretischen Zergliederung fortzufahren, wenden wir uns zum ersten
der drei Teilgebiete zurück :
1. Tiefenwahrnehmung des Kindes.
Die Untersuchung dieses Komplexes wird eine ganze Reihe von Einzelfragen
zu beantworten haben. Zunächst muß festgestellt werden, welche von den Fak-
toren, primären sowohl wie sekundären, beim Kinde in Aktion treten. Das ist
systematisch noch nicht untersucht worden. Dann müßte der Grad der Sicherheit
der einzelnen Faktoren festgestellt werden. Bei den primären Faktoren muß
der Grad der Feinheit bestimmt und mit dem bei Erwachsenen verglichen wer-
den, was mit der Aufgabe: Feststellung der Tiefensehschärfe zusammenfällt.
Wichtig wäre die Kenntnis des Zeitpunktes, bei dem in der kindlichen Ent-
wicklung die einzelnen Faktoren wirksam werden. Besonders interessant ist,
wie später an einem Beispiel gezeigt werden soll, die Untersuchung über das
gegenseitige Verhältnis der Faktoren untereinander; vornehmlich wenn ein
sekundärer Faktor gegen einen primären wirkt. Aber für diese Untersuchung
müssen erst Methoden gefunden werden, da sie noch gar nicht an Erwachsenen
vorgenommen worden sind. In der II. Auflage von „Hehnholtz, Physiologische
Optik" (3. Band, S.326) erörtert von Kries diese Frage, aber nur theoretisch:
„ eine Frage kurz berühren, die eines gewissen theoretischen
Interesses nicht ermangelt und auch nicht ohne praktische Bedeutung ist. Wenn
unsere Entfernungseindrücke, ganz allgemein gesprochen, teils durch die Ver-
hältnisse des binokularen Sehens, teils aber durch empirische Momente mannig-
faltiger Art bestimmt werden, so kann erwogen werden, welcher Art denn des
Beiträge zur Analyse d6r zeichnerischen Bögabung. 101
genaueren dieses Zusammenwirken ist imd wie weit es geht, und wir kommen damit
auf Fragen, deren Beantwortung^zum Teil wenigstens keineswegs selbstverständ-
lich ist. Als ganz sicher kann zunächst nur gelten, daß die empirischen Momente
da ins Spiel kommen, wo die binokularen Verhältnisse ganz ausscheiden; so
beim einäugigen Sehen, ebenso mit Bezug auf sehr entfernte Gegenstände,
deren Parallaxe nicht merklich von Null verschieden ist. Beim Betrachten
naher Gegenstände werden sie sicher insofern in Betracht kommen, daß sie (es
sei nur an den Verlauf der Umrisse erinnert) das richtige Verständnis verwickelter
Gegenstände erleichtern und somit zu den Bedingungen gehören, von denen
die binokularen Tiefenwahrnehmungen abhängen. Man kann nun aber fragen,
ob und wie weit die binokularen Tiefen Wahrnehmungen in quantitativer
Beziehung durch empirische Momente mitbestimmt und eventuell modifiziert
werden können". Über einen Versuch, eine Methode für solche quantitativen
Messungen über das Verhältnis der Sehgröße zu den primären Faktoren aufzu-
stellen, wird der letzte Teil dieser Arbeit berichten.
Zunächst sind aber einige prinzipielle theoretische Erörterungen notwendig.
Wenn diese Experimente mit Kindern vorgenommen werden sollen, wird es
durchaus notwendig sein, sie zunächst an Erwachsenen anzustellen. Erstlich,
um einen Vergleich zwischen den Leistungen der Raumauffassung von Kindern
und Erwachsenen zu haben. Dann aber auch, um etwaige Fehlerquellen, Schwie-
rigkeiten technischer Art zu überwinden. Überhaupt werden derartige Experi-
mente mit Kindern mit größter Vorsicht auszuführen sein, wenn man exakte
Beobachtungen gewinnen will. Die Hauptschwierigkeit besteht darin, daß Kinder
zu einer sorgfältigen, kritischen Selbstbeobachtung nicht fähig sind. Das wird
bei Ausarbeitung der Methoden zu berücksichtigen sein. Die Versuchsanordnung
und Aufgabestellung müssen möglichst so gestaltet werden, daß die Ergebnisse
nicht gewonnen werden aus den Aussagen über Selbstbeobachtungen der Kin-
der, sondern aus Beurteilung objektiver Verhältnisse.
Solche Versuche über das Zusammen- und Gegeneinanderwirken der einzelnen
Tiefenwahrnehmimgsfaktoren sind notwendige Voruntersuchungen zu einer
Analyse der Beziehung zwischen Raumwahrnehmimg imd Zeichnen. Aber ihre
Ergebnisse dürften auch noch in zweifacher Hinsicht zu verwenden sein. Sollten
sich dabei bedeutende individuelle Unterschiede ergeben (besonders im Falle
des G^geneinanderwirkens von primären und sekundären Faktoren scheint das
der Fall zu sein), so würde auch die differentielle Psychologie ein Interesse an
ihrer Feststellung haben. Und zum andern: gelingt es, durch umfangreiche
und möglichst exakte Beobachtung die Entwicklung der einzelnen Faktoren
beim Kinde auch nur in einer Teilstrecke des ganzen Entwicklungsweges fest-
zustellen, so wäre zu erhoffen, daß damit einiges Licht auf das dunkle Grebiet
des Ursprunges der visuellen Raumwahmehmung geworfen würde. Wenn
dieses Ziel auch das fernste und am schwersten zu erreichende ist, so
müßte es doch fest im Auge behalten werden gerade bei diesen
Untersuchungen. Soll das geschehen, so dürfen sich die Experimente
nicht darauf beschränken, die tatsächlichen Verbindungen und gegenseitigen
Hemmungen der Faktoren festzustellen, sondern sie milssen auch untersuchen,
ob wirklich eine Wahrnehmung vorliegt oder ein anderes psychisches (Gebilde,
St. Witasek schreibt in der „Psychologie der Raumwahrnehmung des Auges"
102 Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung.
S. 356 über diese Frage: „ noch kaum als ein Proble merkannt ist
die Frage nach der psychologischen Natur und nach dem Aufbau des psychischen
Gebildes, vermittelst welchen wir in den in Rede stehenden Fällen die jeweilige
Tiefe zu erfassen (vorzustellen, zu denken) pflegen; eine Aufgabe der psycho-
logischen Analyse. Es ist ein uraltes Erbstück der Psychologie, die Lehre von
den Erfahrungsmotiven in der Tiefenwahrnehmung. Gleichwohl ist diese Frage
bis jetzt noch nicht bearbeitet."
2. Mittel der Tiefendarstellung beim Zeichnen.
Dieses Gebiet ist teilweise schon untersucht worden, vor allem in den Be-
obachtungen über Kinderzeichnungen. Man findet es in den betreffenden Schriften
unter dem Sammelnamen ,, Perspektive". Aber eine Analyse im Sinne der
Raumpsychologie ist noch kaum vorgenommen worden. Es wird besser sein,
für den Begriff „Perspektive" in diesen Untersuchungen den Begriff „Tiefen-
darsteJlung beim Zeichnen" zu setzen. Er ist umfassender und psychologisch
klarer. Um auch hier systematisch analysierend vorzugehen, ist zunächst fest-
zustellen, welche der oftgenannten Faktoren beim zeichnerischen Darstellen
überhaupt in Frage kommen. Es ist klar, daß binokulare Parallaxe, Konvergenz
und Akkommodation, auch monokulare Parallaxe durch zeichnerische Darstellung
nicht zu erreichen sind. Dagegen bilden alle anderen Faktoren: Sehgröße,
Überschneidung, perspektivische Richtung imd Verkürzung, Licht und Schatten,
Luftperspektive die Mittel der Tiefendarstellung. Erreichbar im Bilde sind
also nicht die primären Faktoren und die monokulare Parallaxe (wobei inter-
essant ist, daß manche Psychologen beim Studium der Bewegungsvorstellungen
dazu gekommen sind, die monokulare Parallaxe zu den primären Faktoren
zu zählen). Mittel der Tiefendarstellung sind die sekundären Faktoren. Daraus
zu folgern, daß die primären Faktoren in dem psychischen Erlebnis, das beim
Zeichnen gegeben ist, keine Rolle spielen, wäre sehr voreilig. Es zeigt sich hier,
wie notwendig es ist, den Vorgang der Raumauffassung von dem der Raumdar-
stellung bei der psychischen Leistung des Zeichnens zu trennen. Diese Gesichts-
punkte geben einen freien Ausblick auf ein weites Gebiet von Fragen, die hier
nur angedeutet werden können. Welcher Art ist der psychische Vorgang,
der zwischen Tiefen Wahrnehmung und Tiefendarstellung stattfindet? Welche
Faktoren werden vorzugsweise benutzt ? Zeigen sich in der Auswahl und Bevor-
zugung individuelle Unterschiede bei den einzelnen Künstlern? Bei einzelnen
Schulen der Malerei ? In einzelnen Epochen ? Wie entwickelte sich die Fähigkeit
der Tiefendarstellung in der Geschichte der Malerei ? Welche Faktoren traten zu-
erst auf? Welche Mittel werden von einzelnen Kunstgattungen — Ölmalerei,
Aquarellmalerei, Radieren, Federzeichnen, Kohle-, Bleistiftzeichnen benutzt?
Kehren wir zu unserer Hauptaufgabe zurück! Eine flüchtige Betrachtung
von Kinderzeichnungen lehrt, daß, falls überhaupt Tiefe dargestellt wird, nicht
alle der genannten Mittel angewandt werden. Nach meinen Beobachtungen
kommt Andeutung von Luftperspektive in Kinderzeichnungen sehr selten vor.
Findet man sie in Zeichnungen von 12 — 14 jährigen Kindern, so zeigt sich
immer, daß es bewußte Nachahmung, hervorgerufen durch Bilderbetrachten,
ist. Natürlich spielt Nachahmung überhaupt in der Entwicklung der zeichneri-
schen Tätigkeit eine große Rolle. Sie auszuschalten, wäre ganz unmöglich und
Beiträge zur Analj^se der zeichnerischen Begabung. 103
vom pädagogischen Standpunkte aus auch gar nicht erwünscht. Interessant
wäre aber, im einzelnen zu untersuchen, welche Mittel zuerst, welche später
verwandt werden. Wann treten sie beim normalen Kinde auf ? Wann beim hoch-
begabten, wann beim schwachsinnigen? Welche Beziehung besteht zwischen
diesem Zeitpunkt und dem Grad der intellektuellen Fähigkeit, der zeichnerischen
Begabung? Geht Entwicklung der Raum Wahrnehmung und der Raumdar-
stellung parallel ? Oder, was zu erwarten ist, wie stark bleibt die letztere hinter
der ersteren zurück? Die Beantwortung dieser Fragen wäre gleich wichtig
für die Kinderpsychologie, als auch für die pädagogische Praxis.
3. Tiefen Vorstellungen beim Bildbetrachten.
Die Tatsache, daß eine Zeichnung oder ein Gemälde die primären Tiefen-
schätzungsfaktoren nicht hervorrufen kann, läßt vermuten, daß es sich beim
Bildbetrachten nicht um Tiefenwahrnehmung, sondern um Reproduktion von
Tiefenvorstellungen handelt. Es wäre nun zu untersuchen, ob beim Bildbe-
tracht«n der Kinder reproduzierte Tiefenvorstellungen auftreten. Der erste
Teil der Untersuchung müßte natürlich festgestellt haben, ob überhaupt die dazu
notwendige Assoziation zwischen der auslösenden Vorstellung und einer Tiefen-
vorstellung vorhanden ist. Wie Meumann auch in seinem genannten Aufsatze
sagt, lehrt die Erfahrung, daß Kinder von der im Bilde dargestellten Tiefe oft
nicht die geringste Vorstellung haben. Durch planmäßige Untersuchung müßte
festgestellt werden, welche generellen und individuellen Unterschiede in dieser
Hinsicht bei den verschiedenen Altersstufen und bei einzelnen Kindern vor-
handen sind. Auch dabei müßten alle Tiefendarstellungsmittel gesondert be-
trachtet werden.
Diese Untersuchung begegnet einer methodischen Schwierigkeit. Es muß
vermieden werden, bei Befragung der Kinder, suggestiv auf sie zu wirken. Das
wird mitunter ziemlich schwer sein. Direkte Fragen nach Entfernung usw. wären
ganz zu verwerfen. Es gilt, durch indirekte Fragestellung ein Urteil zu gewinnen,
ob das Kind in diesem Falle Tiefenvorstellung hat oder nicht. Durch Fragen
nach dem Ort, den Richtungen, in denen ein dargestelltes Tier laufen, entfliehen
kann, durch Zeigen des Kindes und Aufsuchen auf dem Bilde ließe sich die
Aufgabe lösen.
Zum Schlüsse sei noch kurz berichtet über eine Versuchsanordnung, die der
Untersuchung über das Verhältnis zwischen Sehgröße und primären Faktoren
dienen soll. Es ist damit der Versuch gemacht worden, einen Teil des in der vor-
liegenden Arbeit aufgestellten Programmes seiner Verwirklichung entgegen-
zuführen. Die eingehende Beschreibung des Apparates sowie der Bericht über
die gewonnenen Ergebnisse werden in einer anderen Veröffentlichung gegeben wer-
den. Hier sei nur berichtet: Mit Hilfe des Apparates werden alle übrigen Faktoren
der Tiefenwahrnehmung ausgeschlossen. Am verdunkelten Gesichtsfelde er-
scheinen zwei leuchtende Kreise, von denen jeder von Versuch zu Versuch seine
Größe und Entfernung wechselt. Durch systematisch durchgeführte Versuchs-
reihen wird der Einfluß der Größe auf das Tiefenurteil festgestellt. Diese Ver-
suche werden auch an Kindern ausgeführt werden. Und so sollen die gestellten
Fragen für dieses Teilgebiet Beantwortung finden. Zugleich werden Untersuchun-
gen angestellt, in welchem Maße bei Kinderzeichnungen Tiefe durch Anwendung
104 Beiträge zur Analyse der zeichnerischen Begabung,
des Sehgrößenfaktors dargestellt wird. Durcli das Stellen geeigneter Aufgaben
bei Kindern aller Altersstufen haben sich schon interessante Ergebnisse gezeigt.
Schließlich wird untersucht werden, inwieweit beim Bildbetrachten durch
verschiedene Größe Tiefenvorstellungen beim Kinde reproduziert werden.
Wenn auf diese Weise gesicherte Ergebnisse gewonnen sind, die bei den
Kindern individuelle Unterschiede nachweisen, wird zu untersuchen sein, ob
sich eine Beziehung zur zeichnerischen Begabung erkennen läßt oder nicht.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(Fortsetzung.)
Ich gehe zur Besprechung der Mischapparate über. Sie dienen nicht allein
dazu, für verschiedene Versuche passende Farben herzustellen, sondern an
ihnen interessiert auch das Mischverfahren selbst. Es handelt sich bei allen
um ,, additive" Mischung; die Strahlen der einzelnen Farben gelangen unver-
ändert in das Auge. Die ,,subtraktive" Mischung, wie sie bei den Malfarben vor-
liegt, kommt also in keinem Apparate zur Anwendung.
Wie verhalten sich die Mischungsgesetze zu den früher erwähnten Gesetzen
der Farben, ihrer Ähnlichkeit, Verwandtschaft usw. ? und welche Bedeutung
haben sie für die Pädagogik ? Was Rot und Gelb bei der Mischimg ergeben, könnte
auch der beste Kenner der Farben und ihrer Verwandtschaften nicht wissen,
wenn er es nie versucht hat, ebensowenig wie er wissen kann, daß Gelb imd Blau
bei den Malfarben Grün, bei Mischung der optischen Strahlen wie in der farbigen
Photographie Grau ergeben. Hier handelt es sich um physikalische oder physiolo-
gische Wirkungen, nicht um die psychologische Verwandtschaft der Farben selbst.
Aber es besteht doch in weiten Grenzen eine Analogie. Rot und Gelb geben
Orange, eine Farbe, die auch für unser Sehen zwar nicht ein Gemisch ist, die
aber doch Rötlichkeit und Gelblichkeit besitzt. Wenn der Maler also Orange her-
stellen will, so braucht er sich nicht nur auf seine Erfahrung im Mischen zu stützen,
es ist ein glücklicher Zufall, daß er das Richtige auch dann trifft, wenn er sich —
auf das Sehen, auf die den Farben selbst anhaftende Verwandtschaft stützt.
Die Analogie gilt freilich nicht immer: Gelb und Blau geben Grün. Nun
besteht die Gefahr, umgekehrt nach der Mischung die psychologischen Ver-
hältnisse zu konstruieren und das unbefangene Sehen zu fälschen. Orange
soll für das Sehen Rot und Gelb ,, enthalten"; oder man sieht in das Grün Grelb
und Blau oder Gelblichkeit und Bläulichkeit hinein. In dieser Hinsicht sind unsere
Mischapparate mit den Gesetzen der additiven Mischung instruktiv. Sie zeigen
dem Schüler, daß hier Gelb und Blau, ebenso daß alle Regenbogenfarben zu-
sammen Grau oder Weiß ergeben. Er wird nicht versuchen, im Grau Gelb und
Blau oder gar alle Regenbogenfarben zu sehen.
Aber noch in anderer Hinsicht besteht Gefahr für das natürliche Sehen. Wir
haben oben das Idealsystem, die Farbenpyramide, besprochen. Dieses System
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
105
wird leicht durch das 3-Farbensystem, das in der Technik des Farbendruckes,
sowie der farbigen Photographie eine so große Rolle spielt, verdrängt. Durch
drei Farben lassen sich alle anderen herstellen; es liegt nahe, diese drei Farben
als Grundfarben an Stelle unserer sechs Urfarben zu setzen. Das wäre ein ver-
hängnisvolles Mißverständnis. Die Grundfarben des Dreifarbensystems sind
gar keine feststehenden Farben. Man kann unendlich viele Kombinationen
wählen und mit ihnen jedesmal alle andern Farben herstellen. Jede Farbe
des Zirkels kann unter den Grundfarben sein. Von bestimmten ausgezeichneten
Farben im Sinne der Urfarben ist keine Rede.
Auch daß die den drei Grundprozessen der Young-Helmholtz-Theorie ent-
sprechenden Farben nicht Urfarben im psychologischen Sinne sind, ist heute
von den Vertretern dieser Theorie zugegeben.
Einfacher Spiegelfarbenmischapparat nach Helmholtz-Rupp (Me-
chaniker Marx, Berlin). Er ist wohl der einfachste Mischapparat. Auf dem
mit schwarzem Tuch bezogenen Brett
erhebt sich, um eine Achse drehbar,
eine Spiegelglasplatte. Rechts und
links von ihr legt man die zwei zu mi-
schenden Papiere, z. B. Rot und Blau
auf das Brett. Das Schema zeigt, wie
die von beiden Papieren ausgehenden
Strahlen ins Auge gelangen. Bei anderer
rot
bfau.
Neigung des Glases ändert sich nach den Reflexionsgesetzen die relative Stärke
der beiden Strahlen und damit die Mischfarbe. So wird in unserem Falle bei
steiler Lage Violett gesehen, bei schräger ein schwach bläuliches Rot. Auch
die an verschiedenen Stellen des Glases reflektierten Strahlen treffen unter
verschiedenen Winkeln auf; daher ist die Mischfläche in unserem Falle links
rötlicher, rechts bläulicher. Um einen gleichmäßigen Streifen herauszugreifen,
hält man zwischen Auge und Apparat einen Karton mit einem Spalt; vgl.
die Photographie.
Der Apparat ist für Übungen gedacht. Man kann durch Neigen des Glases
mit einem Griff alle Übergänge von einer zu anderen Urfarbe vorführen. In der
bequemen Handhabung liegt sein Vorzug gegenüber den Elreiseln.
Man kann auch Mischungen mit Weiß, Grau und Schwarz erzeugen. Im
letzteren Falle dient links der schwarze Grund als Farbe.
Auch kann man sich überzeugen, daß Gelb und Blau Grau ergeben. Hierbei
ist das Diaphragma unerläßlich, denn es ist nur ein schmaler Streifen der Misch-
106
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
fläche rein grau ; auf der einen Seite ist ein gelblicher, auf der anderen ein bläu-
licher Ton, Ohne Diaphragma übersieht man den Grau- Streifen leicht. Damit
man die schwachen Töne gut unterscheiden kann, ist das Diaphragma selbst
aus einem reinen mittleren Grau zu wählen.
Wenn man passende Papiere hat, kann man die Urfarben bestimmen. Für
Rot z. B. wählt man ein etwas zu bläuliches oder etwas zu gelbliches rotes Papier
und setzt so viel Orange bzw. Blaurot hinzu, bis das Gemisch rein rot erscheint.
Auch Vergleiche zwischen zwei Farben lassen sich anstellen. Das Grundbrett
hat in der Mitte einen Fortsatz. Legt man auf diesen ein Papier, welches aber
nicht durch das Glas, sondern direkt betrachtet wird, so kann man diese Farbe
mit der durch das Glas gesehenen Mischfarbe bequem vergleichen. So kann
man in Übungen die Aufgabe stellen, ein vorgelegtes Violett oder Karmin aus
Rot und Blau zu mischen. Wichtiger ist folgender Versuch : Man legt auf den
erwähnten Fortsatz eine bunte Farbe und läßt durch Mischung das gleiche helle
Grau suchen.
Derselbe Apparat. Einfachstes Modell. Das Glas ist nicht an einer
Achse befestigt, sondern liegt lose in einer Rinne, die in das Grundbrett ge-
schnitten ist.
Derselbe Apparat, für messende Versuche eingerichtet. Es ist
eine Kreisteilung angesetzt, an der die Neigung des Glases abzulesen ist. Das
Glas bleibt durch Reibung des an der Teilung spielenden Zeigers in jeder Lage
stehen. Ferner muß für messende Versuche die Lage des Auges und des Dia-
phragmaspaltes fixiert sein. Das Auge legt sich an einen Ring und sieht durch
ihn hindurch; das Diaphragma ist durch einen Rahmen in konstanter Lage
gehalten.
Wenn verschiedene Autoren sich derselben Papiere bedienen, so lassen sich
ihre Versuche vergleichen. Dem Apparat ist die Hering- Serie, auf Glasplatten
(9X12) aufgezogen, beigegeben, sowie zwei Diaphragmen.
Mischapparat für farbige Gläser nach Hering (Mechaniker Marx,
Berlin). Der Apparat hat gegenüber dem vorigen den Vorzug, daß drei Farben
gemischt werden können. Das Prinzip ist wieder das
der Spiegelung. Der Beobachter blickt von oben in ein
Kästchen, in welches von drei Seiten her Licht reflek-
tiert wird. Das Schema zeigt, wie durch die zwei
schrägen Glasplatten alle drei Strahlenbündel ins Auge
gelangen. Das Licht kommt von matten Milchglas-
platten her, die mehr oder weniger Licht reflektieren,
je nachdem sie dem Lichte zu- oder abgekehrt werden.
In jedes Fenster /, /j, f^ des Kästchens kann farbiges
oder weißes Glas eingeschoben werden. Man kann daher
drei beliebige Farben mischen. Ebenso kann man auch
■ ^/ bloß zwei Farben benutzen, indem das dritte Fenster
durch eine Türe geschlossen wird.
Wegen der einfachen Handhabung ist auch dieser Apparat für Übungen
sehr geeignet. Durch Drehen der zuspiegelnden Milchglasscheiben kann man
sehr schnell Übergänge von einer Farbe zur anderen herstellen.
Sehr gut lassen sich Urfarben einstellen. Man setzt unten z. B. ein rotes Glas
'lll
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
107
ein, rechts und links ein gelbes und blaues. Durch Drehen der seitlichen Milch-
glasscheiben kann man leicht di^ reine Rotnuance herausfinden.
Mit einem roten, grünen und violetten Glas kann man versuchen, alle Farben
des Farbenzirkels herzustellen. Man merkt dabei, daß nicht alle Farben ge-
sättigt herauskommen, ein Bedenken, das gegen jedes additive Drei-Farben-
System zu erheben ist.
Alle Versuche können messend ausgeführt werden, da die Stellung der Milch-
glasscheiben an einer Kreisteilung abzulesen ist.
Dem Apparate sind mehrere sorgfältig ausgesuchte Gläser beigegeben.
Nuancierungsapparate nach Hering (Mechaniker Rothe, Leipzig). Das
Prinzip ist folgendes : Ein Papier wird auf eine um eine horizontale Achse dreh-
bare Platte gelegt. Kehrt man die Platte dem Lichte zu, so reflektiert sie viel
Licht, kehrt man sie ab, so reflektiert sie wenig. Auf diese Weise kann man
vor allem mit einem Griff eine Grau- Serie herstellen, in der
keine Sprünge und keine plötzlichen Tonänderungen vorkommen.
Der Apparat besteht aus einem Kasten ; unten sind zwei dreh-
bare Platten eingesetzt, deren Neigung außen abzulesen ist. Oben
legt man auf den Kasten einen Schirm mit zwei Löchern. Be-
trachtet man diesen Schirm aus 20 — 30 cm Entfernung monokular,
so sind die Löcher gleichmäßig von den Farben der beiden Platten erfüllt.
Es kommen hauptsächlich folgende zwei Versuche in Betracht: Bestimmung
der Unterschiedsempfindlichkeit namentlich für Grau : auf beide Platten werden
die gleichen Farben gelegt; man neigt eine Platte so viel, bis die Verschieden-
heit eben gemerkt wird. Dann Helligkeitsvergleichung : auf die eine horizontal ge-
stellte Platte wird eine bunte Farbe gelegt, auf die andere ein Grau ; das Grau wird
so lange aufgehellt oder verdunkelt, bis es gleich hell erscheint wie die Farbe.
Auf Benutzung des Apparates für Gedächtnisfarben und scheinbare Größe
komme ich später zu sprechen.
Nuancicrungsapparat (Modell III) nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin).
Drei Platten nebeneinander, durch Schnüre zu drehen. Über den Platten können
in horizontaler Lage drei weitere Papiere aufgelegt
werden, so daß man von oben durch das Diaphragma
im ganzen sechs Farben sieht, in folgender Anordnung :
Die drei unteren Löcher werden von den
drei horizontal liegenden Papieren, die drei
^
TL
oberen Löcher durch die drei drehbaren Platten
ausgefüllt. Ein Stimhalter hat sich bei Übungen
als nötig erwiesen, da der Kopf gewöhnlich zu
nahe an das Diaphragma gehalten wird.
Neben den beim vorigen Modell besprochenen
Versuchen lassen sich nun noch andere Versuche
anführen: Zu zwei Grau läßt sich ein drittes
so einstellen, daß es subjektiv in der Mitte liegt.
Wichtiger ist folgendes: Man kann nicht bloß zu
einer Farbe, sondern zu einer Kombination von zwei oder drei Farben
die entsprechenden Grau suchen. Die Farben füllen die unteren Löcher aus,
die Grau werden durch die drei Platten eingestellt und füllen die darüber-
108
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
liegenden Löcher aus. Ebenso kann man statt der zwei oder drei Farben
verschiedene Kombinationen von drei grauen Platten einlegen und mittelst
der variablen Grau eine Abbildung in größerer oder geringerer Helligkeit, in
größeren oder geringeren Kontrasten herstellen.
Alle diese Fragen lassen sich sehr bequem auch an Kindern untersuchen, viel
leichter als mit den umständlichen Kreiseln. Natürlich kann man auch größere
Kästen bauen, mit mehr als drei Platten nebeneinander; auch können die bis
jetzt nicht variabeln Papiere der unteren Lochreihe auf drehbare Platten
gelegt werden. Mit der neuen Konstruktion fällt die Beschränkung der Zahl,
die vorher da war, hinweg,
Kreisel nach Hering-Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die bisher er-
wähnten Mischapparate scheinen trotz ihrer Vorzüge in pädagogischen Kreisen
wenig bekannt zu sein. Allgemein
bekannt ist dagegen der Kreisel.
Es ist daher nicht nötig, sein Prin-
zip zu erläutern.
Dieses Modell ist für den Hand-
betrieb eingerichtet und trägt ein,
zwei oder drei Achsen. Zur Über-
setzung dienen drei Räder; die
Drehkurbel kann an jedes dieser
Räder angesetzt werden, so daß
man bei bequemer Drehung einer-
seits die volle Geschwindigkeit von 50 — 80 Rotationen pro Sekunde für Farben-
mischung, andererseits auch geringere Geschwindigkeiten für Bewegungs-
nachbilder usw. erzielen kann.
Elektrischer Kreisel (Modell Mechaniker Spindler u. Hoyer, Göttingen).
Die Kreiselachse ist zugleich Achse des Motors.
Scheibenschlitzer nach Hering (Mechaniker
Marx, Berlin). Ein unentbehrliches Instrumentchen,
um in die ungeschlitzten Scheiben bequem imd
exakt einen radialen Schnitt zu machen.
Scheibenschneider, Lochstanze.
Scheibenserie nach Hering (Mechaniker Marx,
Berlin). Zwölf ziemlich satte Farben, angenähert
die Urfarben enthaltend (nur ein gutes Grün ist im
Papier schwer zu erhalten); femer Barytweiß,
Mattschwarz und Tuchschwarz. Große und kleine
Scheiben, so daß man auf einer Achse zwei Ver-
gleichsfarben herstellen kann.
Mit diesen Scheiben lassen sich die additiven
Mischgesetze erläutern. Gelb mid Blau sind gut
komplementär. Sehr instruktiv und für Übungen
dankbar ist folgender Versuch: Man legt eine
Farbe vor und stellt die Aufgabe, sie aus den
Scheiben der sechs Urfarben herzustellen; der Beobachter soll sich dabei
durch die Verwandtschaft leiten lassen. Die vorgegebene Farbe darf aber nicht
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 109
zu gesättigt sein ; denn die Scheiben sind selbst nicht ganz gesättigt, auch nicht
reine Urfarben. Es geht also ähnlich wie beim Drei-Farben- System, durch
welches nie alle Töne rein zu erhalten sind.
Auch Einstellungen der Urfarben kann man, soweit die Papiere ausreichen,
vornehmen. Sehr gut und exakt lassen sich dagegen alle Versuche mit der Grau-
skala ausführen.
Für einige Versuche sind besondere Scheiben nötig; ich führe sie im fol-
genden an:
Scheiben für Unterschiedsempfindlichkeit nach Donders-Rupp (Me-
chaniker Marx, Berlin). Barytweiß- Scheibe mit sieben Spalten (in der Figur
sind der Deutlichkeit halber nur vier gezeichnet), in radialer An-
ordnung, alle gleich breit, so daß die Gradzahl gegen die Mitte pro-
portional zunimmt. Mehrere Scheiben mit verschieden breiten
Spalten: der äußerste Spalt 1, I14, 2, 3, 40. Unter diese Spalt-
scheibe wird eine schwarze oder eine bunte Scheibe gelegt. Bei der
Rotation entstehen Ringe, die äußeren unmerkbar schwach, die inneren
von immer intensiverem Lichte. Die Frage ist: wie viel Ringe, von innen gezählt,
sieht man? Also eine sehr einfache, auch dem Kinde verständliche Aufgabe.
Ein Beobachter mit feiner Unterschiedsempfindlichkeit wird auch noch die
schwächeren Ringe, somit mehr Ringe sehen. Man kann nicht nur die Schwelle für
Schwarzzusatz, sondern auch für Farben bestimmen. Dabei werden die Ringe
nicht gleich in der Farbe erkannt; man kann also zwei Schwellen suchen, die
generelle, wobei die Ringe nur zu sehen sind, und die spezifische, wo auch ihre
Farbe richtig anzugeben ist. (Diese Schwelle bezieht sich auf Helladaptation
und weißen Grund.)
Scheiben zur Demonstration des Weber- Gesetzes (Mechaniker Marx,
Berlin). Eine weiße und eine schwarze Scheibe sind ineinander gesteckt; die
schwarze hat einen kleinen, 1°, 2° oder 3° breiten Einschnitt, wie
die Figur zeigt. Bei der Rotation entsteht an dieser Stelle ein
hellerer Ring, da zur Helligkeit der übrigen Scheibe der kleine
Weiß-Sektor hinzukommt. Dieser Zusatz bleibt derselbe, ob man
den großen Weiß- Sektor größer oder kleiner, die ganze Scheibe also
heller oder dunkler macht. Allein bei dunklerer Scheibe ist er
merkbar; man sieht den Ring; bei hellerer Scheibe schwindet er allmählich,
Dieselbe Erscheinung trägt dazu bei, daß am Morgen das immer gleichbleibende
Licht der Sterne anfangs sichtbar ist, um allmählich bei zunehmender Gesamt-,
beleuchtung zu schwinden.
Drei weitere Scheiben besitzen, ähnlich wie die vorige Scheibe, mehrere
radial angeordnete Einschnitte, die gleich bereit sind, deren Gradzahl also
gegen die Mitte proportional zunimmt. Man sieht dann, wenn man den
Grund wieder allmählich aufhellt, wie erst die äußeren dunkleren, dann die
inneren, helleren Ringe (Sterne) schwinden.
Zwei Scheiben mit arithmetischen und geometrischen Grau-»
stufen nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die Scheibe hat sechs aneinander-
stoßende Ringe, die sich aus einem weißen und einem schwarzen Sektor zu-
sammensetzen. Die Sektoren sind so abgestuft, daß die Lichtmengen der Ringe
bei der einen Scheibe arithmetisch, bei der anderen geometrisch zunehmen,
110 Probleme vind Apparate zur experimentellen I-adagogik.
Die geringe Lichtmenge der schwarzen Sektoren ist dabei in Rechnung gezogen.
Der äußerste Ring ist in beiden Scheiben weiß, der innerste schwarz.
Scheibe zur Eichung eines Grau (Mechaniker Marx, Berlin). Als Licht-
einheit pflegt man bei Kreisel nicht Kerzenstärken zu nehmen, da die Beleuchtung
wechselt, sondern das Barytweiß-Papier, welches ein sehr reines und ziemlich
konstantes Weiß zeigt. Als ideales Schwarz kann das Loch einer längeren, mit
Samt ausgekleideten Röhre (Dunkeltonne) angesehen werden. Mit diesen Nor-
malfarben kann man andere Grau in folgender Weiße eichen:
Vor der Tonne wird der Kreisel so aufgestellt, daß die obere Hälfte der Scheiben
das Loch deckt. Auf den Kreisel wird folgende Kombination von Scheiben
gesteckt: Vorn eine Scheibe der Form A, mittleres
Grau. Dahinter die zu eichende Scheibe B, in
der Größe der kleinen Kreiselscheiben; sie füllt
die innere Hälfte des Ringspaltes von Ä aus.
Dahinter die Barytscheibe C. Figur D zeigt, wie
die ganze Kombination aussieht. Der Ring ist in
der inneren Hälfte vom zu eichenden Papier, in der
äußeren vom Baryt weiß imd vom dahinter lie-
genden Idealschwarz der Tonne ausgefüllt. Man
variiert nun den Weißsektor so lange, bis beide Ringe gleich erscheinen.
Bei Tuchschwarz sind z. B. 3° Weiß nötig. Bei 360° wären also 6° nötig.
Die „Weißvalenz" des Tuchschwarz ist somit 6°. Die übrigen Grau kann
man dann mit dem Tuchschwarz in gewöhnlicher Weise, ohne Tonne, eichen,
wenn man die Weißvalenz des Schwarz in Rechnung zieht.
Dunkeltonne nach Hering (Mechaniker Marx, Berlin), 1 m lang.
Neben dem Problem der Farbenerkennung ist wohl das Problem der Ge-
dächtnisfarben von der Psychologie am besten bearbeitet, namentlich durch
die Forschungen von Katz. Es bietet auch für die Pädagogik wertvolle An-
griffspunkte.
Die naive Auffassung des täglichen Lebens schreibt jedem Gegenstande eine
bestimmte „Eigen"farbe zu, die er besitzt, gleichgültig, ob er gut oder schlecht
beleuchtet, ob die Beleuchtung farblos (wie gewöhnlich) oder eine farbige ist.
Diese Eigenfarbe macht die Wandlungen, die das Aussehen, der Eindruck infolge
verschiedener Beleuchtung erfährt, nicht mit.^) Die Eigenfarbe kann wohl auch
wechseln : das Laub wird gelb, der Schnee schmutzig. Auch hier wird das Aus-
sehen, der Eindruck ein anderer. Allein dieser Wechsel unterliegt anderen Ge-
setzen, ist von der Beleuchtung ganz unabhängig, und er wird auch streng von
einer Änderung durch andere Beleuchtung gesondert.
Die wirkliche Farbe bleibt dieselbe, wenn die Beleuchtung sich ändert. Das
geht so weit, daß auch der sinnfällige Eindruck, das Aussehen beeinflußt
wird. Eine weiße Wand hinten im schlecht beleuchteten Teil des Zimmers strahlt
sehr wenig Licht aus; nicht mehr als ein schwarzes Papier vorne in der Nähe
des Fensters. Wir sehen sie aber keineswegs schwarz, sondern ziemlich weiß.
^) Auch vermögen Dunkeladaptation, Kontrast usw. die Eigenfarbe nicht zu ändern.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 111
wenn auch nicht ganz so weiß wie die weiße Wand vorne; sie ist etwas gegen
Grau hin verändert. Freilich ist das Weiß hinten „dunkler", weniger „ausge-
prägt"; aber es ist doch keine Rede von Schwarz; die Farbe, die,, Qualität" Weiß
bleibt ganz oder angenähert erhalten. Der Eindruck entspricht also nicht dem
Reiz, sondern er wird korrigiert; die schlechte Beleuchtung wird auf diese Weise
ausgeglichen, kompensiert. Und diese Korrektur ist — darauf muß besonders
geachtet werden — sinnfällig, nicht etwa ein bloßes Wissen, so wie ich mir
bewußt bin, daß ein von einem Tuch verhüllter Körper z. B. weiß ist, während
ich jetzt doch nur das schwarze Tuch sehe.
Die Versuche sind ebenso einfach, wie sinnfällig; auch mit Kindern sind sie
auszuführen. Wir können die Grau- Serie, den Nuancierungsapparat oder den
Kreisel benützen. Für sehr genaue Versuche ist der Kreisel unentbehrlich.
Gedächtnisfarben versuche mit der Grau- Serie. Wir suchen am
besten eine ungefähr gleichmäßig abgestufte Serie von 15 — 20 Grau heraus.
Einmal stellen wir sie in normale Beleuchtung, einmal in ungünstige Beleuch-
timg. Dabei sind verschiedene Fälle zu trennen:
a) Einmal nahe dem Fenster (oder einer sonstigen Lichtquelle), das andere
Mal entfernt von demselben.
b) In gleicher Entfernung vom Fenster; einmal dem Licht voll zugekehrt,
das andere Mal mehr oder weniger abgewendet, z. B. wie beim Nuancierungs-
apparat.
c) In gleicher Entfernung vom Fenster, einmal normal beleuchtet, einmal
beschattet.
d) In gleicher Entfernung vom Fenster, einmal normal betrachtet, einmal
durch ein Rauchglas oder durch ein Episkotister gesehen. Dabei ist zu beachten,
ob das Rauchglas oder das Episkotister selbst merklich Licht reflektieren. Ferner
kann das Rauchglas klein sein, so daß nur ein kleiner Raum um das be-
trachtete Grau durch das Glas gesehen wird, oder das Rauchglas ist so groß
oder wird so nahe dem Auge gehalten, daß der ganze Seh räum herabgesetzte
Beleuchtung erfährt.
Alle diese Fälle können verschiedene Zahlen werte geben. Man achte darauf,
ob der Hintergrund für beide Grau derselbe ist. Für Massenversuche und
Demonstrationen eignen sich je nach den Beleuchtungsmöglichkeiten a), b)
und c), am besten wohl a) und c).
Man bestimmt nun einerseits bei guter, andererseits bei schlechter Beleuch-
tung, was als weiß, grau, schwarz bezeichnet wird; die meisten Beobachter
werden außerdem hell- und dunkelgrau scheiden. Wie groß ist der Umfang
dieser Begriffe? Gibt es ein bestes Grau, Hellgrau, Dimkelgrau? Der Nach-
druck liegt hierbei aber stets auf der Vergleichung der Werte bei den beiden
Beleuchtungen. Was bei guter Beleuchtung noch weiß erscheint, wird bei schlech-
ter vielfach schon hellgrau sein usf.
Man kann weiter gehen und zu verschiedenen in normaler Beleuchtung ge-
sehenen Farben die gleich weißen, gleich grauen, gleich schwarzen Farben in
schlechter Beleuchtung suchen, oder umgekehrt. Dabei ist ausdrücklich zu
beachten, daß nur die Qualität, die Weißheit, Grauheit, Schwarzheit gleich
sein soll, daß man sich aber nicht durch verschiedene ,, Helligkeit", „Intensität"
oder „Ausgeprägtheit*' der 2 Farben täuschen lassen darf. Die Versuche bringen
112 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
zugleich klar zum Bewußtsein, daß dasselbe Weiß verschieden hell, ja
sogar dunkel sein kann. Das ist selbst für die meisten Erwachsenen neu und
überraschend. Daher sollten solche Versuche, wenigstens Demonstrations-
versuche, nach meinem Dafürhalten im Psychologie- und Pädagogikunterricht
nicht fehlen.
Um in beiden Versuchen zu erfahren, wie die Farbe ohne die Korrektur aus-
sehen würde, hält man einen Schirm mit 2 Löchern so vor die Anordnung, daß
die eine gut beleuchtete Farbe das eine, die andere schlecht beleuchtete das
andere Loch ganz gleichmäßig ausfüllt. Man sieht nur 2 Farben, die Umgebung,
auch der Rand der Papiere ist abgeblendet. So kann man auch nicht mehr
sehen, daß die 2 Farben verschieden beleuchtet sind. Ein bloßes Wissen, daß
diese Farbe schlecht beleuchtet ist, nützt nichts. — Der Wechsel der beiden Be-
trachtungen, mit und ohne Schirm, ist sehr lehrreich; plötzlich und sinnfällig
tritt die Änderung ein.
Die Berücksichtigung der Beleuchtung ist verschieden bei verschiedenen Arten
der Beleuchtung. Es sind oben mehrere Arten angegeben. Innerhalb jeder Art
gibt es aber wieder Abstufungen: die Beschattung z. B. kann stärker oder
schwächer sein. Bei messenden Versuchen ist daher die Stärke der Beschattung
anzugeben. Das geschieht wieder mittels des Schirmes. Als schlecht beleuchtetes
Papier wird das normale Barytweiß genommen; man gibt an, welchem Grau
auf der gut beleuchteten Stelle das Barytpapier gleichkommt.
Gedächtnisfarbenversuche mit dem Nuancierungsapparat. Man
legt auf die eine drehbare Platte hellgraues oder weißes, auf die andere schwarzes
Papier (oder besser mit diesen Papieren bezogene Glasplatten). Dann blickt
man durch einen Schirm mit 2 Löchern und stellt die Platten so ein, daß sie
gleich erscheinen, indem man die schwarze Platte dem Licht voll zukehrt, die
weiße stark abkehrt. Beide erscheinen schwarz. Zieht man nun den Schirm
weg, so erscheint die weiße Scheibe nicht mehr schwarz, sondern weiß oder
wenigstens grau.
Wenn man das Weiß noch mehr vom Licht abkehrt, so wird es dunkelgrau, viel-
leicht sogar schwarz, gleich schwarz wie die andere Platte.
Gedächtnisfarbenversuche mit den Kreiseln. Für die Anordnungen
a und b (siehe oben) sind 2 getrennte Kreisel nötig, für c und d genügt ein Kreisel
mit 2 Kreiselachsen. In allen 4 Fällen braucht nur eine Achse zu rotieren ; die
schlecht beleuchtete Scheibe, die meist weiß genommen wird, kann, wenn man
eine volle, ungeschlitzte Scheibe verwendet, ruhen. Sie braucht daher nicht
unbedingt auf einem Kreisel befestigt zu sein. Bei der Episkotisteranordnung
darf sie nicht rotieren; dagegen ist für das Episkotister ein Kreisel nötig.
Die Versuche lassen sich sehr genau ausführen. Insbesondere kann man die
schwachen farbigen Töne, die manchmal auftreten, durch Beimischung ent-
sprechender Komplementärfarben vermeiden.
Mittels des Kreisels läßt sich auch eine neue Gruppe von Versuchen ausführen,
nämlich solche bei farbiger Beleuchtung oder beim Durchsehen durch
farbige Gläser (oder Gelatine). Ich beschreibe den Fall, der in der Praxis
wohl am häufigsten vorkommen wird. Die eine Scheibe wird vom Tageslicht,
die andere von Gaslicht, das bekanntlich gelb ist, beleuchtet. Die vom Gaslicht
beleuchtete Scheibe wird wieder weiß genommen, sie erscheint aber, durch den
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 113
Schirm gesehen, intensiv gelb; man muß auf der andern Scheibe einen großen
Gelb-Sektor einschieben, um eine Gleichung zu erhalten. Zieht man aber den
Schirm weg, so ist die gelbbeleuchtete Scheibe kaum mehr gelblich, sondern
vorwiegend weiß.
Es wird also auch die Farbigkeit einer Beleuchtung in Rücksicht gezogen und
bis zu einem gewissen Grade hinwegkorrigiert.
Alle angegebenen Versuche ermöglichen eine mehr oder weniger genaue Messung
der Korrektur und damit eine quantitative Verfolgung derselben bei verschie-
denen Altersstufen, bei verschiedenen Individuen usw. Katz hat Stichproben
angestellt und fand die Korrektur bereits bei Kindern bis zu 3 Jahren hinab
voll entwickelt. Gilt das allgemein ? Auch für Schwachbegabte ?
Die Korrektur ist für verschiedene Beleuchtungsarten und Beleuchtungs-
stärken verschieden. Tritt sie bei allen Beleuchtungen und überall gleichstark
auf? Die Beleuchtmig muß doch, wenn auch nur instinktiv, verstanden sein.
Vielleicht versteht das Kind nur gewisse Beleuchtungen? Woran erkennt es
die Beleuchtung ? Wann wirkt sie am stärksten (auch für Bilddarstellung wichtig) ?
Durch Übung tritt die Korrektur zurück. Wie sehen die Maler, Ästhe-
tiker ? Für die Pädagogik ergibt sich nun das Problem : In welchem Sinne soll der
Schüler „sehen" lernen? Soll er Gedächtnisfarben sehen? Oder soll er zum
natürlichen Sehen zurückkehren, wie es dem physikalischen Reiz entspricht und
wie vermutlich Maler sehen (oder wenigstens sehen können)? Dazu kommt
eine dritte Möglichkeit. Die Gedächtnisfarben kompensieren die schlechte Be-
leuchtung, aber nicht ganz. Sie stehen zwischen den zwei Wirklichkeiten
der physikalischen und der Eigenfarbe. Sollte man vielleicht eine vollstän-
dige Kompensierung, das Sehen der Eigenfarbe anstreben? Wenn diese auch
nicht im sinnfälligen Eindruck erreichbar ist, sollte man nicht wenigstens
Wert darauf legen, daß das Kind sie genau abschätzen kann?
Für den Maler und Schattierer treten ebenfalls Probleme auf. Die Wand
hinten im Zimmer ist, physikalisch betrachtet, fast schwarz, ihre Eigenfarbe ist
weiß, wir sehen sie aber hellgrau. Was soll nun der Maler malen? Die Photo-
graphie bildet natürlich physikalisch ab, sie macht die Wand schwarz. Allein
wenn die Wand in natura aufgehellt wird, wird sie es auch auf dem Bild.
Wenn ja, so muß der Maler physikalisch sehen lernen und entsprechend
darstellen. Vielleicht erleichtert es aber die Auffassung, wenn die Gedächtnis-
farbe gemalt wird, wenn das Bild dem auffassenden Sehen Arbeit wegnimmt.
Oder soll die Axbeit ganz weggenommen und die Eigenfarbe gemalt werden,
so wie es das Kind tut, das die Kirsche gleichmäßig rot malt, weil sie ,, in Wirk-
lichkeit" überall gleichmäßig rot ist, unbekümmert um die zufälligen Schatten?
Die Fragen sind kaum aufgeworfen, geschweige denn gelöst. Für die Pädagogik
ist es schon von Wert, wenn die Probleme gestellt sind, wenn es klare mid über-
zeugende Versuche zur Demonstration und Untersuchung derselben gibt.
Zum Schluß seien noch einige Versuche und Materialien über Glanzfarben
angegeben.
Glanzpapier und Glanzstoffe. Papiere und Stoffe von verschiedenem
Glanz (Hochglanz, Mattglanz, Seidenglanz) und verschiedener Farbe (Silber,
Zeitschrift f. pAdagog. Psychologie. 8
114 Probleme tmd Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Gold, Kupfer, Schwarz usw.). Die Papiere sind auf Karton gespannt und können
so aufgestellt werden, daß sie eine schwache Krümmung wie eine Säule bilden.
Man kann deutlich die verschiedenen Reflexwirkungen sehen und vergleichen.
Wesentlich ist nun folgender Versuch. Man blickt durch einen Schirm mit
einem passenden Loch so, daß das Loch gleichmäßig von Farbe ausgefüllt ist.
Wenn man dabei auch die hellsten Stellen heraussucht, erscheinen sie doch
(vorausgesetzt, daß sie gleichmäßig sind), nicht glänzend, sondern bestenfalls
leuchtend oder durchleuchtet. Bei schwarzer Seide oder schwarzem Samt er-
geben die glänzenden Stellen ein ziemlich dunkles Grau.
Man ersieht daraus, daß das Spezifische von Glanzfarben nicht in dieser oder
jeher Farbe, nicht in den hellen ,, glänzenden" Stellen allein liegt, sondern in
der Zusammensetzung: Silber, Gold z. B. sind keine neuen Farben gegenüber
denen der früher erwähnten Pyramide, sondern nur zusammengesetzte
Farben. Eine spezifische, ganz bestimmte Art der Zusammensetzung (die auch
von der Beleuchtung abhängig ist), gehört zum Wesen dieser Farben. Es ist
schwierig, sich von der populären Auffassung, daß Silber eine ebenso einfache
homogene Farbe sei, wie z. B. Rot, freizumachen.
Versuche mit dem Nuancierungsapparat über Glanz. Eine Glas-
platte ist mit mattem, sehr gleichmäßigem Silberpapier bezogen. Man blickt
durch den Schirm : bei keiner Neigung erscheint das Papier glänzend, auch nicht
bei der Neigung, wo es am hellsten ist. Dagegen tritt sofort der Eindruck des
Glänzens auf, wenn man das Papier bewegt, so daß helle und dunkle Stellen
schnell wechseln. Also wieder erweist sich Silber als zusammengesetzt; nur
diesmal sukzessiv zusammengesetzt.
Dabei ist ganz homogenes Papier Voraussetzung. Ist das Papier uneben oder
kömig, so erkennt man auch bei ruhiger Lage das Silberartige.
(Fortsetzung folgt.)
Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik
und Psychologie.
Von Gustav Deuchler.
I.
1. Wenn man innerhalb der organischen Wissenschaften von Korrelation
spricht, so setzt man im allgemeinen zwei relativ selbständige Merkmale
eines Gebildes voraus, die in gewisser gegenseitiger Abhängigkeit vonein-
ander stehen. Im Wortsinn des Ausdrucks Korrelation freilich liegt diese
relative Selbständigkeit nicht begründet; denn dieser deutet lediglich auf
eine gegenseitige Beziehung hin, und darum kann der Ausdruck Korrelation
auch in einem viel weiteren Sinn gebraucht werden, als dies gewöhnlich in
der biologischen und psychologischen Wissenschaft geschieht. Wenn man
in der Anthropologie und Psychologie von einer Korrelation, z. B. von einer
gegenseitigen Beziehung zwischen der Länge der Arme und der Länge der
über die Methoden der Korrelationsrechnimg in der Pädagogik usw. 115
Beine oder zwischen der mathematischen und der musikahschen Begabung
des Menschen und dergleichen spricht, so sind die beiden in Beziehung ge-
setzten Merkmale oder Fähigkeiten als Teile, die einer relativ selbständigen
Betrachtung oder Untersuchung fähig sind, gedacht. Wie der Zusammenhang
zwischen den Merkmalen oder den Fähigkeiten geartet ist, kommt bei der
Konstatierung einer Korrelation nicht weiter in Betracht. Erst gilt es einmal
zu untersuchen, ob dieser gegenseitige Zusammenhang ein engerer oder loserer
ist ; anders ausgedrückt : wie groß der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit
oder der Grad der Korrelation ist.^) Aber ebenso gut wie ich nach der
Korrelation zwischen mathematischer und musikalischer Begabung fragen
kann, kann ich natürlich auch nach der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen
den Merkmalen eines Dreiecks oder den Druck- und Volumgrößen des Gay-
Lussacschen Gasgesetzes fragen. Die mathematischen Methoden, die es er-
möglichen, Korrelationen zahlenmäßig zu formulieren, sind nun auch ganz
unabhängig von der speziellen inhaltlichen Ausprägung des Korrelationsbe-
griffes. Sie lassen sich darum auch gewinnen, wenn man von dem allge-
meinsten Begriff der Korrelation ausgeht, wie er sich im Anschluß
an den Wortsinn ergibt. Das soll für die folgenden Betrachtungen maßgebend
sein. Wir definieren daher Korrelation als den gegenseitigen Zu-
sammenhang oder die gegenseitige Abhängigkeit der Merk-
male eines Gegenstandes irgendwelcher Art, gleichviel ob man
diese gegenseitige Beziehung sich positiv oder negativ denkt,
ob also mit dem Dasein oder Fehlen des einen Merkmals das
Dasein oder Fehlen des anderen gegeben ist, oder ob mit der
Veränderung des einen Merkmals eine gleichsinnige oder
entgegengesetzt gerichtete Veränderung des anderen ver-
bunden ist.^)
2. Wir können uns die Eigenart des Korrelationsproblems noch dadurch
deutlicher machen, daß wir es in Gegensatz stellen zu den Fragen, die in
der heutigen Psychologie noch hauptsächlich im Vordergrund stehen, als
deren eine Weiterführung aber das Korrelationsproblem erscheint. Die Mehr-
') Da es sich bei Betrachtungen korrelationsstatistischer Art nicht um etwas real
Einfaches und Letztes handeln kann, wenn man von Merkmalen spricht, so ist es
wohl ein Irrtum, wenn W. Stern (Differentielle Psychologie, S. 281) meint, der Zu-
sammenhang habe keine Grade. Der Zusammenhang kann ja ein engerer oder
loserer sein.
') Verschiedene Fassungen des Korrelationsbegriffes habe ich diskutiert in meiner
Schrift: Die Methoden der Rang- und Orduungskorrelationen und ihre
Anwendungen ; 5. Heft der ,Wiss. Beiträge zur Pädagogik und Psychologie', hrsg. von
G. Deuchler und D. Katz. Der Wahrscheinlichkeitsbegriff hat meiner Ansicht nach
keine spezifische Bedeutung für den Korrelationsbegriff, wie es Stern (a. a. O. S. 280 f.)
anzunehmen scheint. Auch lassen sich sämtliche Koeffizienten formulieren ohne
Kekiirs auf denselben; denn sie sind ja weiter nichts als Spezialprobleme der so-
genannten algebraischen Logik. Und wenn man die gegenseitigen Bezlehxmgen,
die in zwei korrelierten Versuchsreihen vorliegen, mit Hilfe von Koeffizienten
präzis formuliert, charakterisiert man lediglich einen Tatbestand, keine Wahrschein-
f lichkeit. Zur Wahrscheinlichkeitsbestimmung wird das Resultat erst, wenn man es
als Repräsentanten allgemein vorhandener Beziehungen auffaßt. Wie weit man
dazu berechtigt ist, darüber entscheiden die Streuungswerte (vgl. auch unten S. 120 ff.).
8*
116 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
zahl der Arbeiten innerhalb der reinen und angewandten Psychologie könnte
man unter den allgemeinen Titel bringen : Untersuchungen der Beziehungen
subjektiver Verhaltungsweisen zu den objektiven Ordnungsmerkmalen und
Maßkontinuen. So stellt man die Art und Häufigkeit der Sprachfehler
in ihrer Abhängigkeit vom Alter, vom Geschlecht oder der Art der Dar-
bietung der Sprache usw. fest ; man untersucht den Verlauf des Vergessens
in der Zeit; die Abhängigkeit der Lernleistung von der Anzahl der Darbie-
tungen; die Modifikationen, welche einfache Willenshandlungen unter ver-
schiedenen Vorbereitungsformen erleiden ; die Abhängigkeit der Unterschieds-
schwelle von der Intensität und Qualität der Empfindung, von dem
Spannungsgrad der Aufmerksamkeit usw. Immer handelt es sich hier um
die Gesetzmäßigkeiten eines bestimmten Verhaltens. Um den formalen
Gegensatz zum Problem der Korrelation auch im Wort zum Ausdruck zu
bringen, können wir sagen: es handelt sich um die Feststellung der Rela-
tionen. Freilich ist dieser Begriff recht vieldeutig; aber in ordnungs-
und maßtheoretischen Betrachtungen vermag er doch recht gut diese an-
gedeutete Problemgruppe zu bezeichnen und gegenüber den Fragen der
Korrelation abzugrenzen. Diese bauen sich also auf jenen auf und bilden
zugleich ihnen gegenüber eine Fortsetzung des Problemkreises innerhalb
der psychologischen Forschung. Für die Behandlung der Korrelationen
erhalten wir daraus ein wichtiges allgemeines Ergebnis: die Darstellung
der Abhängigkeit einer psychischen Funktion von irgendwelchen ordnen-
den oder messenden Koordinaten schließt sich im allgemeinen an ein
eindimensionales Gebilde (Gerade, Zahlenreihe) an. Dies wird zum Träger
der Maß werte oder der ordnenden Merkmale, denen wü- dann die ent-
sprechenden Häufigkeiten zuordnen. Wo wir es mit Korrelationen zu
tun haben, brauchen wir immer zum mindesten zwei ordnende Dimen-
sionen; denn der einfachste Fall liegt da vor, wo wir die gegenseitige Ab-
hängigkeit zwischen zwei Merkmalen untersuchen; wir brauchen drei, wenn
wir den gegenseitigen Zusammenhang di*eier Merkmale behandeln wollen;
vier Merkmale erfordern vier Dimensionen usf.; kurz: wir brauchen zur
Behandlung der gegenseitigen Abhängigkeit von n Merkmalen
zum mindesten ein n-dimensionales Ordnungssystem; dabei sehen
wir noch von der Häufigkeit des Auftretens des einzelnen Merkmales ab.
Für die folgende Betrachtung kommt nur die Korrelation zwischen zwei
Merkmalen in Frage. — Wenn Reihen zum Zweck der Korrelationsbestim-
mung einander zugeordnet sind, so soll das als Konstellation bezeichnet
werden.
3. Nachdem wir den Gegenstand der Korrelationslehre formal so um-
schrieben haben, besinnen wir uns noch auf die sachlichen Aufgaben
dieser Disziplin. Da die Korrelation nichts aussagt über die Art der gegen-
seitigen Abhängigkeit, sondern ledigHch den Grad des gegenseitigen Zu-
sammenhangs ausdrückt, so ist die erste und allgemeinste Aufgabe der
KoiTelationsmethode die, gegenseitige Zusammenhänge bekannter Art ihrem
Grade nach exakt zu formulieren. Wenn es aber die allgemeine Aufgabe
wissenschaftlicher Forschung insbesondere auf unserem Gebiet ist, die Art
der Zusammenhänge aufzudecken, und wenn die Bestimmung der Art der
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 117
Zusammenhänge leichter geschehen kann im Anschluß an eine bestimmte
Formulierung des Grades dei^ Abhängigkeit, so können wir der Korre-
lationsmethode eine zweite Aufgabe zuschreiben, nämlich die: noch un-
bekannte gegenseitige Beziehungen zunächst einmal zu präzisieren und da-
durch bestimmte Anhaltspunkte für die Erforschung der Art des Zu-
sammenhangs zu geben. Wir sehen also, die Korrelationsmethode
stellt sich allgemein als ein Denkmittel dar, das ermöglicht, eine
Mehrheit gegenseitiger Beziehungen zu erfassen und in einen exakten
Ausdruck zu bringen.
4. Diesen Aufgaben wird nun die Kon'elationsmethode gerecht, wenn sie
1) Berechnungsmethoden ausbildet, die gestatten, die gegenseitigen
Beziehungen, die in Versuchsmateriahen oder in statistischen Erhebungen
zum Ausdruck kommen, genau zu bestimmen, also in einer präzisen Sprache
darzustellen. Insoweit untersteht dann die Korrelationsmethode einem
deskriptiven Zweck. Über diesen geht sie hinaus, wenn 2) die Fi*age
nach der Allgemeinheit dieser Abhängigkeitsbeziehungen ins Auge gefaßt
und demgemäß gewisse theoretische Grrößen formuliert werden, auf
welche die empirisch gewonnenen, aus dem Material berechneten Abhängig-
keitsbestimmungen zu beziehen sind, falls diese einen allgemeineren Sinn be-
kommen sollen. Diese theoretischen Größen geben Kriterien der gegen-
seitigen Abhängigkeit und der Sicherheit, bezw. der Unsicherheit der Be-
stimmung ab; man kann sie deshalb auch als kritische Werte be-
zeichnen.
5. Historisch hat sich nun die Methode der Korrelationsrechnung zuerst
an Merkmalen ausgebildet, die durch Maßwerte charakterisiert sind. Erst
als sich der Korrelationsgedanke auch mit psychologischen Problemstellungen
vorband, versuchte man energischer, auch gegenseitige" Beziehungen zwischen
solchen Merkmalen zu formulieren, die nicht meßbar, sondern bloß der unbe-
stimmten Ordnung, oder wie man auch sagt, der Rangierung, oder aber bloß
der Spezialisierung, fähig sind. Man unterscheidet heute auch demgemäß
bereits Maßkorrelationen und Rangkorrelationen. Maßkorrelationen liegen
also innerhalb des psychologischen Gebietes überall da vor, wo die einzel-
nen Leistungen der zu korrelierenden Funktionsgebiete durch Maßwerte
charakterisiert sind ; so z. B. wenn die durch die Zeit oder die Anzahl der
Aufgaben gemessene Additionsfähigkeit mit der ebenfalls durch die Zeit
Ofler durch die Anzahl der Aufgaben gemessenen Fähigkeit des Multipli-
zierens korreliert wird. Rangkorrelationen erblickt man da, wo man eine
Reihe von Individuen hinsichtlich ihrer Leistungen auf irgendwelchen Gebieten
bloß nach einem Mehr oder Weniger, Besser oder Schlechter beurteilt und an-
ordnet, um dann aus diesen Rangordnungen die gegenseitige Abhängigkeit zu
gewinnen. Wenn manz. B. die Schüler einer Klasse nach iliren Leistungen in zwei
Gebieten loziert, so kann man daraus die gegenseitige Abhängigkeit beider
[Funktionsgebiete bestimmen; ebenso ist dies möglich auf Grund der Zen-
juren oder der Zeugnisse in beiden Gebieten. Solche Bestimmungen
sind formal richtig; ob sie die gegenseitigen Beziehungen der beiden
iOistungsgebiete wirklich zum Ausdruck bringen, hängt natürlich
^on der Richtigkeit und Soi'gfalt der Lozierung und Bezeugnissung
118 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
ah}) Bisher fast gar nicht oder ungenügend beachtet wurde der Umstand, daß
sich zwischen die Rang- und Messungsreihen die Reihen der bestimmten
Ordnung einfügen; diese stehen zwar den Maßreihen in der Behandlung sehi'
nahe, haben aber doch eine selbständige Bedeutung und sind für die Psycho-
logie außerordentlich wichtig. Wir werden im folgenden zuerst die Rangkorre-
lationen betrachten, weil sie methodisch am einfachsten sind. Dabei werde
ich zunächst zwei Koeffizienten für Rangordnungen behandeln, die bisher
noch nicht allgemein im Gebrauch sind, dann erst auf die Methoden für
Rangordnungen eingehen, die bisher fast allgemein angewandt wurden;
weiter berühre ich kurz die sogenannten Kontingenzbestimmungen ; zum
Schluß erörtere ich die Korrelationsberechnungen auf Grund von Reihen
mit bestimmter Ordnung und bringe der Vollständigkeit halber noch
den bekannten Bravaisschen Koeffizienten für Maßkorrelationen.
II.
1. Die Formeln, welche zur Berechnung von Korrelationen angewandt
werden, haben im allgemeinen eine solche Form, daß sie gleich + 1 werden,
wenn die gegenseitige Abhängigkeit in beiden Leistungsgebieten eine voll-
kommene und gleichmäßige ist, wenn also eine hohe oder gute Leistung auf
einem Gebiet eine hohe oder gute auf dem andern zur Folge hat ; sie werden
gleich — 1, wenn die gegenseitige Abhängigkeit eine zwar vollkommene aber
entgegengesetzte ist, wenn also hohe oder gute Leistungen auf dem
einen mit niedrigen oder schlechten auf dem andern Gebiet zusammen-
fallen, und sie werden gleich 0, wenn die beiden Leistungsgebiete gegen-
einander gleichgültig sind, wenn also mit jeder Leistung auf dem einen, jede
Leistung auf dem anderen verknüpft sein kann. Durch die zwischen + 1
und — 1 liegenden Werte sind sämtliche Grade der gegenseitigen Abhängig-
keit charakterisiert und zwar durch die Größen zwischen -\- 1 und 0 die der
gleichsinnigen oder positiven, durch die Größen zwischen 0 und — 1 die
der entgegengesetzt gerichteten oder negativen. Es ist nicht nötig, daß
man Korrelationen in dieser Weise zu präzisieren versucht; aber dieser
Modus ist für die Vergleichung zweckmäßig, und darum wird man ihn
überall anstreben, wo er möglich ist.^) Wichtiger ist, einmal daß die posi-
tiven und negativen Werte einander spiegelbildlich entsprechen — denn nur
dann hat es z. B. Sinn, mehrere Werte, worunter auch negative sein können, zu
einem resultierenden Wert nach der Regel des arithmetischen Mittels zu-
sammenzufassen — und zum andern, daß der Koeffizient mit um so größerer
Sicherheit auf eine gewisse Abhängigkeit hinweist, je größer sein Betrag ist.^)
^) Auf den Streit über die Berechtigting der Rangkorrelationen gehe ich hier nicht
ein; man vergleiche dazu die Ausführungen in meiner oben genannten Schrift. Nur
so viel sei bemerkt ; es kann sich gar nicht um die Alternative, Maßkorrelationen oder
Rangkorrelationen handeln; die Devise muß vielmehr lauten: Ausbildung der not-
wendigen Korrelationsmethoden; die notwendigen Methoden aber sind diirch das
zu verarbeitende Material und seine Beziehxjngen bestimmt.
') Über die Bedingungen, die bei Maßkorrelationen erfüllt sein müssen, vergleiche
vmten bei VI.
') Über weitere Kriterien zur Beurteilung der Güte eines Koeffizienten vergleiche
»Die Methoden der R.- u. O.-Korr.', Kap. V.
k
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 119
2. Den ersten Koeffizienten entwickeln wir im Anschluß an ein bestimmtes,
allgemein gehaltenes Problem.^ Die Unterschiede, die die Leistungen zweier
Schülergruppen Ä(u) und B{v) aufweisen, lassen sich meist nicht durch
Maßwerte ausdrücken; aber wir können sagen, ob je zwei Leistungen als
gleich oder verschieden anzusehen sind. Unser Urteil wird den objektiv
vorhandenen Sachverhalt umso genauer treffen, je einfacher die Leistungen
sind; bei komplexen Leistungen trifft er nur dann immer das Richtige, wenn
die Verschiedenheiten eine gewisse Größe erreicht haben. Für die folgenden
Betrachtungen kommen diese Dinge nicht weiter in Frage. Sind die Ver-
schiedenheiten in einer Hinsicht vergleichbar, d. h. bieten sie sich als Unter-
schiede wenn auch unbestimmter Art dar, so erhalten wir entweder das
Urteil A >B oder Ä <B oder A = B. Die u Schüler der Gruppe Ä sollen
ebenso wie die v der Gruppe B nicht weiter voneinander unterschieden werden ;
dagegen sollen die Merkmale Ä und B den Schülern der betreffenden Gruppen
spezifisch sein; es mögen z.B. zur Gruppe Ä nur besser begabte, zur Gruppe B
nur weniger begabte Schüler gehören. Nun kann ich nach der gegenseitigen
Abhängigkeit der Leistung und Begabung fragen. Praktische Probleme
dieser Art liegen ja immer da vor, wo man die Versuchspersonen
in zwei distinkte Gruppen {Ä und B) einteilen kann und wo dann immer
eine der einen mit einer der anderen Gruppe in Vergleich kommt (z. B.
bei allen Leistungen, die die Form des Zweikampfes haben oder deren Resul-
tate nur in einer zweigliedrigen Vergleichung näher charakterisiert werden).
Ist das Verhältnis der zwei vergleichenden Leistungen so, daß das Urteil
Ä > B herauskommt, so mag ein Pluszeichen markiert werden; wird das
Urteil aber A < B, so sei Minus verzeichnet, und ist A = B, so schreiben
wir 0. Das Zeichen 0 können wir zur Hälfte zu den Plus- und zur Hälfte zu
den Minuszeichen rechnen. Dann besteht vollkommene Übereinstimmung
zwischen der höheren Begabung und der höheren oder größeren Lei-
stung, wenn ich lauter + zu verzeichnen habe; die Übereinstimmung wird
umso geringer, je mehr — an Stelle der H- treten; sind nur — vorhanden,
so stehen Begabungshöhe und Leistungshöhe im vollkommenen Gegensatz.
Die Anzahl der Pluszeichen soll mit i, die der Minuszeichen mit k bezeichnet
werden. Wir haben dann in der Gleichung (1) und ihren auf der Relation
t= i +k sich aufbauenden Umformungen,
i—k 2 k 2 i
r=^— -j- = l = 1, (1)
t+k t t '
die Definitionsgleichungen eines Koeffizienten mit den erwünschten Eigen-
schaften. Er bewegt sich symmetrisch zu 0 zwischen -fl und — 1 und drückt die
Grade der gegenseitigen Abhängigkeit in ihrer positiven oder negativen Form
dadurch aus.
3. Wir müssen noch einen Augenblick bei der Anzahl der Vergleichungen
verweilen. Es ist klar, daß man das dem objektiven Tatbestand am besten
entsprechende Resultat dann erhält, wenn man a 1 1 e Vergleichungen voll-
zieht, die möglich sind; d.h. wenn man jeden Schüler der Gruppe A zu
jedem der Gruppe B in Vergleich bringt. Die Anzahl der Vergleichungen
120 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
und somit die Gesamtzahl (0 der zu notierenden Zeichen ist dann durch
die Gleichung (2) definiert
t=i-hk = uv; (2)
oder wenn u = v ist, was zwar nicht sein muß, aber doch wünschenswert ist,
durch die Gleichung (3)
f = 4 +fc = w2 = i;2. (3)
Sind die beiden Gruppen gleich groß, so kann man ja auch noch daran denken,
die Vergleichung in der Weise durchzuführen, daß man die u = v Schüler
in u = V Paare ordnet und lediglich u = v Vergleichungen ausführt. Zur
Bestimmung des endgültigen Resultates wird man immer die zuerst betrach-
tete, voll ständige Vergleichung benützen und das zweite Verfahren nur da
anwenden, wo es nicht anders geht (solche Fälle gibt es Ja auch) oder wo
man nur einen vorläufigen Einblick haben will; denn das erste Verfahren
gibt unter sonst gleichen Bedingungen einen viel sichereren Wert, wenn
auch die Größe des r in beiden Fällen sich nicht viel oder gar nicht unter-
scheidet.
4. An einem Beispiel sollen beide Arten der Bestimmung von r illustriert
werden^). Vier besser begabte und vier weniger begabte Schüler {Ai A^ A^
A^ bzw. Bx B2 B3 B4) der gleichen Klasse haben die gleichen Fragen zu
beantworten; die Art der Fragen und Antworten sind so, daß man zweck-
mäßigerweise immer nur die Leistung eines begabteren Schülers mit der
eines weniger begabten vergleicht. Führen wir dies im Sinne der vollstän-
digen und der abgekürzten Vergleichung aus, so erhalten wir die beiden
Schemata I und II.
(I)
AiA^A^A^
Bi + + 0 +
B2 + + 0 -f
B3— +— +
B4 + + 0 + J
^^12,5 3,5^ ^
16 '
A^AzAqA^
MM
B1B2B3 B^
+ +— +
3—1
/t =——= + 0,60
Eine gegenseitige Abhängigkeit zwischen den beiden Begabungsstufen und
der Höhe der Leistungen scheint danach zu bestehen, wenigstens ist der Kor-
relationsgrad im vorliegenden Fall 0,56 bzw. 0,50.
5. Mit einer einzigen Bestimmung dieser Art wird man sich aber nicht
zufrieden geben, wenn man ein allgemeines Urteil über die bestimmte Größe
des Grades fällen will. Gewiß kann Ja auch dieses Resultat bereits als Re-
präsentant eines allgemeinen Urteils angesehen werden, aber nicht eines
solchen über die bestimmte Größe der gegenseitigen Abhängigkeit, sondern nur
etwa über die Gleichsinnigkeit derselben : eine höhere Begabung prädestiniert
meistens zu einer höheren Leistung solcher Art. Will man aber über die
bestimmte Größe der Korrelation ein zuverlässiges allgemeines Urteil er-
halten, so muß man durch wiederholte Bestimmungen oder Versuche der
^) Das Beispiel ist der Arbeit von J. Sehrenk, Über das Verständnis für bild-
liche Darstellung bei Schulkindern, Heft 6, S. 72ff. der ,,Wiss. Beiträge zur Pädag. u.
Psychol.'' entnommen, und zwar sind es die Leistungen der 2 ><( 4 Schüler des
V. Schuljahres bei der Fragegruppe D.
über die Methoden der Korrölationsrechnung in der Pädagogik usw. 121
gleichen Art eine größere Anzahl (m) solcher r- Werte zu bekommen suchen,
um aus ihnen einen resultierenden Wert r^ zu berechnen. Als solchen wählt
man am besten das arithmetische Mittel der einzelnen r- Größen, das dann
definiert ist durch die Gleichung (4)
ti+ra+tsH hr.
m
(4)
Der durchschnittliche Betrag r^ repräsentiert die einzelnen Beträge, indem
er sie zusammenfaßt. Um aber die Abweichungen der Einzelbeträge vom
Durchschnitt zu charakterisieren, berechnet man am besten noch die mittlere
quadratische Abweichung oder den Streuungswert q nach der
Gleichung (5)
Vi:h-
•r..)^ + (r,-ig^+--- + (r„-g^
(5)
Die Streuung q wird umso kleiner, je näher die Einzelwerte beim Durch-
schnitt liegen.^)
6. Je größer nun m, d. h. die Anzahl der einzelnen r ist, desto größer ist
die Wahrscheinlichkeit, daß alle Konstellationen, die unter den gegebenen
Verhältnissen bei den t Vergleichungen möglich sind, erschöpft sind und
daß infolgedessen r^ den , wahren' Mittelwert der Konstellationen ausdrückt.
Dann kann man die Abweichungen der einzelnen r- Werte auch als Fehler
auffassen und q^ als den quadratischen Mittel fehler oder — miß-
verständlicher freilich — als den mittleren Fehler der Einzelwerte
bezeichnen. Hier hat also q^ oder l:qs die Bedeutung eines Sicher-
heitsmaßes: ein einzelner Wert hegt dem , wahren' Mittelwert umso näher
und kann für ihn umso eher eingesetzt werden, je kleiner q ist. Doch es ist
nicht nur das ; wir gewinnen mit Hilfe von q sofort noch eine andere Relation.
Da Tg dem wahren Mittelwert erst bei unbegrenzt großem msich völlig annähert,
so ist es bei endlichem m im Hinblick auf jenes natürlich immer noch mit
einem durchschnittlichen Fehler (m) behaftet, der zwar mit wachsendem m
kleiner und kleiner wird. Es läßt sich nun zeigen^) — das soll hier nicht
weiter geschehen; denn es ist ja auch, wie die Lehre vom arithmetischen
Mittel und vom Streuungswert, nicht für die Korrelationsmethode spezi-
fisch — , daß
m = -^ (6)
ist; d. h. der mittlere Fehler des Durchschnittswertes von m Einzel-
werten ist sowohl von der Größe q^ wie auch von m abhängig; er sinkt um
80 eher unter einen vorgegebenen Betrag, je kleiner q^ und je größer mist.
(Man beachte den Unterschied des mittleren Fehlers des Mittelwertes
') Vgl. auch meinen Aufsatz: Über absolute und relative Streuungswerte; diese
Zeitschrift Bd. XIV, Heft 6, S. 305ff.
•) Vgl. z. B. Die Methoden der R- n. O.-Korr., Kap. VI, oder W. Johannsen,
Elemente der exakten Erblichkeitelehre, 2. Aufl., S. 92ff.
122 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
(bzw. sämtlicher Konstellationen) vom mittleren Fehler des Einzel-
wertes (bzw. einer Konstellation).)
7. Wir haben nuD die Berechnungsformeln dieser Korrelationsmethode
entwickelt und auch die Präge der Verallgemeinerung des Durchschnitts-
werts diskutiert. Zur Behandlung bleibt uns noch das Problem der All-
gemeinheit des einzelnen r- Wertes und das der Kriterien der Abhängigkeit.
Wir wenden uns zunächst der zweiten Frage zu und beginnen damit,
das theoretische arithmetische Mittel (to) und den dazu gehörigen theore-
tischen Streuungswert (qo) im Fall der Unabhängigkeit zu bestimmen. Theo-
retisch sind diese Werte, weil sie eine unbegrenzte Wiederholung desselben
Versuches unter den gleichen Bedingungen voraussetzen, was ja nur gedank-
lich möglich ist, nicht aber weil sie praktisch bedeutungslos sind. Denn ihr
praktischer Wert besteht gerade darin, daß sie Normen für die empirischen
Ergebnisse abgeben. Der Index o soll zugleich andeuten, daß diesen theo-
retischen Größen keinerlei Unsicherheit mehr anhaftet. '^
Unabhängigkeit bedeutet, daß man bei unbegrenzter Wiederholung der
t Vergleichungen alle möglichen Resultate hinsichtlich der Konstellationen
in gleicher Anzahl erhält. Dabei durchläuft i die Werte t, t — 1, f — 2,
•••« — >^, •••, 2, 1,0, während h gleichzeitig die Werte 0, 1, 2, •••X...( — i, t
annimmt. Wir brauchen daher nur die fe- Werte zu berücksichtigen; sie ge-
nügen ja auch zur Berechnung von r. Jeder fe-Wert kann aber nach den
Regeln der Kombinatorik auf f M = ^0— 1) (<— 2)-- • • -0— >- +1) ^^^^^
\X/ 1*2'3*...*A
Weise zustande kommen, so daß wir bei einmaligem gleichmäßigem Aus-
schöpfen aller Möglichkeiten — und darauf können wir uns beschränken,
weil die Wiederholung nichts Neues bietet — zu den fc- Werten folgende
Häufigkeitsziffern (z) erhalten:
k= 0, 1, 2, 3, ••• X, • • ., t— 2, f— 1, t (7)
Da nach Gleichung (1) jedem fc-Wert ein bestimmter r-Wert entspricht, so
berechnen wir zunächst das durchschnittliche fe und gehen dann zu t über.
Das durchschnittliche h — es sei Z benannt — bekommen wir, wenn
wir die übereinanderstehenden k- und 2- Größen multiplizieren und die Summe
sämtlicher Produkte durch die Summe aller 2- Größen, also durch 2' divi-
dieren. Es ist also
^=Q (9)
*) Die Werte für z erhält man also auch, wenn man {a-}-6)' nach den Regeln des bino-
mischen Satzes entwickelt und dann a—b = l setzt; kürzer ausgedrückt, wenn man
2' = (1 -}- 1)< entwickelt. Mit Hilfe dieser Relation wird die Bestimmung des arith-
metischen Mittels tmd der Streuungswerte einfacher, wenn man eine andere Me-
thode anwendet, deren Gebrauch allerdings ein wenig Differentialrechnung voraus-
setzt. Vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Korr., Kap. VI.
'
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 123
Den Ausdruck in der Klammer können wir etwas umlormen: der gemein-
same Faktor t kann vor die Klammer gesetzt werden; die Größe vor jedem
Glied hebt sich gegen den höchsten Faktor im Nenner; wir erhalten dann
^""2'^^ 1 ^ 1-2 ^ ^1.2-3.. .0—1); S' 2^^"^
Da das arithmetische Mittel aller fe- Werte gleich ^e ist, so wird mit Rück-
2 .1/ f
sieht auf Gleichung (1) r^, = 1 -l- = i— i = o. (11)
V
Nun berechnen wir die mittlere quadratische Abweichung der
einzelnen fc- Werte vom Durchschnitt K; sie sei Q benannt. Wir gewinnen
Q^, indem wir von jedem einzelnen fc-Wert '^Ut=^ K abziehen, die Differenz
quadrieren, mit der entsprechenden Häufigkeitsziffer multiplizieren und
die Gesamtheit der Produkte wieder durch 2< dividieren. Es ist also
k-
1^0
=h20-^'-
(12)
l .t\ I/o „t „ f(f— 2) t(f— l)(f— 2)
Nunist^^'^ h2^fc^-^+^"T+^^ Vr+^^ 1.2-3
x=o
t ( i—\ (f— 1)(<— 2) . t— l(t-2)(t-3)
2'\' 1 ' 1-2 1-2-3
Den Ausdruck in der Klammer schreiben wir nun zweimal in entgegen
gesetzter Reihenfolge hin; dann bekommen wir
Da ( ^ ) = ( T, ) ist, so sind in den übereinanderstehenden Gliedern die
zweiten Faktoren immer gleich. Wenn wir dann den durch Addition erhaltenen
gemeinsamen Faktor (<+l) herausstellen, so erhalten wir
124 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
Der fragliche Ausdruck in der Klammer oben ist dann gleich der Hälfte, also
gleich 0+1) 2'-^ Somit wird, da Z2= — ist,
'
4 '
f t^ + t
4 4
4 ~
t
(13)
daraus folgt: Q'=±jl^t' (14)
Wenn wir nun von hier aus den zu to gehörigen Streuungswert q^ bestimmen
wollen, so müssen wir bedenken, daß Q und qo lineare Größen sind, die im
gleichen Verhältnis stehen müssen zu den Ausdehnungsgebieten, die sie
charakterisieren. Es ist also
qo:Q = 2:t oder q« = ?^. (15)
Daraus ergibt sich infolge der Gleichung (14)
^o=-±YJ- (16)
Das theoretische arithmetische Mittel und der theoretische
Streuungswert sind bei t Vergleichungen durch die Doppel-
1
gleichung ro+qo = OHh— -= gegeben.
• y t
Es liegt somit Unabhängigkeit vor, wenn bei einer häufig
genug ausgeführten Wiederholung der t Vergleichungen das
arithmetische Mittel r^ und die mittlere quadratische Ab-
weichung qs die Doppelgleichung r3 + qs = ro + qo hinreichend be-
friedigen. Ist dies nicht der Fall, so haben wir Abhängigkeit vor uns.
Diese müssen wir noch etwas betrachten ; wir wollen aber zuerst das anschau-
lichere Problem der theoretischen Häufigkeits- und Wahrscheinlichkeits-
kurve behandeln.
8. Wenn wir in den Gleichungen (7) und (8) für ( eine bestimmte Größe,
z. B. 6, einsetzen, so erhalten wir für k und 2 die folgenden Werte:
(III)
Beigefügt sind noch die aus den einzelnen k folgenden r- Werte. Tragen
wir die Beträge für k (oder für r) auf einer Abszisse ab, auf den Ordinaten
die entsprechenden Beträge von z und verbinden wir die Spitzen der Ordi-
naten so, als ob 2 eine stetig sich ändernde Größe wäre, so bekommen wir
eine stetige Häufigkeitskurve — hier in diesem Fall die theoretische
Häufigkeitskurve für t—G. Da die Häufigkeitszahlen hier mit Hilfe der
Binomialformel darzustellen sind, so sollen diese Kurven kurz Binomial-
k-= 0
1
2
3 4
5
6
0=1
6
15
20 15
6
1
r -= 1
2
T
1
o-i-
2
— 1
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw, 125
kurven^) oder einfach J5-Kurven heißen. Dividieren wir die einzelnen Be-
träge der z durch die Gesamtsumme der 0, d. h. bilden wir den Quotienten
z z
/i = -x7 = rg, so erhalten wir die relativen Häufigkeiten der einzelnen it
Werte und demnach auch der einzelnen r- Werte. Die relative Häufigkeit
eines Wertes ist aber gleich der Wahrscheinlichkeit seines Auftretens. Da
es gleichgültig ist, ob ich die Kurve auf Grund der absoluten {£) oder der
relativen Qn) Häufigkeiten zeichne — denn es kommt ja immer noch der
zur Abszisse relevante Maßstab in Betracht — so kann die Häufigkeitskurve
zugleich als Wahrscheinlichkeitskurve angesprochen werden. Nehmen
wir anstatt f = 6 ein immer größeres t und zeichnen auf der gleichen Basis
weitere Häufigkeitskurven, die den gleichen Flächeninhalt wie die erste
einschließen 2), so steigen diese steiler und steiler an, d. h. der Haupt-
teil des immer gleichen Flächeninhalts schiebt sich immer mehr der Sym-
metrieachse entlang in die Höhe; die Glockenform behält die Kurve bei.
Wächst t unbegrenzt, so schrumpft die Glockenform zur Symmetrieachse
zusammen. Das gleiche ergibt sich aus der Betrachtung des Streuungswertes
q^j, der ja mit ständig wachsendem X kleiner und kleiner wird und sich
schließlich der 0 nähert. Für die Binomialkurve gibt es nun eine bekannte
Näherungsformel, die um so genauer wird, je größer i ist, nämlich die, die
das sogenannte Gaußsche Fehlergesetz ausdrückt. Ich setze sie mit den
Größen des vorliegenden Problems hierher, ohne auf ihre Ableitung weiter
einzugehen.3) Für die relative Häufigkeit ^ der einzelnen fe- Werte gilt, wenn
x = 0 mit dem arithmetischen Mittel, d. h. hier zugleich mit der Symmetrie-
achse zusammenfällt,
1 _ A • 1 X*
*) Die Kurve Ä (n=5) der Fig. 1 unter IV kann gut als Abbildung der Binomialkurve
für < = 6 dienen, da sie fast vollständig mit dieser übereinstimmt. Vgl. Die Methoden
der R.- u. O.-Korr., Kap. VIII.
•) Bezüglich der basis- und inhaltskonstanten Häufigkeitskurven vgl. man den Auf-
satz : Über absolute und relative Streuungswerte, diese Zeitschrift, Bd. XIV, Heft 6,
S. 316ff. Die Anwendung auf den speziellen Fall hier vgl. die Meth. d. R.- u. O.-Korr.
Kap. VIII. Sind ; die Abszissenschritte, l die entsprechenden Ordinaten, so gelten für
die auf dem Ausdehnungsgebiet von r abgebildeten Binomialkurven die Gleichungen
. 2 t
) Die Formel, die das Gaußsche Fehlergesetz ausdrückt, kann in verschiedener
Weise gewonnen werden. Die zwei deduktiven Ableitvmgen findet man z. B. im
I. Bd. von Czubers Wahrscheinlichkeitsrechnung. So schön diese Ableitungen sind
und soviel Reiz sie für den mathematisch Geschulten besitzen, in Darstellungen, die
sich an Nicht-Mathematiker wenden tmd die dann auch nur den Zweck haben können,
eine Formel verständlich zu machen, sollte man die einfacheren, wenn auch weniger all-
gemeinen Methoden nicht ignorieren. Eine solche findet sich z.B. in Navier s
Lehrbuch der Differential- und Integralrechnimg 1875, Bd. II, S. 312ff. Ohne
Infinitesimalrechnung bringt diese Formel Uduy Yule, Introduotion to the theory
of statistics' S. 301 ff. dem Verständnis nahe. Ähnlich ist sie in den Methoden d.
R.- u. O.-Korr., Kap. VHI gegeben.
126 Über die Methoden der Korrelationsreohniing in der Pädagogik usw.
worin t und Q die Größen der Gleichung (14) und ± x die von der Mitte aus-
zurechnenden Werte des Ausdehnungsgebietes von fc sind. Für die Wahr-
scheinhchkeitskurve der r- Werte lautet diese Näherungsformel vermöge des
anderen Ausdehnungsgebietes
JL__.^'
l^_=—^=e^,\
In (17) und(18)iste=2,718281... und ;:= 3,14152...! (18)
Dabei bedeutet qo dasselbe wie in Gleichung (16), also gleich -— und +x
VI -
die laufenden Abszissenwerte von 0 bis +1.
9. Wir sahen : die Häufigkeitsverteilung in den Gleichungen (7) und (8)
sowie die daraus folgenden Gleichungen für das arithmetische Mittel, der
Streuungswert und die Näherungsformel für die Häufigkeits- und Wahr-
scheinlichkeitskurven schließen sich an die Entwicklung (1 + 1)' an. Dies
ist also der Ausdruck dafür, daß bei dem einmaligen völligen Ausschöpfen
aller Fälle, die bei ( Vergleichungen möglich sind, im Durchschnitt auf 1
Plus 1 Minus kommt. Wenn nun statt dessen bei den t Vergleichungen im
Durchschnitt auf i Pluszeichen fc Minuszeichen kommen, wenn also Ab-
hängigkeit vorhanden ist, so gibt das Binom {i + /<;)', von dem das frühere
nur ein Spezialfall ist, die Grundlage für die theoretischen Betrachtungen
ab. Wir können in i und k auch das Verhältnis der Chancen, die in jeder
einzelnen Vergleichung für Plus und Minus bestehen, erblicken. In zwei
aufeinanderfolgenden Vergleichungen mit dem gleichen Chancenverhältnis
erhalten wir dann für das Auftreten der Plus- und Minuszeichen {i + k).
{i+h) Chancen, da jede Chance bei der zweiten Vergleichung mit jeder der
ersten zusammentreten kann, also i^ Chancen für Plus-Plus, i-k im Plus-
Minus, fc- 1 für Minus-Plus und F für Minus-Minus ; bei t Vergleichungen haben
wir dann entsprechend (i + fc)' = i'+ T *)i'-i.ä;+ Q)i'T2/c2_^.-.-f-M Y
tfe'-i + fe' Chancen, daß t Plus und 0 Minuo, t — 1 Plus und 1 Minus,
t — 2 Plus und 2 Minus 1 Plus und t — 1 Minus, 0 Plus und t Minus auf-
treten. Wir brauchen also wieder nur Plus oder nur Minus zu berücksich-
tigen, wenn wir die Verteilung der Chancen anschreiben wollen. Und da sich
bei einmaligem Ausschöpfen aller Möglichkeiten der Vergleichungen diese
Chancen ihren Relationen entsprechend gelten machen würden, so haben wir
in dieser Chancenverteilung zugleich die Verteilung der Häufigkeiten der
Minus- oder Pluszeichen. Dies ist entsprechend den Gleichungen (7) und (8)
dargestellt in den Gleichungen (19) und (20)
fe= 0 1 2 3 "• t—1, t I
Z = X
oder kürzer
■*,Q)i'-fc^Q>'-'fc'---(,J.JiJ.'-',(J)«:'
i^TV [X = 0, 1, 2, ...«]
(20)
i
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 127
Das arithmetische Mittel (K) aller k und die entsprechende mittlere qua-
dratische Abweichung (Q) gewinnt man auf ähnlichem "Weg wie früher. Man
erhält für
K = k (21)
und für z^» * • fc , .
Nun gehen wir wieder zum r-System über. Wenn bei unbegrenzter Wieder-
holung der t Vergleichungen im Durchschnitt K = k Minus zu verzeichnen
sind, so ist der Grad der gegenseitigen Abhängigkeit durch die Gleichung
2K 2k
ausgedrückt. Die zu Xq gehörige mittlere quadratische Abweichung qo ergibt
20
sich aus der Gleichung (15) q^ = — ; es ist also
2}/ik }/i'k
qo=^r T=^y ~F <24)
Nach Gleichung (1) ergibt sich aber für t= — ^ -und für k =— .
Setzen wir diese Beträge in Gleichung (24) ein, so bekommen wir
„=j/iEi:.^iEi. (.5)
Somit ist der dem Durchschnitt der % Plus- und k Minus-
zeichen entsprechende Grad der Abhängigkeit durch die Dop-
l/l — r2
pelgleichung :„ 4- qo = ^ 4- f charakterisiert.
Es liegt also ein bestimmter Grad (r) gegenseitiger Abhängig-
keit vor, wenn bei genügend häufiger Wiederholung der i Ver-
gleichungen durch die Mittelwerte r« und q« aus allen Fällen
die Doppelgleichung r, j^ q« = to + qo hinreichend befriedigt wird.
10. Wenn wir für i einen bestimmten Wert einsetzen, so können wir mit
Hilfe der Gleichungen (19) oder (20) die jedem resultierenden theoretischen
T-Wert entsprechende Häufigkeits- oder Wahrscheinlichkeitskurve be-
stimmen. In der Übersicht IV sind die Ordinatenwerte (Hj) der Häufig-
keitskurven für die fe- Werte 3, 2, 1 und 0 bzw. die theoretischen Korrelations-
werte 0,0; 0,33; 0,67 und 1 vergleichbar dargestellt, wenn t=6 ist. Die Ver-
gleichbarkeit konnte hier beim immer gleichen i einfach dadurch erreicht wer-
128 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik ixsw.
den, daß die relativen Häufigkeitswerte bestimmt wurden und zwar der Über«
sichtlichkeit wegen in prozentuellen Häufigkeiten. Es ist also immer
2; 100
XJ
' S^
^; 1^0 + qo
K-^
0
1
2
3
4
5
6
r.-^
+ 1
-f 0,67
+ 0,33
0,0
— 0,33
— 0,67
— 1
3; 0,00 + 0,4082
Ho,^
1.56
9.37
23.44
31.24
23.44
9.37
1.56
2; 0,33 + 0,3849
■"0,33
8.78
26.34
32.92
21.95
8.23
1.64
0.14
1; 0,67 + 0,3043
^0,^
33.49
40.19
20.10
5.36
0.80
0.06
0.00
0; 1,00 + 0,0000
^1.^
100.00
0.00
0.00
0.00
0.00
0.00
0.00
(26)
(IV)
Wir sehen aus dieser Übersicht, wie mit dem Übergang von der Unabhängig-
keit zu einer bestimmten Korrelationsgröße die Häufigkeitskurve immer
asymmetrischer und ihr Ausbreitungsgebiet immer kleiner wird ; das letztere
ist ja auch aus den nebenstehenden Mittelwerten zu erkennen. Für die
entsprechenden negativen Werte erhalten wir dasselbe Bild, nur im Spiegel
gesehen.
Auch für die asymmetrischen Verteilungen läßt sich für größere t eine
hinreichende genaue Näherungsformel angeben. Doch will ich darauf
hier nicht weiter eingehen; sie hat ja auch für die Theorie wie für die
Praxis keine große Bedeutung.^)
11. Die theoretischen Mittelwerte to und q^ kennzeichnen diejenige Form
der Abhängigkeit, die den Gesetzen der binomialen Verteilung folgt. Ob
(i + ky der richtige Ausdruck für die Chancen bei t Vergleichungen ist,
hängt zunächst davon ab, ob das Chancenverhältnis für sämtliche Verglei-
chungen dasselbe bleibt. Ist dies nicht der Fall, so tritt an Stelle des Pro-
duktes {i -f hy, das ja nur gleiche Faktoren enthält, ein anderes, in dem
gleiche und verschiedene Faktoren gemischt sind, je nachdem das Chancen-
verhältnis bei den einzelnen Vergleichungen dasselbe bleibt oder sich ver-
ändert. Sodann ist die binomiale Verteilung der Chancen an die Bedingung
geknüpft, daß sich die Chancen nach Maßgabe ihrer Größe uneingeschränkt
verbinden können. Diejenige Form der Abhängigkeit, bei der das
Chancenverhältnis oder der Wahrscheinlichkeitsbestand in
jedem Versuch der gleiche ist und bei dem keine einschränken-
den Bedingungen für das Zusammenbestehen der Chancen in
den einzelnen Versuchen vorliegen, mag als reguläre bezeichnet
werden. In dieser Bestimmung sind bereits die Wege angedeutet, wie das
1) Vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Kprr., Kap. VI.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik visw. 129
Vorliaiidensein regulärer Abhängigkeit geprüft werden kann. Offenbar muß
bei einer hinreichend großen Zahl von Versuchen die empirische Häufig-
keitsverteilung der theoretischen sich angleichen, und der Durchschnittswert
darf sich bei einer Vermehrung der Versuche nicht wesentlich und nicht in
einer bestimmten Richtung ändern, d. h. die partiellen Durchschnittswerte,
die sich durch Praktionierung der Versuche von je t Vergleichungen^) ergeben,
dürfen keine Sukzessionsabhängigkeit besitzen; dies ist aber nur mög-
lich, wo sich der Wahrscheinlichkeitsbestand im Laufe der Versuche
nicht ändert.
12. Die theoretischen Streuungswerte zeigen sich nur von t und r abhängig.
Das legt nun den Gedanken nahe, für eine einzelne empirisch gegebene Kon-
stellation der Varianten, die ja immer ein bestimmtes t voraussetzt und zu
einem bestimmten r hinführt, ebenfalls einen Streuungswert zu berechnen;
wir wollen ihn den hypothetischen Streuungswert nennen und mit
q/t bezeichnen. Wir kommen dabei auf das Problem zurück, das wii' sogleich
am Anfang, als von der Verallgemeinerung die Rede war, berührten. Die
Bedeutung des hypothetischen Streuungswertes ist mehr die eines Sicher-
heits- oder besser Unsicherheitsmaßes als die eines eigentlichen Streuungs-
maßes ; denn wo man nur einen Einzelwert hat, kann man natürlich schlecht
von einer, Streuung' sprechen; diese wird viel mehr hypostasiert. Aber es
ist ganz natüi'lich, daß ein bestimmter Wert, aus t Vergleichungen gewonnen,
um so zuverlässiger wird, je größer man dieses t selbst nimmt, und das haupt-
sächlich soll der hypothetische Streuungswert ausdrücken. Wenn man sich
das Wesen dieses Streuungswertes klar machen will, so geht man am besten
vom theoretischen Streuungswert und der ihm entsprechenden Wahrschein-
lichkeits- oder Häufigkeitskurve aus. Der theoretische Streuungswert, vom
arithmetischen Mittel nach rechts und links abgetragen, schneidet auf der
Abszisse der Häufigkeitskurve ein bestimmtes Stück heraus, auf dem eine
größere Anzahl der Einzelwerte liegen als auf den übrigbleibenden Stücken.
Die Masse der Einzelwerte, die innerhalb des theoretischen Streuungswertes
liegt, verhält sich zu der, die außerhalb liegt, etwa wie 2 zu 1 oder etwas
genauer wie 68 zu 32. Ich kann also 2 gegen 1 wetten, daß irgendein be-
liebiger Einzel wert in den Streuungsbereich hineinfällt. Je kleiner nun
der Streuungswert ist, desto eher liegt die Mehrzahl der Einzel-
werte in der Nähe des Durchschnittswerts, desto mehr wird
auch ein Einzelwert befähigt sein, diesen Mittelwert zu re-
präsentieren. Wir können nun den Einzelwert r als das Resultat hypothe-
tischer Konstellationen, die den Gesetzen der binomialen Verteilung folgen,
d. h. als den Durchschnittswert von hypothetischen Einzelwerten auffassen.
Da diese der Annahme nach genau so streuen wie die theoretischen, so ist
auch der hypothetische Streuungswert genau nach der Formel
des theoretischen zu berechnen, d.h. man setzt in der Formel für r
<len empirisch bestimmten Betrag, sowie für ( die Anzahl der Vergleichungen
»in und gewinnt so den zu r gehörigen hypothetischen Streuungswert. Mit
') Wo ein hinreichend großes t vorHegt, kann man natürlich auch mit Erfolg Frak-
tionierungen der Vergleichimg dvirchführen.
Zeitschrift f. pädagog. P8ychologie. 9
130 Über die Methoden der Korrelationarechnung in der Pädagogik usw.
einem der hypothetischen Einzelwerte würde nun auch das wirkhche arith-
metische Mittel zusammenfallen, das ich erhielte, wenn ich den gleichen Versuch
wiederholt ausführte und den resultierenden Wert bestimmte. Es gilt somit
für dieses arithmetische Mittel derselbe Satz über den Streuungswert (s. o.),
der für die theoretischen Einzelwerte gilt, daß ich nämlich 2 gegen 1 wetten
kann darauf, daß es innerhalb dieses Streuungsgebietes liegt und daß es
infolgedessen dem Einzelwert r um so näher liegt, je kleiner dessen hypothe-
tischer Streuungswert ist. Nur muß die Voraussetzung berechtigt sein, daß
die hypothetischen Konstellationen der binomialen Verteilung folgen. Die Be-
rechtigung aber dieser Annahme läßt sich prüfen, und das ist wichtig — denn
Hypothesen, die einer Prüfung nicht zugänglich sind, sind schlecht. Es läßt
sich zeigen, daß eine hinreichend große Zahl von Wiederholungen des gleichen
Versuches etwa die gleiche Verteilung ergeben muß, wie die angenommene,
wenn sie auch keine direkte Verifizierung derselben ist.^) Soweit das hypo-
thetische Streuungsmaß. Es gibt uns, falls die Annahme begründet ist, ein
Maß in die Hand, das gestattet, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit
zu sagen, wie nahe das arithmetische Mittel t^, das wir bei weiteren Versuchen
erhalten würden, dem Einzelwert r liegt und ermöglicht uns so ein Urteil
über die Unsicherheit, die besteht, wenn der Einzelwert r als Repräsentant
des wahren Wertes, d. h. des arithmetischen Mittels aus unendlich vielen
Bestimmungen unter den gleichen Verhältnissen angesehen werden soll.
Für diesen hypothetischen Streuungswert wollen wir trotz der formalen
Gleichheit mit dem theoretischen nun noch die Formel anschreiben und auf
unser früheres Beispiel anwenden. Es ist also
C{h
= ytiii. (27)
Für das Beispiel aus den Schrenkschen Untersuchungen ergeben sich
für die Koeffizienten r und r' die hypothetischen Streuungswerte
<„ = [/i^ = 0.21 bzw. ,'. = K^=0.*3.
Der Korrelationsgrad ist dann in dem gegebenen Fall charakterisiert durch
x±qh = 0,56 ± 0,21 bzw. x' + (\h = 0,50 ± 0,43. Gemäß der Bedeutung
von qh als Unsicherheitsmaß wird (man also das erste (vollständige) Ver-
gleichsverfahren vorziehen, da bei diesem die Unsicherheit der Größe r als
eines allgemeinen Wertes viel geringer ist.
13. Als hypothetisches Streuungsmaß benützt man nun meist nicht diesen
hier betrachteten Streuungswert, sondern den sogenannten wahrschein-
lichen Fehler; er bezeichnet diejenige Abweichungsgröße, die auf der
Abszisse von dem Hauptwert (etwa xj aus nach rechts und links abgetragen
ein solches Stück der Abszisse herausschneidet, daß gerade die halbe Masse
») Vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Korr., Kap. IV.
über die Methoden der Korrelationsrechniing in der Pädagogik usw. 131
der Einzelwerte darauf zu liegen kommt; man kann also 1 gegen 1 wetten,
daß ein Einzelwert in das Fehlergebiet hineinfällt. Grund zu seiner Verwendung
liegt freilich selten oder fast gar nie vor; im Gregenteil, er erfordert meist eine
kompliziertere Berechnung. Wo binomiale Verteilung vorliegt, wie in dem
gegenwärtigen Fall ist die Berechnung verhältnismäßig einfach; denn hier
ist der wahrscheinliche Fehler ziemlich genau durch j • q^ gegeben und wird
demgemäß auch mit Hilfe von qn bestimmt.^) (Der genaue Wert bei sehr
großem t ist 0,67449 • qa.) Da der Begriff des wahrscheinlichen Fehlers nichts
Besonderes besagt und seine Bestimmung, wie angedeutet, meist umständ-
lich ist, so genießt er auch nicht mehr auf allen Gebieten, wo mit statistischen
Methoden gearbeitet wird, die gleiche Achtung wie noch in manchen psycho-
logischen Darstellungen; von bedeutenden Vertretern der Kollektivmaß-
lehre und WahrscheinUchkeitsrechnung wird er bereits in die „Sammlung
historischer Altertümer" verwiesen.^) In der Korrelationslehre wird dem
wahrscheinlichen Fehler immer ein Satz beigegeben, der im Extrem dahin
lautet, daß Korrelationen, die den wahrscheinlichen Fehler nicht um das
Fünffache übersteigen, als nicht existierend anzusehen sind. Die ständige
Wiederkehr dieses Satzes, wenn auch in abgeschwächten Varianten, läßt
vermuten, daß der Respekt vor ihm wesentlich größer ist als die Einsicht in
seinen Sachverhalt. Im Grunde genommen läuft er ja auf das gleiche hinaus
wie die aus der Methode ,Corriger la fortune' füeßende Regel, daß man
Extremwerte bei der Berechnung des Durchschnitts vernachlässigen soll. 3)
Man wird darum auch besser fahren, wenn man an Stelle dieses Satzes die
Forderung setzt, daß eine bestimmte Korrelationsgröße nur dann als all-
gemein gültig angesehen werden könne, wenn sie das Resultat einer einwand-
freien Mittelwertbildung aus einer hinreichend großen Zahl von zusammen-
gehörigen Einzelversuchen ist.
Ich habe die wichtigsten allgemeinen Betrachtungen über die Korre-
lationskoeffizienten und ihre Streuungsmaße im Zusammenhang mit dem
m. W. neuen Koeffizienten r erörtert. Die allgemeinen Grundsätze bei den
folgenden Koeffizienten zu wiederholen, ist nicht nötig, sie sind ja dieselben
wie hier ; darum können wir im Folgenden wesentlich kürzer sein. Es genügt,
wenn die Methode der Bestimmung charakterisiert, die theoretischen Mittel-
werte und die daraus folgenden Kriterien der Unabhängigkeit und Abhängig-
keit formuliert, die Gleichungen für die Wahrscheinlichkeitskurven und die
hypothetischen Streuungswerte angegeben werden. (Fortsetzung folgt.)
*) Mit Recht kennzeichnet W. Betz in seinem Sammelreferat (Über Korrelationen,
Leipzig 1911, S. 21) die Berechnung des wahrsch. Fehlers, da sie fast durchweg mit
Hilfe des Streuungswertes geschehen muß, lediglich als eine Sitte, für welche keine
eigentlich begründenden Motive mehr vorhanden sind.
*) Vgl. z. B. H. Bruns, Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kollektivmaßlehre
1906, S. 123.
») Vgl. dazu Die Methode der R.- u. O.-Korr. Kap. VIII.
9*
132 Kleine Beiträge und Mitteiltmgen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Zur Psychologie der Rechtschreibungsf ehler bei Schulkindern. Als ich in
der Mitte des Schuljahres ein Kind in meine Klasse aufnahm, fand ich dasselbe
Diktat in seinen Heften zweimal vor. Bei der zweiten Arbeit, die ein Jahr später ge-
schrieben worden war, kamen nun ganz andere Fehler vor. Das veranlaßte mich,
auf die Beständigkeit der orthographischen Fehler zu achten.
Ich lasse, um die Rechtschreibung zu üben, viel an die Watidtaf el schreiben. So-
bald demKinde ein Fehler ,, unterlaufen" ist, melden sich unaufgefordert andere
durch Handheben. Durch das verursachte Geräusch aufmerksam gemacht, er-
kennt und verbessert es den Fehler; meist weiß es sich selbst zu helfen, nur ganz
selten bedarf es fremder Hilfe. Wenn die Kinder ihre Aufsätze und Diktate
zurückbekommen, können sie fast immer die angestrichenen Fehler ohne weiteres
verbessern, und sie geben mir immer zu, daß sie alles richtig geschrieben hätten,
wenn sie aufmerksamer gewesen wären. Bei der Rechtschreibung handelt es sich
also weniger um das Wissen oder Nichtwissen, sondern mehr um die Aufmerk-
samkeit. Der Lehrer wird immer die besten Erfolge in der Rechtschreibung
haben, dem es gelingt, die Schüler zur größten Aufmerksamkeit zu bringen. Wer
viel korrigiert hat, dem ist es eine bekannte Tatsache, daß manche gut vorbereitete
Arbeit durchgängig sehr schlecht ausfiel ; es lag dann offenbar an irgendwelchen
äußeren Umständen, die die Aufmerksamkeit beeinflußten: bevorstehende oder
verflossene Feste, Wetter, Lage der Stunde u. a. Heute schreibt das Kind falsch,
was ihm ein andermal nicht passiert. Die Richtigkeit dieser meiner Anschauung
über die Ursache mangelhafter Erfolge im Rechtschreibungsunterricht er-
probte ich nun durch den folgenden Versuch.
Ich ließ von 11 — 12 jährigen Mädchen aus dem Gedächtnis den Spruch auf-
schreiben: Matth. 11, 28 — 30: Kommet her zu mir alle, die ... Er war schon vor
einem halben Jahre gelernt worden, durch öfteres unauffälliges Wiederholen
sorgte ich dafür, daß er allen geläufig war, doch vermied ich dabei, daß er ge-
lesen wurde. Die Versuche wurden dreimal ausgeführt mit einem Zwischenraum
von 14 Tagen. Die Kinder saßen einzeln, so war ein Absehen unmöglich. Auch
nach dem Versuch war jede Unterhaltung und das Nachsehen in den Spruch -
büchern verhindert. Es schloß sich sofort der Unterricht an, und in der Pause
wurde durch Atemübungen für Ablenkung gesorgt. Mehrere Wochen nach diesen
drei Versuchen diktierte ich mit nachlässiger Aussprache lediglich die falsch ge-
schriebenen Wörter; vorher ermahnte ich zu größter Aufmerksamkeit.
Die Niederschriften hatten folgende Ergebnisse:
38 F.
II
38 F.
III
32 F.
IV
24 F.
Die Fehlerzahlen der drei in Betracht kommenden Versuche differieren nur
wenig; wie steht es aber mit der Beständigkeit der Fehler? Nach den an-
gegebenen Zahlen scheint es, als hätten die Kinder ziemlich gleichmäßig ge-
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
133
arbeitet. Die Summen sind in zwei Fällen gleich und in einem Falle wenig ab-
weichend, doch setzen sie sich ganz verschieden zusammen. Am besten ersieht
man das aus der Fehlerübersicht, die bei der Schülerin St. folgendermaßen
aussieht :
I
II
III
IV
müselig
r.
r.
r.
nemet
dgl.
dgl.
r.
r.
seit
r.
r.
r.
(de)müdig
(de)mühdig
r.
r.
r.
last
r.
r.
r.
r.
euhre
r.
r.
r.
erquicken
Sa.
2
3
4
2
Die Schülerin St. hat im Durchschnitt 3 Fehler, und es kommen doch siebenerlei
Fehler vor; nur einer ist beständig, der bei IV auch noch verschwindet; hier
treten 2 Fehler auf, die dreimal vermieden worden waren. Ähnlich ist es bei den
andern Kindern. Von den 38 Fehlern des I. Versuches blieben beim II. Versuch
nur 17 dieselben, 21 traten neu auf. Die 32 Fehler des III. Versuches setzen sich
wie folgt zusammen : 10 Fehler wie bei I, 8 Fehler wie bei II, 14 Fehler neu. End-
lich unter den nach Diktat geschriebenen Wörtern : 3 Fehler, die beständig waren,
3 Fehler von I, die in II bzw. III vermieden worden waren, 8 Fehler, die in II
bzw. III neu auftraten, 10 Fehler neu.
Es ist erstaunlich, wie sehr die Fehler wechseln, wie wenig beständig sie sind.
Bei dem 3. Versuch ist nur V^ geblieben, und doch ist die Summe nicht wesentlich
gefallen. Wenn man die Klassen- und besonders die Prüfungsarbeiten ansieht,
so findet man, daß die Durchschnittszahlen nicht wesentlich schwanken. Die
Kinder sind einer ihrem Alter und ihrer physischen und psychi-
schen Beschaffenheit entsprechenden Aufmerksamkeit fähig, nach
der sich die Sicherheit in der Rechtschreibung richtet. Beim
Schreiben ist bald dieses, bald jenes Wort von der Aufmerksamkeit weniger
begünstigt, und daher kommt die Unbeständigkeit der Fehler. Wenn ein Wort
falsch geschrieben wird, so liegt es seltener an dem falschen Wortbild, sondern
viel öfter an einem augenblicklichen Sichgehenlassen, deswegen tritt eben der
Fehler bald an dieser, bald an jener Stelle auf; er ist, wie man sagt, unterlaufen;
er ist nicht mit Bewußtsein, sondern aus Versehen geschehen. Ich habe gefunden,
daß manche Kinder ganz plötzlich fehlerlos arbeiteten; da sind nun nicht mit
einemmal alle falschen Wortbilder korrigiert worden, sondern der Höchstgrad der
Aufmerksamkeit war erreicht ; die sprunghafte Entwicklung ist dem Psychologen
und dem Pädagogen eine bekannte Tatsache. In den Stilarbeiten wird immer
besonders viel gegen die Rechtschreibung gesündigt, denn hier sind die Gedanken
auf den Inhalt konzentriert ; ganz besonders fällt das bei der ersten Niederschrift
ins Tagebuch auf. Auch in den untersten Schuljahren kann man beobachten,
daß die Rechtschreibung bekannter Wörter bald eingeprägt ist und daß in kleinen
134 Kleine Beiträge iind Mitteilungen.
Diktaten nicht allzu Schlechtes geleistet wird; doch wenn die Kinder ihre Gre-
danken niederschreiben, sind die Wörter kaum zu entziffern.
Mein Versuch will zeigen, daß man, wenn die Kinder in Mittel- und Ober-
klassen noch nicht in der Rechtschreibung sicher sind, nicht dadurch hilft,
daß man nun über diese und jene Schwierigkeit noch einige Stunden länger unter-
richtet, sondern daß man vor allem auch die Ausdauer in der Aufmerksamkeit übt.
Chemnitz i. Sa. Otto Schreyer.
Über Kinder- und Jugendselbstmorde veröffentlicht Geh. Medizinalrat Prof.
Dr. A. Eulenburgi), der schon in früheren Arbeiten bedeutsame Aufschlüsse
über den freigewählten Tod im jugendlichen Alter gegeben hat, die Bearbeitung
einer Sammlung von 323 aus den letzten 4 Jahren stammenden Fällen. Die Ver-
teilung auf Alter und Geschlecht ergibt folgendes Bild:
I
Altersstufe
männlich
weiblich
im ganzen
bis 10 Jahre
12
7
19
11—15 Jahre
78
35
113
16—20 Jahre
101
90
191
191
132
323
Im ganzen ergibt sich darnach (mit dem Verhältnis von 1,45 : 1) ein Überwiegen
des männlichen Geschlechtes, das besonders im Altersraum vom 11.
bis zum 15. Jahr grell hervortritt, während in der darauffolgenden Stufe, wie dies
auch die frühere Statistik zeigte, eine auffallende Annäherung der Zahlen statt-
findet.
Wie in der Häufigkeit, so weisen die Geschlechter auch in den Motiven be-
deutende Unterschiede auf. Bei den Selbstmorden der weiblichen Jugend steht
obenan alles, was mit Liebesgeschichten zusammenhängt: Liebeskummer, un-
glückliche Liebe, verschmähte Liebe, Widerstand der Eltern, Verlassenwerden,
Verfehlung usf. Daneben spielen Furcht vor Strafe, lieblose Behandlung, Zer-
würfnis in der Familie oder im Dienst, schwerere Gemütsaffekte (Schmerz, Angst,
Verzweiflung, Empfindlichkeit, Trotz und auch unheilbare Erkrankung eine
im ganzen seltenere, aber doch immerhin beachtenswerte Rolle. Dagegen herrscht
bei den männlichen jugendlichen Selbstmördern mit 40,8 % die Furcht vor Be-
strafungen, vor schlechten Zeugnissen, Nichtversetzung, verbunden mit Schul-
überdruß, entschieden vor. Hinzu treten Angst und Reue bei Veruntreuung,
Unterschlagimg, Diebstahl, ferner Aufnötigmig eines mißliebigen Berufes, harte
Behandlung und ähnliches. Nur in 28 Fällen, d. i. bei 14,6 %, werden Liebes-
vorkommnisse als Ursache angeführt; seltener findet sich — und dann auf geistige
Defekte hindeutend — Trübsinn, Lebensüberdruß, Trunkenheit, hochgradige
Nervosität angegeben; es dürfte aber nach anderen Feststellungen Eulenburgs
bei gegen 10 % eine zugrunde liegende Geistesstörung anzunehmen sein.
^) Sammlung zwangloser Abhandliingen aus dem Gebiete der Nerven- und Geistes-
krankheiten. X. Bd, Heft 6, Halle a. S. 1914.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
135
Von differentiell-psychologischem Interesse ist schließlich auch Eulenburgs
Aufstellung über den Weg, den die Jugendlichen beim Scheiden aus dem
Leben wählen:
Todesart
männlich weiblich
im ganzen
Überfahren durch Eisenbahnzug . . .
Vergiftung
Sturz aus dem Fenster
Erhängen
Ertränken
Erschießen
Verschieden und unbekannt geblieben
7
15
12
47
20
82
3
34
26
5
40
18
6
10
49
38
52
60
100
14
191
132
323
Bemerkenswert erscheint das verhältnismäßig häufige Vorkommen des ge-
meinsamen Selbstmordes bei Jugendlichen. Eulenburg stellte 66 Fälle
fest, darunter 29 männliche und 37 weibliche (einmal 4 weibliche und einmal
3 männliche) und 16 Liebespaare.
Zur Frage der rangmäßigen Schulplätze äußert sich bemerkenswert Wirkl.
Geh. Rat Dr. Bernhard Dernburg in der Voss. Zeitung. Anlaß bietet ihm die
Verordnung der obersten Schulbehörde, nach der wegen verschiedener betrüb-
licher Vorfälle — gemeint sind Schülerselbstmorde — das Setzen der Schüler
nach dem Grade ihrer Leistung untersagt wird. Er schreibt: Zweck der Schule
ist, auf das Leben vorzubereiten. Das Leben aber ist ein Kampf mit Widerständen
imd Hemmungen, die in der eigenen Natur, in dem Wettbewerb mit anders Gear-
teten oder besser Konstituierten und mit den äußeren Umständen liegen, geführt
werden muß. Diesen Tatsachen muß die Vorbereitung entsprechen. Die Schule
darf nicht nur belehren, sie soll Charaktere erziehen. Auch das ist nur möglich im
Kampf. Deswegen ist es richtig und nötig, daß dieser Kampf auch bereits in der
Schule einsetzt. Es ist billig und richtig, daß der fleißige, aufmerksame und be-
gabte Schüler den Lohn dieser Eigenschaften erhalte ; es ist nötig, daß der faule
und träge angestachelt, daß der minderbegabte die Resignation übe und lerne,
daß er nur zu einer mittleren Leistung berufen ist.
Es ist im Interesse des Unterrichts, der Frische und der Freudigkeit von Lehrern
und Schülern wichtig, daß ein Wettbewerb stattfinde und daß allen die Ver-
besserung der Leistungen und die vollständige Beherrschung des Lehrplanes als
ein selbstverständliches Ziel gesteckt werde. Geschieht das nicht, so werden
nicht frisch-fröhliche Männer mit gesundem Ehrgeiz, großer Absichten und bereit
für den Kampf der Geister aus den Schulen entlassen, sondern bestenfalls mittel-
mäßige Subalterne, die ihren Anspruch auf Stellung in der Welt auf die Anzahl
der abgedienten Jahre und versessenen Hosenpaare gründen. Ich bin der An-
sicht, daß wir von diesem Geist doch wohl bei uns reichlich genug haben und
daß eine solche Richtung bei der fortschreitenden Bureaukratisierung und Ver-
beamtung unseres Vaterlandes heute schon einen größeren Raum einnimmt als
heilsam ist.
136 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Wer immer den Versuch gemacht hat, besonders begabte Menschen über die
Köpfe anderer hinweg an die Stelle zu bringen, wo sie zu voller Leistung kommen
können, wird das ohne weiteres unterschreiben. Es ist ja sehr verständig und
warmherzig gedacht, wenn man junge Menschen nicht leiden lassen will für Dinge,
für die sie, wie man zu sagen pflegt, „nichts können"; aber das ist doch verhältnis-
mäßig selten der Fall, Gewöhnlich kann bei den herabgeschraubten Anforde-
rungen, die die Schule heute stellt, ein wirklich gewissenhafter Schüler das Pensum
ohne weiteres erreichen. Daß der Ehrgeiz nicht überspannt und das Ziel nicht
zu weit gesteckt wird, dafür müssen verständige Schulleiter und kluge Lehr-
pläne sorgen.
Wenn trotzdem die auch von uns schwer beklagten Unglücksfälle von Zeit zu
Zeit eintreten, so wird vermutlich die Schule in den seltensten Fällen dafür ver-
antwortlich gemacht werden dürfen. Sehr viel öfter liegt der Fehler sicherlich
im Haus, bei ehrgeizigen Eltern, die übertriebene Anforderungen stellen, den
Wert der Zensur und des Platzes überschätzen, dem gedrückten Kinde nicht
rechtzeitig zu Hilfe kommen mit gutem Rat und der Lehre der Selbstbescheidung
gegenüber dem Unmöglichen, die nicht in Fühlung sind mit der Stellung ihrer
Kinder und für ihre geistige und körperliche Diät nicht hinreichend sorgen.
Es ist traurig, wenn ein begabtes Menschenkind glaubt, aus dem Leben scheiden
zu müssen, weil es statt des ersten Platzes, auf den es Anrecht zu haben glaubt,
nur den zweiten erhält; solch ein Fall ist kürzlich vorgekommen. Aber deshalb
den Wettstreit in Schule und Spiel, im Kampf der Greister und Körper ausscheiden
zu wollen, nimmt der Schule vielleicht das Beste, was sie für die Charakter-
erziehung aufzubringen vermag.
Was sie an positiven Kenntnissen dem Kinde mitgibt, ist gegenüber den An-
forderungen des modernen Lebens außerordentlich gering. Im wesentlichen lehrt
man in der Schule, wie man lernen soll. Charakterbildung durch Anregung des
gesunden Ehrgeizes, durch Verweisung auf die Beispiele der Großen aller Zeiten,
die im Kampf mit Not und Mißgunst gegen Ungerechtigkeit und Druck dem
Vaterlande große Dienste geleistet haben, ist vielleicht das wertvollste Gut, das
die Schule mitgibt. Ich fürchte, daß der betreffende Erlaß zum mindesten in
seiner Tendenz nicht das Richtige trifft, daß Schwachherzige, Rückgratschwache
und Indolente einen zweifelhaften Nutzen, der ganze Schulbetrieb aber einen
dauernden Schaden davon haben wird.
Nun ist ja wohl anzunehmen, daß die verschiedenen Lehrkörper vor Erlaß der
Maßnahme ausreichend gehört sind. Wer sicher nicht gehört ist, sind die Eltern.
Schule und Haus aber teilen sich in die Erziehung; der Gegenstand der Erziehung
ist bei beiden verschieden ; die Tendenz muß die gleiche sein. Wäre es nicht richtig,
nunmehr noch nachträglich eine Enquete auch über die Meinung der Eltern zu
eröffnen, von der ich überzeugt bin, daß sie trotz der Misere, die besonders in der
Großstadt mit der Erziehung dieser besonders gearteten Jugend verknüpft ist,
auf die Seite des hier entwickelten Gedankenganges treten wird?
Aus amerikanischen Koedukationsschulen berichtet in der ,, Deutschen
Schule" Dr. Charles L. Henning, Denver, auf Grund eines fast fünfzehn-
jährigen Studiums Tatsachen über das Gemeinschaftsleben zwischen Knaben
und Mädchen, die vielfach den Mitteilungen unserer deutschen Päda-
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 137
gogen, die Studienreisen nach Amerika unternommen haben, widersprechen.
Er schreibt: ^
„Es ist eine jedem Beobachter amerikanischer Schulzustände bekannte Tat-
sache, daß schon in der Publicschool jedes „girl" ihren „boy" und jeder „boy"
sein ,,girr' hat. Kinder von 10 oder 11 Jahren machen kein Hehl aus ihren
„sweethearts", und diese jugendlichen Verliebten geben durch Austausch
von Geschenken, Zuckerzeug und dergleichen ihrer gegenseitigen Zuneigung be-
redten Ausdruck, Der „boy" betrachtet es als ,,gentlemanlike", seiner jungen
Angebeteten dadurch seine Aufmerksamkeit zu bezeugen, daß er sie in die in
jeder Stadt massenhaft vorhandenen Wandelbildertheater (moving picture- oder
nickel shows) mitnimmt, mit ihr tanzt, sie zu Hause besucht u. a. m. In den
Highschools finden dann diese Aufmerksamkeiten und ihre Liebesbezeugung
ihre potenzierte Fortsetzung, und das in der Publicschool noch verhältnismäßig
harmlose Tändeln wächst allmählich in Leidenschaft aus. Es genügt, Gesprächen
von jungen Highschool-boys und -girls in einem Straßenbahnwagen, bei öffent-
lichen Gelegenheiten oder auch während der Schulpausen zuzuhören, um sich
zu überzeugen, daß es sich dabei um ganz andere Dinge, als um Algebra, Cäsar
oder Livius handelt. Anzüglichkeiten unzweifelhafter Natur, um nicht
zu sagen, Obszönitäten, werden laut hörbar ausgesprochen, und die Freiheit
des Verkehrs der beiden Geschlechter kommt dabei mehr als nötig zu ihrem
Recht. Daß dieses Anknüpfen und Unterhalten von Liebschaften dem zu Stu-
dienzwecken die Highschool besuchenden jungen Mädchen oder Jüngling nicht
förderlich sein kann, liegt auf der Hand. Wie kann ein Junge, der dieselbe Klasse
mit seiner Angebeteten teilt, Interesse am Unterricht haben, wenn seine Ge-
danken sich mit seinem wenige Schritte entfernt sitzenden ,,girl" beschäftigen!
Wie kann eine Schülerin dem Lehrgegenstand Interesse entgegenbringen, wenn
sie beständig daran denkt, daß sie heute abend von ihrem, ihr nahesitzenden
,,boy" ins Theater geleitet oder zur Tanzhalle geführt wird! Die Moral wird
also in erster Linie durch die Koedukation nicht gefördert. Hierzu kommt
noch folgendes. Es ist eine in den Vereinigten Staaten weit bekannte Tat-
sache, die durch viele Beispiele belegt werden kann, daß auf Grund des überall
herrschenden sehr freien Verkehrs der Geschlechter, sei es innerhalb
oder außerhalb der Schulräume, sehr häufig ,, etwas vorkommt", d. h. daß junge
schulpflichtige Mädchen (auch schon in den Publicschools) sich in gesegneten
Umständen befinden und dann einige Wochen irgendwo ,,der Ruhe pflegen".
Ferner sind die sog. „Fraternities" oder „Sororities", geheime Gesell-
schaften und Vereinigungen, deren Versammlungen stets hinter verschlossenen
Türen abgehalten werden und die an sehr vielen Highschools bestehen (in einigen
Staaten sind diese Verbindungen allerdings streng verboten, bestehen aber trotz-
dem im geheimen), jedenfalls nicht geeignet, die in Amerika bei jeder offiziellen
oder nichtoffiziellen Gelegenheit mit besonderm Nachdruck betonte ,, Moral"
zu fördern, und die Enthüllungen, die ab und zu in die Öffentlichkeit dringen,
sind derart, daß man darüber lieber des Sängers Höflichkeit schweigen
läßt. Die betreffenden Klubs nennen sich nach Buchstaben des griechischen
Alphabets, wie „Alpha-, Beta-Sorority", „Omega-, Lambda-Fraternity" usw.
Aus einem überaus sorgfältig abgefaßten Bericht, der von einem Komitee
der Young Men's Christian Association (Y. M. C. A.) über die genannten Frater-
138 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
nities und das soziale Leben an den Highschools kürzlich erstattet wurde, geht
hervor, daß sie ,, exklusiv, selbstsüchtig und gemeinschädlich" sind.
Nach einem älteren Bericht derselben Stelle über dieMoralität der Jugend
in Detroit, Mich., sind dort die jungen Mädchen ebenso verkommen wie
die Jungen. Die Knaben besuchen in großer Zahl sogenannte ,,poolrooms",
lesen ausgiebig schlüpfrige Literatur und setzen obszöne Bilder in Umlauf (be-
sonders in den Highschools), besuchen verrufene Häuser oder sogar ,,boarding
houses" zu unsittlichen Zwecken. Der Bericht gibt als Alter der Besucher der-
artiger Lokale das 14. bis 17. Lebensjahr an und betont, daß 75 Prozent der High-
school-Jugend Gewohnheitsraucher und -trinker sind. Hierzu bemerkte der
Jugendrichter Ben Lindsey in Denver, daß ähnliche, wenn nicht noch
schlimmere Zustände in Denver bestehen, eine Wahrnehmung, die ich auf Grund
einer achtjährigen Erfahrung in dieser Stadt bestätigen kann. Und wie es in
Detroit und Denver mit „Jung-Amerika" bestellt ist, so ist es von Küste
zu Küste.
Ereignet sich nun der Fall, daß ein Highschoolgirl oder -boy von der Schule
ausgeschlossen wird, dann bleibt auf der Stelle die ganze Klasse, zu welcher
der oder die Exmittierte gehört, vom Unterricht so lang weg, bis die Betreffenden
wieder ,,zu Gnaden" angenommen werden.
Zahllos sind ferner die Durchbrennereien (elopements) von Highschool-
boys mit -girls, die dann von der jederzeit zur Enthüllung eines Skandals — je
schmutziger, desto besser — bereiten Sensationspresse aufgegriffen, möglichst
breit getreten und — als ,, Liebesromanzen" verherrlicht werden."
Die internationale Regelung der Kinderarbeit ist durch eine vorberatende
Arbeitsgemeinschaft, die im September vorigen Jahres in Basel zusammen-
trat, ein wesentliches Stück gefördert worden. An den Verhandlungen nahmen
außer den Abgeordneten der Landesgruppen innerhalb der internationalen
Vereinigung auch eine Anzahl von Vertretern der verschiedenen Staatsregierungen
teil. In den Beratungen traten deutlich die weit auseinandergehenden An-
schauungen der verschiedenen Nationen zutage und die sich daraus für eine inter-
nationale Regelung ergebenden Schwierigkeiten.
Man einigte sich schließlich auf folgende Vorschläge, die im Herbste 1914
der Hauptversammlung der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Ar-
beiterschutz zur Verhandlimgsgrundlage dienen sollen:
,,Die Verwendung von Kindern zur Erwerbsarbeit vor dem vollendeten
12. Lebensjahre oder, falls die Schulpflicht länger dauert, bis zur Vollendung
der Schulpflicht, soll verboten sein. Nicht mehr schulpflichtige, über 12 Jahre
alte Kinder dürfen höchstens 4 Stunden, in der Landwirtschaft höchstens
6 Stunden beschäftigt werden. In der Landwirtschaft dürfen auch schulpflichtige
Kinder von mehr als 10 Jahren zu leichten Arbeiten verwendet werden, jedoch
höchstens 3 Stunden an Schultagen und 6 Stunden an schulfreien Tagen. Sonn-
tags- und Nachtarbeit sind verboten. Als Nachtarbeit hat die Arbeit von 8 Uhr
abends bis 8 Uhr morgens, in der Landwirtschaft von 8 Uhr abends bis 6 Uhr
morgens zu gelten. Ausnahmen sollen nur bei unaufschiebbaren Arbeiten ge-
stattet sein. Familienfremde Kinder sind vor der Zulassung zur Erwerbsarbeit
einer amtsärztlichen Untersuchung zu unterwerfen. Die Gewerbeaufsicht kann
Kleine Beiträge und Mitteiliingen. 139
auch bei den in der Familie erwerbstätigen Kindern auf ärztliche Prüfung der
hygienischen Verhältnisse dringen, Beschäftigungen mit gewissen behördlich
zu bezeichnenden gesundheits- und sittlichkeitsschädlichen Verrichtungen
sollen verboten werden, ebenso der Straßenhandel, die Beschäftigung imGast-
gewerbe und bei Schaustellungen." Weitere Wünsche betrafen die Schadlos-
haltung bedürftiger Eltern durch Fürsorgemaßnahmen, Errichtung von Mindest-
lohnämtem in der Heimarbeit, Verbot der Verabreichung geistiger Getränke
an Kinder während der Arbeit und als Lohn; Bekanntmachung der Eltern
oder gesetzlichen Vertreter mit den Vorschriften über Kinderschutz, Verschär-
fung der Gewerbeaufsicht für Kinder, endlich die Einleitung statistischer Erhe-
bungen verschiedener Art, insbesondere über Zahl der Gesetzesübertretungen,
den Arbeitsverdienst der Eltern erwerbstätiger Schulkinder sowie den Verdienst
verwaister und ausländischer Kinder.
Eine Umfrage über die Wirkungen des Kindergartens veranstaltet Fräulein
Nelly Wolffheim. Sie bittet um Beantwortung folgender Fragen^):
1. Wie sieht der Kindergarten in der Rückerinnerung der ehemaligen Kinder-
gartenzöglinge aus?
a) Welcher Art sind die Erinnerungen und Vorstellungen, die der Erwachsene
vom Kindergarten behalten hat? Wiegen heitere oder trübe Momente
vor?
b) Welchen Platz nimmt die Kindergärtnerin in der Erinnerung ein?
c) Welche Rolle spielen die Fröbelschen Beschäftigungen und ähnliche
Handfertigkeiten in der Erinnerung?
d) Sind Erinnerungen an andere im Kindergarten vorgenommene Beschäf-
tigungen oder Spiele in der Erinnerung geblieben?
2. Welcher nachhaltige Einfluß in erziehlicher Hinsicht wurde dem Erwach-
senen später deutlich?
a) Sind Erinnerungen darüber vorhanden, ob und in welcher Weise der
Besuch des Kindergartens die erste Schulzeit beeinflußt hat, sowohl in
bezug auf den Unterricht als auch auf das Leben in der Schule, den
Verkehr mit den Mitschülern? Wurde der Unterschied in der Hand-
habung der Disziplin empfunden und wie?
b) Hat der Kindergarten irgendeinen Einfluß auf die Beziehimgen des
Kindes zu seiner Familie ausgeübt, insbesondere zur Mutter ?
Eine bedeutungsvolle Preisaufgabe hat die Psychologische Gesell-
schaft zu Berlin gestellt. Das Thema lautet: ,, Beziehungen zwischen
der intellektuellen und moralischen Entwicklung Jugendlicher".
Der Umfang der Arbeit soll 14 Bogen nicht überschreiten. Sollten jedoch die
Untersuchungstabellen besonders umfangreich werden, so ist ein Überschreiten
dieser Grenze zulässig. Die Arbeiten müssen bis zum 1. Juni 1915 abgeliefert
sein ; die Ablieferung hat stattzufinden bei dem Vorsitzenden der Psychologischen
Gesellschaft, Herrn Sanitätsrat Dr. Albert Moll, Berlin W. 15, Kur-
fürstendamm 45. Die Arbeiten sollen an der Spitze ein Stichwort enthalten.
*) Einsendung nach Berlin-Charlottenburg, Roscherstraßo 9.
140 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Dieses ist mit der genauen Adresse des Bearbeiters in einem versiegelten Kuvert
der Arbeit beizufügen. Die Arbeiten müssen mit Scbreibmascbine geschrieben
sein. Der ausgesetzte Preis beträgt 750 Mark; eine Verteilung der Summe auf
mehrere Arbeiten ist zulässig. Preisrichter sind die Herren Professor Dr. Meu-
mann in Hamburg, Sanitätsrat Dr. Albert Moll in Berlin und Professor
Dr. William Stern in Breslau. Die Preisverteilung findet nach Mehrheits-
beschluß statt, doch steht in besonderen Fällen jedem Preisrichter ein Veto-
recht zu. Die Psychologische Gesellschaft hat das Recht, die Arbeit oder die
Arbeiten, denen ein Preis zuerkannt ist, in ihr Eigentum übergehen zu lassen
und in ihren Gesellschaftsschriften zu publizieren.
Unter Jugendlichen sind nicht nur junge Leute von etwa 14 bis 18 oder
20 Jahren, d. h. solche jenseits des eigentlichen Kindesalters, zu verstehen;
es ist vielmehr das eigentliche Kindheitsalter eingeschlossen. Es ist auch statt-
haft, bei sonst fehlendem Untersuchungsmaterial die Untersuchungen aus-
schließlich bei Kindern bis zu 14 Jahren vorzunehmen. Immerhin wäre es
wünschenswert, daß auch die der eigentlichen Kindheit folgenden Jahre berück-
sichtigt werden.
Was die Methoden der Untersuchung betrifft, so werden bestimmte Vor-
schriften über die Wahl der Methode nicht gemacht. Um den Grad der intellek-
tuellen Entwicklung festzustellen, sei auf folgendes hingewiesen: Es wird sich
empfehlen, verschiedene Methoden anzuwenden, besonders sich nicht auf die
Prüfung einer einzigen intellektuellen Fähigkeit, z. B. die Kombinations-
methode oder die Ebbinghaus'sche Ergänzungsmethode zu beschränken, weil
sonst die Gefahr vorliegt, daß die Prüfung der intellektuellen Entwicklung
einseitig wird.
Auch die Prüfung der moralischen Entwicklung soll nach möglichst mannig-
faltigen Methoden erfolgen. Wünschenswert ist es, sich nicht nur auf die Be-
antwortung der Fragen zu stützen, die dem Kinde vorgelegt werden, obwohl
die Fragemethode berücksichtigt werden kann. Es ist zu empfehlen, wenn
möglich auch Beobachtungen über die objektive Handlungsweise des Jugend-
lichen und über das gesamte Benehmen der Kinder bei der Prüfung zu sammeln
und zu verarbeiten; doch muß es dem Bearbeiter überlassen bleiben, nach den
zur Verfügung stehenden Untersuchungsmöglichkeiten die Methoden zu be-
stimmen. Im ganzen hat die Prüfung der moralischen Entwicklung sich mög-
lichst zu erstrecken auf die sittlichen Gefühlsreaktionen, die sittlichen Urteile
(die sittliche Einsicht), das sittliche Wollen und wenn möglich das sittliche
Handeln des Jugendlichen.
Selbstverständlich ist eine Untersuchung normaler Jugendlicher gewünscht;
es sind höchstens zu Vergleichszwecken Befunde von abnormen und kriminellen
Jugendlichen anzureihen.
Eine „Gesellschaft für Psychologie und Hygiene" ist mit starker Mitglied-
schaft, in der sich mit Ärzten, Juristen, Geistlichen und Lehrern auch die Ver-
treter anderer am Leben der Jugend interessierten Kreise vereinigen, in Essen
gegründet worden. Bezweckt wird die Fortbildung in allen psychologischen und
hygienischen Fragen des Kindes- und des Jugendalters. An Veranstaltungen
sind geplant Ausbildungs- und Fortbildungskurse mit Übungen und Aussprache,
Literaturbericht. 141
außerordentliche (akademische) Vorträge anerkannter Gelehrter, Einriclitimg
einer Bibliothek, eines Museums und eines Laboratoriums (als Listitut für Kinder-
heilkunde gedacht).
Nachrichten: 1. Der I. Internationale Kongreß für experimentelle
Phonetik wird in Hamburg in der Zeit vom 19. — 22. April 1914 abgehalten.
2. Ein allrussischer Kongreß für Experimentalpädagogik hat
Mitte Januar in Petersburg stattgefunden ; ihm war eine Ausstellung für Appa-
rate und Diagramme angegliedert.
3. Der katholische Lehrer verband des Deutschen Reiches wird gelegentlich
seiner Jubel- Versammlung zu Ostern 1914 in Essen mit Unterstützung der Stadt-
verwaltung die Jugendpflege in einer eigenen Ausstellung zur Veranschau-
lichung bringen. Der Plan sieht folgende Gruppen vor: 1. des Kindes Heimat;
2. des Kindes Gesundheit; 3. des Kindes Erziehung; 4. Jugendpflege; 5. das
Kind in der Kunst. — Die Ausstellung soll nicht nur während der Versammlungs-
tage, sondern mehrere Monate, voraussichtlich Mai und Juni, dem allgemeinen
Besuche offenstehen.
4. Die Deutsche Lehrerversammlung in Kiel zu Pfingsten d. J. wird an
den Haupttagen folgende Vorträge bieten: I. Die nationale Einheitsschule.
Vortragender: Herr Oberstudienrat Dr. Kerschensteiner, Stadtschulrat in
München; II. Der Deutsche Lehrerverein und die pädagogische Wissenschaft.
Vortragender: Herr Seminardirektor Dr. Seyfert in Zschopau i. Sa.; III. Droht
unserer Schularbeit die Gefahr der Veräußerlichung und wie ist ihr zu begegnen ?
Vortragender: Herr Lehrer Brunotte, Redakteur der Hannoverschen Schul-
zeitung, Hannover.
5. Am 14. Januar d. J. starb Alfred Lichtwark, der Direktor der
Hamburger Kunsthalle, einer der bedeutendsten Anreger und Führer der
kunstpädagogischen Bewegung.
Literaturbericht.
Heinrich Baumgartner, Psychologie oder Seelenlehre mit besonderer
Berücksichtigung der Schulpraxis für Lehrer und Erzieher. Fünfte,
vielfach umgearbeitete Auflage von Karl Müller, Professor an der Kantonsschule
in Zug. Freiburg im Breisgaii 1913. Herdersche Verlagsbuchhandlung. 155 S.
Geb. 2,30 M.
Es will uns unglaublich erscheinen, daß ein im Inhalte und in der Gestaltung so
rückständiges Buch wie das vorliegende noch immer dem Psychologieunterrichte an
Lehrerseminaren dienen soll. Sich in den Anschauungen der Vermögenspsychologie
bewegend, führt es die zukünftigen Erzieher zurück in eine völlig überlebte Welt.
Die moderne psychologische Forschung wird nebenbei in ein paar Redenstu'ten bei
den ,, Quellen der Psychologie" erwähnt — noch dazu unzutreffend; von ihren Me-
thoden und Ergebnissen ist durchaus nichts zu spüren, nicht einmal — was sich heute
selbst der bescheidenste psychologische Leitfaden leistet — in der Lehre vom Ge-
dächtnis. Gegen die seichte Art, wie auf knapp vier Seiten das „Sprach vermögen" —
mit Psychologie hat dieser Abschnitt fast gar nichts zu tun — erledigt wird, würde
ich die Empörung der Schüler befürchten. Um den didaktischen Geist des Buches
zu kennzeichnen, nur dies eine: Der I. Abschnitt „Vom Leben der Seele im allge-
meinen" beginnt mit einem Bibeltexte als Deduktionsquelle, und den Beschluß des
Buches bilden 196 Wiederholungsfragen.
1 42 Literaturbericht.
Bücher dieser Art schädigen das Ansehen des Lehrerstandes. Nach ihnen bildet
der Femerstehende häufig genug sein Urteil über die Höhe der Seminarbildtmg, und
es ist dann z. B. — wie wir es immer wieder erleben — nicht zu verwimdern, wenn
Dozenten, die vor Lehrervereinen sprechen, in gut gemeinter, aber durchaus ver-
fehlter Absicht das ABC ihrer Wissenschaft vorbringen. Wir dürfen versichern, daß
in den uns bekannten deutschen Seminaren, besonders den sächsischen, der Psycho-
logieunterricht einen solch wissenschaftlichen und didaktischen Zug hat, daß daselbst
ein Lehrbuch wie das von Baumgartner glattweg unmöglich wäre.
Leipzig. Otto Scheibner.
Erich Wulffen, Das Kind. Sein Wesen und seine Entartung. Verlegt bei
Dr. P. Langenscheidt, Berlin W. 57. Preis 12 M., geb. 15 M.
Verf. weist in der Einleitung mit Recht darauf hin, daß, „trotz einer reichen Lite-
ratur, trotz zahlreicher Vereine und Kongresse für die Interessen der Jugend, doch
selbst der Gebildete vom wahren Wesen des Kindes, von seiner innersten Entwicke-
lung sowie von den Grundsätzen seiner Erziehung im wissenschaftlichen Zusammen-
hange noch nicht zu viel weiß". Er meint, ,,von der bekannten Abneigung abgesehen,
einer anscheinend rein praktischen Angelegenheit sich auch von der Seite der Theorie
zu nähern, fehlte es vielleicht auch an geeigneten Hilfsmitteln, den systematischen
Weg zu erleichtern und erfreulich zu machen". Ein solches, begrüßenswertes Hilfs-
mittel stellt das vorliegende Buch dar, welches die Altersstufen des herannahenden
Schulbesuches bis über die vollendete Schulzeit hinaus in das 15. imd 17. Lebensjahr
umfaßt mit gelegentlichen Ausblicken in die reifere Jugend bis zum 20. Lebensjahr,
\ind dessen einzelne Kapitel behandeln: Das Vorstellxuigsleben, das Gemütsleben,
das Sexualleben des Kindes, Gebrechen, Krankheiten und Geistesstörungen im
Kindesalter, die sittliche Erziehung, die strafrechtliche Behandlung des Kindes.
Selbstverständlich bringt der Verf. nicht avif allen diesen Einzelgebieten eigene Be-
obachtvmgen und Erfahrungen, er stellt vielmehr in sehr übersichtlicher imd verständ-
licher Weise einheitlich geordnet das einschlägige Material der bisher vorliegenden
Forschungsergebnisse zusammen; besonders auf dem Gebiete der Jugendstrafrechts-
pflege macht sich die eigene kriminalpsychologische Erfahrung des Verf., der imter
gebührender Heranziehung der entsprechenden Einrichtimgen des Auslandes den
Entwurf zu einer neuen deutschen Strafprozeßordnung kritisch berücksichtigt und
wertvolle praktische Anregtmgen gibt, wohltuend geltend. Das Buch kann zur
Einführung vmd raschen Information und zvir Unterstützung bei praktischer Be-
tätigung empfohlen werden.
München. Dr. E. Levy.
Giese, Fritz, Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugend-
lichen, 7. Beiheft ztir Zeitschrift für angewandte Psychologie und psychologische
Sammelf orschxmg, herausgegeben von Willam Stern und Otto Lipmann. 2 Teile,
Leipzig 1914, Verlag von Johann Ambrosius Barth, XIV, 220 S.; IV, 242 S. und
3 Tafehi. Brosch. 14.— M.
G. hat mit der vorliegenden Arbeit zum ersten Male in großem Stile ein Gebiet
der praktischen Psychologie erforscht, das bisher — wenige mehr feuilletonistische
kleine Arbeiten abgerechnet — so gut wie unbeachtet dalag und das luis doch eigent-
lich bedeutend leichter tiefere Einblicke in die Entwicklung der kindlichen und jugend-
lichen Seele verschaffen kann als etwa die Kinderzeichnimg. Während man seit
langem und mit vielem Erfolge in kulturhistorischen und psychologischen Instituten
Kinderzeichnungen systematisch sammelt, hat man die Produkte jugendhcher
„Dichter" und „Schriftsteller" meist nur aus literarischen Interessen irgendwo
angehäuft und publiziert.
G. unterscheidet drei Gruppen kindlicher und jugendlicher literarischer Erzeug-
nisse. „Eine erste Gruppe muß solche Erzeugnisse vunfassen, die noch einen be-
stimmten Zusammenhang haben mit den traditionellen Übungen tmd Arbeiten, wie
sie auf der Schule getrieben werden. „Es ist die Gruppe bestellter freier Schulauf-
sätze und Schuldichtungen." Es gibt dann solche Arbeiten, die abseits von der Schule
entstehen und doch einen gemeinsamen äußeren Anlaß besitzen. Endlich schafft
Literatlirbericht. 143
auch schon die Jugend „ohne bestimmtes Thema, ohne Anreiz, ohne Schule, ohne
Zwang". G. hat besonders das Material der zweiten und dritten Gruppe bearbeitet,
also die wirkUchen freien literarischen Schöpfimgen. Woher bekam er das Material ?
1400 bestellte kleine Geschichtchen lieferte ihm die Zeitschrift „Allgemeiner Weg-
weiser", die Weihnachten 1912 ein Preisausschreiben für Kinder veranstaltet hatte.
Dichtungen kindlicher und jugendlicher Autoren boten reichhch die Jugendzeit-
schriften: Junge Geister, redigiert von Dr. R. Strecker in Naviheim. Das vier-
blättrige Kleeblatt, Zeitschrift der Christallerskinder. Anfang, Zeitschrift für
kommende Kirnst und Literatur. Der Quell, Zeitschrift, später mit dem Anfang
vereinigt. Der Monat, eine hektographierte Obersekundanerzeitschrift. Dann
eine Reihe von Klassenzeitschriften: Kunstbanausische Zeitschrift, Die
Schülerwelt. Nicht weniger wurden Ejieipzeitungen und Abschiedskommersblätter
ausgebeutet. Desgleichen wurden dem Autor die Sammlungen der Stern'schen und
Dyroff 'sehen Kinderdichtungen überleissen, sowie die Sammlung eines Fräulein Käthe
Seil und der Zentrale für Jugendfürsorge. Arbeiterdichtungen lieferte Levinstein in
Berlin. Aus G.s Buch erfährt man auch, daß die deutsche Literatur eine ganze Reihe
,, gedruckter Dichter und Dichterinnen" besitzt. Außerdem haben eine große Zahl
von ICnaben und Mädchen der verschiedensten deutschen Gaue dem Bearbeiter ihre
gereimten oder ungereimten „Herzensergüsse" zur Verfügung gestellt; völlige Dis-
kretion war ihnen ja zugesichert. So hat G. eine derartig tunfangreiche Material-
sammlimg bekommen, daß der 2. Teil des Buches mit seinen 502 Proben nur eine
Auswahl der die einzelnen wissenschaftlichen Folgerungen am besten beweisenden
Erzeugnisse darstellt. Es ist ein literarischer Reiz eigentümlicher Art, vom Zwei-
zeiler „Die Uhr die klingt, die Hilde winkt" eines 5,8 jährigen Mädchens über aller-
liebste klappernde Verschen der 10- und 12 jährigen zu den tief tragischen schweren
Jamben oder Tagebuchsätzen der Stürmer und Dränger sich hindurchzulesen.
Bearbeitet wurde das Material nach „statistischen Methoden". G. tmtersuchte
zunächst die Formgebimg, die Themata, dann den Stimmungscharakter, die beein-
flussenden Faktoren, das Schaffen des Einzelnen, die Differenzen der Geschlechter,
die Altersunterschiede und endlich speziell die Erotik. Es seien noch kurz einige
Hauptergebnisse erwähnt:
Die Dichtung von Knaben und Mädchen ist formal wie inhaltlich verschieden.
Der Knabe dichtet mehr Poesie, das Mädchen mehr Prosa. Haupttendenz inhaltlicher
Art sind beim Knaben und beim männlichen Jugendlichen alle philosophischen, alle
logischen Momente. Das Mädchen ist mehr für das Emotionale eingenommen. Alle
Werke sind im ganzen viel einheitlicher, als man meint. Die männliche Dichtung verrät
persönliche Produktion, Originalität; die weibliche nach Form und Inhalt Anhäng-
lichkeit an das Traditionelle.
Der Knabe liebt dabei das Ernste, das Mädchen das Heitere. Hauptthemata des
männlichen Dichters sind: Philosophie, Erotik, Natur; des weiblichen Natur, Erotik,
Religion. In der Prosa bevorzugen beide fast gleichmäßig Selbsterlebnis und Mär-
chenwelt.
Die Formen der Poesie sind Jamben, die Reime einfach; in der Prosa Bericht, Er-
zählung und Märchen.
Lektüre und Milieu spielen bei der Jugenddichtung eine große Rolle,
Auf den verschiedenen Altersstufen findet ein Wechsel der Formen und Inhalte
statt; besonders einschneidend wirkt die Pubertät. Sie führt in den Bann der Erotik,
Religion, Natur imd Philosophie ; mit ihr beginnt das eigentliche Dichten. Rasse und
Religion spielen eine untergeordnete Bedeutung. Die Jugend ist sich der Unvoll-
kommenheiten ihres Dichtens klarer bewußt, als man meint. Als Erlebnis wird die
Jugenddichtung wahrscheinlich dem Dichten Erwachsener gleichen.
Aus den Tabellen imd Tafeln sind leicht die differenzierteren Eigentümlichkeiten
und Unterschiede oder Ähnlichkeiten des literarischen Schaffens von Knaben und
Mädchen zu ersehen. Aber gerade hier scheint mir ein Angriffspunkt gegen die ver-
wandte Methode zu liegen. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren, daß bei
der Aufstelltmg der Rubriken, wie heiter, froh, ernst, traurig, düster usw., vmd der
Zuordnung der einzelnen Erzeugnisse zu diesen Rubriken ein gewisser Subjektivismus
144 Literattirbericht.
als bedenkliche Fehlerquelle einschleicht. Und dann, wie schwer ist es zu sagen, ob
ein oder auch zwei eingeschickte Gedichte als wirklich eigenes, freies Produkt an-
gesehen werden können. Man denke nur daran, mit welchem Raff inement von 13- und
14jährigen und älteren Schülern oft Aufsätze zusammengestohlen werden. Sollte
das nicht auch für Gedichte möglich sein ?
Trotzdem bleibt die Tatsache bestehen, daß die Kinderpsychologie durch G.s
Untersuchung an mancher Stelle durch interessante neue Einblicke in die Psyche
des Kindes und Jugendlichen bereichert worden ist.
Leipzig. Joh. Handrick.
August Scheindler, Methodik des Unterrichts in der lateinischen
Sprache. Wien 1913. A. Pichlers Verlag. 312 S.
Der Verf. handelt in Verbind\xng mit anderen Fachmännern über das Ziel vmd
die dadurch bedingte Methode des Lateinunterrichts und faßt dabei in erster Linie
die Verhältnisse der österreichischen Gymnasien ins Auge. Seine Ausführungen
finden jedoch analoge Anwendxmg auf die deutschen humanistischen Lehranstalten.
Wenn er nun dem Normallehrplan der österreichischen Gymnasien entsprechend als
Lehrziel die durch gründliche Lektüre erworbene Bekanntschaft mit dem Bedeutend-
sten aus der römischen Literatur und dadurch Einführung in das Verständnis des
römischen Kultvirlebens feststellt, so betont er mit Recht, daß diese Forderung zu-
gleich eine aktive Beherrschung des grammatischen Stoffes einschließt, ohne die
eine eindringende den Unterschied der lateinischen und deutschen Sprache berück-
sichtigende Lektüre nicht möglich ist. Die methodischen Winke, die er, gestützt auf
umfassende Kenntnis der einschlägigen Fachliteratur, über die Durchführung der
grammatischen Lehraufgabe auf den einzelnen Stufen darbietet, sind gewiß geeignet,
zur Vertiefung imd Befruchtung des Unterrichts außerordentlich viel beizutragen.
Bei der Darlegung der Methode der Lektüre werden die Gesichtspimkte aufgestellt,
welche zur erschöpfenden Behandlung des Inhaltes dienen, die auf Herausarbeitung
des ethischen, ästhetischen und realen Bildimgsertrages gerichtet ist.
Was uns vom Standpunkt der pädagogischen Psychologie besonders
interessiert, ist der Umstand, daß sich in Werken, die, wie das vorliegende, der Lehr-
praxis zu dienen bestimmt sind, mehr tmd mehr die psychologische Betrachtimgsweise
durchsetzt. Wenn der Verf. aber (S. If.) die vorwiegende Lehrmethode des Latei-
nischen als auf „Apperzeption", diejenige des neusprachlichen Unterrichts als auf „Asso-
ziation" beruhend, also mit Avisdrücken, die der Elementarpsychologie entlehnt sind,
glaubt kennzeichnen zu können, so ist dagegen zu bemerken, daß der Stoff der fremd-
sprachlichen Grammatik nach logischen Gesichtspunkten bearbeitet worden ist luid
daß wir demnach logischer Begriffe bedürfen, um die Art der komplizierten geistigen
Vorgänge, wie sie die Lehrmethode umfaßt, festzvistellen. So würden Ausdrücke,
wie systematisch, intellektualistisch oder deduktiv den vorherrschenden Unterrichts-
betrieb des Lateinischen, empirisch, genetisch oder induktiv denjenigen der neueren
Sprachen begrifflich zu fassen geeignet scheinen. Erst indem die an sich abstrakten
Denkformen im Bewußtsein der Schüler beim Unterricht konkrete Gestalt gewinnen,
werden sie Gegenstand der pädagogisch-psychologischen Untersuchung. — Für den
Ausdruck „logische Schulung des Geistes", die nach den Worten des Verf. (S. 5)
einen wesentlichen Bildungsertrag des Unterrichts in der lateinischen Sprache dar-
stellt, sollte, um ein Mißverständnis zu vermeiden, derjenige ,, sprachlich-logische
Schulung" gewählt werden. Es sind, psychologisch ausgedrückt, spezifische beharrende
Übungsdispositionen, welche die Beherrschung des formal-grammatischen Stoffes
begründen.
Überall macht die Schrift es sich so zur Avifgabe, die reichen Bildungselemente,
die der Lateinvmterricht vimfaßt, in ihrer Gesamtheit klarzustellen, um sie in der
unterrichtlichen Praxis zur Geltung zu bringen.
Heidelberg. A. Huther.
fH^^
Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik
und Psychologie.
Von Gustav Deuchler.
(Fortsetzung.)
IIL
1. Bedeutet r den Korrelationsgrad, aus einer zweigliedrigen Rangierung
gewonnen, so soll mit 91 der Korrelationsgrad aus mehrgliedrigen
Rangordnungen bezeichnet werden. Der Bestimmung dieses 9^ wollen
wir uns jetzt zuwenden.
Wir gehen von einem Beispiel aus. Fünf Schüler A, B, C, D, E, mögen
nach ihren Leistungen in Arithmetik die Rangordnung C > A'> D^ B^ E
oder (die Rangordnung durch Indices angedeutet und das Leistungsgebiet
mit a bezeichnet) a = Ci-^a Dz B^E^, in Geometrie, durch ß symbolisiert,
dagegen die Rangordnung ^ = A3 B^CiD^Ei bilden. Wollen wir beide
Rangordnungen zugleich, also ihre Konstellation anschreiben, so mag es in
folgender Weise geschehen (aß)= A23 ^45 C^ D34 E^z', dabei steht der erste
Index für das erste, der zweite für das zweite Leistungsgebiet. Man kann
nun nach dem Grad der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung
dieser beiden Rangordnungen fragen. Will man diese Frage lösen, so muß
man den Fortgang der Rangordnung eines jeden Schülers mit jedem folgen-
den auf beiden Leistungsgebieten vergleichen und die Übereinstimmung
oder den Gegensatz im Fortgang der Rangbildung notieren. Eine solche Ver-
gleichung liegt im Wesen der Rangordnung. Die Resultate der Vergleichung
sollen wieder +, wenn Übereinstimmung des Fortschreitens, — , wenn gegen-
sätzliches Verhalten bei den beiden Rangreihen zu verzeichnen ist, heißen.
Wir bekommen dann im ganzen genau so viel Zeichen, als wir Paare von
einer der beiden gleichlangen Rangreihen bilden können.
Zur Bestimmung der Anzahl der Paare folgende Überlegung: Nehmen wir
an, wir hätten n Schüler und würden jeden mit jedem anderen vergleichen, so
bekämen wir gerade n{n — 1) Paare. Da wir aber jeden nur mit jedem folgen-
den vergleichen sollen, nicht auch mit dem vorausgehenden, so bekommen
wir nur die Hälfte davon, mithin bloß -|n(n — 1) Paare und infolgedessen
auch, wenn i wieder die Plus-, k die Minuszeichen bedeuten,
t +fc = i.n(n—l). (28)
Zeitschrift f. pftdagog. Psychologie. 10
146 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
Nach dieser Regel sei die Konstellation (aß) behandelt; es ist dann, wenn
wir bloß die Indicespaare anschreiben:
a=24 21 23 26 41 43 45 13 15 35
ß = 35 31 34 32 51 54 52 14 12 42 (V)
+ + +— + +— + + —
Die Plus- und Minuszeichen lassen sich auch einfacher gewinnen als nach
Schema V. Wir werden zweckmäßigerweise so vorgehen, daß wir die eine
Reihe (entweder a oder ß) zunächst gut ordnen, d. h. die Schüler in die
Reihenfolge bringen, die die eine Rangordnung vorschreibt ; die andere Rang-
reihe ordnen wir dann immer dieser gutgeordneten zu. Dadurch erhalten wir
bei der gutgeordneten Reihe, wenn wir, was ja durchaus genügt, bloß die
Zahlenwerte berücksichtigen, die Reihe der natürlichen Zahlen. Bei der an-
deren, der zugeordneten Reihe dagegen eine bestimmte Permutation der ersten
Reihe. Ob die beiden Rangreihen miteinander übereinstimmen oder nicht,
erkennen wir, wenn wir untersuchen, wie weit die zweite, die zugeordnete
Reihe, mit der natürlichen Zahlenreihe übereinstimmt. Wir vergleichen also
jede Zahl mit jeder folgenden oder, was dasselbe ist, jede Zahl mit jeder vor-
ausgehenden und notieren ein Plus, wenn sie in natürlicher Folge gegeben sind,
ein Minus, wenn sie invertierte oder umgekehrte Anordnung aufweisen.
Stimmen die Reihen vollständig überein, so bekommen wir lauter Pluszeichen;
verhalten sie sich völlig gegensätzlich, lauter Minuszeichen ; die dazwischen-
liegenden Grade der Übereinstimmung oder des Gegensatzes sind durch das
Verhältnis der Plus- und Minuszeichen charakterisiert. Wegen der Gleichung
(28) genügt zur Bestimmung des Grades der gegenseitigen Abhängigkeit die
Auszählung der Minuszeichen oder die der Pluszeichen. Berücksichtigen
wir dies, so haben wir in der Gleichung (29)
^ i — Ic 2fc 4fc 2i 4i , ^
i +fc ~n{n — 1) n{n — 1) -^nin — 1) n{n — 1)
einen Wert, der die von einem Koeffizienten geforderten Eigenschaften besitzt.
Die zuletzt angedeutete einfache Bestimmung der Minus- oder Plus-
zeichen sei noch an unserem Beispiel kurz dargestellt ; dabei wählen wir das
eine Mal a als gut geordnete Reihe, das andere Mal ß ; beidemal kommt
natürlich dasselbe heraus, eben ein Ausdruck der gegenseitigen Abhängigkeit :
(ßa)=l 5_234 = 162 3 4^ (aß)=l 3 4 5 2=1 3452
1 1 1' + + -!-{- 12 2 1
9i(ßa) = l-^=+0,4; SR(«ß) = ii-l=+0,4.
2. Wir müssen noch einiger Eigenheiten gedenken, die sich bei der Her-
stellung einer gut geordneten Reihe und bei der Zuordnung zu derselben
zeigen. Wir wollen annehmen, es kommen in einer Rangreihe zwei gleiche
Rangwerte vor. Wenn wir diese Rangordnungen nach derjenigen Reihe
ordnen, die keine gleichen Rangwerte besitzt, so ergeben sich weiter keinerlei
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 147
Schwierigkeiten. Es kommen dann nur auf zwei verschiedenen Rangstufen
zwei gleiche Rangwerte zu stehen. Bei der Vergleichung hat man einfach so
zu verfahren, daß man hier eine Null schreibt ; denn die beiden verglichenen
Paare schreiten ja hier weder im ungleichen Sinne noch im entgegengesetzten
fort, sondern das eine bleibt auf der gleichen Stufe, während das andere
fortschreitet. Die entstehenden 0-Fälle werden dann wieder zur Hälfte als
Minus-, zur Hälfte als Plusfälle gerechnet (vgl. unten das Beispiel ay).
Etwas anders ist es, wenn wir die Rangwerte nach derjenigen Reihe ordnen,
bei der eine Rangstufe sich wiederholt ; konkreter gesprochen : bei der mehrere
Schüler denselben Platz haben. Hier entsteht vor allem die Frage, welchen
Rangwert der zugeordneten Reihe müssen wir hier an die erste Stelle dieser
Rangstufe, welchen an die zweite usw. setzen. Die Antwort darauf lautet:
das ist gleichgültig; denn diese verschiedenen Rangwerte auf der gleichen
Rangstufe kommen ja alle nebeneinander zu stehen, und bei der Vergleichung
haben wir nach derselben Regel wie vorhin zu verfahren; wir müssen näm-
lich Null verzeichnen, wenn eine Rangreihe fortschreitet und die andere auf
der gleichen Stufe bleibt. Praktisch zweckmäßig ist es, die Zahlen, die auf
der gleichen Rangstufe stehen, durch eine Klammer zusammenzufassen, damit
man bei der Bestimmung nicht so leicht Fehler macht. Auch diese Schwierig-
keit ist gelöst.
Zur Verdeutlichung diene das Beispiel (o'--x) = Ai^B2bC2sDa2Esi. Es ist dann
3
ay = 5 4 2 1 2 und 9f?(aY) = — — 1 =— 0,7;
0 ^"
+
— 3
Ya = 4 5 3 2 1 und 9^(Ya) = — — 1=— 0,7.
+ 0 ^^
Aber es ist noch eine dritte Komplikation möglich. Es können sehr
wohl auch auf der gleichen Rangstufe, die wiederholt vorhanden zu
denken ist, gleiche Rangwerte auftreten. Dieser Fall verwirklicht sich, wenn
mehrere Schüler den gleichen Platz haben oder die gleiche Zensur im einen
Leistungsgebiet, wobei sie im anderen Gebiet zwar andere, unter sich aber
wieder alle dieselben Plätze oder dieselben Zensuren haben mögen. Es soll z. B.
die Korrelation aus folgender Rangkonstellation bestimmt werden:
(oS) = 1 2 2 4 5 ] .^
3 4-4 1 2! = ^ ;^_i 1
Wenn wir hier die Vergleichung ausführen, so treffen wir den Fall an, wo
wir nicht nur auf derselben Rangstufe bleiben, wenn wir von einem Schüler
zum anderen übergehen, sondern auch noch bei dem gleichen Rang-
wert. Hier liegt also bei den beiden Rangordnungen, die mit-
einander verglichen werden sollen, ein Fortschreiten überhaupt
10*
148 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
nicht vor, und darum verläuft die Vergleichung resultatlos.
Wir haben hier also nichts zu verzeichnen, nicht etwa Null. In diesem Fall
gilt natürlich auch nicht mehr die Gleichung (28) ; denn wir haben hier nicht
mehr jn(n — 1) Zeichen, weil wir auch nicht mehr ^ n (n — 1) Verglei-
chungen haben. Wenn die Gleichung wieder eine richtige werden sollte, so
müßte man von -| n (n — 1) die Anzahl der resultatlos verlaufenden Ver-
gleichungen abziehen.
Weitere Komplikationen als diese können bei dieser Art von Korrelations-
bestimmungen nicht mehr auftreten. Wir sind damit in die Lage versetzt,
aus Zensuren oder aus Lokationen für irgendwelche Leistungsgebiete der
Schüler die Korrelationen zu bestimmen.
3. Hat man eine Reihe von Individuen hinsichtlich ihrer Rangordnungen zu
vergleichen, so wird trotz des an sich nicht komplizierten Verfahrens eine noch
weitergehende Vereinfachung willkommen sein. Eine solche wird möglich
mit Hilfe einer Regel, die der Mathematiker Gordan zur Bestimmung der Zahl
der Inversionen in einer Permutation — das sind unsere Minusfälle hier —
formuliert hat.^) Ich will sie hier bloß an einem einfachen Beispiel verdeut-
lichen. 2) Es soll aus der Konstellation (yS) = lg 2^ 3^ 44 5i 63 7^ die Korre-
lation bestimmt werden. Es ist dann
P q
»^2 6 7 I 4 1 3 6
~ 11
ha-= 0 kb= 2
2 3 2 2
kc='9
Man teilt die Reihe in zwei beliebige Teile p und q und bestimmt bloß die
Minusfälle der beiden Teile (ka und Tcb ) ; dagegen ergeben sich die Minusfälle
kc , die durch Vergleichung der Glieder des ersten Teils mit denen des zweiten
herauskommen — hier sind sie der Kontrolle halber angeschrieben — durch
eine Formel: man addiert die p Glieder vor dem Strich (2 + 6 + 7 = 15)
und zieht davon die Summe der Ordnungszahlen der Glieder (1+2+3
= Y • 3 • 4 = 6) ab (also 15 — 6 = 9). Es ist allgemein dann analog diesem
Beispiel
^c ==Pi+P2 + ---pA — tM>^ +!)• (30)
Die Gesamtzahl der Minusfälle ist also
k = ka + kb+kc. (31)
In unserem Beispiel ist also fc = 0+2 + 9 = ll und vi= 1 — 21 = — 0,05.
') Vgl. P. Gordan, Vorlesungen über Invariantentheorie, hrsg. von G. Kerschen-
Bteiner, Bd. I, S. 2f.
") Vgl. die Darstellung in den Methoden der R.- u. O.-Korr., Kap. IV.
Dort sind auch die für unsere Zwecke nötigen weiteren Ausgestaltungen (für die
Pluszeichen, für die Nullfälle und resultatlosen Vergleiche) entwickelt.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 149
4. Wir wollen nun noch zwei Beispiele behandeln, die sich als Anwendungen
der vorausgehenden Ausführungen darstellen. Das erste entnehme ich dem
Aufsatz von H. Damm, Zur Einführung in die Korrelationsstatik.^) Korre-
liert werden da Leistungen in der Geschwindigkeit des Addierens (a) und
des Rückwärtszählens (ß). Das Beispiel zeigt deutlich die Einfachheit der
hier benützten Methode, wenn man die Gordansche Regel mit verwendet.
Es waren 28 Vpn. Die Reihe ß ist der Reihe a zugeordnet ; also ist
ß„ = 2 6 3 4 10 14 1 27 8 9 7 23 11 19
18 16 12 17 24 20 15 5 25 20 13 22 26 28
11
6 335 13 2
12 1
157 2U 8 2
fca= 26; h = 291/2 ; fcc = 144— 7 • 15 = 39; also fe = 93 Vz
2 • 93 5
^ "" ^ ~" 14 27 ^ +Q'^^ (genauer 0,5053).
Die Korrelation hat also eine Größe von 0,51. Der hypothetische Streu-
ungswert (vgl. unten S. 155) ist ± 0,12. Nach der von Damm angewandten
Methode^), die durch Spearman verbreitet wurde, kommt 0,662 heraus mit
einem hypothetischen Streuungswert von +. 0,14. (Bei Damm ist der wahr-
ßcheinhche Fehler (0,10) angegeben.)
Das zweite Beispiel ist fingiert. Es soll die Gewinnung der Korrelation
aus Zensuren repräsentieren. Die Schulklasse ist aus Gründen der Platz-
ersparnis — hier, nicht in der Schule — nur aus 12 Schülern bestehend ge-
dacht. In beiden Fächern 0- und g kommt nur eine dreistufige Zensurskala
zur Anwendung. Die Rangstufen im Fach &• sind denen des Faches S zu-
geordnet. Der Deutlichkeit halber ist kein abgekürztes Verfahren verwendet.
'3i{&O = —J^ = -0A2.
d^t= 332 31 221-1
Ö 0 —
0 0 —
H 0 0
+ +00
0 0
0 0
Auch hier sind die Schwierigkeiten nicht unüberwindlich, wenn die Bestim-
mung auch nicht so glatt vor sich geht, wie da, wo wir genau soviel Rang-
stufen haben als Individuen. Übrigens läßt sich auch in diesem Fall durch
das abgekürzte Verfahren die Arbeit wesentlich verringern.
6. Über die Gewinnung des Durchschnitts- und Streuungswertes aus
einer größeren Reihe von Einzelbestimmungen ist hier nichts weiter zu be-
') Vgl. Archiv für Pädagogik II. Teil, 1. Jahrgang, S. 301 ff. Die Frage, ob
die Korrelation besser mit Hilfe der Maßwerto berechnet worden wäre, bleibt hier
außer Betracht; vgl. dazu die Methoden d. R.- u. O.-Korr., Kap. XIII.
») Vgl. dazu unten S. 156 ff.
150 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
merken. Es gelten hier dieselben Regeln wie für die übrigen Korrelations-
koeffizienten oder wie für die Mittelbildung überhaupt. Dagegen stellt diese
Bestimmung der theoretischen Mittelwerte, insbesondere die des theoretischen
Streuungs wertes, ein neues Problem dar.
Zunächst wollen wir den Durchschnitt und die Streuung für den Fall der
Unabhängigkeit berechnen. Wenn eine Rangreihe von einer anderen völlig
unabhängig ist, so muß bei unbegrenzt wiederholter Ausführung des ganzen
Versuches diese Rangreihe alle Permutationen, die gebildet werden können,
gleichmäßig durchlaufen. Wir haben nun zu sehen, wieviel Minus bzw.
Plus bei einem gegebenen n auftreten können und mit welcher Häufigkeit ein
einzelnes jeweils vorkommt. Dabei können wir wieder von der Annahme
ausgehen, daß gerade alle Möglichkeiten einmal ausgeschöpft werden
sollen; dies geschieht, wenn die eine der Rangreihen jede Permutation gerade
einmal durchläuft, während die andere unverändert bleibt. Bestimmen wir
dann von jeder einzelnen Permutation die Minus- oder Pluszeichen, so können
wir alle möglichen Korrelationen, also alle theoretischen Einzelwerte be-
rechnen. Hierbei können wir uns wieder an die Minuszeichen, d. h. an die
Bestimmung der fc-Werte und ihrer Häufigkeiten anhalten, um dann zu
dem fH-System überzugehen.
Haben wir nur eine zweigUedrige Rangreihe, so können wir bloß 2 Permu-
tationen 1 2 und 2 1 herstellen, wovon die erste keinen Minusfall, die zweite
einen solchen aufweist. Eine dreigliedrige Rangreihe gibt 6 Permutationen;
1 Permutation mit 0, 2 mit 1, 2 mit 2 und 1 mit 3 Minus; eine viergHedrige
Rangreihe gibt bereits 24 Permutationen; die Anzahl der Minus bewegen
sich zwischen 0 und \n(n — 1) = 6; die dazugehörigen Häufigkeitsziffern
ersehe man aus der Übersicht VI, welche die einem bestimmten n und fc
entsprechende Anzahl der Permutationen bis n = 5 enthält.
k =
0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10 . .
n = 2
1
1
3
1
2
2
1
4
1
3
5
6
5
3
1
5
1
4
9
15
20
22
20
15
9
4
1
(VI)
Aus dieser Übersicht läßt sich auch eine allgemeine Reduktionsformel zur
Bestimmung dieser Häufigkeitsziffern ablesen. Bezeichnet Z'J^ die Häufig-
keitsziffer der Tc Minuszeichen einer n-gliedrigen Permutation, Z^^ü.^ die
unmittelbar vorausgehende dieser Permutation, Zjf ~^^ und Z^^JT»^ die Häu-
figkeitsziffern der den Indices entsprechenden Minusfälle der (n — 1) -glie-
drigen Permutation, so gilt allgemein die Gleichung^) 1 1 |
ZP^Zi}"^! +^r-'^-^?-n' (32)
^) Dabei ist natürlich Z^^_„' so lange gleich 0, als k — n einen negativen Wert hat.
1
1
1 1
1 1
(1-2) 11
1 1
12 2 1
(1 • 2 • 3) 12 2 1
12 2 1
12 2 1
1 2 2 ij
Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 151
Die Häufigkeitsziffern können wir aber auch noch auf anderem Wege
erhalten, nämlich dadurch, daß wir das Produkt
i? = li (14-1), (1+1+1)3(14-1+1+1)4(1+.. . + 1)6. ..(1+1+ ••• + !)*
(1 • 2 • 3 • 4) usw. (33)
13 5 6 6 3 1
ausmultiplizieren und die Einzelprodukte nach dem Staffelprinzip unterein-
ander schreiben^), um sie dann zu addieren.
Wir sehen, dieses Produkt hat ganz dieselbe Bedeutung für die Gewinnung
der Häufigkeiten bei mehrgliedrigen Rangordnungen wie der Ausdruck (1 +1)'
bei zweigliedrigen. Wir können diesem Produkt auch eine ganz ähnhche
Deutung geben wie dem Binomialausdruck. Hier in dem vorliegenden Fall
haben wir Rangplätze zu verteilen. Diese Rangplätze sind uns gegeben
durch die Verschiedenheit der Leistungen auf dem einen Gebiet ; die Ver-
teilung soll nun erfolgen auf Grund der Leistungen in dem andern. Besteht
nun keine Abhängigkeit zwischen den Leistungen beider Gebiete, so werden die
Chancen eines jeden Schülers für jeden der zu verteilenden Rangplätze die-
selben sein; darum sind auch die einzelnen Posten in den Faktoren des Pro-
duktes gleich. Habe ich nur einen Rangplatz (I) und einen Schüler (1),
so ist der Ausfall der Verteilung völlig eindeutig; tritt ein weiterer Rang-
platz (II) und ein weiterer Schüler (2) hinzu, so können die beiden Rang-
plätze (I II) ebensogut mit 1 2 als mit 2 1 besetzt werden. Die Vergleichung
liefert dann 0 bzw. 1 Minuszeichen. Tritt ein dritter Rangplatz (III) und
ein dritter Schüler hinzu, so kann dieser ebensogut auf den III. als auf den
IL oder I. Rangplatz zu sitzen kommen ; bei der Vergleichung kämen dem-
nach durch ihn allein ebensogut 0 als 1 oder 2 Minuszeichen zustande. Jede
dieser drei Möglichkeiten kann sich aber mit jeder der beiden durch die in-
folge der übrigbleibenden Rangplätze vorhandenen Möglichkeiten kombinieren.
Das kommt in der Produktenbildung 1 (1 + 1) (1 + 1 + 1) zum Ausdruck.
Bei weiteren Rangplätzen und Schülern ist die Überlegung die gleiche. Da
wh* aber jetzt nicht nur wissen, daß die gleichgroßen Posten gleiche Chancen
darstellen, sondern auch die Wirkung der Träger dieser gleichen Chancen
auf das Resultat kennen, so vermögen wir uns auch den Sinn des Staffelprinzips
klar zu machen. Zu diesem Zweck schreiben wir uns nochmals das Produkt
R au und setzen als Index an jeden Posten der einzelnen Faktoren die An-
zahl der von ihm bewirkten Minuszeichen. Die Chancen dieser Anzahl sind
ja im Verhältnis zu dem der anderen durch den Wert des Postens (hier
durch 1) ausgedrückt. Wir erhalten dann
B=lo-(lo+ll)'(lo+ll+l2)-(lo+ll+l2+l3)-(lo+ll+l2+l3+l4)-.... (33a)
Multiplizieren wir dieses Produkt aus, so gibt uns die Indic es summe
eines jeden Teilproduktes die Anzahl der Minus an, die dieses Teilprodukt
*) Die Staffeln sind hier aus Platzökonomie nach jeder Multiplikation abgebrochen
und rechts davon weitergeführt. t
152 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
zur Gesamtanzahl beiträgt; denn die einzelnen Indices bezeichnen ja den
Beitrag der Einzelfaktoren. Fassen wir also diejenigen in den Teilproduk-
ten dargestellten Chancen, welche die gleiche Anzahl Minuszeichen hervor-
bringen, in eine Zahl zusammen, so führt uns dies zu dem Staffelprinz 'p
in der Anordnung dieser Teilprodukte, wie die Ausführung der Multiplikation
ohne weiteres zeigt. Es ist z B.
(lo + li)(lo+li+l2)=lo-lo+lo-li+lo-li + li-li + lol2+li-l2=l+2+2+l.
Das arithmetische Mittel (K) aller Werte läßt sich leicht aus der Verteilung
ablesen. Diese ist symmetrisch, und infolgedessen liegt das arithmetische
Mittel auf der Mitte der Abzisse. Das ganze Ausdehnungsgebiet hat den
Betrag \n{n — 1) ; infolgedessen ist
^ = jn(n-;i). (34)
6. "Weniger einfach ist die deduktive Bestimmung des mittleren Abwei-
chungsquadrates aus den allgemeinen Voraussetzungen. Darauf kann ich
in diesem Zusammenhang nicht weiter eingehen.^) Aber ich will eine ganz
einfache und leicht verständliche Methode, die sich allgemein zur Bestim-
mung der theoretischen Mittelwerte eignet, wenn diese bloß von n abhängig
sind, hier kurz darlegen. Der Grundgedanke dieser Methode ist, auf den
Fall der Unabhängigkeit angewandt, folgender : Da die Verteilung aller mög-
lichen Einzelwerte im Fall der Unabhängigkeit sich immer aus dem Wesen
der Unabhängigkeit ergibt, so können wir die theoretischen Mittelwerte
(Arithm. Mittel und Streuung) für ein spezielles n immer berechnen, also
auch fürn = 0, 1, 2, 3, . . . . Die erhaltenen Beträge müssen eine arithmetische
Reihe von derselben Ordnung bilden, von der der Grad des allgemeinen
Ausdrucks für den theoretischen Mittelwert ist. Denn hätten wir diesen
allgemeinen Ausdruck, so könnten wir für n = 0, 1, 2, 3, . . . setzen und
müßten dann dieselben Werte erhalten, die wir auf dem anderen Wege aus-
gerechnet haben. Wir brauchen also nur das allgemeine Glied der berech-
neten arithmetischen Reihe zu bestimmen, so haben wir zugleich den all-
gemeinen Ausdruck für den theoretischen Mittelwert. Mit Hilfe dieser
,Methode der Reihenbildung' lassen sich alle die hier betrachteten
theoretischen Mittelwerte, die arithmetischen Mittel sowohl wie die Streu-
ungswerte, gewinnen.
Diese Methode sei kurz an dem hier vorliegenden Fall illustriert. Die zu
den einzelnen n- Werten gehörenden arithmetischen Mittel K und mittleren
Abweichungsquadrate Q^ sind aus den entsprechenden Häufigkeitsver-
teilungen durch Rechnung gewonnen und in der Übersicht VII zusammen-
gestellt. K ist dabei mit 2,Q^ mit 12 multipliziert, um Bruchzahlen inner-
halb der Reihen zu vermeiden. Unter der Reihe für 2K bzw. für 12Q^ sind
>) Vgl. die Methoden d. R.- u. O.-Korr., Kap. VI. Die Ableitimg des mittleren
Abweichirngsquadrates für die A;- Werte im Fall der Unabhängigkeit ist bereits von
G. F. Lipps (Die Bestimmvmg der Abhängigkeit zwischen den Merkmalen eines
Gegenstandes, 1905, S. 31 f.) gegeben worden; allerdings erscheint bei ihm das
Resultat noch an die Verwendung eines mathematischen Ktinstgriffes gebunden.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 153
zugleich die dazu gehörigen Differenzenreihen in kleinen Ziffern angedeutet,
um die Berechnung zu veranschaulichen.
n =012345..
2ä:=001 3 6 10..
0 12 3 4 . .
11 1 1 . . (YJJN
12Q'' = 0 0 3 11 26 50 . . ^ ^
0 3 8 15 24
3 5 7 9..
2 2 2 ,
Setzt man nun in der Formel für das allgemeine Glied einer arithmetischen
Reihe rter Ordnung yn= yo+(i)^i+ (2)^2+ (gjc^a + • • • + (^)^r
wobei yo das Anfangsglied der Hauptreihe, d^, d^, d^^- -- dr die Anfangs-
glieder der ersten, zweiten, dritten, . . . rten Differenzenreihe sind, so erhält
man für das arithmetische Mittel die uns schon bekannte Gleichung (34)
K = t(o) = t^(^ — 1) ^^^ ^^ ^^3 mittlere Abweichungsquadrat die
Gleichung
Q' = i^[(2)-3+(3)-2] = 4^(^-l)(2n+5), (35)
woraus sich durch Erweiterung mit 2 und Wurzelziehung ergibt, daß der
theoretische Streuungswert für die einzelnen k im Fall der
Unabhängigkeit
Q = — /2n(n— l)(2n+5) (36)
1^
ist.
Gehen wir nun zu den 9l-Werten über, so brauchen wir nur in der Glei-
chung (29) für k = ^n(n — 1) zu setzen, und wir erhalten dann für das
theoretische durchschnittliche 9?o bei gegenseitiger Unabhängigkeit beider
Rangreihen
^ n(n — ^1) ^ , ,
9*0=1 7 7T = 0. (37)
n{n — 1)
Zur Formulierung der zu 9f?o = 0 gehörigen theoretischen Streu-
ungswerte Po müssen wir die Proportion benützen
Q:% = \n(n—l):l oder % = ^^^_^y (38)
Daraus ergibt sich dann mit Rücksicht auf den Wert für Q in Gleichung (36)
o ' n{n — 1)
^) Als Koeffizienten der Sukzessionsabhängigkeit habe ich im Anschluß eui die von
G. F. Lipps a. a. O. gegebenen Entwicklungen {R und qo (für den Fall der Unab-
hängigkeit) bereits in einer früheren Arbeit (Beiträge zur Erforschung der Reak-
tionsformen I in W. Wundta Psych. Stud., Bd. IV, S. 418) formtüiert.
154 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
Die gegenseitige Unabhängigkeit zweier Rangreihen ist
,^^^^V.^(2n+5)
somit durch die Doppelgleichung 9f?o±^o = 0±:rr —h r- clia-
o ' n{n — 1)
rakterisiert.
Es besteht demnach Unabhängigkeit zwischen zwei nach
Rangordnungen abstufbaren Leistungsgebieten, wenn die aus
einer genügend großen Zahl von Versuchen gewonnenen Mittel-
werte ^g und Qs die Doppelgleichung 9ls±qs = 0±qo hinreichend
befriedigen.
7. Mit der gleichen Strenge und ganz analog dem Fall der Unabhängig-
keit lassen sich auch die theoretischen Mittelwerte für jeden beliebigen Grad
der Abhängigkeit entwickeln. Doch kann ich darauf hier nicht näher ein-
gehen.i) d^^ Ableitungen schließen sich ebenfalls an das oben gegebene
Produkt an; nur sind natürlich die Chancen bei der Verteilung der Rang-
plätze dann, wenn beide Rangreihen in gegenseitiger Abhängigkeit stehen,
nicht mehr gleich, sondern in bestimmter Weise abgestuft, je nach dem Grad
der Abhängigkeit verschieden. Die Produktenformel entspricht auch insofern
dem Binom {i+ky, als sie ebenfalls die Bedingungen für die reguläre Abhängig-
keit ausdrückt. Die Abstufung der Chancen in den einzelnen Faktoren des
Produktes muß so beschaffen sein, daß der Durchschnittswert für die Plus-
oder Minuszeichen durch das Hinzutreten eines weiteren Faktors nicht ver-
ändert wird; denn nur so bleibt natürlich der Wahrscheinlichkeitsbestand
bei der Platzverteilung derselbe. Darum sind aber auch hier dieselben Kri-
terien für die Existenz regulärer Abhängigkeit gültig, die wir bei dem zuvor
betrachteten Koeffizienten formulierten. Wir bekommen deshalb auch für
die theoretischen Mittelwerte hier ganz analoge Gleichungen wie dort. Es
ist nun der Durchschnitt aus allen möglichen Einzelwerten bei einer
gegenseitigen Abhängigkeit von der Größe ^ bestimmt durch
9i„=i_-^-_^=i-^— — -=m. (40)
" ^n{n — 1) Y^Cn — 1)
Der zu 9^0 = 3^1 gehörige Streuungswert ist dann
..4K
6(1— 9l^)(2n+5-|-^(2n— 1)) .^^.
n{n—l)iB-\-m)
Stehen zweiRangreihen in gegenseitigerAbhängigkeitvomGrade
fH, so ist die Gesamtheit aller möglichen Einzelkorrelationen
^ 0,^- -n ,1-1, «>-4_ cvjo. il/6(l-9t')(2n+5+3t(2n-l))
durchdieDoppelgleichung 9lo±qo = 3l±|f/ -^^ yt(n— 1)(3 +^)
gekennzeichnet.
Zwei nach Rangordnungen abgestufte Leistungsgebiete weisen
den Korrelationsgrad 9fl auf, wenn die aus einer genügend großen
Zahl von Versuchen gewonnenen Mittelwerte % und q^ die
Doppelgleichung 9^si:^s=^oii'qj hinreichend befriedigen.
^) Vgl. Die Methoden der R,- u. O.-Korr. Kap. X.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 155
Da der hypothetische Streuungswert einfach dadurch gewonnen
wird, daß man in der Formel für den theoretischen Streuungswert an Stelle
des ,wahren Mittels' oder des theoretischen Durchschnittswertes den empi-
risch gefundenen Einzelwert 9fi setzt, so ist der einem empirischen 9t ent-
sprechende hypothetische Streuungswert (qA) durch den Ausdruck
""'-sV ^(n_i)(3+3l) '3 »^ ~^r- ^ ^^^^
dargestellt.
8. Wenn wir die Häufigkeitszahlen der Übersicht (VI) betrachten, so er-
kennen wir sofort, daß hier keine Binomialzahlen vorliegen. Jedenfalls
stimmen die Binomialkurven oder B-Kurven eines bestimmten t mit den
Häufigkeitskurven der k- oder Üt-Werte hier, oder kurz mit den R- Kurven,
deren n= t ist, nicht überein. Gleichviel lassen sich immer solche
B-Kurven angeben, die mit den R- Kurven nahezu zusammenfallen. Es sind
diejenigen, deren
*-2(2n + 5) ^^^^
ist ; wir müssen aber natürlich die Kurven so zeichnen, daß die Basis und
der Flächeninhalt der Kurven gleich bleibt.^) Das läßt ja allerdings schon
vermuten, daß die R-Kurven ebenso wie die B-Kurven durch die Expo-
nentialformel oder das Gaußsche ,Fehlergesetz' näherungsweise dargestellt
werden können. Es läßt sich aber auch exakt nachweisen, daß mit unbe-
grenzt wachsendem n die R-Kurven in Exponential- oder Gaußsche Fehler-
kurven übergehen. Die Ordinaten der zu einem bestimmten Korrelations-
grad 9t gehörenden Wahrscheinlichkeitskurve sind dann durch die Nähe-
rungsformel
1 (x—m)*
l, = —T=e 2q2 (44)
qoV 27C
gegeben. Wird 91 = 0, d. h. besteht Unabhängigkeit zwischen den beiden
Reihen, so geht diese Gleichung über in
qoV 2 t:
In diesen Ausdrücken bedeutet x wieder die laufende Koordinate zwischen
— 1 und + 1, Qo das theoretische (oder das hypothetische) Streuungsmaß im
Fall der Unabhängigkeit, also der Wert aus der Gleichung (39).
Wenn man also die Rangkorrelationen dem Wesen der Rang-
bestimmung und Rangverteilung entsprechend behandelt, so folgt
*) Der Näherungswert wird bei kleinem n nicht allzu genau; es empfiehlt sich
darum die erste, völlig exakte Formel zu benutzen. Übrigens wird die in meinen
Untersuchungen beigegebene Tafel der hypothetischen Streuungs werte die Berech-
nung für die am häufigsten vorkommenden n teils überflüssig machen, teils wesent-
lich vereinfachen.
*) Vgl. deizu. die oben gemachten Bemerkungen 6. 125.
156 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
die Verteilung der Einzelwerte bei Unabhängigkeit und regu-
lärer Abhängigkeit exakt den Relationen des Gaußschen Fehler-
gesetzes — was zugleich besagt, daß dieses allgemeinerer Natur ist, als
häufig angenommen wird.
IV.
1. Bisher hat man fast allgemein die Korrelationen aus Rangreihen in
anderer Weise bestimmt. Man ging von dem Gedanken aus, daß zwei Rang-
reihen um so mehr übereinstimmen, je geringer die Differenzen der Rang-
werte sind. Im Anschluß an die Überlegung sind die beiden von Ch. Spear-
man formulierten und verbreiteten Koeffizienten R und p entstanden; unter
diesen beiden schließt sich wieder der zweite (p) in seiner mathematischen
Form eng an den von Bravais bereits aufgestellten, allgemein mit r bezeich-
neten an; er läßt sich auch direkt aus ihm herleiten.^) Die beiden Koeffi-
zienten sind durch die Gleichungen (46) und (47) definiert. Es ist nämlich
R = l
und
62^
Sfir ^ Söf_
M—llg
n^—1
Un'-l) ^
' M
6Sd2
1 ln(n2— 1) ^
6
(46)
(47)
Wir wollen Sie an einem Beispiel verständlich machen. Es mögen ß und y
die zwei zu korrelierenden Fähigkeiten sein, wobei die zur Untersuchung
herangezogenen sieben Versuchspersonen die Rangordnungen der Über-
sicht VIII aufweisen.
Ä B C D E F G
ß=1234567
Y=452 7163
g = 1 4 0 4
d^=9 9 1 9 16 0 16
h = 2 4 14
9
60
11
R= 1 —
P = l —
6 -9
48
6-60
7-48
211
21
— 0,125
— 0,071 (VIII)
— 0,048
Wie aus dieser Übersicht hervorgeht, bedeutet g die einfache positive Diffe-
renz der beiden Rangwerte und T>g die Summe derselben — die negativen
haben den gleichen Summenbetrag und können deshalb ignoriert werden.
Weiter bedeutet d^ das Differenzenquadrat, n die Anzahl der rangierten
Personen; die Anzahl der Minusfälle (k) ist zurVergleichung beigegeben. Der
Nenner in der Gleichung für R, also M = ^ (n^ — l) ist der bei völliger
Unabhängigkeit im Durchschnitt zu erwartende Wert von Xg, während der
Nenner der Gleichung fürp, also (j(.=-5-n(n^—l) das halbe M aximum von Sci^ ist;
1) Vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Korr., Kap. V.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 157
dieser Betrag wird von I-Sd^ im Falle völligen Gegensatzes der beiden
Reihen erreicht.^)
2. Der Koeffizient R hat nun einige merkwürdige Eigenheiten, die nicht
nur das Gefühl für Symmetrie mathematischer Ausdrücke empfindlich
stören, sondern auch sachliche Bedenken hervorrufen. Zunächst gibt er für
gerade und ungerade n den Korrelationsgrad verschieden an. Die Korre-
lationswerte aus je zwei völlig inversen Reihen z. B. mit geradem und un-
geradem n werden nicht gleich, wie man erwarten sollte. Der Unterschied
ist allerdings um so geringer, je größer n ist; er beträgt für n = 6, wie man
leicht finden kann, immer noch 0,0628. Außerdem ist R gänzHch unsym-
metrisch, indem die Werte zwischen + 1 und 0, den Werten zwischen 0 und
— 0,5 (von der soeben gerügten Ungleichheit abgesehen) entsprechen. Diese
Asymmetrie ist aber nicht nur durch den als Nenner höchst unzweckmäßigen
Wert M hervorgebracht, vielmehr ist auch die Verteilung der Häufigkeiten
auf der Abszisse schon im Fall der Unabhängigkeit asymmetrisch. Zur
Illustration setze ich aus meinen Untersuchungen die Häufigkeiten (z) der
theoretischen Korrelationswerte (JRo) für ögliedrige Rangreihen hierher.
Ro = 1,00 0,75 0,50 0,25 0,00 —0,25 —0,50
2=1 4 12 24 35 24 20
Spearman hat zwar in der genannten Abhandlung angemerkt, daß bei stark
inversen Reihen die eine umzukehren und der dann gefundene Wert
mit — 1 zu multiplizieren sei. Aber eine genauere Betrachtung zeigt, daß
diese Hilfsregel nicht genügt. 2) Außerdem wird durch diese Regel das Aus-
dehnungsgebiet des Koeffizienten plötzlich ein ganz anderes; es erstreckt
sich nun von + 1 über 0 bis — 1. An sich wäre das nicht schlimm; aber der
von Spearman bestimmte theoretische Streuungswett gilt bloß für das
erstgenannte Ausbreitungsgebiet von +1 bis — 0,5, nicht für das neue.
Solange also der Koeffizient R von den genannten Mängeln
nicht befreit ist, kann man ihn aber auch nicht anwenden. Daß
er relativ wenig Rechenarbeit erfordert, ist kein stichhaltiger Grund gegen-
über diesen Bedenken. Übrigens hat der Hinweis auf die Zeitersparnis nur
so lange Sinn, als man R und p einander gegenüberstellen will. Der Koeffi-
zient di dürfte sogar noch ein geringeres Quantum von Rechnungsarbeit
benötigen als R.
3. Der Koeffizient p zeigt solch plumpe Mängel nicht: sein Verlauf ist
völlig symmetrisch zu 0; denn er bewegt sich von + 1 über 0 bis — 1. Auch
ordnen sich die Häufigkeiten im Fall der Unabhängigkeit (vgl. Fig. 1, Kurve
D(n=5) und die Übersicht IX) symmetrisch an, und die Umkehrung der
einen der beiden Reihen erzeugt den selben Korrelationsbetrag nur mit — 1
') über die Ableitung dieser Ausdrücke vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Korr.,
Kap. V; sie lassen sich natürlich auch mit Hilfe der »Methode der Reihenbildung' ge-
winnen. Die Spearmansche Ableitung von M sowie die des theoret. Streuungswertes
von R ist etwas umständlich; sie findet sich im II. Bd. des British Journal of Psycho-
logy, S. 89ff.
•) Vgl. die Ausführvmgen im V. Kap. meiner Untersuchungen, wo zugleich die
Verbesserungsmöglichkeiten behandelt sind.
158 Über die Methoden der Korrelationsrechnting in der Pädagogik usw.
multipliziert. Er erfordert zwar etwas viel Arbeit bei der Berecbnung; aber
dies ist ein nebensäcbliclier Gesichtspunkt. Das theoretische Streuungsmaß
ist in einer brauchbaren Annäherung bekannt in der Form des wahrschein-
lichen Fehlers.^) Soweit ist also die Sache in Ordnung. Bedenken steigen
I I I I I I I I I I I —^^T^ I 1 I I J I J I
-1,0 -Ci -4i -(?; -iS -0! -«♦ -0,1 -a/i -V U » ttl 09 tif il CS 07 äS V tt
Fig. 1. Kurven der Wahrscheinlichkeit oder relativen Häufigkeit der Koeffizienten
werte 91 [Kurve i2 (n = 5)] und q [Kurve D {n = 5)] bei gegenseitiger Unabhängig-
keit der beiden korrelierten Reihen.
uns erst auf, wenn wir dieWahrscheinlichkeitskurve desKoeffizienten,
insbesondere die für den Fall der Unabhängigkeit studieren. Diese ist für
n= 5 in Figur 1 abgebildet ; es ist die punktiert gezeichnete Kurve D (n= 5).
Sie ist dadurch gewonnen worden, daß die gutgeordnete Reihe mit den 120
Permutationen von 1 2 3 4 5 in Korrelation gebracht, T>d^ bestimmt und p
dann berechnet wurde. Die 120 Werte von Hd^ ordnen sich den Größen
0, 2, 4. . . bis 40 in der Weise zu, wie dies die Übersicht IX bei s zeigt und
die Kurve D(w=5) abbildet:
I]d^= 0 2 4 6 8 10 13 14
»=14 36 76 4 10
16
6
18
10
30
6
Q = 1,0 0,9 0,8 0,7 0,6 0,5 0,4 0,3
1:^2 = 23 34 36 38 30 33 34
«=10 6 10 4 6 7 6
0,3
36
3
0,1
38
4
0,0
(IX)
40
1
Q 0,1 0,3 0,3 0,4 0,5 0,6 0,7
-0,8 -
-0,9 -
-1,0
Von einem guten Korrelationskoeffizienten erwartet man aber
nicht nur, daß im Falle der Unabhängigkeit der theoretische
Durchschnittswert aus allen möglichen Einzelkorrelationen
gleich 0 ist, sondern daß er in diesem Fall auch relativ am häu-
figsten ist und daß die relative Häufigkeit oder die Wahr-
scheinlichkeit der Einzelwerte ständig abnimmt, je mehr man
sich vom Durchschnitt (d. h. hier von 0) entfernt. Dies ist der
Fall bei ffi [man vergleiche die beigegebene Kurve R(n= 5)], sowohl für
71 = 5 als auch für andere, nicht dagegen bei p, wie die Kurve D(n=5)
zeigt. (Analogen Verlauf zeigen übrigens auch 4- und 6gliedrige Rang-
^) Vgl. Die Methode der R.- u. O.-Korr., Kap. VII und die folgende Seite hier.
über die Methoden der Korrelationsrechniing in der Pädagogik usw. 159
reihen.)!) Ein Korrelationswert, nach der p-Methode bestimmt,
deutet also keineswegs um so sicherer auf einen bestimmten
Grad der gegenseitigen Abhängigkeit hin, je mehr er von 0 ab-
weicht — bei 5ghedrigen Rangreihen ist im Fall der Unabhängigkeit
ein Korrelationsbetrag von 0,30 oder 0,60 viel eher oder eher, ein solcher
von 0,70 in gleicher Weise zu erwarten wie der Wert O! — und darum
empfiehlt es sich, diese Methode der Bestimmung von Rang-
korrelationen der Vergessenheit anheimzugeben. Sie hat ihre
Dienste getan und mitgeholfen, uns an den Korrelationsgedanken zu ge-
wöhnen. Nun es einwandfreiere Methoden gibt, die zugleich zweck-
mäßiger sind, wird man sicher sich ihrer nicht mehr bedienen. Der
i/l— pa
wahrscheinliche Fehler des Koeffizienten ist näherungsweise^) 0,706 y .
' n
Er ist also auch, entsprechend der breiter ausladenden Häufigkeitskurve,
größer als der von 5R, und zwar ist dieser etwa nur % von jenem (vgl. d.
hyp. Streuungswert S. 155; q^ mit 0,67449 multipliziert gibt den wahr-
scheinlichen Fehler).
Zur Orientierung über die Größenbeziehung von 9? und p bemerke ich noch
daß p im Durchschnitt größer als 9t ist; im einzelnen können die
Unterschiede nach beiden Seiten gehen und recht beträchtlich sein.^) Zur
Illustration des durchschnittlichen Unterschiedes und seiner Abhängigkeit
von der Größe der Korrelation gebe ich zum Schluß dieses Abschnittes die
Übersicht X bei. Sie enthält die 9?- Werte aller möglichen Rangbildungen fünf-
gliedriger Reihen; dazu die entsprechenden Häuf igkeits Ziffern Z. Von den
jeweils Z Konstellationen sind auch die einzelnen p-Werte und der Dm'ch-
schnitt aus diesen berechnet.
Z= 1 4 9 15 20
22
20
15
9
4
1
«R = _1,0 -0,8 -0,6 -0,4 -0,2
0,0
0,2
0,4
0,6
0,8
1.0
p=-l,0 -0,90-0,73-0,52-0,21
0,0
0,21
0,52
0,73
0,9
1,0
_«R=: _0,00 —0,10—0,13 —0,12 —0,01
0,0
0,01
0,12
0,13
0,10
0,0
(X)
Wir sehen aus dieser Übersicht, daß die stärksten durchschnittlichen Ab-
weichungen um den Betrag 9R= 0,6 herum auftreten. Daß p im allgemeinen
einen höheren Betrag hat, besagt natürhch nichts ; jedenfalls ist es keinerlei
Empfehlung für ihn. Denn man kann mit Hilfe einer Kreisfunktion jeden
Koeffizienten so verändern, daß er das Ausdehnungsgebiet und den allge-
meinen Verlauf beibehält, im einzelnen aber von dem früheren Betrag in
ähnlicher Weise abweicht wie p von 3?. (Fortsetzung folgt.)
>) Vgl. Die Meth. d. R.- u. O.-Korr. Kap. VI.
•) Für den theoretischen Streuungswert, also die mittlere quadratische Ab-
1
•weichung, ergibt sich nur im Fall der Unabhängigkeit der Wert q^ —Tr^^f (vgl.
das VI. Kap. meiner Untersuchungen).
*) Weiteres darüber in meinen Untersuchungen, Kap. V; vgl. dort auch Tab. I.
160 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen
von taubstummen Schülern.
Von Rudolf Lindner.
Taubstumme Kinder sind reiner, unverfälschter in ihrem Handeln als
hörende. Sie sind der Sprache entrückt, und Mahnungen, Warnungen und
Belehrungen über Böse und Gut, über Recht und Unrecht, die das Handeln
der hörenden Kinder fortwährend begleiten und beeinflussen, treffen sie
nicht. Sie bleiben mehr unerzogen, ihren Erziehern mehr entrückt, sind fast
Kinder der Natur. Wenn Sully vom normalen Kinde redet als einem ,, Er-
innerungszeichen seiner Rasse und gewissermaßen einem Schlüssel zu ihrer
Geschichte", so gilt das in viel höherem Maße vom taubstummen. Mehr
als das normale Kind spiegelt es zweifellos für uns „den wahrscheinlichen
Zustand des ursprünglichen Menschen in einer, wenn auch schwachen, ver-
zerrtenWeise wieder". Die Seele des Hörenden untersteht dem stetig wachsenden
Einfluß der Sprache, die seine Gedanken ordnet und richtet, einem Einfluß,
den wir in seiner Tragweite kaum abzuschätzen vermögen.
Gewiß wirkt das Vorbild der Eltern und Geschwister auch auf taub-
stumme Kinder ein, arbeitet die Gewohnheit auch an ihnen; doch so lange
die Umwelt nicht mit ihnen zu reden vermag, ihnen unsere Gewohnheiten
und Gebräuche, unsere Sitten nicht erklären kann, bleibt es bei ihnen bei
mechanisch nachgeahmten Handlungen, die das Innere des Kindes nicht
tief treffen und bilden können. Der Uneingeweihte wird aber sofort an die
Gebärdensprache denken, da allgemein die Anschauung verbreitet ist, man
könne sich in den Zeichen dieser Sprache in der gleichen Weise unterhalten
wie in Lauten: Ein großer Irrtum! Wie das „Lexikon" dieser Gebärden-
sprache arm an Zeichen ist, so arm sind auch die darin darstellbaren Ge-
danken. Als Unterrichtsmittel kommt diese Sprache der Wortsprache gegen-
über kaum in Betracht.
Aber es bleibt das Lesen und Schreiben, hört man allgemein einwenden.
Gewiß greift die Taubstummenschule zu diesen Darstellungsmitteln der
Sprache. Die taubstummen Kinder lernen sogar auch reden und verstehen,
indem sie die Sprechbewegungen vom Munde ablesen und nachahmen. Aber
wo der Sinn des Unterrichts, wie Aristoteles das Ohr genannt hat, fehlt, stößt
die Erlernung der Lautsprache auf tausenderlei Schwierigkeiten, die diesen
Unterricht zum schwierigsten alles Unterrichts machen und nur ganz lang-
sam Erfolge gewinnen lassen. Nahezu rein bis zum Schulanfang und
dann noch weitere vier, fünf Jahre, ehe die wachsende Sprache auch diese
Seelen veredelt hat, zeigt uns das taubstumme Kind den Zustand des natür-
lichen Menschen, des natürlichen Empfindens und Wollens.
Das Handeln der taubstummen Kinder selbst zu registrieren, ist
außerordentlich schwierig, da sich das Ursprünglich-Eigentümliche nur zu
leicht den Blicken der Erzieher entzieht, da auch das Handeln dieser Kinder
gefälscht wird unter dem Druck der Umgebung, und, wie ihre Taubheit sie den
Einflüssen der Sprache entzieht, so macht es das fehlende Gehör geradezu
unmöglich, durch Fragen bis an die Wurzeln ihres Handelns vorzudringen.
Moralpsychologische Auswertimg freier Kinderzeiclinungen usw. 161
Ihre Gefühle, das Sittliclie in ihnen, das, wie sie handeln möchten und han-
deln würden ohne allen Zwang, ihre ethischen Maße: sie lernen wir nun
aber recht gut aus ihren freien Zeichnungen kennen.
Wir dürfen um so mehr unsere Schlüsse aus ihren Kinderzeichnungen
ziehen, als diese — wenn auch nicht das tatsächliche Handeln — so doch
ilu" innerstes Streben und Wollen verraten, als sie uns sagen,
wie diese Kinder handeln würden, wenn dem Wünschen das Können ent-
spräche. Soweit sich die freien Willensäußerungen an taubstummen Kindern
beobachten ließen, stimmen sie durchaus mit der Ethik in ihren Zeichnungen
überein. Vergl. hierüber meine Ausführungen in: ,,Über kindliche Sitte
und Sitthchkeit nach Beobachtungen an taubstummen Schülern" (Zeit-
schrift für pädagogische Psychologie, 1911).
Gewiß sind die Kinder auch in ihren Zeichnungen beeinflußt von allerlei
Bildern und Geschichten; wir werden aber sehen, wie gerade die Wahl, die sie
aus dem ihrer Nachahmung gebotenen Material treffen, auf das, was ihnen zu-
sagt und ihrer Entwicklungsstufe entspricht, das hellste Licht wirft. Wie der
Weizen seit Jahrtausenden im Boden, der ihntrug, immer den Kali fand, den er
brauchte, noch ehe ihn der gewitzigte Mensch einstreute, so sucht das Kind
aus der Flut der Geschichten, Bilder und Beispiele das aus, was sein Wachs-
tum erfordert, auch ohne Erziehung, ja trotz der Erziehung. Gerade was
unsere Kinder aussuchen, lehrt erkennen, was sie brauchen.
Nun läßt sich eine Handlung nur schwer in den Rahmen eines Bildes
zwängen. Es drückt viel zu sehr nur eine Stimmung aus, aber nicht das, was
wir suchen, einen Gefühlsverlauf, eine Handlung, und wir würden wieder
verschlossene Türen finden, wenn unsere taubstummen Schüler nicht auf die
glückliche Idee gekommen wären, Serien von Bildern zu zeichnen, die nach
Art der Münchner Bilderbogen eine ganze, meist selbst erfundene Geschichte
darstellen.
Taubstumme zeichnen gern und viel und auch durchschnittlich besser
als ihre hörenden Altersgenossen. Ihrem gegenständlichen Denken, gepflegt
und entwickelt durch ihre Gebärdensprache, liegt der bildende Ausdruck
näher als dem normalen Kinde, das schon vorzeitig durch die Sprache zu
inhaltsarmen Abstraktionen verführt wü-d. Der Sprachunterricht hat sich
schon an vielen Taubstummenanstalten die Begabung der taubstummen
Schüler für den zeichnenden Ausdruck zunutze gemacht und seine schwie-
rigen Aufgaben damit zu erleichtern versucht. Auch die hier besprochenen
Zeichnungen sind nicht etwa aus dem Zeichenunterrichte hervorgegangen,
sondern sind im Anschluß an Aufgaben des Sprachunterrichts entstanden.
Gewöhnlich wurden die Schüler aufgefordert, am Sonntag irgend etwas zu
zeichnen und dann zu beschreiben. Wieviel dabei der sprachliche Ausdruck
hinter dem bildenden zurückbleibt und zugleich, welche Schwierigkeiten die
Sprache den Kindern macht, wird man aus dem Unvermögen sehen, die ,, Ge-
schichten in Bildern" zugleich auch sprachlich zu gestalten.
Die Sprache bleibt weit hinter dem Gedanken zurück. Die Phantasie
Sprachbegabter geht durchaus andere Wege, schmückt eine Situation in
ganz anderer Weise aus, als die Phantasie der Augenmenschen. Man be-
trachte z. B. auf Seite 162 die Geschichte, die ein lOjähriger taubstummer
Zeitschrift f. pAdagog. Psychologie. 11
162 Moralpsychologische Auswertung freier Kanderzeichnungen usw.
Knabe „gedichtet" hat. Zweifellos wurde er dazu angeregt durch eines der
häufigen Bilder, wo ein Adler das Kind vor den Augen der entsetzten Mutter
in die Lüfte entführt. Er hat um ein solches Bild eine Geschichte gewoben,
die ganz folgerichtig durchdacht ist. Sprachlich hat er sie aber nicht zu
fassen gewußt. Die Bilder beweisen, wie mächtig die Phantasie des kleinen
Künstlers angeregt worden ist und wie auch seine Phantasie von der Ver-
nunft geleitet wird. Nur die schwierigen Formen der Sprache sind schuld,
wenn es ihm nicht gehngen wollte, seine Gedanken in einer uns Hörenden
geläufigen Form darzustellen. Es ist bei Taubstummen — und ich glaube,
auch oft genug bei Hörenden — immer falsch, von ihrer Sprache auf ihr
Inneres schließen zu wollen.
Bild 1 — 4 ist das Herauf liegen des Adlers geschildert. Bild 5 sehen wir ihn über
einem Hause, wo eine Frau gerade das Fenster öffnet. Bild 6 zeigt das vorn geöffnete
Haus. An Flinte, Pulverhorn, Jagdtasche und Uniform an der Wand erkennen wir
das Jägerheim, Der Adler ist hineingeflogen. Bild 7. Mit dem Kindlein im Schnabel
fhegt er wieder davon. Bild 8. Wir sehen die entsetzte Mutter an der leeren Wiege.
Auch der Jäger ist nach Hause gekommen. Bild 9. Der Jäger geht mit der Flinte, den
Adler zu erlegen. — Der Versuch, seineGedanken in Worte zu fassen, führte denSchüler zu
folgenden xmzulänglichen, den eigentlichen Inhalt gar nicht treffenden Sätzen: „Der
Adler kommt. Die Walde stehen. Der Adler fliegt. Das Haus steht. Das Haus ist
aus Stein. Das Haus ist groß. Die Frau kommt. Der Jäger kommt. Das Mädchen
steht. Die Frau steht. Die Frau weint. Der Knabe steht. Der KJiabe weint. Das
Mädchen weint."
Wie die Kinder auf den Gedanken kamen, solche Geschichten in Bildern zu
„schreiben"? Stückchen von Films, wie sie durch den Kinematographen
Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw. 163
laufen, sind aucli bis in unsere Anstalt gedrungen. Die Kinder haben längst
den Sinn erfaßt und in die ^cken ihrer Notiz- und Skizzenbücher Reihen
von Bildern gezeichnet, die beim schnellen Umblättern richtige lebende
Bilder ergeben: einen Turner am Reck oder Barren, einen Hund, der durch
einen Reifen springt, oder ähnliches. Auch mögen Münchner Bilderbogen
auf sie eingewirkt haben. Solche nur abgezeichnete Bilder sind hier grund-
sätzhch ausgeschieden. Im folgenden werden nur eigene „Dichtungen" und
„Nach- oder ümdichtungen" behandelt. Wo der Hergang der Geschichte
gegeben war, etwa imLesebuch oder in der bibhschen Geschichte — der Schüler
also nur die Illustrationen dazu lieferte — wird es besonders vermerkt werden.
Bezeichnend bleibt in solchen Fällen für uns immer noch die Wahl des Stoffes
und die Wahl der Szenen aus dem Gang der Ereignisse.
Nurgends aber wurde von selten des Lehrers, was Stoff und Form an-
belangt, auf die Kinder eingewirkt. Die einzige Einwirkung des Lehrers
bestand darin, daß er durch Lob und Tadel den Eifer für das Zeichnen
solcher Geschichten zu erhalten suchte und, wie sonst schon gewohnt,
alles Gezeichnete für den Sprachunterricht auszuwerten suchte, indem
er an die Kinder die Anforderung stellte, das Dargestellte auch sprachlich
auszudrücken.
Ich habe im Laufe eines Jahres nicht weniger als 64 solcher Ge-
schichten in Bildern sammeln können. Sie stammen aus einer Klasse
taubstummer, gutbefähigter Schüler des 4. Schuljahres im Alter von
10 Jahren. Die Klasse umfaßte 11 Schüler, 9 Knaben und 2 Mäd-
chen, die alle bis auf einen Beiträge zu meiner Sammlung geliefert
haben. Dieser eine, geistig wohl auch einer der Schwächsten in der
Klasse, der sich aber im Zeichenunterrichte die Note 1 erworben hat,
hat überhaupt noch nichts rechtes dieser Art geleistet. Er hat Geschich-
ten zu dichten noch nicht gelernt und ahmt jene Kinostreifen sklavisch nach,
stellt oft auch Bilder ohne jede tiefere Beziehung einfach nebeneinander,
z. B. zwei Bilder mit einer Hundehütte, das eine, wo daneben steht „der
Hund ist nicht da", das andere mit dem Vermerk „der Hund ist da"; oder
er hat in 4 Bildern dargestellt, wie zwei Männer eine Straße passieren, oder
den Sprung eines Knaben in 1 Phasen usf. Solche leere Begebenheiten hat
auch hie und da der eine oder andere seiner Mitschüler gezeichnet, z. B. der
Knabe A ein Tintenfaß 6 mal, wo auf jedem Bilde der Stöpsel eine andere
Lage hat, oder der Knabe E, der in 9 ausführlichen Bildern darstellt, wie ein
Mann auf einen Baum klettert und wieder herunter.
Unter den 64 gesammelten Geschichten in Bildern befinden sich nur
8 Boschreibungen mehr gleichgültigen Inhaltes. In sämtlichen andern geht
es meist recht dramatisch zu.
„Max und Moritz" hat im Vergleich z. B. zu den biblischen Geschichten
natürlich eine gewaltige Wirkung gehabt. Das ist ein Buch nach dem Herzen
unserer taubstummen Schüler. Obwohl nur wenige im glücklichen Besitze
des Buches sind, kennen es alle. Max und Moritz wird nicht nur oft ge-
zeichnet, sondern auch fleißig gemimt. Mit dem Abzeichnen hat sich der
Knabe C nicht begnügt, er hat umgedichtet : Der Müller, der Max und Moritz
beim Säckeaufschneiden erwischt, begnügt sich nicht damit, die bösen
11*
164 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
Buben statt der Körner in die Mühle zu schütten, sondern er bindet sie an
die Flügel der Windmühle.
Von den biblischen Geschichten, die doch schon seit dem 3. Schul-
jahre in den Händen der Kinder sind, hat nur die Sündflut einen tieferen
Eindruck gemacht. Nur einmal wurde das Bild vom Sündenfall gezeichnet,
wogegen die Sündflut öfter wiederkehrt. Sie ist auch oft in andere Geschichten
verwoben worden.
Ein erster moralpsychologischer Befund in den freien Erzählzeichnungen
ist nun das Hervortreten der Grausamkeit, ein Zug, der sich schon in jener
Umdichtung von Max und Moritz wie in der Wahl der dargestellten biblischen
Geschichten zeigt, bei weitem deutlicher aber und oft in geradezu krasser
Weise in den „freien Dichtungen".
Drei der gesammelten Geschichten handeln von unglücklichen Luft-
schiffern, die aus ihrem Ballon stürzen, dreimal auch werden Menschen von
der Eisenbahn zermalmt. Zwei Zeichnungen berichten vom Ertrinken, drei
vom Hängen, wenn auch das eine Mal der Erhängte wieder herabgeholt und
geheilt wird, und einmal vom Verbrennen bis zum verkohlten Gerippe. Ein-
mal sehen wir den Schutzmann zwei sich Streitende sofort totstechen und
einmal, wie ein Mörder ein Opfer erdolcht. Wir sehen ferner Leute stürzen : sechs-
mal ins Wasser, dann die Treppe hinab oder von den Bergen herunter. Das eine
Mal fhegt einer bei einer Pulverexplosion mit in die Luft, ein anderer bricht
bei einem harmlosen Fall den Hals und wieder andere verunglücken bei
einem Automobilzusammenstoß. Im ganzen sind es 34 blutrünstige Ge-
schichten. Als Beispiel sei die Geschichte des M. K. gegeben (Abbildung
S. 165).
Bei der klösterlichen Abgeschiedenheit des Internatslebens unserer
Taubstummenanstalt kann es nicht die Wirklichkeit sein, die diesen jungen
Herzen solche Schreckbilder einprägte. Sie können solche Einflüsse nur von
Bildern haben oder aus der freischaffenden Phantasie. Wir sehen die Kinder
mehr das Fürchterliche und Schreckliche ergreifen und darstellen als das
rein Sachliche und Beschauliche, mehr Roheit als Zartheit in ihrem Emp-
finden.
Als Beispiel dafür, wie die Kinder die Sündflut in ihre Geschichten ver-
weben, möge folgende Geschichte des Knaben A gelten, zugleich ein Beispiel
für eine der häufigen „Dichtungen", in denen der Blitz ein Menschenleben
Bild 1. Ein Mann geht im Sonnenschein spazieren. Bild 2. Ein Liiftschiff fährt
vorüber. Der Mann winkt mit seinem Taschentuch hinauf, und Kinder grüßen aus
dem Luftschiff herab. Bild 3. Das Luftschiff schwebt höher in den blauen Himmel.
Bild 4. Der Himmel ist schwarz imd sprüht zuckende Blitze ; das Luftschiff explodiert ;
kopfüber stürzen die Insassen herab, und am Boden häufen sich Blut und Leichen.
Bild 5. Der Beobachter geht ins Krankenhaus. Bild 6. In einer Stube steht dort eine
Wanne, in der die Leichen von Staub und Blut gereinigt werden sollen. Bild 7. In der
Stube sind die Leichen aufgebahrt. Bild 8. Großes Begräbnis. Bild 9. Himmel-
fahrt der Verunglückten ; sie steigen aus den Gräbern als Engel empor in den Himmel,
der wie eine Falltür axifgeklappt ist. Bild 10 — 11. Zwei zusammengehörige Bilder:
ein Überlebender, der nach den Engeln eine lange Nase zieht.
m jsk ii»kii4
166 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
fordert. Das Gewitter scheint auch auf diese Kinder einen tiefen Eindruck
gemacht zu haben (Abbildung S. 167).
In diesem Hang der taubstummen Jugend zur Grausamkeit finden wir
eine Parallele zur Menschheitsentwicklung. Das Mitleid ist eine späte Blüte
der Kultur. Schon ein flüchtiger Blick in die Strafmittel der Justiz zeigt,
wie einem früheren Zeitalter Grausamkeiten — ich möchte sagen — natür-
licher waren als unserem Zeitalter. Ich brauche nur an die Folterkammern
Nürnbergs zu erinnern. Oder man denke an Herodots Berichte von den
Strafmitteln und Schandtaten der Tyrannen und vergleiche damit das Be-
streben unserer Zeit, die Strafen zu mildern und mehr zu bessern als zu
strafen. F.Nietsche bemerkt, daß bei den Griechen das ,, Verlangen nach dem
Häßlichen, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen,
Rätselhaften, Vernichtenden, Verhängnisvollen auf dem Grunde des Daseins
der Zeit nach früher hervortrat, als das Verlangen nach Schönheit, nach
Festen, Lustbarkeiten, neuen Kulten . . ."
Psychologisch sind uns Roheiten in der Kindheit der Menschen und
Völker schließlich erklärlich: Wie alle Sinne zuerst die stärksten Eindrücke
aufnehmen, das Auge die grellen Farbenunterschiede, die groben, großen
Massen, das Ohr die schrillen, aufdringlichen Laute, ehe sie die feineren
Unterschiede gewahren, so das Gemüt erst die stärksten Eindrücke: Mord
und Tod, Feuer- und Wassersnot. Zarte Gefühle, feines sittHches Empfinden
muß den Kleinen fernUegen. Eine gewisse Roheit im Kindesalter ist natürlich.
An solche blutige Dramen schließen sich Geschichten an mit nicht so
fürchterlichen Folgen, die mehr derbe Spaße sind als Unglücksfälle, aber
immer eine Schadenfreude des Beobachters und Dritter bekunden. Der
Spaß muß natürlich auch faustdick, derb sein, wenn ihn das Kind verstehen
soll. So z. B. die Geschichte des Schülers A. Ein Mann geht eine Treppe
hinauf, bricht durch und fällt in den Keller. Ein Maurer kommt und mauert
das eben entstandene Loch zu. Wir sehen dann den durchgefallenen Mann
am Fuße der Treppe liegen, die eben der Maurer herabkommt. Dieser tritt
dann auf den unten liegenden Mann, daß das Blut nur so herausspritzt.
Ein andrer Schüler, der Knabe B, verlegt eine ähnliche Geschichte in eine
Windmühle aus dem Lande der Zwerge, die aus einem Ei hergestellt ist.
Ein Zwerg schleppt einen Sack Mehl hinein. Als er ihn auf dem Oberboden
Bild 1. Ein Radfahrer kommt auf einsamer Landstraße daher. Bild 2 und 3. Er
nähert sich. Bild 4. Er stößt an einen Meilenstein. Bild 5. Die Leiche zwischen den
Trümmern des Rades ; ein Htmd nähert sich. Bild 6. Der Hund frißt den Toten auf.
Bild 7. Ein Luftballon senkt sich herab. Bild 8. Ein Schutzmann steht vor dem Rade
und schreibt den Fall auf. Bild 9. Es regnet in Strömen; der Schutzmann entfernt
sich. Bild 10. Es regnet weiter; der Ballon ist wieder aufgestiegen. Bild 11. Der
Blitz fährt in den Ballon ; ein Feuerstrahl lodert gen Himmel ; drei Luftschiffer stürzen
herab. Bild 12. Das Wasser bedeckt alles; tief unten schwimmen die Trümmer des
Ballons und die Verunglückten; über das Wasser aber gleitet dvirch den immer noch
strömenden Regen die Arche. Bild 13. Die Arche schwimmt vorüber; die Leichen
sinken tiefer. Bild 14. Die Sonne lächelt wieder; das Wasser ebbt zurück; die Land-
straße wird wieder frei. Bild 15. Die Erde ist wieder trocken; auf der Landstraße
Trümmer und Leichen.
i
168 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
niedersetzen will, bricht er durch und fällt in den im Untergeschoß stehenden
Backtrog.
Ein anderer schildert, wie einer mit Tischen und Stühlen umfällt — ein
beliebtes Thema, das in verschiedenen Variationen dreimal behandelt worden
ist. Ein anderer erzählt, wie einer von der Leiter fällt, weil der zu schwache
Baum bricht, gegen den sie gelehnt war; wieder ein anderer, wie ein sehr
dicker Mann gegen ein anfahrendes Automobil rennt, so daß es zertrümmert.
Oder es wird berichtet, wie sich einer die Nase blutig stößt, cder wie sich einer
einen Zahn ziehen läßt, oder wie einer auf einen Baum geklettert ist und
ein anderer so heftig dagegenfährt, daß der Kletterer von seinem Baume her-
unterfällt, natürlich gerade dem anderen in die Schubkarre, so daß ihn
dieser triumphierend wegfahren kann.
Rechnen wir diese 10 Geschichten, in denen es, wenn nicht gerade
Tote, so doch Verwundete gibt, zu den vorigen, so stehen 44 blutige Ge-
schichten den 9 Beschreibungen gegenüber.
Schon aus diesem Verhältnis geht zur Genüge deutlich hervor, daß die
Kinder mehr zu Erzählungen als zu Beschreibungen hinneigen, mehr Lust
an raschen Taten als an Zuständen zeigen, eine Erscheinung, die mit der
allgemeinen Erfahrung der Vorliebe normaler Kinder zum Märchen voll-
ständig übereinstimmt. In den Erzählungen ist es nicht das Alltägliche,
was ihnen die Anregung zu ihrer Erfindung gab, sondern gerade das Außer-
gewöhnliche, das Ungeheure und Fürchterliche ist es, was ihr freies Denken
beschäftigt.
Von all den Ereignissen, die den Helden einem tragischen Ende ent-
gegenführen, greifen wir die heraus, wo das Unglück verschuldet worden ist
entweder vom Helden selbst oder, wo er ein Opfer des ,, Bösen" geworden
ist. Dabei verrät sich mehr Freude an allem Unheil als Mitgefühl. Das zeigt
sich einmal darin, daß der Erzähler mehr mit dem „Bösen" sympathisiert
und den Dieb und Mörder mehr verherrlicht als den „Gerechten", zum
andern darin, daß selbst da, wo niemand das Unglück verursacht hat, eine
gewisse Schadenfi-eude zu bemerken ist. So z. B. in der Geschichte des
Knaben E. Eine große Menge Neugieriger ist, um Zeppehn zu sehen, auf den
Gipfel eines Berges gestiegen. Das Luftschiff erscheint, stößt an den Gipfel.
Dieser bricht ab und stürzt mit allen, die daraufstanden, in die Tiefe. Neben
das letzte Bild ist ausdrückhch geschrieben worden: „Zeppelin freut sich''.
Sehr oft war es die Unvorsichtigkeit, die den Untergang des Helden herbei-
führte, was dann gewöhnlich zu Anmerkungen wie: „Nicht Vorsicht" oder
,, Vorsicht muß" oder ähnlichem veranlaßt.
Den tiefsten Einblick in das sittliche Fühlen unserer Kinder gewähren
uns aber die Geschichten, wo Menschen gegeneinander handelnd auftreten.
Bild 1 zeigt uns in seiner einsamen Kammer einen Schläfer. Die Decke ist abge-
hoben \md „des Himmels Wölken schauen hoch hinein". Bild 2 sehen wir den
„schwarzen Mann" über die Wand klettern. Bild 3. Er ist herabgekommen und steht
hoch aufgerichtet am Bett. Bild 4. Er wirft sich über den Schläfer und stößt ihm
den Dolch in die Gurgel. Bild 5. Wir sehen ihn am Türgebälk wieder emporklettern.
Bild 6u.7. Jetzt ist nur noch der Arm, jetzt nur noch der Kopf sichtbar. Bild 8. Die
Schatten der Nacht sind verflogen, der Morgen graut, und der Spuk ist ver-
schwunden.
170 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen, tisw.
Bei einigen Mordgeschicliten bleiben wir auch da noch über die Motive zur
Tat im Unklaren. Da ist z.B. die Geschichte des Knaben E, die selbst für
einen Erwachsenen etwas wirklich Unheimliches, Dämonisches hat (Abbil-
dung S. 169). Zwei andere Geschichten berichten, wie einer am Seil in
einen Luftballon klettern will, wie aber die Insassen aus nicht ersichtlichen
Gründen das Seil durchschneiden, so daß der Emporstrebende herunter-
stürzt. Einmal wird geschildert, wie ein Knabe zwei Mädchen auf-
hängen will. Auch hier werden wir über die Motive nicht aufgeklärt.
Die List findet den vollen Beifall unserer Kleinen. Wir sehen auch darin
eine Parallele zur Menschheitsgeschichte. Wie die Märchen beweisen und
die Sagen, und wie uns am Bilde Odysseus besonders deuthch wird, war
List und Überlisten ein beliebtes Thema auch der Alten. Auch in ihrem
sonstigen Verhalten zeigen taubstumme Kinder länger als andere eine un-
bändige ITreude daran, einen anderen ,, hineinzulegen". Der 1. März und
der 1. April werden dadurch für sie zu reinen Festtagen. Die Lust, den
Nächsten zu verspotten, führt in der Zeichnung zur Karikatur. Ihre feine
Beobachtungsgabe kommt ihnen dabei sehr zu statten. Als Beispiel mögen
die folgenden Karikaturen dienen, mit denen der Knabe I ganz trefflich Mit-
schüler und Lehrer charakterisiert hat.
Nr. 2 ein Lehrer der Anstalt, mit starkem Bart und kurzem Haupthaar, ganz
treffend charakterisiert; er hat es auch in der Gewohnheit, ein Auge zuzukneifen.
Nr. 3. Das Original hatte zur Z6it des Zeichnens den Schnupfen. Nr. 4 ist durch
die Schädelform gut getroffen; er litt, worauf die Karikatur anspielt, an einem
Kopfausschlag. Nr. 5 hat wirklich die dargestellte üble Angewohnheit, und auch
Nr. 6 ist mit seinen dicken Backen und der Stupfnase treffend karikiert.
I
Moralpsychologische Aviswertung freier Kinderzeichnungen usw. 171
Die liebenswürdigste „Dichtung" vom Überlisten stammt von dem
Mädchen K. Es hat mir mehrfach versichert, daß es die Geschichte nicht
nachgezeichnet, sondern selbst erdacht hat. In 12 ausführlichen Bildern
schildert sie: Ein kranker Knabe liegt im Bett. Durch die geöffnete Tür
sieht man die Mutter Medizin in einen Löffel gießen. Da bindet der Knabe
schnell einem Hunde ein Tuch um die Ohren und steckt ihn in das Bett,
während er selbst darunter l^iecht. Jetzt kommt die Mutter mit dem Löffel
und, da sie meint, den Knaben vor sich zu haben, gibt sie die Medizin dem
Hunde. Der Knabe zieht ihr eine lange Nase hinterdrein, wirft den Hund
heraus und schläft vergnügt weiter.
Roher geht es bei den Knaben her. Z. B. der Knabe F, der auch
in seinen sonstigen Leistungen unlogisches, sprunghaftes Denken zeigt, hat
folgende verworrene Geschichte zusammengezeichnet: Gegen einen Baum,
der auf der einen Seite mit einer Stange gestützt ist, lehnt eine Leiter. Ein
Mann ist hinaufgestiegen. Da kommt einer geschlichen und nimmt die Stütze
weg. Der Baum fällt um und gerät aus nicht angegebenen Gründen in Brand.
Die Feuerwehr kommt, doch vermag sie den Mann nicht zu retten. Auf dem
letzten Bilde sehen wir ihn zum Gerippe verbrannt liegen.
Wie klar und reinlich ist dagegen der Knabe D in seinem Denken. Zeigt
auch seine Geschichte eine wüste Phantasie, sind die Akteure auch voller
Mordlust, Bosheit und Schadenfreude, so ist die Handlung doch durchaus
folgerichtig durchgeführt (Abbildung S. 173).
Fünf der Geschichten handeln vom Diebstahl. Der Diebstahl wird
von diesen Kindern kaum als unmoralisch gewertet. Es ist mehr die Freude
daran, einen anderen zu überlisten, einem anderen Schaden zuzufügen, als
die Sucht, etwas für sich zu erwerben, was zum Stehlen veranlaßt. Und öfter
sympathisiert der „Dichter" mit dem Dieb, als daß er ihn der gerechten
Strafe zuführte. Dreimal triumphiert der schlaue Dieb. Als Beispiel folgende
Geschichte. Wir sehen die Landstraße ein Auto daherkommen. Jetzt hält
es, und auf dem nächsten Bilde hat es der Führer verlassen. Ein Knabe er-
scheint und stiehlt die Andrehkurbel des Autos und verschwindet schleunigst
damit. Der Führer kommt zurück. Wir sehen ihn entsetzt und ratlos vor
seinem Auto. Auf dem nächsten Bilde hat er ein Pferd vor sein Auto ge-
spannt, und wir sehen, wie aus dem langsam fahrenden Auto Würste heraus-
fallen, die der Dieb voll Freude aufhebt.
Nur zweimal wird der Dieb von der Strafe ereilt : das eine Mal schreibt
der Schutzmann den Knaben auf, der Äpfel gestohlen hat; das andere Mal
ist es ein Pferdedieb, den der Häscher, das ist bei taubstummen Kindern
immer der Schutzmann, ereilt und am Galgen aufhängt.
Auch in dieser laxen Beurteilung des Diebstahles finden wir die Parallele
zur Menschheitsent Wickelung wieder, Schurtz berichtet uns in seiner be-
kannten Völkerkunde, Leipzig 1903, S. 61: „Auch wo sich festere Begriffe
über Privateigentum entwickeln, wird der Diebstahl meist sehr mild beurteilt
(so noch im alten Sparta)".
Für Recht und Unrecht hat sich bei diesen Kindern noch kein Ver-
ständnis und kein Maß gebildet. Die Strafen stehen in keinem Verhältnis
zum Vergehen. Entweder wh-d das Vergehen gar nicht bestraft, oder die
172 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
Strafe ist viel zu hocli bemessen. So werden in 6 Geschichten die schwersten
Verbrechen nicht bestraft, während zwei Männer, nur weil sie sich zanken,
sofort vom Schutzmann in den Bauch gestochen werden, daß das Blut gen
Himmel spritzt und sie ins Krankenhaus getragen werden müssen. Oder
weil ein armer Radfahrer das Mißgeschick hat hinzufallen, wird er erhängt.
Weil ein Junge eine Pistole findet und nach Hause bringt, wird er vom Vater
verhauen, ebenso wie einer verhauen wird, weil er seinen ins Wasser gefallenen
Bruder nur als Leiche herausziehen konnte. Diese letzte Geschichte vom
Knaben D erdacht, würde in kurzen Worten ungefähr so lauten : Zwei Brüder
gehn angeln. Der eine sitzt am Ufer mit der Angel, der andere auf dem Steg
und sieht dem Angler zu. Da, ein Fisch! Mit einem Ruck fliegt die Angel
heraus, allerdings so hoch geschleudert, daß sich die Schnur in der Weide
am Ufer verfängt. Jetzt zieht der kleine Angler aus Leibeskräften. Plötz-
lich bricht der Baum, und Angler, Fisch und Baum fallen ins Wasser. Der
Bruder springt herbei und zieht seinen Bruder pudelnaß ans Land. Leider
zu spät. Der Bruder fällt um und ist mausetot. Jetzt kniet der andere da-
neben und weint. Dann läuft er nach Hause, holt den schon mehrfach er-
wähnten Handwagen, ladet seinen toten Bruder darauf und fährt nach
Hause. Da steht nun der Vater mit in die Seite gestemmten Armen und vor
ihm der Ertrunkene und der arme Sünder, der doch eigentlich gar nichts dafür
kann und seine Schuldigkeit getan hat. Nichtsdestoweniger bekommt er
mächtige Hiebe, und auf dem Schlußbilde sehen mr ihn die Hände ringen
und weinen.
Nur einmal scheint die Strafe einem wirklichen Erlebnisse zu entsprechen.
Da wird ein Junge aufgeschrieben, weil er die Anlagen „außerhalb der ge-
bahnten Wege" betreten hat.
Wie wenig die Kinder die Strafe nach dem unserer Sitte entsprechen-
den Strafmaß abzumessen verstehen, ist am besten gekennzeichnet darin.
Der Künstler hat die Bilder selbst mit Text versehen. Seine eignen Worte mögen
liier mit allen Fehlern, wie er sie niederschrieb, mit folgen. Zu Bild 1 : ,,Da kommt der
Knabe, Der Baima steht auf der Erde. Die Sonne scheint. Die Sonne ist gelb." (Wir
sehen auf einer Landstraße einen Radfahrer daherkommen.) Zu Bild 2. ,,Der
Knabe sitzt auf dem Fahrrad. Die andere Knaben lachen. Der Wagen ist groß".
(In der Ferne tauchen zwei Knaben mit einem Handwagen auf.) Zu Bild 3. ,,Die
andere Knaben sind schlecht. Die andere Knaben gehen." (Die Beiden, näherge-
kommen, haben sich mit Hacke und Spaten bewaffnet.) Zu Bild 4. ,,Der ander Knabe
hackt." (Die Beiden fangen an, inmitten der Straße eine Grube auszuschachten.)
Zu Bild 5. „Der andere Knabe steigt an die Leite." (Die Grube ist schon so tief ge-
worden, daß der eine der Beiden bereits mit einer Leiter hinabsteigen muß.) Zu Bild 6.
,,Die andere Knaben bringen die Eimern." (Wir sehen die Knaben die Grube voll
Wasser schütten.) Zu Bild 7. ,,Das Wasser ist tief." Zu Bild 8. „Das Fahrrad fälirt".
(Wir sehen den arglosen Radfahrer sich der Grube nähern.) Zu Bild 9. ,,Der Knabe
sieht das Haus." (Will sagen: Der Knabe sieht in die Ferne nach einem Hause und
achtet nicht auf den Weg). Zu Bild 10. „Der Knabe schrie laut. Das Fahrrad fällt
in das Wasser." Zu Bild 11. „Der Hut liegt auf dem Wasser". (Wir sehen außerdem
den Radfahrer mit dem Tode ringen.) Zu Bild 12. „Der Kjiabe ertrinkt." Zu Bild 13.
„Die andere Knaben sind froh. Die andere Knaben lachen." (Wir müssen die Sünder
triumphieren sehen. Der eine klatscht vor Freuden in die Hände, der andere zeigt
lachend auf den Hut, der als einziger trauriger Zeuge auf dem Wasser schwimmt.)
Zu Bild 14. „Die andere Knaben gehen nach Hause."
174 Moralpsychologische Auswertting freier Kinderzeichnungen usw.
wie sie unser Strafmaß auffassen und abändern. — Wir haben aus E. Reu-
schert, „Kleine Erzählungen für Kinder", Nr. 45, „Hundetreue" behandelt.
Da will ein unbarmherziger Mann s£inen alten Hund ersäufen, fährt mit
ihm aufs Wasser und stößt ihn hinein. Dabei fällt der Mann aber selbst
hinein, und der Hund ist es, der ihn rettet. Diese Geschichte war zu illu-
strieren. Der Knabe F begnügt sich nicht damit. Er führt die Geschichte
weiter. Er zeigt uns, wie der Mann mit seinem Hunde wieder nach Hause
geht. Dann sehen wir eine Wanne mit einer mächtigen Brause, wo sich der
Mann offenbar vom Schlamme reinigt, dann einen gedeckten Kaffeetisch,
und zuletzt das merkwürdige Ende: Es bekommt einer Backpfeifen, daß
er bald in die Kniee sinkt. Ich nahm natürlich an, daß das der Unbarmherzige
sei, der hier von einem andern für seine Roheit bestraft würde, wurde aber
vom „Dichter" dahin aufgeklärt, daß es einer sei, der den ins Wasser Ge-
fallenen gefoppt hat, und daß es der Hundebesitzer ist, der sich für den
Schimpf in der dargestellten Weise rächt.
Wir sehen, wie unser sittliches Empfinden, das dem Unbarmherzigen
eher eine solche Strafe wünscht und das die Geschichte in den Kindern
wecken sollte, von diesen nicht geteilt wird. Im Gegenteil sehen wir den,
der sich — unserm Empfinden nach mit Recht — darüber freut, daß der
Böse bei seiner Schandtat ins Wasser fiel, bestraft.
Auch in diesem Mißverhältnis der Strafen zu den Vergehen konstatieren
wir eine Parallele zur Geschichte der Menschheit. Ich führe wieder zum Be-
weis den Dr. Schurtz an: ,,Über die Bedeutung und den Zweck der
Strafe sind sich selbst die Rechtsgelehrten der Kulturvölker nicht einig;
bald soll sie den Verbrecher bessern, bald andere von gleichen Vergehen
abschrecken, bald die gestörte Rechtsordnung wiederherstellen, bald die
Gesellschaft beruhigen usf. Bei den Naturvölkern ist noch viel weniger
von einer bewußten, der Schwere des Vergehens angemessenen Strafe die
Rede: Die schhmmsten Verbrechen bleiben oft ungestraft, während Kleinig-
keiten mit furchtbarer Grausamkeit gesühnt werden. In vielen Fällen
kann man überhaupt von einer Strafe nicht reden, obwohl die Härte
des Verfahrens dies annehmen ließe ; überzählige Kinder und abgelebte Greise
werden lebendig begraben, Menschenopfer zu Tode gequält und dergleichen.
Hier übt die Lust an der Grausamkeit, einer der unheimlichsten Züge der
Menschennatur, ihren verhängnisvollen Einfluß."
Eines eigentümlichen Zuges der Kinder müssen wir hier noch gedenken,
der wohl auch allgemein, aber nirgends in so krasser Weise auftritt als bei
Taubstummen. Es ist jener Zug, einen anderen dadurch treffen und kränken
zu wollen, daß man sich selbst irgendein Leid antut, jenes Ver-
halten, das etwa in dem Scherzwort seinen Ausdruck findet: „Es geschieht
meinem Vater ganz recht, daß ich an die Finger friere; warum kauft er
mir keine Handschuhe!" Ich habe in dem schon erwähnten Aufsatze über
kindliche Sitte einige Fälle solcher für den ersten Augenblick unnatürlich
erscheinender Affektäußerungen berichtet. Da sticht sich z. B. ein 13 jäh-
riges Büblein mit seinem Taschenmesser zentimetertief in den Bauch: er
wollte sich dafür „rächen", daß es nicht zur Eisbahn ging, wie es versprochen
war. Zwei andere 12jährige Bengel bringen sich, jeder selbst, fingerlange
Moralpsychologische Auswertxing freier Kinderzeichnungen usw. 175
Schnitte im Gesicht bei, um sich auf diese Weise an einem dritten zu rächen,
der nicht, wie zugesagt, sie ahholen gekommen war. Diese eigentümhche
,, sittliche Anschauung" findet auch in der folgenden Zeichnung ihren
Ausdruck.
Bild 1. Ein Zwerg steht vor einem aus den Hölzern eines Baukastens errichteten
Hause. Bild 2. Wir sehen ihn auf dasselbe zugehen. Bild 3. Er reißt das Haus ein und
läi3t es sich dabei auf die Nase fallen. (Der Künstler hat ausdrücklich dazu ge-
schrieben: „Absicht will kranken." Grund: links sieht man aus dem Fenster eines
anderen Hauses eine Frau drohen; „soll verboten" ist daneben geschrieben.) Bild 4.
Der Zwerg geht weinend und mit blutender Nase davon.
Die Geschichte ist vom Zeichner selbst mit folgenden dem Uneingeweihten z. T.
unverständlichen Worten erläutert: „Der Zwerg will stehen und gehen. Der Zwerg will
Haiis zerbrechen. Mutter soll den Zwerg verboten. Der Zwerg ist weinen. Der Zwerg
schüttelt den Haus. Mutter ärgert sich. Der Zwerg will kranken. D&a Haus fällt."
„Der Zwerg will kranken" soll heißen: Er will sich krank machen, was noch deutlicher
durch die Worte auf Bild 3 zum Ausdruck gebracht ist durch den ausdrücklichen
Vermerk, daß es die „Absicht" des kleinen Mannes ist, wenn er das Haus auf sich
fallen läßt.
Auch ZU diesem uns widernatürlich erscheinenden Zuge finden wir eine
Parallele in der Jugendzeit der Völker. Wenn auch nicht in der ausge-
sprochenen Absicht, sich an irgendwem zu rächen, so finden wir doch auch
bei ihnen dieses sinnlose Wüten gegen die eigene Person, eine Eigentü lich-
keit, die sich mit der Zeit wohl sehr abgeschwächt, aber nicht verloren hat.
176 Moralpsychologische Auswertung freier Kinderzeichnungen usw.
Herodot berichtet, daß sich die Skyten bei Trauerfällen ein Stück Ohr ab-
schnitten und einen Pfeil durch die linke Hand stießen. Reisende berichten,
daß sich Australneger heute noch in solchen Fällen in ähnlicher Weise ver-
stümmeln, z. B. ganze Fingerglieder abschneiden. Die Alten zerrissen ihre
Kleider. Und leidenschaftliche Naturen raufen sich heute noch die Haare
und ringen die Hände.
Nach alledem, was sich in unseren Zeichnungen offenbart, können wir
nicht erwarten, daß sich diese Kinder für die Christenpflicht, den Feind zu
lieben, besonders erwärmen. Den vielen Mordgeschichten, Diebstählen und
Körperverletzungen, allein 16 Stück, gegenüber finden sich sogar auffallend
wenig Beweise von helfender Nächstenliebe.
Das Gr3fühl dafür, daß der Bruder dem Bruder zu helfen hat, ist vor-
handen nach der schon erwähnten Geschichte des Knaben D, wo beim
Angeln einer ins Wasser fällt und ihn sein Bruder herauszieht. Allerdings
wird er dafür nicht belohnt, sondern verhauen. Ebenso erzählt uns der
Knabe I die G-eschichte einer Errettung aus Wassersnot. Bild 1. Ein Kahn,
schwer mit Säcken beladen, strebt ans Land. Bild 2. Ein Sturm erhebt sich,
daß einem am Ufer Stehenden der Hut vom Kopfe fliegt und das Meer hohe
Wellen schlägt. Bild 3. Der Kahn ist umgeworfen, und Insasse, Ruder
und Säcke treiben auf dem Wasser. Bild 4. Vom Baum am Ufer aus wird
alles ans Land gefischt.
Bei der dritten — das ist zugleich die letzte G-eschichte einer helfenden
Tat — ist es ebenso sehr der Trieb, der Freundin zu helfen, als Lust, einen
andern zu überlisten. Sie würde in Worten ungefähr so lauten : Bild 1 und 2.
Zwei Mädchen gehen spazieren. Bild 3 und 4. Ein Knabe kommt gesprungen,
fängt eines der Mädchen und knebelt es und hängt es an den Galgen. Dann
eilt er fort, das andere Mädchen auch noch zu fangen. Unterdessen ist dieses
zurückgekommen, hat die Gehängte vom Galgen herabgeholt und entflieht
mit der Ohnmächtigen. Der Knabe kommt zurück und muß beide Galgen
leer sehen. Zu Hause bekommt die Ohnmächtige etwas ein, und auf dem
letzten Bilde sehen wir beide Mädchen vor Freude tanzen.
Ein einziges Mal ist eine Geschichte gezeichnet worden, wo eines einem
andern eine Freude bereitet, indem es heimlich einen Blumenstrauß auf den
Tisch stellt, um seine Dankbarkeit zu bezeugen. Das ist unter den 64 Ge-
schichten alles, was für Mitleid und Mitgefühl spricht.
Wir übertreiben also keineswegs, wenn wir zu dem Schlüsse kommen,
daß Roheiten und Grausamkeiten der Kindesnatur näher liegen als Mitleid
und Mitgefühl, eine Erscheinung, die der Kinderpsychologie für das erste
Lebensalter des Kindes nicht unbekannt ist. Wir sehen hier bei Taubstummen
diesen Zug länger erhalten, und, entsprechend der vorangeschrittenen Kraft,
krasser zutage treten. Beeinflussung von außen kann nicht die Veranlassung
davon sein; denn die Gehörlosigkeit schützt die taubstummen Kinder vor
der Verführung durch rohe und gemeine Redensarten. Man kann auch
nicht annehmen, daß sie durch Bilder dahin gebracht würden, denn
zweifellos gehen ihnen mehr Bilder guten Inhaltes durch die Hände als andere.
Daß aber gerade die wenigen anderen ihre Phantasie so mächtig erregen,
beweist, was sie in sich tragen, was ihrem Denken und Fühlen entspricht.
Ziir Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule. 177
Eine Zusammenstellung sämtlicher „Dichtungen" möge das Gesagte
noch einmal veranschaulichen:
Unter den 64 gesammelten Geschichten eines Jahres befinden sich 29
Geschichten mit tödlichem Ausgang, 15 Geschichten vom Stürzen und Fallen,
wo es Verwundete, mindestens aber Hiebe gibt, zusammen 44 blutige Ge-
schichten. Diesen stehen nur 20 unblutige Geschichten gegenüber, die sich
zusammensetzen aus 3 Diebstählen ohne blutiges Gericht, 1 Arretierung,
5 Ulkgeschichten, 1 Überraschung mit einem Blumenstrauße, 8 Beschrei-
bungen, 2 zusammenhangslosen Geschichten.
Deuten diese Kinderzeichnungen auf eine Gefühlsskala, die wir uns
nicht einfach genug denken können, so muß auch das Wollen dieser Kinder
entsprechend sein. Anders als ein Mensch fühlt, kann er nicht handeln.
Den einfachen und rohen Gefühlen entspricht ein einfaches und rohes
Handeln, ein einfaches und rohes Gewissen.
Es braucht wohl kaum ausgesprochen zu werden, daß damit kein Vor-
wurf gegen die Kinder erhoben werden darf. Es wird uns aber diese Er-
kenntnis vor einer ungerechten Beurteilung und Behandlung der Jugend
schützen müssen. Wer das Kind führen will, muß es erst suchen.
Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule/ )
Von Johannes Duck.
Seelische Vorgänge stehen in der Regel mit einer ganzen Reihe körperlicher
bzw. materieller Momente überhaupt in innigem Zusammenhang und in reger
Wechselwirkung. Allerdings werden wir uns dessen nicht immer bewußt, am
leichtesten dann, wenn eine Störung in der einen Richtung auch auf dem anderen
Gebiete Wirkungen äußert, so daß wir manchmal beinahe verwundert auf den
Zusammenhang aufmerksam werden. So ist es eine bekannte Tatsache, daß der
freudig erregte Mensch eine ganz andere Art der Bewegung zeigt als der traurige ;
beim ersteren finden wir einen Reichtum und eine Freude an Bewegungen (plaisir
de mouvement), beim letzteren eine gewisse Armut daran und auch einen viel lang-
sameren Ablaufsmodus. Aber auch umgekehrt bewirkt z. B. eine gelungene Turn-
oder Sportsübung eine starke Hebung des Selbstbewußtseins im allgemeinen, also
auch in geistiger Hinsicht, und das sogar oft recht rasch, wie jeder Turner be-
stätigen kann, der einmal verstimmt gewesen und dann bald durch einige turne-
rische Übungen auch sein seelisches Gleichgewicht wieder gefimden hat. Das
hat zweifellos nicht bloß die Ablenkung bewirkt, sondern die Übertragung des
wohltätigen Eindrucks des Erfolgs von einem Gebiet auf das andere. Vielleicht
die feinste, jedenfalls aber die unmittelbarste äußere Reaktion auf seelische Vor-
gänge ist aber neben dem Mienenspiel die Sprache. Wie außerordentlich
*) Anmerkung der Schriftleitung: Diese Abhandlung Dück's war bereits vor dem
jüngstem Erlaß des österr. Ministers für Kultus und Unter r. über die Pflege des
fr<>ien Vortrags in der Schule eingegangen.
Zeitschrift f. i)Adagog. Psychologie, 12
178 Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schxile.
mannigfach ist doch die Modulationsfähigkeit dieses Ausdrucksmittels: Stimm-
stärke, Klangfarbe, Geschwindigkeit, Tonhöhe, Abwechslung oder Einförmig-
keit des Ausdrucks wirken zusammen, um beinahe für jede seelische Regung
eine bestimmte Nuance dieser Ausdrucksbewegung zu geben, die vom feinfühligen
Hörer sofort empfunden und meist auch richtig gedeutet wird. Gerade dieser
Umstand bringt es naturgemäß mit sich, daß Leute, auf welche man besonders
zu schauen gewohnt ist, die ihrer Stellung nach der Maßstab für einige oder gar
viele andere sind, mit Bewußtsein und aller Kraft sprachliche Selbstbeherrschung
zu üben versuchen; ja man kann sagen, daß man in der Beherrschung der Sprech-
werkzeuge den vornehmsten Gradmesser der Selbstbeherrschung überhaupt
erblicken kann. Auch aus einer andern Ausdrucksbewegung, der Schrift, kann
der Geübte sehr gut einen berechtigten Rückschluß auf den Grad der Selbst-
beherrschung ziehen ; aber bis etwas geschrieben wird, vergeht in der Regel einige
Zeit; man kann sich sammeln und die etwa verlorene Selbstbeherrschung wieder
gewinnen. Anders bei der Sprache. Hier, besonders in der Wechselrede, erfolgt
die Äußerung unmittelbar, und die Reaktion gibt ein deutliches Bild des Seelen-
zustandes; wir brauchen also augenblickliche Selbstbeherrschung und zwar
in doppeltem Sinne: einmal, daß jemand nicht allzu temperamentvoll reagiert,
dann aber auch in dem Sinn, daß er durch die Angriffe von außen nicht sein
Selbstbewußtsein verliert und in das so verderbliche Gefühl der Minder-
wertigkeit gedrängt wird. „Die Erziehung muß dem Kind die Möglichkeit neh-
men — sei es wegen seiner Schwäche, Kleinheit oder Unkenntnis — ein Gefühl
der Minderwertigkeit aufkommen zu lassen."^) Selbstbeherrschung in diesem
doppelten Sinn ist eine der allerwichtigsten Eigenschaften, die wir unsern jungen
Freunden an den höheren Schulen beizubringen haben, denn Selbstbeherrschung
ist die Grundlage der Autorität andern gegenüber, und aus unsern höheren Schulen
sollen ja die ,, herrschenden Kreise" hervorgehen. Glücklicherweise kann man
diese so notwendige Eigenschaft anerziehen und ausbilden, natürlich nicht bei
jedem Individuum in gleichem Grade. Es gibt nun meiner Ansicht nach kein
besseres Mittel in der Schule, um Selbstbeherrschung einzupflanzen und zu er-
höhen, als den freien Vortrag.
Was uns nottut, sind vor allem ,, Terminarbeiter", d. h. Leute, die die
nötige Kraft aufbringen, allen inneren und äußeren Hemmungen zum Trotz in
der dafür bestimmten Zeit eine bestimmte Arbeit fertig zu stellen. Schon diese
Forderung einer inneren Selbstzucht wird durch den freien Vortrag in besonderem
Maße erfüllt. Allerdings muß auch bei geschriebenen Hausarbeiten ein Termin
eingehalten werden; aber wie leicht kann da eine Umgehung vorkommen. Eine
Rechenaufgabe oder eine Übersetzung wird im letzten Moment abgeschrieben,
eine Aufsatzübung in den letzten Stunden schluderhaft angefertigt. Beim münd-
lichen, freien Vortrag geht eine solche Verschiebung auf den letzten Augenblick
einfach nicht. Wer den Vortrag nicht ordentlich vorbereitet hat, blamiert sich
vor allen Mitschülern ; er empfindet diese Blamage auch viel unmittelbarer, wenn
er aller Augen auf sich gerichtet sieht und die Empfindung hat, daß er auf sich
allein angewiesen ist. Gewiß wird es auch hier manchmal vorkommen, daß durch
^) A. Adler, „Trotz und Gehorsam" in den Monatsheften für Pädagogik \ind
Schulpolitik, 1910. 9. Heft.
Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schxile. 179
vorgescliützte Krankheit usw. der Termin nicht eingehalten wird, aber im ganzen
und großen empfinden die Schiller doch einen ungewöhnlich starken Anreiz, zum
richtigen Termin fertig zu werden. Dieses Hinausschieben mancher Schüler hat
übrigens seinen letzten, meist unbewußten Grund in dem Gefühl einer irgendwie
auf den Vortrag bezüglichen Minderwertigkeit; man muß daher alles tun, um
zunächst dieses hemmende Gefühl bei den Schülern zu besiegen und zu beseitigen.
Ich spreche daher stets zu Beginn des Jahres von Beispielen, welche den Erfolg
der Willensstärke dartun (Demosthenes), verweise auf die Ergebnisse der
sogen. Volksbildungsabende u. dgl., weiter lasse ich das Thema möglichst frei
wählen, hebe bei der Besprechung, wenn ich nur guten Willen sehe, hier mehr
als bei andern Grelegenheiten alles Lobenswerte hervor, um dem jungen Kedner
das wertvolle Selbstvertrauen beizubringen, das aus dem Gedanken entspringt:
Es ist das erstemal besser gegangen, als ich selbst geglaubt habe.
Es besteht psychologisch und pädagogisch ein wesentlicher Unterschied, ob
ein Schüler von der Bank aus nur die Fragen des Lehrers beantwortet, oder vom
Katheder aus auch nur einige Minuten lang zu einer „Zuhörerschaft" spricht.
Im ersteren Falle fühlt er sich gewissermaßen wohltuend geschützt, von
seinen Mitschülern umgeben, er sieht nur die Augen des Lehrers auf sich ge-
richtet, und kann mit Recht darauf hoffen, jederzeit, wenn er aufhört, durch
eine Zwischenfrage des Lehrers wieder neu angeregt zu werden . Im letzteren Falle
aber fühlt er sich nicht bloß allein und herausgerissen aus der Klasse, sondern
sogar in einen gewissen Gegensatz dazu gestellt, einige Dutzend Augenpaare
sind erwartungsvoll auf ihn gerichtet, und er weiß, er soll nun ohne Stockung,
ohne Nachhilfe den ganzen Vortrag zu Ende bringen. Es ist außerordentlich
notwendig, daß einer schon in der Schule dieses „Lampenfieber" überwinden
lernt, daß er sich nicht durch seine Zuhörer beeinflussen läßt, sondern sie von
etwas überzeugen will (das nei&eiv des Aristoteles), sie zu seiner Ansicht be-
kehren will. Es ist natürlich Sache des geschickten Pädagogen, Mut und Selbst-
vertrauen in die jungen Seelen zu pflanzen. Allerdings wird man auch hier schon
wirkliche Redekunst von hohler Geschwätzigkeit unterscheiden müssen, wie sie
manchen Leuten im Verein mit Mangel an Zurückhaltung schon von Natur aus
eigen zu sein scheint; solche Schwadroneure und Frechdachse wird man natür-
lich statt zu ermuntern, zur Selbstzucht anzuhalten haben. Die weitaus größere
Zahl der jungen Leute aber kann einen Zuwachs an Selbstvertrauen und Selbst-
bewußtsein recht gut brauchen, wie denn auch im praktischen Leben Mangel an
diesen Eigenschaften oft ein arges Hemmnis besonders für ihre Verwendung im
öffentlichen Dienst für sonst recht brauchbare Geister ist.
Endlich soll noch auf eine Sache von großer Wichtigkeit hingewiesen werden !
Der freie Vortrag in der Schule bildet nämlich gewissermaßen ein wertvolles
Ventil für den Drang zur aktiven Betätigung, der in vielen Kindern
liegt. Es ist die „Einstellung auf Trotz", „der männliche Protest" (Adler), Er-
scheinungen, die besonders bei solchen Schülern vorhanden sind, die wegen ihrer
geringeren Leistungen oft getadelt, ja vielleicht von Mitschülern gehänselt werden ;
diese Leute haben einen Heißhunger darnach, auch einmal ,, eine Rolle zuspielen"
und zu zeigen, daß sie nicht so minderwertig sind, wie die Mitschüler und die
Lehrer annehmen. Sie ergreifen daher gern diese Gelegenheit, weil sie in dem
freien und vor allem frei gewählten Vortrag eben ein Mittel erblicken, diesen
12*
180 Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule.
ihren „männliclien Protest" mit Erfolg zum Ausdruck zu bringen; der Schüler
weiß nämlich, daß er ein Thema behandelt, das seiner innersten Überzeugung
entspricht, und daß er seinen Gedankengang 5 oder 10 Minuten lang ungehindert
und ungestört entwickeln kann. Der Schüler fühlt sich hier, vielleicht zum ersten
mal in seinem Leben produktiv, nicht nur reproduktiv tätig; jedenfalls zu
seinem Heil ! So ein gelungener Vortrag wirkt manchmal befreiend und heilend wie
eine Art ,, Psychoanalyse"; wenn der Lehrer vollends die daran geknüpfte Wechsel-
rede strenge überwacht und anerkennt, was irgendwie anzuerkennen ist, so ist
von einem solchen Schüler der Bann gewichen und die ,, Einstellung auf Gehor-
sam" neben dem so fruchtbaren Selbstvertrauen erreicht. Ich habe erst kürzlich
bei einem Schüler, einem starken Stotterer, durch Aufmunterung und Hebung
seines Selbstvertrauens dadurch, daß ich ihn trotz seines Stotterns nicht vom
freien Vortrag dispensierte, „weil ich überzeugt sei, daß ihm der Vortrag gelingen
werde", ein überraschendes Ergebnis erzielt. Er hielt nämlich einen beinahe
10 Minuten langen Vortrag, zwar nicht ganz ohne Stocken, aber ganz auffallend
besser, als er sonst sprach, und stieg dann mit allen Zeichen innerer Befriedigung
über seine Leistung vom Katheder herab.
Durch die freie Wahl des Vortragsstoffes — natürlich stets imter einer gewissen
Aufsicht durch den Lehrer — wird erreicht, daß jeder ein Lieblingsthema wählen,
also auch aus innerer Überzeugung heraus sprechen kann. Werden die
Themen zwangsweise verteilt, so stellt sich nicht bloß der Übelstand ein, daß ein
Schüler ein ihm gänzlich gleichgültiges oder gar unsympathisches Thema erhält,
sondern das noch viel schwerer wiegende Neidgefühl, das dem Besitzer eines
etwa selbst gewünschten Themas entgegengebracht wird. Neid aber ist stets die
Reaktion wirklicher oder eingebildeter Minderwertigkeit (Benachteiligung), und
das Minderwertigkeitsgefühl ist es ja, das wir vor allem bekämpfen sollen und
wollen. Der wirklich Tüchtige braucht nicht neidisch zu sein imd ist es auch
nicht; daher sehen wir auch im Leben, daß einer um so lieber das Wissen und
die Verdienste anderer anerkennt, je reicher an Wissen und Verdiensten er selber
ist. Erst wenn jemand fühlt, daß er das nicht mehr ist, was er war, beginnt wieder
die Zeit des Neides. Übrigens ist eine starke Reaktion immer ein Zeichen, daß
etwas gut ist: ,,Viel Feind, viel Ehr." Wenn sich eine recht lebhafte Besprechung
an einen Schülervortrag anknüpfte, so habe ich stets eher ein Gefühl der Be-
friedigung beim angegriffenen Vortragenden wahrgenommen, als wenn sich nie-
mand zur Besprechung meldete; die Schüler fühlen eben die Richtigkeit des
Kritikergrundsatzes: „Von einem schlechten Schriftsteller spricht man nicht,
mit einem mittelmäßigen ist man nachsichtig, mit einem guten aber unbarm-
herzig." Es ist also entschieden nötig, dem jugendlichen Neide das wertvolle
Ventil eines Erfolges durch einen freien und frei gewählten Vortrag zu öffnen.
Auch im späteren Leben würde vieles besser gehen, wenn wir solch ein Abzugs-
rohr hätten, vielleicht entspringt die Vereinsmeierei zum Teil einem ähnlichen
unbewußten oder wenigstens uneingestandenen Verlangen. Das Schlagwort vom
„Neid der besitzlosen Klasse" hat eine viel allgemeinere Gültigkeit, als man in
der Regel annimmt; es gilt nicht bloß vom materiellen Besitz, sondern mindestens
ebenso gut vom geistigen; auch der Don Juan wird am bissigsten von demjenigen
verfolgt, der selbst kein Glück bei schönen Frauen hat. Das liegt einmal in der
Natur des Menschen, und jede Erziehung, welche auf eine so unbedingte Unter-
Zur Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule. 181
werfung hinarbeitet, daß das Selbstbewußtsein und die Selbstwertschätzung
dabei künstlich erstickt wird, ist daher als unnatürlich von vornherein abzu-
lehnen. Was wir brauchen, sind Leute, die an der Stelle, an der sie stehen, voll-
kommen entsprechen und so — in diesem begrenzten Sinn, — sich einer ge-
wissen Höchstleistung mit Befriedigung bewußt sind. Diese Leute werden dann
auch imstande sein, neidlos die Verdienste anderer anzuerkennen. Auch die ver-
schiedenen Sportarten und der Sammeleifer bieten gesunde Möglichkeiten zu
selbstbefriedigenden Höchstleistungen, während die Vereinsmeierei sehr wenig
geeignet erscheint, den Neid und die Mißgunst, diese versteckten Krankheiten
unserer Zeit, hintanzuhalten, da sie, in den germanischen Ländern wenigstens,
nur allzu leicht zu allgemeinem Raisonnieren am Wirtshaustisch, zu politischer
Kannegießerei und somit zu neuen Mißhelligkeiten führt.
Auch für den Lehrer bieten die freien Vorträge der Schüler mancherlei Ge-
legenheit, wertvolle psychologische Aufschlüsse über die Eigenart der jungen
Leute zu bekommen, die ihm sonst wenig oder gar nicht geboten wird. So zeigt
sich manchmal bei der Besprechung durch die Mitschüler, daß sich einer durch
eine offenbar ganz allgemein gedachte Stelle des Vortrags betroffen fühlte. Ein
Sprichwort sagt aber:,, Man sucht niemand hinterm Ofen, wenn man nicht selber
dahinter gesteckt hat," und der Lehrer wird mit Fug und Recht in einer solchen
Reaktion ein Stückchen Selbstverrat erblicken können. Übrigens bietet sich da
willkommene Gelegenheit, den Schülern den Geeist der Kameradschaftlichkeit und
des feinfühligen Taktes beizubringen, sei es, daß sie sich in der Rolle des Vor-
tragenden oder in der des Zuhörers befinden. Dies ist um so wichtiger, als unsere
Parlamentsberichte nicht selten von recht wenig taktvollem, dafür aber um so
gewalttätigerem Benehmen der Zuhörer zu erzählen wissen; und die Zeitungen
werden ja heute von jedermann gelesen.
Und nun noch einiges zur Methodik des freien Vortrags an höheren Schulen.
Wir werden den Hauptwert darauf legen müssen, daß der Schüler begreift,
wodurch sich der Vortrag von einem nur mündlich reproduzierten, d. h. „auf-
gesagten" Aufsatz unterscheidet; der Schüler muß sich daran gewöhnen, als Vor-
tragender wenigstens ein bißchen die unmittelbaren Beziehungen zwischen sich
und den Zuhörern herzustellen, zum mindesten wird er zu diesem Zweck mehrmals
seine Zuhörer direkt anzureden haben. Man wird mit Rücksicht auf diesen Haupt-
zweck auch nicht allzu streng darnach streben, nur Eigenbau zu erhalten; ja in
den untern Klassen wird man von eigenen Produkten in der Regel besser ganz
absehen. Ich bin dafür, daß man schon ziemlich früh mit den freien Vorträgen
beginne ; in den untersten 3 Klassen wird man allerdings am besten nur Memorier-
stoffe in gebundener Sprache vortragen lassen, wozu sich am ehesten Balladen
eignen ; man kann so das Ohr allmählich an den Rhythmus der Sprache gewöhnen,
auf sinnvollen Vortrag dringen und eine dialektfreie, klangschöne Aussprache
der einzelnen Wörter erzielen. Der letztere Punkt scheint mir grundlegend für
den Vortrag überhaupt; deshalb darf man sich die Schwierigkeiten nicht ver-
drießen lassen und muß mit unendlicher Geduld und Ausdauer imd vor allem
mit gutem Beispiel das Ziel zu erreichen suchen. In der 4. und 5. Klasse wird man
dann mit Prosastücken beginnen und zwar sorgfältig nur solche Stücke aus-
wählen, die sich, auch ohne eigentlich Reden zu sein, ihrem ganzen Aufbau nach,
zum Vortrag eignen; dabei sei stets unser Grundsatz: Kurz und gut! Es gibt ja
182 Ztir Psychologie iind Pädagogik des freien Vortrags in der Schule.
viele Lesestücke, die aus Vorträgen hervorgegangen sind und sich also besonders
eignen; in dieser Beziehung scheinen mir ganz ausgezeichnet einige Werke
des bekannten Kulturhistorikers W. H. Riehl, welche in passender Auswahl
auch in Schulausgaben bei Cotta erschienen sind. Ich nenne da vor allem: „Die
bürgerliche Gesellschaft", „Land und Leute", und, besonders für höhere Mädchen-
schulen passend, ,,Die Familie", welche nicht nur sprachlich hervorragend ge-
eignet erscheinen, sondern auch einen kerngesunden, lebenswahren, von allen
Extremen gleichweit entfernten Inhalt aufweisen. Man braucht nicht zu fürch-
ten, daß der Stoff allzu schwer ist und kann im übrigen auch mit Vorteil das
vorzubereitende Stück vorher durchnehmen und erklären. Man wird dabei gut
tun, der Abwechslung halber nicht allen Schülern das gleiche Stück aufzugeben,
sondern Gruppen zu je 3 zu bilden ; dadurch wird ein Vergleich der verschiedenen
Vortragsarten und Vortragsfehler ermöglicht, der mehr als bloße Worte zur Ver-
besserung anregt.
In der 6. und 7. Klasse wird man schon darauf dringen können, daß die Schüler
ein frei gewähltes Thema selbst behandeln. Sie sind da etwa 16 — 17 Jahre alt
und fühlen erfahrungsgemäß einen besonderen Betätigungstrieb. Bei der Ge-
nehmigmig der vorgeschlagenen Themen wird man natürlich individuell vorgehen
müssen, doch wird man gern ein Auge zudrücken, wenn die Schüler Themen
wählen, die fernab von den ausgefahrenen Gleisen liegen. Die Hauptsache ist
und bleibt, daß der Vortragende sich selbst für die Sache inter-
essiert und daher auch mit voller Begeisterung für seine Sache
eintritt, denn dann wird er auch den überzeugenden Ton, d. h. den richtigen
Rednerton finden. Besonders zu empfehlen sind wirtschaftliche Themen. Die
Schüler zeigen auch im allgemeinen großes Interesse dafür, und man wird gut
daran tun, ihr Augenmerk darauf zu richten. Stoff findet sich genug, z. B. in
den verschiedenen Jahrbüchern der Entdeckungen und Erfindungen, die ja
wohl in allen Bibliotheken höherer Lehranstalten zu finden sind; stehen Zeit-
schriften den Schülern zur Verfügung, dann natürlich desto besser. Man wird
auch die Söhne von Industriellen, Handel- und Gewerbetreibenden über etwas
sprechen lassen können, was sie aus dem elterlichen Betrieb kennen, soweit sie
sich selbst dazu melden und das Thema von Interesse ist. In den höheren Han-
dels- und Gewerbeschulen natürlich werden diese Themen erst recht am Platze
sein und durch den Unterricht in den entsprechenden Fächern, Handels- und
Verkehrsgeographie, Handelsgeschichte, Volkswirtschaftslehre usw. gefördert
werden. Man wird aber immer nachsichtig sein müssen, wenn sich ein Schüler-
vortrag inhaltlich ziemlich stark an fremde Erzeugnisse anlehnt, besonders da,
wo man schlechterdings eine ganz selbständige Bearbeitung nicht verlangen kann.
Es empfiehlt sich auch, den Schülern bei der Beschaffung der nötigen Behelfe an
die Hand zu gehen und ihnen Bücher aus der Lehrerbibliothek oder auch aus der
eigenen Bücherei leihweise zur Verfügung zu stellen. Musikalische Schüler wird
man zu musikalischen Themen, Turner und Sportsleute zu entsprechenden Vor-
trägen anregen dürfen. Die Hauptsache ist und bleibt eben immer, daß sich der
Vortragende so in die Sache hineingelebt hat, daß er überzeugt und überzeugend
spricht.
In der obersten Klasse wird man natürlich schon größere Anforderungen an
die selbständige Bearbeitung auch bezüglich des Inhalts stellen dürfen. Immer
Zxir Psychologie und Pädagogik des freien Vortrags in der Schule. 183
aber muß man im Auge behalten, daß es schon ein Verdienst ist, wenn ein Schüler
neben der sprachlich selbständig^durchgeführten Bearbeitung die eine oder andere
eigene, originelle Idee bringt; im Durchschnitt kann und muß man mit der
sprachlich selbständigen Verarbeitung fremder Ideen wohl zufrieden sein. Natür-
lich wird man da gern auch vaterländische Themen zulassen ; man wird sich aber
auch erinnern müssen, daß wir zur Vermeidung von Einseitigkeit auch allgemein
menschliche Themen erwünscht finden; die Wahrheit ist ja international! Auf
dieser Stufe kann man recht wohl auch schon hygienische Themen an-
regen und z. B. die Gefahren des Alkohols von mehreren Schülern be-
handeln lassen; während der eine die wirtschaftlichen Schädigungen
bespricht, kann ein anderer mehr auf die gesundheitlichen eingehen. Gerade
solche Themen bieten dem Lehrer Gelegenheit, selbst manches aufklärende
Wort einzustreuen.
Ebenso wertvoll als der eigentlichefreie Vortrag ist die daran geknüpfte Wechsel-
rede; zuerst läßt man diejenigen sprechen, die sich freiwillig melden; sollte sich
niemand melden, so bestimmt man einen oder mehrere der besseren Schüler zur
Besprechung. Auch kann es nur nützen, wenn man sich streng an die parlamen-
tarische Form hält und dem Vortragenden als ,, Referenten" das Schlußwort
gibt, bevor man selbst eine zusammenfassende Besprechung des Vortrags und
der daran geknüpften Wechselrede hält.
In den höheren Klassen genügt es, wenn jeder Schüler in jedem Semester einen
solchen Vortrag ausarbeitet; derselbe kann dann auch zugleich eine deutsche
Hausarbeit vertreten, wobei man noch den Vorteil hat, auf jeden Fall eine persön-
lichere Leistung zu bewerten, als vielleicht bei einer von einem Nachhilfelehrer
verfaßten schriftlichen Hausarbeit.
Sprache ist von Sprechen nun einmal nicht zu trennen. Die mündliche Be-
tätigung ist daher der beste und vornehmste Weg zu ihrer Erlernung. Die Sprache
ist aber auch eine der wichtigsten Lebensäußerungen des Menschen überhaupt;
wir halten Auswanderer für ihr altes Volk für verloren, wenn sie ihre Mutter-
sprache abgelegt haben. Und mit Recht ! Mit der Sprache hängt eben aufs innigste
das ganze Wesen zusammen. Selbstverständlich ist das mustergültige Beispiel
des Lehrers in ^bezug auf den freien Vortrag besonders wichtig, denn
,, nirgendwo ist der Nachahmungstrieb so gewaltig wie in der Sprache".
(Meringer.) Sobald Menschen zusammenkommen, üben sie gegenseitig Ein-
fluß auf einander aus ; der allereinflußreichste aber ist eben der Meister des
gesprochenen Wortes.
Im übrigen schließe ich meine Ausführungen mit den Worten Sad-
gers: „Der richtige Lshrer weiß ganz genau, daß das Kind nur dann
ihm sein Allerbestes hergibt und eifrigst lernt, wenn er zuvor dessen Neigung
gewonnen."^)
*) Diskussionen des Wiener psychoanalytischen Vereins, I. Heft, Über den Selbst-
mord, insbesondere den Schülerselbstmord. Wiesbaden 1910. S. 28.
184 Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis.
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis.
Erwiderung auf die „Bemerkungen" Brederekes.
(Vergleiche Jahrgang 1913 dieser Zeitschr. Heft IV, V u. XII.)
Von 0. Hasserodt.
Da Bredereke Fragen von] prinzipieller Bedeutung ansclmeidet, kann auf
eine Entgegnung nicht verzichtet werden. Auf alle Einzelheiten der Kritik Bre-
derekes einzugehen, erübrigt sich aber. Ich werde dafür einige Punkte heraus-
greifen und sie etwas ausführlicher behandeln.
1. B. befindet sich in vorteilhafter Position. Er stellt sich von vornherein auf
den Standpunkt des Kunsterziehungstages von 1901 und verwirft von hier aus
ohne weiteres jede Bemühung in der von mir eingeschlagenen Richtung. Ich
aber durfte keinerlei vorgefaßten Standpunkt einnehmen, sondern mußte gemäß
den Prinzipien der experimentell-pädagogischen Maxime, die auf Voraussetzungs-
losigkeit beruht, feststellen, was ist und was nicht ist, was man Kindern zutrauen
darf und was nicht, und mit welchen Mitteln man an ihr Inneres herankommt.
Und da bin ich eben zu den von mir vorgetragenen Ansichten und Ergebnissen
gelangt. Das Heitere dabei aber ist, daß B. den Kern, um den es sich damals
auf dem Dresdener Kunsterziehungstage drehte, nicht erkannt hat. Sonst hätte
er die Art und Weise, wie ich die Bilder an die Kinder heranzubringen versucht
habe, nicht mit den Praktiken in einen Topf geworfen, vor denen man dort —
und mit Recht — so eindringlich gewarnt hat. Ausgerechnet der Bildhauer Prof.
0 brist, dessen beschwörende Worte er ohne weiteres auf mich anwenden zu
dürfen glaubt, schreibt mir als Antwort auf meine Arbeit (das Original dieses und
der andern Künstlerbriefe, die ich erhalten habe und zu meiner Verteidigung
hier anführen muß, haben der Schriftleitung vorgelegen): „Nach langjähriger
Beobachtung (und hier in München wird man mit Kunsterziehungsfragen
geradezu überfüttert), kann ich nur immer wieder darauf hinweisen, daß der
von Ihnen begangene Weg der Kunstunterweisung (der einzige
überhaupt gangbare) immer nur von ganz vereinzelten, besonders künst-
lerisch und pädagogisch veranlagten Lehrern begangen werden kann. Diese
werden nicht nur nichts verderben, sondern Erfolge erzielen;
diese sind auch unsere Freunde." Und an anderer Stelle seines temperament-
vollen Briefes, in dem er an Beispielen die Misere der Schulmeisterei in Kunst-
erziehungsdingen bespricht, sagt er nochmals ausdrücklich: ,,Ich hatte von
Ihren Ausführungen den Eindruck, daß Experimente von Ihnen persönlich
oder einem Kollegen in sehr sympathischer Weise durchgeführt werden. Aber
nur von Ihnen und so lange Sie die Hand darauf behalten! ...."! (Die ge-
sperrt gedruckten Worte sind von ihm unterstrichen.) Man verzeihe, daß ich
dies Lob so hierhersetze ! Aber es geht schließlich um meine Ehre als Pädagoge,
die ich in diesem Falle zu verteidigen habe.
Also Hermann Obrist rechnet mich nicht zu denen, von denen er die ,, furcht-
bare Gefahr" kommen sieht, daß sie das „Element der Methodik, des Systems,
des Beibringens, des Verekebis" wieder in das „unbeschreiblich Heilige, Herr-
liche, Freudige und Fröhliche der Kunst" einführen werden. Das genügt mir.
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. 185
Übrigens habe ich auf S. 290 meiner Arbeit ausdrücklich betont, daß auf .die
Persönlichkeit des Lehrers alles ankomme. Ich habe es auch in anderen
Publikationen betont. Und sicher hat Obrist recht, wenn er an anderer Stelle
seines Briefes meint, daß, „wenn alles, was auf den Schulen mit Kunstunter-
weisung zu tun hat, rein fakultativ und nichts als fakultativ im Nebenamte
dem einen Manne aus dem ganzen Kollegium — wenn überhaupt einer da ist,
der das mit Wonne macht — überlassen bliebe und desgleichen den Schülern",
daß dann „gar nichts dagegen zu sagen wäre: im Gegenteile!"
Und ich füge hinzu: Gott schütze Kunst, Kind und Künstler vor einem
Bildenmterricht, der ähnliches im Schilde führen sollte wie der frühere Litera-
turunterricht schlimmen Andenkens, wo der trockene Philologe über ein Ge-
dicht herfiel wie der Botaniker über eine Blüte und nun ein Zerlegen anhub,
daß den Schülern Sehen und Hören verging ! Ach nein, das habe ich mit meiner
Arbeit nicht sagen wollen. Hat sie B. so flüchtig gelesen, daß ihm gar nicht
aufging, es mit einem pädagogischen Experiment zu tun zu haben? Hat er
nicht beachtet, daß sie eine Weiterführung zweier wissenschaftlicher
Arbeiten ist, die den Pimkt, um den es sich drehte und den jene offen gelassen
hatten, zum Gegenstand einer Untersuchung hatte? Dann lese er nochmals
S. 212 die ganz präzise Aufgabestellung : „Es muß daher von größtem Interesse
sein" usw. bis „worauf es bei der künstlerischen Wirkung des Bildes ankommt".
Ich mußte deshalb — ebenfalls in Anlehnung an Fechners Theorie von den
direkten und indirekten ästhetischen Faktoren — ausdrücklich auf das Formal-
ästhetische eingehen. Ich habe es aber nicht im Tone trockener Gelehrsamkeit
getan, sondern — so gut ich 's konnte — in einer der geistigen Reife der Kinder
angemessenen Weise. (Der Ordinarius war zugegen.) Nim, und Obrist findet
diese Weise sympathisch. Das beruhigt mich. Ob es andere besser oder nicht
besser oder schlechter machen, kam für meinen Fall gar nicht in Frage. Auf
keinen Fall aber scheint mir B. berechtigt zu sein, aus der Tatsache, daß meine
Arbeit veröffentlicht worden ist (es geschah auf den ausdrücklichen Wunsch
von Prof. Meumann) den Schluß zu ziehen, als predige ich nun die allgemeine
Ausübung solcher Versuche. Hat er übersehen, daß ich auf S. 288 ausdrück-
lich sage: ,, Solche Versuche setzen allerdings einen psychologisch interessierten
und geschulten Zeichenlehrer voraus"? Und ich setze jetzt hinzu: auch einen
ästhetisch interessierten und geschulten! Wer die Ideen eines Vischer, Vol-
kelt, Lipps, Wundt, Külpe, Dessoir, Meumann u. ä. Ästhetiker nicht kennt und
nicht selbst sich in experimentell-ästhetischen Untersuchungen versucht hat,
kann mit der bloßen Psychologie wenig oder gar nichts anfangen. — Übrigens
habe ich mich in meiner Arbeit vor allem an ,, künstlerisch hinreichend
vorgebildete Zeichenlehrer" gewendet (S. 288 unten). Zum künstlerischen
rechne ich aber selbstverständlich das Vertrautsein mit kunstwissenschaftlichen
Problemen, — Problemen, die der ausübende Künstler instinktiv löst, also
wissenschaftlich nicht zu beherrschen braucht, die aber der Zeichenlehrer
als solcher kennen muß.
2. Das bringt mich auf die abfällige Kritik, die B. meinen Bildinterpreta-
tionen zuteil werden läßt. Er sagt: „Wie wenig klar selbst bei solchen Er-
wachsenen, die sich mit derartigen Dingen öfter (!) beschäftigen, diese Pro-
bleme sind, zeigt uns H. in seinem eigenen Bilderunterricht." Und nun klammert
186 Zu den experimentellen Untersuchungen über Bild Verständnis.
er sich an die Worte des Gedichtes vom Postillon „und die Rosse hielt er
an" und behauptet, daß man aus der Haltung der Pferde statt des Trabens
ebensogut ein „unruhiges Stehen" heraussehen könne. Armer Künstler!
Hast du so schlecht gezeichnet, daß selbst ein Kunsterzieher wie B. sogar im
Unklaren darüber sein muß ? Ach nein ! Der Künstler kann ruhig sein. Ich
habe vielen Versuchspersonen nachträglich die Frage vorgelegt: ,, Stehen die
Pferde unruhig oder traben sie?" Keine einzige sah ein wenn auch noch so
unruhiges Stehen in ihnen. Alle sahen deutlich ein Traben. Ja, sie schienen
belustigt über die sonderbare Frage. Es ist mir unbegreiflich, wie jemand ein
Bild so auffassen kann. Aber lassen wir den Künstler i) selbst sprechen. Auch
er antwortet sehr ausführlich und stellt meinem Versuche das Zeugnis aus,
daß er ihn ,, durch feines Kunstverständnis erfreut hat", daß er in den ,, Zög-
lingen den Sinn für das Schöne erwecke und pflege", und daß er ,,eine gelungene
Analyse des Bildes" gebe. Über den fraglichen Punkt aber spricht er sich fol-
gendermaßen aus: ,, Der Bildinhalt muß sich mit dem Gedichtinhalte zu irgend-
einem Zeitpunkte decken. Aber nur einen Teil des im Gedicht Dargestellten
kann der Maler im Bilde bringen. Im Gedicht ist an drei Stellen vom ,, Halten"
gesprochen. Das Gefährt muß also stillegestanden haben. Allein aus künst-
lerischen Gründen schien es nicht angebracht, inmitten all der
Ruhe auch noch das Fuhrwerk ruhend zu bringen, wo doch im
Gedicht selbst Leben und Bewegung enthalten ist. Das Gedicht
erforderte nicht, das Fuhrwerk ruhend darzustellen, und die stehenden
Pferde würden die Bildwirkung beeinträchtigen. Es ist daher der
folgende Moment dargestellt: Der Postillon, der die Zügel nicht aus der Hand
gelassen hatte, hat sein Stückchen geblasen, das Echo ist verklungen, der Postil-
lon hat sein Hörn vom Munde abgesetzt, die Pferde haben schon ange-
zogen, und nun traben sie wieder auf dem ihnen so wohlbekannten Wege,
der etwas Fall hat. Die Bewegung der Räder ist bemerkbar, aber es
mußte undeutlich dargestellt werden bei dem ungewissen Mondlichte, zumal
sich das Gespann im Schatten befindet, wodurch es sich von der mondbeschie-
nenen Landschaft abhebt. Das alles auszudrücken, schwebte dem Maler vor.
Daß es ihm gelungen, geht daraus hervor, daß Sie es herausgelesen haben."
— Es wird noch hinzugefügt, daß die „schwierige Wiedergabe des Origi-
nals durch das Lichtdruckverfahren vorzüglich gelungen" und daß die
Reproduktion vom Künstler selbst überwacht worden ist.
Ich füge das hier an, weil B. in falsch verstandener Warnung vor der Be-
nutzung von Reproduktionen nur die Behandlung von Original werken zulassen
will, was aufs schärfste bekämpft werden muß. Ich werde auf diese Frage später
zurückkommen, denn sie ist wichtiger, als es auf den ersten Blick scheint.
In den Zusammenhang mit dem vorigen gehört es aber, wenn ich auch den
dritten Künstler zitiere, der sich zu meiner Arbeit geäußert hat. Es ist Prof.
Robert von Hang. Er verweist zunächst auf sein größeres Bild „Im Morgenrot"
(Dresdener Galerie), wo manches deutlicher und stärker zum Ausdruck komme
als auf der Steinzeichnung, wobei ihm nur eine beschränkte Anzahl von Steinen
zu Gebote gestanden habe, imd fährt dann fort: „Sie haben, wie ich nach
^) Müller- Wachsmut.
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bild Verständnis. 187
wiederholtem Durchlesen Ihrer Ausführimgen sagen muß, das, was ich mit
dem Bilde wollte, ganz richtig verstanden und sachgemäß gedeutet. Die Haupt-
sache ist dem Maler freilich immer die Raumverteilung im Bilde und die Wahl
der Farben. Was Sie in dieser Richtung gesagt haben, ist aber auch nicht im-
zutreffend. Nur hätte ich da einiges mehr, einiges weniger betont." ,,Daß
es jetzt Mode ist, alles, was über die beiden zuletzt genannten Punkte
hinausgeht, als ,, literarisch" und nicht zur Malerei gehörend zu be-
zeichnen, werden Sie ja auch schon gehört haben. Wir müssen uns eben damit
abfinden. Ihnen aber wiederhole ich noch einmal, daß Sie das in meinem
Bilde gesehen haben, was ich wollte. Ich freue mich darüber."
In diesem Briefe ist mir außer der Beruhigung, daß ich mir auch bei diesem
Bilde über formalästhetische Bildprobleme im ganzen doch klar geworden bin,
besonders das interessant gewesen, daß es durchaus nicht jedem Künstler wider-
strebt, seine Bilder nach solchen Gesichtspunkten betrachtet zu sehen, und daß
Haug ebenfalls das ganz unzutreffende Wort ,, literarisch" dafür ablehnt. Es
ist dies darum wichtig, weil B. meinen Satz vom „Widerwillen der Künstler
vor ästhetischen Erörterungen" falsch ausnutzt. Was ich mit diesem Wider-
willen habe sagen wollen, ist nämlich nichts anderes als dies: Künstler haben
eine natürliche und darum gesunde Scheu, sich selbst zu analysieren. Sie
fühlen, die Kraft des Triebhaft- Genialen, das sie sicherer leitet, als die exakteste
Regel es vermöchte, könnte von ,,des Gedankens Blässe angekränkelt"
werden. Auch mögen sie nicht Selbstverständlichkeiten breittreten. — Aber
sonst sind sie dankbar für ein Gespräch über ihre Kunst, wenn sie es mit einem
ernsthaften Menschen zu tun haben. Verdrießlich werden sie erst, wenn sie
hohle Schwätzer vor sich haben, denen allerlei Kunstgelehrsamkeit angeflogen
ist und die sich dann mit hochgezogenen Augenbrauen breitbeinig vor ihr Werk
stellen und nun anfangen: 1. Komposition, 2. Linienführung, 3. Kontraste usw.
und das arme Kunstwerk skelettieren, bis die weißen Rippen hervorsehen.
Doch ich will diesen Punkt verlassen und zu dem Zitieren obiger Künstler-
briefe nochmals bemerken, daß es mir höchst peinlich gewesen ist, es tun zu
müssen. Aber es war sachlich notwendig, weil in diesem Falle das Urteil der in
Frage kommenden Autoritäten doch wohl ausschlaggebend ist.
Und aus dieser meiner Verteidigungsstellung heraus möchte ich mir eine
Anregung erlauben. Wie wäre es, wenn wir in Deutschland einen pädagogischen
Kunstausschuß ins Leben riefen? Einen Ausschuß, der die Frage des Scluil-
wandschmuckes, des Anschauungsbildes, der Kunst fürs Volk überhaupt vom
psychologisch-pädagogischen Gesichtspunkte aus in Angriff nähme ? Einen Aus-
schuß, der ähnlich organisiert würde, wie der Jugendschriftenausschuß? Er
könnte wirklich Segen stiften. Nur dürften ihm beileibe nicht nur Lehrer
angehören! Nein, vor allem auch Künstler, Kunstwissenschaftler, Psychologen
und auch gebildetes Elternpublikum. Ich habe nämlich den Eindruck, als
ob sich gegenwärtig ein gewisses Epigonentum in Kimsterziehungsf ragen
etabliert habe. Aus dem Obristschen Briefe klang eine tiefe Verdrossenheit
heraus, Haug schlägt einen ähnlichen Ton an, und es kann in der Tat bedenklich
stimmen, wenn man sieht, wie einem Teil der Lehrerschaft das Augenmaß für
die richtige Beurteilung derjenigen Ursachen abhanden gekommen zu sein
scheint, die seinerzeit die ganze Kunsterziehungsbewegung nötig machten. Da-
188 Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis.
mals — vor zwanzig und auch vor zehn Jahren noch — gab es etwas zu kämp-
fen. Allerhand Widerstände mußten niedergerungen werden. Das scheint heute
wahrlich nicht mehr nötig. Vielmehr sind Sammlung, Kleinarbeit, Ausbau des
Neuen am Platze. Und als solche hatte ich auch meine Versuche aufgefaßt.
Nun fällt mir B. in den Arm, weil er meine ganze Art für eine Sünde gegen den
heiligen Geist des ersten Kunsterziehungstages hält. Das sieht ja beinahe so
aus, als ob ein neuer Terrorismus den alten ablösen wollte, als ob ein kleiner
Kreis von Lehrern (ich vermute, daß B. im Einverständnis mit einem
engeren Kreise gegen mich aufgetreten ist) sich in die Rolle einer Art Jury,
einer f Art künstlerischen Klerus hineingewöhnt hätte, der seine eigenen
Ansichten mit dem Ansprüche apodiktischer Gültigkeit verkünden zu dürfen
glaubt. Denn anders kann man seine Mahnungen ,,man lasse", ,,man soll" usw.
nicht auffassen.
Und weil ich mit Obrist der Meinung bin, daß nicht jeder aus dem bloßen
Grunde, weil er Lehrer ist, nmi auch Kunsterzieher sein dürfe; weil ich ferner
der Meinung bin, daß wir Lehrer allein in den Fragen des Schulwandschmuckes
usw. gar nicht kompetent sind, sondern dringend des wissenschaftlichen und
künstlerischen Beirats bedürfen: darum halte ich eine Organisation wie die
obige für notwendig. Aber auch diese dürfte sich das Mandat eines Klerus nicht
anmaßen, sondern etwa die Tendenz, die der vorzüglich funktionierende Bund
für Schulreform befolgt, sich zu eigen machen. Er könnte vielleicht eine Sektion
desselben bilden.
3. Ich komme nun zu den psychologisch-pädagogischen Kernfragen,
B. gibt zu, daß der Zeichenunterricht am besten geeignet ist, Bildverständnis
zu erwecken, nur, daß er dem hinführenden Unterricht den Vorzug gibt.
Nun, dieser Gedanke ist keineswegs neu. Im regulären Zeichenunterricht be-
folgen wir ihn sozusagen stündlich. Wir stellen das Kind vor eine Aufgabe,
lassen es diese auf seine Weise bewältigen und zeigen ihm dann an guten Meister-
bildern, wie ein Künstler sie gelöst hat. Ich mußte aber den umgekehrten Weg
gehen, und ich behaupte, daß ich mich in der von mir geschilderten Weise durchaus
an die produktiven Vorstellungskräfte der Kinder gewendet habe. Ich hatte
mir als Hauptproblem die Verständlichmachung der Bewältigung einer bild-
mäßigen Beleuchtung gestellt und leitete die Kinder so an, daß vor ihrem
inneren Blick die Gestalten, Farben und Schatten der alles verschleiernden
Nacht lebendig wurden. B. führt Lichtwarck an. Nim, ich kenne dessen Schriften
genau. Lichtwarck spricht davon, daß er die Kinder ,,mit dem Auge arbeiten"
läßt. (,, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken.") Was ist das anderes,
als an ihre apperzeptiven Kräfte appellieren ? Das nennt B. aber aufpfropfen.
Ach nein, das ist kein Aufpfropfen, was ich in meinen Versuchen schildere, dies
Suchen-, Entdecken- und Findenlassen, das ist Arbeit von innen heraus, genau
so intensiv, als wenn man den umgekehrten Weg geht. Darin besteht ja über-
haupt ein großer Teil dessen, was wir Lehrkunst nennen.
Es sind zwei total verschiedene Dinge, jemanden durch eigene Tätigkeit
zum Nachempfinden dessen hinzuleiten, was ein Künstler gemacht hat, oder
ihm etwas Unverstandenes aufzupfropfen; das letztere ist ein autoritatives Mit-
teilen von etwas, das nicht geistiges Eigentum geworden ist. Das erstere ist
der Weg, der allein zum erschöpfenden Verständnis des Kunstwerks führen
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. 189
kann, und zwar ein Weg, den der Erwachsene ebenso beschreiten muß wie das
Kind, wenn er ein Kunstwerk n^ch allen Seiten seiner künstlerischen Werte
auffassen und genießen will. Es ist der Weg, der dem Dilettantismus im Sinne
Lichtwarcks seine eigentümliche Bedeutung verleiht, und ich habe ihn beschritten,
indem ich die Kinder suchen, finden und nachschaffend darstellen lasse, was
der Künstler vor ihre Sinne gestellt hat. Ich glaube, daß er geeignet ist, ein
Bild, so weit überhaupt möglich, zu ihrem geistigen Eigentum zu machen.
Wer das ,, Auf pfropfen" nennt, ist außerstande, zwei prinzipiell verschiedene
Dinge auseinander zu halten. — Nun meint B. weiter, daß man mit solchen
Besprechungen sparsam sein müsse, ein- oder zweimal genüge vollkommen.
Aber wo in aller Welt sage ich, daß ich sie öfter will? Daß ich einen systema-
tischen Bilderunterricht will? Sorgt nicht das Zeichnen mit seinen Ausdrucks-
raitteln (Techniken) von selbst für Gelegenheiten genug, das Kind vor solche
Aufgaben zu stellen, so daß langatmige Besprechungen überflüssig werden? —
Ein anderes ist es freilich, wenn man eine experimentell-pädagogische Unter-
suchung anstellt. Dann muß die Besprechung eben so gründlich sein, wie die
Punkte, die es zu klären gibt, es nötig erscheinen lassen. In dieser Lage befand
ich mich aber.
4. Was B. besonders verdrießt, ist die von mir wiederholte Behauptung^), daß
das unbeeinflußte künstlerische Bildurteil der Kinder auf einer sehr tiefen
Stufe stehen soll. — B. ist völlig entgangen, daß ich, wie alle unten genannten
Versuchsvorgänger, einen Unterschied mache zwischen Gefühl und Urteil.
Denn daß Kinder Freude an Bildern haben, also mit ihrem Gefühlsleben stark
dabei beteiligt sind, bestreitet niemand von uns. Aber es fragt sich, woran die
Freude des Kindes — psychologisch gesprochen: der Lustaffekt — anknüpft.
Danach gibt es aber einen sehr verschiedenen Inhalt und verschiedene
Entwicklungsstufen auch innerhalb der bloßen Freude am Kunstwerk. Auf
diese feine, aber eminent wichtige Unterscheidung zuerst hingewiesen zu haben,
ist das Verdienst Meumanns. Und nur von dieser Fragestellung aus kann Klar-
heit kommen über das gesamte Kapitel ,,Kind und Kunst". — Wir behaupten
also: trotz der großen Freude am Bilde im allgemeinen steht das kindliche Ur-
teil über dasjenige, was es auf dem Bilde alles sieht, was das Bild erzählen will,
sehr tief. Und es steht selbst dann noch sehr tief, wenn das Kind vollkommen
zwanglos, in unbefangenster Plauderstimmung über das Bild plaudern darf,
was ihm in den Kopf kommt, also wenn man sein Urteil ,, erlauscht", wie B.
wünscht. Siehe Schmidt, der seine Versuche daraufhin angelegt hat, daß
jedes Kind auf ganz vertrauliche Mitteilsamkeit' eingestellt war. Nichts
anderes meint auch Lichtwarck, wenn er sagt: ,, das Kind hat reichlich
zu tun mit der Beobachtung und Aneignung des sachlichen Inhalts, dessen Be-
wältigung die Voraussetzung des künstlerischen Genusses bildet." Und an
anderer Stelle fordert Lichtwarck direkt, daß der Punkt, den B. einfach als
Tatsache bezeichnet, nämlich ob das Kind künstlerisch genußfähig sei, noch
ungeklärt sei und untersucht werden müsse. (Lichtwarck, ,, Übungen in der
Betrachtung von Kunstwerken", 8. Auflage, S. 21.) Nun, diese Untersuchungen
*) Siehe die Untersuchungen von Schmidt (Würzburg), Müller (Bielefeld), Dohning
(Leipzig), Albien (Königsberg), Meiunann (Leipzig).
190 Zu den experimentellen Untersuchvingen über Bild Verständnis.
sind im Gange und scheinen zu ergeben, — und das ist der Kernpunkt unserer
Gegnerschaft zu B. und seinem Anhang — daß der künstlerische Genuß beim
unbeeinflußten Durchschnittskinde nicht vorhanden ist und nicht vorhanden
sein kann, ja daß er bei manchem — selbst gebildeten — Erwachsenen noch
nicht vorhanden ist, und schwerlich auftreten wird, wenn die individuellen
Voraussetzungen überhaupt nicht oder noch nicht gegeben sind (siehe Müllers
Untersuchungen). Zu diesen Voraussetzungen gehören vor allem die angeborene
Anlage zur künstlerischen Empfänglichkeit und anerzogenes oder sonstwie
erworbenes Interesse. Jene kennzeichnet beispielsweise den Kunstfreund und
Dilettanten, dieses beispielsweise den irgendwie beruflich oder technisch mit
Kunsterzeugnissen beschäftigten Gewerbetreibenden. Keine der vorhandenen
Voraussetzungen kann aber der Entwicklung und Förderung entraten; sonst
verkümmern sie. Vor allem muß Gelegenheit zur spontanen Betätigung ge-
boten werden. Damit soll aber schon die Schule beginnen, indem sie die gegebenen
Möglichkeiten ausnutzt. Zu diesen Möglichkeiten gehören Besprechung (durch
geeignete Personen) und Zeichnen.
5. B. wird natürlich obige Behauptungen über die künstlerische Genußfähig-
keit des Durchschnittsmenschen ganz energisch weiter bekämpfen. Dann möchte
ich ihm aber den Eat geben, es nicht so unpsychologisch zu tun, wie er es in
seinen ,, Bemerkungen" tut. B. scheint eine seltsame und — er verzeihe —
laienhaft-psychologische Ansicht vom Wesen des Künstlerischen und des
Kunsturteils überhaupt zu haben. Er spricht oft vom Gefühlsmäßigen, vom
Gefühlston usw. Von dem bloßen Vorhandensein dieses Gefühlsmäßigen scheinen
ihm sowohl Kunsturteil wie Kunstgenuß abhängig zu sein. Ja, er bringt es
fertig, das Interesse am Formalästhetischen mit dem Interesse am Inhalt in
einen Topf zu werfen und beides stofflich zu nennen, und an anderer Stelle
sagt er, es sei etwas, das dem Kunstwerk nur äußerlich anhafte (sie!). So ein-
fach ist die Sache nun doch nicht, und seine ganze Auffassungsweise zeigt,
daß er zum Kern des Problems noch gar nicht vorgedrungen ist.
Für den Tieferdringenden fragt es sich (wie unter 4 schon angedeutet wurde),
woran das Gefühl anknüpft, — an den Stoff (den literarischen Inhalt,
wie B. sonderbarerweise sagt) oder daran, wie der Künstler ihn gemeistert hat.
Bei diesem Anknüpfen sind vier Möglichkeiten zu unterscheiden.^) Erstens:
das Gefühl kann anknüpfen an das dargestellte Objekt als solches (Gegen-
stand, Begebenheit, Situation usw.), wobei dieses eben rein als solches gefällt
und sozusagen vom Kunstwerk losgelöst wird. Beweis dafür ist, daß der
Gedanke an den Künstler und das Bild als Kunstwerk noch ganz fehlt. Nebenbei
sei bemerkt, daß auch für das Kind ein nur minimales sprachliches Ausdrucks-
vermögen erforderlich sein würde, wenn es bekunden möchte, daß es an den
Künstler gedacht hat. Etwa so: ,,Der das Bild gemacht hat, kann aber fein
malen." B. kann sich also nicht dahinter verschanzen, daß die Kinder viel-
leicht doch an das Kunstwerk als solches dächten, dies aber nicht auszudrücken
vermöchten. Zweitens: Es kann anknüpfen an den Inhalt des Kunstwerks,
wobei aber der Gedanke an den Künstler und die Kunst, die im Bilde steckt,
gleichsam im Hintergründe steht. Das ist die Stufe, zu der sich Kinder nach
^) Nach Meumann.
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. 191
Anleitung durch geeignete Erwachsene erheben und über die die meisten un-
gebildeten Erwachsenen nicht hinauskommen. Drittens: Das Gefühl kann
an die wirklich künstlerischen Elemente des Kunstwerks anknüpfen (eben die
formal-ästhetischen). Das ist immer erst ein Ergebnis einer wirklich künstle-
rischen Veranlagung (die wenige besitzen) oder ein Ergebnis teils der analy-
sierenden Betrachtimgsweise von Kunstwerken, — sie ist z. B. dem sogenannten
Kunstkenner eigen, — teils der subjektiven Beschäftigung mit der Kunst bzw.
ihrer technischen Seite (Künstler, Dilettanten, Kunsthandwerker usw.). Vier-
tens: das Gefühl kehrt gleichsam zum Inhalt wieder zurück, nachdem das Ge-
fallen die formalen Elemente in sich aufgenommen hat, und genießt nun den
Inhalt (Gehalt) im Lichte imd in dem Sinne der formalen Durcharbeitung, mit
der ihn der Künstler gestaltet hat. Dies ist zugleich die höchste, ge-
diegenste Art der Kunstbetrachtung und des Kunstgenusses.
Wie bedenklich es ist, sich mit der bloß gefühlsmäßigen Wirkung eines Kunst-
werks an sich zu begnügen, einerlei, wovon sie ausgeht, zeigen ja das Kino-
Schauerdrama und der gesamte literarische Schund. Wahrlich, sie wirken gar
zu oft ,,tief imd nachhaltig". Und angesichts der ganzen Jugendschriften- und
Kinoreformbewegung, die doch im Grunde auch nur auf die Stoff- und Form-
frage hinausläuft, ist es ganz imbegreiflich, wie B. (der in Hamburg trotz seiner
Jugend eine Führerstellung in Kunsterziehungsfragen einzunehmen scheint)
bisher blind geblieben ist gegen die Notwendigkeit, zwischen dem Was und Wie
in Kunstdingen zu scheiden.
Nein, wir kommen nicht herum um diese Frage; wir müssen — theoretisch
und praktisch — Scheidungen vornehmen, um das zu finden, was am Kunst-
werk ,, Kunst" ist. Der Gefühlston sagt lediglich, daß und wie stark ein Werk,
aber nicht, was an ihm gewirkt hat. Das aber muß beantwortet werden können,
wenn man überhaupt etwas entscheiden will.
Wir müssen also fragen: Erstens: wann ist ein Bild ein Kunstwerk, bzw.
woran erkennen oder fühlen wir es? Zweitens: Woran erkennen wir es, ob
und wann ein Kind das Künstlerische im Bilde herausfühlt, oder wie vorhin
ausgedrückt, woran das Gefühl des Kindes angeknüpft hat? (Denn wenn es
nicht an das Künstlerische angeknüpft hat, dann kann auch der Genuß kein
künstlerischer gewesen sein.)
Es ist nötig, einen Augenblick bei diesen beiden Fragen zu verweilen. Frage 1.
Sie ist gewiß nicht leicht, ja in gewisser Hinsicht überhaupt nicht zu be-
antworten. Ebenso wenig wie die Frage : Was ist Bildung, Wahrheit usw. ? Alles
tirf^ innige Fragen. Der Tor beantwortet sie oft unbedenklich, der Weise
schweigt. — Aber in normativer Fassung und in ihrem tiefsten Sinn soll hier
die erste Frage gar nicht beantwortet bzw. aufgerollt werden. Sondern gemeint
ist folgendes: Wenn in einem Bilde Kunst steckt, dann muß es sich an irgend
etwas Greifbarem, Aufzeigbarem, in Worten-verständlich-zu-machendem doku-
mentieren. Wir sind uns doch meist sofort darüber klar, was offenbarer Schund
oder sogenannter konventioneller Kitsch und dergleichen ist. Wir können es
auch sofort mit Worten klar machen, warum es das ist. So pflegt auch das wirk-
liche Kunstwerk für den Sachverständigen schon den Adel des Künst-
lerischen sozusagen an der Stirn zu tragen. Und so arm ist die Sprache
keineswegs, daß es sich nicht verdeutlichen ließe. — Was soll das ewige, süßliche
192 Zu den experimentellen Untersuchungen über Bild Verständnis,
Gerede vom Gefühlsmäßigen und Unaussprechlichen des „inneren Erlebnisses"
und „Nacherlebens" und wie die schönen Worte alle heißen! — Wer will denn
das Letzte, Seligste, Restlose aus den Kindern heraushaspeln? Wer verlangt,
daß überhaupt Gefühle beschrieben werden sollen? Nein, was wir zu erfahren
wünschen, ist im Grunde ziemlich einfach ; es ist nichts weiter, als ein Reagieren
auf ganz bestimmte Dinge, die man vorher verständlich macht, so daß das Kind
merkt, was man von ihm will. Und das sind die Bildmomente, die z. B. Müller
unter Anlehnung an Fechners ästhetische Theorie von den direkten und in-
direkten Faktoren mit den Kindern besprochen hat und die auch ich zum Teil
verwendet habe.
In diesen Momenten ist nun tatsächlich das inbegriffen, was am Kunstwerk
„Kunst" ist. Daß B. es bestreitet und es sogar als etwas äußerlich Anhaften-
des auffaßt, ändert daran nichts. (Siehe die Künstlerbriefe.) Jeder, der sich
mit Kunstkennern oder Künstlern über ein Bild unterhalten hat, wird bestätigen,
daß, sobald die Rede auf das Schöne, auf die Feinheiten, das Packende, kurz, auf
das spezifisch Künstlerische kam, es sich immer um etwas drehte, was in obigen
Faktoren angedeutet ist. Also es wird doch wohl so sein : Was an einem Kunst-
werk ,, Kunst" ist, oder, wie ich in meiner Arbeit sagte, die ,, Kunst als solche"
dokumentiert sich tatsächlich in diesen Faktoren.
Nun zur zweiten Frage: Woran knüpft das Gefühl des Kindes an? — B.
gibt zu, daß es außerästhetisch interessiert ist. Was gibt es aber dann noch außer
dem Stofflichen ? Ich könnte mir also alle weitere Beweisführung sparen. Aber
B. führt ein Beispiel an, aus dem ersichtlich ist, was er meint, wenn er behauptet,
daß hinter dem kindlichen Bildurteil trotzdem noch genug künstlerisches Wohl-
gefallen schlummere. Er spricht von den spontanen Kinderausrufen: ,,all die
roten Schuhe", „wie weit", ,,wie schön gelb". Diese müßten doch, so meint er,
als Affekte künstlerischen Empfindens angesprochen werden. — Sind sie es
wirklich ? Ich sage nein. Denn man muß auch hier eine scharfe psychologische
Unterscheidung machen, und ich glaube, daß gerade diese den wundesten Punkt
der B.schen Auffassung vom kindlichen Kunstempfinden berührt. Gemeint ist
dies: das Kind freut sich über die schönen roten Schuhe, das weite gelbe Korn-
feld. Das ist gewiß an sich ein ästhetischer Affekt. Aber ist es auch ein Affekt,
der mit der Kunst des Bildes etwas zu tun hat? Nein. Denn solche Urteile
zeigen gerade deutlich, daß das Kind die Schuhe und das Kornfeld losgelöst
vom Kunstwerk betrachtet. Es hat Gefallen am roten, gelben Objekt, das
es zum Kunstwerk apperzipiert, aber nicht an der Farben wähl des Künstlers.
Es sieht sozusagen wirkliche Schuhe auf dem Bilde, die wirklichen Objekte
würden ihm genau so gut oder noch besser gefallen. Alle Attribute, die Kinder
Bildern beilegen: entzückend, süß, niedlich, häßlich, böse, öde usw. gelten, wie
zahlreiche Untersuchungen deutlich ergeben haben, nicht dem Bilde als s olchem ,
sondern den dargestellten Objekten als solchen. Ja, sie lehnen Bilder direkt
ab, die, obwohl von ausgesprochenem Kunstwert, Personen, Tiere oder Vor-
gänge enthalten, die ihr Mißfallen erregen. Sie stecken also so tief im Stoff-
lichen, sie sind noch so unfähig, ein Bild anders als stofflich auf sich wirken zu
lassen, daß man von künstlerischem Empfinden nicht sprechen darf. Ihre ganze
Anlage, ästhetisch zu empfinden, steht, wie in allen Gefühlsdingen, auf durch-
aus kindlicher Stufe. Es sind im besten Falle die sogenannten ästhetischen
Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis. 193
Elementargefühle, die ein Bild bei ihnen auslöst. Dahin gehört vor
allem die Farbe. — Erst allmählich, etwa um die Pubertätszeit herum, werden
solche ästhetischen Elementargefiihle von ästhetischem Wohlgefallen höherer
Ordnimg abgelöst. Alle Bemühungen, es früher zu wecken, sind frucht-
los. Das Kind fällt immer wieder in seine alte Betrachtungsweise zurück. Und
das ist gut so, weil es natürlich ist. Man lasse doch das Kind Kind sein, solange
die Natur es in diesem Zustande beläßt! Und wenn das Schlagwort vom Kinde
als Künstler überhaupt einen Sinn haben soll, so kann es nur den haben, daß
es auch als Künstler Realist ist. Sachen und nochmals Sachen, d.h. Leben
mid Handlung interessieren das Kind. Die Kunst ist ihm Hekuba.
Nun könnte man sagen: ,,Aber schließlich ist es doch gleichgültig, ob das
Kind künstlerisch empfindet (in unserm Sinne) oder nicht. Hauptsache ist, daß
es überhaupt lebhaft reagiert." Gewiß, im Hinblick auf den pädagogischen
Zweck ist das vollkommen gleichgültig. Aber wenn wir die Frage entscheiden
wollen, ob im Kinde wirklich das Künstlerische steckt, das ihm gewisse Ver-
treter der Kunsterziehungsbewegung so gern imputieren, so ist das die wichtigste
Frage. Und soweit ich den Stand der psychologischen Forschung überschaue,
spricht alles dagegen, aber auch alles. Ich erinnere nur an das klassische Experi-
ment von Müller (das B. nicht zu kennen scheint) : Warum wird das künstlerisch
schlimme Bild (konventioneller Kitsch) des Kaisers Friedrich dem prachtvollen
Rembrandt ,,Mann mit dem Helm" vorgezogen ? Weil ersterer ein schöner Mann
ist; der andere ist ihnen zu häßlich. Am Stoff, am Objekt hängen sie; nur er
wirkt; das Bild als Kunstwerk ist nicht für sie da.^)
6. Welchen Sinn soll es aber haben, edle Bildkunst noch vor das Kind hinzu-
stellen, wenn es so hoffnungslos um das kindliche Kunstverständnis bestellt ist?
Die Antwort kann nur lauten: Nicht trotzdem, sondern gerade deshalb soll
«'S geschehen. Und zwar aus psychologisch-pädagogischen Gründen. Denn
wenn es auch eine ganz natürliche Entwicklungserscheinung ist, daß das Kind
vor dem Pubertätsalter nicht auf das künstlerische Moment reagieren kann,
so besteht doch wiederum die andere psychische Tatsache der Gewöhnung,
die wir überall da in Anspruch nehmen, wo das Kind noch nicht zu begreifen
imstande ist, warum wir dies und jenes tun. So muten wir ihm zu zu gehorchen,
auch wo es die Notwendigkeit des Gebots oder Verbots noch nicht begreift,
und so werden wir auch auf die günstige Wirkung guter Bilder rechnen dürfen,
die wir ihm darbieten. Diese günstige Wirkung besteht aber darin, daß sich die
kindliche Psyche mit guten Eindrücken sozusagen vollsaugt, daß also der Schund
dagegen nicht aufkommen kann und daß ihm, so vertrauen wir, der Geschmack
am Miserabeln gründlich verdorben wird. — Von einem Beibringen des Künst-
lerischen durch verfrühtes Eingehen auf die spezifischen Momente desselben
wird kein vernünftiger Mensch etwas wissen wollen. Ebensowenig aber darf
man sich auf die stille Wirkung verlassen. In der Volksschule wird man gut
tun, vor dem dreizehnten Lebensjahre nur den Bildinhalt zu behandeln. Im
letzten Schuljahre möge eine geeignete Lehrkraft — wenn eine da ist — ver-
liehen, auch das Kunstmoment an die Kinder heranzubringen. Leider ver-
lassen uns die Kinder, wenn eben die Seele des Erwachsenen in ihnen erwacht.
h; meisten niclit künstlerisch gebildeten Ilrwuchsenen urteilten so.
i>ädagog. P»iychulogie. 13
194 Zu den experimentellen Untersuchungen über Bildverständnis.
Sonst sollte es noch hinausgeschoben werden. Die höhere Schule braucht aber
in keinem Falle darauf zu verzichten, — vorausgesetzt, daß auch hier ,, einer
da ist, der es kann und mit Wonne macht", wie Obrist sagt.
Man sieht also, wir sind mit B. im Pädagogischen völlig einig. Die psycho-
logischen Überzeugungen nur sind andere. Für die meinigen darf ich aber in An-
spruch nehmen, daß sie mit den Ergebnissen der exakten psychologischen For-
schung im Einklänge stehen, und ich hoffe die Zeit kommen zu sehen, wo die
jetzt noch so überaus verschwommene Vorstellung ,,vom Kinde als Künstler"
einer Auffassung Platz macht, die den Sinn dieses Schlagwortes auf seine wahre
Bedeutung einschränkt. Denn allmählich dämmert doch wohl in der Mehrzahl
der Lehrer die Erkenntnis auf, daß mit diesem Schlagwort im allgemeinen ein
greulicher Mißbrauch getrieben worden ist, und zwar in dem Sinne, als ob in
jedem Kinde ein Stück von jenem Künstlertume schlummere, das wir sonst nur
in wenigen Auserwählten zu erblicken gewohnt sind und das durch die heutige
böse Schule unterdrückt werde und verloren gehe.
Aber ich möchte nicht mißverstanden werden. Ich bin der letzte, der etwas
gegen diejenigen Kunsterziehungsbestrebungen sagen möchte, die ihre intellek-
tuellen Urheber verfochten haben. Diese waren so nötig, wie irgendetwas
nur sein kann. Es stand zu traurig um den Zeichenunterricht, um
die Behandlung der Dichtwerke, um die Pflege der Kunst in jeglicher
Gestalt. Aber das ist jetzt anders, der Wille zum Bessern ist jedenfalls
überall vorhanden. — Wogegen Front gemacht werden muß, ist lediglich
das Epigonentum.
7. Wenn ich es mir versagen muß, hiermit zu schließen, so geschieht
es, weil noch ein Wort zu der von B. geforderten Benutzung von Ori-
ginalen gesagt werden muß und weil noch ein bemerkenswerter psycho-
logischer Irrtum B.s nicht unbesprochen bleiben darf. — Ich nehme
letzteren vorweg.
B. sucht die Tatsache zu entschuldigen, daß meine Selektanerinnen das Wand-
schmuckbild vom Postillon monatelang gänzlich ignoriert hätten. Er sagt, dies
habe nichts zu tun mit mangelnder Kunstempfänglichkeit, sondern diese Tat-
sache falle ins Gebiet der Aufmerksamkeit. — Was soll man dazu sagen! Man
sollte es nicht für möglich halten, daß einem Lehrer die Psychologie der Auf-
merksamkeit so fremd geblieben sein könnte. Denn nur so ist es zu erklären,
daß B. den Mädchen Kunstempfänglichkeit zuschreibt und sie trotzdem das
Bild ,, übersehen" läßt, weil sie ,,im Unterricht nicht hinsehen dürfen und weil
sie in den Pausen andere Dinge im Kopfe haben". Ich erlaube mir darauf hinzu-
weisen, daß es nicht nur eine passive, sondern auch eine aktive Aufmerksamkeit
gibt, eine Aufmerksamkeit, der vor allem das nicht entgehen kann,
wofür besondere Empfänglichkeit vorhanden ist. Empfänglichkeit
und aktive Aufmerksamkeit in diesem Falle voneinander zu trennen, geht doch
wohl nicht an. Bei solchen Ansichten ist eine psychologische Verständigung
unmöglich. Ganz abgesehen davon, daß auch schon die passive Aufmerksam-
keit ein monatelanges Übersehen schlechterdings nicht zuläßt. — Aber man
sieht, das Postulat der künstlerischen Empfänglichkeit des Kindes wird mit
den unmöglichsten Argumenten gestützt. Die Aufmerksamkeit muß herhalten,
wo die mangelnde Empfänglichkeit schuld ist.
Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie. 195
Und nun zu der Benutzung von Originalen. B. wird sich hier auf Lichtwarck
berufen. Dieser fordert in den „Übiingen" „aiisschließliches Ausgehen von Original-
werken". Wenn man aber Seite 29 bis 34 seines Buches aufmerksam liest, merkt
man bald, daß er lediglich Hamburger Kinder, und zwar besonders die der höheren
Stände im Auge hat, ferner, daß er von Photographien und Gipsabgüssen „in
ihrer Massenhaftigkeit und Unzulänglichkeit" spricht, die zur ,, oberflächlichen
Betrachtung eines Raffael oder Michelangelo führten" und die nötige Unbe-
fangenheit derjenigen zerstöre, die persönlich nach Italien kämen.
Nun, nach Italien kommen gewiß nicht alle Deutschen und in berühmte Ga-
lerien auch nicht. Auch wird niemand eine Photographie bevorzugen, wenn
es eine gute farbige Reproduktion gibt. Und die gibt es dank der immer mehr
vervollkommneten Reproduktionstechnik genug.
Wer also Originale nicht zu sehen bekommt, muß sich schon mit Reproduk-
tionen begnügen. Sie sind doch besser als gar nichts. Die Lichtwarcksche Forde-
rung, die für Hamburg und jede große Stadt einen durchaus berechtigten Sinn
hat, sollte also nicht so rigoros ausgelegt werden. Wohin kämen wir sonst I Und
überdies: Kann ein wirkliches Kunstwerk so ,, totgemacht" werden, daß auch
nicht ein Abglanz seiner Pracht in einer Reproduktion übrig bliebe ? Aber auch
hier: Es macht sich vorteilhaft, es zeugt von eminenter Kennerschaft, wenn
man nur Originale fordert, „und seien die farbigen Reproduktionen noch so
gut". - . . .
Auch hier möchte ich einem Künstler das Wort geben. Prof. Hang schreibt
mir: „Schon lange werden so ausgezeichnete Nachbildungen hergestellt
(die nur durch nähere Untersuchung von den Originalen zu unterscheiden sind),
neuerdings auch Farbendrucke, daß es nicht zu begreifen wäre, wenn
jemand an ihrer Stelle lieber ein minderwertiges Original an seinen Wänden
aufhinge" und er findet es ,,doch selbstverständlich, lieber die Reproduktion
eines Meisterwerks als ein nichtssagendes Original anzuschauen", nur müsse sie
gut sein. Er wünsche gerade solchen Bestrebungen guten Erfolg.
Damit will ich schließen.
Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen
Psychologie.
Von A. Huther.
Der Deutsche neigt sehr zur Nachahmung fremden Wesens. Geschah dies
früher hinsichtlich französischen Geschmacks und französischer Sitten, so ist
es in unserer Zeit die englische Erziehungsweise, die in steigendem Maße als vor-
bildlich betrachtet wird, und zwar, zumal da sie sich der Gunst einflußreicher
Stellen erfreut, ohne daß immer die nötige Kritik geübt zu werden pflegt, die zu
berücksichtigen hat, daß die englische Methode auf andrem Boden erwachsen
ist, als derjenige ist, auf dem die deutsche ruht. Im Gegensatze nun zu der weit-
verbreiteten dilettantischen Art, die immer nur einseitige Ziele ins Auge faßt,
wird es die Aufgabe der pädagogischen Psychologie sein, einen allgemeineren
13*
196 Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie.
Beurteilungsstandpunkt den hier in Frage kommenden Veranstaltmigen gegen-
über zu gewinnen zu suchen.
Gewiß haben diese letzteren ihre erfreulichen Seiten. Körperliche Frische
und Gewandtheit, Ausdauer und Unternehmungssinn in praktischen Dingen,
Eigenschaften, die man unter den Begriff militärischer Ertüchtigung zu fassen
pflegt, dazu willige Unterordnung des Einzelnen unter die Führung zu einem
gemeinsamen Zwecke sind augenfällige Vorzüge, die sie mit sich bringen. Und
wer sollte nicht das frohe Selbstgefühl nacherleben, das die Jungen beseelt,
wenn sie straff in Reih und Glied unter den Klängen ihres eigenen Trommler-
und Pfeiferkorps zu ihrer Übung ausziehen oder nach vollbrachtem Tagewerk
zurückkehren, gehoben von dem Bewußtsein, einer wichtigen, vaterländischen
Sache zu dienen!
Für unsere Betrachtung handelt es sich jedoch darum, umfassendere, aus
den allgemeinen Zielen der Erziehung herzuleitende Gesichtspunkte aufzustellen,
die eine allseitige Würdigung der fraglichen Einrichtung ermöglichen.
Da ist es nun freilich der völlige Mangel an statistischem Stoffe, der eine
dahingehende Kritik erschwert. Gleichwohl muß von irgendeiner Seite der
Anfang gemacht werden, und in diesem Sinne will der nachstehende Versuch,
der sich allerdings auf einen nur beschränkten Kreis von Beobachtungen stützt,
aufgefaßt sein.
Die Feststellung, daß die planmäßige Pflege des Sports die Leistungen der
Zöglinge an höheren Schulen nicht beeinträchtige, kann in dieser Beziehung
nicht als durchschlagend anerkannt werden. Denn da vorwiegend die Jungen
aus wohlhabenden Familien in Betracht kommen, so pflegen die Eltern aus
der Beteiligung ihrer Söhne am Sport eigens den Anlaß zu strengerer häuslicher
Überwachung ihrer Schulaufgaben zu nehmen, und es könnte sich insofern nur
um den Nachweis handeln, daß mit gesteigerten Zwangsmitteln trotz der durch
die körperlichen Übungen bedingten Ablenkung die vorgeschriebenen Ziele
sich erreichen lassen. Es kommt uns vielmehr darauf an, wie weit die systema-
tischen sportlichen Unternehmungen die allgemeine geistige Entwicklung zu
beeinflussen geeignet sind. Von wenig psychologischem Einblick zeugt auch die
mir von einem Gymnasialdirektor gemachte Bemerkung, daß er den Sport unter
den Zöglingen seiner Anstalt auf jede Weise befördere und doch keine größere
Frische in der Beteiligung am Unterrichte beobachtet habe. Körperliche Frische,
wie sie durch Übung der körperlichen Organe erzielt wird, bildet allerdings
eine Bedingung für frische Betätigung auf geistigem Gebiet. Indessen ist eine
direkte Übertragung auf letzteres nicht zu erwarten, da auf diesem ganz andere
Motive in Wirksamkeit treten als bei der Übung der körperlichen Funktionen.
Der Einfluß, der vom Sport auf die allgemeine geistige Entwicklung der
Jugend ausgeht, wird je nach der Individualität der Betreffenden ein verschie-
dener sein. Für die Sonderung der Individualitäten nun bieten sich, wenn wir
von den komplexen Eigenschaften der Charakter- und Temperamentsveran-
lagung absehen, die psychologischen Typen dar. Wir haben hier den sonst
geläufigen Begriff der Vorstellungstypen absichtlich mit dem der psychologischen
Typen vertauscht, der eine durch den Zweck unserer Ausführungen bedingte
Umbildung bzw. Erweiterung des ersteren bedeutet. Zunächst der visuelle.
Derselbe bedingt ein vorzugsweise aufs Äußere gerichtetes geistiges Verhalten,
Der Jugendsport vom Standpvinkte der pädagogischen Psychologie. 197
wie es bei vorwiegend mechanischer Begabung für den Arbeiter und Handwerker,
bei höherer Bildung für den technischen Beamten und Industriellen, den Offizier,
den nach induktiver Methode arbeitenden Naturforscher und verwandte Berufs-
arten zur Geltung gelangt. Für diesen Typus kann die systematische Pflege
des Sports, der ein gewecktes "Wesen in bezug auf Sinnestätigkeit befördert —
sofern dabei die entsprechende Pflege des Innenlebens nicht versäumt wird —
nur vorteilhaft sein.
Der auditive Typus, der nicht, wie der visuelle, aufs Äußere geht, ist
seiner Natur nach speziell für gehörsmäßige Eindrücke, auch solche belehrender
Art, empfänglich. Hierzu sind, da die gedruckten Buchstaben die akustisch-
motorischen Vorstellungen, welche die mündliche Belehrimg vermitteln, nur
sjTTibolisieren, auch literarisch bildende Einflüsse zu rechnen. Der fragliche
Typus wird, je nach dem Grade der mit ihm verbundenen intellektuellen Fähigkei-
ten diese Eindrücke, eben bei der mangelnden Ablenkung nach außen, um so
eindringlicher und nachhaltiger in sich verarbeiten und ist daher geneigt, sich
vorwiegend zu einer nach innen gerichteten, sinnigen, gegebenenfalls träumerischen
Individualität zu entwickeln. Für ihn wird der Sport, soweit dieser ihn nicht
etwa durch Übertreibungen seiner Eigenart zu entfremden geeignet ist, eine wohl-
tätige Ergänzung seines geistigen Wesens zur Folge haben.
Ganz anders gestaltet sich der Einfluß auf den motorischen Typus. Der
letztere kennzeichnet sich durch die ausgeprägte Anlage, Bewegungs Vorstellun-
gen in sich nachzuerzeugen, die sich dann leicht in die entsprechende praktische
Betätigung umsetzen und so die spezifische Eigenschaft praktischer Geschick-
lichkeit begründen. In dieser Hinsicht stellt der motorische Typus das Gegen-
teil zu dem auditiven dar, der sich nicht selten mit Unbehilflichkeit paart.
Ob freilich die Aneignungsfähigkeit für motorische Funktionen bei jenem Typus
allgemeiner Art ist oder sich auf bestimmte körperliche Gebiete beschränkt,
läßt sich nur durch die Beobachtung feststellen. Bei der Entwicklung desselben
wirkt in allen Fällen ein zentralmotorischer Faktor mit. Denn da der Typus
seiner phylogenetischen Anlage nach lediglich eine spezifische Entwicklungs-
möglichkeit bezeichnet, so ist anzunehmen, daß die fertige Eigenschaft das Er-
gebnis einer praktischen Einübung der besonderen Bewegungen bildet. Wir
fassen hier übrigens den motorischen Typus nicht in dem abnormen Sinne auf,
wie dies zuweilen geschehen ist, insofern man den als speziellen Vertreter des-
selben bezeichnet hat, der z. B. die Umrisse eines geographischen Landschafts-
bildes sich nur dadurch deutlich vorzustellen vermochte, daß er sie mit dem
Finger nachbildete, sondern als Inbegriff leichter Auffassung körperlicher
Bewegungen überhaupt. In diesem Sinne verstanden, ist der in Frage stehende
Typus sehr verbreitet; denn die meisten frischen und gesunden Jungen zeigen
eine mehr oder weniger ausgeprägte Anlage der bezeichneten Art, wenn
sich auch mannigfache Gradunterschiede in dieser Beziehung finden. Die Leich-
tigkeit nun, mit der bei ihnen die motorischen Funktionen von statten gehen
(so beim Turnen und bei Freiübungen, beim Radfahren, beim Werfen und
Fangen des Balles bzw. beim Stoßen desselben mit dem Fuße, beim
Tennisspiel, beim Schwimmen und Rudern, bei der Auffassung der auf Er-
kundung der örtlichkeit bezüglichen Bewegimgsvorstellungen, wie sie die Findig-
keit bei den militärischen Übungen der Pfadfinder bedingen, sowi^ beim kunst-
198 Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie.
vollen Schlittschulilaufen) ruft ein starkes Lustgefühl hervor, das sich dauernd
mit diesen Funktionen kompliziert und dadurch zum Motiv für dieselben wird,
das bei systematischer Übung der verschiedenen Seiten des Sports leicht einen
Grad annimmt, daß geistige Interessen, die doch gerade auf der hier in Betracht
kommenden Altersstufe begründet werden sollen, nicht dagegen aufkommen
können. Hierdurch erwachsen Hemmungen für den auf geistige Bildung abzielen-
den Unterricht. Denn Geistesbildung beruht auf beharrenden psychischen Dis-
positionen, die eine innere Aktivität des geistigen Lebens, also ein eigenes Innen-
leben begründen, welches mit fortschreitender geistiger Reife das Übergewicht
über äußere Einflüsse zu üben bestimmt ist, ein Ergebnis, das freilich bei der
Schuljugend nur in elementarem Maße erreicht werden kann. Der Begriff der
Bildung ist bei der obigen Erklärung, dem Zusammenhang entsprechend, in
rein theoretischem Sinne gefaßt. Nach der praktischen Seite würde er dahin
zu ergänzen sein, daß Dispositionen praktischer Art erzeugt werden sollen,
welche das Subjekt in den Stand setzen, die Umgebung nach seinen Zwecken
zu gestalten. Durch den Sport aber wird bei ausgedehntem Betriebe leicht ein
Mißverhältnis zwischen körperlichen und geistigen Funktionen, zwischen der
Richtung des jugendlichen Sinnes nach außen und innen geschaffen. Das sinnige
Wesen, das an manchen Zöglingen schon früh hervortritt, geht hierbei verloren.
Und dies Mißverhältnis, das die Körperpflege nicht als Mittel für geistige Zwecke
erscheinen läßt, sondern als Selbst- und Hauptzweck, kann sich für die betreffen-
den Zöglinge bis zu dem Grade steigern, daß die sportlichen Übungen — zumal
wenn noch künstliche, den Ehrgeiz anstachelnde Reizmittel wie Preise, öffentliche
Wettspiele und sogar von den Schülern bei letzteren veranstaltete Wetten hinzu-
treten — geradezu einen leidenschaftlichen Charakter annehmen. Dieser Umstand
ist umsomehr zu bedauern, als manche der motorisch Veranlagten, bei der ihnen
eigenen kräftigen Funktion des Herzmuskels, eine besondere Empfänglichkeit,
eine Impulsivität für geistige und gemütliche Regungen zu zeigen pflegen,
die indessen bei dem einseitigen Übergewicht des körperlichen Bewegungs-
triebes keiner Ausdauer fähig sind. Um diese zu erzielen, müssen Zwangsmittel
angewandt werden, mit denen sich aber der Begriff der Geistesbildung, wie
er oben bezeichnet wurde, nicht verwirklichen läßt. Auf die hierbei vorzugsweise
in Betracht kommenden Zöglinge, welche bei gleichzeitiger guter intellektueller
Begabung zu den wertvollsten gehören, müssen die sportlichen Veranstaltungen
nach alledem einen verflachenden Einfluß ausüben.
Dieses Moment darf insbesondere bei der Kritik der eine kriegsmäßige Vor-
bildung bezweckenden Übungen nicht unberücksichtigt bleiben. Die wissen-
schaftliche Ertüchtigung der Jugend ist nicht weniger wichtig als die militärische.
Die mit Deutschland in Wettbewerb tretenden Völker machen die größten An-
strengungen, es auf dem Gebiete der Kulturarbeit aus dem Felde zu schlagen,
und seine frühere unbedingte Überlegenheit erscheint schon jetzt in Frage ge-
stellt. Ich weise in dieser Hinsicht nur auf den einen Punkt hin, nämlich die
Rückständigkeit der deutschen Universitäten in bezug auf eigene pädagogische
Fachprofessuren, von denen ein autoritatives Urteil über grundsätzliche Fragen,
wie die hier zur Erörterung stehende, ausgehen könnte.
Dazu kommen Begleiterscheinungen bedenklicher Art, die speziell mit demPfad-
f indertum verbunden sind. Es finden sich während der den militärischen Übungen
Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie. 199
gewidmeten Ferienzeit ganze Tage, an denen die Jungen wegen der Ungunst
der Witterung sich in ihre Zelte eingeschlossen sehen; sie suchen dann ihre
Unterhaltung in Beschäftigungeii, die mit den militärischen Übungszwecken
nichts zu tun haben; das sind Kartenspielen und Rauchen, worin die z. T. erst
dreizehnjährigen Jungen schon eine gewisse Meisterschaft erzielen; sie bringen
so Unsitten mit nach Hause, die dann in der Folgezeit an entlegenen Orten
weitergepflegt werden.
Ein besonders bedenklicher Umstand ist es, daß das ungebundene Lagerleben
eine lebhafte Steigerung des Selbstgefühls und dadurch bedingte ausgelassene
Stimmung zur Folge hat, die die Beteiligten üblen Einflüssen von selten älterer,
sittlich unzuverlässiger Kameraden allzuleicht zugänglich macht. Einzelne
verdorbene Elemente, die sich, wo nicht besonders günstige Verhältnisse obwalten,
wohl an allen höheren Lehranstalten finden, können so die ganze Schar verderben.
Die angedeuteten Gesichtspunkte sind es, die mir vom Standpunkte der
pädagogischen Psychologie aus scheinen hervorgehoben werden zu müssen,
um weiteren Beobachtungen zur Grundlage dienen zu können. Ein abschließen-
des Urteil läßt sich natürlich erst fällen, wenn ein genügender, möglichst sta-
tistisch bearbeiteter Stoff gesammelt worden ist. Zu beachten würde in dieser
Richtung sein, ob sich mit der Beteiligung am Sport nach seinen verschiedenen
Seiten der Anfang einer freien individuellen Betätigung geistiger Interessen,
wie die Übung einer schönen Kunst, selbstgewählte Lektüre, Vertiefung in ein
einzelnes Lehrfach, Sinn für belehrende Unterhaltung und gelegentliche An-
regimgen nebst der Neigung, an das Gesehene oder Gehörte eigene Fragen und
Einwürfe zu knüpfen, vereinigt findet, ob sich Interesse für Sammlungen von
künstlerischem oder wissenschaftlichem Werte u. dgl. m., aber auch die Neigung
erkennen läßt, im Gegensatz zu der oberflächlich zerstreuenden Geselligkeit,
die die gemeinsamen sportlichen Veranstaltungen mit sich bringen, sich gelegent-
lich einer, die innere Verarbeitung der gewonnenen Eindrücke begünstigenden
ruhigen Beschaulichkeit hinzugeben, die die Voraussetzung ebenso sehr für die
Entwicklung schöpferischer Begabung wie für sittliche Selbsteinkehr bildet.
Diese Neigung pflegt sich freilich erst in reiferem Alter herauszustellen. Ihr
wird aber von vornherein der Boden entzogen, wenn die Zöglinge sich in frühen
Jahren gewöhnen, einer Spiel- und Sportsucht nachzuhängen, die sie zu wenig
zur Ruhe und Besinnung gelangen läßt.
Der Ausfall der deutschen Aufsätze auf der obersten Stufe übrigens weist
nach meiner Erfahrung auf eine außerordentlich verflachende Wirkung des
systematisch betriebenen Sports in bezug auf geistiges Leben hin. Und wenn
neuerdings noch ausdrücklich über einen Rückgang der wissenschaftlichen
Lsistungen an den höheren Lehranstalten geklagt wird, so wird zu prüfen sein,
wie weit der an denselben betriebene Sport hierfür verantwortlich zu machen ist.
Natürlich kann ein maßvoll betriebener Sport — die Schule trifft ja übrigens
in dieser Hinsicht durch die Veranstaltung von Turn- und Spielstunden schon
die nötige Fürsorge — nur vorteilhaft in bezug auf die Körperpflege wirken.
Dabei wird aber stets der Überblick über die allgemeine Entwicklung eines
Zöglings im Auge zu behalten sein. Wenn also ein Knabe — um an ein kon-
kretes, einen ausgeprägten Motoriker betreffendes Beispiel anzuknüpfen — infolge
übermäßig ausgedehnter Spiel- und Sportübungen bzw. Wanderungen ein so
200 Der Jugendsport vom Standpunkte der pädagogischen Psychologie.
zappliges Wesen erkennen läßt, daß er, sofern er nicht, wie es im Unterricht und
bei der pflichtmäßigen häuslichen Arbeit geschieht, sich zum Stillhalten genötigt
sieht, kaum imstande ist, eine Viertelstunde ruhig zu sitzen, und nicht die Aus-
dauer zeigt, ein Buch zu Ende zu lesen, so ist es die höchste Zeit, die sportlichen
Übungen abzubrechen oder doch so weit zu beschränken, um der Pflege geistiger
Interessen Raum zu schaffen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Vergleichende Pädagogik. Unter dem Titel : ,,Die Aufgaben einer ver-
gleichenden Pädagogik" habe ich im Januarheft des „Archivs für Pädagogik"
eine Untersuchung über eine wichtige, bisher noch wenig ausgebaute Forschungs-
methode der pädagogischen Wissenschaft veröffentlicht. Die Arbeit, deren we-
sentliche Gedankengänge ich auf Wunsch der Schriftleitung dieser Zeitschrift
hier kurz darstellen will, weist auf folgende Tatsachen hin. In der naturwissen-
schaftlichen Literatur spielt die Vergleichung bereits seit vielen Jahrzehnten
eine ganz hervorragende Rolle, so z. B. in der Physiologie, Anatomie, Ent-
wicklungsgeschichte. Sie ist hier sogar älter als die experimentelle Forschung,
geht aber mit ihr völlig Hand in Hand, so daß gegenwärtig Werke über ver-
gleichende und experimentelle Botanik, Zoologie etc. ziemlich häufig geworden
sind. Auch in der Psychologie hat die Vergleichung bereits allgemeine An-
erkennung gefunden. W, Wundt hat ihren Wert für die Völkerpsychologie
hervorgehoben, und in der englischen und amerikanischen Literatur ist seit
Darwin die ,,comparative psychology" eine durchaus bekannte Erscheinung.
Ist nun bei uns in Deutschland die experimentelle Pädagogik emporgewachsen,
so taucht von selbst die Frage auf, ob für die Lösung der pädagogischen
Probleme sich nicht auch die vergleichende Methode als brauchbar erweisen ließe.
In der Tat wird sich kaum leugnen lassen, daß sie für das Experiment eine recht
wertvolle Ergänzung bieten und die pädagogische Tatsachenforschung wesentlich
bereichern wird. Wie in der Naturwissenschaft das Lehrbuch der vergleichenden
und experimentellen Botanik und Zoologie mit Freude begrüßt worden ist, so
wird sicherlich auch für den Lehrer und Erzieher die Zukunft nicht allzu fern
sein, da ein Lehrbuch der experimentellen und vergleichenden Pädagogik die
Zusammengehörigkeit .beider Forschungsmethoden schon äußerlich zeigt, da
vielleicht gar ein Institut für experimentelle und vergleichende Pädagogik sich
mit der Pflege beider Methoden planmäßig befaßt. Natürlich darf und soll nicht
verkannt werden, daß beide Wege der Forschung ganz bedeutend voneinander
abweichen. Die Eigenart des Experiments besteht darin, einen Vorgang will-
kürlich zu erzeugen und unter beliebig zu verändernde Bedingungen zu stellen.
Die Vergleichung vermag dies nicht, sie kann sich nur an die empirisch klar er-
kennbare Tatsache halten und das, was tatsächlich schon vorhanden ist, durch-
forschen und untersuchen. Doch liegt schließlich gerade darin, daß sie einen
Vorgang nicht beeinflußt, sondern bloß anschaut und beobachtet, ein nicht zu
unterschätzender Vorteil für die wissenschaftliche Erkenntnis. Außerdem hat
das Experiment eine natürliche Grenze; Erscheinungen, die der Vergangenheit
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 201
angehören und eben als vergangene betrachtet werden sollen, sind ihm nicht mehr
zugänglich; hier muß die historische Methode als unentbehrlicher Bestandteil
der vergleichenden Forschung ' einsetzen und dem Experiment, das nur mit
lebenden Wesen der Gegenwart arbeiten kann, zu Hilfe eilen. Als Tatsachen-
methode kann sich also die vergleichende Methode nur insoweit an die Erziehung
heranwagen, als diese im Einzelfall vollendete Tatsache ist ; mit anderen Worten :
Sie ist zunächst nicht ein Hilfsmittel der praktischen, d. h. auf die nächste Zu-
kunft gerichteten Pädagogik, sondern der empirischen Pädagogik. Hier aber
eröffnet sie dem Forscher ein außerordentlich weites und fruchtbares Feld der
Betätigung. Sie stellt das Kind der Gegenwart, soweit es unter erziehlichen Ein-
flüssen steht, dem Kinde früherer Generationen und Jahrhunderte gegenüber,
zieht also die historische Pädagogik für die Zwecke der Erkenntnis heran. Die
Biographien des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit versprechen hier
reiche Ausbeute; besonders reich an Lebensbeschreibungen und persönlichen
Jugenderinnerungen ist ja auch das 18. Jahrhundert. Die Vergleichung setzt
weiterhin räumlich voneinander weit entfernte Individuen zu einander in Be-
ziehung, indem sie das Kind unserer hohen Kultur, soweit es erzogen wird, dem
Kinde anderer Kulturen, so dem Japaner-, Indianer- und Negerkinde gegenüber-
stellt; sie bedarf mithin der ethnologischen Pädagogik. Dieser Zweig ist
gegenwärtig leider recht wenig fruchtbar ; die Engländer sind uns vorläufig noch
voraus, in der deutschen Literatur finden wir im allgemeinen nur gelegentliche
Hinweise und kurze Bemerkungen unserer Ethnologen, die von den Pädagogen
nicht weiter beachtet werden. Und doch ist das wenige, was wir über die Er-
ziehung der Naturvölkerkinder, über ihre Sprache, ihr Spielen und Arbeiten
wissen, für die allgemeine pädagogische Erkenntnis höchst lehrreich und spornt
zu weiteren Nachforschungen an. Der Vergleich ist schließlich auch möglich
für die verschiedenen Bedingungen, unter denen das Kind imserer Gegenwarts-
kultur aufwächst und die Bildung rezipiert. Die komparative Forschung kann
ihre Aufmerksamkeit lenken auf das sozial höher stehende und das sozial tiefer
stehende Kind, auf den normalen und den abnormalen Zögling, schließlich auch
auf die verschiedenen Veranlagungsmöglichkeiten bei dem normalen Individuum.
Die Vergleichung vermag also auch das Material der pädagogischen Sozio-
logie, Pathologie und Psychologie gewinnbringend zu verwerten und zwar
in dem Sinne, daß sich durch die Heranziehung aller Spezialgebiete der empirischen
Pädagogik wertvolle allgemeingiltige Tatsachen und Gesetze als Forschungs-
ergebnisse gewinnen lassen, die dann zuletzt für die praktische Pädagogik von
erheblicher Bedeutung sein müssen. Sicherlich wird sich dann hinsichtlich der
Bildungsziele und -methoden manche neue wichtige Erkenntnis gewinnen lassen;
lassen sich doch selbst über die Organisation des Erziehungswesens in den ver-
I hiedenen Kulturstaaten vergleichende Untersuchungen anstellen, die den
Blick für das nationale Bildungswesen zweifellos klären und schärfen müssen.
Noch fehlt es freilich sehr an Vergleichsmaterial. Infolge unseres allzusehr auf
die Bedürfnisse der praktischen Erziehung gerichteten Interesses läßt die Pflege
der empirischen Pädagogik noch viel zu wünschen übrig, und es wird erst der
planmäßigen Organisation der Forscherarbeit bedürfen, um dieses Tatsachen-
material herbeizuschaffen. In den bereits bestehenden Sammlungen von päda-
gogischen Beobachtungen, von freien Kinderzeichnungen und -aufsätzcn, in
202
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Kriminalakten etc., liegen ja bereits verheißungsvolle Ansätze vor. Welche Pro-
bleme sich mit Hilfe solchen Materials lösen lassen' werden, versuche ich in
meiner Arbeit eingehender nachzuweisen. Ich versuche den Nachweis zu erbringen,
,daß der vergleichenden Pädagogik eine vierfache Bedeutung beizumessen ist:
Sie ersetzt 1. den philosophischen Ausgangspunkt der bisherigen Pädagogik
durch einen empirisch-wissenschaftlichen Ausgangspunkt; sie erweitert 2. den
Bereich der pädagogischen Forschung durch die Trennung der Kulturentwicklung
des Kindes von der Kinderpsychologie; sie erweitert 3. das Gebiet der päda-
gogischen Untersuchung durch die Erforschung der Bildungsziele; sie ergänzt
4. das pädagogische Experiment auf dem Gebiete der Erziehungsmethoden und
Bildungsmittel'.
Leipzig. * Johannes Kretzschmar.
Gegen die „Warnung vor den Übergriffen der Jugend-Psychoanalyse«, die
von Vertretern der wissenschaftlichen Jugendkunde auf dem Breslauer Kongreß
des Bundes für Schulreform abgefaßt, unterzeichnet und veröffentlicht wurde,
hat eine Reihe von Pädagogen, zumeist in der Schweiz tätig, eine ,, Verwahrung"
eingelegt. Beide Erklärungen seien nebeneinandergestellt, um erkennen zu
lassen, wie die Entgegnung sich gegen Einwände verwahrt, die in Breslau nicht
erhoben oder auch nur angedeutet worden sind, und wie dabei leichten Sinnes
und unbedenklich den Unterzeichnern der ,, Warnung" — es sind darunter
Führer der jugendkundlichen Forschung und der pädagogischen Bewegung —
eine unzulängliche Orientierung über die Fragen, zu denen sie Stellung genommen
haben, vorgeworfen wird.
Eine Verwahrung gegen irrtüm-
liche Beurteilung der Jugend-
Psychanalyse.
Die unterzeichneten Pädagogen er-
klären gegenüber der auf irrtümlichen und
einseitigen Annahmen beruhenden in
Breslau beschlossenen „Warnung vor den
Übergriffen der Jugend- Psychanalyse" :
1. Mit den beiden Hauptsätzen der Er-
klärung sind vsdr einverstanden. Wir be-
trachten die psychanalytische Methode
von jeher lediglich als eine Methode neben
anderen und verwerfen ihre direkte An-
wendung am normalen Kinde, sofern
sie zu einer ,, Entharmlosung" (Stern)
führen kann.
2. Dagegen halten wir eine vorsichtig
angewendete Psychanalyse gewisser
kranker Kinder durch den taktvollen und
kundigen Arzt oder unter seiner Leitung
durch den besonders ausgebildeten Er-
zieher für ein höchst wertvolles Mittel
zur Heilimg und ,, Verharmlosung", zu-
mal wo ein Kind unter bewußten oder un-
bewußten häßlichen Vorstellungen be-
reits leidet; vor dilettantischer Kinder-
analyse ist zu warnen.
Erklärung.
Die unterzeichneten MitgUeder der
Sektion für Jugendkunde im Bunde für
Schulreform halten es für ihre Pflicht,
die Freunde der Jugend und die pädago-
gische Welt auf die Gefahren hinzuweisen,
die aus der neuerdings versuchten An-
wendung der psychoanalytischen Me-
thode auf Kinder und Jugendliche ent-
stehen.
Ohne zu der wissenschaftlichen Be-
deutimg der psychoanalytischen Grund-
gedanken und zu der therapeutischen
Anwendung der Methode auf Erwachsene
Stellung zu nehmen, erklären die Unter-
zeichneten :
1. Die Behauptung, daß die psycho-
analytische Methode die bisherige Kinder-
forschung als irrig erweise und daß erst
durch sie die einzig wissenschaftliche
Kindespsychologie möglich geworden sei,
ist tmgerechtfertigt.
2. Die Freigabe der psychoana-
lytischen Methode zur Anwendving
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
203
in der Praxis der normalen Er-
ziehung ist verwerflich. Denn das
Psychoanalysieren kann zu einer i dauern-
den psychischen Infektion des Betroffe-
nen mit verfrüliten Sexualvorstellungen
und -gefühlen und somit zu einer „Ent-
harmlosung" führen, die eine schwere
Gefahr für unsere Jugend darstellt. Die
etwaigen von den Psychoanalytikern
behaupteten Erziehungserfolge der Me-
thode stehen in keinem Verhältnis zu
dem verheerenden Scheiden, der durch
sie in der unentwickelten Seele ange-
richtet wird.
Dr. G. Anschütz, Privatdozent, Ham-
burg; Dr. Gertrud Bäumer, Berlin; Dr.
Otto Bobertag, Kleinglienicke ; Dr. Max
Brahn, Privatdozent, Leipzig; Dr. Fritz
Chotzen, Oberarzt an der städtischen
Irrenanstalt, Breslau; Dr. Jonas Cohn,
Universitätsprofessor, Freiburg; Dr. Th.
Elsenhans, Hochschulprofessor, Dresden;
Dr. Aloys Fischer, Privatdozent, Mün-
chen; P. Hoff mann, Volksschullehrer,
Breslau; E. Hylla, Volksschullelirer,
Breslau; Dr. H. Keller, Oberlehrer, Chem-
nitz; O. Kosog, Mittelschullehrer, Bres-
lau; Dr. Otto Lipmann, Kleinglienicke;
Dr. W. Matz, Breslau; W. J. Ruttmann,
Sominarlehrer, Marktsteft; O. Scheibner,
Seminaroberlehrer, Leipzig; Dr. H.
Scheifler, Oberlehrer, Görlitz; Dr. W.
Stern, Universitätsprofessor, Breslau ; Dr.
Th. Valentiner, Oberlehrer, Bremen.
Der obigen Erklärung schließen sich an :
Carl Götze, Volksschullehrer, Ham-
burg; Dr. J. Hacks, Stadtschulrat, Bres-
lau; Dr. G. Kerschensteiner, Oborstudien-
rat, München; Marie Klug, Direktorin,
Breslau; Dr. Rudolf Lehmann, Hoch-
schulprofessor, Posen; H. Th. Matth.
Meyer, Schulinspektor, Hamburg; K.
Möller, Turninspoktor, Altona; Schulrat
K. Muthesius, Seminardirektor, Weimar;
Dr. Neuendorff, Oberrealschuldiroktor,
Mühlheim; Prof. Dr. Rehkuh, Stadt-
schulrat, Braunschweig; Clara Stern,
Breslau; Prof. Dr. K. Umlauf, Seminar-
direktor, Hamburg,
Breslau, am 6. Oktober 1913.
3. Die Pädagogik hat ein starkes Inter-
esse an der Ausbildung der wissenschaft-
lichen Pädanalyse, sofern die an kranken
Kindern tmd Jugendlichen, sowie an Er-
wachsenen gewonnenen Analysen wich-
tige Rückschlüsse auf die psychologischen
Vorgänge und die pädagogische Beein-
flussung normaler Kinder zulassen.
4. Die Unterzeichner der Breslauer Er-
klärung kennen nur die eine Seite der
Psychanalyse: die Untersuchung und
Aiifdeckung der Sexualität. Wir sehen
jedoch in der Psycho- Analyse, der Be-
deutung des Wortes entsprechend, nicht
nur dies. Denn wir sind überzeugt, daß
auch diejenigen Kräfte des unbewußten
Seelenlebens zu erkennen sind, die den
Menschen seiner höchsten Bestimmung
zuführen. Somit wird die Psychanalyse
ganz besonders auch bewußt zu machen
haben, welche unbewußten Hemmtmgen
zu beseitigen und welche persönlichen
Lebensaufgaben zu erfüllen sind. In
wissenschaftlicher Hinsicht soll die Päd-
analyse denjenigen Interpretationen den
Vorzug geben, die den Normen der In-
duktion entsprechen.
H. Baur, Pfarrer in Basel; G. Blatt-
mann, Lehrer in Luino (Italia) ; Univer-
sitätsprof . Dr. P. Bovet, Dir. d. „Ecole des
Sciences de l'Education", Genf; Prof. Dr.
med. E. Claparöde, Red. d. ,,Archives de
Psychologie", Genf; E. Etter, Pfarrer in
Rorschach; Th. Flournoy, Univers.-Prof .
d. Psych., Genf; U. Heller, Pfarrer a. D.,
Dir. d. Knabeninstit. Rorschach; R. Heu-
ßer, Lehrer in Zürich ; Adolf Keller, Pf eirrer
in Zürich; Prof. Dr.W. Klinke, Seminarl.
f. Pädag., Zürich; Ernst Linde, Lehrer u.
Schriftleiter, Gotha; A.Lüthi, Seminarl.
f. Päd., Küsnacht ;Dr. phil. O. Mesendieck,
Lehrer a. Sanatorium Dr. Bircher, Zürich ;
Prof. Dr.O.Messmer, Seminarl. f. Päd., Ror-
schach ; J. Niedermann, päd.Leiter d. ärztl.
Landeserziehungsheims Breitenstein, Er-
matingen; Ad. Pf ister, Lehrer in Zürich ;
Dr. phil. O. Pfister, Pfarrer u. Seminarl.,
Zürich ; Dr.F.Pinkus, Schrif tleit. d.Ztschr.
f. Jugenderziehung U.Jugendfürsorge, Zü-
rich ; Dr. E. Schneider, Dir. d. kant. Ober-
seminars, Bern; Dr. phil. E. Sokolnicka,
Zürich ; J. Stelzor, Sekundarlehror, Meilen ;
H. Steiger, Sekimdarlehrer, Zürich; A.
Waldburger, Irronhausgeistlicher, Ragaz.
Eine Ausstellung der pädagogischen Fachpresse der Welt wird zum ersten
Male auf der diesjährigen „Intern. Ausstelhmg für Buchgewerbe und Graphik"
204 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
in Leipzig innerhalb der Abteilung „Scbule und Buchgewerbe" versucht werden.
Wenn man bedenkt, daß allein die pädagogische Presse deutscher Zunge gegen
450 Zeitschriften der verschiedensten Art aufweist, so darf man wohl erwarten,
daß bei Berücksichtigung des gesamten Auslandes eine sehr interessante und
lehrreiche Veranstaltung zustande kommt. Um auch den historischen Gesichts-
punkt zu berücksichtigen, werden aus der Entwickelung der pädagogischen
Fachpresse charakteristische Beispiele in Originalen und Reproduktionen dar-
geboten werden. Dabei wird Bedacht darauf genommen werden, solche Nummern
auszustellen, die historisch bedeutsame Aufsätze, Reden und Beiträge hervor-
ragender Pädagogen der Vergangenheit enthalten. Eingehend wird dann die
internationale Fachpresse der Gegenwart zur Darstellung kommen. Im be-
sonderen soll an einzelnen Gruppierungen gezeigt werden, in welch weitgehender
Weise die pädagogische Fachpresse differenziert ist: Zeitschriften, die speziell
der weiblichen Bildung dienen, den Arbeitsschulgedanken vertreten, sich in den
Dienst eines einzelnen Unterrichtsfaches stellen usw., werden zusammengestellt
werden. Soweit die pädagogische Fachpresse des Auslandes zu erreichen ist,
wird sie nach Ländern geordnet ausgestellt werden. Li Tabellen, Veranschau-
lichungen und Abbildungen wird versucht werden, eine Statistik der päda-
gogischen Presse zu geben in bezug auf Umfang, Gliederung, Verbreitung, Ent-
wickelung u. dgl. m. Schließlich wird die Literatur ausgestellt werden, die sich
mit der pädagogischen Presse befaßt, sei es historisch, bibliographisch oder in
anderer Weise. Mitarbeit, Zusendung von Einzelnummern und anderem Ma-
terial, besonders der Nachweis von ausländischen pädagogischen Zeitschriften
nach Titel und Erscheinungsort, ist sehr erwünscht. Die Leitung und Ausge-
staltung der Gruppe ist dem Lehrer und Redakteur Max Döring in Leipzig-Li.,
Uhlandstr. 29, übertragen worden.
Die erste Einzelerinnerung ist von Prof. Dr. W. KammeP) zum Gegen-
stand einer sehr gründlichen Untersuchung gemacht worden. Er bearbeitete
die 334 Niederschriften, die er nach einer vorsichtigen Arbeitsanweisung von
Realschülern erlangte, unter den verschiedensten Gesichtspunkten und er-
hielt dabei u. a. die folgenden Ergebnisse.
L Das der ersten Einzelerinnerung unserer Versuchspersonen zugrunde liegende
Ereignis oder Ding ist nur relativ als „bedeutend" zu bezeichnen; für Kinder
können ganz belanglose Vorkommnisse und Gegenstände große Bedeutung haben.
2. Die Außenwelt beschäftigte unsere Versuchspersonen, als sie noch kleine
Kinder waren, mehr ajs ihre eigene Person.
3. Der Erinnerungsinhalt muß nicht stets von sehr kurzer Dauer sein ; er kann
sich über Stunden, Tage und sogar Wochen erstrecken.
4. Die früheste erste Einzelerinnerung unserer Versuchspersonen datiert aus
dem zweiten, die späteste aus dem neunten Lebensjahre, das Durchschnitts-
alter aller Erinnerungen fällt gegen das Ende des vierten Jahres. In die Zeit
vor der Geschlechtsreife fallen in das zweite und dritte Lebensjahr relativ nicht
so viele Einzelerinnerungen wie während und nach derselben.
^) Vgl. Kammel, Die erste Einzelerinnerving. Leipzig 1913. Verlag Quelle u.
Meyer.
Kleine Beiträge und Mitteiliingen. 205
5. Unter den Sinnestypen ist der visuelle Typus am stärksten vertreten.
6. Die Ereignisse, welche deii 168 Schüleraufzeiclinungen mit einer Äußerung
des Gemütslebens zugrunde liegen, sind in der Mehrzahl von den Kindern als
erregende Tatsachen aufgefaßt worden.
7. Unter diesen 168 gemütsbetonten Elaboraten sind die unangenehmen Ge-
mütszustände zahlreicher als die angenehmen. Während des zweiten mid dritten
Lebensjahres ist die Anzahl der Einzelerinnerungen mit einer Äußerung des
Gremütslebens vor dem Eintritte der Greschlechtsreife bedeutend geringer als
während und nach derselben.
Eine Elternbelehrung über die Versuchsklassen im Elementarunterrichte
hat in gemeinverständlicher Form der Preßausschuß des Dresdner Lehrervereins
abgefaßt und verbreitet; sie lautet:
Arbeit oder Spielerei?
In verschiedenen Orten Deutschlands hat man Versuchsklassen einge-
richtet, in denen die kleinen Schulneulinge im Sinne der ,, Arbeitsschule" unter-
richtet werden. Die Kinder müssen nicht gleich, lesen und schreiben, sondern sie
werden vor allem mit Malen, Zeichnen, Formen, Ausschneiden, Papierfalten und
Stäbchenlegen, mit dem Erzählen von Geschichten, mit dem Lernen von Kinder-
reimen und Kinder] iedchen beschäftigt; sie betrachten Bilder, sie spielen im
Schulhofe, bauen im Sande, verrichten kleine Arbeiten im Schulgarten und
haben auch sonst viel Unterricht im Freien.
Nun hört man nicht selten das Urteil: das alles ist weiter nichts als ein Zu-
geständnis der Pädagogik an die moderne Humanitätsduselei, diese Art des
Unterrichts ist nicht ernste Arbeit, sondern Spielerei. Wer die ganze
Sache nur von außen her betrachtet, kann auf solche Gedanken wohl kqmmen.
Wer jedoch das Wesen dieses Unterrichtsbetriebes genauer kennt, der weiß, daß
es sich dabei nicht um Spielerei handelt, sondern um allergründlichste Lern-
arbeit.
Alle Grundvorstellungen, Grundbegriffe und Grundfertigkeiten des Sprechens,
Singens, Lesens, Schreibens, Rechnens und Denkens werden dabei gewonnen,
nur auf einem anderen Wege : nicht so wie früher, wo Wort und Bild den ganzen
Unterricht beherrschten, sondern durch steten Umgang mit den Dingen
selbst. Die Dinge werden angeschaut, begriffen, benannt, beschrieben, gemalt,
geformt, zerlegt, zusammengesetzt, aneinandergereiht, geteilt, gezählt, verviel-
fältigt und auf alle mögliche Art verwertet und verwendet. Am Ende des zweiten
oder dritten Jahres ist man an demselben Ziele wie früher. Das Kind lernt viel-
leicht nicht so viel auf einmal wie bisher, vielleicht auch nicht so rasch, dafür
aber gründlicher und vor allem natürlicher und kindlicher. Der größte
Teil der Kenntnisse ist nicht äußerlich angelernt, sondern durch eigenes Be-
obachten, Untersuchen und Darstellen tatsächlich erlebt, erfahren, er-
arbeitet. Obwohl sich die Versuche mit diesem ,, schaffenden Lernen" erst
über wenige Jahre erstrecken, ist doch schon deutlich erkennbar, daß das Ver-
hältnis zwischen Lehrern und Schülern viel vertraulicher ist, daß sich die Kinder
durchschnittlich besser entwickeln und die Zahl der Sitzenbleiber auffällig
zurückgeht.
206 Kleine Beiträge tind Mitteilungen.
Auch in anderer Beziehung ist dieser neue Elementarunterricht von größter
Bedeutung für das Kind. Bisher war der Übergang vom Spiel zur Schularbeit,
von der größten Beweglichkeit des Körpers und Geistes zum Stillsitzen, zum
Aufmerken und Zuhören, vom Umgang mit lebendigen Dingen zur Beschäftigung
mit toten Zahlen, Buchstaben, Begriffen und schweren Sprüchen viel zu un-
natürlich, zu sprunghaft, zu unvermittelt. Und das schadete vielen Kindern
nicht selten an der Gesundheit; Störungen in Ernährung, Blutumlauf, Wachs-
tum, Schlaf und Nerventätigkeit traten auf. Die Arbeitsschule stellt den
natürlichen Übergang vom freien Spiel zu geregelter Arbeit her
durch engste Anknüpfung des Unterrichts an die bisherige Lebens-, Anschau-
ungs- und Denkweise des Kindes. Und so wird sich die Arbeitsschule nicht bloß
für die geistige Entwicklung, sondern auch für die körperliche Gesundheit des
Kindes als ein segensreicher Fortschritt erweisen.
Literaturbericht.
Schriften zur Soziologie der Kultur. Herg. von Alfred Weber, Heidel-
berg. Verlegt bei Eugen Diederichs, Jena.
I. Band. Hans Staudinger: Individuum und Gemeinschaft in der Kultiu*-
organisation des Vereins. 1. Teil: Formen imd Schichten, dargestellt am Werdegang
der musikalisch-geselligen Organisation. 2. Teil: Schichten und Welten heutiger
Zeit. 1913. VIu. 173 S., br. 3,50 M., geb. 4,70 M.
n. Band. P. A. Glasen: Der Salutismus. Eine sozialwissenschaftliche Mo-
nographie über General Booth und seine Heilsarmee. 1913. XX u. 329 S., br.
4,50 M., geb. 5,70 M.
III. Band. Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kinounter-
nehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. 1914. 102 S., br. 2,50 M.,
geb. 3,50 M.
Wenn ich diese Schriften zur Soziologie der Kultur in einer pädagogischen Zeit-
schrift anzeige tmd bespreche, so möchte ich damit der Ansicht Ausdruck geben,
daß eine Kenntnisnahme dieser Schriften vom Standpunkt des Erziehers aus sehr
wünschenswert ist. Sicherlich geht die Absicht dieser Sammlung nicht auf Unter-
suchungen, die unmittelbar pädagogische Einsichten liefern, aber unter zwei Gesichts-
punkten sind diese Bände doch für den Erzieher von Wichtigkeit. Einmal nämlich
fallen tatsächlich in allen drei Schriften bedeutsame Einsichten pädagogischer Art
ab für denjenigen, der sie zu finden weiß. So finden wir im ersten Bande eine Analyse
der Arbeitersphäre, die demjenigen, der sich erzieherisch mit Kindern dieser Schicht
zu befassen hat, nicht miwichtige Aufschlüsse geben wird. Wir finden im zweiten
Bande eine Untersuchung über die Gründe des Erfolges der Heilsarmee, und aus der
von ihr angewandten Methode ergeben sich wieder pädagogische Einsichten ; und der
Kinematograph endlich ist in der Gegenwart so sehr ein pädagogisches Problem,
daß es keines besonderen Hinweises auf die Wichtigkeit dieser Schrift für den an
erzieherischen Fragen Interessierten bedarf. Der wichtigere Gesichtspunkt aber
scheint mir der zweite zu sein, auf den ich jetzt hinweisen will. Denn daß sich un-
mittelbare pädagogische Lehren in diesen Schriften finden ist ein Zufall der Thema-
wahl. Es werden sicher auch Bände folgen, die solche Einsichten nicht bringen.
Was aber allen diesen Schriften gemeinsam sein wird, das ist, daß sie Licht ver-
breiten über diejenigen Gebilde, mit denen sich jeder Mensch in seinem Leben aus-
einanderzusetzen hat. Und wenn man die Pädagogik nicht nur unter dem Gesichts-
punkt der Schulpädagogik treibt, so ist es wohl eine ihrer wesentlichen Aufgaben,
selbst zu den Kulturfaktoren der Zeit Stellung zu nehmen und den Zöglingen eine
Literaturbericht. 207
solche Stellungnahme zu ermöglichen. iVIindestens so wichtig wie die Kenntnis der
pädagogischen Methoden ist das Wissen um die Ziele der Erziehung, iind zu einer
begründeten Stellungnahme in diesen Fragen können uns die vorliegenden Schriften
verhelfen. Gleich der erste Band hat es mit einem Thema zu tvm, das von sehr we-
sentlicher Bedeuttmg ist für alle Erziehung. Welche Stellung kommt dem Individuum
der Gemeinschaft gegenüber zu ? Der Verfasser vertritt den Standpunkt, daß die
Kultur des Individualismus nur eine vorübergehende ist, die den Todeskeim in sich
trägt und wieder abgelöst werden wird von einer Kultvu", in der die Gemeinschaft den
Einzelnen mit seinem ganzen Denken und Trachten umfassen wird. Am zweiten
Bande erscheint mir das Wichtigste und Interessanteste die eigentliche Verbtmden-
heit von Religion und sozialer Wirksamkeit in der Heilsarmee. Diese Verbindung ist
ja nicht selten, aber in dieser Organisation hat sie eine Ausprägung erhalten, die
gewiß nicht alltäghch ist. Glasen versteht es auch, seiner Darstellung eine Lebendig-
keit zu geben, die die Lektüre dieses Buches zu einem besonderen Genuß macht.
Erstaunlich ist dabei seine weitgehende Belesenheit auf dem Gebiet des Salutismus,
die nicht nur aus dem Literaturverzeichnis hervorgeht, sondern auch dem Text zugute
gekommen ist. Zu einem begründeten Urteil über die Heilsarmee berechtigt ihn wohl
besonders der Umstand, daß er Gelegenheit gehabt hat, nicht nur persönUch an den
Veranstaltungen der Armee teilzunehmen und ihre Einrichttingen zu besuchen,
sondern auch in der Uniform eines Heilsarmeeoffiziers an den Streifzügen teilzu-
nehmen, die diese Pioniere der Barmherzigkeit in Gegenden und Häuser führt, die
der nicht zu den Verbrecherkreisen zählende Mensch sonst ängstlich vermeidet.
Hier hat er Gelegenheit gehabt, an Ort und Stelle Tätigkeit vmd Wirksamkeit der
Salvation-Army zu studieren.
Die Soziologie des Kinos bringt uns im wesentlichen Aufklärungen über den Zu-
sammenhang des Geschmacks der Kinobesucher und des Programms der Lichtspiel-
theater. Es hat sich gezeigt, daß die Wünsche der Kinobesucher durchaus verschieden
sind. Ziehen bei den einen mehr die Räuberstücke, so sind es bei den anderen die
Asta-Niolsendramen ; es sind aber auch ganz äußerliche Faktoren, die am Kino ge-
schätzt werden. So scheint es, daß der verdunkelte Raiun auf die jüngeren Besucher,
die meistens „in Begleitung" in den Kino gehen, eine nicht geringe Anziehungskraft
ausübt, und auch die mehr oder minder große Bequemlichkeit der Einrichtvmg des
Lichtspieltheaters scheint für den Besuch ausschlaggebend zu sein. Im Großen und
Ganzen liegt die Sache wohl so, daß nur in einem gewissen jugendlichen Draufgänger-
alter, und zwar besonders bei den Knaben, der Kino Selbstzweck ist. Für die älteren
Leute scheint es sich mehr um eine leichte Unterhaltung zu handeln, die sie suchen
imd für die der lüno nur deshalb in Betracht kommt, weil er eben am bequemsten
imd billigsten zugänglich ist.
Auf Einzelheiten kann ich hier nicht weiter eingehen. Aber die Wichtigkeit des
ganzen Unternehmens möchte ich noch einmal betonen, das Untersuchungen bringt,
an denen niemand gleichgültig vorübergehen darf, der eine selbständige Stelhmg zu
den Kulturerscheinungen xmserer Zeit sucht, am wenigsten also der Pädagoge, der
sogar andere zu einer solchen Stollvmgnahme befähigen will.
]\Tr;n(hon. Dr. Werner Bloch
Ladislaus Nagy, Psychologie des kindlichen Interesses, Übersetzung aus dem
Ungarischen. Pädag. Monographien, Bd. IX. L. 1912. IV u. 191 S. Preis geh.
5,80 M., geb. 7,30 M.
Der Verf. vmtorsxicht den Begriff des Interesses nach seinem Wesen und seiner
Bedeutung für die Erziehung und den Unterricht und handelt so nacheinander
1) über Theorie des Interesses; 2) Entwicklung des Interesses nach ihren besonderen
Stufen; 3) Motive des Interesses; 4) da« Interesse des Kindes und der Unterricht,
6) die Individualität des Kindes und das Interesse.
Von den auf gründlichen Studien und reicher praktischer Erfahrung beruhen-
den Atisführungen kommt \mtor dem Gesichtspunkt der pädagogischen Psychologie
hauptsächlich der erste Abschnitt in Betracht, in dem der Verf. den Begriff des Inter-
esses festzustellen sucht. Nach einem geschichtlichen Überblick über die diesen
208 Literaturbericht.
Begriff betreffenden Theorien (ältere Pädagogen, Kant, Herbart, Rein, Kern, Oster-
raann, Fehneri, Claparede, Alexander Peres) bietet er eine eigene zusammenfassende
Definition des Interesses.
Als grundlegend bezeichnet er für den Begriff des Interesses nicht die darin
enthaltenen Vorstellungs- und Willenselemente, sondern (nach dem Vorgange von
Ostermann) das Gefühl, in dem die unmittelbare Offenbarung der Energie
geistigen Lebens zu erkennen ist. Genauer gesagt, kennzeichnet dies Gefühl sich
dadurch, daß es mit dem Selbstbewußtsein innerhch verknüpft erscheint. „Von all
dem, was uns interessiert, fühlen wir, daß es mit unserem Ich aufs innigste verbunden
ist." Biologisch (nach Claparede) ausgedrückt, läßt sich dieser innere Zusammen-
hang als durch eine Bedürfnisempfindung bedingt erklären. Im Unterschiede von
andern qualitativen Gefühlen charakterisiert sich das Interessegefühl durch die an
dasselbe anknüpfenden Werturteile. Zu dem Gedanken der Wertschätzung
muß aber, wenn er das Gefühl des Interesses begründen soll, das Moment der Kau-
saUtät hinzutreten. ,,Was uns interessiert, halten wir nicht nur für wertvoll, sondern
momentan auch für ursächlich, indem es unser Bedürfnis zu stillen vermag." Und
zwar ist Bedürfnis hier vorzugsweise im geistigen Sinne zu verstehen, im Sinne der
Bereicherung unseres Selbstbewußtseins.
Es fragt sich mm, wie das Verhältnis des so bestimmten Interesses zvmi Willen
zu denken ist. Die Wirkung auf denselben kann sich in zwiefacher Richt\ing äußern,
in einer äußeren vmd inneren Betätigung. Je nachdem imterscheidet der Verf. eine
aktive (praktische ?) und eine geistige (theoretische ?) Form des Interesses. Letztere,
die für uns vornehmlich in Frage kommt, bekundet sich darin, daß ,,die während
des Interesses entspringenden Empfindungen, Vorstellungen und Vorstellungsver-
knüpfungen auf eine möglichst hohe Stufe der Klarheit hinanstreben". Weiter wird
eine unmittelbare und mittelbare Form des Interesses gesondert, von denen die
erstere nach der Lehre des Verf. auf einer äußerlichen, die letztere auf einer inneren
Betätigung beruht.
Als höchste Entwicklungsformen des Bewußtseins werden schUeßlich neben der
ausgebildeten Richtung des Interesses noch der Charakter und der Geist aufgeführt,
ohne daß in dieser Beziehung eine streng methodische Ableitxong versucht wird.
Wir können in der hier gebotenen Darlegung allerdings eine scharfsinnige er-
kenntnistheoretische Erörterung des Begriffs des Interesses erkennen, indem dieser
Begriff nach seinem gesamten Inhalte klargestellt wird. Es fragt sich indessen, wie
alle die verschiedenen Elemente, die jener Begriff umfaßt, sich zu der einheitlichen
komplexen Bewußtseinserscheinung zusammenschheßen sollen, wie sie das Interesse
als aktuelle Bewußtseinsfunktion doch darstellt. Wie dies zu denken ist, könnte nur
in der Weise nachgewiesen werden, daß wir das Interesse psychologisch aus seinem
Grundfaktor unter Berücksichtigung seiner einzelnen Entwicklungsmomente abzu-
leiten suchen. Dabei müßte auch die Entwicklungslehre, die der Verf. bei der Er-
örterung der verschiedenen den Gegenstand behandelnden Theorien unbeachtet läßt,
mit herangezogen werden. Bei einer derartigen psychologischen Ableitung wird für
uns gerade die Psychologie Wundts in Betracht kommen.
In welcher Richtung sich jedoch eine solche Ableitung zu bewegen hätte, mag
an einer anderen Stelle dargelegt werden.
Heidelberg. A. Hut her.
H. Siercks, Jugendpflege. Leipzig 1913, Sammlung Göschen Nr. 714. 127 S,
Dies Bändchen ist von einem Autor verfaßt, der jalirelang in der Praxis der
Jugendpflege gestanden hat. Es berichtet kurz über die Notwendigkeit der Jugend-
pflege, ihren allgemeinen Charakter und ihre besonderen Aufgaben und ausführlicher
über deren bisherige Lösungsversuche mit besonderer Hervorhebung der Gegenwart.
Das Schriftchen ist eine treffliche Einführung.
Leipzig. Johannes Kühnel.
"LO^
Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und ihr Zusammenhang
mit der Aufklärung.
Von Ernst v. Aster.
Johann Gottlieb Fichte gehört zu denjenigen Persönlichkeiten, die
für den engen Zusammenhang von Pädagogik und Philosophie bedeutsam
und lehrreich sind. Daß sein Name in der Geschichte der Pädagogik nicht
übergangen werden darf, ist klar, aber ebenso, worin seine Bedeutung für
die Pädagogik liegt und worin sie nicht liegt: Es sind nicht pädagogische
Einzelfragen, Probleme der Didaktik oder der Erziehungskunst, in denen er
Neues und Wichtiges geleistet hätte, sondern es ist ein neues Erziehungs-
ideal, eine neue Fassung des allgemeinen Erziehungsziels, die er seinerzeit
vor Augen stellt und durch die- er der Pädagogik neue und unverlierbare
Gesichtspunkte gegeben hat. Dies Erziehungsideal aber hängt aufs engste
mit seiner Philosophie zusammen; es ist eine unmittelbare Konsequenz
seiner Auffassung von der Bestimmung, der Aufgabe des Menschen, der
Stellung der Persönlichkeit zur Umwelt, zur Welt der Objekte und Mit-
menschen. Es ist die neue Ansicht vom Wesen der Persönlichkeit und ihrem
Verhältnis zur Gesellschaft, die das neue Erziehungsideal in sich schließt;
der Umschwung in der philosophischen Weltansicht, der der Pädagogik
ihren neuen Gesichtspunkt gibt.
Damit ist freilich nicht gesagt, daß Fichte der alleinige Urheber dieses
Umsch^vungs in philosophischer und pädagogischer Hinsicht ist — in beiden
Hinsichten haben wü* mit ihm zusammen vor allen Dingen Kant, in letz-
terer, um nur einen zu erwähnen, auch Pestalozzi zu nennen. Aber die
neue Auffassung von Individuum und Gesellschaft und das neue Erziohungs-
ideal findet m. M. n. nirgends so scharf und klar umrissen ihre begriffliche
Formulierung als bei Fichte.
Das wesentlich Neue der Fichteschen Anschauung vom Wesen und der
Aufgabe der Persönlichkeit nun tritt am deutlichsten zutage, wenn wir sie
mit derjenigen der vorausgegangenen Periode, also mit der Philosophie der
Aufklärung vergleichen, wenn wir sie uns in ihrem Gegensatz zur Auf-
klärung vergegenwärtigen. Die Art, wie Fichte selbst die Aufklärung und
sein Verhältnis zu ihr ansieht, zeigt bekanntlich eine merkwürdige Wand-
lung. In seinen Jugendschriften — in den Schriften zur Verteidigung und
Verherrlichung der französischen Revolution etwa — sieht Fichte in der
Aufklärung durcliaus eine wertvolle, erfreuliche Erscheinung. Er steht hier
ganz auf dem Standpunkt, den Kant zeitlebens festgehalten hat: Die Auf-
ZeiUchrift f. p&dagog. Psychologie. 14
210 Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und ihr Zusanunenhang usw.
klärung ist ebenso wie die französische Revolution eines der Zeichen, daß
die Entwicklung der Menschheit im Aufsteigen begriffen ist, daß es einen
historischen Fortschritt gibt; sie ist also selbst eine Epoche, in der der
menschliche Geist einen Schritt aufwärts und vorwärts getan hat. In den
Schriften der Spätzeit — in den ,, Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters"
etwa — wird die Aufklärung zur Zeit des Niederganges, des Tiefstandes
der Entwicklung, zur Zeit der Zerstörung, des Negativismus, zur Zeit der
,, Freiheit im leeren Sinn". Freilich ist auch diese Epoche wie jede Epoche
ein notwendiger Durchgangspunkt der Entwicklung der Menschheit,
aber eben nur als Durchgangspunkt sinnvoll; für sich genommen stellt
die Aufklärung im damaligen Fichteschen Sprachgebrauch den Gegner dar,
den Hauptgegner, gegen den er sich wendet.
Woher dieser merkwürdige Wechsel? Es ist sicher zum Teil der alte
tiefe Gegensatz zwischen Aufklärung und Romantik, der hier aus Fichte
spricht, der Einfluß des Romantiker kreises, unter dem er seit seinem Weg-
gang von Jena steht. Aber es ist sicherlich nicht ausschließlich dieser Ein-
fluß: Er würde nicht in dieser scharfen Form zutage getreten sein, wenn
der Gegensatz nicht latent von Haus aus in der Fichteschen Philosophie
gelegen hätte. Auf der andern Seite aber ist jener anfängliche Anschluß
Fichtes an die Aufklärung auch nicht nur auf eine äußere Einwirkung etwa
Kants oder auf die packende Wirkung der französischen Revolution zurück-
zuführen, sondern er weist darauf hin, daß eben auch — trotz aller späteren
leidenschaftlichen Bekämpfung — gewisse Wurzeln der Fichteschen Philo-
sophie in der Aufklärung stecken. —
Wirft man einen flüchtigen Gesamtblick auf die Art, wie sich für die
Philosophie und Wissenschaft der Aufkläi'ung — ich nehme das Wort hier
zunächst in dem weitesten Sinn, in dem es die im Grunde so einheitlich ver-
laufende ganze philosophische Entwicklung vom Anfang des 17. bis zum
Ende des 18. Jahrhunderts bezeichnet — das staatliche, soziale, gesellschaft-
liche und historische Leben darstellt, so drängt sich ein gemeinsamer cha-
rakteristischer Zug auf: Die Neigung, alle staatlichen, sozialen und gesell-
schaftlichen Gebilde in eine Summe von Individuen aufzulösen. Diese In-
dividuen haben, letzten Endes durch Willkürhandlungen, die staatlichen
Institutionen, die gesellschaftlichen Verbände geschaffen — man denke an
die Theorie des Gesellschafts Vertrages, durch den, letzten Endes aus ver-
standesmäßigen Überlegungen heraus, die Menschen dem ursprünglichen
gesetzlosen Zustand des Kampfes aller gegen alle ein Ende gemacht haben.
Das Ineinandergreifen ihrer Handlungen macht das Ganze der Geschichte
aus, die Geschichte ist nichts anderes als ein Verlauf menschlicher Hand-
lungen, die eben Handlungen einzelner Individuen sind. Diese Individuen
selbst aber sind durchgehend gleichartig, nach demselben Schema gebaut;
ihre Handlungen entspringen überall denselben Motiven, sie sind die überall
gleichartigen Elemente des geistigen Lebens.
Es läßt sich unschwer zeigen, sei jedoch an dieser Stelle nur angedeutet,
daß diese Theorie des gesellschaftlichen und historischen Lebens in der
Aufklärung mit ihrem allgemeinen Erkenntnisideal zusammenhängt. Alles
Erkennen verlangt dem zu erkennenden Gegenstand gegenüber nach der
Fichtes Auffassung vom Erziehiuigsziel und ihr Zusammenliang usw. 211
Auffassung, die man vom Wesen der Erkenntnis hat, zweierlei: Zunächst
ein Zerlegen derselben in seine letzten Elemente, die nicht weiter zerlegbar,
nicht weiter zurückführbar sind (analgetisches Verfahren), und dann ein
Aufbauen des Gebietes aus diesen Elementen, ein Verstehen des Ganzen
aus dem Zusammenwirken seiner letzten klar unterscheidbaren Elemente
(synthetisches Verfahren), Kennen wir die Elemente und ihre Beziehungen
vollständig, so muß es möglich sein, das Ganze ,,klar und deutlich" durch-
schaubar zu machen, alle Verworrenheit aus seiner Auffassung zu entfernen,
seine Eigenschaften so restlos und einsichtig zu erkennen, wie wir die Eigen-
schaften einer Zahl restlos erkennen, indem wir sie als bestimmte Summe
einer Anzahl von Einheiten denken: Die Mathematik ist ja das Vorbild,
das Muster der Klarheit und Deutlichkeit. Das Ganze enthält nicht mehr
als die Summe der Teile: Dieser für die Aufklärung selbstverständliche
Grundsatz enthält im Kern den Gegensatz, der zwischen der Erkenntnis-
theorie der Aufklärung und der dialektischen Methode der Nach- Kantischen
Philosophen besteht. Der Sinn der dialektischen Methode liegt eben darin,
daß sie aus der vorausgesetzten Thesis und Antithesis in der Synthesis ein
Neues, Etwas, das ein Mehr enthält, einsichtig entstehen lassen will.
Aus dieser Auffassung des gesellschaftlichen und historischen Lebens
in der Aufklärung aber ergibt sich nun selbstverständlich eine individua-
listische Ethik. Gibt es im Grunde in Staat, Gesellschaft und Geschichte
nichts weiter als menschliche Individuen, so kann auch der Sinn und Zweck
des Lebens nur im Individuum hegen, in der Ausgestaltung des individuellen
Lebens der einzelnen Persönlichkeit, das die ethische Überlegung daher
auch allein zum Gegenstand der Untersuchung macht. Im wesentlichen
verkörpert sich nun diese individualistische Ethik der Aufklärung in zwei
entgegengesetzten Richtungen. Von der einen Seite wird der Begriff der
Glückseligkeit, der ,, wahren", ,, wirklichen" Glückseligkeit in den Mittel-
punkt gestellt. Als Ziel erscheint ein Leben mit möglichst viel Lust und
wenig Unlust, das Ziel unseres Strebens kann nur Lust und ein Leben mit
möglichst viel Lust, aber nur erfüllt von solcher Lust sein, der keine Unlust,
keine Ernüchterung, keine Reue folgt. Von der andern Seite wird der Be-
griff der Vollkommenheit zum ethischen Grundbegriff gemacht: Das
Ziel des Lebens ist, seine Anlagen möglichst vollkommen zu entwickeln,
ein harmonisches Ganzes aus seinen Motiven, Strebungen, Gefühlen zu
machen. Für beide Formen der Aufklärungsethik, den individualistischen
Eudämonismus und der Vollkommenheitsethik, entsteht nun eine unver-
meidliche t>age: Wenn in dieser Weise das Ziel des Handelns und Wollens
lediglich in das eigene individuelle Leben hineinverlegt wird, kann es dann
Pflichten gegen andere geben ? Die Pflichten gegen andere müssen irgendwie
auf Pflichten des Menschen gegen sich selbst zurückgeführt werden. Diese
Rückführung geschieht zum Teil auf dem Wege plump egoistischer Über-
legung, wie sie etwa in der Idee des Hobbes'schen Staatsvertrages uns ent-
gegentritt: Ich taste Gut und Leben des Andern nicht an, damit er mir
nicht das Gleiche tut; zum Teil in verfeinerter Form auf dem Umweg über
die Sympathie und Mitleidsgcfühlc des Menschen, die so gut wie die egoisti-
schen Triebe nach „Befriedigung" verlangen, deren NichtVerletzung zum
14*
212 Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und ihr Zusammenhang usw.
Glück gehört ; teils endlich durch den G-edanken, daß die erstrebte dauernde
Lust und Vollkommenheit gerade am besten im Zusammenstreben mit
andern erreicht wird. In jedem Fall ist es eine angenommene Harmonie;
der Begriff der Harmonie, des harmonischen Ineinandergreif ens der
elementaren Ursachen ist der zweite durchgehende Grundbegriff der Auf-
klärungsphilosophie neben dem Begriff des Elements — zwischen der Wohl-
fahrt des Einzelnen und der Gesamtheit, die das Problem lösen soll: Wer
für sein eigenes Glück klug und vorsichtig sorgt, wird auch von selbst für
das der andern sorgen, wer für das der Andern eintritt, damit zugleich für
das eigne arbeiten.
Mit alledem sind zugleich die Punkte bezeichnet, in denen sich Fichtes
Kritik hauptsächlich gegen die Aufklärung wendet: Die Ersetzung der
echten Gebote der PfÜcht durch eine egozentrische Klugheitsmoral und
die flach optimistische Auffassung sind es, die er ihr vor allem zum Vor-
wurf macht.
Aber ehe wir zu Fichte selbst übergehen, müssen wir einen Blick auf die
Persönhchkeit werfen, die zwischen Fichte und der Aufklärung in der Mitte
steht und ohne die Fichtes Ethik und ganze Philosophie nicht möglich gewesen
wäre: auf Kant. Kant teilt mit der Aufklärung die Überzeugung, daß nur
die individuelle Persönlichkeit gut sei, d. h. einen unbedingten Wert repräsen-
tiere, End- oder Selbstzweck, anstatt bloßen Mittels sein kann. „Es ist nichts
in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möghch, das ohne Ein-
schränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille."
Tote Dinge oder Einrichtungen und Ordnungen können Mittel zu wertvollen
Zwecken, aber nicht Selbstzwecke, gut wozu, aber nicht gut an sich sein;
ihre Verwirklichung kann in hypothetischen, aber nicht in einem katego-
rischen Imperativ geboten sein. Auf der anderen Seite aber wehrt sich Kant
gegen die Vollkommenheits-, wie gegen die eudämonistische Ethik und setzt
nun an die Stelle des Glücks eligkeits- wie des Vollkommenheitsbegriffes
einen neuen Begriff, um das eigentliche Ziel, das eigentlich Wertvolle der
menschlichen Persönlichkeit zu bezeichnen. Dieser Begriff ist der Begriff
der Freiheit. Freiheit bedeutet hier natürhch nicht Zügellosigkeit oder
Gesetzlosigkeit, sondern Selbstbestimmung, Selbstgesetzgebung, Autono-
mie, Beherrschung der eigenen Strebungen und Handlungen durch feste,
selbst gewollte Grundsätze. Frei also ist diejenige Persönhchkeit, die ihre
einzelnen Handlungen nach allgemein gültigen Grundsätzen reguliert, d. h.
nach solchen Gesetzen, von denen sie will, daß sie allgemein und für jeder-
mann Geltung besäßen, bei der der bloße Umstand, daß sie etwas allgemein,
von jedermann befolgt wissen will, bestimmende Kraft auch für das eigene
Wollen besitzt. Ein bekanntes Kantsches Beispiel kann das verdeutlichen.
Ich bin in Not und kann mir aus dieser Not helfen, indem ich ein Versprechen
gebe (z. B. das Versprechen der Rückgabe eines Darlehns), von dem ich
bestimmt weiß, daß ich es nicht werde halten können. Darf ich ein solches
Versprechen geben? Um diese Frage zu beantworten, richte ich an mich
selbst die Frage, was ich in diesem Fall allgemein will. Nun ist klar, daß,
wenn jeder Behebige ein Versprechen geben würde, gleichgültig, ob er es
halten will oder nicht, es sehr bald keine Versprechen mehr geben würde.
Fichtes Atiffasstmg vom Erziehungsziel und ihr Zusammenhang usw. 213
Ich kann also allgemein nur entweder wollen, daß es überhaupt keine Ver-
sprechen gibt : Dann darf ich, in diesem Fall auch keines geben. Oder daß
derjenige, der ein Versprechen gibt, es auch ehrlich halten will. Bestimme
ich mein Handeln im einzelnen Fall aus einer solchen allgemeinen Überlegung
heraus, dann ist mein "Wollen ein Wollen aus moralischer Selbstgesetzgebung,
ein freies Wollen. Die Freiheit unterscheidet zugleich den Menschen vom
Tier, denn das Wollen des Tieres bleibt stets ein durch den momentanen
Eindruck hervorgerufenes und bestimmtes Begehren (ein Wollen „aus Nei-
gung"). Das Tier besitzt keine Vernunft und damit kein Bewußtsein all-
gemeiner Gesetze. Endlich — und damit verankert sich Kants Ethik in den
letzten prinzipiellen Grundlagen seiner Philosophie überhaupt — ist es die
Freiheit, die Autonomie, die den Menschen, d. h. die selbstbewußte wollende
Persönhchkeit von der Welt der Dinge, von der Natur, das Subjekt vom
Objekt unterscheidet. Die Natur ist ein in sich geschlossener Kausalzu-
sammenhang, d. h. jeder Naturvorgang ist durch die ihm vorausgehenden
Bedingungen eindeutig und unabänderlich bestimmt, ist eine Funktion der
Bedingungskonstellation, unter der er gerade steht, ist abhängig von seiner
raumzeitlichen Umgebung. Hier gibt es nur Kausalität durch Naturnot-
wendigkeit, d. h. Bestimmtsein durch äußere Faktoren, nicht Kausalität
durch Freiheit, d. h. Selbstbestimmung. Indem also der Mensch sich zur
Freiheit erhebt, realisiert er sein von allen Naturdingen innerlich verschie-
denes Wesen.
Der Freiheitsbegriff steht für Fichte von Anfang an im Mittelpunkt der
Kantschen Philosophie, wie er sie betrachtet; sie ist ihm, so lautet eins
seiner ersten Worte über Kant, die erste Philosophie, die ihm die Fi'eiheit
bemesen hat. Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit, von Sub-
jekt und Objekt, Person und Sache, gibt ihm den Gesichtspunkt, unter
dem er die Kantische Philosophie betrachtet. Seine eigene aber soll zunächst
nichts weiter sein, als eine Interpretation und Systematisierung der Lehre
Kants.
Und in der Tat stellt die Fichtesche Freiheitsidee und die auf ihr basierende
Ethik in gewisser Hinsicht die konsequente Fortsetzung der Lehre dar.
In drei verschiedenen Formen kann sich das menschliche Wollen der Welt
der Objekte gegenüberstellen, drei Stufen kann es genauer gesagt ihr gegen-
über durchlaufen. Die unterste Stufe ist die des bloßen Begehrens oder des
Tii( lis, (li< Stufe, auf der der Mensch nur seinem augenblicklichen Be-
dürfnis folgt, dem Begehren, das durch den Reiz des zufällig in seinen Ge-
sichtskreis Irctf'iiden Objekts hervorgerufen wird. Als einziges Lebensziel
kennt er auf dieser Stufe den Genuß; jedes Begehren ist ein Streben nach
Genuß, das, kaum befriodiü-t, oinem neuen Streben Platz macht. Auf dieser
Stufe gibt es offenbar weder Frcilieit noch Persönliclik( ii im eigentlichen
Sinn: !). !■ Mensch ist in s im m Wollen völlig abhängig von dem einzelnen
(Hl), kl ; sein ganzes Lehen erhält seinen Inhalt nur durch das r\u'Av]w' 7,u-
f.illn/ ihm begegnende olijeht. Die zweite Stufe ist die der ,,Willlun", d. h.
d' IIS nach .M,.( ht, n.n h Ih i ischaft. An diu Stelle des bloßen P.e-
•r' ii' I. .echselndcr (im ; sucbuns nnch Genuß, nach Befriedigung
der je\\i lügen Bedürfnis..' , ,,ts eine Zi. 1 (h r lleiTscdialt uln v die Welt
214: Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und ihr Zusanamenhang usw.
der Objekte. Auf dieser Stufe, die sich für Fichte später in der Persönlich-
keit Napoleons gleichsam verkörpert, scheint der Mensch als freie Persön-
lichkeit über dem Objekt zu stehen. Aber in der Tat hat er sich doch nur
vom einzelnen Objekt unabhängig gemacht, nicht vom Objekt, vom Nicht-
Ich als solchem, dessen Besitz, nur dessen unumschränkter Besitz im Ganzen,
nach wie vor den einzigen Inhalt seines Wollens ausmacht. Soll er die dritte
Stufe, die Stufe des wirklich freien Wollens erreichen, so muß er jedes vom
Objekt herkommende Streben, nicht nur die einzelne Begierde nach Genuß,
zu beherrschen imstande sein. So muß er von sich aus auch seinem Streben
nach Besitz, nach Macht Schranken setzen. Diese Schranke aber muß
eine freigesetzte Schranke sein: Also kein Zwang, der dem Wollen von
außenher angetan wird, sondern ein Recht, das der Wollende sich gegen-
über anerkennt. In der Anerkennung also, daß sich in der mich umgebenden
Welt nicht nur Dinge, die zu meinem Genuß und Besitz bestimmt sind,
sondern auch freie und gleichberechtigte Personen befinden, die ich als
solche behandeln muß, besteht das Wesen der freien, aus reiner Selbst-
bestimmung erfolgenden Handlung.
Wie eng im Grunde die Fichteschc Bestimmung mit dem Kantschen Frei-
heitsbegriff zusammenhängt, zeigt Kants zweite Formulierung seines obersten
Sittengesetzes, des kategorischen Imperativs: Handle so, daß „die Mensch-
heit in Dir und Anderen" niemals bloßes Mittel, sondern jederzeit zu-
gleich Zweck und höchster Zweck sei, — was dasselbe besagt: Behandle
jeden Menschen als Person, nicht als Sache, achte in ihm die PersönUchkeit,
die wie Du selbst zur Freiheit bestimmt ist. Freilich erfährt diese erste For-
muherung bei Fichte eine ganz allmähliche Verschiebung: Soll ich die mich
umgebenden Menschen als freie PersönHchkeiten achten und behandeln, so
müssen sie zunächst als solche Persönlichkeiten existieren können ; es müssen
jedem Menschen die Bedingungen einer solchen Existenz, die Bedingungen
eines wirklich menschenwürdigen Daseins, es muß ein Zustand der Gesell-
schaft gegeben sein, der für jeden diese Grundlage seiner Existenz bietet.
Und ich meinesteils habe daher die Pflicht, soviel an mir liegt, dazu beizu-
tragen, daß ein solcher Zustand der Gesellschaft entsteht, ein Staat, in dem
es keinen Notleidenden und keinen Müßiggänger mehr gibt. So wird aus
der Anerkennung des Rechtes der Andern die positive Arbeit für das soziale
Ganze und seine Reform im Sinne des Ideals.
Und nun vergleiche man einen Augenblick dieses Kant-Fichtesche Frei-
heitsideal mit dem Glückseligkeits- und Vollkommenheitsideal der Auf-
klärung. Es wurde schon hervorgehoben, daß die Aufklärungsethik rein
das Individuum für sich ins Auge faßt. Daß das einzelne Individuum in
den Zusammenhang einer Gesellschaft hineingestellt ist, ist für die Auf-
klärungsethik streng genommen etwas durchaus Sekundäres, denn seine
Vollkommenheit und Glückseligkeit muß und kann der Einzelne befördern,
ganz gleichgültig, ob er von Anderen umgeben ist oder nicht. Da es nun
einmal andere Menschen gibt, müssen wir freilich im Interesse unserer eigenen
Glückseligkeit auf sie Rücksicht nehmen, aber daß es sie gibt, ist kein für
die ethische Forderung selbst wesentlicher Umstand. Die Forderung, für
seine Glückseligkeit oder Vollkommenheit zu sorgen, behält auch für Robinson
Fichtes Auffassung vom Erziehungsziel und ihr Zusammenhang usw. 215
auf seiner einsamen Insel vollkommen ihren Sinn. Dagegen fordert die
Fichtesche Freiheitsidee das Dasein fremder Persönlichkeiten ; Freiheit kann
es nur geben, freies Wollen sich nur realisieren, wo der Mensch im Zusammen-
hang der Gesellschaft lebt. Daher „deduziert" Fichte aus dem Sittengesetz
das Dasein anderer Persönlichkeiten als Bedingung der Möglichkeit einer
Freiheit, als Bedingung dafür, daß die Forderung des Sittengesetzes sinnvoll
und erfüllbar ist. Dieser selbe Gegensatz, der uns in der Ethik entgegentritt,
spielt auch in charakteristischer Form in die Pädagogik hinein. Die Klassiker
der Aufklärungspädagogik — ein Locke, ein Rousseau — betrachten mit
einer gewissen Selbstverständlichkeit als Ideal einer Erziehung die Er-
ziehung des einzelnen Schülers durch den einzelnen Hofmeister; die Er-
ziehung in der Schule erscheint ihnen bestenfalls als ein Notbehelf, als ein
notwendiges Übel. Fichte betont, im Verein mit und im Anschluß an Pesta-
lozzi, nichts schäi'fer, als die Notwendigkeit einer Erziehung durch das Ge-
meinschaftsleben, durch die der Zögling vor allen Dingen lernen soll, sich als
Glied einer solchen Gemeinschaft zu fühlen.
Tritt nun in diesen Dingen der Gegensatz zwischen Fichte und der Auf-
klärung deutlich in die Erscheinung, so ruht er doch auf der andern Seite
auf einer gewissen Gemeinsamkeit. Diese gemeinsame Grundlage wird,
scheint mir, am deutlichsten, wenn wir Fichte noch mit einer andern Per-
sönlichkeit aus der Geschichte der Philosophie, diesmal mit einem seiner
Nachfolger, mit Hegel, vergleichen.
Für Hegel ist die individuelle Persönlichkeit in keiner Weise mehr ein
Letztes und Unbedingtes, ein ,, Element" der Gesellschaft und des histo-
rischen Geschehens im Sinn der Aufklärung. Über dem psychischen Indi-
viduum, dem ,, subjektiven Geist", stehen Staat, Recht und Gesellschaft,
der „objektive Geist", steht endlich der Kulturzusammenhang der Mensch-
heit in seinen verschiedenen Manifestationen (Wissenschaft, Kunst, Reli-
gion) als selbständige Gebilde geistiger Natur, die nicht als bloße Produkte
menschlicher Handlungen aufgefaßt und durch die isoliert gedachten Indi-
viduen und ihr Zusammenwirken entstanden gedacht werden können. Sie
haben ihre eigne Geschichte, die als ein einheitlicher Strom aufgefaßt werden
muß, der nach eignen Innern Gesetzen abläuft und sein eignes inneres Leben
führt. Das einzelne Individuum ist vielmehr ein Produkt der geschicht-
lichen und gesellschaftlichen Entwicklung, als daß es sie schafft, weshalb
auch die Individuen nicht, wie in der Aufklärung, als schematisch überall
gleichartige letzte Gebilde vorausgesetzt werden dürfen. Nun schaltet frei-
lich Hegel die Persönlichkeit als historisch wirksamen Faktor nicht ganz
aus; daß große Männer durch die Kraft ilires Wollens das politische Welt-
bild umgestalten können, war für ihn, den Zeitgenossen Napoleons, doch
eine gar zu handgreifliche Tatsache. Aber gerade die Art, wie er das Wirken
dieser MännfT, eines Alexander, Cäsar, Napoleon, in Einklang bringt mit
seiner Lolu-e von der imnianonten Logik der geschichtlichen Entwicklung,
ist bezeichnend für seine Auffassung vom Individuum: in fast mystisch
khugender Wendung führt er aus, daß gleichsam durch diese Persönlich-
keiten hindurch der „Weltgeist" handle, sagt er von dem Anblick Napo-
leons, es sei ein eigentümliches Gefühl gewesen, gewissermaßen „die Welt-
216 Fichtes Auffasstmg vom Erziehungsziel und ihr Zusammenhang usw.
Seele zu Pferde" zu sehen — keineswegs eine bloße Phrase, sondern ein Aus-
druck, der aus dem Zusammenhang des Hegeischen Systems heraus gedacht
ist — und das heißt : daß hier der objektiv notwendige Gang der Geschichte
durch eine bestimmte Persönlichkeit hindurchführt, sich ihrer als Mittel
bedient. So erscheint auch die historisch bedeutende Persönlichkeit nur als
Mittel und Durchgangspunkt der staatlichen und Kulturentwicklung. Es
ist von diesem Gesichtspunkt aus gesehen nur folgerichtig, daß aus der
Hegeischen Schule auch die beiden bedeutendsten Theoretiker des modernen
Sozialismus hervorgegangen sind. Und wenn speziell Marx sich der Wen-
dung bedient, daß die in der Entwicklung des "Wirtschaftslebens wirksamen
Faktoren zu Motiven in der Psyche des Einzelnen werden, so ist hier das
Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen der Geschichte im wesentlichen (vom
Geschichtsmaterialismus freilich abgesehen) durchaus im Sinne Hegels
gedacht.
Damit aber sind wir zugleich bei der Teleologie und der Art, wie sich
Hegel wertend der Persönlichkeit gegenüberstellt. Das Höchste, dasjenige,
in dem die ganze Weltentwicklung gipfelt, ist schließlich das objektive, über-
persönliche Gebilde der einheitlichen Kultur, die sich als einheitlich wachsen-
des Gebilde durch das Bewußtsein der einzelnen Menschen nur hindurch-
zieht, in ihren verschiedenen Formen — der einen Philosophie z. B., die
dieselbe Philosophie nur in verschiedenen Entwicklungsphasen ist, wenn
sie einmal als Platonische, einmal als Kantische, einmal als Hegeische Philo-
sophie erscheint. Die einzelne Persönlichkeit aber ist nur durch das wert-
voll, was sie für die Entwicklung der Staaten und der Kultur leistet —
eine bedeutende Persönlichkeit im letzten und eigentlichen Sinn ist diejenige,
durch die der Gang der historischen Entwicklung sich hindurchzieht.
Es ist unverkennbar, daß durch die Hegeische Welt- und Geschichts-
betrachtung eine Fülle neuer und fruchtbarer Gesichtspunkte erst ermög-
licht wurden, die in ihrer Eigenart am deutlichsten hervortreten, wenn wir
sie mit der Aufklärung wiederum vergleichen. Die Auffassung des Menschen
als eines Milieuprodukts etwa wäre für die Aufklärung mit ihrem überall
gleichartigen abstrakten Menschenschema noch unmöglich gewesen. Vor
allem aber: die Art, wie hier der Einzelne in einen überpersönlichen Zu-
sammenhang hineingestellt, wie ihm eine mehr oder minder große Bedeutung
im Dienst großer welthistorischer Zwecke zugewiesen wird, hat, so sehr
auch (oder vielleicht auch : gerade weil) das Individuum hinter jenen Zwecken
verschwindet, etwas Großzügiges und Befriedigendes gerade gegenüber der
immer etwas flach und kleinlich erscheinenden Klugheitsmoral der Auf-
klärung. Auf der andern Seite aber wird uns die Hegeische Einschätzung
der Persönlichkeit nie voll befriedigen können: es wird sich immer das Ge-
fühl in uns dagegen sträuben, dem Nietzsche so leidenschaftlich Ausdruck
gegeben hat, daß doch der Mensch nicht durch das wertvoll ist, was er leistet,
was er als Erfolg seines Daseins hinterläßt, sondern durch das, was er ist.
Stellen wir nun Fichte in die Mitte zwischen Hegel und die Aufklärung,
so erscheint uns seine Freiheitslehre als der Versuch einer Synthese zwischen
beiden Gedankenreihen. Mit der Aufklärung und mit Kant sieht Fichte das
einzig unbedingt Wertvolle in der Persönlichkeit. Aber das, was den Wert
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 217
der Persönlichkeit ausmacht, ist ihre „Freiheit" und damit der die ganze
Persönlichkeit in allen ihren einzelnen Willensakten und Handlungen be-
herrschende Wille, das Recht jedes Menschen zu achten, seine Unantastbar-
keit zur obersten Richtschnur zu machen. Und schließlich noch mehr: Aus
dieser Freiheit wird die freie Hingabe der Persönlichkeit mit allen ihren
Kräften an die Idee dieses Rechtes, die Arbeit für seine Realisierung, für
den Staat, der die Gemeinschaft frei wollender Menschen darstellt. Wert-
voll wird die Persönlichkeit, nicht, indem sie nach Möglichkeit der Unlust
klug aus dem Wege geht oder sorgsam auf die Ausmerzung der Dissonanzen
im eignen Ich und eignen Leben bedacht ist, sondern indem sie sich ganz in
den Dienst eines jenseits der einzelnen Persönlichkeit und ihres Lebens
liegenden Zweckes stellt. Dabei aber ist nicht dieser Zweck das Wertvolle
und die Persönlichkeit das bloße Mittel, sondern das Wertvolle ist die für
diesen Zwec^ arbeitende Persönlichkeit, wie ebenso auf der andern Seite
der Zweck selbst ja erst durch den Wert der freien Persönlichkeit seinen
Wert bekommt, denn das, wofür der Einzelne arbeitet, ist ja die Gemein-
schaft frei wollender Menschen.
Schließlich ist es kein Zufall, daß wir gerade bei Fichte diese Synthese
beider Gedankenreihen finden, denn sein ganzes Leben stellt eine solche
Synthese dar. In seinem persönlichen Empfinden verband sich das starke
Gefühl für den Wert der Persönlichkeit, das entwickelte Selbstbewußtsein
und der Stolz des freien Mannes, der jeden Eingriff in seine Rechte und in
seine persönliche Freiheit mit dem schärfsten Widerstand beantwortet, mit
dem leidenschaftlichen Bedürfnis zu wirken, ein sozialer und geistiger Refor-
mator, ein Führer der Menschheit zu werden.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(Fortsetzung.)
II. Gruppe : Raumwahrnchmungcn.
Der Psychologieunterricht, auch der elementare, hat das Wichtigste über die
Abbildung eines Objektes auf der Netzhaut zu bringen. Vielfach nimmt
der Physikuntcrricht diese Aufgabe ab.
Tiefer in die Psychologie greift die weitere Frage, ob wir das Objekt so sehen,
wie es sich auf der Netzhaut abbildet. Wenn das Objekt (hin , nicht zu groß und
senkrecht zur Blickrichtung orientiert ist, so können wir den psychischen Ein-
druck als geometrisch ähnlich dem Netzhautbild ansehen. Von den kleinen Ab-
\vti( hin:L^'ii iiiii rlialb jedes Auges und von der Inkongruenz der Augen unter-
einander wird tUr elementare Unterricht abschen.
218
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Apparat zur Demonstration der Akkommodation, Brillenkorrek-
tion, des Scheiner-Versuches und der Pupillenwirkung nach Rupp
(Mechaniker Marx, Berlin).
Die weiße Kugel A veranschaulicht das Auge, Sie trägt vorne eine Linse L,
hinten eine Mattscheibe N, auf welcher das umgekehrte Bildchen des Objektes 0
zu sehen ist. Es können 3 Linsen eingesetzt werden; damit man sie schnell
wechseln kann, sind sie in einem Schieber
Jifitii
befestigt. Die Linse L3 ist so gewählt,
rOChD-
Qi
JL
daß sie ein fernes Objekt scharf abbildet.
Der Abstand der Mattscheibe ist also
gleich ihrer Brennweite, Schiebt man die
zweite Linse L^ ein, so wird das Objekt 0
an der Marke II scharf abgebildet.
Schiebt man die dritte Linäe L-^ ein, so
wird das Objekt scharf gesehen, wenn
es bis zur Marke I genähert wird.
Die Mattscheibe iV stellt die Netzhaut dar, L die Augenlinse mit ihren 3 Wöl-
bungen Lj L^ L3. Ist Ly die stärkste Wölbung, deren ein Auge fähig ist, dann
stellt die Entfernung I den Nahpunkt dar. Weitsichtige Menschen können die
Linse nicht so stark wölben ; es ist z, B. L^ die stärkste Wölbung. Der Nahpunkt
liegt also bei IL Durch Vorsetzen der einen Brille By, kann aber auch das nahe
Objekt auf Marke II scharf gesehen werden. Bei Kurzsichtigen kann die Linse
nicht genug abgeflacht werden. Die Wölbung L^ ist schon die flachste. Sie
sehen also Objekte, die femer sind als II, unscharf; II ist derFernpunkt. Durch
die zweite Brille Bk werden aber auch die fernen Objekte scharf abgebildet.
Der dritte Träger dient dazu, unmittelbar vor das Auge einen Schieber mit
verschiedenen Blenden zu bringen und so die Wirkung der Pupille zu erläutern.
Bei der größeren Blende wird das Bild unscharf, bei der kleineren scharf, freilich
auch lichtschwächer.
In denselben Schieber sind auch verschiedene Öffnungen für den Scheine r-
schen Versuch geschnitten. Als Objekt dient ein heller Punkt; es wird eine
schwarze Scheibe mit feinem Loch
eingesetzt und der Apparat gegen
das Fenster gerichtet, Linse 2,
Objekt auf Marke I; das Ob-
jekt wird also unscharf, in einem
ziemlich großen Zerstreuungskreis gesehen. Schiebt man die einzelnen Blenden
vor, so macht das Objekt alle Änderungen mit: es wird doppelt, dreifach gesehen,
als vertikaler oder horizontaler Strich, Das geht aber nur so lange, als sich das
Objekt ohne Blende unscharf abbildet, z. B. näher als der Nahpunkt liegt.
Die Änderungen schwinden, sowie man den Nahpunkt II erreicht. Man kann so
den Nahpunkt feststellen. ■ — Umgekehrt kann man auch den Fernpunkt finden,
Linse I, Objekt auf Marke II, Jetzt ist das Objekt unscharf abgebildet, weil
zu fern liegt. Es treten wieder dieselben den Blenden entsprechenden
0
0
0
0
0
0 0
es
Änderungen ein. Rückt man das Objekt näher gegen II, so rücken die
Doppelbildchen usw. immer mehr zusammen, bis bei II das Objekt ganz
scharf abgebildet wird, II ist für Linse 1 der Fernpunkt.
Probleme und Apparate ziir experimentellen Pädagogik. 219
Die Brillen-, Pupillenwirkung und das Scheinersclie Phänomen kann man
mittels des Apparates auch direkt beobachten : an Stelle des künstlichen tritt
das Auge des Beobachters.
Der Scheiner- Versuch hat praktische Bedeutung. Man kann den Nahpunkt
feststellen und kann den Einfluß der Ermüdung auf die Akkommodation be-
obachten : in der Ermüdung können wir nicht so nahe akkommodieren. Die Er-
scheinung kann zur Messung der Ermüdung verwendet werden, freilich nur,
soweit sie sich in der Akkommodation äußert.
Handapparat zur Bestimmung des Nahpunktes und zur Demon- Nr. 2.
stration der Pupillenwirkung nach Ludwig (Mechaniker Petzold, Leipzig).
Wie der vorige Apparat, nur ohne Auge und kleiner. (Der vorige ist z. T. dem
Ludwig'schen Apparat nachgebildet.)
Sehproben nach Snellen, Sehproben nach Cohn. Der Lehrer kann Nr. 3.
den Augenarzt nicht ersetzen; aber er soll das außerordentlich einfache Prinzip
der Sehproben kennen und anwenden. Er wird die Schüler darnach setzen, den
schlecht sehenden zum Arzt weisen. Er wird die Erfahrungen, die er beim Ver-
such macht, verwerten in der Größe der Schrift auf der Tafel imd wird sich ein
richtiges Urteil über den Einfluß der Beleuchtung bilden.
Ringfeder zur Erläuterung des Akkommodations-Mechanismus Nr. 4
nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Elliptischer Ring aus
einer Stahlfeder. Er stellt den Querschnitt der Linse dar, wenn
sie sich in Ruhe befindet, wo sie durch die Zonulafasern ganz /\ A
flach auseinandergezogen ist (Ermüdung, Schlaf, verlorener \j y
Blick). Bei Akkommodation auf die Nähe wird durch den j |
von allen Seiten drückenden Ciliarmaskel die Linse vom Zug
der Zonulafasernbefreit, sie geht in ihre natürliche, gewölbte Form über. Man
kann die Wirkung durch Zusammendrücken der Feder in der Hand ver-
anschaulichen.
Über das Zusammenwirken der 2 Augen wird der Physikunterricht kaum be-
richten. Der elementare Psychologieunterricht kann die wichtige und interessante
Frage nicht übergehen. Jedes Auge liefert ein Bild, aber die Bilder decken sich
bei natürlicher Stellung der Augen meist. Verschiebt man ein Auge, indem man
es mit dem Finger drückt, so merkt man sofort das Doppelbild. Freilich können
sich nie die Bilder aller Punkte des Raumes decken. Die Augen nehmen aber doch
solche Stellungen ein, daß möglichst viele Punkte sich decken (Prinzip des größt-
möglichen Horopters) und daß die wichtigsten Konturen sich decken, vor allem das
fixierte Objekt, horizontale Linien, z. B. Druckzeilen. Auf die Gesetze der Augen-
stellungen wird der elementare Unterricht kaum eingehen. (Über sehr anschau-
liche Demonstrationsapparate vergl. den Katalog von Mechaniker Marx, Berlin).
Handapparat zur Demonstration des Gesetzes der iden- \ / Nt. 6.
tischen Sehrichtungen nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin).
Blicken beide Augen auf einen Punkt F, so bildet er sich in den Netz-
hautmitten /j /g ab. Jedes Auge liefert ein Bild, aber die Bilder
decken sich, die Netzhautmitten sind „Deckpunkte".
Nicht allein die beiden Bilder von F decken sich, sondern alle Bilder, die auf
/i und /j fallen, also die Bilder aller Objekte, die auf den Strahlen f^ F und f^F
/>
I \
I \
\ 1 9 r
\ /
\ / r
\ /
1 \
/ \
/ \
^r\^
220 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
liegen: die beiden Strahlen legen sich für unser Sehen in eine einzige „Seh"-
Richtung zusammen. Deckpunkte haben „identische Sehrichtungen".
Der Apparat, der das erläutern soll, besteht aus einem Stereoskopkasten ohne
Gläser und aus einer längeren Schiene für die Bildträger. Beim einen Versuch
wird der Fixationspunkt auf der
Schiene möglichst hinausgerückt.
Zwischen ihm und dem Auge wird
eine Glasplatte mit 2 roten Strichen
I \ \i^ eingesetzt, wie sie die obere der
zwei kleinen Figuren links zeigt.
Die Glasplatte kann so verschoben
werden, daß beim Fixieren von F
die 2 Striche übereinander liegen,
sich also mit dem Fixationspunkt
decken ; vgl. die untere linke Figur.
Beim zweiten Versuch liegt der Fixationspunkt nahe (Glasplatte mit Marke).
Möglichst weit dahinter wird ein Karton mit Baum und Esse eingesetzt (vgl.
die obere der zwei kleinen Figuren rechts). Bei entsprechender Verschiebung
von F decken sich wieder F, Baum und Esse; vgl. die untere rechte Figur.
Denken wir uns ein zweidimensionales, senkrecht zur Blickrichtung orientiertes
Objekt. Die Strahlen gelangen zur Netzhaut, diese leitet den Reiz weiter zum
Gehirn, und dort werde ein geometrisch-ähnliches psychisches Bild ausgelöst.
Damit ist die Arbeit des Sehens noch nicht vollendet, es beginnt erst die geistige
Verarbeitung, das Erfassen, Verstehen, das, was wir im prägnanten Sinne
als ,,Sehen" bezeichnen, was Anschauungs- und Zeichenunterricht entwickeln
sollen.
Die Netzhaut liefert ein geistloses Nebeneinander, ein Chaos von Farben-
flecken, wie wir es auf der Palette vor uns haben. Der erfassende Verstand hebt
das Zusammengehörende gemeinsam heraus. So heben wir einen Buchstaben
aus dem verwickelten Monogramm heraus; so faßt der Lehrer von dem in der
Bank sitzenden Schüler den Oberkörper und die Füße zusammen, während die
zwischen liegende Bank unbeachtet bleibt. Die so vereinigten Stücke hängen
aber wieder für unsere entwickelte Auffassung sehr verschieden innig zu-
sammen. Aus dem Ganzen heben sich Teile als kleinere Ganze heraus
(z. B. Beine) oder diese Teile sind ganz selbständig, wie bei Gruppen (z. B.
mehrere Schüler). Innerhalb dieser kleineren Ganzen kann sich das Spiel
wiederholen, die Teilchen können verschieden fest zusammenhängen, bis wir
schließlich zu letzten Ganzen kommen, die nur mehr künstlich, sozusagen
durch einen Gewaltakt zu trennen sind. Ihre Teilchen hängen eben besonders
innig zusammen, die einheitliche Auffassung zwingt sich uns besonders auf.
Wir pflegen von Analyse, Herausfassen und Zusammenfassen zu
sprechen.
An dem herausgefaßten Gegenstand erkennen wir die Form, die charakte-
ristische Zusammensetzung, Anordnung der Teile. Die Formen als Ganze können
wir vergleichen. Wir kennen trotz verschiedener Größe, Lage, trotz kleiner Ab-
weichungen, wie sie die Gegenstände der Umwelt stets zeigen, dieselbe Form
wieder; ja wir sehen trotz großer Abweichungen gemeinsame Grundformen. So
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 221
erkennen wir schließlich Stab, Walze, Trommel, Rad mid Scheibe als eine Reihe.
Endlich erkennen wir in solchen Reihen gewisse Formen als ausgezeichnet, so
das Quadrat unter den Rechtecken, den Kreis unter den Ellipsen.
An den Formen erkennen wir außerdem die Größe, die Lage und Neigung
bzw. Richtung.
Wenn wir Größen vergleichen, erkennen wir nicht bloß ihre Gleichheit und
Verschiedenheit, sondern im Falle der Verschiedenheit auch das genauere
Verhältnis. Wir können dasselbe schätzen oder auch messen.
Die Formen, die zunächst einheitlich sind, zerlegen wir, erst in ihre natür-
lichen Teile, dann trennen wir künstliche Teile ab imd suchen die komplizierteren
Formen durch die Formen und Beziehungen ihrer Teile zu charakterisieren. So
gelangen wir schließlich zu den elementaren Teilen der Geometrie. Diese Analyse
ist das Produkt langer Entwicklung, sowohl der Menschheit, wie auch des ein-
zelnen Individuums.
Zugleich vollzieht sich eine andere Verarbeitung. Augen und Körper bewegen
sich beständig, der Sehraum ist bald von diesem, bald von jenem Stück des
objektiven Raumes erfüllt. Wir dürfen nicht alles innerlich sozusagen über-
einanderlegen, sondern müssen die Bilder trennen und richtig aneinanderreihen.
Wir müssen die Bewegung auf unserer Netzhaut, die durch wirkliche Bewegimg
des Gegenstandes entsteht, und die Bewegung, die bei ruhendem Gegenstand
nur durch Bewegung unserer Augen entsteht, wohl auseinanderhalten. Die Stel-
lung und Bewegung der Augen muß in Abrechnung gebracht werden. Wir pflegen
zu sagen: Nicht allein die relative Lage und Bewegung der Teile innerhalb
des Sehraumes, sondern auch die absolute Lage und Bewegung des Sehraumes
muß erfaßt werden.
Auch damit ist die Verarbeitung nicht vollendet. Formen werden betastet,
die Lage und Richtung gezeigt usw. Ist diese Verbindung hergestellt, so können
Tast- und Bewegungsempfindungen oder die entsprechenden Vorstellungen das
visuelle Bild beleben. Das gleiche kann auch von den Bewegungen des
Zeichnens gelten, wenn sie sehr geläufig geworden sind.
Dazu kommen mechanische Erfahrungen. Die Kugel rollt nach allen
Richtungen, die Walze nach einer, der Würfel steht auf jeder Seite fest. Bei
vertikaler Lage ist der Körper „stehend", bei horizontaler „liegend" usw.
Wir kennen die verschiedenen Wirkungen der Formen, Lagen, Neigungen, wir
fühlen uns oft selbst in sie hinein und beleben so wieder das Gesichtsbild.
Endlich sind die mannigfaltigen ästhetischen Wirkungen der Formen
und ihrer Anordnungen zu berücksichtigen.
Diese skizzenhafte Aufzählung mag genügen, um zu zeigen, in wie vielfacher
Weise das vom Auge gelieferte Bild verarbeitet werden kann. Das Auge, der
Sinn, liefert nur das Rohmaterial. Bei der Verarbeitung wirken oft auch
andere Sinne mit. Wenn wir dennoch von Formen-„Sinn" Raum-„Sinn"
sprechen, gebrauchen wir das Wort in viel höherer Bedeutung. Es liegt ein
großes und bewundernswertes Stückintelligenz in diesen Leistungen enthalten;
sie werden mit Recht auch als Intelligenzproben (neben vielen anderen)
verwendet.
Eine besondere Art der Verarbeitung gehört eigentlich nicht mehr zum „Sehen" :
das Zeichnen. Es tritt nicht von selbst zur visuellen Auffassung hinzu, es
222 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
ordnet sich nicht der visuellen Erfassung unter, geht nicht in ihr gleichsam
auf, sondern es bedeutet einen eigenen, künstlich hinzugefügten Akt. Das
gleiche ist bei den Tastbewegungen der Fall, wenn sie ausdrücklich beab-
sichtigt sind. Freilich können, wie früher erwähnt, beide Bewegungen sich
dem Sehakt so unterordnen, daß man sie mit zur visuellen Erfassung, zum
Sehen im weiteren Sinne des Wortes rechnen wird.
Wenn das Zeichnen auch ein eigener Akt ist, so kann es doch vielfach
über das ,, Sehen" Aufschluß geben. Handelt es sich aber um genaues
Erfassen, um das, was man als gutes Augenmaß bezeichnen kann,
scheint die Prüfung und Erziehung auf dem Umwege des Zeich-
nens nicht sehr geeignet. Es ist eine Kirnst, eine gerade Linie, einen
Kreis, einen Ring zu zeichnen; die Zeichnung wird meist sehr unvollkommen
ausfallen. Viel leichter ist es, Fehler in einer schon vollendeten Zeichnung zu
sehen. Wenn wir aber das Sehen auf dem Umwege über das Zeichnen üben
und prüfen, entwickeln wir es nicht bis zu der Vollkommenheit, deren der
Schüler fähig ist. Er könnte viel genauer sehen; aber es spielt doch keine
Rolle, weil seine technische Fertigkeit beim Zeichnen mit dieser Grenauigkeit
nicht Schritt halten kann.
Hier können unsere Versuche und Apparate die Lücke, die der
Zeichenunterricht in der Entwickelung des Sehens läßt, aus-
füllen. Sie ermöglichen eine Herstellung von einfacheren For-
men, Größen, Neigungen bis auf größte Genauigkeit, sie ermög-
lichen ein Nachbilden von einfach geformten Gegenständen ihrer
Größe, Form und Neigung nach (Fenster, Kreuz, Münzen usw.),
ohne daß irgendwie erhebliche technische Schwierigkeiten ent-
stünden. Hier wird die Fähigkeit zu genauester Erfassung wirk-
lich wachgerufen und entwickelt; denn hier hat sie Wert.
Freilich sind die Apparate und Versuche zunächst für exakte Prüfungen
erdacht worden. Bei der Verwertung zur Übung des Augenmaßes werden
noch manche Vereinfachungen vorzunehmen sein, und es sind vor allem die
Methoden unter pädagogischen Gesichtspunkten auszuwählen. Aber die
bisherigen psychologischen Versuche und Apparate werden sicher viel An-
regungen geben können.
Ich gehe nun zur spezielleren Besprechung der Probleme und Apparate über.
Nicht alle angedeuteten Probleme sind durch Apparate und ähnliche Hilfsmittel
zu untersuchen, nicht alle sind in so einfacher Weise zu untersuchen, daß ihre
Besprechung in diesen Zusammenhang passen würde.
Ich führe absichtlich für verwandte Fragen mehrere technische Methoden an,
damit man je nach den Umständen wählen kann. Bei wissenschaftlichen Unter-
suchungen, bei exakter Prüfung, braucht man andere Mittel als zur Übung des
Augenmaßes im Unterricht. Und wenn die Methoden in der Schule eingeführt
werden sollten, wird eine Wahl unter mehreren Mitteln, ein Überblick über
die Wege willkommen sein.
Ich bespreche zuerst das Augenmaß für die Größen, zunächst für die Größe
der geometrisch einfachsten Form, der geraden Strecke, dann für die Größe
einiger komplizierterer Formen.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 223
Wie feine Unterschiede von ^trecken (und anderen Größen) werden erkannt ?
Wie fein ist also die Unterscliiedsempfindlichkeit ? Wie bei größeren, kleineren
Strecken (Weber Gesetz) ? Wie bei vertikalen, horizontalen, schrägen Strecken ?
Wie, wenn beide Strecken fern, wie, wenn beide nahe sind? Wie, wenn beide
Strecken (auf dem Hintergrund oder der Unterlage) nahe aneinander gerückt
oder weiter voneinander entfernt sind? Wie, wenn beide getrennt sind, und
wie, wenn sie aneinander stoßen und eine größere Strecke bilden, die durch die
Grenzmarke halbiert werden soll? Wie, wenn beide Strecken die gleiche Nei-
gung haben, und wie, wenn die eine z. B. vertikal, die andere horizontal, oder
wenn beide verschieden schräg liegen ? Wie endlich, wenn beide Strecken neben-
einander oder übereinander oder schräg liegen?
Das Ergebnis hängt auch vom subjektiven Verhalten ab. Wie genau ur-
teilen wir bei fixiertem Blick, wie genau bei Augenbewegungen? Wie genau
bei schnellem Überblick, wie bei peinlichem Ausmessen? usw.
Wie ist die Unterschiedsempfindlichkeit, wenn die Strecken nicht gleich-
zeitig, sondern nacheinander gegeben werden ? Indem wir die Pause vergrößern,
prüfen wir auch das Gedächtnis. Dadurch, daß der Schüler die erste Strecke
gut behalten soll, ist er gezwungen, sie sehr genau zu betrachten, sehr intensiv
zu verarbeiten.
Grewisse Größen, die Maßeinheiten, sollen dauernd eingeprägt werden. Wie
genau werden sie eingestellt? In den unten angeführten Serien sind häufig
solche Größen als Hauptreize verwendet, so daß durch die Versuche zugleich
das absolute Gedächtnis gefördert wird.
Die Fälle können sich nicht nur durch Unterschiedsempfindlichkeit unter-
scheiden, sondern in einigen Fällen treten Täuschungen, konstante Fehler auf:
so erscheint die vertikale oder steile Strecke kürzer als die horizontale oder stark
geneigte, die obere kleiner als die untere. So sind Fälle beobachtet, daß längere
Strecken in der Erinnerung gekürzt, kurze verlängert werden, während mittlere
richtig aus dem Gedächtnis getroffen wurden.
Solche Größentäuschungen treten vor allem dann auf, wenn die Strecken
nicht isoliert gegeben, sondern in andere Figuren sozusagen eingebettet sind.
Der Einfluß der „Nebenreize" ist bald stärker, bald schwächer. Bei großer
Übung gelingt es, die Strecken von den Nebenreizen herauszulösen, sie zu analy-
sieren; die Täuschung schwindet oder tritt zurück. Das Maß der Täuschung
zeigt, wie vollkommen die Analyse gelungen ist. Wir können sie künstlich z. B.
durch verschiedene Färbung fördern.
In der Praxis des Zeichnens und des Messens kommen solche Täuschimgen
oft vor. Es hat für den Lehrer und Schüler Wert und Interesse, sie zu kennen.
Stab-Serien, a) kleine Serie. (Lehrmittelhandlung Gebrüder Höpfel, nt. ?»•
Berlin.) Dünne Streifen aus Flacheisen oder Flachmessing, 8 — 12 cm lang, je
2 mm Differenz; jeder Stab doppelt, also im ganzen 42 Stäbchen.
Man legt irgendeinen Stab (z. B. 10 cm) als „Hauptreiz" vor und legt da-
neben einen zweiten, gleichen oder verschiedenen Stab. Wird der Unterschied
richtig erkannt? Oder man läßt zum vorgelegten Streifen aus der Serie den
gleichen suchen.
Alle oben erwähnten Variationen der Lage, Neigung, Entfernung lassen
sich ausführen.
224 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
^^■'^^- b) Große Serie (Lebrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin), für größere
Dimensionen und Demonstrationen. Holzleisten 40 — 60 cm, je 1 cm Differenz,
jede Länge doppelt.
Man kann natürlich andere Dimensionen und Abstufungen wählen, je nach Be-
darf. — Es liegt nahe, runde Stäbchen zu verwenden, Stricknadeln oder Holzstäb-
chen. Sie haben den Nachteil des Rollens; auch stört bei genaueren Schätzungen
der runde Querschnitt an den Enden. Aus dem gleichen Grunde sind die Leistchen
möglichst flach gewählt. — Kartonstreifen haben den Nachteil, daß sie sich zu leicht
verbiegen.
Nr, 8a. Stabvariator, nach Rupp, a) kleine Dimension (Lehrmittelhandlung Gebr.
Höpfel, Berlin). An Stelle einer Serie ist das Prinzip des Variators verwendet,
ein einziger Stab (Leiste) kann seiner Länge nach kontinuierlich variiert werden,
indem er aus einem ihn verdeckenden Halter mehr oder weniger herausgeschoben
wird. Der Stab ist aus Messing und kann bis 20 cm hervorgeschoben werden ;
der Halter ist geschwärzt, so daß sich der vorgeschobene Messingstab hinreichend
abhebt. Auf der unteren Seite des Halters kann ein Maßstab angebracht werden,
an dem die Länge des vorgeschobenen Teiles abzulesen ist.
Bei Vergleichungsversuchen verwendet man 2 Instrumente; auf einem wird
eine Länge, z. B. die Maßeinheit 10 cm, vorgegeben, mittelst des andern wird
die gleiche Länge aufgesucht. Oder man läßt mittelst eines einzigen Instrumentes
die Maßeinheit oder die Länge eines (länglichen) Gegenstandes (Bleistift, Taschen-
messer, Finger usw.) einstellen.
Innerhalb gewisser Grenzen kann die Entfernung, Neigung und gegenseitige
Lage der 2 Strecken variiert werden.
Der Vorzug gegenüber den Serien ist, daß jede Strecke hergestellt werden
kann, damit man die Strecke kontinuierlich variieren kann.
Nr. 8b. ]^^ Derselbe, größere Dimension. (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel,
Berlin.) Halter 90 cm lang, Stab 60 cm weit vorzuschieben. Aus Holz. Für
größere Strecken und für Demonstrationen.
Strich- Serien nach Giering (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin).
Bisher waren die Größen selbständige Gegenstände; hier sind es nur Konturen
auf anderen Körpern, Linien auf einem Papier. Kinder haben nach den Beob-
achtungen Gierings Schwierigkeit, die Linien zu erfassen.
a) Auf Papierblättern, beiläufig in Oktavformat, sind Striche
gedruckt, 25 — 35 mm, von ^2. ^^V^ ^'^ abgestuft, auf jedem
Blatt I Strich; das Blatt mit dem Hauptreiz 30 mm ist
Nr. 9.
doppelt vorhanden.
Die Beize können simultan oder sukzessiv gegeben werden; innerhalb ge-
wisser Grenzen lassen sich Lage, Neigung, Entfernung variieren.
b) Die beiden zu vergleichenden Striche sind auf demselben Papier gedruckt
und zwar aneinanderstoßend. Man urteilt, ob die Marke die Strecke halbiert
oder nicht. Die eine Strecke ist stets 30 mm, die andere 25 bis
35 mm. Je nach der Lage des Blattes liegt die Hauptdistanz
rechts oder links. Die Neigung beider Strecken kann be-
liebig gewählt werden.
c) Die 2 Strecken sind wieder auf demselben Blatt gedruckt,
aber in anderer Lage: untereinander, die eine über die andere auf
einer Seite vorstehend. Alles übrige wie bei b).
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 225
d) Wie c), nur steht die eine Strecke auf beiden Seiten
über die andere vor.
Strichvariator nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Nr. lo.
An Stelle der Serie von diskreten Strichen tritt das Prinzip der kontinuierlichen
Variation. Auf einem länglichen Brett ist ein Papier mit einem horizontalen
Strich befestigt. Über den Strich schieben sich von beiden Seiten her in ent-
sprechenden Führungen 2 Streifen aus dem gleichen Papier, die den Strich mehr
oder weniger abdecken und so gestatten, ihn länger oder kürzer zu machen.
Damit die Streifen sich gut anlegen, ist eine Glasplatte über das Brett gelegt.
Die Verwendung ist genau dieselbe wie beim Stabvariator (8).
Bei Vergleichungsversuchen kann man die Anwendung zweier Apparate
umgehen, sofern man die Strecken aneinanderstoßend wählt. Es wird auf dem
Grundbrett ein Papier mit einem Strich und einer Marke in der Mitte befestigt.
Der eine Streifen begrenzt die eine, der andere die zweite Strecke. Vgl. die
Strichserie 9b.
Strichvariator, transparent, nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Nr. n.
Höpfel, Berlin). Die Ränder der seitlichen Streifen im vorigen Modell könnten
stören. Bei dieser Anordnung sind sie kaum zu merken. An Stelle des Holz-
brettes ist eine Glasplatte verwendet, welche bis auf einen schmalen Strich mit
schwarzem, lichtdichtem Papier beklebt ist. Darüber werden wieder die 2 Streifen
aus dem gleichen schwarzen Papier gelegt, zur Abdeckung des Striches. Und
über das Ganze ist eine zweite Glasplatte gelegt, die den Zweck hat, die Streifen
gut anzudrücken. Der Apparat wird so gegen das Fenster (oder die künstliche
Lichtquelle) gestellt, daß die Vorderseite dunkel bleibt; eventuell wird eine
abblendende Kappe vorgesetzt, ähnlich wie sie die Photographen verwenden.
Die Ränder des Streifens sind dann kaum zu sehen. Damit der transparente Strich
gleichförmig ist und damit er zugleich nicht blendet und irradiiert, legt man
hinter den schräg gestellten Apparat ein gleichförmig graues Papier.
Die Neigung des Striches läßt sich hier nur variieren, wenn man den Appa-
rat entsprechend schräg befestigt. Um bei Vergleichungsversuchen die Be-
nutzung zweier Apparate zu umgehen, kann man wieder eine Marke in der Mitte
des Striches verwenden ; es läßt sich leicht ein dünner Streifen aus dem gleichen
schwarzen Papier in der Mitte befestigen.
Fadenvariator nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin; Nr. 12.
Mechaniker Marx, Berlin). Das Prinzip dieses Variators ist folgendes: Auf
schwarzem Grund ist ein Faden ausgespannt, der von irgendeiner Stelle des
Grundes durch ein Loch hervortritt und zu einer Stelle des Randes geführt
wird. Der Faden ist, vom Loch aus gerechnet, erst weiß; von einer Stelle an
ist er geschwärzt. Das schwarze Stück hebt sich vom schwarzen Grund nicht
ab und bleibt unbeachtet; es ist also, wie wenn nur ein Stück weißer Faden
ausgespannt wäre. Die Länge des weißen Fadens läßt sich nun variieren,
indem man den Faden herauszieht oder von hinten anfassend in das Loch
hineinzieht. Die Grenzen des weißen Stückes sind nicht ideal scharf: weder
die Umbiegungsstelle, noch die Stelle, wo die schwarze Färbimg beginnt. Für
die meisten Versuche reicht aber die Genauigkeit der Grenzen aus.
a) Kleines Modell A. Die Anordnung ist vielseitig. Ich bespreche zunächst Nr.12».
nur die hierher gehörige Verwendung. Karton 18X15 cm. Aus dem Loch in
ZeitacbrUt f. pftcUgog. Psychologie. 16
226 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
der Mitte treten 4 Fäden, zunächst weiß, die äußeren Hälften geschwärzt.
Jeder Faden geht zu einer am Rande verschiebbaren Klammer, durch welche
er niedergedrückt wird, so daß er in der Spannung, in die man ihn gebracht
hat, bleibt. Auch das hintere Ende wird von derselben Klammer festgehalten.
Der Druck der Klammer ist so schwach, daß sich der Faden, ohne zu reißen,
verschieben läßt.
Zur Vergleichung zweier Strecken werden nur 2 Fäden verwendet, in be-
liebiger Richtung zueinander, aber natürlich vom gleichen Punkte (Loch) aus-
gehend. Man stellt den einen Faden so ein, daß er gleich dem andern erscheint.
Der Apparat eignet sich besonders zur Bestimmung gewisser Täuschungen:
eine vertikale Strecke erscheint länger als eine horizontale ; von zwei überein-
anderliegenden Strecken erscheint die obere länger.
Nr.i2b. b) Derselbe Apparat in größerer Ausführung, für Strecken mit größeren
Dimensionen oder zur Demonstration.
Nr.i2c. c) Derselbe Apparat, Modell C. (Mechaniker Marx, Berlin.) Metallscheibe
von 30 cm Durchmesser, an welcher sich die Halter der Fäden verschieben
lassen. Gradteilung zur genauen Einstellung der Halter und damit der gegen-
seitigen Richtung der Fäden. Die Spannung wird durch Gewichtchen erzeugt,
die so angeordnet sind, daß sie beim Pendeln sich nicht verwickeln können.
Die Metallscheibe steht auf 3 Füßen.
xr.i2d. d) Derselbe Apparat, Modell D. Zum Unterschied von den vorigen Appa-
raten sind hier 2 Löcher in die Grundfläche gebohrt. Die beiden von ihnen
ausgehenden Fäden stoßen also nicht aneinander. Die Grundfläche wird durch
ein Reißbrett gebildet. Die Fäden werden wieder durch verschiebbare Klam-
mern am Rande des Brettes festgehalten.
Nr. 13. Punktdistanzen, durch Blechscheibchen hergestellt. (Lehrmittel-
handlung Gebr. Höpfel, Berlin; Mechaniker Marx, Berlin.) Ich habe zuerst von
länglichen Körpern, Stäben, dann von Strichen gesprochen; die Fäden sind
vielleicht ein Mittelding zwischen beiden, sie werden bald als Linien, bald als
selbständige Gegenstände aufgefaßt. Noch unreeller wie Striche, Konturen
sind leere Distanzen. Sie werden von Kindern (nach Giering) besonders
schwer erfaßt. Innerhalb der Distanzen gibt es wieder Stufen: die begren-
zenden Gebilde sind selbständige Körper (Scheibchen, Perlen, Steine usw.)
oder sind selbst Konturen (Punkte, Striche).
Vielseitig, auch für andere Zwecke verwertbar, sind lose Punkte. Die beiden
zu vergleichenden Distanzen können in jeder Größe, Lage, Neigung und Ent-
fernung geboten werden, sie sind außerdem kontinuierlich variierbar.
Karton- oder gar Papierscheibchen als Punkte haben sich nicht gut bewährt, da
sie durch den Luftstrom beim Atmen oder Sprechen weggerissen werden. Ich habe
daher zu kleinen Blechscheibchen (3 oder 5 oder 8 mm Durchmesser) gegriffen.
Nr. 14. Perlen-Distanzvariator nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel,
Berlin; Mechaniker Marx, Berlin). Die Punkte sollen in jeder Lage, in die man
sie bringt, gehalten werden, auch wenn man den Apparat vertikal stellt. Dies
wird durch folgendes, auch bei späteren Apparaten verwendete Prinzip erreicht :
Ein Brett (50X20 cm) ist mit schwarzem, gleichmäßigem Tuch überzogen. Über
dem Tuch ist ein kräftiger, schwarzer Faden ausgespannt, an welchem weiße
Perlen zu verschieben sind. Alle Perlen sind genau gleich groß und mit einer
Probleme xind Apparate zur experimentellen Pädagogik. 227
solchen Bohrung versehen, daß sie infolge Reibung an jeder Stelle des Fadens
bleiben, an die man sie schiöbt. Der schwarze Faden ist auf dem schwarzen
Grund kaum zu sehen, jedenfalls achtet man nicht auf ihn. Man darf also wohl
von einer Beurteilung von leeren Distanzen sprechen.
Man kann 4 Perlen auf demselben Faden verwenden und die 2 Distanzen
(innerhalb gewisser Grenzen) in beliebiger Größe, Entfernung und Neigung ver-
gleichen lassen. Wenn man 3 Perlen verwendet, kann man die Mitte einstellen,
die äußere Distanz halbieren lassen. Verwendet man endlich 2 Bretter, so läßt
sich auch die gegenseitige Lage und Neigung der 2 Distanzen variieren. Wie
bei der vorigen Anordnung können die Distanzen kontinuierlich variiert werden.
Leiste mit Marken nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr.Höpfel, Berlin), Nr. i5.
für größere Distanzen und zur Demonstration.
Für größere Distanzen versuchte ich zunächst das Prinzip der) russischen Rechen-
maschine. Allein die Kugeln sind meist nicht sehr regelmäßig gedreht und sitzen nicht
fest genug ; ferner stört die unscharfe Begrenzung hier mehr als bei den kleinen Perlen,
namentlich wenn man beschattete Teile der Kugeln sieht. Ich zog daher folgende
Einrichtung vor.
Auf einer 1 m langen schwarzen Leiste werden parallelepipedische Steine,
ähnlich den Dominosteinen, aufgesetzt und nach Bedarf verschoben. Die Steine
sind auf der Vorderseite weiß, hinten und an den Seiten geschwärzt. Es hebt
sich also nur die Vorderseite ab.
Serie von Punktdistanzen nach Giering (Lehrmittelhandlung Gebr. ^r. le.
Höpfel, Berlin). Hier ist die Distanz durch Konturen, durch aufgedruckte
Punkte gebildet. Die Ausführung ist ähnlich wie bei den Strichserien Nr. 9.
a) Auf jedem Blatt eine Distanz.
b) Auf jedem Blatt zwei Distanzen, aneinanderstoßend.
Bisher war von linearen Strecken oder Distanzen die Rede. Wir können
auch nichtlineare Gebilde ihrer Größe nach beurteilen. Wir schätzen und ver-
gleichen die Breite eines Streifens, ohne an verschiedenen Stellen die linearen
Abstände herauszugreifen, die Höhe eines Dreiecks, ohne an die geometrische
Höhenlinie zu denken, die Länge irgendeines länglichen (Gegenstandes, ohne
eine Linie oder eine Pimktdistanz herauszufassen. Die Geometrie und Meß-
kunst gebrauchen nur lineare Strecken oder Distanzen. Wir lassen uns leicht
verleiten, das Gleiche von dem subjektiven Schätzen, dem Sehen anzunehmen.
Der ursprünglichste, vielleicht auch für uns Erwachsene noch der häufigste
Fall ist der, daß wir nichtlineare, aber dennoch in einer einzigen (ge-
wöhnlich geraden) Richtung sich ausbreitende Ausdehnungen
unmittelbar erfassen.
Die Ausdehnung kann sich auch in mehreren Richtungen ausbreiten. Beim
Quadrat kann man die Ausdehnung nach 4, beim Kreis nach allen Richtungen
auffassen. Wenn wir 2 Quadrate oder Kreise vergleichen, greifen wir bei natür-
licher Betrachtung meist nicht eine Seit« oder Diagonale oder einen Durch-
messer heraus, sondern vergleichen mit einem Blick die allseitige Aus-
dehnung, Größe.
15*
228 Probleme \ind Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Es erheben sich nun neue Fragen : Wie genau ist in den eben besprochenen
Fällen die Vergleichung ? Beurteilen wir die ganze Breite eines Streifens ebenso
genau oder vielleicht genauer als den Breitenabstand an einer Stelle oder als
eine Punktdistanz? Beurteilen wir die Größe eines Kreises ebenso genau oder
vielleicht genauer, wenn wir die allseitig ausgedehnte Größe, als wenn wir nur
den Höhen- oder Breitendurchmesser betrachten? Und wie verhält sich das
Kind ? Vielleicht kann es nur die ganze Ausdehung erfassen und ist der künst-
lichen Analyse von linearen Ausdehnungen unfähig oder schlecht fähig?
Ich gebe einige einfache Anordnungen zur Prüfung dieser Fragen an. Frei-
lich bestimmt die Anordnung allein das Verfahren noch nicht; es kommt darauf
an, wie sich der Urteilende verhält.
Nr- 17. Serie von Strichdistanzen nach Giering (Lehrmittelhandlung Gebr.
Höpfel, Berlin). Hier kann die ganze Breite zwischen den Strichen beurteilt
werden. Die Serie ist analog der Punktserie Nr. 16 zusammengesetzt.
a) Auf jedem Blatt eine Strichdistanz.
b) Auf jedem Blatt zwei Strichdistanzen, aneinanderstoßend.
Nr. 18. Serie von. Streifen (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). In
der vorigen Serie kann man die begrenzenden Rechtecke auffassen | | | |
und auf Grund der Form dieser Rechtecke (stehend, liegend usw.) die Distanzen
vergleichen. Diesen fremden Faktor kann man vermeiden, wenn man sehr lange
Striche oder Streifen verwendet.
Die vorliegende Serie besteht aus ca. 60 cm langen Kartonstreifen von
18 — 22 cm Breite, von '^/^ zu '^U ^^ abgestuft. Der Hauptstreifen von 20 cm
Breite ist doppelt vorhanden. Zum Vergleich dient eine Serie von schmalen,
den Linien nahekommenden Kartonstreifen in den gleichen Dimensionen.
Nr. 19. Serie von Quadraten (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin), aus
Karton, von 18 — ^22 cm Seite, in ^/^ cm abgestuft, das Hauptquadrat von 20 cm
Seite ist doppelt vorhanden.
Mittels der Serie läßt sich auch die bekannte Täuschung bei Vergleichung
eines stehenden und eines liegenden Quadrates verfolgen.
Nr. 20. Serie von Kreisen (Lehrmittelsammlung Gebr. Höpfel, Berlin), aus
Karton, 18 — 22 cm Durchmesser, in '^/^ cm abgestuft, der Kreis 20 cm ist doppelt
vorhanden.
In Verbindung mit der Quadratserie kann man die Täuschung bei Ver-
gleichung eines Kreises und Quadrates verfolgen.
Nr. 21. Serie von Scheibchen nach Rupp (Lehrmittelsammlung Gebr. Höpfel,
Berlin; Mechaniker Marx, Berlin, wie auch Nr. 10 u. 11), aus Karton. 10
bis 50 mm, in mm abgestuft. Die den deutschen und österreichischen Münzen
entsprechenden Scheibchen, sowie die Scheibchen mit den Durchmessern 1, 2,
3, 4, 5 cm sind doppelt vorhanden.
Sie dienen nicht allein zur Prüfung und Schärfung der Unterschiedsempfind-
lichkeit für Größen, sondern auch dazu, die praktisch wichtigen Größen der
Münzen einzuprägen. (Fortsetzimg folgt.)
über die Methoden der Korrelationsrechnimg in der Pädagogik usw. 229
Über die Methoden der Korrelationsrechnung In der Pädagogik
und Psychologie.
Von Gustav Deuchler.
(Schluß.)
V.
1. Im zweiten Abschnitt unserer Betrachtungen wurde die Frage behandelt,
wie man aus dem einfachen Urteil des Mehr oder Weniger des einen Schülers
gegenüber dem anderen die gegenseitige Abhängigkeit zweier Leistungs-
gebiete bestimmen kann, wenn die beiden Schüler zwei verschiedenen
Gruppen A und B angehören.^) Diese beiden Gruppen wollen wir nun zu-
nächst bestehen lassen; aber wir wollen jetzt nicht mehr die Leistungen
zweier Schüler A^ und By mit einander vergleichen, sondern wir wollen
die Leistung eines jeden Schülers auf eine objektive Forderung beziehen,
und zwar soll diese Forderung so beschaffen sein, daß sie entweder erfüllt
wird oder nicht. Realisiert ist dieser Fall z. B. da, wo wir einen Alternativtest
in der Weise zu eichen versuchen, daß wir zwei in dem in Frage stehenden
Gebiet deutlich von einander unterschiedene Gruppen von Versuchspersonen
(Schüler) damit prüfen. Die Gruppe A soll die leistungsfähigere sein. Ergibt
nun die Prüfung, daß sämtliche u Schüler der Gruppe A der Forderung ge-
nügen, dagegen sämtliche v Schüler der Gruppe B nicht, so ist der Test
ausgezeichnet zur Scheidung der Schüler in zwei Abteilungen von dem
Befähigungsunterschied der Gruppen ^undB — vorausgesetzt, daß u und v
hinreichend groß sind. Aber der Fall kann auch da verwirklicht sein, wo ich
nach dem gegenseitigen Zusammenhang zweier Fähigkeiten, etwa zwischen
der Allgemeinbegabung und der besonderen Leistung (oder allgemeiner
zwischen zwei Merkmalen), frage. Wenn nämlich die zwei Gruppen deutlich
in der Weise unterschieden sind, daß der einen eine Fähigkeit zukommt,
der andern nicht, so kann ich jede Gruppe gesondert auf das Dasein oder
Fehlen einer zweiten Fähigkeit hin untersuchen. Das Fehlen dieser Fähig-
keit kann dabei auch das Vorhandensein einer andern Fähigkeit bedeuten.
Wenn nun in Gruppe A die zweite Fähigkeit bei einem Schüler vorhanden
(D) ist, so soll ein Plus notiert werden, wenn nicht (F), dann ein Minus;
dagegen verzeichnen wir ein Plus, wenn diese Fähigkeit in Gruppe B nicht
vorhanden (F), ein Minus, wenn sie vorhanden (D) ist. Die Anzahl der
Pluszeichen der Gruppe A sei durch a, die der Gruppe B durch 5, die An-
zahl der Minuszeichen der Gruppe A durch ß und die der Gruppe B durch
y bezeichnet.
Dann lassen sich die Versuche in der Übersicht XI darstellen.
A (Dasein) ! B (Fehlen)
D
(DAoein)
a
Y
F
(Fehlen)
ß
d
(XI)
») Vgl. oben S. 119 ff.
230 Über die Methoden der Korrelationsrechrning in der Pädagogik uaw.
Da sich in der Gruppe Ä gerade u, in der Gruppe B gerade v Schüler be-
finden, so ergeben sich uns die beiden Gleichungen (48) und (49)
a+ ß=u (48)
Y-\- ö = v (49)
Da die beiden Gruppen Ä und B gegeneinander selbständig sind, so setzt
sich die gegenseitige Abhängigkeit von Leistung und Befähigung einfach
zusammen "aus der Abhängigkeit der Erfüllung der Forderung von dem
Vorhandensein der entsprechenden Befähigung (Ä) und der Abhängigkeit
des Versagens von dem Fehlen der Befähigung (B). Beide Abhängigkeiten
kann man so formulieren, daß bei vollständiger positiver Korrelation beide
Mal + 1, bei Unabhängigkeit 0, bei völlig negativer Abhängigkeit — 1
herauskommt. Dies ist der Fall, wenn man die Abhängigkeitskoeffizienten
Ci und C2, dem früheren r entsprechend (vgl. S. 19), definiert als
°^— ß °^— ß . 2ß 2a
Ci = r—^ = =1 - = 1 (50)
,,^|=I = ^^ = a_?I = Ü_i (51)
Die beiden letzten Formen in diesen Gleichungen ergeben sich mit Rück-
sicht auf (48) und (49).
Die gegenseitige Abhängigkeit oder Korrelation (c) wird dann durch die
Gleichung (52) ausgedrückt:
Die zwei letzten Gleichungen zeigen uns, daß wir bloß zwei von den vier
Größen zur Bestimmung von c brauchen^) ; auch hätten wir durch eine ein-
fachere Überlegung zur Gleichung für c kommen können. Das gegenseitige
Zusammentreffen von Befähigung (Ä) und Leistung (D) ist offenbar umso
vollkommener (c nähert sich um so mehr + 1), je größer die relative Häufig-
a / 6 \ y f ß \
keit — bzw. - und je kleiner die relative Häufigkeit - bzw. - ist; und
u\ V J V \ u /
Befähigung und Leistung schließen sich umso vollkommener gegenseitig aus,
a/ ö\
(c nähert sich um so melir — 1), je kleiner-! bzw. -j und je größer
y f ß\
- bzw. — ist; daraus ergibt sich dann ohne weiteres die Defimtions-
V \ uj
gleichung für c.
^) Von den Nummern wird dabei abgesehen, da es auch wünschenswert, daß
die gleich sing (vgl. die folgende Seite).
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 231
Die Ableitung der theoretischen Mittelwerte schließt sich analog den
früheren, auf x bezüglichen Betrachtungen (S. 126 f.) an den Ausdruck
(a + ^)" • (5 4- yy> an.i) Man berechnet wieder die Werte erst für die Minus-
bzw. Pluszeichen und geht dann zu den c- Werten über. Liegt eine Korre-
lation von der Größe c vor, so ergibt sich für das theoretische arithmetische
^Mittel Co die Gleichung
Co = c (53)
und für den entsprechenden theoretischen Streuungswert % und demgemäß
auch für den hypothetischen Streuungswert q^ der Ausdruck
hJ = ^° = ^ — w+^' — ■ ^ ^
Da die Unsicherheit der Bestimmungen c^ und Cg so lange verschieden ist,
als u und v verschieden sind, so ist es wünschenswert, daß
u = V = t (55)
ist; dann wird der Ausdruck (54) einfacher; wir erhalten nämlich
[,,] = ,.=^/T±iIE!5.^
4t
(56)
Den Betrag für den hier angegebenen Näherungswert erhält man, wie man
ohne weiteres sieht, völlig exakt, wenn die relativen Häufigkeiten der Plus-
a ö
fälle beide Male gleich groß werden, also - = -; dies ist zugleich auch die Be-
dingung dafür, daß die gegenseitigen Beziehungen durch einen einzigen
Wert völlig eindeutig charakterisiert werden können.
Zusammenfassend können wir sagen: Wo die c-Methode anwendbar
ist, gibt der Doppelausdruck für CoJiC\o eine Charakteristik
der Korrelation von der Größe c. Es liegt demnach gegen-
seitige Abhängigkeit von der Größe c vor, wenn die aus einer
genügend großen Anzahl von Versuchen gewonnenen resul-
tierenden Werte c,±qg die Doppclgleichung c, ± q, = Cq ±, c\o
hinreichend befriedigen.'')
Sind die Häufigkeiten dem Schema XI entsprechend gegeben durch (onfto)
80 ist der Korrelationswert und die dazu gehörige hypothetische Streuung
c±qk= -f 0,6 + 0,004; sind sie durch (0x^0) dargestellt, so ist c + q*
= + 0,66 ± 0,0039, und sind sie (oa!a)' so ist c±q* = —0,4 + 0,0046.
\ 80 40 /
*) Vgl. Die Math. d. R.- u. O.-Korr. Kap. XI; dort auch die entsprechenden Häufig-
koitskiirvon.
•) Über Möglichkeit, die Richtungsuntersehiede von c darzustellen, wenn Ci 4-. o»
ist, vgl. Die Methoden der R.- u. O.-Korr. Kap. XI. Der Koeffizient c ist übrigens
identisch mit dem vonO.F. Lipps (Die psych. Maßm. S. 117, Gl. 78) angegebenen ö'.
232 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
2. Eine andere Behandlung erfordert das Beispiel, wenn wir nicht in der
Lage sind, unsere Versuchspersonen oder unser Versuchsmaterial in bezug
auf das eine Merkmal oder die eine Fähigkeit von vornherein in zwei deut-
lich unterschiedene Gruppen zu teilen, sondern diese Teilung erst auf Grund
der Prüfung vornehmen können. Würde freilich eine hinreichend oft durch-
geführte Prüfung dann jeweils die gleiche Gruppierung ergeben, so wäre
das ein Beweis für eine im Versuchsmaterial von vornherein vorliegende
unvermittelte Gruppierung ; wir hätten dann die Resultate nach Schema XI
zu behandeln. Aber diese Erfahrung werden wir im allgemeinen nicht oft
machen; vielmehr wird die Wiederholung des Versuches an einem zunächst
noch nicht unterschiedenen Merkmalskomplex immer wieder etwas andere
Gruppierungen ergeben.
Wir wollen das allgemeine Problem in eine spezielle Frage einkleiden.
Wir wollen den Zusammenhang zwischen geometrischer (Z) und zeichne-
rischer (Y) Begabung prüfen; der Versuch habe die Form eines doppelten
Alternativtests, so daß also jede der n Versuchspersonen in jedem der
beiden Gebiete die Probe besteht oder nicht besteht. Die bestandene Probe
drückt das Dasein der betreffenden Befähigung (durch X^ und Y^ ange-
deutet), die nicht bestandene das Fehlen (Xg bzw. Yg) aus. Bei jeder Versuchs-
person ist nun ein vierfacher Ausfall der Probe (eigentlich der Doppelprobe)
möglich ; nämlich Xi Yi, Xi Yg, Xg Yi und Xg Yg. Wir notieren uns dann
bzw. die Zeichen +, ||, = und — ; sodann soll die Anzahl der + mit a, die
der II mit ß, die der = mit y und die der — mit ö bezeichnet werden, Haben
wirnVpn. geprüft, so können wir das Resultat in die Übersicht XII
bringen :
(XII)
^1
X,
1^1
«
(+)
7
(=)
a+Y
Y,
ß
(ii)
(-)
ß+S
a+ß
Y+S
Auch ergibt sich uns dann sofort die Relation
a-\-ß-\-y-{-^ = n
(57)
Als Korrelationskoeffizienten für das Schema XII hat man u. a. auch die
Gleichung (58) vorgeschlagen:
aö — ßö
aö + ßö (58)
A =
Man sieht ohne weiteres, daß der Wert A sich zwischen den Grenzen 4- 1
und — 1 bewegt. Auch wird er 0, w^enn keine Abhängigkeit besteht ; denn
Unabhängigkeit liegt ja offenbar dann vor, wenn die Häufigkeiten unter Xj
(oder bei Yi) in demselben Verhältnis fortschreiten wie die unter Xg (bzw.
bei Yg), wenn also die Proportion a: ß = y.ö und infolgedessen die Gleichung
aö — ßy^O
(59)
über die Methoden der Korrelationsrechnttng in. der Pädagogik usw. 233
besteht.^) Trotzdem ist| A als Korrelationskoeffizient niclit
zu gebrauchen, da er bloß ein Relations- oder wie Udny Yule^) ihn
nennt, ein Assoziationskoeffizient ist. Der Wert A wird nämlich
nicht nur + 1, wenn sämtliche X, zugleich Yi und sämtliche Xg zugleich
Yi sind, wie dies der Begriff der vollkommenen Korrelation verlangt, sondern
auch dann, wenn nur sämtliche X^ zugleich Yi oder wenn sämtliche X2
zugleich Y2 sind; ebenso ist es mit — 1. Es gehören also zu jedem der beiden
Extremwerte je drei Fälle von sachlich verschiedener Bedeutung:
zu + 1 zu — 1
(ö°)' (öO'""^G^)' Go)(m)""'*Go)-
Dem Mangel der Größe A läßt sich abhelfen; man braucht nur einen an-
deren Nenner zu wählen; der zwar auch so beschaffen ist, daß die Extrem-
werte dann -f- 1 und — 1 werden, aber nur in den Fällen, wo die Korrelation
vollkommen ist. Den Anforderungen genügt die Größe d der Gleichung
(60)
aö — ß y
^ ^ y (a +ß){a+ y) {ö + ß) {ö + y) ' W
wie man sich durch Verifikation leicht überzeugt.^)
Der Koeffizient d läßt sich übrigens leicht aus dem bekannten Bravais-
schen Koeffizienten (vgl. unten S. 236 ff.) durch Transformation gewinnen.*)
Auf die kritischen Werte der Koeffizienten A und d will ich hier nicht
weiter eingehen.*) Für die zu A gehörenden kritischen Größen hat G. F.
Lipps die Ableitung (a.a.O.)gegeben; sie sind nur in der bis jetzt vorgebrachten
Form etwas umständlich. Johannsen benutzt als hypothetischen Streuungs-
wert den von Pearson und Filon entwickelten mittleren Fehler des Bra-
1 — d2
vaischen Koeffizienten also qf^= — _-.
V n
Der Wert d kann natürlich die Beziehungen zwischen den 4 Größen des
Schemas XII nicht eindeutig darstellen; denn d kann den gleichen Wert
besitzen, auch wenn a und S oder ß und y ihre Beträge vertauschen. Eine
solche Vertauschung bedeutet aber in der Gesamtkonstellation der vier
Größen sachlich verschiedenes; dies läßt sich an dem Korrelationswert d
durch Indices ausdrücken, die mit Rücksicht auf das geometrische Bild,
das die Indicesgebung in eine Figurenregel bannt, Quadrantenindices genannt
») Vgl. G. F. Lipps, Die psycliischen Meßmethoden S. 119 (Gleichung 86) und
Die Bestimmung der Abhängigkeit usw. S. 15 (Gleichung 53); auch W. Storn (Diffe-
rentiolle Psychologie S. 313) nennt J unter den Koeffizienten der (qualitativen)
Korrelation,
•) Vgl. An Introduction to the Theorie of the Statistics. S. 37f.
•) Vgl. Die weitere Diskussion der Koeffizienten ^ und d in meinen Untersuchungen
Kap. XII.
*) Vgl, auch W. Johannsen* a.a.O. S. 343ff. und Udny Yule a.a.O. 216f,
*) Vgl. Das XII. Kap. meiner Untersuchungen.
234 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
werden können. Auf diese Weise erhält der Wert d jeweils eine bestimmte
Richtung (natürlich läßt sich auch die Größe A durch Richtungsindices
noch näher charakterisieren, vgl. meine Untersuchungen Kap. XII).
Ohne weiter auf die Richtungsbestimmung einzugehen, seien noch als Bei-
spiele die Werte d+q/, aus der Konstellation ( ] berechnet; es ist hier
14-72 — 7-17 1—0,422
d+qh= r ± / = + 0,4165 + 0,0752.
y 21 • 31 • 79 • 89 y 110 ~"
3. Die in diesem Abschnitt behandelten Korrelationsbestimmungen werden
zuweilen auch als Kontingenzbestimmungen bezeichnet, wobei man
unter Kontingenz oder Deckungsgrad die gegenseitige Abhängigkeit zweier
(oder mehrerer) Merkmale versteht, deren Varianten nicht in quantitativer
Abstufung, sondern in qualitativer Gruppierung gegeben sind.^) Es liegt für
uns kein Grund vor, den Begriff der Kontingenz dem der Korrelation gegen-
überzustellen, wie das zuweilen auch geschieht.^) Es wäre sogar unrichtig;
denn er ordnet sich ja völlig unserer allgemeinen Begriffsbestimmung unter
(vgl. oben S. 115), da diese sowohl quahtativ wie quantitativ abstufbare
Merkmale umfaßt. Hält man aber an der allgemeinen Bestimmung des
Korrelations- und infolgedessen auch des Kontingenzbegriffes, der gegen-
seitigen Abhängigkeit nämlich, fest, so fallen freilich Sterns Bemühungen
um die Gewinnung von gerichteten Kontigenzen 3) außerhalb des Korre-
lations- und darum auch des Kontingenzbegriffes, weil es nur Zuordnungs-
oder Relationskoeffizienten sind, was Stern in diesem Zusammenhang for-
muliert. Die Fragen, um die es sich dabei dreht, gehören in das Gebiet der
,, partiellen Korrelationen", auf die ich in einer besonderen Abhandlung
zurückkommen möchte; ich gehe darum auch auf die Sternschen Formeln
hier nicht weiter ein.
VI.
1. Die bisherigen Betrachtungen schlössen sich immer an bestimmte Pro-
bleme an; der systematische Zusammenhang blieb dabei mehr oder weniger
im Hintergrund; darauf wollen wir nun für einen Moment unsere Aufmerk-
samkeit lenken, natürlich unter Besclu-änkung auf die Hauptzüge und
Exemplifizierung an einfachen Fällen.
Die Koeffizienten x und 91 charakterisieren Korrelationen, die sich auf der
Vergleichung der einen Leistung gegenüber der anderen hin-
sichtlich eines Mehr oder Weniger aufbauen. Sowohl bei der zwei-
gliederigen als auch bei der mehrgliedrigen Vergleichung fehlt die Beziehung
auf ein objektiv Bestimmbar- oder Definierbares; darum haben auch alle
Rangzahlen nur interrelative Bedeutung; man macht nur von
der Zahl als permutierbarer Mannigfaltigkeit Gebrauch. Diese zwei Merk-
male sollen bestimmend sein für den Begriff der Rangkorrelation. Die Be-
1) Vgl. z. B. W. Stern, a. a. O. S. 308.
^) Vgl. W. Betz, a. a. O. S. 38.
») a. a. O. S. 310f£.
über die Methoden der KorrelationsrechnurtS: in der Pädagogik usw. 235
deutung dieser Festsetzung Wird sofort klar. Nicht immer ist nämlich der
Rangbegriff so präzisiert; denn häufig spricht man auch da von Rangord-
nungen, wo man tatsächlich eine Ordnung vor sich hat, die an absoluten Merk-
malen orientiert, also exterrelativ ist. Wenn wir eine Notenliste in die Hand
nehmen, so bemerken wir oft, daß in dem einen Fach alle Zensurabstufungen
vertreten sind, in dem zweiten fehlt die erste Stufe, in dem dritten die letzte
und vielleicht auch die vorletzte, in dem vierten sogar die erste und letzte usw.
Sehen wir von der bei der Beurteilung oft zutage tretenden Tendenz der ,Medi-
anisierung' ab, so ist der Grund eines solchen Resultates ledighch darin zu
suchen, daß bei der Verteilung der Zensuren absolute Maßstäbe im Gegensatz
zur schlichten Vergleichung der einen Leistung mit der andern mitwirken, wenn
nicht gar bestimmend sind. Die Zensuren sind meist das Produkt zweier Prin-
zipien, von denen jedes eigentlich ziemlich rein zur Anwendung kommen
könnte : nach dem ersten ordnet man die Schüler in so viele Gruppen als
Stufen vorhanden sind und gibt den Schülern der ersten Stufe die beste
Zensur, denen der zweiten die nächste usw. ; nach der anderen teilt man die
Mannigfaltigkeit der Abweichungen von den gestellten Forderungen in Stufen
ein und ordnet dann die Schüler je nach dem Grade, in dem sie die Forde-
rungen erfüllen, den einzelnen Stufen zu.
Man sieht, nur im ersten Fall haben wir Rangordnungen in unserem Sinne
und nur, wo sich die Bezeugnissung diesem Verfahren nähert,
sind wir ohne weiteres berechtigt, die Korrelation nach der
9l-Methode aus den Noten zu berechnen.^) Im zweiten Fall haben
wir gar keine Rangfolgen im obigen Sinne, sondern eine in ilu'em Anfang und
Fortgang ganz bestimmt fest gelegte Stufenordnung; dasbekundet sich dann
auch bei der Zuordnung der einzelnen Schüler zu den entsprechenden Stufen;
CS brauchen eine oder melu'ere Stufen nicht besetzt zu sein, wälirend andere
mi'lu'fach eingenommen sein können. Korrelationen, die aus einem Material,
welches das Prinzip der bestimmten Stufenordnung von einem festen Aus-
gangspunkt aus oder kurz das Prinzip der bestimmten Ordnung zum Ausdruck
bringen, sollen als Ordnungskorrelationen bezeichnet werden.
Es ist nun ersichtlich, daß wir es bei der c-undd-Methode(vgl.obenS.229f.
u. S. 232 f.) mit einfachen Ordnungskorrelatiouen in diesem Sinne zu tun haben ;
nur ist (Vv Anzahl der Stufen die kleinstmöglichc, nämlich zwei. Die bei den
( M<lmiiiLiskorr(;lationen in Frage kommenden Stufen können ebensogut Spe-
zialisierungen als qualitative oder quantitative Abstufun^'fii sein; wichtig ist
nur, daß für die Stufenanordnung ein bestimmtes Pi'inzip fustgL hallen wird und
(laß die Ordnung der Stufen einen festen Ausgangspunkt besitzt. Wir ver-
wriidfii demnach bei den Ordnungskorrelationen die Zahl nicht bloß als
P' riiiuiKTbare, sondern als bestimmt geordnete Mannigfaltigkeit.
< ;• hen die Art-, Qnalitäts- oder Quantitätsunterschiede ineinander über,
80 triif an St. II.' d. r Stuf.nfolge das Maßkontinuum, und wii- )•• iiiitz.ii dann
bei d.ii Ma l.'.k'.n. la I Kiiieu die Zalil als stetige Groß»'. iK-v Itiri^ang
Viiü (Irr diskr.'tciiZaliK di.' . iii.' h.st immt.' Stufe charakterisiert, zur Zahl als
*) Auf S. 149, Znilo 10 von unten (llrtt '..'>} iat ein Schreibfehler stehen geblieben:
OS iiinÜ <l..rt 9 Scliul'i- h. iL;.ii statt 12.
236 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
einer stetigen Größe ist in diesem Zusammenhang von geringer Bedeutung;
um so mehr dagegen der Übergang vom Gebrauch der Zahl als bloß
permutierbarer Mannigfaltigkeit zur Zahl als bestimmt geordneter
Mannigfaltigkeit.
Vonhier aus ergeben sich zwei verschiedeneFormen derVariabilität.
Wo Rangordnungen vorliegen, untersteht die Veränderung einer Reihe gegen-
über einer anderen den Bedingungen der Vertauschung und Verschiebung,
wie dies unter dem Bild der Rangplatzverteilung gekennzeichnet wurde^)
(nach jeder Verteilung vermindert sich die Zahl der Rangplätze um 1 !). Wo
hingegen bestimmt geordnete Stufen- oder auch Maßgrößen vorUegen, erfolgt
die Veränderung einer Reihe gegenüber einer anderen bloß durch Verschiebung
der einzelnen Ordnungs- oder Maßgrößen ; dabei bleibt die Zahl der zur Ver-
fügung stehenden Stufen immer die gleiche. Hier ist dann die Größe der Ver-
schiebung unter den gleichen Verhältnissen um so wahrscheinlicher, je mehr
der Betrag von der wahren Größe der Verschiebung abweicht. Die Abstands-
oder Differenzenbildung gibt hier also ein richtiges Bild, im ersten Fall nicht.
Da die möglichen Varianten im ersten Fall durch Permutation, im zweiten
Fall durch Kombination gefunden werden, so mögen die beiden Formen der
Variabilität als permutatorische und kombinatorische einander gegen-
übergestellt werden. Die Häufigkeitsverteilung schließt sich bei der ersten
Form an das Produkte =a(a+ ß){a-\- ß -\- y). • (a + ß -\- 7 + ... + V),
bei der zweiten an die Entwicklung des Polynoms P= {a-\-ß + 7 + . . .)" an.^)
2. Zum Schluß sei noch die Korrelationsbestimmung nach dem r- Verfahren
erläutert. Es wird immer da angewandt, wo es sich darum handelt, aus
Messungsreihen die gegenseitige Abhängigkeit zu gewinnen; unsere voraus-
gehenden Betrachtungen zeigen jedoch, daß die r-Methode nicht bloß auf
Maßwerte im strengen Sinne anwendbar ist, sondern auch auf die Stufen-
und Ordnungsgrößen, sofern die Bedingungen der kombinatorischen Variabi-
lität erfüllt sind.
Ein Beispiel von H. Damm^) mag als Ausgangspunkt genommen werden:
man ließ 18Vpn. 15^®° lang möghchst viel Punkte auf ein Blatt Papier mar-
kieren ; der Versuch wurde zweimal ausgeführt ; die Zeit zwischen dem ersten
und zweiten Versuch betrug 14 Tage; man kann nun nach dem Grad der
Übereinstimmung der beiden Reihen fragen, wobei der Unterschied im Durch-
schnitt der beiden Ergebniszahlen außer Betracht bleibt. Wenn man die
Zahl der markierten Punkte als Maß der Leistung ansehen kann, so bringt
er im wesentlichen den Betrag der nachwirkenden Übung zum Aus-
1) Vgl. oben S. 151.
*) Die weiteren Ausführungen dieser Fragen finden sieh im XIII. Kap. meiner
Untersuchungen. Übrigens sei hier noch angemerkt, daß die permutatorische Variabi-
lität nicht an die schlichte oder unbestimmte Vergleichxing zweier Varianten geknüpft
ist, wie auch z.B. G. F. Lipps (Die psych. Maßmeth. S. 120 ixnd Die Bestimmung der
Abhängigkeit usw., S. 29f.) anzvinehmen scheint, sondern ausschließlich an die Be-
dingungen der Rangplatzverteilung; dieses Bild kann aber unter Umständen auch da
gefordert sein, wo ganz bestimmte Varianten vorliegen.
=>) Vgl. Archiv f. Pädag. S. 316ff.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 237
druck. ^) Die Resultate sind in der Übersicht XIII wiedergegeben; zu-
gleich sind die zur Berechnung von r nötigen Hilfsoperationen darin dar-
gestellt, so daß die Übersicht XIII als Muster zur Berechnung von r
dienen kann, wenn die Anzahl der Fälle (hier der Vpn.) klein ist.
XIII.
Muster
zur Berechnung von
r bei kleinem
n.
Zahl d. markierten
Abweichungen
Produkte der
Punkte im
vom Durchschn. d.
Abweichungen
Abweichiings-
Vpn.
1.
2,
1.
2.
quadrate*)
Versuch
Versuch
Versuchs
Versuchs
xy
iX)
(Y)
X
y
positiv
negativ
x«
y'
A ,
104
127
0
— 5
25
B ,
95
115
— 9
— 14
153
81
289
c ,
89
122
— 15
— 10
150
225
100
D ,
120
135
+ 16
+ 3
48
256
9
E 5
102
122
— 2
— 10
20
4
100
F .
114
151
+ 10
+ 19
190
100
361
O ,
106
128
+ 2
— 4
8
4
16
H ,
100
133
— 4
+ 1
4
16
1
J .
96
111
— 8
— 21
168
64
441
^ 10
119
151
+ 15
+ 19
285
225
361
L X,
103
130
— 1
— 2
2
1
4
M,,
106
135
+ 2
+ 3
6
4
9
^1.
120
149
+ 16
+ 17
272
256
289
0 I«
90
132
— 14
0
196
P 15
110
135
+ 6
. + 3
18
36
9
Q 1.
100
126
— 4
— 6
24
16
36
R 17
114
157
+ 10
+ 25
250
100
625
S X,
86
118
— 18
— 14
252
324
196
103,8 = 6r
I32,l=by
— 0,2==Ca-
+ o.i=Cf,
1826'
^Y^xy
1908:=;Sa;»
2871~i;y»
Man schreibt also zu jeder Vp. die beiden Versuchswerte X und Y, be-
rechnet die arithmetischen Mittel
= -{X,-{-X,+
undh,=--[Y^+ Y2+ • • • Y«
weiter die einfachen Abweichungen der einzelnen Vcrsuchswcrtc vom arith-
metischen Mittel
X =X — hx und y = Y — hy,
^) Ob es notwendig oder zweckmäßig ist, die ursprünglichen Zahlen in Rangplätze
umzuwandeln, wie dies Damm tut, bleibt hier ganz außer Betracht. Da die von
Damm verwendete e- Methode im Resultat kaum von der r- Methode abweicht, so
hätte sich das Danun schenken können; zur Bestimmung von wirklichen Rang-
korrelationen ist ja die ß-Methode auch nicht brauchbar (vgl. oben S. 156 ff.).
•) Die Quadratzahlen braucht man natürlich nicht auszurechnen, da sie den
größeren Logarithmentafeln zumeist beigegeben sind; empfehlen kann ich beson-
ders die (fünfstolUge) von A. Greve; sie enthält eine größere Anzalil von recht
brauchbaren Hilfstafeln.
238 Über die Methoden der Korrelationsrechntzng in der Pädagogik usw.
die Produkte der Differenzen und die Differenzenquadrate, also
xy, x^ und if\
daraus endlich
^xy, Hx^ und 2y^.
Der Koeffizient r ist dann durch die Gleichung (61) definiert:
^~YZx^-2:y^'
(61)
Den Verlauf der Größe r wollen wir kurz diskutieren. Es ist leicht deutüch
zu machen, daß r = + 1 wird, wenn die beiden Reihen der Versuchswerte
YölHg übereinstimmend fortschreiten, wenn also zwischen den beiden Mes-
sungswerten nur ein konstanter Unterschied vorliegt. Es wird nämlich dann in
unserem Beispiel jeweils x =y und infolgedessen der Zähler gleich dem
Nenner. Dieses Resultat erhält man aber nicht bloß, wenn die Y-Werte nur
um eine additive Konstante von den X- Werten verschieden sind, sondern
auch wenn Y ein Jeweils konstantes Produkt von X ist (oder wenn beides zu-
sammentritt); der Proportionahtätsfaktor (x) kann dabei von beliebiger
Größe sein. Denn in diesem Falle ist natürlich y ein Produkt von x,
und da der Faktor y. im Nenner unter der Wurzel quadriert vorkommt,
hebt er sich gegen seine erste Potenz im Zähler.
Es ist aber weiter auch leicht verständlich zu machen, daß der Wert kleiner
als -fl wird, wenn die X- und Y-Werte von diesem Idealfall abweichen. Der
Zähler (Z) muß also hier kleiner werden als der Nenner (N), d. h. es ist
N — Z > 0 oder allgemein N^ — Z^> 0. Wir führen das fürn = 2 durch (füi-
ein größeres n ist es dann selbstverständlich). In diesem Falle wird der
Zähler = Xiyi+ x^, 2/2, der Nenner = V{xx'^-\-x^^) {.y^-^y^^) und die Differenz
m—Z^^x^^ y-^^+x^^ ^2^+0^2^ yx^ + x^^ y^— {x^ 2/i^+2a;i y^ x^ y^-\rx^ y^)
= x-^ y^ + x^ y^ — 2xx y^ X2 yx — {xx 2/2 — x^ yxY- Dies ist aber immer
eine positive Größe, so daß der Nenner tatsächhch größer ist als der Zähler,
solange nicht der Idealfall eintritt.
Tritt bei einer Änderung der einen Reihe an Stelle der gleichsinnigen Ände-
rung die entgegengesetzt gerichtete, so erhalten wir dem Betrage nach die
gleichen x- und t/- Werte. Der Ausdruck ^xy wird dann negativ und im
Extremfall erhält r den Wert — 1. Treten häufig negative x und positive y
zusammen und umgekehrt, so kann l^xy und darum auch r sehr nahe oder
gleich 0 werden.
Als hypothetisches Streuungsmaß des Koeffizienten r pflegt man den
Wert q^ aus der Gleichung (62) zu verwenden^):
1— r2
^h~-7=- (62)
V n
1) Vgl. z. B. W. Johannsen a. a. O. S. 330. Wie genau dieser angenäherte Wert für q^
an den exakten herankommt, konnte ich bis jetzt noch nicht feststellen; auch konnte
ich die in Frage stehende Originalabhandlung (von Pearson und Filon) leider noch
nicht erreichen.
über die Methoden der Korrelationsrechnxing in der Pädagogik usw. 23^
3. Nun gelienwir über zui'Berechnung unseresBeispiels. Dabei wollen
wir zugleich auf einige Re^henvorteile aufmerksam machen. Die arith-
metischen Mittel aus den Versuchswerten sind &a;= 103,8 und &y= 132,1.
Man sieht nun, daß die Abweichungen nicht genau vom Durchschnitt ge-
nommen sind. Dies geschah aber nicht deshalb, weil hier tatsächlich die
kleinen Unterschiede vernachlässigt werden können, sondern weil man auch
auf diese Weise die völlig exakten Beträge bestimmen und darum sich eine
Menge Rechenarbeit ersparen kann; wir hätten übrigens die Abweichungen
gerade so gut auch von 100 bzw. 130 aus bestimmen können oder von andern
Werten aus.
Ist allgemein h das arithmetische Mittel einer Reihe von (n) Zahlen (z),
ö der Abstand der Einzelwerte vom arithmetischen Mittel h (also z — h = ^),
ist weiter üq ein beliebiger Ausgangswert, von dem dann die Einzelwerte um
den Abstand d (also z — üq = cf) entfernt sind, ist ferner C die Differenz
t — ctoi ^^ das gesuchte mittlere Quadrat der Abweichungen ( 6) vom genauen
Durchschnittswert &, und v^ das mittlere Quadrat der Abweichungen (d)
von ÜQ, so gelten die für die Rechenpraxis wichtigen Relationen
h=ao+C; C =- ^d; d = S-f-C;|
e2= —Zö^:
n
r2_ ^2
V'—C'
Zd"
(63)
Haben wir sodann zwei Reihen von Zahlenwerten also eine x- und eine
2/- Reihe und schreiben wir 8, statt x und Sj, statt y, so ergibt sich uns
2:d^-dy =Zö^'öy — n!:^-Cy
Z^=^Zb\ =zd^^ — nK\
(64)
Die Gleichungen (64) benützen wir nun bei der exakten Berechnung des r
aus der Tafel XIII. Es ist
103,8; Ca: = — 0,2
132,1; Cj, = + 0,1
«xo =104; h^
ttyo =132; hy
folglich ist genau
i:xt/= 1826 — 18 • (— 0,2) • (+ 0,1) = 1826,36
1:7? = 1908 — 18 • 0,22 ^ 1907,28
i:y^ = 2871 — 18 • 0,1* = 2870,82
und daraus
1826 • 36
r =
q» =
y 1907,28 • 2870,82
1 — 0,78*
= + 0,7805
■/li
= + 0,09419.
240 Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw.
Die Übereinstimmung der beiden Reihen wäre danach durch die
Gleichung r Ji q^ =+ 0,78 i: 0,0942 charakterisiert. Hervorgehoben sei
noch, daß die angenäherten Werte, wie sie in der Tafel XIII zu finden
sind, beinahe das gleiche r ergeben, nämlich 0,7804. Dies besagt,
daß wir bei solch kleinen Abweichungen die Korrektur auch unterlassen
können.
4. Hat man eine große Anzahl von Versuchen, so ist das Verfahren nach der
Tafel XIII nicht zweckmäßig; man stellt dann aus dem ursprünglichen
Zahlenmaterial ein Häufigkeitsfeld her. Dies geschieht auf folgende Weise :
man schreibt eine Reihe gleichgroßer Intervalle, die für die Varianten der
einen Art von Bestimmungen geeignet sind, wagrecht an ; dazu senkrecht
eine zweite Reihe von Intervallen, die für die andere Art von Bestimmungen
passen ; dann trägt man in die dadurch entstandenen einzelnen Teilfelder die
entsprechenden Häufigkeitszahlen ein. Die Übersicht XIV gibt in dieser
Weise das Zahlenmaterial der Tafel XIII in einem solchen Häufigkeitsfeld
wieder.
XIV. Muster zur Ordnung des Zahlenmaterials bei großem n
(Häufigkeitsfeld).
X >
80-89
90—99
100—109
110-119
120—129
y 110—119
1
2
3
20—29
1
4
5
30—39
1
3
1
1
6
40—49
1
1
150—159
3
3
2
3
7
4
2
18
Wir denken uns nun die zu jedem Teilfeld gehörigen Werte gleichmäßig
auf dieses verteilt, so daß wir bei der Mittelberechnung die Mitte des Intervalls
nehmen können. Als Ausgangswerte verwenden wir die Mitten der hervor-
gehobenen Intervalle 100 — 109 bzw. 130 — 139, also a^o =104; ayo =134.
Da die Intervallgröße konstant und gleich 10 ist, so wird mit Rücksicht auf
die Gleichung C = -^d aus (63)
n
10
18
Cx=4R-'20-2) + (— 10-3)+10-4 + 20-2l= ir(4— 3)-10 + (2— 2)20l =
18 L J 18L J
^y=^[(— 20-3)+(— 10-5)+l-10+3-10|=i[(3-3)-20+(l— 5)-10l=-|^
40
18
und infolgedessen nC^^-Cy = — — = — 22,22.
über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik usw. 241
Bei der Berechnung von 2dxdg haben wir die Abstände der Teilfeldmitten
von den Ausgangswerten Mteinander und mit den entsprechenden Häufig-
keitswerten zu multiplizieren ; es ist also
v^ ^ _ ( 1 • (—20) (—20) + 1 • (—20) (—10) -\-2 • (—20 (—10) + 1 • 10 • 20
^ «' 1 100 (4 + 2 + 4* +2
+ 3.20.10 1 ,„^^
Um die Summe der Abweichungsquadrate zu berechnen, hat man bloß
die Abweichungen vom Ausgangswert zu quadrieren und mit der Häufigkeit
ihres Vorkommens zu multiplizieren ; es ist somit
-TdJ = 2 • 20« + 3 . 102 + 4 • 10^+ 2 • 20" = 100 (4- 2* + 7- 1*) = 2300
und i:dj=3 -202 + 5 • 102+1-102+ 3 • 202 = 100 (6 • 22 + 6 • l2) =3000.
Daraus ergibt sich auf Grund von (64)
100
Zx^ = 2300 — TS" = 2294,44
18
, , 1600
und i:2/2 = 3000 — - = 2911,12
lo
80 daß wir bekommen
1822,22
r= ^ = 0,7215.
•/2294,44 • 2911,12
Infolge des kleinen n bringen die durch die Zuordnung zu den Intervallen
bewirkten Veränderungen der gegebenen Werte eine nicht unwesentliche
Änderung der Korrelationsgröße hervor. Diese Art der Berechnung wird
man auch nur bei großem n anwenden. Genauer wäre der Wert geworden, wenn
wir die Intervallgröße kleiner gewählt hätten ; aber es sollte ja auch nur das
Verfahren dadurch gezeigt werden.
5. Wenn eine Vielheit solcher Zahlenwerte hinsichtlich ihrer gegenseitigen
Abhängigkeit durch r, also durch einen einzigen Wert charakterisiert werden
soll, so muß eine Bedingung zum mindesten annähernd erfüllt sein: die
Korrelation muß linear oder geradlinig sein; d. h. die Zu- oder Ab-
nahme der Größe derX-Varianten muß im Durchschnitt linear proportional der
Zunahme der Größe der Y- Varianten sein. Man erkennt dies an den arith-
metischen Mitteln der in einem jeden Intervall vorkommenden Einzclwcrte
(es handelt sich also um die b,- Werte eines jeden Y-Intervalls und um die
hy eines jeden X-Intervalls). Werden diese bestimmt und in die Übersicht
richtig eingetragen, so liegen die b,- und b^-Werte bei geradliniger Kor-
relation je auf einer geraden Linie (oder wenigstens annähernd^ Das n der
Zaitschrlft f. pkdagoir. Pnychologie. 16
242 Über die Methoden der Korrelationsrechniing in der Pädagogik usw.
Tafel XIV ist zu klein, um eine Aussage über die Linearität der Korrelation
zu gestatten.
Ist die Korrelation nicht linear, so können einstweilen die so gewonnenen
Durchschnittswerte und die ihnen entsprechenden Streuungsgrößen zur
Charakteristik der gegenseitigen Zusammenhänge verwendet werden.
Mit diesen Betrachtungen will ich meine Übersicht über die Methoden der
Korrelationsrechnung zunächst einmal schheßen. Es ist ungefähr das, was
nicht nur einfach in seiner Anwendung, sondern auch einigermaßen durch-
sichtig ist. Das hier an brauchbaren Mitteln Gebotene dürfte, wenn noch nicht
heute, so doch bald zum eisernen Bestand der Korrelationsrechnung gehören.
Daß man aber darum keine Fehler bei der Verwendung dieser rechnerischen
Hilfsmittel machen kann, ist damit nicht gesagt ; auch sind diese Berechnungs-
methoden keinerlei Zaubermittel, mit denen man wunderbare Resultate von
seltener Exaktheit aus schlechtem Versuchsmaterial hervorbringen kann,
sondern schlichte Werkzeuge zur Ordnung, Klärung, Ausdeutung und Präzi-
sierung guter Versuchsergebnisse und, richtig angewandt, zur Prüfung
schlechter. Man vergesse indessen über den Korrelationsgrößen nicht die
in gegenseitiger Beziehung stehenden Stücke und deren Beschaffen-
heit, und man übersehe ferner nicht, daß die beste Vorarbeit zur Heraus-
arbeitung allgemeiner Korrelationen die sorgfältige phänomenologischeAnalyse
der vorliegenden Tatbestände ist.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Kerschensteiners Leitsätze über „Die nationale Einheitsschule" für die
Verhandlungen der Deutschen Lehrerversammlung in Kiel (Pfingsten 1914)
haben den folgenden Wortlaut:
1. Die Erziehung (im engeren Sinne) ist jener Kulturakt einer Gemeinschaft,
der bestimmte Kulturgüter (der Religion, der Moral, des Wissens, der Kunst,
der Technik, der gesellschaftlichen Sitten und Gebräuche) so an den Zögling heran-
bringt, daß sie nach Maßgabe seiner Veranlagung in ihm jene besondere Kultur-
energie für die Zwecke der Gemeinschaft auslösen, deren er fähig ist. (Erziehungs-
begriff.)
2. Das wesentliche Instrument, dessen sich dieKulturgemeinschaft für Durch-
führung der systematischen Erziehung ihrer minderjährigen Mitglieder bedient,
ist die öffentliche allgemeine Schule. (Erziehungsinstrument.)
3. Die allgemeine öffentliche Schule im Rechtsstaate, d. i. jenem Staate, der
die Beziehungen seiner Mitglieder autonom nach den Grundsätzen der Gerechtig-
keit und Billigkeit regelt, muß jedem Kinde ohne Ausnahme jene Erziehung er-
möglichen, auf die es nach Maßgabe seiner Veranlagimg Anspruch erheben kann.
(Erziehungsrecht. )
4. Umgekehrt ist im Kulturstaate, d. i. in jenem Staate, der alle allgemeinen
Zwecke der Kultur in seinen Zweck aufgenommen hat, jedes Kind verpflichtet,
von jenen öffentlichen Erziehungseinrichtungen so lange Gebrauch zu machen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 243
als es zur Ausbildung eines^ nützlichen Mitgliedes der Kulturgemeinschaft not-
wendig erscheint. (Erziehungspflicht.)
5. Will dieser Erziehungspflicht durch private Einrichtungen außerhalb der
allgemeinen öffentlichen Schule genügt werden, so hat die Staatsgemeinschaft
die Erlaubnis hierzu zu erteilen, a) solange und soweit die privaten Erziehungs-
absichten nicht dem Gesamtwohle der Gremeinschaft zuwiderlaufen, b) soweit die
privaten Erziehungseinrichtungen mindestens das gleiche leisten, wie die öffent-
lichen, c) solange die Mitglieder keine öffentlichen Mittel für ihre nicht allen gleich-
mäßig zugänglichen Einrichtungen verlangen. (Erziehungsfreiheit.)
6. Die Lasten der allgemeinen öffentlichen Pflichtschulen sind aus allgemeinen
öffentlichen Einnahmen und nicht durch besondere Schulgelder zu decken. Muß
in höheren öffentlichen Schulen für freiwilligen Besuch mangels hinreichender
öffentlicher Mittel besonderes Schulgeld erhoben werden, so ist jeder mittellose
Begabte hiervon zu befreien. Die Zahl der so Befreiten ist nicht auf einen be-
stimmten Prozentsatz der Gesamtschülerzahl zu beschränken. Mittellosen Eltern
besonders begabter Schüler sind Erziehungsbeiträge aus öffentlichen Mitteln zu
gewähren. (Schulgeldfreiheit und Erziehungsbeihilfen.)
7. Die Gewährung von allgemeiner Lehrmittelfreiheit ist mehr eine Frage der
Zweckmäßigkeit als eine innere Notwendigkeit. Sie bringt ebenso Erziehimgs-
nachteile mit sich, wie sie Erziehungs vorteile gewährt. In allen öffentlichen Schu-
len aber sind mittellosen Schülern die Lehrmittel unentgeltlich zur Verfügung
zu stellen. (Lehrmittelfreiheit.)
8. Es widerspricht dem Geiste des Rechts- und Kulturstaates, parallel den
Pflichtschulen andere Schulen unter dem Vorwande einer erweiterten Bildung
zu unterhalten, die nur einzelne nach Maßgabe ihrer besseren wirtschaftlichen
Lage auf Grund besonderen Schulgeldes an Stelle der Pflichtschule besuchen
können. Jede Differenzierung der öffentlichen Schule nach ökonomischen oder
sozialen Rücksichten ist eine Verletzung des Rechts- und Kulturstaates. (Soziale
Differenzierung.)
9. Die allgemeine öffentliche Schule bedarf aber der Differenzierung aus psycho-
logischen und pädagogischen Gründen. Sie ist geboten a) durch die Wachstums-
reife des Zöglings, b) durch dessen Veranlagung für einzelne Kulturgebiete,
c) durch die Methoden der Vermittlung der Kulturgüter nach dem Zwecke der
Schule. (Psychologisch-pädagogische Differenzierung.)
10. Die Fundamentalforderung aller Differenzierung ist, daß jeder Schüler
in der allgemeinen öffentlichen Schule jene Bildungswerte vorfindet, die seiner
Veranlagung gemäß sind. Von diesem Standpunkte aus ist es einer der größten
Fehler des öffentlichen Schulwesens, daß es heute noch keine Unterrichtsein-
richtungen zur Betätigung und intellektuellen Entwicklung der besonders im
Kindes- und Knabenalter vorwiegenden praktischen Interessen hat. (Funda-
mentalsatz der Differenzierung.)
11. Die Erziehung durch planmäßigen Unterrichtsollnicht vor dem Abschluß
der eigentlichen Kindheit, d. h. vor dem ersten Abschluß der physiologischen
Reife der Assoziationsbahnen beginnen. Diese ist im allgemeinen nicht vor dem
vollendeten sechsten Lebensjahre, also dem Beginn des siebenten Lebens-
jahres zu erwarten. (Beginn der Erziehung durch planmäßigen Unterricht.)
12. Die erste Differenzierung der allgemeinen öffentlichen Schule hat mit dem
16*
244: Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Zeitpunkte zu erfolgen, zu dem eine Trennung der spekulativen von den prak-
tischen Interessen sich deutlicher bemerkbar macht, die zweite mit der deutlichen
Entwicklung bestimmter durch die Einzelveranlagung bedingter Berufsinteressen.
Der erste Zeitpunkt fällt im allgemeinen nicht vor das zehnte, der zweite nicht
vor das vierzehnte Lebensjahr, von Ausnahmen abgesehen. (Sukzessive Differen-
zierung.)
13. Neben der sukzessiven Differenzierung wird aber auch eine simultane nötig,
die teils durch Begabungsabteilungen, teils durch Versetzungsbeschleunigung,
teils durch Wahlfreiheit des Unterrichtes, teils durch besondere Schultypen be-
friedigt werden kann. (Simultane Differenzierung.)
14. Die durch die Differenzierung des allgemeinen öffentlichen Schulwesens
entstandenen Zweige wahren aber nur dann den Charakter der Einheitsschule,
wenn ihre Organisation den Übergang von einem Zweige zu einem anderen dem
entsprechend begabten Schüler ohne allzu große Opfer (wenn nötig durch Über-
gangsschulen) ermöglicht. (Einheit in der Mannigfaltigkeit.)
15. Den Charakter der nationalen Einheitsschule bewahren sodann alle
Zweige des Schulwesens nur dann, wenn ihr Unterricht und ihre sonstigen Er-
ziehungseinrichtungen vom Geiste der Staatsgesinnung vollständig erfüllt sind.
Nicht der Unterrichtsstoff macht die nationale Einheitsschule, sondern die sozio-
logische Auffassung des Stoffes. (Einheit in der Staatsgesinnung.)
16. Die Gestaltung, Verwaltung und Beaufsichtigung der allgemeinen öffent-
lichen Schule ist ausschließlich Angelegenheit der Staatsgemeinschaft, die ihre
Lasten trägt imd in deren Dienst die Schule als Erziehungsinstrument arbeitet.
(Staatsaufsicht.)
17. Es liegt aber im höchsten Interesse des Kultur- und Rechtsstaates, das
Organisations- und Verwaltungsrecht für keine Gattung der öffentlichen Schule
zu zentralisieren, sondern es in möglichst weitgehender Autonomie unter
Aufstellung von Mindestforderungen den untergeordneten öffentlich rechtlichen
Korporationen zu überlassen. (Dezentralisation.)
18. Es liegt weiter im Interesse des Kultur- imd Rechtsstaates, in die kor-
porativen Organisations-, Verwaltungs- und Aufsichtsorgane der Schule voll-
berechtigte Vertreter derjenigen Kulturgemeinschaften aufzunehmen, deren Zweck
die Pflege eines der großen fünf Kulturgebiete (Religion, Moral, Wissenschaft,
Kunst, Technik) ist, die in der Schule als Erziehungsmittel aufgenommen sind.
(Schulbehörden.)
Über die Alkoholkriminalität der Jugendliehen macht der bekannte Land-
gerichtsrat Rupprecht-München auf Grund der Erhebimgen, die das bayrische
Justizministerium als erste und bisher einzige deutsche Justizverwaltung über
den Einfluß des Alkoholgenusses auf die Häufigkeit und Erscheinungsformen der
Verbrechen ausübt, die folgenden Mitteilungen^):
Von 8864 im Jahre 1910 wegen Vergehen und Verbrechen gegen die Reichs-
gesetze in Bayern verurteilten Personen, die die Straftat im Zustande der Trunken-
heit verübt haben, waren 166 oder 1,9% noch nicht 18 Jahre alt; im Jahre 1911
^) Zeitschrift f. Kinderschutz u. Jugendfürsorge. 1914, Heft 1 u. 2.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 245
kamen auf 7695 wegen Trunkenlieitsdelikten Verurteilte 178 oder 2,3% Jugend-
liche, im Jahre 1912 auf 8629 überhaupt Verurteilte 231 oder 2,7% jugendliche
Trinker. Die Zahl der jugendlichen Trunkenbolde wuchs somit von Jahr zu
Jahr nicht bloß absolut, sondern auch relativ, und zwar relativ (das heißt im
Verhältnis zur Gesamtzahl der verurteilten Trinker) im gleichen Maß (0,4%).
Diese Steigerung der Zahl jugendlicher Alkoholdelinquenten ist absolut und relativ
höher als die Steigerung der Zahl der wegen Verbrechen und Vergehen verurteilten
Jugendlichen überhaupt, letztere betrug im Jahre 1910 6024 oder 9,3%, im Jahre
1911 6117 oder 9,5% der Gesamtzahl aller verurteilten Personen. Die Zunahme
der verurteilten jugendlichen Personen überhaupt machte also nur 0,2% aus
gegenüber 0,4% Zunahme der verurteilten jugendlichen Trinker. (Für 1912 sind
Angaben noch nicht veröffentlicht.) Diese Ziffern erhalten ihre besondere Be-
deutung, wenn man weiter berücksichtigt, daß von den sämtlichen wegen Ver-
brechen und Vergehen gegen die Reichsgesetze verurteilten Personen im Jahre
1910 8864 oder 13,6%, im Jahre 1911 7695 oder 11,9% und im Jahre 1912 8629
oder 12,3 % die zur Verurteilung führende Straftat im Zustande der Trunkenheit
verübt haben. Die Zahl der Alkoholexzedenten überhaupt ist somit von 1910
auf 1911 um 1,7% gefallen, von 1911 auf 1912 um 0,4 %gestiegen, hat aber auch
in diesem Jahre die Höhe des Jahres 1910 weder absolut noch relativ erreicht;
dagegen zeigen Verurteilungen jugendlicher Trinker von Jahr zu Jahr eine gleich-
mäßige absolute und relative Zunahme.
Auch die weitere Tatsache, die sich aus den Erhebungen feststellen läßt, ist
nicht ohne wesentlichen Wert für die Würdigung der Frage, wie dem Alkohol-
genuß der jugendlichen Personen in gesetzlicher und fürsorgerischer Art entgegen-
getreten werden soll und kann. Nicht in den großen Städten — wie man wegen
der günstigeren und zahlreicheren Gelegenheit und der früheren und besseren
Erwerbsmöglichkeit anzunehmen geneigt sein könnte — finden sich die jugend-
lichen Alkoholverbrecher, sondern in den vorwiegend ländliche Bezirke umfassen-
den Landgerichtsbezirken. So wurden wegen im Zustande der Trunkenheit ver-
übten Verbrechen und Vergehen verurteilt: im Landgerichts bezirke München I,
der fast ausschließlich die Stadt München in sich begreift, 1911 1 Jugendlicher,
1912 deren 2, im Landgerichtsbezirke Nürnberg, der ebenfalls nur geringe länd-
liche Bevölkenmg mit einschließt, 1911 9, 1912 gleichfalls 9, in Augsburg 1911 8,
1912 13, dagegen in dem fast ganz ländlichen, nur mit wenigen Städten von nicht
besonders starker Einwohnerschaft besiedelten Landgerichtsbezirk München II,
1011 6, 1912 20, in Passau 1911 8, 1912 10, in Kaiserslautern 1911 17, 1912 15,
in Bamberg 1911 14, 1912 8, in Weiden 1911 12, 1912 14, in Neuburg 1911 15.
V.H'2 10 usw. Berücksichtigt man überdies, daß die strafmündige Zivilbevöl-
kerung und damit auch die Zahl der zwischen 12 und 18 Jahren stehenden Jugend-
lichen in den mehr städtischen Landgerichtsbezirken bedeutender, oft um das
Vicifacho höher ist als die Bevölkerung der mehr oder minder ländlichen Land-
^'. rir!ifsl>(zirk( f.MiindK ti I zählt 508 314, Nürnberg 348 632, Augsburg 236 162,
München 11 232 102, Passau 149 798, Kaiserslautern 140 570, Bamberg 190 505,
Weiden 124 322, Neuburg 142 477 Einwohner strafmündigen Alters), so läßt
sich ni( lil v. rkennen, daß die Gefährdung Jugoinüic ! ' (luirh den Alkohol und
dif V ,,|g zu Alkohol' '-'-^n in den kleinstädlisclitn und ländlirhon Bo/irkon
b eh größer ist .. a großen Städten.
246 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Vertretung der Pädagogik auf der Internationalen Ausstellung für
Buchgewerbe und Graphik in Leipzig 1914 ist in einer Sonderausstellung
„Schule und Buchgewerbe" so umfangreich und wissenschaftlich geplant, wie es
bisher noch nirgends geschehen ist. Vor allem wird hier auch die pädagogische
Psychologie im vollen Maße ihrer Bedeutung in die Erscheinung treten. Ein
großer Stab von Mitarbeitern, dem Lehrer aller Schulgattungen, Ärzte, Kauf-
leute, Künstler und Gelehrte angehören und dem Privatdozent Dr. Brahn als
erster Vorsitzender vorsteht, ist an der Arbeit, ein ungeheures Material zu sam-
meln und in ausstellungsmäßige Form zu bringen. Der Plan geht auf alle Ge-
biete aus, in denen sich die Art und die Entwicklung des kindlichen Ausdrucks
zeigt. Richtlinien sind dabei zu zeigen, 1) wie sich das Kind den graphischen
Ausdruck erwirbt, 2) wie es sich zur Benutzung buchgewerblicher Erzeugnisse
entwickelt, 3) wie die buchgewerblichen und graphischen Erzeugnisse in der
allgemein bildenden Schule, einschließlich der Lehrerbildungsanstalten, zu
pädagogischen Zwecken Verwendung finden, 4) wie Schulverhältnisse aller Art«n
und Zeiten auf graphischem und buchgewerblichem Gebiete zum Ausdruck ge-
bracht werden. Wie reichhaltig die Sonderausstellung, die in drei Gebäuden:
dem Schulhaus, der Schulbaracke und dem Wandererheim untergebracht wird,
ausgestattet werden soll, mag eine verkürzte Übersicht der einzelnen Abteilungen
zeigen.
Psychologische Mittel-Gruppe:
In der psychologischen Abteilung soll erstmalig gezeigt werden, welche Ergeb-
nisse die neue experimentelle Forschungsweise in der Kinderpsychologie und Pädagogik
erreicht hat. Es wird besonders Wert darauf gelegt werden, zu zeigen, dai3 dieser
Weg geeignet ist, unsere Kenntnis vom Kinde wesentlich zu bereichern und die Formen
des Unterrichtens und des Erziehens auf einen naturgemäßeren Boden zu stellen.
A. Die allgemeine körperliche Entwickliing des Kindes und des Jugendlichen, sowie
die wichtigsten Apparate und Wege zu ihrer Untersuchung : a) Apparate, b) Anato-
mische Präparate, c) Kurven, Bilder, Photographien, Personalbogen usw. d) Die
körperliche Leistungsfähigkeit und Ermüdbarkeit, e) Die Entwicklung des abnor-
malen Kindes, f) Die Intelligenzuntersuchungen, g) Typische Krankheiten des
Kindesalters, die besonders die geistige Entwicklung hemmen. — B. Das Wesen und
die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten des Kindes und des Jugendlichen. —
C. Die psychologischen Grundlagen des Zeichnens: a) Die taktile, motorische, optische
Seite des Zeichen Vorganges, b) Die prodiiktive Seite des Zeichnens: Die Kinder-
zeichnung als psychologische Äußerung, c) Die ästhetische Seite des Zeichnens,
d) Psychologie des Farbensinnes. — D. Die Psychologie des Schreibvorganges:
a) Die Schreibbewegung, b) Der eigentliche psychologische Schreibvorgang, c) Blin-
denschrift. — E. Die Psychologie des Lesens: a) Der Akt der Auffassung, b) Das
Lesen zusammenhängender Texte, c) Einige Versuche, die die psychologischen Fak-
toren des Lernens zeigen, d) Einiges aus der Psychologie des Rechnens, e) Zahlbild
und Notenbild. — F. Die Psychologie des Sprechens und Singens: a) Die psycho-
logischen und anatomischen Grundlagen der Sprache, b) Die Entwicklung der kind-
lichen Sprache, c) Die mimische und pantomimische Äußerung beim Sprechen,
d) Die psychologischen und anatomischen Grundlagen des Singens. e) Die Entwick-
lung der musikalischen Fähigkeiten der Kinder. Eine Reihe bedeutender Firmen
und wissenschaftUcher Institute haben ihre Teilnahme zugesagt. Ein besonderer
Vorführ im.gssaal steht zur Verfügim^g und wird eine Hauptanziehung bilden. Er ist
im Mittelbau des Haupthauses gelegen.
1. Gruppe. Zeichnen:
Die psychologischen Grundlagen des Zeichnens. Siehe den Arbeitsplan der psycho-
logischen Abteiliing. — B 1. Die freie Kinderzeichnung soll als Untersuchungs-
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 247
mittel benutzt werden. Es sollen möglichst alle Methoden zvir Darstellring gebracht,
aber nicht das Gresamtgebidt bearbeitet oder erschöpft werden, sondern nur
ausgewählte Beispiele aus der Arbeit der Untersuchung der Kinderzeichnung. 1. Die
Kinderzeichnimg ist ein Teil des Gesamtausdruckes. Verbindung mit sprachlichen,
schriftlichen, mimischen oder sonstigen begleitenden Ausdrucksäußerungen. 2, Ent-
wicklungsreihen von einzelnen Eandern (Längsschnitt). 3. Die Kinderzeichnung
auf verschiedenen Entwicklungsstufen (Querschnitt). Beispiele: Entwicklung der
Darstellung der Handlung, des Raimaes, der Menschen, der Tiere, der Pflanzen,
von Dingen, Liebhabereien. 4. Die Kinderzeichnung als Mittel, den Vorstellungs-
schatz kennen zu lernen. 5. Besondere Bedingungen, die auf die Kinderzeichnung
einwirken : a) Im Ivinde liegende besondere Bedingungen, b) In der Umwelt liegende
Einflüsse, c) In Material und Technik liegende Einflüsse. Es handelt sich um Vor-
führung von Kinderzeichnungen, in denen sich zeitweise oder dauernde Störungen,
Hemmungen, Förderungen zeigen. 6. Geschlechtsunterschiede.
B 2. Zeichnen im Heere. Der durchschnittliche zeichnerische Bestand der Er-
wachsenen überhaupt.
C. Zeichnen in der Schule. 1. Vor dem planmäßigen Zeichenunterrichte. 2. Aus
dem planmäßigen Zeichenunterrichte: a) Zeichnen nach der pädagogisch-psycho-
logischen Seite betont, b) Die Entwickkmg der Raumform- Vorstellung, des Form-
gefühls, c) Geschmacksbildung durch Farbübungen, d) Geschmacksbildung durch
Flächenschmuck, e) Technische Kultur als Ausdruckssteigerung. 3. Zeichnen in den
anderen Unterrichtsfächern. 4. Sonderentwicklungen innerhalb des Unterrichts,
besondere Begabungen, Neigungen. 5. Zur Methodik des Zeichnens im Seminar.
6. Zeichnerische und malerische Betätigung des Lehrers. 7. Geschichte des deutschen
Zeichenunterrichts .
D. Werkstattarbeit für Knaben und Mädchen. Knabenhandarbeit, Mädchenhand-
arbeit als Ausdruck.
2. Gruppe. Schreiben:
A. Die psychologischen Grundlagen des Schreibens. Siehe den Arbeitsplan der
psychologischen Abteilung.
B. Die Schrift. 1. als Leseobjekt: Bedingungen der Leserlichkeit. Zurückführung
auf Grundformen. Betonung der Ecken und Enden als Gegenwirkung zur natür-
lichen Irradiation. Schwarz auf Weiß, Weiß auf Schwarz. Günstigste Schriftgröße.
Farbige Schrift ? Das Wortbild, Satzbild als Anfang oder Ende der Schrifterfassung.
Die Anpassung an geläufige Zeitformen. Macht der Gewohnheit. 2. als Bewegungs-
linie: Bedingungen der Geläufigkeit. Die Grundformen sowie ihre Verbindungs-
möglichkeiten, Schwünge, Schleifen usw. Einfluß des Schreibmaterials auf die Ge-
läufigkeit, Abschleifen der Schrift unter der Forderung der Schnelligkeit. Persön-
liche und Duktusentwicklung. 3. als Ausdruck: Schriftideale, Normalalphabete.
Verirrung und Gesundung des Geschmacks: a) Materialausdruck, b) Zweckausdruck,
e) Persönlichkeitsausdruck. Charakterschriften, graphologische Erklärungen. Aus-
prägung des Charakters. Steigerung zur Kunstschrift.
C. Die Entwicklung der Schrift. 1. Freie Entwicklung: a) Aus der Kinderzeich-
nung: Begriffsschrift, Zahlbild und Ziffer, b) Aus gegebener Form, c) Aus dem
Schroibwerkzeug. 2. Das Schreibenlernen: Laute und Lautzeichen. Bildorschrift-
methoden, analytisches und synthetisches Verfahren. Erstes Schreiben imd Lesen.
Vorwiegen des optischen Aktes, Wege der Schriftanordnung, 3. Die Schreibübung:
Methoden zur Automatisierung. Vorwiegen des motorischen Aktes, bis zur mecha-
nischen Rechtschreibung. Die ausgeschriebene Handschrift und die Kunstschrift:
a) Verzicht auf besondere optische Kontrolle, b) Aufbau auf den erworbenen Ele-
menten unter bewußter Auswahl.
D. Schul- und Schülerschrifton verschiedener Zeiten und Länder. Sonderfragen:
Was und wie die Stände schreiben ? Schülorgeheimschrifton. Das korrigierte Heft.
E. Einzelarbeiten. Druck- und Schreibschrift, Latein-Deutsch. Schreiben unter
Gemütsdruck, Erregimg. Alkohol. Kindes- und Altorsschrift usw. —
F. Lehr- und Lernmittel.
248 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
3. Gruppe. Sprechen, Singen, Musik:
1. Grundlagen. A. Tonbildungsapparate vmd Hörorgan: Anatomie tmd Physiologie
des Sprechapparates. Tonbildvmgsinstrumente, die Grundsätzliches zeigen. Anatomie
und Physiologie des Hörorgans. Gehirnzentren. B. Tonbildung: 1. Der Vorgang.
2. Der Klang als Untersuchungsobjekt. C. Das Akustische im geistigen Leben:
1. Musikalische und sprachliche Elemente: a) Sprachmelodie und Sprachrhythmus,
b) Der Rhythmus, c) Das Harmonische. 2. Das musikalische und sprachliche Pro-
dukt: a) Das Volkslied, b) Musikalische Formen in ihrer Entwicklung, c) Instru-
mente als musikalische Ausdrucksmittel, d) Graphische Darstellung des Sprach-
lichen und Musikalischen. 3. Kindliche Entwicklung und erziehliche Einwirkung.
A. Vorschulalter: 1. SprachUche Entwicklung. 2. Musikalische Entwicklung.
B. Sprachliche und musikalische Erziehung in der Schulzeit: 1. Stimmbildung.
2. Physikalische Schülerarbeiten. 3. Einführiuig ins Sprachmelodische und Sprach-
rhythmische. 4. Rhythmische Erziehimgsmittel. 5. Harmonielehre. 6. Einführxmg
in die musikalischen Formen. 7. Tonveranschaulichungsmittel. 8. Die musikalische
Schulliteratur. 9. Musikinstrimiente. 10. Singschulen und Kinder konzerte. C. Nach
der Schule: Volksmusikschulen, -bibliotheken, -konzerte.
4. Gruppe. Sprechen, Lesen, Lernen.
Vorbemerkung: Die Grundlage des Lesens besteht einmal in der bewußten Sprach-
bildung, zum anderen in der Bildung des Auges. Die physiologische Seite der Sprach-
bildung wird bereits in Gruppe 3, die Bildung des Auges in Gruppe 1 zur Darstellung
gebracht. Es bleiben für Gruppe 4 übrig: A. Die sprachliche Entwicklung des Kindes
bis zum Schuleintritt. Dieser Verlauf soll dargestellt werden durch Veranschau-
lichung der sprachlichen Entwicklung eines gut beanlagten und natürlich sich ent-
wickelnden Kindes. — B. Sprachliche und phonetische Bildung des Kindes vor dem
Leseunterricht. — C. Das Lesenlernen. Die Leselernmethoden, charakterisiert durch
sinnenfällige Beispiele. Verschiedene Hilfsmittel: Der Lese- oder Setzkasten; Bei-
spiele. Die Lesemaschine. — D. Der Lesestoff. Die Fibel; die Entwicklung der Fibel
von der ältesten bis ziir Gegenwartsfibel; auch außerdeutsche. Die gegenwärtige
Fibel nach Inhalt, Bild, Ausstattimg. Lesestoff, der in gemeinsamer Arbeit von
Lehrern und Schülern geschaffen wtirde. Mittel zur Vervielfältigim^g. — E. Lesen
im weiteren Unterrichte. Die Psychologie des Lesens. Das Lesebuch nach Inhalt
und Ausstattung, Entwicklung des Lesebuches. Die Jugendschrift. Anhangsweise:
Kinderzeitschrift, Kinderverse, Kinderlieder. — F. Der deutsche Sprachunterricht
und die sprachliche Entwicklung. — G. Der fremdsprachliche Unterricht. Englisch,
Französisch. Alte und neue Sprachen. Esperanto. — H. Die sprachliche Entwick-
lung und das Lesen anormaler Kinder. Lesen der Blinden. Der Ausdruck und seine
Entwicklung bei den Taubstvimmen. Hilfsschule. — J. Lehrer- und SchülerbibUothek.
Mustergültige Lehrerbibliotheken für Lehrer aller Schulgattxmgen. K. Lesesaal.
Enthält die hervorragendsten pädagogischen Werke. — M. Angegliedert eine Lehr-
mittelausstellung.
5. Gruppe. Die Photographie in der Schule:
A. Das Bild als Mittel zur Charakteristik modernen Schullebens, a) Organisation
und gesim^dheitliche Fürsorge. Aufteilung größerer Schulen, Hilfsklassen, Hilfs-
schulen. Unterrichtsgänge, Waldschule, Erholungsheime, Ferienkolonien, Hygiene
des Schulhauses, Grimdsätze z\u" Verteilung in den Lehrplänen, Schule und Eltern-
haus, Aufklärungsarbeit der Schule, Elternabende usw., Schulspeisungen, Schul-
bäder, Pausenturnen usw. b) Moderne Unterrichtsformen. Die Ausstattungsfrage:
Klassenzimmer mit Einrichtungen zur Herstellung von Plastilina-, Papp- und Holz-
arbeiten, Aufbewahrung von angefangenen Arbeiten, Sammlungs- resp. Ausstellungs-
räume, Schülerwerkstatt, der Schulgarten, Sandhaufen und Sandkasten, Räume
für den naturwissenschaftlichen Unterricht, Schülerlaboratorium usw. Häusliche
Beschäftigung als Fortsetzung oder Anregung der Tätigkeit in der Schule, der Schüler
als Sammler, als Photograph.
Kleine Beiträge vmd Mitteilungen. 249
B. Das Bild als Lehrmittel. Entsprechend dem besonderen Programm der Aus-
stellung soll gezeigt werden, wie der photographierende Lehrer (Schüler, Schülereltern)
Anschauungsmaterial herbeischaffen kann, das den Heimatsunterricht im weitesten
Sinne des Wortes auf ganz neue Grundlagen stellt. — Aus einer bereits zur Verfügung
gestellten Bildersammlung einer Schule soll ein Beispiel herausgegriffen werden:
Unterrichtsgänge 5. Schuljahr: Erarbeitxuig der geologischen Karte. Drei zwei-
stündige Ausflüge. Wegskizzen mit eingetragenen Rastpvmkten. Profile der Höhen-
rücken, nach Photographie gepaust. Das Aufsuchen der Gesteine, anstehend, Bruch-
wände, Lesesteine, Eintragen ins Meßtischblatt. Vergleich mit der geologischen
Sektion. Schriftliche und zeichnerische Berichte. Vorbereitung und nachfolgende
Besprechung durch Aufnahmen unterstützt. Aufbauende und abtragende Arbeit
des Dorfbaches, alte und neue Brücken, Bäume im Sommer- und Winterkleide. Die
Birke: Arten, Wachstum, Zweige, Widerstandsfähigkeit, Krankheiten, Bestände,
ästhetische Wirkiuig. Herrschende Gesteinsarten in unserer Heimat. Basaltkuppen
in Nah- und Fernsicht usw. Das Beispiel soll zeigen, wie die photographische Technik
zur Herstellung von wertvollen Anschauungsreihen angeregt hat, läßt aber auch
erkennen, wie gerade das naturgetreue Bild neue Wege zur Organisation selbstän-
diger Schülerarbeit in den verschiedensten Unterrichtszweigen bietet. Wie so wert-
voller Besitz der Schule ausgewertet wird oder werden kann, um die Jugendpflege
zu beleben, die Eltern so zu interessieren, wäre einer besonderen Darstellung wert.
C. Wie die Schule in das Verständnis der physikalischen und chemischen Grund-
lagen der Photographie einführt. Lehrgänge der photographischen Techniken, soweit
sie als Bestandteil naturwissenschaftlicher Schülerübungen oder in besonderen Kursen
behandelt werden. Physik der Kamera, Vergrößerungs- und Projektionsapparate.
Kinematograph. Platte als Hilfsmittel zur Veranschaulichung und Untersuchxing
rasch verlaufender Vorgänge vmd als Mittel der Erweiterung unserer Sinnesempfin-
dungen. Kamera und Auge, das beidäugige Sehen, stereoskopischer Effekt. Das
Farbensehen, farbige Naturaufnahmen, Lichtempfindlichkeit und Farbenempfind-
lichkeit. D. Die photographischen Techniken als Hilfsmittel für die mathematischen
und die naturwissenschaftlichen Schülerübungen, a) Festhalten von Kontiu-en und
Hauptlinien des Aufbaues von Pflanzen luid Pflanzenteilen, sowie tierischem, dvirch-
scheinendem oder durchsichtigem Gewebe. Diu-chkopieren. Vorbereitungen für
mikroskopische Übungen usw. b) Die Lochkamera.
6. Gruppe. Kind, Lehrer und Schule in Kunst und Karikatur:
a) Das Kind in der künstlerischen Darstellung, auch in der Karikatur, b) Der
Lehrer als Gegenstand der Kunst und Karikatur, c) Die Schule, das Schulleben in
Kunst und Karikatur. — Das Ganze wird eine kleine Kunstausstellung.
7. Gruppe. Schulgeschichte, Statistik und Presse:
A. Schulgeschichte. 1. Entwickelnde Darstellung der geschichtlichen Beziehungen
zwischen Schule, Graphik und Buchgewerbe : a) Alterttun und Mittelalter, b) Huma-
nismus und Reformation (Err.smus, Luther, Melanchthon, Comenius). c) Pietismus
und Aufklärung (Locke, Rousseau, Basedow, Pestalozzi), d) 19. Jahrhundert (Diester-
weg, Herbart, Ziller). 2. Sonderdarstellungen: a) Buchgeschichten des Doctrinale
des Alexander de Villa-Dei und des Orbis pictus des Comenius. b) Geschichte ein-
7.1'lnor Schulen des In- und Auslandes in ihrer graphischen und buchgewerblichon
Ausprägung, c) Kind und Schulbuch im Wandel der Zeiten. — B. Die pädagogische
Presse. 1. Beispiele aus der Entwicklung der pädagogischen Fachpresse. 2. Die
pädagogische Fachpresse in der Gegenwart: a) Die pädagogische Presse deutscher
Zunge: Die bedeutendsten deutschon Zeitungen und Zeitschriften. Beispiele von
Zeitschriftengruppen für einzelne Gebiete: Lehrerbildung, höheres Schulwesen, Fort-
bildungsschule, weibliche Bildung, Arbeitsschulgedanke usw. b) Die pädagogische
F-' - rosse des Auslandes: Europa, Amerika, Asien, Afrika, Australien. 3. Statistik
lagogischen Fachpresse. 4. Ausstattung. 5. Literaturnachweise. — C. Schul-
Hiatistik. Dieselbe wird sich auf graphische Darstellungen der Roichsschulstatistik
250 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
vom Jahre 1911 beschränken. Auswärtige Statistiken werden nur so weit heran-
gezogen, als besondere charakteristische Gesichtspunkte hervorzuheben sind. Es
wird versucht werden, darzustellen, wie die Dichtigkeit der Bevölkerung einwirkt
auf die Beschulung, auf die Zahl der Schulen, Schüler und Lehrer und auf die Höhe
des Schulaufwandes.
Die große Masse der ausgestellten Gegenstände bringt es mit sich, daß er-
fahrungsgemäß vieles nur flüchtig betrachtet wird, andres ganz unbesehen bei-
seite bleibt. Um solchem oberflächlichen Beschauen einigermaßen entgegenzu-
treten, werden, wie in der Hauptausstellung, auch in der Sonderveranstaltung
,, Schule und Buchgewerbe" Vorträge und Führungen, Versuche mit Erwachsenen
und Kindern, Erklärungen und Vorführungen von Instrumenten und Apparaten
usw. durch Fachmänner stattfinden, und so wird manches zu besonderer aufmerk-
samen Betrachtung herausgehoben werden.
Zur Erreichung des Zieles ist die Beteiligung auch der kleinsten Schulgemeinde
wie privater Unternehmungen zunächst durch Darbietimg besonders wichtigen
Ausstellungsmateriales erwünscht. Zuschriften in dieser Beziehung sind zu
richten an Herrn Walter Krötzsch in Leipzig, Brand vor werkstraße 39.
Preisausschreiben. Auf die beste Abhandlimg über die Anwendbarkeit der
Pearsonschen Formeln auf psychophysische Probleme ist ein Preis von 100 Dol-
lars ausgesetzt worden. Die Gesichtspunkte für die Behandlung des Problems
sind im allgemeinen durch William Brown formuliert worden, so daß nur
noch zu zeigen ist, 1) wie diese spezieller zu formulieren sind, und 2) wie sich
ihre Anwendung in der Praxis gestaltet. Man soll (mit Rücksicht auf die Praxis)
mit einem Minimum von Rechnung auskommen und eventuell dartun, wie die
Rechenarbeit durch neue Tabellen zu erleichtern ist. Verlangt werden numerische
Rechenbeispiele, doch nicht notwendig aus eigenen Versuchsergebnissen. In
Ermangelung neuen Materiales sind F. M. Urbans Experimente über die Ver-
gleichung gehobener Gewichte (alle 7 Beobachter) oder Kellers akumetrische
Versuche (alle Resultate eines Beobachters in beiden Zeitlagen) zu benützen.
Die Arbeiten werden bis spätestens zum 31. Dezember 1914 von Herrn Prof.
E. B. Titchener, Cornell Heights, Ithaca, N. Y. U. S. A. in der für Preisarbeiten
üblichen Form angenommen. Preisrichter sind die Professoren William Brown,
E. B. Titchener und F. M. Urban, die den Namen des preisgekrönten Bewerbers
am 1. Juli 1915 bekannt geben wollen.
Nachrichten : 1. Der Bund für Schulreform hat von den zuständigen Behörden
fast aller deutschen Bundesstaaten die Genehmigung erhalten, an eine Anzahl
von Volksschulen Fragebogen zu verteilen, durch deren Beantwortung eine
Übersicht über den gegenwärtigen Stand des mathematischen,
naturwissenschaftlichen und geographischen Unterrichts gewonnen
werden soll.
2. Mit dem Plan der Errichtung eines heilpädagogischen Seminares
in Berlin, wie ein solches in Essen bereits eröffnet worden ist und
durch den Prüfungszwang für Lehrer an Hilfsschulen nun auch in der
Reichshauptstadt notwendig wird, beschäftigt sich zurzeit das preußische
Kultusministerium.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 251
3. Die Kaiser-Wilhelm- Stiftung zur Förderung der Wissenschaften plant
die Errichtung zweier weiterer Institute, wovon das eine der Psychologie,
das andere der Hirnforschung gewidmet sein soll.
4. Auf der XXIII. Hauptversammlung des Vereins zur Förderung
des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts —
in der Pfingstwoche 1914 zu Braunschweig — soll das Thema: ,,Was können
Mathematik und Naturwissenschaften auf unseren höheren Schulen für eine
philosophische Vorbildung leisten ?" von den Herren Schulrat Prof. Dr. Wernicke-
Braunschweig (Mathematik und Philosophie), Prof. Dr. Poska-Berlin (Physik
und Philosophie) und Prof. Dr. Bastian Schmid-Zwickau (Biologie und Philo-
sophie) behandelt werden.
5. Ein Hilfsschulkurs wird vom 30. April bis zum 20. Mai d. Js.
in Breslau abgehalten. Er will ebensowohl der ersten Einführung in die Arbeit
der Hilfsschule wie auch der Fortbildung und Vertiefung auf den verschiedenen
Gebieten der Heilpädagogik dienen. Sein Arbeitsplan entspricht den Anforde-
rungen, die in der Prüfungsordnung für Hilfsschullehrer (vom 1. Oktober 1913)
gestellt werden. U. a. halten Vorträge Prof. Dr. William Stern aus der Kinder-
psychologie und Dr. Chotzen aus der Psychopathologie. Anmeldungen sind
zu richten an die Schulverwaltung der Stadt Breslau; der Teilnehmerbeitrag
beträgt 50 Mk.
6. Der Deutsche Verein für Schulgesundheitspflege wird seine dies-
jährige Versammlung vom 2. bis 5. Juni in Stuttgart halten. Von den Vor-
trägen seien erwähnt: Heilerziehungsheime für psychopathische Kinder. (Geh.
Medizinalrat Prof. Dr. Ziehen, Wiesbaden.) Soll der Anfangsunterricht mit
Antiqua oder Fraktur beginnen? (Privatdozent Dr. Cords, Bonn, und Rektor
Otto Schmidt, Berlin.) Die gesundheitliche und pädagogische Bedeutung der
Schulstrafen. (Dr. Moses, Mannheim, und' Schulrat Dr. Mosapp, Stuttgart.)
7. In der Frauenhochschule zu Leipzig wird die Pädagogik im Som-
merhalbjahr 1914 folgendermaßen vertreten sein: Pädagogische Theorien und
Erziehungswesen von Rousseau bis zur Gegenwart (Pädagogik II. Teil), Prof.
Dr. E. Spranger. Experimentelle Pädagogik, Privatdozent Dr. M. Brahn.
Historisch pädagogische Übungen, I. Teil: Amos Comenius' ,,Orbis pictus" und
,,Didactica magna", Prof. Dr. P. Gedan. Friedrich Fröbels pädagogische
Schriften von 1836 bis 1844 (mit schriftlichen und mündlichen Übungen, Ver-
waltungsdirektor Prüfer. Übungen zur experimentellen Pädagogik und an-
gewandten Psychologie, Privatdoz. Dr. M. Brahn. (Im Institut für experimentelle
Pädagogik, a) für Fortgeschrittene: Vorstellungs- und Phantasieleben des
Kindes, b) Einführungskurs.) Übungen zur vergleichenden Kinderforschung.
{Die Gresetzmäßigkeit in der Entwicklung der kindlichen Verzierungskunst.) Ober-
lehrer Dr. J. Kretzschmar. (Im Institut für Kultur- und Universalgeschichte.)
Methodisch -praktische Übungen über ausgewählte Kapitel der Kinderpsychologie,
Verwaltungsdirektor Dr. J. Prüfer. (Im Institut für Erziehungskimde.)
8. Die diesjährigen Kurse des Deutschen Vereins für Knabenhandarbeit
und Werkunterricht, die am Seminar in Leipzig abgehalten werden, sind
dieses Jahr auf die Zeit vom 7. Juli bis 22. August und vom 3. November bis
19. Dezember gelegt worden.
252 Literattirbericht.
Literaturbericht.
Bechterew, Prof. Dr. O. v., Objektive Psychologie oder Psychoreflexo-
logie, die Lehre von den Assoziationsreflexen. Autorisierte Übersetzung
aus dem Russischen. 37 Fig. und 5 Tafeln. Verlag von G. B. Teubner, Leipzig
1913. 8«, VIII u. 468 S. Brosch. 16,00 M., geb. 18,00 M.
B. will seine neue Psychologie den xuizulänglichen alten Psychologien entgegen-
stellen. Diese neue Lehre von den seelischen Vorgängen nennt er objektive Psycho-
logie, und ihre Grundlagen bilden die Assoziationsreflexe. Warum kann die bis-
herige subjektive Psychologie nicht ausreichen ? ,,Wenn wir über die psychische
Tätigkeit eines fremden Menschen iirteilen, zumal wenn dieser seine Erlebnisse nicht
durch Worte ausdrückt, sind wir stets zu Annahmen geneigt, die sich aus unserer
subjektiven Welt ableiten und die auf Selbstbeobachtung beruhen. Unwillkürlich
schreiben wir unseren Mitmenschen die gleichen Erlebnisse zu, die wir selbst unter
analogen Umständen erfahren; wir vergessen, daß die neuropsychische Tätigkeit
das Material ausschließlich unter dem Einflüsse der persönlichen Erfahrung schafft
und daß, sofern die persönliche Erfahrung des Menschen unter ungleichen äußeren
Bedingungen verlävift, auch die Ergebnisse dieser Erfahrungen, die in den Zentren
als belebungsfähige Spviren zurückbleiben, bei den verschiedenen Menschen ver-
schieden sind." Nvm setzte sich ja fast jeder Psychologe bei der Darstellxmg seines
Systemes mit diesem Einwände gegen die Berechtigung des Verallgemeinems eigener
psychischer Verlaufsformen und der daraus abgeleiteten Gesetzmäßigkeit ausein-
ander, und diese Deduktionen sind zu bekannt, als daß ich darauf einzugehen
mich verpflichtet halte. B. ist aber durch keine überzeugt worden; er zieht die
Konsequenz und verzichtet gänzlich auf die Selbstbeobachtung. Daraus ergibt
sich nun eine ganz andere Umgrenzung und Definition des Begriffes Psychologie.
Wenn man bisher unter Psychologie die Lehre von den Zuständen und Erschei-
nungen des Bewußtseins verstand, so ist nach B. diese Definition zu eng. Psycho-
logie ist die Wissenschaft vom psychischen Leben überhaupt, nicht nur von den
bewußten seelischen Erscheinungen. Die Aufgabe der objektiven Psychologie be-
steht demnach im Erkennen der bewtxßten wie vmbewußten Äußenmgen der
psychischen Tätigkeit, im Studium der biologischen Prozesse, die in naher oder
direkter Beziehtmg zu den psychischen Vorgängen stehen.
Interessant ist es nun, daß B. seine Psychologie von den gleichen Griuidlagen
aus auch ziu* Erforschung von massenpsychologischen Tatbeständen benutzt.
Der für die Methode seiner Psychologie fundamentalste Satz ist vielleicht der:
,,wir müssen fest auf dem Standpunkte verharren, daß es sich nicht um zwei parallel
verlaufende Prozesse handelt, sondern um einen und denselben Prozeß, der sich
gleichzeitig in materiellen oder objektiven Veränderungen des Gehirnes und in sub-
jektiven Erscheinungen (des übrigen Organismus) äußert." Die Registrierung dieser
nevu'opsychischen Äußerungen ist die Hauptaufgabe des objektiven Psychologen^
der sich freilich mit der Aufnahme von Puls, Atmung und Drüsenabsonderung nicht
begnügen darf. B. zeigt auch eine Reihe neuer Untersuchungsmöglichkeiten oder
weist daraufhin, daß alte, längst angewandte bei der neuen Fragestellung auch neue
Ergebnisse zeitigen. Ich verweise hier auf seine Verwendung der Kinderzeichnung.
Dem kritischen Leser werden die Schwächen dieser übertrieben einseitigen physio-
logischen Psychologie bald bemerkbar werden. Überlegt man sich gar, daß wie jede
Wissenschaft, so auch die Psychologie auf einer Reihe erkenntnis theoretischer
Voraussetzimgen beruht, dann wird man die Mängel des Bechterew 'sehen Systems
erst recht fühlen; denn eine überzeugende Ausführung darüber, daß die psychi-
schen Vorgänge den physiologischen identisch sind, konnte ich nirgends finden.
Leipzig. Johannes Handrick.
H. Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen. Mit 203 Textabbil-
dungen, meist nach Originalzeichnungen und photographischen Aufnahmen des
Verfassers. Stuttgart 1913. F. Enke. 264 Seiten.
Ansprechend geschrieben, mit einem treffend gewählten und gut reproduzierten
Bildermaterial ausgestattet, fassen die Ausführungen K. die Resultate der Forschung:
Literaturbericht. 253
über die Entwicklung der Ausdrucksbewegungen, speziell des Mienenspiels, zusammen,
gehen auf den nervösen und muskulären Apparat und den Mechanismus des Ablaufs
derselben ein und zeigen die Veränderungen auf, welche heute Auge, Nase, Ohr und
Mund vmter dem Einfluß psychischer Vorgänge, besonders der Affekt verlaufe, durch-
machen. Die Ergebnisse der Einzeldeskription der Ausdrucksbewegungen der Ge-
sichtsteile werden dann zusammengefaßt zu Gesamtbildern des Mienenspiels der
wichtigsten Affektformen und Stellungnahmen.
Das Buch beschränkt sich auf die Darstellung der Ausdrucksbewegungen, d. h.
der vorübergehenden mimischen Veränderungen; der Weg, wie aus ihnen die Aus-
druckshaltungen, die dauernden Ausdruckswerte der ruhenden Physiognomie
resvdtieren, wird angedeutet. Sie selbst zu klaasifizieren und dadurch in einer genetisch
gedachten, wissenschaftlich einwandfreien Weise einer Physiognomik vorzuarbeiten,
wäre ein noch dringenderes Bedürfnis, zu dessen Erfüllung heute doch wohl genügend
Material und Denkschulung vorhanden ist.
Einzelheiten verdienen unzweifelhaft Widerspruch (z. B. das Urteil über die physio-
gnomischen Grotesken des Leonardo) ; andere bedeuten einen sehr großen Fortschritt
über die bisherigen Arbeiten hinau ; (insbesondere ist einzelnes aus dem Bildermaterial,
das von Kindern gewonnen wurde, vorzüglich, so die Abbildungen 116, 153, 166, 167,
168, 186, 187, nach anderer Richtung die Serie 60 — 64). Vermißt habe ich eine
Berücksichtigung der Arbeiten von Rudolf Schulze, besonders seiner kinematogra-
phischen Aufnahmen des Mienenspiels mit Einschluß der Ausdrucksvorgänge in
Körperhaltung und Hand; abgesehen davon, daß Schulze mit der kinematogra-
phischen Aufnahme des Ausdrucks zu psychologischen Zwecken unsere Methodik
bereichert hat, verdienen die Bilder selbst Beachtung, ebenso das Prinzip der Zu-
ordnung eines photographisch fixierten Ausdrucks zu einem bestimmten Eindruck
durch unbeteiligte Dritte, welche ohne Wissen des vorangegangenen Eindrucks sind.
Es ist wohl Absicht, daß die Hilfsmittel zur experimentellen graphischen Ana-
lyse der Ausdrucksbewegungen (wie sie von Sommer, Kräpelin, Frank und anderen
immer weiter vervollkommnet wvirden) in einem für ein breiteres Publikvun berech-
neten Werk fehlen; ich meine aber, sie hätten wenigstens die Nennung verdient,
auch wenn die Diskussion ihrer Resultate ohne Fachkenntnisse nicht möglich ist.
Der Wunsch des Autors nach einer wissenschaftlichen Zeitschrift zur Pflege dieser
Studien ist beachtenswert — namentlich auch als ein Gegenmittel gegen den heim-
lichen und öffentlichen Dilettantismus in der Physiognomik.
München. Aloys Fischer.
Dr. Emil Fröscheis, Lehrbuch der Sprachheilkunde (Logopädie) für
Ärzte, Pädagogen und Studierende. Leipzig und Wien, Franz Deuticke
1913. Preis 13.— M.
Angesichts der Gleichgültigkeit, welche immer noch in großen I^eisen des
Publikums den Sprachfehlern gegenüber herrscht, und der schwerwiegenden Folgen,
welche diese Gebrochen für das davon befallene Kind nach sich ziehen können, hat
der Lehrer und Erzieher eine wichtige und dankbare Aufgabe: vorhandene Sprach -
gebrechen der Schüler rechtzeitig zu erkennen und unverzüglich, möglichst früh-
zeitig — sei es von dem entsprechend geschulten Lehrer selbst, sei es in bestimmten,
dem Spracharzt zuzuweisenden und von ihm zu leitenden Fällen — der Behand-
lung zuzuführen, ferner den Ausbruch eines Sprachübels zu verhüten durch Pflege
der Hygiene der Stimme und Sprache. In dieser Hinsicht gibt das vorliegende Lehr-
buch einen susgezeichneten Überblick und kann der Lehrerschaft zur Belehrung,
Orientierung und Weiterbildung auf dem einschlägigen Gebiete angelegentlichst
empfohlen werden. Einige durch die Aufgabe, die sich das Buch stellt, naturgemäß
bedingte ärztliche, bzw. sprachärztlicho Details tun dem Werke des Buches für die
Pädagogen durchaus keinen Eintrag. Die einzelnen Kapitel behandeln: Aiiatomie
und Physiologie des Gehörorgans, der Nase, des Nasenraohenraunies, Rachens,
Kehlkopfs und der Mundorgsno; Physiologie der Atmung, der Stimme, der Artiku-
lation; Registrierung von Sprachbewegungen; die Akzente; die Entwicklung der
Sprache beim Kinde; die allgemeine Untersuchung bei Spraohkranken; die Taub-
254 Literattirbericht.
stummheit, Sprachstörungen bei Schwerhörigkeit; Hörstummheit; Stummheit bei
Schwachsinn ; Aphasie ; das Stammeln ; das Poltern ; das Stottern ; Aphthongie ;
Hygiene der Stimme und Sprache; Symptomatische Sprachstörungen; Sprachstö-
rungen bei Geisteskrankheiten.
München. Dr. Ernst Levy.
Kerrl, Dr. Th., Seminardirektor, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Eine
psychologisch-pädagogische Monographie. 3. Auflage. 3,60 M., geb. 4,20 M. Verlag
von C. Bertelsmann, Gütersloh 1913.
Vorzüge dieser in Lehrerkreisen gut angeschriebenen Schrift, die die Aufmerksam-
keit als ,, Bemerkenwollen" definiert, sind die sichere Begriffsbildung, die klare Dar-
stellung, die durchsichtige, allerdings fast schulmeisterliche Art der Gliederung vuid der
Versuch einer breiten Anwendung der psychologischen Einsichten auf wichtige Ge-
biete der pädagogischen Praxis. Vor allem sei die von dem Buche, das sich reichlich
an konkreten Beispielen orientiert, ausgehende Anregung zu selbständiger Prüfung der
vom Verfasser gewonnenen Erkenntnisse als besonders wertvoll erwähnt. Wissen-
schaftlichen Charakter in Inhalt und Form trägt besonders der III. Teil, der eine
ziuneist kritisch gehaltene Darstellung der wichtigsten Aufmerksamkeitstheorien
bringt. Daß der in der Literatur seines Gebietes gut beschlagere Verfasser sein Buch
auch in der 3. Auflage nicht dtirch eine Berücksichtigung der exakten Auf merksamkeits-
forschimgen, z.B. der Umfangsmessimgen usw., noch wertvoller ausgestaltet, erscheint
bei dem großen Interesse, das heute die Lehrerschaft und nun auch der Seminar-
unterricht der experimentellen Psychologie und Pädagogik entgegenbringt, unver-
ständlich.
Leipzig. Otto Scheibner.
P. Ziertmann, Pädagogik als Wissenschaft und Professuren der Päda-
gogik. 2. Heft der Schriften der Wheelergesellschaft. Berlin 1914. 65 S. Preis
2.— M.
Die Abhandlung ist aus einem Vortrage hervorgegangen, den der Verfasser
am 3. Jimi 1913 in der Wheelergesellschaft zu Berlin gehalten hat. Die Frage, ob
pädagogische Forschung möglich sei, wird empirisch beantwortet diu-ch Umschreibung
einiger Hauptgebiete der Pädagogik (historische und vergleichend-genetische Unter-
suchungen der pädagogischen Ideenwelt und des Bildungswesen, Struktiu: des
Bildungswesen der Gegenwart, philosophische und psychologische Pädagogik). Ein
Gebiet darunter ist es insbesondere, das nach des Verfassers Ansicht gebieterisch eine
selbständige Vertretving der Pädagogik an den Hochschulen fordert: „Die Wissenschaft
vom gegenwärtigen Bildimgs-, Unterrichts- und Erziehungswesens des In- und Aus-
landes in allen seinen Verzweigungen". Die übrigen Gebiete könnten eventuell von
dem Historiker, Philosophen und Psychologen, falls diese sich bereit finden, über-
nommen werden. Da aber diese im allgemeinen in ihrem eigenen Bereich schon hin-
reichend in Anspruch genommen sind, so will Ziertmann „Geschichte des Bildvmgs-
wesens, Kenntnis des gegenwärtigen Bildungswesens und die philosophische Pädagogik"
als natürliche Teile des Lehrauftrags der pädagogischen Professiu" angesehen wissen;
die psychologische Pädagogik oder pädagogische Psychologie soll der Psychologe im
Nebenamt übernehmen. Außer dieser wissenschaftlichen Professvir für Pädagogik
sollen auch noch langjährige Praktiker in Vorlesungen und Übungen Anregungen
für die Praxis geben. Die Aufgaben des wissenschaftlichen Pädagogen sind dann,
von der Forschvmg abgesehen, öffentliche unparteiische Stellungnahme vmd Beratung
der Regierung, 2. Heranbildung des akademischen Nachwuchses und 3. theoretische
Ausbildung der Lehrer für ihren Beruf, damit sie diesen im Zusammenhang mit den
übrigen Seiten des wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und staatlichen Lebens
klar und sicher erkennen und dementsprechend dann auch auszuüben vermögen
(S. 65.)
Die Schrift enthält manchen guten Gedanken und manch feine Bemerkung, nicht
originell freilich; denn das meiste ist da und dort auch im Zusammenhang schon zu
finden. Dagegen ist die Betrachtiuig der Dinge oft dogmatisch, häufig einseitig,
nicht selten noch imgenügend orientiert oder in sich widerspruchsvoll. ,,Daß eine
Literaturbericht. 255
Schule nicht mit einer deutschen Universität verbunden werden kann und dsui",
hält der Verf. „für völlig selbsWerständlich und ganz unbestreitbeir" (S. 4) ; Didaktik
und Methodik sind nach ihm „keine Wissenschaften", weil es für sie „keine Tatsachen-
gruppe" gibt (S. 43) ; auch sind sie ihm offenbar in erster Linie nur für den Volksschul-
lehrer wichtig; was der Verf. eigentlich unter Didaktik versteht, läßt sich freilich
weder an diesen Bemerkungen, noch aus dem Zusammenhang erkennen. Der Vorwiirf ,
daß die wissenschaftliche Psychologie bisher den entwicklungsgeschichtUchen Ge-
sichtspunkt außeracht gelassen habe, und die Forderung, daß die pädagogische
Psychologie entwicklungsgeschichthch zu fundieren sei, sind etwas merkwürdige
Äußerungen angesichts der zahlreichen entwicklungspsychologischen Arbeiten, die
auf diesen Gebieten vorliegen. Daß alle Bildungsorganisationen der Aufgabe unter-
stehen, bestimmt geartete Menschen zu ,produzieren' im Gegensatz zu den wirt-
schaftlichen, technischen und wissenschaftlichen Organisationen, die Sachgüter oder
Dienstleistungen hervorbringen, daß infolgedessen der sich bildende Mensch zu der
ihn betreffenden Organisation in einem ganz anderen Verhältnis steht als der seine
Aufgabe erfüllende Mensch der anderen Organisationen, scheint dem Verfasser noch
nicht recht zum Bewußtsein gekommen zu sein; denn nach ihm hat die Psychologie
nur für die jüngeren Schüler Bedeutimg; und die Beachtung des psychologischen
Gesichtspunktes auf den höheren Stufen bedeutet für ihn darum soviel wie Herab-
setzung der Anforderungen — das ist eigenartig; denn ich glaube kaum zu irren,
wenn ich annehme, daß die meisten Psychologen oder psychologisch orientierten
Pädagogen auf höhere Leistungen, als sie heute erreicht werden, hinaus wollen,
ebenso daß die meisten, die die pädagogischen Probleme in ilu-em Verhältnis zur
Psychologie wirklich durchgedacht haben, den sachlichen und psychologischen Ge-
sichtspunkt als für alle Entwicklungsstufen verbindlich erachten. Dagegen dürfte
sich kaum einer finden, der die vom Verf. so eifrig bekämpfte Ansicht vertritt, daß
die letzten Ziele der Erziehung vmd des Unterrichts aus der Psychologie zu gewinnen
seien. Zielsetzungen sind eine Funktion des Ideals; in dieses gehen auch (aber nicht
bloß) Motive aus der psychologischen Erfahrung ein — dies ist doch heute bereits
Allgemeingut des wissenschaftlich-pädagogischen Denkens. Ein Irrtum ist es auch,
wenn Z, meint, den Ursprung der Erziehung als psychologisches Problem habe die
Wissenschaft noch kaum gesehen (S. 12) und die Erziehtmg bei den Naturvölkern
sei bisher noch nicht zum Gegenstand der Forschung gemacht worden (S. 13). Doch
darf man ihm als Verdienst anrechnen, daß diese Dinge als Gegenstände wissen-
schaftlicher Forschung von ilim betont werden. Aber auch abgesehen von diesen
Ausstellungen, die sich leicht vermehren ließen und deren Diskussion in diesem Zu-
Hammenhang ruhig unterbleiben mag, kann man auch bezweifeln, daß gerade das
<;ebiet, das nach Ziertmann in erster Linie eine selbständige Vertretung erheischt,
die Systematik des Bildungswesens, wirklich eine besondere Professur erfordert.
Warum hat Ziertmann bei der Erörterung der Verteilungsmöglichkeiten sich bloß
innerhalb der philosophischen Fakultät vungesehen ? Warvun soll die Systematik
des Bildungswesens nicht vom Vertreter des Staats- und Verwaltungswesens oder vom
soziologisch orientierten Statistiker übernommen werden können, wenn sich einer
findet? Das liegt historisch und sachlich außerordentlich nahe; an der Spitze des
Schulwesens stehen ja zumeist auch Persönlichkeiten, die nur das Verwaltungs- und
Staatswesen studiert haben. — Wenn man das ganze Problem richtig durchdenkt,
kommt man zu wesentlich anderen Ergebnissen als Ziertmann, und wer die Geschichte
der Pädagogikprofessuren im Zusammenhang mit der der wissenschaftlichen Ent-
wicklung überhaupt verfolgt, sieht deutlich, daß vollwertige selbständige Vertretung
der Pädagogik an der Universität ohne eigentliche Forschungsstätto, nämlich
eine Schule für pädagogische Forschung, auf die Dauer unmöglich ist.
Tübingen. ' Dr. Gustav Deuchler.
David Allen Anderson, The School System of Norway. Boston 1913.
Richard G. Badger. 232 S. Sh. 1.2ß.
In keinem Lande wurden in den letzten Bwei Jahrzehnten so weitgehende Ver-
änderungen im Erziehungswesen vorgenommen als in Norwegen. Eine Darstellung
256 Literaturbericht.
über diese pädagogische Reformbewegung muß darum allen am Bildungswesen In-
teressierten willkommen sein. Das vorliegende Werk nun, das den erwünschten Be-
richt gibt, beruht auf genauen Beobachtungen und Untersuchungen während eines
sechsmonatigen Avifenthalts im Lande und bietet wohl das ausführlichste und reich-
haltigste Material, das bisher in englischer oder deutscher Sprache vor der Öffent-
lichkeit ausgebreitet worden ist. Gang und Stoff der Schrift ergeben sich aus der
folgenden Inhaltsübersicht: Erstes Kapitel: Historischer Hintergrund, Ver-
waltung, Leitung, Aufsicht, innere Einrichtung, Einteilung und Verteilung der
Schulen. Zweites Kapitel: Qualifikation, Ausbildung, Prüfung, Amtszeit und
Gehalt des Lehrers. Drittes Kapitel: Aufgaben, Lehrpläne und Lehrmethoden
in den staatlichen Volks- vmd Mittelschulen und Gymnasien. Viertes Kapitel:
Erklärende Betrachtungen tmd Folgerungen mit Winken für die Verbesserung des
Erziehungswesens in den Vereinigten Staaten; Bibliographie. — Fortbildxmgs-,
Gewerbe- tmd Abendschulen und Hilfsschulen für Schwachsinnige bleiben unbe-
rücksichtigt.
Seattle, U. S. A. Dr. F. W. Meisnest.
Die Deutsche Unterrichtsausstellung. Leipzig 1914. Verlag von Quelle &
Meyer. 72 S., geh. 1,60 M., geb. 2,00 M.
Das vom Verlag auf das Vornehmste ausgestattete, mit vollendet wiedergegebenen
Lichtbildaufnahmen geschmückte Buch stellt in kurzer, übersichtUcher und anregender
Weise dar, was die Deutsche Unterrichtsausstellung in Berlin zurzeit in sich ver-
einigt. Da es im Sinne dieser pädagogischen Schau liegt, nicht ein historisches
Museum zu sein, sondern ein Darbietungsort für alle beachtenswerten Neuerungen
des Schulgebietes, so gewinnt unsere Schrift die Bedeutung, über das gegenwärtige
unterrichtliche Leben und Schaffen zu orientieren und zu rüstigem Weiterschreiten
zu ermuntern. In einem einleitenden Abschnitte berichtet Geheimer Oberregierimgs-
rat Prof. Dr. L. Pallat über die Entwicklung, die Aufgaben und die Einrichtung der
Deutschen Unterrichtsausstellung. Es führen sodann die Vorstände der einzelnen
Abteilungen ihre Sondergebiete mit kurzen Worten an, dabei häufig auf die päda-
gogischen Probleme der Zeit hinweisend. Für die Leser dieser Zeitschrift sei be-
sonders hervorgehoben, daß eine eigene Abteilung den einfachen Apparaten zur
experimentellen Pädagogik gewidmet ist, die der Fürsorge des Privatdozenten
Dr. Hans Rupp anvertraut ist, und daß daneben auch die Sammlung des Instituts
für angewandte Psychologie, imiter der Leitiing von Dr. O. Lipmann stehend. Unter-
stand gefunden hat. Es ist zu hoffen, daß die Deutsche Unterrichtsausstellung als
eine Stätte lebendigster Belehrung von recht vielen Pädagogen und Schul Verwaltungs-
beamten besichtigt werde; zur Vorbereitung aber auf den Besuch halte jede Lehrer-
und Stadtbücherei den Schmuckband des Verlags Quelle & Meyer bereit.
Leipzig. Dr. Rieh. Tränkmann.
Wilhelm Murtfeld, Rektor in Hannover, Grundlagen und Stoffe für Hilfs-
schullehrpläne. Verlag von Moritz Diesterweg. Frankfurt a. M. 1914. 71 S.,
geh. 1,40 M.
Ein Lehrplanentwurf, der den Hilfsschullernbüchern desselben Verfassers vm.d
desselben Verlages den Weg bereiten soll ; mit viel Fleiß vmd auf der Grxm.dlage guter
pädagogischer Erfahrung gearbeitet; aber in den ,, Grundsätzen'*, die den Lehrgängen
der einzelnen Fächer vorangestellt sind, durch oftmals recht platte Weisheiten
peinlich werdend, wobei es scheint, daß dem Verfasser die vmerläßliche tiefere Kennt-
nis einer wissenschaftlichen Psychologie der Schwachbegabten mangelt.
Leipzig. Otto Scheibner.
%yi
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung
im Unterricht.*)
Von W. Krassmöller.
I.
Man unterscheidet Schulkrankheiten, die entweder von der Schule erzeugt
oder von ihr begünstigt werden. Die Schulnervosität läßt sich je nach den
Umständen zur einen oder zur anderen Gruppe stellen, und es ist nicht ohne
weiteres zu sagen, wohin diese verbreitetste aller Schulkrankheiten eigentlich
gehört. Man war allerdings lange Zeit der Meinung, daß nervöse Störungen
in den Entwicklungsjahren etwas Natürliches seien und sich mit der Zeit
schon von selbst geben würden. Heutzutage ist man anderer Ansicht; man
weiß, daß das Übersehen oder Außerachtlassen der ersten Symptome einer
nervösen Störung eine dauernde Schwäche des Nervensystems herbeiführen
und der Grund zu einem späteren Siechtum sein kann. Man hat der Schule
vorgeworfen, daß sie die Nervenkraft ihrer Zöglinge durch zu große An-
forderungen absorbiere und abgearbeitete und nervöse Jünglinge zur Uni-
versität schicke. Mit Unrecht; denn die Schule und die Schulbehörden
bekämpfen schon seit langer Zeit die Schülernervosität. In diesem Kampfe
muß eben auch der ganze Lehrkörper und jeder Lehrende mitwirken.
Unser Thema stellt uns nun vor zwei Grundfragen : 1) Woran erkennt der
Lehrende die sicheren Zeichen der nervös krankhaften Zustände der Groß-
stadtkinder auf unseren höheren Schulen? und 2) Wie kann der Schul-
unterricht die Prophylaxe der Nervenkrankheiten unterstützen?
Wenn ich diese Fragen zu beantworten versuche, so spreche ich hier nur
als Schulmann, der das aus der Praxis gewonnene Material gesichtet und
bearbeitet hat. In erster Linie hat eine ärztliche Behandlung des nerven-
schwachen Kindes einzusetzen, aber daneben darf eine sachgemäße Unter-
stützung auch von selten des Schulmannes nicht fehlen. Häufig genug sind
mir Fälle vorgelegt worden, in denen selbst Autoritäten dieses medizinischen
Spezialgebietes trotz sorgfältigster Behandlung keinen vollen Erfolg auf-
zuweisen hatten, weil die Schule nicht Hand in Hand mit dem Arzte gearbeitet
hat. Arzt und Erzieher müssen also, wenn sie zu einem gedeihlichen Re-
sultat kommen wollen, sich gegenseitig in ihrer Arbeit ergänzen. Im wesent-
lichen wird der Erzieher ja nach den allgemeinen Weisungen des Arztes zu ar-
*) Diese Arbeit lag zur kritischen Durchsicht Herrn Nervenarzt Prof. Dr.
H. Oppenheim vor, dosson vollen Beifall sie fand. Der Verfasser ist gern
einigen Anregungen Oppenheims gefolgt.
Zeit^hrift (. pftfJaRoK. Psychologie. 17
258 Schülemervosität vmd ihre prophylaktische Behandlxmg im Unterricht.
beiten haben. Aber um diese Angaben im einzelnen durchzuarbeiten und
zu verwerten, um selbst einmal anregend eingreifen zu können, muß sich der
Erzieher auf das Wesen nervöser Kinder und ihrer Krankheit verstehen.
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal kurz die Herkunft der Nervosität.
Im allgemeinen ist sie wohl ein Kennzeichen degenerativer Anlage. Zweifel-
los spielt auch die Heredität dabei eine große Rolle. Ich habe des öfteren
die Beobachtung machen können, daß nervöse Kinder dieselben krank-
haften Anzeichen und Symptome aufwiesen wie ihre Eltern. Hierauf ist
bei einer praktischen Behandlung derartiger Fälle große Rücksicht zu nehmen :
man darf nicht vergessen, daß die Eltern, die doch den Mittelpunkt des
häuslichen Lebens bilden, oft dieselbe Konstitution aufzuweisen pflegen
wie ihre Kinder; die Rückwirkung auf die Kinder ist erklärlich und fast
stets vorhanden, wobei der Nachahmungstrieb eine große Rolle spielt, und
so wird eine Besserung, die der Arzt und der Erzieher anstreben, häufig
genug erschwert. Man hat nun unter anderem auch die Schule als Quelle
der Nervosität bezeichnet, und dies vielleicht nicht so ganz mit Unrecht;
denn zweifellos bringt die Schule mit ihren vielen Enttäuschungen und all
ihren Aufregungen eine gewisse Unruhe in das Gemütsleben des Lernenden,
die im Laufe der Zeit, wenn dazu noch ein geeigneter Boden vorhanden ist,
eine Nervenkrankheit hervorrufen kann.
Man wird die nervösen Schüler wohl in zwei Gruppen einteilen können.
Zur ersten gehören nervöse, aber intellektuell hochstehende Schüler. Bei
näherer Prüfung habe ich häufig die Beobachtung machen können, daß
gerade die nervöse Veranlagung eine hervorragende Leistungsfähigkeit be-
dingt oder doch das gewöhnliche Niveau zu steigern geeignet ist. Das viel-
leicht überempfindliche Nervensystem dieser Kinder pflegt die Rezeptivität
ihres Geistes zu steigern. Allerdings habe ich dabei die Erfahrung gemacht,
daß jene übergroße Reizbarkeit, manchmal wieder zu einer Reaktion der
Gemütslage führend die Leistungsfähigkeit unter Umständen wieder auf-
heben kann.
Zur zweiten Gruppe zählen wir die Neurastheniker mit minderwertigem
Intellekt, die man als nervöse Schwachbegabte bezeichnet. Selbstverständlich
kommen derartige Schwachbegabte nicht nur auf den Volksschulen vor.
Ich habe mich des öfteren davon überzeugen können, daß es deren auch auf
den höheren Schulen gibt ; allerdings haben sich bei diesen erst in den mitt-
leren Klassen gewöhnlich die Kennzeichen der schwachen Begabung, die
herabgesetzte Aufmerksamkeit, schwaches Gedächtnis, Mangel an abstrak-
tem Denken usw. herausgestellt.
Ich komme nun zur Besprechung der ersten Frage. Woran erkennt der
Lehrende im Klassenunterricht die Kennzeichen der nervös krankhaften
Zustände seiner Schüler? Dazu ist zunächst erforderlich, daß wir uns klar
machen, in welcher Linie die Kennzeichen und die Erkrankungen verlaufen.
Die Erscheinung der fortschreitenden Nervenschwäche ist der niedrigste
Grad der Nervosität in einer steigenden Reihe, die von der nervösen Ermüd-
barkeit bis zum Zwangszeremoniell und zu Zwangshandlungen führt. Die
wichtigsten Glieder dieser Reihe sind: Nervöse Zerstreutheit, ungewöhnhch
schnelle geistige Erschöpf barkeit, allgemeine motorische Unruhe, unmoti-
Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 259
vierte Grefülilsausbrüche und schließlich das Zwangszeremoniell und die
Zwangshandlungen. Hierbei will ich vorausbemerken, daß die Glieder dieser
erwähnten Reihe nicht scharf voneinander zu trennen sind, vielmehr geht
das eine häufig genug in das andere über, ohne daß sich immer eine be-
stimmte Grenze ziehen läßt.
In erster Linie ist die Aufmerksamkeit, die eine unerläßliche Bedingung
für jeden gedeihlichen Schulunterricht darstellt, ein sicherer Prüfstein für
die psychische Veranlagung eines Schülers. Das Vorhandensein der Auf-
merksamkeit dokumentiert sich hauptsächlich in der Körperhaltung und dem
Ausdrucke der Augen. Ein nervöses Kind ist im Gegensatz zum gesunden
nicht imstande, seine Augen andauernd auf den Lehrer oder auf den Gegen-
stand, den der Anschauungsunterricht gerade behandelt, zu richten, wie
das in der Schule verlangt wird. Dazu fehlen ihm die Konzentrationsfähig-
keit und die Spannkraft der Nerven. Der Grund hierfür ist darin zu suchen,
daß beim nervösen Kind diese Spannkraft sehr bald nachläßt und schon
nach verhältnismäßig kurzer Zeit vollständig versagt. Die Intensität dieser
Spannung nimmt aber deshalb so rasch ab, weil beim nervösen Kind schon
ein großer Kraftaufwand erforderlich ist, um die vom Lehrer verlangte Auf-
merksamkeit überhaupt aufzubringen. Das ungewöhnlich schnelle Nach-
lassen dieser Aufmerksamkeit habe ich schon in den ersten Vormittagsstunden
bei manchen Kindern beobachtet; die äußeren Symptome waren bald ein
Gähnkrampf, bald eine auffallende Blässe des Gesichts, bald eine gewisse
äußere Unruhe. Wie ich später feststellte, trat dieses hauptsächlich bei den
Kindern in Erscheinung, die an Schlaflosigkeit litten. Die Insomnie der
Schulkinder ist nach dem heutigen Stande der medizinischen Wissenschaft
eine Folge der immer mehr überhand nehmenden Neurasthenie unserer Schul-
jugend. (Vgl. hierzu H. Oppenheim: „Die ersten Zeichen der Nervosität
des Kindesalters**, Berlin 1904, Karger, S. 12.) Übrigens wird man die
exzessiv schnell geistig ermüdenden Kinder nach der Methode von Krae-
pelin, Ebbinghaus oder Griesbach herausfinden.
Diese rasche Ermüdbarkeit ist gewöhnlich mit einem besonders starken
Kopf druck 1) und einem völligen Versagen der Aufmerksamkeit verbunden.
Es heißt aber die Gesundheit des Kindes schwer schädigen, wenn der Er-
zieher von einem nervösen Kinde in der vierten oder gar in der fünften
Unterrichtsstunde mit Gewalt das höchste Maß von Aufmerksamkeit ver-
langen sollte. Bedenkt man noch, daß beispielsweise in einem Klassen-
zimmer von ca. 150 — 170 cbm Rauminhalt 40 — 50 Kinder bei geschlossenen
Fenstern unterrichtet werden, so wird man sagen müssen, daß ein Kind,
dessen nervöser Zustand bereits fortgeschritten ist, nicht ohne Gefährdung
seiner Gesundheit diese Strapazen, die ihm der Schulunterricht zumutet,
ertragen kann. Das Kind hat durch seinen viel regeren Stoffwechsel dem
Erwachsenen gegenüber ein weit größeres Sauerstoffbedürfnis, und dieses
kann bei den geschilderten Verhältnissen nicht immer ausreichend befriedigt
werden. Geistige Arbeit, die in überhitzter, verdorbener Luft verrichtet
') Der sogenannte habituelle Schulkopfschmorz ist eine Beschwerde, die haupt-
sächlich nervös veranlagte Kinder befällt. (Oppenheim, a. a. O., S. 20.)
17*
260 Schülernervoaität vmd ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
wird, führt überaus schnell zu Ermüdungszuständen. Die Schule glaubt
allerdings gegen diese schnelle Ermüdbarkeit nervöser Kinder soweit wie
möglich Front zu machen, wenn sie die wissenschaftlichen Fächer im Stunden-
plan nach Möglichkeit mit den technischen abwechseln läßt. Doch die
Ärzte denken darüber anders; man weiß jetzt, daß jede körperliche An-
strengung, z. B. das Turnen oder das Spielen, auch eine Ermüdung des
Geistes mit sich bringt. Kräpelin sagt: ,, Nicht Abwechslung von körper-
licher und geistiger Arbeit tut dem ermüdeten Körper wohl, sondern in aller-
erster Linie ausgiebige Ruhe und zweckmäßige Diät."
Ich komme nun zur Besprechung der allgemeinen motorischen Umuhen.
Es gibt Kinder, die keinen Augenblick still sitzen können (Zappelphilipp).
Sie zappeln mit den Gliedmaßen und zeigen ein umuhiges, zerstreutes Wesen.
Der Nervöse vermag seinen Körper nicht seinem eigenen Willen zu beugen,
um wieviel weniger dem fremden Willen des Lehrers! Geht der Pädagoge
den Ursachen dieser motorischen Unruhen nach, so wird er finden, daß sie
meistens in einer psychisch-motorischen begründet sind. Ein nervöses Kind
fühlt und denkt viel lebhafter als ein normales, und die psychischen Vor-
gänge lösen dann ungehemmt die physisch-motorischen aus. Es braucht
nicht eigens hier hervorgehoben zu werden, daß auch ein normaler Schüler
bei geeigneten Anlässen und Reizvorgängen motorische Unruhen zeigt,
aber bei ihm sind immer noch gewisse Hemmungen vorhanden, die ihn vor
dem Äußersten bewahren. Vor allem braucht man einem Normalen nur die
Existenz der vielleicht augenblicklich unterdrückten Hemmung ins Ge-
dächtnis zurückzurufen, um ihn zu beschämen oder sonst psychisch so zu
beeinflussen, daß die motorische Unruhe gebannt wird. Aber auch die ner-
vösen Schüler können durch Erziehung im Hause und in der Schule ihren
Muskelapparat dem Willen unterzuordnen lernen, wenn die motorische Un-
ruhe noch nicht bis ins Krankhafte gestiegen ist. In solchen Fällen ist aller-
dings die Heranziehung eines sachkundigen Arztes streng geboten. (Oppen-
heim a. a. 0., S. 23, macht darauf aufmerksam, daß auch im Schlaf der Ner-
vösen die motorische Unruhe nicht aufhört, ja sogar noch lebhafter wird.)
Als eine anscheinend nicht so schlimme Art der motorischen Unruhe ist
das „Spielen" der nervösen Kinder anzusehen. Dies tritt gewöhnlich erst
dann als krankhaft in die Erscheinung, wenn man dem Kinde das Spielen
ausdrücklich verboten hat. Das Kind vermag nicht ein auf der Bank liegendes
Buch unberührt zu lassen. Diese Erscheinung ist ein sicheres Zeichen der
Nervosität, weil hier ein gewisser Zwang vorherrscht, das Verbotene zu
tun, und die vielleicht vorhandene Hemmung zu gering ist, das Verbotene
zu unterlassen. Man erkennt das wohl in diesem Fall an einer gewissen Hast
und Scheu, mit der alle Bewegungen ausgeführt werden. Der Schüler ist
sich dabei seiner nervösen Unruhe nicht bewußt; denn bei ruhiger Über-
legung muß er sich sagen, daß das Risiko in keinem Verhältnis zum Nutzen
steht. Schlimmer liegt der Fall, wenn ein nervöser Schüler nicht imstande
ist, seinen Lachmuskelapparat zu beherrschen, denn hierdurch tritt häufig
eine Gefährdung der Disziplin ein. Die Suggestion, die ein derartiges Kind
auf die ganze Klasse ausüben kann, ist bekanntlich sehr stark, ja, mitunter
führt ein einziges so veranlagtes Kind zu einer psychischen Epidemie. Hier
Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 261
ist es also besonders wichtig, die Symptome dieser Nervosität zu erkennen,
damit man sie gleich im Entstehen unterdrücken kann. Freilich lacht auch
ein gesundes Kind in der Klasse, und man dulde das auch, besonders wenn
ein billige ns werter Grund dazu vorliegt. Nervöse Kinder dagegen lächeln
oft fortwährend oder brechen in ganz unmotivierter Weise plötzlich in
Lachen aus. Diese Lachanfälle schlagen bei Ermahnungen fast immer in
krampfhaftes Weinen um, was eine Äußerung des Schamgefühls oder eine
besondere Gefühlsreaktion sein kann. Überhaupt ist das Gefühlsleben eines
Neurasthenikers rapiden Wandlungen unterworfen. Seine Stimmungen
wechseln infolge der krankhaften Reizbarkeit der Nerven oft ohne Ursache.
In dieser Minute kann ein solches Kind noch vor Glück strahlen, in der
nächsten schon stellen sich quälende Depressionszustände ein, die Schwermut
und Trübsal hervorrufen und ein überreiztes Kind unter Umständen bis zum
Äußersten treiben können. Wie Neurastheniker oft in unmotiviertes Lachen
(Zwangslachen) ausbrechen, so lassen sie auch häufig Tränen fließen, ohne
daß ein für unsere Begriffe negatives und deprimierendes Gefühlsmoment
festzustellen ist. Das Weinen ist durch die Sekretion der Tränendrüse und
die Tätigkeit bestimmter mimischer Gesichtsmuskeln charakterisiert; nun
hat aber der Nervöse diese hier in Frage kommenden Gesichtsmuskeln
nicht in seiner Gewalt, woraus sich ein Teil dieser nervösen Erscheinungen
erklärt. Ich habe des öfteren nervöse Kinder gefragt: ,, Warum weinst du?"
und die Antwort bekommen: ,,Ach, die dummen Tränen" oder auf die Er-
mahnung, doch das unnütze Weinen zu lassen, die Erwiderung gehört:
,,Wenn es aber doch weint" oder: ,,Es weint von selbst. Ich kann nicht
dafür". Das Kind hat hier unbewußt richtig die treibende Gewalt, die gegen
sein bewußtes Ich in seinem Innern regiert und die ihm dunkel und un-
heimlich erscheint, mit ,,es" bezeichnet.
Ein Fall eines derartigen psychischen Zwangslachens findet sich bei
Thomas Mann in den ,, Buddenbrooks". Es handelt sich da um einen Unter-
sekundaner, der, wie aus dem Buche hervorgeht, außerordentlich zart veran-
lagt ist, durch Überarbeitung überreizt und wohl unter die Neurastheniker
eingereiht werden darf. Man hat ihn beauftragt, bei der Zusammenstellung
einer Adressenliste zu helfen, die anläßlich des Todes seines Vaters ange-
fertigt werden muß. In dieser sehr ernsten Situation sitzt er mit seiner
Mutter, seiner Tante und seinem Onkel bei der Lampe. ,, Plötzlich geschah
etwas, was alle verstörte. Der kleine Johann geriet ins Lachen. Er war
beim Schreiben auf einen Namen gestoßen, irgendeinen kuriosen Klang,
dem er nicht widerstehen konnte. Er wiederholte ihn, schnob durch die
Nase, beugte sich vornüber, zitterte, s'chluchzte und konnte nicht an sich
halten. Anfangs konnte man glauben, daß er weine; aber es war nicht an
dem. Die Erwachsenen sahen ihn ungläubig und fassungslos an. Dann
schickte seine Mutter ihn schlafen." Wir haben es hier zweifellos mit einem
der Wirklichkeit — vermutlich der eigenen Jugend des Autors — entnom-
menen Fall zu tun. Der Lachreiz selbst kann nicht motiviert werden; viel-
leicht war es wirklich nur die Klangwirkung eines merkwürdigen Namens,
die den Jungen zum Lachen reizte. Dieser Reiz wäre an sich kein Zeichen
einer neurasthenischen oder nervösen Veranlagung, wohl aber der Fortfall
262 Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
jener Hemmungen, die einen normalen Menschen veranlaßt hätten, den Reiz
vollkommen zu unterdrücken.
Freilich muß der Lehrer von diesem nervösen Lachen oder Weinen er-
heuchelte Gefühle (hauptsächlich Weinen) wohl unterscheiden. Bekanntlich
weinen auch normale Kinder leicht, ganz besonders dann, wenn sie eine
Strafe befürchten. Jeder, der einmal unterrichtet hat, weiß, daß Tränen
aber manchmal nur bezwecken, Mitleid zu erregen und so die Strafe abzu-
wenden.
Ich will schließlich nun die tickartigen Bewegungen anführen, die bei
neurasthenischen Schülern sehr verbreitet sind. Es handelt sich da meist
um ein lang währendes Mundaufsperren, nervöses Augenblinzeln, Zungen-
ßchnalzen, fortwährendes Räuspern oder um das Ausstoßen obszöner Worte.
Bei oberflächlicher Betrachtung nimmt der Lehrende gewöhnlich an, daß
hier „schlechte Angewohnheiten" oder Ungezogenheiten vorlägen. Wenn
aber Ermahnungen und Strafen fruchtlos sind, so wird man zu der Über-
zeugung gelangen, daß in diesen Fällen ein krankhafter Zustand des Schülers
in Frage kommt. Hören wir, was hierzu Oppenheim sagt: ,,Die große
Mehrzahl der Menschen, bei denen sich solche Gewohnheiten festsetzen und
nicht abgeschüttelt werden können, sind nämlich Neuropathen. Bei diesen
ist einmal die Neigung zur Nachahmung oft eine sehr ausgesprochene, anderer-
seits werden die ursprünglich zweckmäßigen Reflex- und Ausdrucksbewe-
gungen durch die krampfhafte Neigung zur Repetition gerade bei ihnen
leicht zu einem Zwang, zu triebartig ausgeführten Bewegungsakten, die
dann schließlich dem Einfluß des Willens ganz entzogen werden. Der am
Tick Leidende ist zwar häufig noch imstande, vorübergehend hemmend ein-
zugreifen, aber es verschafft ihm das ein Gefühl der Qual, der Spannung, die
so unerträglich ist, daß er den krampfhaften Muskelbewegungen schnell
wieder freies Spiel läßt." (Oppenheim: „Die ersten Zeichen der Nervosität
des Kindesalters". BerHn 1904, S, 20.) Es bedarf wohl keiner weiteren Er-
wähnung mehr, wie wichtig für den Pädagogen es ist, die krankhafte Natur
dieser Erscheinungen rechtzeitig zu erkennen oder doch wenigstens ihr Vor-
liegen zu vermuten. In solch einem Falle wird er veranlassen müssen, daß
ein Arzt zu Rate gezogen wird. Die Diagnose solcher krankhaften Zustände
ist oft schwer, weil derartig belastete Schüler häufig noch so viel Energie
aufbringen, um den Tick zu unterdrücken, namentlich dann, wenn sie sich
beobachtet fühlen. Der Pädagoge wird also solche Kinder beobachten müssen,
ohne daß sie es merken. Er wird möglichst wenig fragen und möglichst viel
sehen; dazu hat er reichlich Gelegenheit bei einem zwanglosen Spiel, bei
Ausflügen usw. Ich habe oft genug in einer viertelstündigen Hofinspektion
mehr von der krankhaften Veranlagung eines nervösen Schülers kennen
gelernt, als ich in einer Unterrichtsstunde vermocht hätte, wo sich der
Schüler nicht gehen ließ, sondern sich unter der Kontrolle angestrengt zu-
sammennahm.
Auf der Grenze zwischen den tickartigen Bewegungen und der üblen Ge-
wohnheit steht das Nägelknabbern, was meistens ein sicheres Kennzeichen
der Schülernervosität ist. Diese üble Gewohnheit ist viel verbreiteter, als
man denkt. Ich habe unter 443 Schülern einer Berliner höheren Schule
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 2G3
95 Onycliophagen, also 21,44 Prozent, festgestellt. Ganz abgesehen davon,
daß dieses Übel in ästlietisbher Beziehung ekelerregend ist und die Finger-
nägel verunstaltet werden, ist es auch vom Standpunkt der Hygiene aus
ernstlich zu bekämpfen. Denn durch das Nägelbeißen werden alle Bazillen
verschluckt, die an den Fingernägeln sitzen, einer Stelle, die wie keine zweite
des Körpers den Schmutz aufspeichert. Oppenheim erwähnt (a. a. 0.),
daß er erwachsene Neuropathen behandelt hat, die an diesem Übel von früher
Kindheit an litten und keine Spur eines Nagels mehr besaßen; dagegen
waren die Fingerspitzen mit Narben bedeckt und boten einen häßlichen
Anblick. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß man in den minder schweren
Fällen mit den allgemeinen Mitteln der Erziehung zur Selbstbeherrschung
und Eitelkeit oft mit Erfolg gegen dieses Übel ankämpfen kann.
Ich komme nun zu einer nervösen Erscheinung, die Freud mit dem
Namen ,,Zwangszeremonieir' bezeichnet. (Sammlung kleiner Schriften zur
Neurosenlehre. Zweite Folge. Wien 1912.) ,,Das neurotische Zeremoniell",
sagt Freud auf S. 122, „besteht in kleinen Verrichtungen, Zutateh, Ein-
schränkungen, Anordnungen, die bei gewissen Handlungen des täglichen
Lebens in immer gleicher oder gesetzmäßig abgeänderter Weise vollzogen
werden." Der sachkundige Lehrer wird bei vielen nervösen Kindern sehr
bald das Vorhandensein eines neurotischen Zwangszeremoniells entdecken.
Ich selbst habe es einige Male feststellen können: nervöse Kinder klopften
jedesmal vor Beginn eines Extemporales unter die Bank, andere wieder
mußten ihren Federhalter erst einmal hinfallen lassen, und schließlich wieder
andere standen unter dem Zwange, ihre Mappe in ganz bestimmter Weise
zu packen, weil nach ihrer Vorstellung die Qualität ihrer Arbeit davon ab-
hing. Diese Tätigkeiten machen auf uns den Eindruck von bloßen Formali-
täten und erscheinen uns daher völlig bedeutungslos. Auch dem kranken
Schüler erscheinen sie manchmal als nichts anderes, wenn er sich auch, wie
ich durch Befragen feststellen konnte, nicht immer bewußt ist, daß zwischen
diesem Zwangszeremoniell und der zu leistenden Arbeit ein Kausalnexus
nicht besteht. Selbst wenn er dies aber erkennt, ist er unfähig, das Zwangs-
zercmoniell zu unterlassen, denn jede Abweichung von der Norm würde sich
durch unerträgliche Angst strafen, die sofort die Nachholung des Unter-
lassenen erzwingt. Wir dürfen bei Beurteilung dieser Fälle nie vergessen,
daß wir es mit seelisch schwachen Individuen zu tun haben, die kein Selbst-
bewußtsein, kein Vertrauen auf ihre Arbeitskraft besitzen, sei es, weil sie
von ihr oft im Stich gelassen wurden, sei es, weil eben diese Schwäche sie
an der Entfaltung einer vielleicht wirklich vorhandenen Kraft hindert. Sie
halten also jeden Erfolg, jede Niederlage für einen Zufall, streben für etwas
von vornherein Aussichtsloses: und nun werden sie eifrig auf Äußerlich-
keiten achten; es tritt hier eine Verschiebung ein, der Kern wird unwichtig,
die Form, die leichter zu bewältigen ist, wird sorgfältig gepflegt, und so ist
jene uns eigentümlich anmutende Gedankenverbindung dieser nervösen
Kinder zu erklären.
Gefährlich wird indes ein solches Zeremoniell, wenn es vorschreibt, regel-
mäßig Disziplinwidrigkeiten zu begehen. Diese bestehen häufig darin, daß
ein neuraathenisches Kind etwas unterlassen oder ein anderes — gewöhnlich
264 Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandlxing im Unterricht.
in rhythmisclier Form — tun muß, zum Beispiel unter Beobachtung gewisser
Äußerlichkeiten ruckend aufstehen muß oder dergleichen. Nur wenig ver-
schieden von dem ehen besprochenen neurotischen Zeremoniell sind die
Zwangshandlungen. Während das Zeremoniell mehr eine gewohnheits-
mäßige Handlung des Nervösen darstellt, kann man den Zwangshandlungen
vielleicht eine gewisse impulsive Natur zuschreiben, die sie als triebartige
Handlungen darstellt. Gleichwohl ist zwischen den beiden keine absolut
scharfe Grenze zu ziehen, schon allein deshalb nicht, weil Zwangshandlungen
aus Zwangszeremoniellen hervorgehen können. Zwangshandlungen sind
Handlungen, die einen psychischen Zwang zur Ursache haben, und deren
Ausführung meistens mit Gefahren verknüpft ist. Gerade der Kitzel der
Gefahr steigert die an sich schon krankhafte Reizbarkeit des Neurasthenikers.
Einen typischen Fall von Zwangshandlung im Unterricht habe ich in der
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik im
Dezemberheft 1913 berichtet. Ein Quintaner mußte mitten in der Stunde
beim ßxtemporale — also in einer für ihn recht ernsten Situation — pfeifen.
Er wurde zur Rede gestellt und gestand, daß er pfeifen mußte, und daß ihn
etwas trieb, zu pfeifen. Er hatte schon von Anfang der Stunde bis gegen
Mitte derselben, wo es passierte, Angstgefühle, weil er sich vor dem Pfeifen
fürchtete, das doch, wenn es entdeckt würde, Strafe nach sich ziehen mußte.
Selbstverständlich ging der Schüler straflos aus; denn seine Handlungs-
weise war nicht eine bewußte Ungezogenheit, sondern eine Zwangshandlung,
die in der schon vorgeschrittenen Neurasthenie ihre Ursache hatte. Der
Schüler stand bereits auf meinen Individuallisten, die mir das vollständige
Bild eines Neurasthenikers boten.
Schließlich möchte ich noch einige nervöse Erscheinungen unter Schul-
kindern hier zur Sprache bringen, die seltener auftreten. Ich denke da in
erster Linie an die nervösen Äußerungen der Anorexie (Nahrungsscheu) und
das sich daraus ergebende nervöse Erbrechen. Diese Erscheinung ist meist
auf Überfütterung zurückzuführen und daher mehr als Angelegenheit der
häuslichen Erziehung anzusprechen. Sollten hier aber tiefere Ursachen
zugrunde liegen, so ist auch deren Ausmerzung nicht Sache des Pädagogen,
sondern des Arztes.
Auch die Enuresis diurna findet sich häufig bei Neuropathen. Meine
Schulpraxis hat gezeigt, daß große seelische Emotionen, wie sie das Ex-
temporalschreiben oder die Prüfungen für Kinder mit sich bringen, diesen
nervösen Vorgang auslösen. Es ist mir der Fall bekannt, daß sich die Enu-
resis bei einem nervösen Kind am ersten Schulvormittage zwei- bis dreimal
wiederholte, und dieses nervöse Symptom wird wohl bei derartig veranlagten
Kindern anläßlich des Schuleintritts nicht vereinzelt dastehen.
Zum Schluß möchte ich noch die nervöse Augenschwäche (Asthenopie)
erwähnen, die oft ganz plötzlich auftritt. Sie ist meistens an der Schrift
des betreffenden Schülers zu erkennen. Anfänglich sind die Schriftzüge ganz
normal, dann aber tritt auf einmal eine plötzliche Störung auf; das schrei-
bende Kind verliert jede Distanzabschätzung, es sieht schließlich keine
Linien mehr, keine Richtung, zuletzt überhaupt nichts mehr, weil alles vor
seinen Augen verschwimmt. Es liegt hier eine nervöse Sehstörung vor, die
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde \isw. 265
ZU beobachten ich einige Male Gelegenheit hatte. Ich entsinne mich eines
Schülers, der beim Vorlesen^ plötzlich stockte und das Buch den Augen ruck-
weise näherte; nachdem er wieder einige Worte gelesen hatte, wiederholte
sich dieser Vorgang, bis der Junge nach kurzer Zeit in Weinen ausbrach und
nicht mehr zum Weiterlesen zu bewegen war. Der Arzt, der auf meine An-
regung konsultiert war, stellte hier einen Fall von nervöser Asthenopie fest.
Forscht man nach denGründen dieser Erscheinung, so wird man finden, daß es
hauptsächlich psychische Momente sind, wie große Aufregung und zu heftige
Nervenanspannung, die solche Krankheitserscheinungen auslösen. Es kann
sich allerdings auch um physische Ermüdungszustände dabei handeln.
Den Sehstörungen ähnlich sind auch die nervösen Sprachstörungen, die
sehr wohl von dem eigentlichen Stottern zu unterscheiden sind. Diese ner-
vösen Sprachstörungen zeigen sich bei den Schulkindern häufig nur dann,
wenn sie auf eine Frage plötzlich und exakt zu antworten gezwungen sind,
während sich im mündlichen Verkehr mit ihren Eltern und Kameraden
derartige Störungen nicht feststellen lassen. So ist es auch erklärlich, daß
die Eltern oft erstaunt sind, wenn man ihnen die Mitteilung von einer ner-
vösen Sprachstörung ihrer Kinder macht. Unter meinen Schülern befand
sich auch ein Knabe, der bei nur wichtigen Anlässen, wie Prüfungen und
dergleichen, nicht fähig war, gewisse Konsonanten, wie s und r, ohne Schwie-
rigkeiten über die Lippen zu bringen. Das Übel fiel zu Hause zum erstenmal
auf, als er vor seinem Vater in einer wichtigen Angelegenheit eine Aussage
machen sollte. Der Junge wurde durch gutes Zureden und eine gewisse
Rücksichtnahme auf diesen nervösen Zustand geheilt.
Ich bin nun am Schlüsse mit der Besprechung der ersten Frage und glaube
dargetan zu haben, woran der Lehrende die Nervosität seiner Schüler er-
kennen kann. Aber ich bin nicht der Meinung, daß es erschöpfend gewesen
sei. Mir kam es nur darauf an, alle die deutlichen Merkmale der Schul-
nervosität zu erwähnen, die der Lehrende in seinem Unterricht zu eruieren
in der Lage ist. Ich weiß sehr wohl, daß es noch eine ganze Reihe von cha-
rakteristischen Anzeichen der Nervosität gibt, wie zum Beispiel die Gruppe
der vasomotorischen Störungen, dieGastropathien usw., die aber nur der sach-
kundige Arzt auf Grund eingehender Untersuchungen erkennen kann. Ferner
ist es mir nicht entgangen, daß bei Mädchen wieder andere Äußerungsformen
der Nervosität vorkommen ; auch diese konnten hier keine Berücksichtigung
finden, da mir die hierzu nötige Erfahrung fehlt. (Fortsetzung folgt.)
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugend-
kunde der Geschlechter.
Von Fritz Rössel.
Im 10. Heft des 14. Jahrg. (1913) dieser Zeitschrift wurde auf S. 534/35
eine Tabelle gebracht, die die Ergebnisse einer Bearbeitung von 560 Auf-
sätzen von Knaben und Mädchen aus Hamburger Hilfsschulen über
das Thema : Was würde ich mit 10 Mark anfangen? darstellte. Im Fol-
266 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
genden sollen diese Tabelle und das ihr zugrunde liegende Material erläutert
und ergänzt werden. Der Übersichtlichkeit wegen werden die einzelnen Teile
der Tabelle im Laufe der Darstellung nochmals gegeben und durch eine Anzahl
interessanter Aufsätze belebt und illustriert werden.
Die Arbeiten stammen aus den ersten drei Klassen von 11 Hamburger Hilfs-
schulen. Sie wurden sämtlich im Juni 1913 in einer der beiden ersten Unterrichts-
stunden, von 8 — 9^ Uhr, ohne jede Vorbereitung, Besprechung oder Korrektur
geschrieben. Gegeben wurde nur das Thema, dann konnte jedes Kind unbeein-
flußt arbeiten.
Eingegangen waren 550 Arbeiten, und zwar 310 von Knaben und 240 von
Mädchen. Auf die einzelnen Klassen verteilen sich die Aufsätze so:
Knaben
Mädchen
Aus Klasse I 95 Arbeiten
63 Arbeiten
>> 5> ^^ "^ >>
100 „
„ III 121 „
77 „
310 Arbeiten
240 Arbeiten
Kinder im Durchschnitt ist bei Knaben imd Mädc
In Klasse I I3V4
Jahre
„ „ n 12V4
)>
» „ III 111/2
>j
Für die Wertung der Ergebnisse ist noch zu bemerken, daß die Kinder von
Lehrern und Lehrerinnen unterrichtet werden. An den 11 Hilfsschulen sind 54
Lehrer und 50 Lehrerinnen beschäftigt und zwar so, daß die Lehrerinnen haupt-
sächlich untere und mittlere Klassen, die Lehrer mehr Oberklassen führen. An
8 Schulen werden Knaben und Mädchen gemeinsam unterrichtet und erzogen.
Aus ihnen stammen 162 Arbeiten von Mädchen und 251 Arbeiten von Knaben.
In einer Schule sind nur Knaben (7 Lehrer und 3 Lehrerinnen), in 2 Schulen
nur Mädchen mit weiblichen Lehrkräften. Die Koedukation herrscht also vor.
Eine Vergleichung der Aufsätze aus den Schulen, wo die Geschlechter getrennt
unterrichtet werden, mit den anderen zeigte keine nennenswerten Unterschiede,
so daß alle Arbeiten als Ganzes betrachtet und zusammen bearbeitet werden
konnten.
Von vornherein waren zwei Fragen für die vergleichende Durchsicht gegeben.
Dem Kinde wird die Aufgabe gestellt: Was würdest du mit 10 Mark anfangen?
Es werden also Vorstellungen lebendig, die sich vor allem auf Objekte beziehen,
die es gern in seinem Besitz haben möchte. Den Regulator der Wünsche bildet
der mit 10 Mark verbundene Geldwert. Es galt also für die Kinder, ihre Wünsche
und Interessen mit dem gegebenen Geldwerte in Einklang zu bringen. Daraus
entstehen die Fragen: 1. Welche Gegenstände wollen sich die Kinder kaufen, und
in welcher Weise wollen sie das Geld sonst verwenden ? 2. Wie weit haben die
Kinder den Geldwert erfaßt und ihre Wünsche ihm entsprechend eingerichtet ?
Aus der Lektüre der Aufsätze ergab sich weiter eine Einteilung nach der am
häufigsten auftretenden Verwendung. Sie gliederte sich in Sparen von Geld,
Abgeben von Geld an Eltern und Geschwister, Verwendung von Geld für Klei-
dung, Spiel und Vergnügen.
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 267
Nun wurde von jeder Arbeit ein Protokoll nach folgendem Schema aufge-
nommen :
Nr.
Inhalt des Auf-
satzes
Alter
Geld-
wert
Sparen
Ab-
geben
Klei-
dung
Ver-
gnügen
Spiel
Verschie-
denes
212
K., Paula
Kaufe ein Kleid
zu 5 M., neue
Stiefel 3,öOM.;
1,50 M. auf-
bewahren
13
richtig
1,50M.
Kleid
5 M.,
Stiefel
3,50M.
—
—
—
251
P., Karl
5 M. auf die
Sparkasse, 3M.
der Mutter, für
2 M. Arbeits-
stiefel
12
richtig
5 M.
3M.der
Mutter
2M. Ar-
beits-
stiefel
—
—
—
Für Knaben und Mädchen wurden natürlich gesonderte Listen geführt. Nach
dieser Anlage konnten die Aufeätze in übersichtlicher Weise zerlegt werden.
1. Sparen.
Der Gredanke des Sparens tritt bei 50 Knaben = 16,13 % und bei 32 Mädchen
= 13,33 % auf. Dabei wurden alle Äußerungen des Sparens, ohne Rücksicht
auf die Höhe des Sparbetrages, gezählt. In Wirklichkeit hätte eine Reihe von
Kindern nach ihren vorhergegangenen Käufen nichts mehr zum Sparen übrig
gehabt. Sie geben an: etwas; was übrig bleibt; den Rest sparen zu wollen. Wenn
ein Knabe sich eine Uhr für 7 Mark kauft, sich im Kino amüsiert, mit dem Auto
in ein Variete fährt und mit der Droschke nach Hause und dann den Rest in
die Sparbüchse stecken will, so wird dafür wohl kaum etwas übrig bleiben. Das
Kind kann sich vielfach über die Preise getäuscht haben. Für Kino und Vari6t6
rechnet der Knabe vielleicht 40 — 50 Pfennige, für Auto und Droschkenfahrt
vielleicht ebensoviel, da er diese Preise noch nicht kennt, so daß nach seiner
Rechnung vielleicht doch noch 1 Mark für die Sparbüchse übrig bleibt. Die ge-
nannten Zahlen drücken also nur aus, wie oft der Gredanke des Sparens überhaupt
bei Knaben und Mädchen auftritt, und es scheint, als ob das bei den Klnaben
etwas häufiger der Fall wäre als bei Mädchen.
Um zuverlässigere Angaben zu bekommen, in welchem Grade der Gedanke
des Sparens herrscht, wurde festgestellt, wie viel Kinder den ganzen Betrag und
die Hälfte und mehr sparen wollen. Da verschiebt sich das Bild noch mehr zu-
gunsten der Knaben. Es sparen 25 Knaben das ganze Geld = 8,6 % und 10
Mädchen = 4,2 %, die Hälfte und mehr 3,76 % Knaben und 4,13 % Mädchen.
Die Absicht eines Kindes, die 10 Mark ganz sparen zu wollen, ist jedenfalls am
ernstesten zu nehmen, denn hier schieben sich keine anderen Vorstellungen
zwischen G^eld und Verwendung. Der Besitz einer Geldsumme löst unmittelbar
die Vorstellung des Sparens aus. Daß noch einmal soviel Knaben als Mädchen
den ganzen Betrag sparen wollen, hängt offenbar damit zusammen, daß beim
Knaben der Gedanke an die Zukunft eine größere Rolle spielt ab beim Mädchen.
268 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
Es schwebt ihm die Zeit nach der Schulentlassung vor, in der er lernen, arbeiten
und verdienen muß, wobei ihm ein Sparbetrag recht gut zustatten kommen kann.
Der Knabe erkennt die Bedeutung des Sparens schärfer als das Mädchen. In der
ersten Klasse wird naturgemäß mehr gespart als in der dritten. Das zeigt folgende
Übersicht, in der festgestellt wurde, wieviel Kinder der einzelnen Klassen sparen
wollen.
Knaben
Mädchen
Es sparen in Kl. I 31,58 %
11 12,75 %
III 6,61 %
30,16 %
5 %
10 %
Es zeigt sich, daß der Gedanke des Sparens von der 3. Klasse (11^4 jährige Kinder)
bis zur 1. Klasse (13^ jährige Kinder) ganz bedeutend zunimmt, bei den Knaben
um das Fünffache, bei den Mädchen um das Dreifache. Die größte Spannung
besteht zwischen der 2. und 1. Klasse (12% — 13% Jahre). Während bei den
Knaben von der 3. zur 1. Klasse eine stetige Zunahme zu erkennen ist, geht bei
den Mädchen die Zahl in der 2. Klasse zurück, um sich dann bis zur 1. Klasse
zu versechsfachen. Mit Sicherheit geht aus dieser Tabelle hervor, wie ganz anders
1314jährige Kinder über das Sparen denken als 1234jährige. In einem Jahre
bekommt der Begriff des Sparens eine viel breitere und tiefere Bedeutung bei
Knaben sowohl als Mädchen. In der 2. und 3. Klasse ist das Sparen von neben-
sächlicher Bedeutung (es werden auch nur kleinere Beträge gespart, nur ver-
einzelt schon die ganze Summe), in der 1. Klasse dagegen herrscht der Gedanke
des Sparens etwa bei einem Drittel der Knaben und Mädchen.
Es sei hierbei noch einmal daran erinnert, daß es sich um Hilfsschüler handelt,
die in der Entwicklung normalen Kindern gegenüber zurück sind. Wollte man
eine Parallele zu normalen Kindern ziehen, so müßte man die Alter um 1 — 2
Jahre zurückdatieren. Danach wäre hier der größte Unterschied etwa zwischen
dem 11. und 12. Jahre.
2. Verwendung von Geld zu Kleidung.
Die Verwendung von Geld zum Kaufe von Kleidung nimmt in den Aufsätzen
bei weitem den größten Raum ein. Alles andere tritt dagegen zurück. Beim
Lesen der Aufsätze wird oft das Gefühl lebendig, als ob sie ein Schrei nach ordent-
licher Kleidung wären. Es wollen 203 Knaben = 65,48 % und 206 Mädchen
= 85,8 % Geld für Kleidung ausgeben. Wie ernst es die Kinder meinen, kommt
darin zum Ausdruck, daß nicht weniger als 31,61 % Knaben und 43,75 % Mäd-
chen den ganzen Betrag für Kleidung verwenden wollen, also etwa ein Drittel
aller Knaben und beinahe die Hälfte aller Mädchen.
Es ist gewiß eine auffallende Tatsache, daß Kinder, Knaben und Mädchen
im Alter von 11 — 13 Jahren, dazu Hilfsschulkinder und Großstadtkinder, in so
großem Umfange das Geld, das sie nach Belieben verwenden können, in Kleidungs-
stücken anlegen wollen. Kinder in diesem Alter haben wohl nach allgemeiner
Ansicht andere Bedürfnisse und Wünsche, die sie befriedigen möchten, als sich
Schuhe, Anzüge, Kleider, Strümpfe, Schürzen, Hemden, Handschuhe und Hüte
zu kaufen. Wir haben hier ein instruktives Beispiel dafür, wie das Milieu und
die wirtschaftliche Stellung der Familie, aus der das Kind stanmit, dem Kinde
ihren Stempel aufdrücken und seine geistige Entwickelung beeinflussen. Die
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 269
Hilfsschüler der Großstadt kommen zum größten Teile aus armen und ärmsten
Familien, und wer einmal in die Schulen hineingesehen hat, wird wohl verstehen,
warum sich diese Kinder Kleidung kaufen wollen. Zerrissene, vielfach geflickte,
der Farbe nach nicht mehr erkennbare Hosen und Jacken, Stiefel, bei denen
Oberleder und Sohle notdürftig mit Bindfaden zusammengehalten werden, Bind-
faden statt Schnürbänder in den Schuhen, kein Hemd unter der Jacke, zu große
und zu kleine Jacken, Hosen und Schuhe — das sind durchaus keine unge-
wohnten Bilder. Tagtäglich spüren und fühlen die Kinder am eigenen Leibe
das Unangenehme schlechter Kleidung, und so lernen sie den Wert von heiler
und anständiger Kleidung schätzen. Bei ihnen dreht es sich nicht um feine
Kleidimg, sondern um das AUernotwendigste. Wären die Arbeiten von Kindern
aus gut gestellten Kreisen geschrieben worden, so wäre der Kauf von Kleidimg
kaum wesentlich hervorgetreten, vor allem hätte sie wohl zum schönen Aussehen
und zum Schmuck dienen sollen. Hier aber bricht der Wunsch nach ordentlichen
Kleidungsstücken mit elementarer Gewalt durch. Bei den Mädchen noch mehr
als bei den Knaben, Dabei ist nicht zu verkennen, daß bei den Mädchen eine
Neigung für schöne und elegante Kleidung besteht. Die Knaben schreiben : Ich
kaufe mir einen Anzug, ein paar Stiefel, eine Mütze, und sie geben nicht sehr
häufig nähere Bestimmungen. Bei der Mehrzahl der Mädchen heißt es: weiße
Schürze, schöne Stiefel, braune Stiefel, Stiefel mit Lackspitzen, gelbe halbe
Schuhe mit großer Schleife, rote Schuhe ( ! ), blaues Kleid, schöner Gürtel, hell-
blaues Haarband, grüne Bluse, rosa Strümpfe, Unterrock mit Spitzen usw. Die
Knaben sind meistens zufrieden, wenn sie ganze und ordentlich aussehende
Kleidungsstücke besitzen, die Mädchen wollen sich darüber hinaus auch putzen
und schön machen.
Überraschend und lehrreich ist die Berechnung der Beteiligung aus den ein-
zelnen Klassen.
Es kaufen Kleidung
Knaben Mädchen
Klasse I 55,79 % 82,54 %
II 64,59% 92 %
III 73,55 % 80,52 %
Man sollte doch eigentlich annehmen, daß in der 1. Klasse das Bedürfnis nach
anständiger Kleidung am größten sei, aber die Tabelle zeigt besonders bei den
Knaben gerade die umgekehrte Steigerung. In der dritten Klasse kaufen be-
deutend mehr Knaben Kleidung als in der ersten und in der zweiten, und dazu
kommt noch, daß die Zahl der Knaben, die den ganzen Betrag für Kleidung
ausgeben wollen, in der 3. Klasse erheblich größer ist als in der 1. Klasse. Die
11 14 jährigen denken also viel mehr an das Aussehen ihrer äußeren Erscheinung
als die 12- und 13 jährigen. Das scheint der allgemeinen Erfahrung zu wider-
sprechen, aber wenn man näher zusieht, wird man doch mancherlei Gründe für
die umgekehrt« Steigerung anführen können, wenigstens in diesem Falle. Die
11 ^jährigen Knaben der 3. Klasse stehen am Ende der Kindheitsperiode. Sie
fangen erst an, sich in die Welt der Erwachsenen hineinzufühlen. Die Augen
gehen ihnen auf, der Vergleich erwacht. Die Aufmerksamkeit wird daher zuerst
auf äußere Erscheinungen gelenkt, und ihre abgerissene Kleidung kommt ihnen
270 Ein Hilfsschul versuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
recht zum Bewußtsein. Dazu kommt noch, daß sie selbst zur Verbesserung ihrer
Lage nichts oder nur wenig beitragen können. Die seelischen und körperlichen
Kräfte sind noch zu schwach und zu unzuverlässig für Arbeiten, die mit Geld
bezahlt werden, und so sind sie von den Eltern ganz abhängig. Bis zum 13. Jahre
hat sich die Situation schon äußerlich wesentlich geändert. Die Knaben sind
kräftiger und im Getriebe des Lebens sicherer geworden. Sie müssen nun mit
an die Arbeit heran und verdienen. Viele Knaben der L Klasse haben sog. Lauf-
stellen und verdienen wöchentlich schon 2 — 3 Mark. So werden sie vom Geld-
beutel der Eltern etwas unabhängiger, denn ein Teil des Verdienstes kann häufig
zum Kaufe von Kleidern und Schuhen verwendet werden. Damit ist der größten
Not bei einem Teil der 13^4 jährigen Jungen abgeholfen. Aber auch in der geistigen
Ent Wickelung ist eine große Veränderung vor sich gegangen. Die zunehmende
ürteilsreife erschließt ihnen neue Gebiete, und damit erwachen auch neue Wünsche
und neue Interessen, die sie nun zu befriedigen suchen. Mit der äußeren Er-
scheinung haben sie sich etwas abgefunden. In dem Maße als ihre Kräfte für das
Leben der Erwachsenen reif werden, wollen sie nun auch an deren Arbeiten und
an deren Vergnügungen teilhaben. Den Wirkungen dieser beiden Faktoren ist
es wohl zuzuschreiben, daß in der I. Klasse der Kauf von Kleidung gegenüber
der größeren Zahl in der 3. Klasse zurücktritt. Die 2. Klasse bildet ein Glied in
dieser Entwicklung. Trotzdem ist die Zahl in der I. Klasse noch auffällig groß
genug, und sie beweist, wie sehr das Bedürfnis nach ordentlicher Kleidung auch
hier noch herrscht.
Einen etwas anderen Verlauf nehmen die Zahlen bei den Mädchen. In der
3. Klasse tritt der Wunsch nach Kleidung bei ^/g der Mädchen auf, also in viel
größerem Maße als bei den Knaben der gleichen Klasse. Der Höhepunkt wird
in der 2. Klasse mit 92 % erreicht, während er bei den Knaben in der 3. Klasse
mit 73,55 % liegt. Es ist möglich, daß dies ein Ergebnis des Zufalles ist, aber
es ist auch möglich, daß es sich um Verschiedenheiten in der psychischen Ent-
wickelung handelt. Es ist denkbar, daß bei den Knaben Urteil und Vergleich
im 11. Jahre schon so weit gediehen sind, daß sie in bezug auf Kleidung zur Er-
kenntnis der eigenen Lage gelangen, während diese Funktionen zu derselben
Deutlichkeit beim Mädchen etwas später zur Reife kommen. Vielleicht geben
hierüber andere Versuche Aufschluß. Von der 2. zur 1, Klasse geht dann
die Zahl von 92 % auf 84,54 % herunter, wobei wohl auch die bei den
Knaben genannten Faktoren wirksam sind, und übertrifft damit die Knaben
noch um 27 %.
Es mögen nun einige der interessantesten Kinderarbeiten folgen.
1) Mädchen, 12 Jahre, Kl. II.
Ich kaufe mich einen Hut zu 10 M. Der ist blau und hat eine Rose auf den Hut, und
der Hut ist beim Steindamm (Straße in H.) gekavift. Der Mann heißt Hermann Strick-
mann ( ?). Der Laden ist draußen hübsch ausgestellt. Die Hüte sind mit Kornblumen
geschmückt und meistens mit ,, Porösen". Ich habe eine ,, Poröse" gesehen, die kostete
100 Mark. Die ist weiß und fegt über den ganzen Hut rüber. Und öfters haben sie
eine Menge Band, weiß, rot, gelb, grün und rosa in den Laden.
2) Mädchen, 10 Jahre, Kl. III.
Ich kauf mir ein Kleid. Ich geh nach „lemde" (Lebende = Kino). Ich kauf mir
einen neuen Hut. Ich kauf mir ein paar braune Stiefel mit Lack 5,90. Ich geh in ein
Geschäft und kauf mir ein Hemd. Ich gehe nach Gallewski und kauf mir einen Unter-
rock mit Spitzen.
Ein Hilfsschulverauch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 271
3) Mädchen, 13 Jahre, Kl. I.
Ich würde mich freuen, wei^ ich ein 10 M. bekäme. Für 10 Mark kann man sich
schon allerhand kaufen. Große Sachen kann man sich nicht kaufen. Also ein Kostüm
kaufen. Ein Kostüm kann man sich für 10 M. nicht kaufen. Dann muß man sich
schon ein gutes Kostüm kaufen. Aber Kleinigkeiten für 10 M. kann man kaufen.
Wenn man sich ein paar Handschtihe kauft, dann nimmt man auch nicht die bilhgen,
die es gibt. Das beste, man nimmt die Handschuhe zu 4,50 M., das sind die besten.
Dann haben wir noch 5,50 M. Dafür kaufen wir eine Damenschürze.
Von einem offenbar sehr schwachen Mädchen der 1. Klasse stammt
folgender Aufsatz:
4) Ich habe 10 M. von tmser Lehrer bekommen. Und da holte ich mir einen alten
Hut zu 10 Pf., auch ein peiar rote Schuhe. Ich holte mir eine grüne Bluse zu 50 Pf.
Und da holte ich mir rosane Strümpfe und als ich das gekauft hatte, da ging ich ins
Theater. Ich holte mir ein Meter Haarband, das war ganz abgeblichen, es war die
beste Farbe. Und da holt ich mir große Ohrringe, die waren iinecht, es waren die besten.
3. Verwendung des Geldes zum Spiel.
Einen tiefgreifenden Unterschied zwischen Kjiaben und Mädchen ergibt die
Zusammenstellung über die Verwendung von Geld für das Spiel. Zunächst sollte
man im Rahmen der gestellten Aufgabe : Was würde ich mit 10 Mark anfangen ?
bei Kinderaufsätzen die Ausgabe von Geld für Spiele als eine charakteristische
Note erwarten dürfen. Aber es ist auffallend, wie wenig überhaupt an den Kauf
von Spielsachen gedacht wird. Es wollen 62 Knaben Geld für Spielsachen aus-
geben = 20 %, dagegen nur 22 Mädchen = 9,16 %; den ganzen Betrag für Spiel
verwenden 9 Knaben = 2,9 % und 2 Mädchen = 0,83 %; die Hälfte und mehr
des Geldes geben 15 Knaben aus = 4,84 % und nur 5 Mädchen = 2,08 %. Also
der größte Teil der Knaben und Mädchen, die überhaupt an den Kauf von Spiel-
sachen denken, verwendet weniger als die Hälfte des Geldes dafür. Diese Er-
scheinung hängt auch offenbar mit der sozialen Stellung der Kinder zusammen.
Gewiß spielen auch sie gern und viel, aber neben dem Spiele steht schon der
Ernst des Lebens, der sie tagtäglich und sehr eindringlich lehrt, daß das Geld
für Essen, Trinken, Miete und Kleidung da ist und nicht für unnütze Dinge wie
Spiele. Die Kinder spielen vor allem auf der Straße und auf freien Plätzen, ver-
hältnismäßig wenig dagegen im Hause. Da gibt es keine Zeit, keinen Raum und
wenig Spielzeug hierfür.
Über die Beteiligung der einzelnen Klasse am Kaufe von Spielsachen gibt diese
Tabelle Aufschluß:
Es verwenden Geld für Spiel
Kna'ben Mädchen
aus Klasse I 15% 3,17%
„ „ II 20% 14 %
„ „ III 23% 7,79%.
Bei den Knaben geht der Kauf von Spielsachen von der dritten Klasse (11^^-
jährige) über die zweite zur 1. Klasse (13^4 jährige) zurück, 23%— 20% — 15%;
bei den Mädchen zeigt sich in der 2. Klasse (12^/4 jährige) eine auffallende Steige-
rung, ohne daß für diese Erscheinung eine klar erkennbare Ursache gefunden
werden könnte. Vielleicht geben auch hierüber andere Versuche Auskunft.
Von großer Bedeutung für die vergleichende Psychologie der Knaben und
Mädchen scheint folgende Zusammenstellung zu sein:
272 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zvir vergleichenden Jugendkunde usw.
Es kaufen an Spielsachen:
Knaben: Mädchen:
Lederball, Dampfmaschine, Betriebsmodelle dazu, Roll- Puppe, Ball, Karre,
schuhe, Taschenlampe, Taschenfeuerzeug, Schiff, Rollschuhe, Bau-
Blockwagen, Buntstifte, Luftgewehr, Wagen und kästen, Puppen-
Pferd, Beil, Flöte, Blase [Mundharmonika], Elefant, kästen (Puppen-
Eisenbahn, Laubsäge, Fliegenden Holländer, Schaukel- stube ?).
pferd, Auto, Werkzeugkasten, Unterseeboot, Rad,
Jagdwagen, Schlittschuhe, Fußball, Schaukel, Helm,
Säbel, Burg, Stock, Schaufel, Trompete, Trommel.
Diese Gegenüberstellung lehrt zweierlei. 1) Das Spiel der Knaben ist reich-
haltiger und vielseitiger gegenüber dem Spiele der Mädchen. 2) Die Reichhaltig-
keit des Spieles der Knaben weist darauf hin, daß beim Knaben die geistigen
Kräfte in weit größerem Maße tätig sind als beim Mädchen und daß den Knaben
zur Förderung und zur Entwickelung des Geistes durch das Spiel viel mehr
Material zugeführt wird als den Mädchen.
Es gibt fast kein Gebiet, das nicht vom Spiele der Knaben ergriffen würde.
Sie beziehen ihre Spiele aus der Technik (Dampfmaschine, Modelle, Taschen-
lampe, Taschenfeuerzeug), aus dem Verkehr (Eisenbahn, Schiff, Auto, Unter-
seeboot, Wagen, Rad), aus dem Handwerk (Beil, Laubsäge, Schaufel, Werk-
zeugkasten), vom Militär (Helm, Säbel, Trompete, Trommel, Burg, Luftgewehr),
von der Musik (Flöte, Blase [Mundharmonika]) usw. Es ist natürlich, daß der
Umgang mit so vielgestaltigem Spielzeug von großem Einfluß auf die geistige
Entwickelung ist. Dadurch wird vielfach der Boden für die Erschließung von
Lebensgebieten und Lebensgemeinschaften vorbereitet. Förderung des Triebes
zum Forschen, Probieren, Erfinden, Zerlegen, Zusammensetzen, Anregung der
Phantasie, Urteilsbildung, das Erkennen von Werten, Erfassen von Kausal-
zusammenhängen, Beziehungen aller Art sind der Gewinn aus solcher Betätigung.
Der Anschauungskreis und das Erfahrungswissen werden erweitert und vertieft,
die wieder dem Unterrichte wichtige Unterlagen geben. Ein Knabe, der mit der
Eisenbahn spielt, bringt auch der Eisenbahn mit all ihren Einrichtungen Inter-
esse entgegen. Wenn er Eisenbahnen sieht, beobachtet er Erscheinungen und
Vorgänge, er stellt Vergleiche an und sucht Verbindungen zu seiner eigenen
Eisenbahn und zu seinem Spiele.
Diese Prozesse treten bei den Mädchen sehr zurück, denn ihr Spiel ist dem
der Knaben gegenüber eintönig und arm. Puppe, Puppenstube und Ball be-
herrschen ihr Spiel. In der ersten Klasse ist der Wunsch nach Spielsachen schon
fast erloschen. So haben die Mädchen zweifellos weniger Gelegenheiten zur Be-
tätigung, Übung und Entwickelung ihrer psychischen Kräfte, und es ist begreif-
lich, daß damit im späteren Leben gewisse Ausfallserscheinungen verbunden
sein können.
In folgenden Aufsätzen herrscht die Verwendung des Geldes für Spielsachen vor.
5) Knabe, 10 Jahre, Kl. III.
Ich kaufe mich ein Fahrrad. Denn kaufe ich mich einen fliegenden Holländer. Denn
kaufe ich mich ein Schaukelpferd. Denn kaufe ich mich eine Dampfmaschine. Denn
kaufe ich mich eine Eisenbahn. Denn kaufe ich mich einen Blockwagen.
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 273
Dieser Knabe steht ganz unter dem Gredanken des Spieles. Er kauft wahllos einen
Gegenstand nach dem andern, ^hne bestimmte Neigung und ohne auf die Preise der
Gegenstände zu achten. Mit mehr Überlegung kaufen folgende 2 Knaben:
6) Knabe, 12 Jahre, Kl. II.
Ich würde mich für 5 M. eine Trommel kaufen im Turnverein, und einen Fußball
zu 1,20 M. und für 80 Pf. einen Lederball und eine Klippe 180 Pf., und für 3 M. ein
paar Rollschuhe.
7) Knabe, 14 J., Kl. I.
Ich bin mit die 10 M. nach ein Radfahrgeschäft gegangen und da habe ich mir eine
Dampfmaschine gekauft, die kostet 8 M., ^lnd für daw andere Geld habe ich mir ein
Modell dazu gekauft.
Der letzte Aufsatz zeigt, wie das Spiel in ernste Beschäftigung übergeht. Noch deut-
licher kommt das in diesem Aufsatze zur Geltung:
8. Knabe, 13 J., Kl. I.
Ich hätte mir eine Dampfmaschine und einen kleinen Motor und einen Treibriemen
zum Erzeugen für Elektrizität gekauft. Dann hätte ich die Stube mit Glühbirnen
und einen Schalter und eine kleine elektrische Anlage an der Haustür angelegt. Ich
kenne solche Mechanikeranlagen, ich bin ein Fachmann in alle Sachen. Die Gesamt-
kosten beträgt etwa: Dampfmaschine mit Motor 6 M., Treibriemen 1,50 M., in jeder
Stube zwei Glühbirnen eine an der Uhr, eine an der Wand, jede Birne kostet 50 Pf.,
6 Stuben belegen kosten 2,50 M., und der Glockenzug an der Haustür 3,50. Die
Kosten 12,50. M.
Noch 2 Meidchenauf Sätze :
9) Mädchen, 11 J., Kl. III.
Ich kaufte mich für 10 M. eine ganz große Puppe, und denn hätte ich noch Q«ld
wiederbekommen, da hätt ich für die Puppe Kleider gekauft. Dann hätte ich sie an-
gezogen und dann hätt ich damit gespielt.
10) Mädchen, 14 J., Kl. II.
Ich kaufe mir einen Ball zu 50 Pf. Dann gehe ich zum Hutgeschäft und kaufe einen
Hut zu 50 Pf. Da habe ich mir eine große Puppe gekauft. Die Puppe kostet 6 M.
Dann kaufe ich mir ein paar Rollschuhe, die Rollschuhe kosten 4 M.
4. Ausgabe von Geld für Vergnügungen.
Bei den Vergnügungen wurden Ausgaben für Schokolade, Bonbon, Kuchen,
Theater, Cafe, Kino, Auto, Droschke, Ausflug u. ä. gezählt. Dafür wollen Greld
ausgeben :
60 Knaben = 19,35 %, 37 Mädchen = 15,42 %.
Danach scheint die Neigung für Vergnügungen bei den Knaben etwas größer zu
sein al^ bei den Mädchen.
Eine eigenartige Erscheinung zeigt sich, wenn man den Anteil der einzelnen
Klassen an den Vergnügungen berechnet.
Knaben Mädchen
Aus der 1. Klasse =20 % 14,29 %
„ „ 2. „ = 14,89 % 9 %
„ „ 3. „ = 22,31 % 24,67 %.
Während in der 3. Klasse (11 14 jährige) 22 % und 24 % zu verzeichnen sind,
zwischen Knaben und Mädchen also kein auffallender Unterschied besteht, gehen
die Zahlen in der 2. Klasse ( 12^4 jährige) herunter auf 14 % bei den Knaben,
auf 9% bei den Mädchen, um dann in dor I.Klasse (13^4 jährige) auf 20% bei den
Knaben und auf 14 % bei den Mädchen anzuwachsen, so daß also die Knaben
um 6 % höher stehen. Dem Grunde für diesen Ab- und Aufstieg, der bei Knaben
und Mädchen stattfindet, kommt man näher, wenn man sich die Art des Vcr-
ZeltschrUt (. pAd»gog. Pqrabologle. 18
274 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
gnügens ansieht. In der 3. Klasse handelt es sich vorwiegend um die Befriedigung
des Gaumens mit Süßigkeiten. Die Kinder wollen sich Schokolade, Bonbon,
Kuchen, Äpfel, Apfelsinen, Kirschen, Kuchen, Eis, Eiswaffeln und Marzipan
kaufen, Knaben sowohl als Mädchen. (Nur vereinzelt wird nach anderen Genüssen
verlangt (Autofahren, ins Variete und Cafe gehen), und diese Ausnahmen stammen
fast nur aus 2 Schulen. Es scheint da ein besonderer Einfluß vorzuliegen.) In
der ersten Klasse dagegen tritt das Verlangen nach Näschereien etwas zurück
und dafür erwachen andere Genüsse: Ausflüge, St. Pauli, Likör, ^4 1 Dunkles,
für 50 Pf. ein paar Zigarren, Fahrten im Auto und in der Droschke, Theater,
Flora (Variete), Cafe. Dazwischen stehen die 12^ jährigen Kinder in der 2, Klasse,
bei denen sich beide Arten von Vergnügungen finden, aber keine von ihnen über-
wiegt. Diese Kinder fangen in dieser Zeit an, die Kinderschuhe auszuziehen.
Fühlend und ahnend stehen sie am Anfange einer neuen Periode. Der Gaumen
lechzt zwar noch sehr nach süßer Befriedigung, aber daneben erwacht auch schon
der Sinn für andere Genüsse. Sie schwanken hin und her, und in dieser Unent-
schiedenheit kommen sie zu keinem festen Entschluß. Hierauf ist wahrschein-
lich die geringe Beteiligung der 2. Klasse an Vergnügungen gegenüber der 3. und
1. Klasse zurückzuführen. Es lehnt sich in ihnen etwas auf, nach Näschereien
zu verlangen, aber sie trauen sich auch an die Vergnügen der anderen Welt noch
nicht heran. Die Kinder der ersten Klasse stehen natürlich auch noch im Über-
gangsstadium, aber die Genüsse und Vergnügen der Erwachsenen haben bei
ihnen schon festere Formen angenommen.
Auffällig ist, daß der Besuch des Kinomatographen wenig erwähnt wird. Im
ganzen wollen 7 Knaben und I Mädchen den Kino besuchen, obwohl mit großer
Wahrscheinlichkeit die größte Zahl der Knaben und Mädchen gute Kinogäste
sind. Aber dieses Vergnügen ist ihnen wohl schon zu gewohnt, auch wissen sie
dafür immer einen Nickel aufzutreiben, als daß es ihnen bei der Verwendung
von 10 Mark als besonders erwähnenswert erschiene. 12 Knaben und 10 Mädchen
wollen ins Theater, Cafe oder Variete gehen und im Auto fahren, 9 Kjiaben und
8 Mädchen wollen Ausflüge unternehmen.
Die Aufsätze, in denen die Verwendung des Geldes für Vergnügungen herrscht
oder überwiegt, sind mit die interessantesten. Eine kleine Auswahl wird das
bestätigen.
11) Mädchen, 11 Jahre, Kl. III.
Ich hätte mich ein schönes Kleid gekauft und wäre nach dem Theater gegangen.
Dann hätte ich noch schöne, weiße Schuhe gekauft. Dann hätte ich mich noch weiße
Röcke gekauft, dann noch einen weißen rosanen Hut. Dann kaufe ich mir zwei neue
Ringe, kosten 5 M. und dann eine echte Kette. Mehr nicht, dann war Schluß.
12) Mädchen, 11 Jahre, Kl. II.
Ein Kleid, das kostet 5 M. Ich ziehe es Sonntag an. Ich gehe ins Theater und nehme
einen Platz für 2 M., vmd ich nehme mir auch Theaterkonfekt mit für 1 M. Ich muß
auch ein Theaterkape haben, das kommt 2 M. Jetzt habe ich meine 10 M. endlich
ausgegeben. Mein Kape sieht rosa aus. Mein Kleid sieht auch rosa aus.
In diesen beiden Arifsätzen ist das Leitmotiv: Putzen tmd Theater. Der folgende
Aufsatz zeigt einen gewissen sexuellen Beigeschmack.
13) Mädchen, Kl. I.
Von die 10 Mark kaufe ich mich ein altes Kleid. Und das weis ich dann noch über
habe, ginge ich ins Theater. Als ich da war, kamen wir um 1 wieder nach Hause. Als
der Tag wieder um war, kaufte ich mir noch gelbe halbe Schuhe mit einer großen
Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 275
Schleife und die kosten 7 Mark, Als ich nur 80 Pfennig noch übrig hatte, hatte meine
Mutter mir noch 2 Mark zugegeben. Da hatte meine Freundin und ich eine Tour ge-
macht nach dem Krubonnersee ( ?). Da kam ein feiner Herr, der wollte mit uns ins
Kaiserkaffee hinein. Da hatte er immer für uns ausgelegt. Wir wollten es gar nicht
annehmen, denn wir mochten es nicht. Als es morgens war, gingen wir um 6 nach
Hause, und wollten schnell mit dem Auto nach Hause fahren. Als mir zu Hause
waxen, ging ich schnell zu Bett, denn meine Mutter hat geschimpft.
Ein reichhaltiges Programm entwickelt folgender Kxiabe:
14) Knabe, 13 Jahre, Kl. I.
Erst gehe ich nach St. Pauli und gehe ins Automaten. Da esse ich und trinke ich:
Schokolade, Wein, Limonade, Bier; Krebssuppe, Schweinebraten, Kalbsbraten, Vor-
speise \m^d Nachspeise, belegte Butterbröte. Dann kaufe ich mich ein paar neue Schuhe.
Einen Anzug imd einen neuen Hut, Spazierstock, weiße Wäsche und Strümpfe, und
was übrig bleibt, kommt in die Sparbüchse.
15) Knabe, Kl. I.
Zuerst ging ich nach einen Freund. Und dann wären wir nach Anton gegangen
imd hätten Eis gekauft. Und dann wären wir per Auto nach dem Kaiserkaffee gefahren.
Da kauften wir eine Torte und den Teller hab ich sogar abgeleckt. Und dann sind
wir nach dem Krämer (gegangen) und haben uns (für) 60 Pfennig Lagerbontje (ge-
kauft).
16) Knabe, Kl. I.
Da bin ich mit einem Automobil nach dem Kaiserkaffee gefahren. Da habe ich
mir eine Erdbeertorte und eine Tasse Kaffee gekauft. Da habe ich den Kellner ge-
rufen, er sollt eine Flasche Brause und ein Stück Butterkuchen bringen. Da bin ich
wieder mit einem Automobil nach Hause gefahren.
17) Knabe, Kl. I.
Ich wollte am Sonntag mit meinem Mädchen ausgehen. Ich dachte nach dem
Hamburger Stadttheater zu gehen. Und ich fahre mit dem Auto hin. Als wir wieder
aus dem Theater kamen, sind wir mit dem Auto nach dem Kaffee Prinz gefahren.
Da gingen wir zu Haus. Und wir haben uns gut amüsiert. Das andere Geld habe ich
nach der Sparkasse gebracht.
Die letzten 3 Aufsätze (16 — 17) stammen aus einer Klasse. Das auffällige Auto-
mobilfahren beruht sicher auf irgendeinem Einfluß.
6. Abgeben von Geld.
Manche Knaben und Mädchen wollen das Geld nicht ausschließlich für ihre
Person verwenden, sondern auch Eltern und Geschwister daran teilnehmen lassen.
Entweder beabsichtigen sie, eine Überraschung zu bereiten, oder sie wollen ein
Scherflein zum Haushalt oder zur Kleidung beitragen. Meistens ist es die Mutter,
die das Geld oder einen Teil davon haben soll. Manche geben das bare Geld ab,
andere bezeichnen genau die Dinge, die für das Geld gekauft werden sollen. Es
wollen 61 Knaben etwas abgeben = 19,68 % und 50 Mädchen = 20,08 %;
Knaben und Mädchen also im gleichen Verhältnis. Ein Unterschied besteht aber
darin, daß 24 Knaben alles abgeben wollen = 7,74 %, während nur 8 Mädchen
= 3,33 % das Gleiche tun wollen. Die Beteiligung der einzelnen Klassen am
Abgeben stellt sich so dar.
Knaben Mädchen
Es geben ab in Kl. I = 27,37 % 26,98 %
II = 23,4 % 21 %
III = 10,74 % 15,68 %.
Bei Knaben und Mädchen zeigt sich die gleiche Entwickelungstendenz. Mit
zunehmendem Alter (von IIV2 — 13*4 Jahren) wächst die Erkenntnis, daß die
Eltern schwer um den Lebensunterhalt arbeiten müssen und den Kindern die
18*
276 Ein Hilfssohulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
Pflicht erwächst, von ihrem Gelds etwas dazu beizusteuern. Ein anderer Ge-
danke, den man antrifft, ist der, die Eltern müssen ihren Verdienst für Nahrung,
Kleidung und Miete ausgeben und haben für andere Sachen nichts mehr übrig;
da wollen die Kinder eingreifen und schenken : Handarbeiten, Tischdecken, Bluse,
Handschuhe, weißes Kleid, Rock, Reibmaschine, Glasschüssel u. ä.
Dazu einige Aufsätze:
18) Knabe, 13 Jahre, Kl. II.
Ich würde von das Geld für meine Mutter etwas Hausstand einkaufen. Und das
übrige Geld werde ich so lange aufbewahren, bis meiner Mutter ihr Geburtstag ist.
Es waren noch 3 Wochen lang. Als drei Wochen um waren, kaufte ich ein Tassenservis.
Meine Mutter hat sich sehr gefreut da an.
19) Knabe, 12 Jahre, Kl. II.
Ich gehe zum Kavifmann und kaufe Zucker, Kaffee, Brot, das ist alles. Dann gehe
ich zum Grünhöcker, hole Kartoffeln und andere Gemüse. Dann gehe ich zum Krämer
und hole Salz, Pfeffer, Honig, Schokolade und das übrige Geld geb ich meiner Mutter.
20) Mädchen, 13 Jahre, Kl. I.
Ich würde meinen Eltern eine große Freude machen. Meinen Vater hätte ich eine
Kiste Zigarren zu 4,50 gekauft. Meine Mutter hätte ich eine Schürze zu 2,20 gekauft.
Meine Schwester hätte ich Spielzeug gekauft. Meine Brüder hätte ich jeder einen
Tuschkasten gekauft. Wenn ich dann nach Havise käme, hätten sie sich sehr ge-
freut. Ich hätte mir dann eine schöne Handarbeit gekauft. Dann wäre das ganze
Geld alle.
21) Mädchen, Kl. I.
Ich schenke meiner Mutter ein Kleid und ein Hut, damit sie etwas anzuziehen hat,
und daß sie sich Brot kaufen kann. Meine Mutter schenkt mir auch mal was. Das
Kleid kostet 5,60 M. xond der Hut 3 M. Wieviel habe ich dann — habe ich noch 1 M.
imid 50 Pfennig.
22) Mädchen, 11 Jahre.
Ich hätte meine Mutter eine Tasche gekauft 2 M., imid ein p£iar Stiefel 4 M., und
mein Vater ein Hut zu 3 M., und meine Mutter paar Pantoffeln 1 M., so ist die 10 Mark
„wakk".
23) Mädchen, Kl. III.
Ich spare die 10 M. a\if und spare inmaer mehr, bis ich so viel Geld habe, daß ich
meiner Mutter ein Kleid kaufen kann.
6. Besondere Wünsche und Neigungen.
Die Ajufsätze wurden noch daraufhin durchgesehen, welche besonderen Wünsche
und Ne gungen zu verzeichnen waren. Das Ergebnis zeigt deutlich, daß daran
mehr Knaben als Mädchen teilhaben und daß auch die Interessen der Kjiaben
reichhaltiger sind.
Es wurden gezählt 30 Knaben = 9,68 % und 9 Mädchen = 3,75 %. Bei den
Knaben finden wir: Dampfmaschine (2 mal), elektrische Anlage, Lesebuch
(2 mal), Bild (4 mal, je ein Bild zu 1 M., 30 Pf., 4 M., Heidebild zu 10 M.), Märchen-
buch (5 mal, einmal 2 Bücher zu 10 M.), Fische (3 mal), Ponny, ein paar Tauben,
einen Hund, Blumen (2 mal), einen Garten mit Äpfel und Birnen, einen Esel
zum Reiten, Enten, Hühner, Ziege mit Wagen, ein Schwein, einen Wagen mit
2 stolzen Pferden, Glashafen, Kanarienvogel, weiße Mäuse. Bei den Mädchen:
Buch (2 mal), Aquarium mit Goldfischen, Hund (2 mal), Kanarienvogel (2 mal),
eine Pflanze, einen Blumentopf.
Das Erfassen des Geldwertes.
Ein wichtiger Punkt der Bearbeitung mußte die Antwort auf die Fragen sein :
Haben die Kinder bei der Verwendung den Geldwert berücksichtigt? Wie weit
Ein Hilfsachulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 277
haben Kjiaben und Mädchen den Geldwert erfaßt ? Die Antwort hierauf bereitete
mehr Schwierigkeiten, als yon vornherein angenommen wurde. Ursprünglich
war folgende Teilung vorgesehen : (Geldwert und Ausgabe sind richtig, annähernd
richtig, falsch, ohne Angabe. Es zeigte sich aber bald, daß mit dieser Speziali-
sierung nichts anzufangen war. Ein Kind schreibt z. B., ich will das Geld in den
Spartopf stecken. Das kann natürlich eine sehr richtige Erkennung des Geld-
wertes sein, aber es kann auch das Gegenteil sein. Vielleicht wird das Kind im
Hause angehalten, Geld zu sparen, und so verwendet es das Geld auch hier, ohne
vielleicht eine Ahnung zu haben, welchen Wert 10 Mark haben. Oder ein Mäd-
chen schreibt : Ich kaufe mir ein neues Kleid, neue Stiefel, einen neuen Hut, 1 m
Haarband, einen Ring und ein Armband. Alle diese Dinge kann man in der
Großstadt ohne Schwierigkeit für 10 Mark kaufen. Das Mädchen hat also
vielleicht ganz richtig über das Geld disponiert, aber es kann sich auch gründlich
versehen haben. So blieben bei sehr vielen Aufsätzen Unklarheiten zurück, die
eine exakte Durcharbeitung und Antwort der gestellten Fragen unmöglich
machten. Es wurden deshalb nur die Aufsätze zusammengestellt, bei denen es
ganz klar war, daß die Verfasser den Wert von 10 Mark nicht erfaßt hatten.
Das sind 24 Knaben = 7,74 % und 26 Mädchen = 10,83 %. Auf die Klassen
verteilt entsteht dieses Bild:
Knaben
Mädchen
Klasse I = 4,21 %
II = 4,25 %
III = 13,22 %
6,35 %
5 %
22,08 %.
Im allgemeinen kann man sagen, daß dies für Hilfsschüler kein ungünstiges
Ergebnis ist, denn man muß bedenken, daß bei ihnen in der Bildung von Wert-
und Beziehungsbegriffen durchschnittlich die schwersten Defekte zu finden sind.
Die Knaben und Mädchen der 1. u. 2. Klasse, die den Geldwert nicht berück-
sichtigt haben, sind zweifellos solche Naturen, denen die Bildung von Wert-
begriffen versagt ist und die nur in beschränktem Umfange oder nie mit Greld
umzugehen lernen. Für das günstige Resultat darf man wohl auch die Arbeit der
Schule in Rechnung stellen. Es ist bekannt, daß in der Hilfsschule auf das Geld-
rechnen sehr großer Wert gelegt wird. Vielfach wird das Geld in den Mittelpunkt
des Rechenunterrichts gestellt, denn der Umgang mit Geld gibt dem Hilfsschul-
kinde im späteren Leben fast allein Gelegenheiten zum Rechnen. Ferner darf
man nicht vergessen, daß die Verwendung von 10 Mark noch kein eigentliches
Rechnen ist. Es ist sehr wahrscheinlich, daß in manchen Fällen die Kinder nur
gehörte, gesehene und gemerkte Preise reproduziert haben, die sie dann bis zu
10 Mark addierten. Deshalb können trotz richtiger Verwendung die Beziehungs-
begriffe sehr gut fehlen. Das Geld gewinnt im Leben dieser Kinder schon früh-
zeitig eine Bedeutung. Das Leben im Hause bringt es mit sich, daß das Geld
und sein Wert täglich in allen möglichen Verbindungen besprochen wird. Nicht
nur das Einholen von Waren für den Haushalt, das Steigen und Fallen der Preise,
sondern auch der Verdienst des Vaters und der Mutter, die Wirkung von gutem
und schlechtem Verdienst, die Veränderungen im Haushalt bei Arbeitslosigkeit
und noch manche andere Gelegenheit schaffen einen ausgedehnten Vorstellungs-
komplex und zahlreiche Assoziationen, in deren Mittelpunkt das Geld steht.
278 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
Zwischen dem 11. und 12. Lebensjahre scheint die Erkenntnis vom Gelde und
seiner Bedeutung außerordentlich zuzunehmen. Bei den Knaben fällt die Pro-
zentzahl von der 3. bis zur 2. Klasse von 13 auf 4, bei den Mädchen von 22 auf 5.
In diesem Alter werden die Kinder besonders empfänglich für die eben genannten
Einflüsse, wachsende Teilnahme am Leben, am Verdienste der Eltern, eigenes
Geldverdienen und Rechenunterricht der Schule.
Einige der auffälligsten Aufsätze, bei denen der Geldwert völlig außer acht
gelassen wurde, seien noch mitgeteilt. Sie wirken geradezu grotesk.
24) Mädchen, 10 Jahre, Kl. III.
Ich kaufe mir eine neue Bluse, ich kaufe mir einen neuen Rock. Ich hab einen
schönen Kuchen. Ich hab schöne Handschuhe gekauft. Ich kaufe mir eine neue
Tasche. Dann gehe ich nach Hagenbeck. Dann habe ich eine neue Puppe gekauft.
Ich kaiife mir eine Puppenstube. Dann kaufe ich ein Märchenbuch und ich gehe nach
dem Blumengeschäft. Ich kaufe mir einen Federkasten. Ich kaufe mir eine neue
Schürze. Ich kaufe mir ein paar Haarbänder. Ich kaufe mir ein paar Strümpfe. Ich
hab einen neuen Griffel gekauft. Ich kaufe mir ein Armband. Ich kaufe mir einen
Blumentopf. Ich kaufe mir ein paar Schreibhefte. Ich kaiife mir eine Halskette, eine
Schnalle. Ich kaufe mir einen neuen Puppenwagen. Ich kaufe mir einen Federhalter.
Ich kaufe mir einen Tisch. Ich kaufe mir ein paar Löschblätter.
25) Mädchen, 121/2 Jahre, Kl. III.
Ich kaufe mir ein paar neue Schuh 6 M., und ein weißes Kleid 10 M., tmd ich kaufe
mir einen Rock 9 M., und ich kaufe mir einen Hut 7 M. und ich kaufe mir ein paar
neue Strümpfe, und ich kaufe mir viele Tassen 6 M., und ich kaufe mir ein Haus zu
30 M., und ich kavife mir ein „Leichen" (?) zu 4 M., und ich kaufe mir eine Hose zu
8 M., und ich kaufe mir viele Teller zu 11 M., und ich kaufe mir ein Hemd zu 2 M.,
und ich kaufe nur einen Nähkasten zu 2,50 M., und ich kaufe mir eine Bluse zu 3,50
und — da war das Papier zu Ende.
26) Mädchen, 13 Jahre, Kl. II.
Ich kaufe mir ein Kleid imd ein paar Stiefel. Ich hätte mir einen Hund gekauft.
Ich hätte mir ein paar Strümpfe gekauft. Ich kaufe mir einen Ring und ein Arm-
band und auch eine Uhr. Ich kaufe mir eine Rose und „Pingsnäh" und auch ein
Aquarium mit Goldfische darin und auch ein Fischnetz. Ich kaufe mir einen Kanarien-
vogel mit einem Käfig. Und ich miete einen Garten. Ich kaufe mir eine Laube zvun
Gaxten. Ich kaufe mir ein paar Turnringe und auch einen Rundlauf und Stangen.
Ich kaufe mir eine Maschine.
27) Knabe, 11 Jahre, Kl. IV.
Ich kaufe mir gelbe Stiefel imd kaufe mir ein paar Handschuhe und kaufe mir
Manschetten imd kaufe mir ein Vorhemd und kaufe mir einen Anzug und kaufe nur
einen Hut und kaufe mir Schlipse imd kaufe mir eine Hose und kaufe mir eine Weste
und kaufe mir eine goldene Uhr.
Auch den folgenden Aufsatz kann man hierher rechnen.
28) Knabe, 13 Jahre, Kl. II.
Ich kaufe 10 Pf. Bonbon. Ich kaufe mich 10 Pf. Buch.
29) Knabe, 10 Jahre, Kl. III.
Ich geb das Geld meiner Mutter und dann kehren wir in eine Wirtschaft (ein) und
dann kriecht ich auch einen Anzug. Und Blumen kaufen wir. Ich kauf mich eine
Uhr zu 8 M. Der Anzug kostet 4,50 M. Das Spielzeug kostet 3,50 M.
30) Knabe, 13 Jahre, Kl. I.
Ich kaufe mir ein paar Stiefel zu 8 M. und einen Anzug zu 15 Mark und ein paar
Strümpfe 1 M. und eine Mütze 1 M. und dann fahre ich nach Helgoland.
Ein kleines Märchen dichtet dieser Knabe, 10 J., Kl. III:
31) Ich hätte mir ein Schwein gekauft. Das hätte ich meiner Mutter und Vater
geschenkt. Das hätte meine Mutter gebraten und hätten es auf Teller gelegt und
hätten ein großes Messer genommen und hätten es aufgegessen.
Ein Hilf sschul versuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw. 279
Die Ergebnisse dieser Untersuchung kann man nach 2 Richtungen gliedern.
Sie bringen einen Beitrag ^r Psychologie des Kindes überhaupt, indem sie
zeigen, welchen großen Einfluß das Milieu auf die Entwickelung des kindlichen
Seelenlebens hat. Das auffällige Überwiegen des Kaufes von Kleidung und das
Zurücktreten im Verlangen nach Spiel- und Beschäftigungsgegenständen, viel-
leicht auch das Sparen können als das Gregenteil von dem betrachtet werden,
was wir sonst als Norm anzusehen gewohnt sind. Wenn diese Erscheinungen
nur in einer oder in zwei Schulen zu finden wären, so könnte man den Verdacht
haben, daß die Kinder unter irgendeinem Einfluß gestanden hätten. Da sie aber
in allen Schulen wiederkehren, so müssen hier Faktoren wirksam sein, die aus
dem Leben hervorgehen, und zwar mit solcher Stärke, daß sie Wünsche, Nei-
gungen und Regungen anderer Art, die wir im Kinde dieser Altersstufen suchen
imd als das Natürliche ansehen, in großem Umfange zurückdrängen. Das harte
und rauhe Leben greift frühzeitig das Kind an und gewinnt einen bestimmenden
Einfluß auf die Entfaltung seines Seelenlebens. Hinter den Äußenmgen der
Kinder stehen die Not und die Armseligkeit der häuslichen Verhältnisse. Die
Verwendung des Geldes wird diktiert von Erfahrungen am eigenen Leibe.
Ferner zeigt die Verwendung des Geldes in den einzelnen Lebensjahren eine
große Veränderung. Vergleicht man die Art und Weise der Verwendung im
11. Lebensjahre mit der im 13., so ist die Beteiligung am Sparen, am Kaufe von
Kleidung und Spielsachen, an Vergnügungen, am Abgeben, am richtigen Er-
kennen des Geldwertes sowohl quantitativ als auch qualitativ sehr verschieden.
Diese Veränderungen lassen ahnen, welche großen Umwälzungen sich bei Knaben
und Mädchen vom 11. — -13. Lebensjahre vollziehen. Der Anschauungskreis und
die Urteilskraft sind im 11. und 13. Jahre in wichtigen Partieen von grundsätz-
lich anderer Struktur.
Schon eingangs wurde erwähnt, daß die größte Zahl der Aufsätze von Knaben
und Mädchen stammt, die gemeinsam unterrichtet werden und zwar von Lehrern
und Lehrerinnen. Eine Koedukation im eigentlichen Sinne des Wortes besteht
nicht, vielmehr kann man von einer Koinstruktion reden. Die Knaben und Mäd-
chen sind nur im Unterricht und in den Pausen zusammen. Der Nachmittag
bringt keine Veranstaltungen, an denen Knaben und Mädchen gemeinsam teil-
nehmen und wo sich ein ungezwungenerer Verkehr und tieferer gegenseitiger
Austausch entwickeln könnte, als dies auf den Schulbänken möglich ist. Auch
werden die einzelnen Klassen selten von einer Lehrperson durch alle Klassen ge-
führt. Es wechseln Lehrer und Lehrerinnen ab. Soweit nun ein Urteil nach dem
vorliegenden Material möglich ist, hat dieser gemeinsame Unterricht keinen Aus-
gleich unter den Geschlechtern hervorgerufen. Knaben sowohl als Mädchen
weisen charakteristische Merkmale auf. Knaben und Mädchen sind der Zahl nach
an der Verwendung des Geldes verschieden beteiligt, der Inhalt der Verwendung
ist verschieden, und wenn auch die Entwickelungsreihen vom 11. — 13. Jahre
im allgemeinen dieselbe Tendenz zeigen, so bestehen doch auch bei ihnen klar zu
erkennende Unterschiede.
Die vorliegende Vergleichung hat naturgemäß keinen Anspruch auf Allgemein-
gültigkeit. Es wäre verfehlt, irgendwelche Normen für den Unterschied zwischen
Knaben und Mädchen ableiten zu wollen. Sie bezieht sich nur auf Hilfsschüler.
Diese aber zeigen auch, abgesehen von dem Intelligcnzdefekt, in der Entwicke-
280 Ein Hilfsschulversuch als Beitrag zur vergleichenden Jugendkunde usw.
lung und Betätigung ihres Willens- und Gemütslebens Abweichungen vom nor-
malen Kinde. Um eine Vergleichsmöglichkeit für praktische Zwecke zu be-
kommen, nimmt man mitunter an, daß Hilfsschulkinder etwa 1 — 2 Jahre nor-
malen Kindern gegenüber zurück sind. In wissenschaftlichem Sinne ist diese
Annahme nicht ohne weiteres zulässig. Immerhin dürfte die Vergleichung doch
auch einige Anhaltepunkte für die Psychologie der normalen Kinder geben,
wenigstens in ihren allgemeinen Ergebnissen. Sie weist auf Gebiete des psychi-
schen Lebens und der psychischen Entwickelung hin, die bei Knaben und Mäd-
chen Verschiedenheiten aufweisen, und es wird die Aufgabe anderer Unter-
suchungen sein, zu erforschen, in welchem Maße und Verhältnisse sie bei normalen
Individuen bestehen.
Der Begriff des Interesses in psychologischer Ableitung.
Von A. Huther.
Den gemeinsamen Grundfaktor aller, sowohl der theoretischen wie der prak-
tischen Entwicklung des Bewußtseins bildet nach Wundt, auf dessen psycho-
logische Anschauungen in dieser Zeitschrift vielfach zurückgegangen wird, die
phylogenetische Triebanlage. Eine psychologische Ableitung des Inter-
esses wird demnach eben diese zum Ausgangspunkt zu nehmen haben. Die
Triebanlage enthält im Keime schon den Willen, ohne den eine Betätigung von
Interesse überhaupt nicht gedacht werden kann. Sie ist aber ursprünglich nur
in Form einer ererbten psychischen Disposition gegeben, die bei ihrer Aktuali-
sierung zunächst in Gestalt des Gefühls zu subjektivem Ausdruck kommt. In
diesem Sinne, d. h. rein phänomenologisch betrachtet, stellt das Gefühl das
Grundelement des Psychischen dar. Die beiden entgegengesetzten Ansichten,
von denen die eine (Wundtsche) den Willen, die andere (Zieglersche) das Gefühl
als Grundlage des Bewußtseins hinstellt, lassen sich demnach in der Weise mit-
einander vereinigen, daß der erstere als der objektive, das letztere als der sub-
jektive Faktor vorauszusetzen ist.
Wir können nach alledem das Gefühl als ursprünglichen Besitz des Bewußt-
seins betrachten. Als solcher tritt es anfangs in Gestalt einer ererbten Dispo-
sition auf.
Auch das Interesse kommt uns auf seiner ersten Entwicklungsstufe in Form
des Gefühls zum Bewußtsein. ,,Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht er-
jagen." Und zwar kennzeichnet es sich, wie Nagy treffend hervorhebt, dadurch,
daß es aufs innigste mit dem Selbst- oder Ichbewußtsein verknüpft ist. Darauf
weist schon der Ausdruck ,, Interesse" hin, der ein innerliches Beteiligtsein be-
deutet. Und durch diese Verknüpfung ist das Moment der Wertschätzung
bedingt, das sich mit dem Begriff des Interesses verbindet (nach Ostermann).
Denn im Gefühl des Interesses gibt sich die Bedeutung, welche ein Bewußtseins-
inhalt für unser Ich besitzt, unmittelbar kund.
Als grundlegend muß jedoch auch für das Interesse, sofern es eine bestimmte
Form des Gefühles ausmacht, eein psychische Disposition vorausgesetzt werden.
Dieselbe aktualisiert sich an einem konkreten Stoff an Vorstellungen; dadurch
Der Begriff des Interesses in psychologischer Ableitiing. 281
stellen sich die besonderen Richtungen des Interesses heraus, das intellektuelle,
ästhetische, ethische und religiöse.
Da die spezifische Gefühlsdisposition die subjektive Bedingung des Interesses
bildet, so kann ein Erfahrungsinhalt ein Kind nur interessieren, soweit er eine
psychische Disposition vorfindet, die er zu aktualisieren vermag. Daher der
subjektive Charakter, der der Erscheinung des Interesses anhaftet.
Als Grundfaktor aller Entwicklung im objektiven Sinne haben wir den Willen
angenommen. Dieser letztere besteht aber seinerseits wiederum ursprünglich
nur in potenzieller Form, in Gestalt einer psychischen Disposition, die indessen
von vornherein einen Grundzug zur Betätigung enthält. Die Betätigung kann
in zwiefacher Richtung erfolgen, in äußerer oder praktischer, auf der Übung
motorischer Funktionen beruhender, und in innerer oder theoretischer. In
beiderlei Hinsicht wirkt, wie die Selbstbeobachtung lehrt, das Gefühl als Motiv
auf den Willen, indem es die ursprüngliche praktische Disposition zur Willens-
funktion aktualisiert.^) Auch das Interesse übt als besondere Form des Gefühls
in dieser Weise motivierend auf den Willen, und erst in der Verbindung mit
demselben tritt das Interesse als aktuelle Bewußtseinserscheinung auf. Wie
sich nun der Wille nach dem obigen in zwiefacher Richtung, in praktischer imd
theoretischer, betätigt, so haben wir auch eine praktische und theoretische
Äußerung des Interesses zu unterscheiden. Wir pflegen die erstere auch mit dem
Ausdruck des reellen, die letztere mit dem des ideellen Interesses zu be-
zeichnen.
Die theoretische Äußerung des Interesses, die für uns hier vorzugsweise in
Betracht kommt, bekundet sich in dem Bestreben, die im Bewußtsein durch
Erfahrungseindrücke gegebenen Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen
auf eine möglichst hohe Stufe der Klarheit zu erheben.
Der Wille kann sich aber in zwei weiteren Richtungen erweisen, in passiver
und aktiver. Dementsprechend stellt sich für das Interesse eine passive und
eine aktive Form heraus. Die erstere ist die ursprüngliche. Das Kind wird
anfangs noch ganz durch den jeweiligen äußeren gefühlsmäßigen Eindruck
bestimmt; bei ihm herrscht somit das passive Interesse vor. Zu einer aktiven
Betätigung gelangt es erst, wenn sich bei ihm beharrende gefühlsmäßige Motive
herausgebildet haben, die es gewisse Vorstellungsinhalte bevorzugen lassen;
diese Form des Interesses ist also mit einer inneren Wahltätigkeit verbunden.
Und zwar richtet sich diese Art der Betätigung in allen Fällen darauf, entweder
ein vorhandenes Lustgefühl zu steigern oder ein Unlustgefühl abzuwehren. Je
nachdem äußert sich das Interesse in positivem (zustimmendem) oder nega-
tivem (ablehnendem) Sinne. Das Lust- und Unlustgefühl ist allerdings stete
mit bestimmten Vorstellungselementen kompliziert; statt der bloßen Gefühle
sind wir deshalb berechtigt, auch gefühlsstarke Vorstellungen als Motive zu
») Nach Wundt ist es im Gninde schon die Vorstufe des Willens selbst, die uns im
Gefühl zum Bewußtsein gelangt, während der erstere durch eine Reaktion auf einen
äußeren oder inneren Reiz (in Gestalt eines Begehrens oder Widerstrebens) unmittelbar
in Bewegung gesetzt wird und dann in seiner weiteren Auswirkvmg zur Handlmig
führt. In der phänomenologischen Entwicklung des Willens Vorganges tritt indessen
das Gefühl zuerst hervor; es antizipiert also den Willen und kann deshalb, wie dies
auch von Seiten Wundts geschieht, als Motiv desselben bezeichnet worden.
282 Der Begriff des Interesses in psychologischer Ableitung.
bezeichnen; es sind die beharrenden konkreten Regungen des Interesses, wie
sie sich durch die besonderen Vorstellungsgebiete bedingt erweisen, wodurch
hierbei dem Willen die Richtung gegeben wird.
Die aktive Form des Interesses ist von zwei subjektiven Faktoren abhängig.
Einesteils nämlich äußert in dieser Beziehung die ererbte Anlage im Verein
mit der voraufgegangenen allgemeinen Entwicklung des individuellen Bewußt-
seins ihren Einfluß: wir interessieren uns vornehmlich für das, was unserer an-
geborenen und erworbenen Begabung entspricht. Anderenteils ist es speziell die
Übung, durch welche die Richtung des Interesses bestimmt wird: wir
beschäftigen uns gern mit dem, worin wir es zu einer gewissen Fertigkeit
gebracht haben.
Bei der nahen Verwandtschaft, welche zwischen der Regung des Interesses
und derjenigen des ästhetischen Geschmackes besteht, mag hier noch der Gegen-
satz der reproduktiven und produktiven Form des letzteren erwähnt
werden, von denen die reproduktive dem passiven, die produktive dem
aktiven Interesse entspricht. Goethe redet gelegentlich von „An-
empfinden" eines ästhetischen Eindruckes; er meint damit die rein repro-
duktive, völlig von fremder suggestiver Beeinflussung abhängige Art des
ästhetischen Erlebens, der die selbständige, schöpferische Geschmacksregung
gegenübersteht.
Endlich bleibt noch die unmittelbare und mittelbare (indirekte) Form
des Interesses zu sondern. Jene ist die ursprüngliche, auf einen rein gefühls-
mäßigen Eindruck gegründete. Sie fällt so mit der schon oben erwähnten pas-
siven Form zusammen. Das mittelbare Interesse setzt eine Verknüpfung von
Bewußtseinsinhalten voraus, dergestalt, daß das Interesse an dem einen die
Auffassung des anderen oder diejenige des ganzen Bewußtseinskomplexes
fordert. Das letztere findet statt in bezug auf einen Gedankenverlauf,
dessen Teile der Ergänzung oder Berichtigung bedürfen. Diese Art
des Interesses wird in allen Fällen zugleich eine aktive Form der Betätigung
darstellen.
Das Interesse bedeutet nach alledem einen durch die vor auf gehende, Gefühls-,
Willens- und Vorstellungselemente umfassende Entwicklung bedingten gefühls-
starken inneren Willen, welcher durch das Bewußtsein des Wertes, den ein
gegebener Inhalt für unser Ich besitzt, motiviert wird, und der darauf ge-
richtet ist, eben diesen Inhalt zu möglichstem Klarheitsgrade zu erheben.
Hiermit wird das Interesse als konkrete Bewußtseinserscheinung gekenn-
zeichnet. Es sind aber die durch die frühere Entwicklung erzeugten
beharrenden psychischen Dispositionen, worauf sich die verhältnismäßig
gleichmäßige Bestimmtheit gründet, mit der diese subjektive Regung sich
ihrem Gegenstande gegenüber zu äußern pflegt. Dadurch charakterisiert
das Interesse sich als dauernde funktionelle Bewußtseinsanlage spezifi-
scher Art, wie wir sie gleichfalls mit diesem Begriff zu bezeichnen ge-
wohnt sind.
Arbeitsfeld vind Ziele der Schulhygiene. 283
Arbeitsfeld und Ziele der Schulhygiene/)
Von Leo Burgerstein.
Die modernen schulhygienischen Aufgaben decken ein weites Arbeitsfeld;
immer deutlicher ist wahrzunehmen, daß es sich nicht mehr bloß darum
handelt, Gesundheitsschädlichkeiten des Schulbesuches und Unterrichtes sowie
deren Folgewirkungen auf das häusliche Leben zu vermeiden, sondern auch
darum, eine gesundheitsfördernde Tätigkeit der Schule für das Individuum zu
entwickeln und für die Allgemeinheit mit Hilfe der Schule die Eindämmung
der Volkskrankheiten mehr und mehr auszugestalten.
Das Schulleben ist hauptsächlich an das Schulhaus geknüpft. Die Fort-
schritte der Bakteriologie haben die Einsicht in verschiedene Notwendigkeiten
gewaltig gefördert; ich brauche nur z. B. die Worte Wasser, Staub, Beseitigung
der Abfallstoffe, Zwischendecken zu nennen; bezüglich der hochwichtigen Mo-
mente Licht und Luft haben wir wohl manches wertvolle Positive erkannt, wie
die besser gefestigte Anschauung über Wärmestauung im menschlichen Körper
im Zusammenhang mit der Luftbeschaffenheit; die technischen Fortschritte
hinsichtlich der künstlichen Versorgung mit Licht und Luft sind gewaltig, der
hygienischen Forschung ist es aber ungeachtet vielen Aufwandes von Mühe
der Forscher noch nicht gelungen, die Minimalforderungen hinsichtlich Luft
und Licht allseitig einwandfrei festzustellen — wir bleiben in wichtigen Belangen
auf die tägliche Empirie, auf den gesunden Hausverstand angewiesen.
Trotz der wachsenden Schwierigkeiten der Bauplatzwahl und der Grundpreise
in den Großstädten sind in den letzten Jahren schöne Fortschritte in der Her-
stellung der Schulhäuser gemacht worden: die älteren unter uns mögen, wenn
ihre Kinder in eine neuerbaute Volksschule gehen, mit dieser nur jene vergleichen,
welche sie selbst als Kinder besuchten, der Alten unter uns gar nicht zu gedenken.
Die modernen großstädtischen Schulanlagen sind heute Probleme, die inten-
sivste gesunde Ausnützimg der Fläche mit Zuhilfenahme auch der Mansarde
und des flachen Daches, die zweckmäßigste Anordnung und Benutzung der Hof-
fläche und der darunter möglichen Räume ; es interessieren uns Anlage und Be-
handlung der Schulzimmer, Turnsäle, Art, Zahl und Verteilung von Abtritten,
femer Wasch vor kehrungen, Subsellien, Lüftungs Vorrichtungen und Temperatur-
regelung sowie anderes Hierhergehörige.
In bezug auf die Hygiene des Unterrichtes ist der bedauerliche Mißstand
großer Schülerzahlen pro Klasse und Anstalt ein ebenso wichtiger als schwieriger
Gegenstand, den wir hinsichtlich seiner mehrseitigen einschneidenden Bedeutung
für Lehrer und Schüler eingehend erörtern müssen. Es handelt sich um
eine schwierige Greldfrage, daher auch darum, für die Bedeutung der Schüler-
zahl das volle Verständnis der Elternschaft zu gewinnen, welche ja der mittel-
bare Schulerhalter ist.
Hinsichtlich des Beginnes der Schulpflicht wird uns ein Einschlag des Kinder-
gartenprinzips iif die ersten Anfänge des eigentlichen Schulunterrichtes, ein ge-
') Aus einem Vortrag von Rogierungsrat Dr. Leo Burgeratein, gehalten in der
österr. Gesellsch. f. Schulhygiene, vollständig veröffentlicht in der Wochenschrift
„Das ÖBterr. Sanitätaweeen". XXV. Jahrg., Nr. 28.
284 Arbeitsfeld vind Ziele der Schulhygiene.
sünderer Übergang von Spiel zu schulmäßiger Arbeitsleistung, beschäftigen
müssen.
Die unterwertigen Kinder werden durch die normalen Forderungen der Schule
ungünstig beeinflußt; sie steuern später infolge ihrer geringen Widerstands-
fähigkeit gegen schädliche Einflüsse sowie unzureichender Vorbereitung für die
Anforderungen des Lebens beträchtlich bei zur Zahl der Erwerbsunfähigen,
Straffälligen, Prostituierten, vorzeitig der Versorgung Anheimfallenden; es liegt
in ihrem privaten sowie im öffentlichen Interesse, ihre Fähigkeiten zu einem
bescheiden rentierenden Erwerb zu entwickeln, welcher ihrer ganzen Beschaffen-
heit entspricht.
Ein spezielles wichtiges Gebiet ist die besondere Fürsorge für die gesunde
Aufzucht der Mädchen. Die Hinblicke auf die physiologische Eigenart des Ge-
schlechtes an sich, auf den so bedeutungsvollen natürlichen Beruf des Weibes,
auf die Heranbildung der Mädchen zur Erwerbsfähigkeit, bedingen alle Umsicht
in der Anordnung der Schulerziehung.
In bezug auf den Stimdenplan wird die Frage des morgendlichen Unterrichts-
beginnes unter verschiedenen Verhältnissen zu besprechen sein. Hinsichtlich
Verringerung der im Schulzimmer unnötig vor dem Unterricht sitzend ver-
brachten Zeit ist leicht Durchführbares anzustreben. In bezug auf die Land-
volksschule wird uns eine günstigere Erledigung der Schulwegfrage für Kleine
und Schwächliche, namentlich bei ungünstigen Jahreszeit- und Wetterverhält-
nissen beschäftigen, dies sowohl im Interesse der Gesunderhaltung der Kinder
als in jenem der Verminderung von Schul Versäumnissen an sich; in dieser Hin-
sicht ist bei geeignetem Anfassen lokal merklicher Fortschritt allmählich erreich-
bar. In der Mittelschule ist das Bücherschleppen trotz der Bemühungen der Ver-
waltung noch immer ein wunder Punkt.
Die Kürzung der Dauer der Einzellektion und die Aufbesserung der Pausen-
zeit zwischen den Schularbeitstunden, die Art der Verwendung der Pausen, das
Einleben der praktischen Anerkennung der Pause als eines hygienisch belang-
reichen, verwaltungsmäßig gewährleisteten Anspruches der Schuljugend, die er-
zieherische Angewöhnung einer richtigen Benutzung der Pause zu körperlicher
und geistiger Erholung, die Frage, inwieweit körperliche Übungen in der Pause
angezeigt sind, — alles dies gibt Gegenstände, welche erörtert werden müssen.
Hier sind einzehie Verbesserungen fraglos nötig und teilweise sofort möglich.
Was vorzukehren wäre, um örtlich und zeitlich, wo und wann immer durch-
führbar, Freiluftunterricht zu gewinnen, wird gleichfalls in den Kreis der Be-
trachtungen gezogen werden müssen, im Zusammenhang mit der Anlage und Ein-
richtung des Hauses. Die Mitteilung und Erörterung von Einzeleinführungen
und Einzelerfahrungen, Vorschläge aus der Lehrerschaft von Schulen verschie-
dener Grade, werden zur Beurteilung des Erreichbaren von Wert sein.
Mit Konzessionen hinichtlich des Gebrauches von Schriftzeichen wäre ohne
Bildungsverlust ein im Laufe der Jahre wachsender hygienischer Gewinn zu haben,
durch Herabsetzung von Sitz-, Augen- und Gedächtnisarbeit. Die sogenannten
weiblichen Handarbeiten sind unter Mithilfe sowohl sachverständiger, erfahrener
Lehrerinnen als des Internisten, Orthopäden und Okulisten durchzusprechen;
weiter die Frage eines sozialhygienisch wichtigen Hauswirtschaftsunterrichtes,
eines auch die Gesundheit fördernden Handfertigkeitsunterrichtes der Knaben
Arbeitsfeld und Ziele der Schulhygiene. 285
und die Frage, inwieweit Elnaben zu Hauswirtschaftsunterricht fakultativ zuzu-
lassen erwünscht wäre.
Lehrstandsangehörige, welche in den letzten Jahrzehnten die Entwicklung
der Lehrmethoden miterlebten, werden zugeben, daß diese hinsichtlich des Lehr-
wertes gewonnen haben; es ist aber nachzufragen, inwieweit die Entwicklung der
Lehrvorgänge im Detail zu intensiverer Arbeit geführt hat; dazu ist noch speziell
hinsichtlich der höheren Schulgattungen in Betracht zu ziehen, in welchem Maße
solche Schulen humanistischer Richtung Realistisches, jene realistischer Rich-
tung Humanistisches aufgenommen haben, wie dadurch weiter die trotz der
Fürsorge der Verwaltung unvermeidlichen Härten des Fachlehrersystems sich
steigern konnten, was die menschliche Erkenntnis an neuem Unterrichtsmaterial
der Schule zugeführt hat: es ist wohl anzunehmen, daß die Totalbelastung zu-
genommen haben dürfte; und es kommen wieder neue Forderungen, z. B. jene
nach erweitertem und vertieftem Hygiene-Unterricht.
Mancherlei Einwirkungen der Schule können, zumal bei großen Schülerzahlen,
psychisch deprimierende Einflüsse zur Folge haben; Arbeitszeit, Schlafdauer,
Schlaftiefe, Eßlust, Verdauung, Blutumlauf, Stoff ansatz usw. können ungünstig
beeinflußt werden. Es wird Aufgabe unserer Gesellschaft sein, vor allem nach
brauchbarem objektiven Beobachtungsmateriale hinsichtlich der Schuleinflüsse
zu suchen. In dieser Hinsicht wären kritisch-empirische Einzelbeiträge scharf
beobachtender Lehrer, insbesondere auch über Ermüdungswerte von Unter-
richtsarten und Unterrichtsthemen, über Assimilierbarkeit des Dargebotenen
von Wert; ferner wären Beobachtungen von aufmerksamen Eltern, gewonnen
an arbeitswilligen Kindern, von Belang. Tastende Versuche können uns zeigen,
ob sich dieser Weg bewährt. Obzwar selbstverständlich, soll doch ausdrücklich
bemerkt werden, daß es grundsätzlich ausgeschlossen bleibt, bei einschlägigen
Erörterungen Einzelpersonen und Einzelschulen auch nur anzudeuten; dagegen
ist es nötig. Schulstufe und Alters jähr zu kennen. Nur offene Erörterung ohne
Einschlag ins Persönliche kann unsere Einsicht fördern, ohne Schaden zu stiften.
Systematische statistische Erhebungen über Arbeitszeit, Schlafdauer, Entwick-
lungs- und Gesundheitszustand, Zunahme, Stationärbleiben oder Abnahme von
Gewicht sind sehr zu wünschen, setzen aber Mittel voraus, welche leider nicht
zur Verfügung stehen.
Ein anderer Gegenstand ist die Frage der Belastung mit Erwerbsarbeit; es
kommen hier nicht nur die ärmsten der Volksschulbesucher und Kinder verderbter
Eltern in Betracht, sondern bei Mittelschülern ist z. B. auch Überlastung mit
Erteilung von Privatunterricht denkbar. Die Ausbreitung der Erwerbsarbeit
unter Schulbesuchem ist bisher bei uns wenig studiert. Die Schwierigkeiten, ein-
wandfreies Material auf ausreichender Basis zu gewinnen, sind nicht geringe.
Über körperliche Übungen, welche ja zum Gedeihen der Jugend so überaus
wichtig sind, wird mehr als einmal und in verschiedenen Hinsichten verhandelt
werden müssen. Art und Dosierung dieser Übungen, solcher auf Kommando,
wie jener, bei welchen die Intensität der Beteiligung weit mehr ins eigene Be-
lieben gestellt ist, die Indikation verschiedener Übungen im Zusammenhang
mit Alter, Geschlecht, Anlage, Entwicklungs- und (Jesundheitszustand, die
Frage, inwieweit erwünschte spezielle Vorkehrungen für irgend defekte Individuen
erreichbar wären, Raum- und Zeitfragen, alles dies wird uns beschäftigen müssen.
286 Arbeitsfeld und Ziele der Schulhygiene.
Die Unterstützung aller mitbeteiligten Faktoren dürfen wir dabei gewiß
erhoffen.
Welche Wege noch gangbar wären, um nach der Hauptmahlzeit den Unter-
richt mindestens in Wissensgegenständen überall ganz zu beseitigen, Rücksicht-
nahme und Einwirkung auf das häusliche Mahlzeitenregime, das sind wieder
wichtige und schwierige Dinge, im Zusammenhang mit der Summe der Schul-
forderungen, modernen Zeitanschauungen, eingelebten Verhältnissen und Ge-
bräuchen des bürgerlichen Lebens. Ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird,
Wege zu finden zu einer fortschrittlichen Förderung dieser Angelegenheit, in
welcher sich die Verwaltung bereits viel und mit bemerkenswertem, wenn auch
nicht vollständigem Erfolg bemüht hat; Material, geeignet, die Sachlage in ver-
schiedenen Richtungen zu übersehen, wird allerdings aufbringlich sein.
Es wird auch zu erörtern sein, was anzustreben wäre, um ohne Beeinträch-
tigung des Bildungseffektes Vermeidliches, Gesundheitswidriges aus Hausauf-
gaben und Prüfungen verschiedener Art auszuschalten; insbesondere handelt
es sich hier um schriftliche Klassenarbeiten und um Prüfungen aus gehäuftem
Material; es muß hinzugefügt werden, daß verschiedene Erlässe bestehen, deren
Tenor und Einzelheiten Besserung gegen frühere Zustände gebracht haben oder
beabsichtigen. Hinsichtlich der Prüfungsangst brauche ich nur an die Worte
zu erinnern, welche Sigmund Exner schon wiederholt zu Prüfungskandidaten
zu sagen in die Lage kam: ,,Sie würden eine andere Meinung geäußert haben,
wenn Sie nicht in dem abnormalen Seelenzustand des Examens wären. Wollen
Sie sich die Sache ruhig überlegen, ich werde Sie in einer Viertelstunde wieder
darum fragen."
Hierbei ist zu erwägen, daß in diesen Fällen nicht Schuljugend in Be-
tracht kam, sondern daß es sich um Hochschulprüfungskandidaten handelte,
welche eine Prüfung aus einem Fach der freigewählten Studienrichtung
ablegten.
Einen besonderen Punkt bilden die Schulstrafen. Österreich gehört, und zwar
seit einem halben Jahrhundert, zu jenen nicht zahlreichen vorgeschrittenen
Kulturstaaten, welche die Prügelstrafe in den niederen Schulen abgeschafft
haben, in den höheren überhaupt nicht ausübten. Das Kapitel der Schulstrafen
an sich wird aber uns beschäftigen müssen, auch im Zusammenhang mit der
Frage der Schulerziehung jener unglücklichen Kinder, welche unter den un-
günstigsten Verhältnissen aufgewachsen und von Haus aus verroht sind; sie be-
dürfen im eigenen Interesse, in dem der Mitschüler, der Lehrerschaft und des
Gemeinwesens besonderer Schuleinrichtungen; solche sind für sie nicht weniger
zu befürworten, wie für die geistig minderwertigen. Die Vorbeugung fällt frei-
lich auch schon in die Lebenszeit vor der Schulpflicht, wir werden aber das Kinder-
gartenwesen überhaupt nicht unbeachtet lassen können.
Hinsichtlich der sogenannten ,, Schülerselbstmorde" wäre es wichtig, wenn
Vorkommnisse dieser Art längere Zeit nach dem Geschehen mit diskreter Be-
handlung hinsichtlich Ort und Familie derart vorgetragen würden, daß nicht
bloß das unmittelbar veranlassende Moment, sondern der ganze eruierbar ge-
wesene Komplex der Ursachen aus dem Vorleben des unglücklichen Individuums
zur Darstellung käme : das ist der Weg, auf dem wir uns einer wirksamen Pro-
phylaxe in der Zukunft nähern können.
Arbeitsfeld und Ziele der Schulhygiene, 287
Auch das freundliche Moment der Ferien fällt insofern der Schulhygiene zu,
als wir über die Optima von Länge, Lage und Verteilung der Ferien noch recht
wenig Exaktes wissen. Vielleicht wird es gelingen, auf Grund von Beobachtungen
und Beratungen versuchsweise Ferienändenmgen, die sich auf einzelne Städte
bzw. Schulen beschränken, vorzuschlagen, namentlich, wenn wir einmal materiell
so leistungsfähig wären, um vergleichende Beobachtungen über den Dauer-
effekt an den Individuen vornehmen zu können. Wir haben in Österreich zu
Beobachtungen überhaupt einen ausgezeichneten Punkt in dem ganz einzigen
Ferienhort am Abersee, für welchen drei medizinische Spezialisten Unter-
suchungsarbeit in anderer Hinsicht leisten.
Über gesundheitliche Einflüsse, welche den Lehrerberuf betreffen, wird
es gewiß von Wert sein, wenn unsere Gesellschaft allmählich zur Ansammlung
von Material kommt, welches klar ersehen läßt, was an Erreichbarem anzustreben
wäre, um die Vorbereitung zum Lehrerberuf und die Arbeitsbedingungen des-
selben gesundheitlich günstiger zu gestalten; es wird hinsichtlich des Berufes zu
erörtern sein, ob und wie manche Pflichtarbeiten verringert, umgestaltet werden
könnten; nicht zum mindesten wird zu prüfen sein, ob der Nutzen nervös auf-
reibender Arbeit ein entsprechender ist; femer wäre die Verschwendung höherer
Intelligenz für mindere Arbeitsqualitäten zu erörtern. Die Frage, welche Mittel
möglich wären zur Hebung der auch hygienisch so wichtigen Berufsfreudigkeit
durch Modifikation der Berufseinflüsse, ist für Lehrer und Schüler bedeutungs-
voll und berührt auch die Elternschaft.
Zu den modernen Anforderungen an die Schule gehört auch, daß sie hygie-
nisch erziehend wirke. Es wird wohl zu erwägen sein, was geschehen könnte,
um der Jugend in der Schule eine mehr systematisch geplante Belehrung mit
allmählich wachsender ursächlicher Begründung zu vermittebi, ohne unsinmge
Ängstlichkeit mitzuzüchten und — ohne gesundheitswidrige Neubelastung mit
gedächtnismäßigem Lernstoff zu provozieren. Die praktische Handhabung der
Hygiene in der Schule, von dem ersten Volksschuljahre angefangen, bildet ein
wertvolles Stück der hygienischen Volkserziehung sowie der Einwirkimg auf
Entwicklung späterer öffentlicher Anschauungen: Ausnutzung von Licht, Luft,
Anerziehung gesunder Haltung, richtiger Pausenbenutzung, Pflege der Rein-
lichkeit an Haus, Körper, Kleidung u. dgl. Auch die Frage des Hygieneunter-
richtes der angehenden Lehrer wird zu erörtern sein.
Eine spezielle wichtige Einwirkung ist die hinsichtlich der Genußgifte, ins-
besondere Alkohol und Tabak; diesbezüglich werden wir sachliche Belehrung,
Gesinnungsunterricht, Erziehung durch Beispiel und durch Übung der Ent-
haltsamkeit bei verschiedenen Schulveranstaltungen zu erörtern haben. Am
schwierigsten ist die sexuelle Seite der Belehrungsfrage. Es wäre ein bemerkens-
wertes Verdienst, wenn es der Findigkeit gelänge, dem in Wort und Druck so
vielbehandelten (Segenstande noch etwas Neues abzuringen und hier mitzuteilen,
was bestimmt geeignet ist, verwaltungsmäßig gut gangbare Wege zu zeigen.
Mit diesem Thema kommen wir auch wieder zurück auf die so wichtigen Be-
ziehungen zum Eltern hause. Es muß eines unserer wichtigen Ziele sein, im
Laufe der Zeit mehr und mehr intime Fühlung mit dem Haus zu gewinnen, so
zwar, daß unsere Gesellschaftsabende auch Elternabende im besten Sinne des
Wortes werden, wozu ja Ansätze vorhanden sind. Die Eltern sind dazu berufen,
288 Arbeitsfeld vmd Ziele der Schulhygiene.
mit klarer Einsicht das häusliche Leben ihrer Kinder so gesund zu gestalten,
als es ihre Lebensumstände irgend erlauben, sie sind ferner dazu berufen, mit
der Lehrerschaft Erfahrungen auszutauschen. Es handelt sich für das Eltern-
haus um verschiedene Einflüsse, um Ernährung, Zeitverwendung, Schlaf, Be-
wegung, Abhaltung schädlicher Genüsse, Sitzhaltung, Reinlichkeit, Belehrung
usw. und um selbsttätiges Anbahnen mehr herzlicher Beziehungen zur Schule;
wir können nur sehnlich wünschen, die Elternschaft für dies alles zu gewinnen,
daß sie als Repräsentant der öffentlichen Meinung mit erhöhtem Verständnis
darüber urteile, daß die Schule als Masseneinrichtung verschiedenes Wichtige,
Neue zum Wohle des Kindes wohlfeiler bieten kann, als es für die Meistzahl der
Eltern privat zu erreichen ist: dies gilt z. B. von der ärztlichen Mitwirkung bei
der Erziehung, von der Sorge für Körperübung, von regelmäßigem Baden —
es ist ein analoges Verhalten, wie das der Vermittlung des Unterrichtes, der
ältesten Aufgabe der Schule; wäre die gewünschte Einsicht bereits heute ge-
nügend verbreitet, so würden erhöhte Auslagen und Beiträge für die Schul-
erziehung leichter bewilligt und weniger unbeliebt sein, als es heute der Fall
ist, und es würde z. B. die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, welche so
viel Jammer auch in die reichsten Familien bringen, eine ganz anders ausgiebige
sein können.
In dieses Kapitel gehört auch die Hebung des Verständnisses für die Bedeutung
von Wohlfahrtseinrichtungen zugunsten der Kinder der wirtschaftlich Schwachen,
welches Gebiet wir uns angelegen sein lassen müssen ; es handelt sich da um Wald-
erholungsstätten, Freiluftschulen, Ferienkolonien usf. Es wird unsere Aufgabe sein
müssen, bei einschlägigen Erörterungen auch zu zeigen, wie gesundheitswidriges
Leben der Kinder Armer gesundheitliche Gefahren für alle erhöht. Es sei er-
innert an die Worte v. Pirquets, betreffend „die Aufdeckung der Krankheits-
ursachen und die daraus folgende klare Prophylaxe": „Diese Kenntnisse
dürfen keine Geheimlehre der Ärzte bilden, sondern müssen dem
ganzen Volke in Fleisch und Blut übergehen. Dann wird unser Streben einen
allgemeinen Erfolg haben."
Die Durchführung der Schularzteinrichtung im Rahmen des allmäh-
lich Erreichbaren wird uns ausgiebig beschäftigen müssen ; sie schließt verschiedene
wichtige Einzelpunkte ein, z. B. die Notwendigkeit der Erwägung, was zu ge-
schehen hätte, um die Behandlung aller Behandlungsbedürftigen durchzusetzen,
sowohl der Zahlungsfähigen durch den Arzt ihrer Wahl, als der Armen u. a.
mittels Ambulatorien verschiedener Art, weiter die Eruierung der gesunden
Träger gefährlicher Infektionskeime und die Unschädlichmachung dieser Gref ahr ;
die Frage, inwieweit individuelle Gesundheitsblätter zu führen wären, \un. einer-
seits nutzlose Arbeit für Anhäufung wertlosen Materials zu sparen, anderseits
begrenztes notwendiges Urmaterial anzusammeln zu kritisch-statistischer Be-
arbeitung hinsichtlich der Zustände, der veranlassenden Momente, des Nutz-
effekts von Verbesserungen; die Frage der vertraulichen Aufbewahrung von
Grundbuchsblättern zu späterer Verwertung für Assent- und Gerichtszwecke,
die Frage der Schulschwester als eines erfahrungsgemäß glänzend bewährten
Hilfsorganes des Schularztes usf.
Exakte Forschung ist nicht das erste Ziel unserer Gesellschaft für Schulhygiene ;
daß unsere Vereinigimg aber in dieser Hinsicht auf manchem Stücke des großen Ar-
Kleine Beiträge tind Mitteilungen. 289
beitseifers teils anregend, teils selbst durchführend wirken kann, habe ich mehrfach
angedeutet. In ersterer Hinsicht können wir einwirken, sofern Einzelnen für
wissenschaftliche Arbeiten Behelfe, die wir ja selbst nicht bieten können, zu-
gänglich sind, in letzterer Hinsicht können wir durch Aufsammlung und kritische
Bearbeitung verschiedener Materialien namentlich zum Ausbau der Unterrichts-
hygiene wirken.
Wer immer das ganze große Programm der Schulhygiene kritisch überblickt,
bemerkt von Hindernissen nicht bloß das der Geldfrage, sondern auch das
der ideellen Konzessionen, welche gleichfalls schwer zu erreichen sind, und
bemerkt ferner manche Unterströmung und Klippe unter klarem Wasser, welche
gerade bei bewegter See zum Schaden der guten Sache übersehen werden können ;
es handelt sich hier auch um geeignete Behandlung der Interessensphären —
ich will alphabetisch anführen — von Ämtern, Ärzten, Eltern, Lehrern; wer
immer aber an der Lösung der großen Aufgaben mitarbeiten will, darf wohl mit
Hoffnung auf Erhörung darum gebeten werden: Vor allem das hohe Ziel
der gesunden Erziehung der aufwachsenden Generation — •
und das ist ja mehr und mehr die Schuljugend, sofern großzügige Einfluß-
nahme denkbar ist — im Auge zu halten, als eine Frage des Gedeihens nicht nur
des Einzelnen, sondern des Staates.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
über ein neuropsychologisches Grundgesetz berichtete an der Hand ex-
perimenteller Demonstrationen Priv.-Dozent Dr. Paul Ranschburg, Buda-
pest, auf der Versammlung der deutschen Nervenärzte zu Breslau. Seine Unter-
suchungen an Gesunden und Kranken im Laufe von 12 Jahren bezüglich des Ver-
haltens der Psyche gegenüber gleichzeitig oder in raschem Nach-
einander einwirkenden flüchtigen Reizen, sowie bezüglich im Greiste
neben- oder nacheinander auftauchender Vorstellungen aller
Gebiete führten zur Feststellung gewisser psychologischer Gesetzmäßig-
keiten.
Dieselben lassen sich in folgendem Satze, als einem auf allen Grebieten der
geistigen Betätigung gültig erweisbaren Grundgesetz zusammenfassen: „Sich
berührende Inhalte und Vorgänge (Empfindungen, Vorstellungen, Stre-
bungen) der Seele stören sich in ihrer selbständigenEntwicklung um
so mehr, je homogener sie sind"; oder auch: „Das Gleichartige strebt
je nach demGrade seiner Gleichheit zur Verschmelzung in eine Ein-
heit". Der letzteren Fassung dieses Grundgesetzes Ähnliches hat vor 100
Jahren Herbart und später Lotze (Mediz. Psychologie) behauptet und aus
der Einheit der Seele abgeleitet. Obwohl aus der empirischen Psychologie fast
verschwunden, tritt eine neuerliche, gründlichere Feststellung der hierher ge-
hörigen Erfahrungstatsachen, wenn auch anders formuliert, wieder bei Semen in
seiner „Die Mncme" und besonders in seinem Werke „Die mnemischen Empfin-
ungen" als Homophonie der Empfindungen und als Homophonie der
mnemischen Empfindungen auf (1908 und 1909), und zwar ohne Kenntnis von
/«it<ic)ir)ft t. pAdAgo«. PRyohologle. 19
290 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Ranschburgs 7 Jahre vorher veröffentlichten ersten Mitteilungen über die
Hemmung gleichzeitiger homogener Reiz Wirkungen.^)
Die Behauptungen Ranschburgs sind ausschließlich induktiven, experi-
mentell-psychologischen Forschungen entsprungen, ohne Kenntnis gewisser Ana-
logien in den Anschauungen der vorgenannten Denker. Eine jede Deduktion des
Vortragenden wurde durch die mannigfaltigsten experimentellen Untersuchungen
erst auf ihre Richtigkeit geprüft.*)
Ranschburg findet in der Wechselwirkung der sich berührenden gleich-
artigen psychischen Inhalte die Erklärung des Einfachsehens der doppelten
Netzhautbilder, des dio tischen Einfachhörens, der Verschmelzung der iso-
lierten Tastpunkte in Linien- und Flächenwahrnehmungen, dabei auch
die der Verschmelzung von Tönen nahestehender Schwingungszah-
len, gleichwie die der Tatsachen der Verschmelzung von Tönen mit ver-
wandtem Schwingungsrhythmus (Konsonanz), die durch F. Frey in den
Jahren 1911 bis 1913 entdeckte Annäherung mehrerer verschiedenen Tast-
kreisen zugehörigen taktilen Erregungen bzw. Empfindungen an-
einander mit Tendenz zur Verschmelzung der schwächeren in die stärkere, die
Verschmelzung gleichartiger bzw. verwandter Vorstellungen, die Bildung
der Begriffe, den Vorgang der Abstraktion usw. usw.
Ranschburg hat mittels relativ recht einfacher Versuchseinrichtungen die
Tatsachen dieser generellen Verschmelzungstendenz homogener
Reizwirkungen auf dem Gebiete der Empfindungen und Vorstellungen im
Einzelversuch gleichwie auch im Massenexperiment (mittels episkopischer
Projektion der im Mnemometer tachistoskopisch vorgeführten heterogenen bzw.
homogenen Reizgruppen an vielen Hunderten von Vp. nachgewiesen. Es handelt
sich hierbei um zweierlei Arten von Darbietung der Reize, und zwar um die
simultane und um die sukzessive Methode der Exposition. Simultane Reihen
aus Buchstaben oder Zahlen nach dem Typus a b c d e f werden z. B. bei ^/g bis
^/g Sek. Expositionsdauer noch tadellos aufgefaßt, während Reihen vom Typus
a b c d c e, oder a b c d d e unsicher, verspätet, zumeist aber defekt oder falsch
a b c d e, oder a b c d e, oder a b c d x e aufgefaßt werden. Ebenso wurden auch
Reihen vom Typus a b c m n d, oder ahmend, also mit einander bloß ähnlichen
Gliedern, wenn auch nicht so häufig, als die mit gleichen Elementen, dennoch
bedeutend öfter als heterogene Reihen defekt, umgestellt (a b m n c d) oder
gefälscht (a b m c X d) aufgefaßt.
Noch viel auffälliger sind die Illusionen, die sich einstellen, wenn einander
gleiche bzw. ähnliche Elemente sich sukzessiv ablösen. Vierstellige Reihen,
deren jedes Glied ^fy bis ^/^ Sek. exponiert wird, wie a b c d, werden richtig,
Reihen wie a b b c oder auch a b c b usw. werden als dreistellige, als a b c ge-
sehen, wobei meist das spätere Element in das homogene vorangegangene schein-
1) Zeitschrift f. Psych, u. Physiol. d. Sinnesorg. Bd. 30, 1912.
*) Eine ausführlichere Beschreibvmg von Ranschburgs experimenteller Methodik
sowie der neueren Versuche selbst wie auch sämtlicher hieher gehörigen Tatsachen
auf dem Gebiete der Empfindungen erschien eben jetzt im Bd. 66/67 der Zeit-
schrift f. Psychologie. Die Zusammenfassung der hieher gehörigen, experimentell
erhärteten Tatsachen auf dem Gebiete des Vorstellungslebens ist noch nicht
veröffentlicht.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 291
bar spurlos verschmilzt. Diese Versuche gelingen in nahezu 100%, meist auch
im wissentlichen Versuch. \
Im Grebiete der Hemmimg bei Darbietimg simultan einwirkender Reize sind
individuelle Differenzen zu beobachten, doch läßt sich die Hemmung aus-
nahmslas an jedermann demonstrieren, wobei auch der Auffassungs- und Repro-
duktionstypus keine ausschlaggebende Rolle spielt. Bei den sukzessiven Ver-
suchen sind die individuellen Differenzen auf ein Minimum reduziert. Die
Versuche gelingen bei einer Expositionsdauer von ^/g — ^/7Sek. pro Reiz an einem
Auditorium von Hunderten ebenso sicher wie im Einzelversuch.
In ähnlicher Weise wie die also begründeten Fehler der Auffassung sind
mittels z. T. homogener Reihen aus Silben oder Worten, Bildern usw. die Fehler
des Behaltens und Erinnerns, wie überhaupt die Mehrzahl der alltäglichen
Falschleistungen des Wahrnehmens, Erinnerns und Handelns, auf
den verschiedenen Gebieten des Wörter-, Namen-, Personengedächtnisses
usw. als Manifestationen derselben Gesetzmäßigkeit erwiesen worden,
wobei stets entweder Defekte des Verlaufes oder Illusionen in der Weise
entstehen, daß die durch die Verschmelzung des Xgin Xj entstandene Lücke perse-
verativ oder assoziativ ausgefüllt wird.
Untersuchungen der Schumannschen, Wundtschen, Külpeschen, Marbe-
schen, Münsterbergschen, G. F. Lippsschen Institute haben die Richtigkeit
der vom Vortragenden behaupteten Erfahrungstatsachen festgestellt, wobei die
Kontrollprüfung überall mit den verschiedensten Methoden und Variationen
angestellt worden war.
In jüngster Zeit hat StoU (Würzburg) die Schreibfehler, die sich beim
Abschreiben sinnvoller sowie sinnloser Texte eiiistellen, vornehmlich die Aus-
lassungen von Buchstaben, Worten usw., als insbesondere auf der vom Vor-
tragenden beschriebenen homogenen Hemmungen beruhende festgestellt und
solche Fehler unter Benützung obigen Prinzips haufenweise experimentell er-
zeugen können. Auch die Lese- und Sprachfehler faßt er als zu wesentlichem
Teile auf diesem Vorgange beruhende auf. Seine Untersuchungen beweisen das
nämliche auf dem Gebiete der Druckfehler, gleichwie auf pathologischem
Gebiete die dysarthrischen Sprachstörungen Hirnkranker wie auch
dyslexische, dysgraphische Störungen nebst der gesteigerten Perse-
veration vornehmlich darauf beruhen, daß die zur Verschmelzung strebenden
gleichen (visuellen, akustischen, motorischen) Elemente der Wortverstellung
infolge der verminderten Energie der Aufmerksamkeit sich nicht voneinander
trennen lafisen, daher Defekte, Umstellungen, Entstellungen, genau wie unter
erschwerten Bedingungen auch bei Normalen, noch mehr bei Ermüdeten, auf-
treten.
Daß es sich aber hierbei nicht um ein bloß psychologisch bedingtes Ver-
halten, sondern um eine konstante Eigentümlichkeit der Nervensubstanz
handelt, ergibt sich aus der Tatsache, daß denjenigen Vorgängen, denen psycho-
logisch keine klare oder überhaupt keine Manifestation entspricht, bei dieser
Hemmung und Verschmelzung die bedeutendste Rolle zukommt. So ist z. B.
insbesondere bei sukzessiven Versuchen sowohl der Reiz als auch die Empfindung
eines Elementes E x^ im Bewußtsein erloschen, an ihrer Stelle einem nachfolgen-
den Reiz entsprechend eine Empfindung E y aufgetreten, und dennoch wird
19*
292 Kleine Beiträge und Mitteiltingen.
durch die erstere Reizwirkung, die im Zentrum weiter bestehen muß, eine der E y
nachfolgende Reizwirkung homogener Natur, Xg nämlich, derart beeinflußt, daß
ihr überhaupt kein psychologischer Parallelvorgang, keine E Xg entspricht,
trotzdem der Reiz Xg ebenso stark war als der Reiz Xj, der eine vollwertige, ja
sogar betonte Wahrnehmung auslöste.
Daß nun tatsächlich die Reizwirkung Xj es war, welche die Entfaltung der
Empfindung der Erregung Xg hemmend beeinflußt hatte, beweist die Berechnung
des Durchsetzungsvermögens der einzelnen Glieder simultaner oder sukzessiver
Reihen. Dieselbe ergibt, daß in den Fällen, wo das zweitidentische Element
verschwimden ist oder gefälscht wurde, das erstidentische Element in seiner Durch-
setzungsfähigkeit sich begünstigter erweist als sämtliche übrigen Glieder der
Reihe. Dabei ist subjektiv von einer Verstärkung nie etwas zu merken.
Endlich sei kurz bemerkt, daß der willkürlichen Aufmerksamkeit auf diese Vor-
gänge der homogenen Hemmung bzw. Verschmelzung ein recht beschränkter
Einfluß zukommt.
Aus dem psychologischen Verhalten ist nun für die nervenphysiologischen
Vorgänge, die all den erwähnten Vorgängen zugrunde liegen, folgendes an-
zunehmen:
a) Werden innerhalb eines nervösen Zentrums zwei (oder mehrere) Neurone in
den Zustand der gleichstarken Erregung gleicher Art (von gleichem Rhythmus)
versetzt, so entsteht zwischen denselben eine Wechselwirkung. Dieselbe mani-
festiert sich in der Verflachung des selbständigen Charakters der den einzelnen
Neuronen entsprechenden Erregungsfelder und der Vereinigung der Einzelwellen
in eine gemeinsame Welle. Dieser Vereinigung der sich überdeckenden Wellen
der gleichartigen Erregungen entspricht psychologisch die Verschmelzung der
gleichen Inhalte in einen Inhalt. Je verschiedener die Art (der Rhythmus) der
sich berührenden Erregungswellen ist, um so weniger führt die Überdeckung zur
Vereinigung der Erregungswellen. Heterogene (bei maximaler Heterogenie:
kontrastierende) Erregimgen mögen sich eventuell verdrängen oder intensiv
schwächen, sie beeinträchtigen sich nicht in ihrer selbständigen Entwicklung.
b) Ist die eine der homogenen Erregungen — durch welche Umstände immer
bedingt — kräftiger als die andere, so verschmilzt die schwächere in die stärkere.
Die kräftigere Welle resorbiert gleichsam die schwächere, die aktionsunfähig
wird, während die erstere an Aktionsfähigkeit (Vermögen sich psychologisch klar
durchzusetzen) zunimmt. Dieser Vorgang ist die eigentliche, von mir beschriebene
homogene Hemmung, die stets mit Verschmelzung unzertrennbar einherg ht.
c) Ist der Vorgang der Ladung der Neurone ein sukzessiver, so hemmt meist
die vorangegangene Erregung die ihr nachfolgende, ihr gleichartige. Die letztere
wird geschwächt, die erstere nimmt retroaktiv an Aktionsfähigkeit zu. Dieses
Verhalten mag sich nach größeren Zeitintervallen auch umkehren.
d) Die Erregungen der homogen geladenen Neurone zeigen auch wahre Fern-
bzw. Feldwirkungen, indem sie sich, wenn auch dem Grade der Entfernung
entsprechend geschwächt, über unerregte oder anders gestimmte, zwischen-
liegende Neurone hinweg, hemmend-verschmelzend beeinflussen.
e) Die Hemmung zeigt je nach der Zahl, Intensität, Flüchtigkeit, Entfernung
der Reize bzw. Erregungen, sowie auch abhängig vom frischen oder erschöpften
Zustand des Nervensystems verschiedene Stufengrade.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
293
f ) Die Hemmung ist stets ein zeitlich verlaufender Vorgang, der sich gleichwie
die Erregung selbst auf gan^e Sekunden erstreckt und gleichwie die Erregung
selber in ihrem Verlauf Oszillationen erkennen läßt.
Aus der Statistik der Selbstmorde Jugendlicher in Preußen für das Jahr
1912 sind die folgenden Zahlen genommen.
Von 100 000 Lebenden der betreffenden Altersklassen endeten in Preußen
durch Selbstmord
Im Alter
von
1908
1909
1910
1911
1912
10— 15J, 0,7; 1,11 0,3
15-20,, 15,0 19,01 10,4
20—25 „ t 26,2 38,414,0
l,7j 2,11 0,6
16,9 20,8,13,0
27,3 40, Oj 14, 8
2,2 3,3 1,2
16,6,20,6 1,25
26.8 38.7 15.0
2,0
3,3 0,7
2,5| 4,3| 0,7
19,424,9 13,9
17,2,22,1! 12,2
25,3|37,7|l3,l \ 28,4 41,2; 15,8
Die Übersicht über die Motive — rund ^U der Fälle führen zweifellos auf Geistes-
krankheit zurück — ergibt dies Bild :
Beweggrund
m.
w.
Beweggrund
m.
w.
Lebensüberdruß im all-
Laster, Ausschweifung,
gemeinen
406
93
liederliches Leben. .
48
6
Körperliche Leiden .
666
192
Trauer und Kummer
835
161
Nervenkrankheit , .
255
186
Reue und Scham, Ge-
Geisteskrankheit . .
1380
727
wissensbisse ....
526
110
Geistesschwäche . .
47
27
Ärger und Streit . .
136
42
Alkoholismus ....
610
25
Andere Beweggründe
47
9
Leidenschaften . . .
231
151
Die Pädagogik in den Vorlesungen der deutschen Hochschulen für das
Sommerhalbjahr 1914. Berlin. Kunze: Allgemeinbildung in der Religions-
lehre (1 Std.) — Mulert: Religionsunterricht an höheren Schulen (1^4 Std.). —
Eulenburg: Grundzüge der sexuellen Psychologie und Psychopathologie (1 Std.)
— Jakobsohn: Über geistesschwache, psychopathische und kriminelle Kinder
(1 Std.), — Schmidt: Geschichte der Pädagogik II (4 Std.); Pädagogisches
Seminar: Übungen unter Zugrundelegung von Schillers Briefen über die ästhe
tische Erziehung des Menschen (1^4 Std.). — Frischeisen-Köhler: Päda-
gogische Probleme und Reformbewegungen der Gegenwart (2 Std.). — Rupp:
Kolloquium über Neuerscheinungen auf dem Gebiete der experimentellen Psy-
chologie und Pädagogik. — Reich: Übungen über die Politik des Aristoteles,
zur Einführung in die klassische Pädagogik (1 Std.). — Langstein: Hygiene
des Kindesalters (1 Std.). Bonn. Sachße: Geschichte der Pädagogik und
des Schulwesens in Deutschland seit der Reformation (2 Std.). — Wentscher:
Pädagogik (2 Std.). Breslau. Prausnitz: Schulhygiene (1 Std.). — Hönigs-
wald: Übungen zur Theorie pädagogischer Grundbegriffe (IV2 Std.). — Kabitz:
Geschichte der neueren Pädagogik (2 Std.). — Prausnitz: Schulhygiene mit
Demonstrationen und Exkursionen (1 Std.). Erlangen. Caspari: Päda-
294 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
gogisches Repetitorium (1 Std.). — Stählin: Allgemeine Theorie der Pädagogik
mit besonderer Berücksichtigung der modernen Erziehungsprobleme (4 Std.). —
Leser: Pädagogische Übungen über Pestalozzi und Herbart (2 Std.). Frei-
burg i. Br.. Künstle: Pädagogik (2 Std.). — Cohn : Das höhere Unterrichts-
wesen der Gegenwart (2 Std.). Gießen. Schi au: Geschichte der Pädagogik
(3 Std.). — Messer: Systematische Pädagogik, einschließlich der allgemeinen
Methodik (4 Std.). Göttingen. Baumann: Lehre von der Willens- und Cha-
rakterbildung auf physiologisch-psychologischer Grundlage (2 Std.); Geschichte
der Pädagogik (2 Std.). — Müller: Über das Gedächtnis (2 Std.). Greifswald.
Schwarz: Geschichte und System der Pädagogik (2 Std.). Halle, v. Dri-
galski: Hygiene der Erziehung II. Teil (1 Std.). — Fries: Pädagogische
Übungen über Locke (1 Std.); Bücherkunde (1 Std.); Das preußische Schul-
wesen in seiner geschichtlichen Entwicklung (2 Std.); Besichtigungen und
Probestunden. Heidelberg. Rohrhurst: Gesetzgebung und gegenwärtiger
Stand der badischen Volksschule (1 Std.); Katechetische Übungen über den
Unterrichtsstoff der Mittelschule (1 Std.). — Frommel: Katechetische Übungen
über den Unterrichtsstoff der Oberstufe (1 Std.). — Gruhle: Pädagogische
Psychologie (2 Std.). — Uhlig: Ratschläge für Unterricht und Erziehung in
höheren Schulen (1 Std.); Wichtige gegenwärtige Streitfragen über Organisation
und Betrieb des höheren Schulunterrichts (1 Std.). — Jaspers: Psychologie
der Charaktere und Begabungen (2 Std.). Jena. Rein: Spezielle Didaktik
(2 Std.); Pädagogisches Seminar (tägl.). Kiel. Leipoldt: Allgemeine Religions-
lehre für Lehramtskandidaten (2 Std.). Königsberg. Uckeley: Die evangelische
Pädagogik (2 Std.). — Reiter: Schulhygiene (1 Std.). Leipzig. Frenzel:
Pädagogik auf geschichtlicher Grundlage; Seminar für praktische Theologie,
katechetische Abteilung: Religionsunterricht und religiöse Erziehung;
Seminar für Pädagogik (für Studierende der Theologie): Praktische pädago-
gische Übungen und Besuche von Lehr- und Erziehungsanstalten. — Lange:
Schulhygiene und Schulkrankheiten. — Seiter: Über Schulhygiene. — Jung-
mann: Einführung in die Geschichte der Pädagogik; Praktisch-pädagogisches
Seminar. — Brahn: Experimentelle Pädagogik; Im Institut für experimentelle
Pädagogik: 1. Übungen zur experimentellen Pädagogik und angewandten Psy-
chologie (Vorstellungs- und Phantasieleben des Kindes). 2. Einführungskursus.
3. Wissenschaftliche Arbeiten für Fortgeschrittene. — Barth: Die pädagogischen
Probleme der Gegenwart. — Spranger: Pädagogik II: Pädagogische Theorien
und Erziehungswesen von Rousseau bis zur Gegenwart; im philosophisch-päda-
gogischen Seminar: Übungen über die Entwicklungsstufen des Kindes, vorzugs-
weise das Pubertätsalter. — Bergmann: Im philosophisch-pädagogischen Se-
minar: Übungen zur Pädagogik Rousseaus. — Kretzschmar in Lamprechts
Institut für Kultur- und Universalgeschichte : Die Gesetzmäßigkeit in der Ent-
wicklung der kindlichen Verzierungskunst. — John: Die historischen und päda-
gogischen Grundlagen der landwirtschaftlichen Unterrichtsanstalten (2 Std.).
Marburg.. Jaensch: Übungen zur Kindespsychologie (Denken und Sprache).
(1 Std.). — Göttler: System der Pädagogik II (4 Std.); Das bayrische Volks-
schulwesen (2 Std.). Pädagogisches Praktikum (Didaktik als Theorie des er-
ziehlichen Unterrichts) (2 Std.). — Gudde : Jugendliche Schwachsinnsformen
und Hilfsschulwesen (1 Std.). — Schneider: Schulhygiene II. Teil (2 Std.). —
EZleiue Beiträge und Mitteilungen. 295
Gott: Nervenkrankheiten und Psychopathologie des Kindesalters (2 Std.). —
Rehm: Theorie der Pädago^k und Didaktik für höhere Schulen (4 Std.). —
Förster: Grundfragen der Charakterbildung (2 Std.); Moderne pädagogische
Bestrebungen in kritischer Beleuchtung (2 Std,); Pädagogisches Seminar (2 Std.).
— Pfänder: Systematische Pädagogik (4 Std.). Münster. Cauer: Grundzüge
der Didaktik für höhere Schulen (2 Std.). — Braun: Pädagogik des 19. Jahr-
hunderts (2 Std.); Übungen zur neueren Pädagogik (1 Std.). Rostock. —
Straßburg i. E. Schneider: Geschichte der Pädagogik (2 Std.). Tübingen.
Sägmüller: Praktische Pädagogik (3 Std.). — Groos: Gefühlsleben des Kindes
(1 Std.). — Deuchler: Psychologie des Unterrichts und der Erziehung (3 Std.);
Probleme, Methoden und Resultate der Begabungsforschimg (1 Std.); Päda-
gogisches Seminar: Übungen zur deskriptiven Psychologie des Unterrichts und
der Erziehung (mit Unterrichtsbeispielen). Würzburg. Stölzle: Geschichte der
Pädagogik, insbesondere der Neuzeit (4 Std.); Pädagogische Seminarübungen
(1 Std.). — Marbe : Anleitung zu wissenschaftlichen und pädagogischen Seminar-
arbeiten. — Peters: Hauptpunkte der Pädagogik auf psychologischer Grund-
lage (mit Experimenten mid Demonstrationen) (2 Std.),
Akademie für Sozial- und Uandelswissenschaften zu Frankfurt a. M.
Klumker: Jugendfürsorge (1 Std.); Besichtigung von Erziehungsanstalten
(1 Std.). — Schnitze: Wille und Persönlichkeit vom Standpunkte der Normal-
psychologie, Psychiatrie und Pädagogik aus (1 Std.). — Pfeifer: Geschichte
und Organisation des kaufmännischen Bildungswesens in Deutschland (1 Std.);
Spezielle Methodik der allgemein bildenden und technischen Fächer (2 Std.).
Allgemeines Vorlesungswesen zu Hamburg. Anschütz: Übungen zur Psy-
chologie des kindlichen Denkens (2 Std,); Meumann: Experimentelle Arbeiten
zur Psychologie und Pädagogik. — Kehr: Übungen zur Einführung in die
Methoden der Intelligenzprüfungen an Kindern (2 Std.).
Nachrichten: 1. Die Deutsche Unterrichtsausstellung in Berlin be-
absichtigt, im Laufe des Jahres eine historische Zeichenausstellung zu ver-
anstalten. Die Ausstellung soll die historischen und psychologischen Grund-
lagen des Zeichenunterrichts und dessen Entwicklung vom Beginn des 19. Jahr-
hunderts an darstellen. Sie soll die Wege zeigen, die eingeschlagen worden sind,
um die Beobachtungs- und Darstellungsgabe der Schüler zu entwickeln und
ihren Geschmack zu bilden und dabei anschaulich machen, wie die jeweilig
vorherrschenden Meinungen auf dem Grebiete der Pädagogik, der Kunst und
des Kunstgewerbes die Ausgestaltung des Zeichenunterrichts beeinflußt haben.
Nicht minder soll die Ausstellung auf die Männer hinweisen, die den ZIeichen Unter-
richt zu einer Disziplin ausgebaut haben, die, auf psychologischer Grundlage
ruhend, erzieherische und allgemein bildende Zwecke verfolgt. Die Ausstellung
soll demgemäß folgende Hauptgruppen umfassen: A. Das Zeichnen als allge-
meines Ausdrucksmittel. (Diluvialmensch. Naturvölker. Primitive Völker.
Kinderzeichnungen. Karikaturen. Zeichnungen berühmter Persönlichkeiten.
Psychologie.) B, Das Zeichnen und der Zeichenunterricht bis 1800. (Ägypter.
Griechen. Römer. Renaissance usw. — Handzeichnungen älterer und neuerer
Meister bis 1800.) C. Zeichnen und Zeichenunterricht von 1800 an. 1. Hand-
zeichnimgen neuerer Meister von 1800 an. 2. Illustrierte Lehrbücher. 3. Ältere
296 Kleine Beiträge vind Mitteiliongen.
Handvorlagen. 4. Ältere Wandvorlagen. 5. Lehrmittel. 6. Hilfsmittel für den
Zeichenunterricht. 7. Zeichen- und Malutensilien. 8. Schülerzeichnungen, die
ältere Lehrmethoden veranschaulichen, (a) Sammlungen bestimmter Anstalten,
b) einzelner Klassen, c) einzelner Schüler.) 9. Bildnisse der bedeutendsten
Zeichenmethodiker. Handschriftliches und Beispiele ihrer Zeichenpraxis. 10. Ver-
schiedene auf den Zeichenunterricht bezügliche Darstellungen (Abbildungen usw.).
2. In den wissenschaftlichen Vorlesungen des Berliner Lehrer-
vereins finden sich für Sommer 1914 (80. Halbjahr) Psychologie und
Pädagogik wie folgt vertreten: Dr. Buchenau: Geschichte der Päda-
gogik. 2. Teil: Humanismus, Reformation, 17. und 18. Jahrhundert.
(Mit Übungen.) Dr. Poppelreuter: 1. Vorlesung: Experimentell-psycho-
logische Analyse der pädagogisch wichtigsten elementaren Fertigkeiten
(Lernen, Sprechen, Schreiben, Lesen, Zeichnen, Rechnen). 2. Praktische
Übungen in inhaltlichem Anschluß an die Vorlesung. Dr. Buchenau:
Einführung in die Psychologie von James. 2. Teil. Benutzt wird die deutsche
Übersetzung von Dürr. Dr. Buchenau : Einführung in die Wundtsche Psychologie.
Dr. 0. Lipmann: Selbständige pädagogisch-psychologische Arbeiten in der
Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik. (Untersuchungen über Normal-
leistungen der Schüler im Rechnen und im Deutschen und über Altersfortschritte
in den Leistungen. Fortsetzung der Versuche mit einer Fehlerstatistik und
psychologischen Fehleranalyse.)
3. Am 14. Mai wird in Essen die bis Juli dauernde Ausstellung „Unsere
Jugend" eröffnet.
4. Das K. Sachs. Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts ver-
anstaltet in der Zeit vom 18. Juni bis 14. Juli d. Js. in Leipzig einen für 30 bis
40 Teilnehmer berechneten Lehrgang zur Aus- und Fortbildung von
Hilfsschullehrern. Die Leitung des Lehrgangs, in dem durch Vertreter der
Psychologie, Physiologie, Hygiene und Orthopädie an der Landesuniversität,
durch Ärzte und auf dem Gebiete der Hilfsschulpädagogik durch erfahrene
Schulmänner eine theoretische und praktische Ausbildung geboten werden
soll, wird der Königliche Bezirksschulinspektor haben.
Literaturbericht.
Oswald Külpe, Einleitung in die Philosophie. Sechste verbesserte Auflage.
Leipzig. Verlag von S. Hirzel, 1913. 376 S. 6 M.
Ungefähr dieselben Gründe, nämlich die verwirrende Vielheit und Uneinheit-
lichkeit der Probleme und die nicht minder schwer zu übersehende Fülle z. T. hete-
rogener Lösungsversuche, sind es, die heute dem Neophyten der Philosophie die
Existenz einer einleitenden orientierenden Darstellung dieser Wissenschaft ebenso
wünschenswert erscheinen lassen, als sie die Abfassung einer solchen Einleitung zu
einer keineswegs einfachen Aufgabe machen. Kein tmifassender, allgemein aner-
kannter Lehrstoff steht dem Autor einer ,, Einleitung in die Philosophie" zu Gebote,
aus dem er eine Auswahl treffen könnte, wie sie den pädagogischen Absichten einer
Einführung entspricht, imd ist er der Versuchung glücklich entgangen, seine Ein-
lei t\ing zur Propagation eines eigenen oder, fremden Systems zu benutzen, so wird
er doch auch der Gefahr aus dem Wege gehen müssen, ein philosophiegeschichtliches
Kompendium zu liefern. Angesichts dieser Sachlage wird ein Werk, das wie das
Literaturbericht. 297
vorliegende weitgehend das philosophische Erbe der Vergangenheit und die hervor-
ragenden Erscheinungen der "Gegenwart berücksichtigt und dabei auch die eigene
Überzeugung zu Worte kommen läßt, von vornherein besonders Alissicht haben, das
Ziel, das eine ,, Einleitung in die Philosophie" verfolgt, zu erreichen. Umsomehr ist
das Buch von Professor Külpe hierzu fähig, als der Stoff sachlich xmd nach verschie-
denen Gesichtspunkten geordnet dargeboten wird. Ein Hauptteil behandelt die
Problementwicklvmg in den philosophischen Disziplinen wie der Metaphysik, Logik,
Ethik usw., ein anderer gibt eine kritische Darstellung der „Richtungen", d. h. der
charakteristischsten Lösungsversuche innerhalb derselben. Diese Gruppierung des
Materials ist zweifellos ein besonders erwähnenswerter Vorzug des Werkes, ermöglicht
sie doch dem Lernenden, sich mit den verhältnismäßig wenigen Grundthemen der
philosophischen Meditation vertraut oder doch wenigstens bekannt zu machen, ohne
daß er in der Erfüllung dieser wichtigsten Voraussetzung für eine ernsthafte philo-
sophische Betätigung durch den herniederprasselnden Hagelschlag philosophischer
,,ismen" gestört wird, die ihm in dem zweiten Hauptteil übrigens keineswegs vor-
enthalten werden, wo in dieser Hinsicht des Guten vielleicht etwas zu viel getan ist.
Am klarsten durchgeführt scheint mir das zweite Kapitel zu sein, ohne daß ich mich
indes mit der Aufgabebestimmung der einzelnen philosophischen Disziplinen durch-
aus einverstanden erklären könnte. Das dritte Kapitel, das eigentlich kritische des
Buches, hat mir in manchen Einzelheiten Anlaß zu Bedenken gegeben, die aber z. T.
vielleicht durch eine weniger Mißverständnissen ausgesetzte Ausdrucksweise beseitigt
werden könnten, z. B. bei Sätzen wie ,,eine Verschiedenheit von Richtungen in bezug
auf dasselbe Problem beweist offenbar einen Mangel an Allgemeingültigkeit der Er-
kenntnis (S. 122) xmd andere (S. 146, Z. 9 von oben, S. 174, Z. 14 von oben). Nicht
minder als bei der Erkenntnistheorie wäre bei der Logik eine Darstellung nach Rich-
tungen berechtigt gewesen; es handelt sich doch*wohl um entscheidende Diskrepanzen
in den Lösungen und nicht nur um eine Verschiedenheit der Auffassungen von den
Aufgaben der I^ogik, wenn bei den Logikern auf eine Grundfrage sehr verschiedene
Antworten gegeben werden. Der Psychologismus z. B. wollte mehr sein als nur eine
Psychologie des Denkens im Sinne Külpes, sondern eine rein logische Tlieorie. Von
der Lehre, die in dem Werke unter dem Namen „Dogmatismus" berührt wird, kann
man sich auf Grund der dort gegebenen Bestimmungen kaiun ein richtiges Bild
machen. Welcher „Dogmatismus" von der Art des Spinozistischen hat die Geltung
aller Erkenntnis behauptet, ohne sie näher zu prüfen ? Ebenso wenig dürfte die
Behauptung, daß Logik und Mathematik mit „selbsterzeugten" Gebilden arbeiten
(S. l.")3). heute allgemeine Zustimmung finden; ich halte sie nicht für richtig.
Die Apodiktizität, mit der sie ausgesprochen wird, steht in einem gewissen Gegensatz
zu der sonst so vorsichtigen Haltung des Buches, die die Darstellung imd Kritik der
umstrittensten Probleme der Metaphysik und Ethik besonders eindrucksvoll gestaltet.
Das Schlußkapitel versucht den Nachweis zu liefern, daß eine einheitliche Definition
der Philosophio unmöglich ist, und will eine Bestimmung durch Aufzählung der
Hauptaufgaben erzielen.
München. Fritz Low.
W. J. Ruttmann, Die Hauptergebnisse der modernen Psychologie mit
besonderer Berücksichtigung der Individualforschung. Leipzig 1914.
Verlag Ernst Wunderlich. Preis 4,40 M. 392 S.
Bei der schlinunen Zersplitterung der pädagogisch-psychologischen Literatur
ist Ruttmanns zxisammenstellendes Buch ein imbestreitbares Verdienst, umsomehr
als der Verfasser u. a. auch die wertvolleren Abhandlungen aus der allerjüngsten Zeit
sorgfältig verarbeitet hat und als die äußere Einrichtung des handlichen Bandes,
z. B. seine Ausstattimg mit einem rocht ausführlichen Inhaltsverzeicluiisse und mit
Namen- und Sachregister, die Verwendung zum Nachschlagen bedeutend erleichtert.
Wortvoll sind desgleichen die reichlichen Literaturnachweise und die eingestreuten,
den Quellen entnommenen Textstücke, Tabellen, Vordrucke usw.
Bestimmt für alle wissenschaftlichen Berufe, die heute ohne eingehendere psycho-
logische Kenntnisse nicht mehr auskommen können, bietet das Buch eine gedrängte
298 Literattirbericht.
Darstellung der in. den letzten Jahrzehnten erforschten seelenkundlichen Tatstwshen.
Dabei unterscheidet es sich von artgleichen Werken, an denen es ja nicht gerade
mangelt, durch eine starke Betonung der Individualpsychologie. Eingeordnet findet
sich durchweg das Wichtigste der Kinderforschung und — gestützt auf die Autorität
Kräpelins — sorgsam Ausgewähltes aus der Psychopathologie. Sehr ausführlich und
geschickt ist die Methodik zur Untersuchung des Individualproblems berücksichtigt.
Die Frage der Geschlechtsdifferenzen hat mit Recht, da sie durch die letzten Ver-
handlungen des Bundes für Schulreform allgemeineres Interesse gewonnen hat, eine
breitere Behandlung erfahren. Anhangsweise ist ein Abschnitt über ,, Sozialpsycho-
logie" beigegeben.
Der Lehrerschaft an den Volksschulen wie an den höheren Anstalten — haupt-
sächUch aber den Fachvertretern der Psychologie an Seminaren — sei das Buch
ganz besonders empfohlen.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Prof. Dr. Ernst Dürr, Die Lehre von der Aufmerksamkeit. Zweite völlig um-
gearbeitete Auflage. 220S. Brosch.4,20M.,geb.4.80M. Leipzigl914. Quelle&Meyer,
In Ernst Dürr ist vor wenigen Monaten erst ein junger Gelehrter aus seinem
Wirken gerissen worden, auf dem viel Hoffnung der psychologischen und pädagogischen
Wissenschaft stand. Eine seiner letzten größeren Arbeiten ist es gewesen, daß er
seine ,, Lehre von der Aufmerksamkeit", die 1907 erstmals erschienen und von der
ernsteren Kritik viel beachtet worden war, durch Verwertung der neueren Forschungs-
ergebnisse weiter ausbaute und so ein Werk schvif, das wohl eine der besten Mono-
graphien darstellt, die einen psychologisch wie pädagogisch gleich bedeutsamen
Gegenstand fruchtbar behandeln. Aucji wer mit unsDürrs methodisches Prinzip der As-
soziationspsychologie — von deren Einseitigkeiten er sich allerdings fernhält — nicht
anzuerkennen vermag, wird sich mit viel Gewinn in seine Darstellung des Tatsächlichen,
in die deutenden Gedanlcengänge und vor allem in die Ausführungen über die päda-
gogische Wichtigkeit der erörterten Probleme vertiefen. Hier ist eine Scluift ge-
geben, die vor allem der jungen Lehrerschaft, die für den Ausbau der Didaktik der
Zukunftsschule eine sichere psychologische Grundlage sucht, von Segen sein wird.
Und da ferner das verständüch geschriebene Buch die Aufmerksamkeit als ein
Mittelpunktsproblem erfaßt und in diesem Sinne überall Beziehungen zum Ganzen
des Seelenlebens herstellt, eignet es sich so trefflich wie etwa Meumanns ,, Intelligenz
und Wille" für die selbständige Weiterbildung nach dem Seminare und die Vor-
bereitung auf die zweite Prüfung.
Der Aufbau ist gegen die erste Auflage nicht wesentlich verändert. Ein einleitender
Abschnitt verbreitet sich sehr kurz über das ,, Verhältnis von Psychologie und
Pädagogik" — ohne Bedeutenderes dabei zu sagen. Es folgt ,, Das Wesen der Auf-
merksamkeit", wobei nicht auf eine glatte definitorische Formel zugestrebt wird,
sondern in vorsichtiger Beschreibung, Unterscheidung und Einordnung eine Angabe
aller der Erscheinungen erfolgt, die sich ihrer Natur nach unter der Bezeichnung
„Aufmerksamkeitsprozesse" sammeln lassen. Dem ,, Gegenstande der Aufmerk-
samkeit" — hierbei besonders auch den Anfangsbestimmungen der Einheits-
aiiffassung nachgehend — gelten die sich anschließenden Ausfiihrungen. In der
vierten und fünften Abteilung — ,, Bedingungen und Wirkungen der Auf-
merksamkeit" wird alles das aufgedeckt, was sich bei rein empirischer Betrachtung
für das ,, Auf merken" als vorteilhaft oder nachteilig erweist und was man erfalirungs-
gemäß als Folgeerscheinung dieses Vorganges feststellen kann. Das VI. Kapitel wid-
nxet sich weiter der Theorie der Aufmerksamkeit und nimmt dabei u. a. Stelliing gegen
Herbart und Wundt. Mit einem inhaltreichen Abschnitt, in dem unter der Überschrift
,, Varietäten der Aufmerksamkeit" neben Differentialpsychologischem und
Psychopathologischem noch mancherlei zusammengestellt ist, was sich sonst nicht
unterbringen ließ, schließt das Werk ab. Daß in ihm durchweg auf offene Probleme
psychologischer und pädagogischer Art hingewiesen ist und daß so Denkanreize ge-
geben werden, erscheint als ein nicht geringer Wert der gehaltreichen Monographie.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Literaturbericht. 299
Lay, Dr. W. A., Reform des Psychologieunterrichtes, verdeutlicht an
Schülerarbeiten. 51. Heft der Beiträge zur Lehrerbildung und Lehrerfort-
bildung. Gotha 1914. Verlag E. F. Thienemann. 48 S. Pr. 1,20 M.
Es ist verwunderlich, daß einem so bedeutsamen Fache wie dem Psychologieunter-
richt ein im Vergleich zu anderen Disziplinen auffallend geringer Reformeifer entgegen-
gebracht wird. Die wenigen Vorschläge gehen auf zwei Forderungen hinaus: auf
die raateriale, daß die neuere Psychologie in iliren Ergebnissen und Methoden Ein-
gang finde, und die formale, daß ein arbeitsunterrichtlicher Betrieb aiisgestaltet
werde. An den vorbildlich organisierten Seminaren Sachsens sind beide Wünsche
zumeist schon länger und ausreichend erfüllt. Ich verweise, um Namen zu nennen,
nur auf die durch ihre Veröffentlichungen und ihre Praxis bekannt gewordenen
Direktor Dr. Rieh. Seyfert in Zschopau (vgl. „Erfahrung und Versuch im Psycho-
logie- und Pädagogikunterrichte des Seminars" im IV. Jahrbuch der Päd. Zentrale,
1913), ferner auf Oberlehrer OttoScheibnerin Leipzig ( vgl . , ,Die Arbeit im vierstufigen
Lehrerinnenseminfire" (Programmbeilage, herausgeg. von Gaudig; Leipzig 1911,
Abschnitt ,, Psychologie"), schließlich auf den Lehrbuchverfasser Prof. Dr. Arthur
Stößner iu Dresden (vgl. ,,Das Experiment im Psychologiounterrichte des Semi-
nars", 1904).
Lays kleine Sclu-ift, bietet sie auch dem Kenner des Gebiets kaum neue Gedanken,
mag zur Stärkung und Verbreitung der Reformbestrebungen willkommen sein.
Insbesondere können die angehängten, teilweise nicht üblen Schülerarbeiten dem
noch Fernerstehenden ein anschauliches Bild davon geben, in welchem Umfange
xmd welchen Hauptformen freiere Arbeiten der Zöglinge möglich sind. Nicht am
rechten Orte ist die Auseinandersetzung mit Ostermann; peinlich wirkt der wieder-
holte Hinweis auf des Verfassers psychologisches Lelirbuch. Übrigens beschäftigt
sich das Schriftchen, was vom Titel nicht umspannt wird, in seinen drei ersten Kapiteln
mit dem philosophischen Schulunterrichte, von dem die Geschichte imd die Schwierig-
keiten, sowie Ziel, Stoff und Methode — wiederum ohne wesentlich Neues zu bieten —
in Kürze dargestellt werden.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Maria Montessori, Selbsttätige Erziehung im frühen Kindesalter.
Nach den Grundsätzen der wissenschaftlichen Pädagogik naethodisch dargestellt.
Mit vielen photographischen Aufnahmen. Stuttgart 1913. Verlag Julius Hoff-
inann. 347 Seiten. Preis br. 6 Mk., gebunden 7,50 Mk.
Nachdem in dieser Zeitschrift schon der Montessorimethode eine eingehende
Abhandlung gewidmet wurde, sollen hier nur noch einige Gedanken über den speziellen
Wort dieses Erziehungsbuches Raum finden. Dem Übersetzer gebührt unstreitig
unsi I Dank, daß er es uns ermöglicht, das, wovon jetzt die ganze pädagogische Welt
spTK !it, IUI (iiT Quelle zu studieren. Aber trotz der guten Darstellung, die die Gedanken
uM'l Ansichten der Verfasserin in dieser Schrift finden, legt man das Buch mit dem
VVunache aus der Hand, mehr davon zu erfahren und vielleicht an Ort und Stelle erst
in die Praxis zu sehen, was hier als so entschieden gut und neuartig gepriesen wird.
Donn einerseits sieht man Dinge angestrebt, die — wenigstens bei uns — schon längst
in modernen Kindergärten verwirklicht sind (die größere Freiheit der Kinder, die Auf-
hobung drastarrenBanksystems, eine hauswirtschaftlicheBetätigungder Kinder u. a. m. ),
und man findet Gedanken ausgesprochen, die schon Fröbel ähnlich angestrebt hat,
und andererseits erfährt man von einer Erziehung, die so dem entgegen ist, was wir
bisher gedacht und gewollt haben (der Erzieher nur als Beobaohter, nicht als Führer;
die Selbstkorrektur dor Kinder, nicht ein Verbessern durch den Lehrer ; nur eine spon-
tji,u(i, nicht durch die Erzieher angeregte Beobachtung vonseiten dor Kind(>r; das ganz
frulp I .«)8enlernen u. a. m.), daß man nicht gleich völlig dafür oingenonunun sein kann
und will. Dfnn -'"- v torscheidet den denkenden Fachpädagogen von der großen
Masse, daß rv | )i nho er bisher anerkannt»« ( Jrundsätze völlig über den Haufen
wirft. F)a< r. I' ii 1 ; 11- lim linr Fundgrube von wnrtvitllcn Anregungen sein, und
60 steht /,M A IM ( ii. n. <|:ii,; wir Iltis recht weitgehend davon lict'ruohten lassen. Be-
Sfindors viel k'tnmii die Kindergärtnerinnen daraus lernen. Aber ich kann auch nic-lit
300 Literaturbericht.
den Gedanken unterdrücken, daß dieses Werk, wenn es in die Hände von Unberufenen
kommt, vielen Schaden anstiften kann. Es wird von der Verfasserin alles in so ein-
drucksvoller, aus Selbstbewußtsein und Begeisterung zusammengesetzter Über-
zeugungswärme vorgetragen, daß die Gefahr besteht, viele werden bewundernd auf-
nehmen, was dringend der Nachprüfting bedarf. Meines Erachtens wäre es für unsere
Kinderwelt von Nachteil, wenn wir den in dem Buche dargestellten Grundsätzen
in allem folgen würden; es hieße eine Treibhauskultur heranzüchten und auf Kosten
der intellektuellen Ausbildung manche Gemütswerte dabei verkümmern lassen. —
Die in dem Buche gebotene Darstellung der Ernährung der lünder wird bei uns wohl
allgemeinen Widerspruch erwecken; vielleicht sind die italienischen Verhältnisse so
. andersartige, daß sie eine solche nach unseren Begriffen falsche Ernährungsweise
bedingen. In Deutschland wird wohl kein Arzt der Montessori auf diesem Gebiet
zustimmen, und es wäre besser gewesen, wenn der betreffende Abschnitt nicht mit
in die Deutsche Ausgabe aufgenommen worden wäre.
Berlin. Nelly Wolffheim.
Alfred M. Schmidt, Kunsterziehung und Gedichtbehandlung. Erster Band:
I. Ästhetik der deutschen Dichtung; II, Behandlung der deutschen Dichtung im
Unterrichte. Zweite, verbesserte und sehr vermehrte Auflage. Leipzig,.
Dr. W. Khnkhardt. XII und 438 S. Geh. 5,60, geb. 6,20 M.
Der Verf. entwickelt im Anschluß an konkrete Beispiele und im Hinblick auf die
Lehren ästhetischer Theoretiker die Gesichtspunkte, die für die ästhetische Wür-
digung literarischer Kunstwerke in Betracht kommen. Das Grundelement einer
Dichtung ist hiernach ihr Gehalt an Gefühlen und Gedanken, in dem die Innerlichkeit
der Menschheit zu künstlerischer Gestaltung gebracht wird. Dem Einzelerlebnis,
das in der Individualität des Dichters wurzelt, wird durch seine schöpferische Kraft
der Charakter des menschlich Bedeutsamen verliehen. Dadurch wird das Einzel-
erlebnis zum künstlerischen Motiv. Die Form, die zugleich mit dem Gegenstand
geboren wird, bildet eine innige, organische Einheit mit dem Stoffe. Die Auffassung
einer dichterischen Schöpfung setzt ein nachschaffendes Erleben voraus, das sich
gleichmäßig auf den Gehalt und die Form erstreckt.
Nach dieser allgemeinen Begriffsbestimmung geht er auf die einzelnen Darstellungs-
mittel ein, deren sich die Dichtung bedient, um den Inhalt zu künstlerischem Aus-
druck zu bringen, knüpft hieran eine Methodik der unterrichtlichen Behandlxing mit
ihren verschiedenen Stufen und zeigt schließlich an einer Anzahl von Beispielen, wie
sich eine alle Elemente des dichterischen Schaffens berücksichtigende Erklärung zu
gestalten habe.
Die aus reicher unterrichtlicher Erfahrung und umfassenden theoretischen
Studien erwachsenen Darlegungen sind sicherlich geeignet, dem Lehrer des Deutschen
außerordentlich viel fruchtbare Anregungen zu bieten.
Wenn der Verf. sich (S. 276) bemüht, eine Erklärung vom Wesen des Ästhetischen
zu liefern, so meint er bei der Schwierigkeit, die dieses Problem enthält, sich auf die
negative Abgrenzung von anderen Gebieten, nämlich denjenigen des logischen und
ethischen, beschränken zu sollen; er stellt so die Stoffgebiete fest, welche den Gegen-
stand des künstlerischen Schaffens bilden, und zieht dabei hauptsächlich die inhalt-
lichen und formalen Elemente in ihrer wechselseitigen Bedingtheit in Betracht.
Damit ist aber noch keine eigentliche psychologische Ableitung von dem Wesen
einer nach Inhalt und Form ästhetisch wertvollen dichterischen Leistung gegeben,
wie sie uns im Sinne der pädagogischen Psychologie besonders interessieren muß.
Eine solche Ableitung, die die Entstehung der komplexen künstlerischen Schöpfung
in der Seele des Dichters ins Auge zu fassen haben würde, könnte in folgender Weise
formuliert werden: „Das dichterische Schaffen beruht auf einem inneren Willen,
der dxirch einen gefühlsstarken, teils aus der äußeren, teils inneren Erfahrung ge-
schöpften Bewußtseinsinhalt unmittelbar motiviert wird und der mit Auslösung aller
seelischen Kräfte darauf gerichtet ist, eben diesem Inhalte die entsprechende Form zu
geben, wobei zugleich das ursprüngliche einzelne Erlebnis vermöge der schöpferischen
Anlage des Dichters einen allgemeinmenschlich-bedeutsamen Charakter gewinnt."
Vierteljahrsverzeichnis neuer Schriften. 301
Sofern bei der nachschaffenden Auffassung dieses subjektiven Vorgangs alle
psychischen Faktoren zu einem Ergebnis harmonisch zusammenwirken, welches das
Subjekt, das eine innerhalb seines Bewußtseinskreises eingeschlossene, gefühlsmäßige
Erhöhung seines gesamten geistigen Seins erlebt, wird dadurch der Eindruck des
Ästhetischen erzielt.
Über die hiermit angedeutete Begriffsbestimmung des letzteren werden wir jedoch
an einer anderen Stelle noch genauer zu handeln haben.
Heidelberg. A. Huther.
A. Gerlach, Des Kindes erstes Rechenbuch. 2. Auflage. 119 S. Pr. 0,70 M.
Leipzig 1914. Verlag Quelle & Meyer.
Die experimentellen Untersuchungen über die Entwicklung des „Zahlensinnes"
(vgl. z. B. die eben jetzt veröffentlichten Ergebnisse in der Schrift „Die Zahlauf-
fassung beim Schulkinde" von Dr. Konr. Brandenberger) weisen die ent-
scheidende Bedeutung nach, die für die Ausbildung des elementaren mathematischen
Bewußtseins dem Absclu^eiten der Zahlenreihe zukommt, gegenüber dem Anschauen
der vielfach noch den ersten Rechenunterricht beherrschenden Zahlenbilder. ,, Han-
delnd rechnen!" — das ist nach dieser psychologischen Erkenntnis die richtige
Forderung für die Einführung in die Zahlenkunst. Gerlach gibt hierfür den Kindern
eine Rechenfibel in die Hand, die ich für das trefflichste unter all dem halte, was seither
an Erstlingsbüchern verfaßt worden ist. Wie hier Bilder, zumeist dramatisch belebt,
ersonnen worden sind, die zum Abzählen und Auszählen unmittelbar anreizen, die
dabei — mit der „Fünf" einsetzend — in leichten Übergängen von der Reihung
zur Zahlbildung, von der Zahl zu den Operationen führen, ist ein Meisterstück päda-
gogischer Kunst. In vielen Versuchen, in denen ich vorschulpflichtigen Kindern das
schmucke Buch vorlegte, gelang es spielend, in den jungen Geistern lebendige Zahlen-
lust und recht bald eine hübsche Rechenfertigkeit zu erzielen.
Leipzig. Otto Scheibner.
Vierteljahrsverzeichnis neuer Schriften.
(Januar, Februar, März 1914.)
Joel, Karl, Die philosophische Krisis der Gegenwart. Rektoratsrede.
Leipzig 1914, F. Meiner. 56 S. 1,40 M.
Ziehen, Thdr., Zum gegenwärtigen Stand der Erkenntnistheorie (zugleich
Versuch einer Einteilung der Erkenntnistheorien). Wiesbaden 1914, J. F. Berg-
mann, in, 73 S. 2,80 M.
Bloch, Dr. Wem., Der Pragmatismus von James und Schiller nebst Ex-
kursen über Weltanschauung und über die Hypothese. Leipzig 1913,
J. A. Barth. Vlfl, 107 S. 3 M.
K<rii, l'.iith. V., Die Willensfreiheit. Vorträge. Berlin 1914, A. Hirschwald.
75 f). 2 M.
Heymans, Prof. Dr. G., Einführung in die Ethik. Auf Grundlage der Erfahrtmg.
Leipzig 1914, J. A. Barth. VII, 319 S. 8,60 M., geb. in Leinw. 9,60 M.
Meumann, Prof. Ernst, System der Ästhetik. 124. Bd. aus Wissenschaft und
Bildung. Piinzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens. Leipzig 1914, Quelle
A; Meyer. 144 S. 1 .M., geb. in Leinw. 1,25 M.
Verworn, Prof. Max, Erregung und Lähmung. Eine allgemeine Physiologie der
Roizwirkungen, Jena 1914, G. Fischer. X, 304 S. mit 113 Abbildungen. 10 M.,
geb. in Leinw. UM.
A nton, Dir. Prof. Dr. G., Psychiatrische Vorträge für Ärztr, F)r/.irhcr mul
Eltern. 3. Serie. Berlin 1914, S. Karger. 91 S. 2,40 M.
Brücke, Prof. Dr. E. Th. v,. Über die Grundlagen u. Mothod«Mi der Ciroß-
hirnpKysiologio und ihre Beziehungen zur Psychologie. 24. Heft der
Sammlung anatomischer und physiologischer Vorträge und Aufsätze, herausge-
302 Viertel Jahrsverzeichnis neuer Schriften.
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Prof. Fei. Krueger. I. Bd. Leipzig 1914, W. Engelmann. VI, 126 S. 4 M.
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Mönkemöller,Ob.-ArztDr.,Die Strafe in der Fürsorgeerziehung. llT.Heft
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Protokoll über die Verhandlungen des 2. österreichischen lünderschutzkongresses
in Salzburg. 2. Band der Schriften des 2. österreichischen Kinderschutzkongresses.
Salzburg, 1913. Wien, M. Perles.
Wolffheim, Nelly, Die erziehliche Beeinflussung und Beschäftigung
kranker Kinder. (Unter besonderer Berücksichtigung der Nervösen.) An-
regungen für Krankenschwestern, Ivinderpflegerinnen und Mütter. Berlin 1914,
L. Oehmigke's Verl. 140 S. geb. in Leinw. 2 M.
Bender, Dr. A., Der Schutz der gewerblich tätigen Kinder und der
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gegeben von Prof. Dr. Chr. J. Klumker. 1. Jahrg. 1913/1914. Berlin 1914, J. Springer.
III u. S. 29—69. 1,50 M.
Fuchs, Rekt. Arno, Wie gestaltet sich die Zukunft der nicht oder schwer^
erwerbsfähig werdenden geistig Schwachen, und wie wäre zu helfen?
Vortrag. Berlin 1914, L. Oehmigke's Verl. 16 S. 0,40 M.
Bericht über den 9. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Bonn am 24., 25.
und 26. III. 1913. Erstattet von Stadtschulr. Dr. Wehrhahn und StadtschuUnsp
A. Henze. Halle 1913, C. Marhold. 247 S. 2 M.
Wyneken, Dr. Gust., Was ist ,, Jugendkultur" ? ÖffentHcher Vortrag. Mit einem
Nachwort über den ,, Anfang". 1. Heft der Schriften der Münchner freien Studenten-
schaft. München 1914, G. C. Steinicke. 43 S. 0,75 M.
3ö>
Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie/)
Von William Stern.
1. Allgemeines. Aller Phantasietätigkeit gemeinsam ist die Konkretheit
und Spontaneität des Vorstellens.
Die Phantasievorstellung ist immer konkret; sie enthält ein einzelnes
bestimmtes Bild, ist also darin der Anschauung und der Erinnerung ver-
wandt, während sie sich von dem Denken mit seinen abstrakten Inhalten
unterscheidet. Die konkrete Bildhaftigkeit der Phantasievorstellung ist aber
nicht die direkte Wirkung oder Nachwirkung äußerer Eindrücke, sondern
Ergebnis einer inneren Verarbeitung; in der Phantasievorstellung befreit
sich also der Mensch von der unmittel bai*en Bindung durch die Außenwelt.
Die Vorstellung wd als Eigenschöpfung selbständig erlebt und genossen.
Durch diesen subjektiven Zug der Spontaneität erhebt sich die Phantasie-
vorstellung über die beiden anderen Formen des konkreten Vorstellens, über
die Anschauung, die an gegenwärtig vorhandene, und über die Erinnerung,
die an früher dagewesene objektive Tatbestände gebunden ist.
Allerdings darf dieser Unterschied zwischen der spontanen Phantasie
und den rezeptiven Tätigkeiten (Wahrnehmung und Ei'iunerung) nicht zu
einem absoluten Gegensatz gestempelt werden. Im Gegenteil, es bestehen
viele positive Beziehungen.
Einer Schöpfung aus dem Nichts ist die Phantasie niemals fähig; ihre
Elemente müssen vielmehr stets in wirklichen Erlebnissen ihre Grundlage
haben. Das Schöpferische besteht in der Verwendung dieser Elemente,
in der Fähigkeit, sie aus ihren ursprünglichen Verbänden zu lösen und ständig
wechselnde, immer ausgedehntere, neue Synthesen aus ihnen zu bilden —
80 daß dann die Phantasievorstellung und deren Verkettung als Ganzes
betrachtet, dennoch etwas darstellt, ,,was sich nie und nirgends hat begeben".
Individuell sehi* verschieden ist der Grad, in welchem die Loslösung und neue
Verknüpfung der Elemente gelingt; die hierdurch bestimmte Eigenschaft
nennen wü- die „Beweglichkeit" der Phantasie.
Ferner ist die Sinnenfälligkeit, welche die Phantasievorstellungen be-
sitzen, von der Lebhaftigkeit der Anschauung und des Gedächtnisses ab-
hängig. Nur derjenige Mensch, in dem die wirklich wahrgenommenen Farben,
Formen, Töne usw. mit großer Schärfe und Deutlichkeit haften und nach-
wirken, ist daher imstande, auch seiner Phantasievorstellung ein entsprechend
') Entnommen dem in Kürze erscheinenden Werke „Psychologie der frühen I\indheit
bis zum 6. Lebensjahre". Von Prof. W. Stern. Mit Benutzung vingedruckter Tage-
bücher von Clara Stern. Verlag von Quelle & Meyer, Leipzig.
Zeitschrift f. pldagog. Psychologie. 20
306 Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie.
sinnenfälliges Kolorit zu geben. Der verschiedene Grad dieser Eigenschaft
wird durch den Ausdruck „Anschaulichkeit" der Phantasie bezeichnet.
Die Sinneswahrnehmung liefert aber der Phantasie nicht nur das Material,
sondern oft genug auch den unmittelbaren Anstoß zur Betätigung. Irgendein
äußerer Eindruck: ein Wort, ein Bild, eine Bewegung, setzt erst die in Be-
reitschaft liegenden Vorstellungen ins Spiel, die freilich den Eindruck schnell
in ihr Gespinst einhüllen oder sich in ihrer Verkettung weit vom Ausgangs-
punkt entfernen. Immerhin, die Sinneswahrnehmung hatte die Rolle des
,, Phantasiereizes" zu spielen, und wir werden sehen, wie wichtig dies
gerade für die kindliche Entwicklungsstufe ist. Die Neigung, durch solche
Reize seine Phantasie in Bewegung setzen zu lassen, mag die „Reizbarkeit"
der Phantasie heißen.
Ist so die Phantasie von den rezeptiven Funktionen der Wahrnehmung
und des Gedächtnisses beeinflußt, so besteht auch umgekehrt ein enger
Zusammenhang; diejenigen seelischen Leistungen, welche auf Auffassung
und Wiedergabe objektiver Tatbestände gehen, entbehren nicht des sub-
jektiven Moments der Phantasie.
Diese innige gegenseitige Durchdringung von Wirklichkeits-
erleben und Phantasie ist eine Fundamentaltatsache, deren volle Be-
deutung erst in den letzten Jahrzehnten erkannt worden ist ; und doch ergeben
sich gerade aus ihr die wichtigsten psychologischen Erkenntnisse, ebenso für
die höchste Form der Phantasiebetätigung in der Kunst wie für die primi-
tivste im Naturmenschen und im kleinen Kinde. Wäre die Phantasie, wie
man es wohl früher annahm, ein selbständiges „Seelenvermögen", das sich
scharf gegen die anderen Vermögen der Anschauung und der Erinnerung
abgrenzte, dann würde natürlich jedem Vorstellungsinhalte sofort seine
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem Seelen-Schubfach anzumerken sein;
es würde die Phantasievorstellung als subjektiver Schein, die Wahrnehmung
und Erinnerung als Zeichen für objektive Tatbestände erlebt werden. Wie
wenig dies zutrifft, zeigt die folgende Betrachtung.
2. Illusionsbewußtsein. Wir wissen heute, daß die Scheidung zwischen
Subjektivität und Objektivität der Erlebnisse nicht von vornherein im
menschlichen Bewußtsein vorhanden, sondern erst das Endziel einer langen
seelischen Entwicklung ist. Zwischen dem völligen Verwechseln von Schein
und Sein und der scharfen kritischen Sonderung zwischen beiden gibt es
unendlich viele Zwischenformen, die oft sehr schwer greifbar sind. Wir nüch-
ternen und kritischen Erwachsenen müssen fast stets bei irgendwelchen
Vorstellungen die Entscheidung treffen, ob sie im Zusammenhang des prak-
tischen Lebens Konsequenzen sind und Konsequenzen haben — dann ist
uns ihr Inhalt objektiv — oder ob sie lediglich aus dem Selbstzweck der
Vorstellungsfreude hervorwachsen — dann sind sie scheinhafte Phantasie-
gebilde. Da wir an diese Sonderung gewöhnt sind, können wir uns zunächst
kaumZustände denken, in denen sie gar nicht oder doch nicht in dieser Schärfe
existiert; und noch schwerer vermögen wir uns in einen solchen Zustand
nachfühlend hineinzuversetzen. Dennoch gewinnen wir erst hiermit den
Schlüssel zu den wichtigsten Eigentümlichkeiten des kindlichen Seelen-
lebens.
Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie. 307
Das Kind ist viel mehr Augenblickswesen als wir; und dies Aufgehen
im Augenblicke bewirkt, daß es nicht so sehr das Bedürfnis hat wie der
Erwachsene, seine Vorstellungen in den Zusammenhang des Vergangenen
und Zukünftigen einzuordnen und daran ihren Realitätswert zu prüfen.
„Real" ist für diese primitivste Lebensform einfach das, was intensiv erlebt
wird; und es bleibt real, solange sich das Erleben dem Inhalt ganz hingibt.
Das Kind geht auf in einer Phantasievorstellung; während dessen ist ihm
ihr Inhalt Wirklichkeit, nicht weniger als ihm zu anderen Zeiten vielleicht
sein Essen oder ein in der Erinnerung auftauchendes Ereignis oder ein Stoß,
der ihm wehe tut, objektiv ist. Ursprünglich fühi*t eben jede Vorstellung
in sich die Tendenz zu ihi'er Bejahung, zum Glauben an sie. Und die Stärke
dieses Glaubens ist viel weniger von objektiven Kriterien als von der sub-
jektiven Bewußtseinsintensität abhängig. Wenn man sieht, wie restlos die
Versenkung eines Kindes beim Zuhören eines Märchens oder beim eigenen
Erzählen einer Phantasiegeschichte ist, mit welchem Ernst es seine Spiele
treibt und welche Verzweiflung es bei deren Störung packen kann, dann
erkennt man, daß hier die Illusion der Wirklichkeit noch völlig oder doch
annähernd vorhanden ist.
Freilich schon ziemlich früh beginnt das Kind doch auch jenen anderen
strengeren Wirklichkeitsbegriff zu ahnen, den wü* Erwachsenen besitzen.
Es merkt, daß manche seiner Bewußtseinserlebnisse nicht einfach von ihm
selbst beliebig abgeschnitten oder abgeändert werden können, sondern sich
aufdrängen und ihre Konsequenzen fühlbar machen; kurz, es fängt an, seine
Abhängigkeit von den Dingen außer ihm zu erfahren und seine Anpassung
an diese Dingo zu erstreben. Damit stößt es auf eine Realität, die härter
und mächtiger ist als die frühere. Jener undifferenzierte Zustand des ein-
fachen und gläubigen Hinnehmens jeder lebhaften Vorstellung ist damit
nicht melir alleinherrschend; es arbeitet sich jetzt die Trennung des
Objektiven vom Subjektiven heraus. Aber auch dies geht nur langsam von
statten; die seltsamsten Übergangsstadien entwickeln sich. Bald findet
sich ein sprunghaftes Wechseln zwischen dem Aufgehen in der Illusion und
dem Darüber-Erhabensein ; bald wendet sich das Kind absichtlich ab von
allem, was die Illusion stören könnte. Dann wieder gibt es Seelenzustände,
in denen jene Zwiespältigkeit selbst in einem Bewußtseinsakt erlebt wird,
ein Schweben zwischen den beiden Polen des Ernstnehmens und des Spielens
mit den Vorstellungen. Der Ästhetiker Conrad Lange behauptet, daß eine
solche ,, bewußte Selbsttäuschung" ganz allgemein das charakteristische
Merkmal alles künstlerischen Genießens sei — ein Satz, der in solcher Zu-
spitzung zweifellos unrichtig ist. Aber für das Kind und gerade das kleinere
Kind ist diese Erscheinung sicher von großer Bedeutung. Verleiht doch
zugleich jenes willkürliche Wechselnkönnen ein Gefühl der Souveränität und
somit ein Lustgefühl von großer Stärke.
Lassen wir an einer Reihe von Beispielen verschiedene Phasen und Grade
dieses Illusionsbewußtseins, an uns vorüberziehen.
Zunächst eine Probe, die zeigt, wie früh schon zweifelloses Dlusions-
bewußtsein, sogar mit dem Einschlag der scherzhaften Täuschung, vor-
handen ist.
20*
308 Eigenschaften der friihkindlichen Phantasie.
Hilde 2; 2'). „Es ist nicht immer festzustellen, wo das Bewußtsein des Kindes von
der Selbsttäuschung des Spiels anfängt und aufhört. Wenn H. ihre Spielpuppen
und -tiere schlafen legt, ihnen zu essen gibt, sie wäscht, kurz, sie so behandelt, wie
sie selber behandelt wird, so kann das bewußte oder unbewußte Selbsttäuschung
sein. Antwort erwartet das Band nicht, wenn es die Puppe, den Stoffhund usw. direkt
anredet. Immerhin — zur bewußt scherzhaften Selbsttäuschung gehört doch noch
ein weiterer Schritt, den H. nunmehr ebenfalls zurückgelegt hat. Heute morgen
vermißte sie ihr Stühlchen; sie fragt erst: (wo) is denn e Stühlchen ? Dann ermuntert
sie sich selbst: suchen Stühlchen Äde (das Stühlchen auf der Erde suchen) — und
richtig, H. bückt sich nieder auf den Teppich, läßt ihren Blick wandern wie sonst,
wenn sie etwa eine Stecknadel sucht, und stellt endlich fest: nein, is nich da. Das
machte einen durchaus scherzhaften Eindruck."
Aber noch IV2 Jahr später gibt es Betätigungen des Kindes, bei deLen
das Illusionsbewußtsein in der Schwebe zu sein scheint.
3; 7. Hilde hat für ihre Puppenbetten neue Bezüge bekommen, und nun beginnt
ein intensives Spiel: ,, Jetzt müssen die Puppen den ganzen Tag schlafen, wieder
aufstehen und wieder schlafen. Mit rührender Sorgfalt und mütterlich liebevoller
Stimme betreut sie ihre Kleinen, schaukelt sie in Schlaf, fragt sie, ob sie gut geschlafen
hätten, sagt ihnen guten Morgen und verlangt, daß wir das gleiche tun, wenn sie früh
mit ihrem Puppenwagen in unser Schlafzimmer kommt. Das sind wirklich warme
Gefühle, die sich hier äußern, nicht bloß erdichtete und konstruierte. Und zweifellos
liegt auch nicht eine einfache klare Fiktion vor, sondern ein merkwürdiges Gemisch
von wirklich Geglaubtem, zweifelnd Geglaubtem, spielend Hingenommenem, beab-
sichtigter Fiktion. Eben denkt man: das macht sie sich ganz bewußt vor; im nächsten
Moment scheint es, daß das Kind gänzlich in der lUvision stecke und das wirklich
glaube, was es von der Puppe sagt."
Noch 4; 7 führt die Spielillusion bei Hilde zu regelrechten Tränen. „Abends —
es ist im Schlafzimmer schon dunkel gemacht — ruft sie plötzlich ganz ängstlich,
ob irgendeine Puppe auch mit der dicken Decke eingepackt sei; sie fürchtete augen-
scheinlich bei dem rauhen Novemberwetter, daß sich die Puppe sonst erkälte, und
als man sie zur Ruhe verweisen will, fließen Tränen ; die Besorgnis \im die Gesundheit
des Schwesterchens kann kaum echter sein als diese Puppensorge. Wäre dies möglich,
wenn in voller Klarheit vor ihrem Bewußtsein stände, daß die umsorgte Puppe nur
ein Stück Leder mit Häckselfüllung ist ?"
,,Aber auch das Schwesterchen selbst wird zuweilen behandelt, daß man nicht
weiß, sucht sie ernsthaft zu ihm in Beziehung zu treten oder behandelt sie es wie
eine Puppe ? So tritt sie 4; 7 an den Wagen des sechs Wochen alten Babys mit den
Worten: Ich will der Eva mal meine Arbeit zeigen. Damit läßt sie ihren Strumpf,
an dem sie ,, arbeitete", vor den Augen der Kleinen hin- und herpendeln und plaudert
liebevoll: Ja ja, ich bin schon vier Jahre, ich gehe schon in die Mutterschule, ich lerne
schon stopfen. Das Eigentümliche ist nun, daß dieses „Sich vorstellen" gar nicht
scherzhaft klang. Manchmal traut sie dem Schwesterchen noch gar nichts zu (so
zweifelte sie neulich, daß es schon hören könne), dann wieder spricht sie zu ihm in
dem mehr oder minder gewissen Glauben, nicht tauben Ohren zu predigen."
Ein ganz ähnliches Schwanken und Schweben, wie bei diesen Illusionen,
die das Kind sich selbst schafft, gibt es auch bei jenen, die ihm von außen
entgegengebracht werden, bei den Märchen, dem Christkindchen, dem Knecht
Ruprecht.
In der Illusionsfähigkeit der Phantasie liegt eine starke Lustquelle für
das Kind. Denn Je mehr der Mensch den Ernst der Realität einsehen lernt,
um so mehr empfindet er ihren Zwang und ihre Enge. Das kleine Kind, das
^) 2; 2 bedeutet: im Alter von 2 Jahren, 2 Monaten. Die in Anführungszeichen
gesetzten Stellen und Zitate aus den Tagebüchern von C. Stern.
Eigenschaften der frühkindlichen Phantasie. 309
in seiner Hilflosigkeit überall auf Hemmungen stößt, das in seinem realen
Tun so abhängig ist von den Erwachsenen, mag von diesem Druck wohl
ein mehr oder minder dumpfes Gefühl haben, und da löst es sich von ihm
durch eine Flucht in die Phantasiewelt, in der es selber Herr und Gebieter,
ja Schöpfer und Gestalter ist. Je stärker aber die Illusion ist, mit der es
sich in sein selbst geschaffenes Scheindasein versenkt, um so stärker das
Gefühl der Befreiung, um so größer die Lust.
Und eng ist die wirkliche Umgebung des Kindes. Die Räume der häus-
lichenWohnung, die Familienmitglieder und Dienstboten, der tägliche Spazier-
gang und seine Spielsachen — das ist seine Welt. Das übrige weite Leben
wirft nur von fern seinen Widerschein in des Kindes Dasein. Aber indem
es diesen Widerschein in den Schein seines eigenen Phantasierens und Spielens
aufnimmt, erweitert es seine Lebenssphäre. Hierbei zaubert es nicht nm' die
Gegenstände der Welt da draußen — Pferd und Wagen, Eisenbahn und
Schiffe usw. — in sein Spielreich hinein, sondern auch — was viel wichtiger
ist — die Menschen, indem es sich selbst in deren Rolle versetzt. Das
Vertauschen der eigenen Persönlichkeit mit einer anderen kann, obgleich
es doch an das Illusionsbewußtsein die stärksten Ansprüche stellt, zuweilen
eine ganz überraschende Intensität annehmen.
Man sieht aus Obigem: bei einem und demselben Phantasiegebilde kann
der Anteil des Illusionsbewußtseins ein ganz verschiedener sein. Es kann
ein Mensch eine reiche, bewegliche und reizbare Phantasie besitzen, ohne
doch der Verwechselung seiner Phantasiegebilde mit der Wirklichkeit anheim
zu fallen. Es kann andererseits eine relativ ärmliche Phantasie doch einen
hohen Illusionsgrad haben. Der Illusionismus ist daher eine besondere
Eigenschaft der Phantasie.
Beim Kind hängt der Illusionismus vor allen Dingen vom Alter ab; er
vermindert sich ständig mit den Jahren, während andere Eigenschaften der
Phantasie, ihr Reichtum, ihre Beweglichkeit, gleichzeitig zunehmen. Außer-
dem aber gibt es bereits in der frühen Kindheit große individuelle Unter-
schiede : manche Kinder gelangen sehr zeitig zu einer straffen Unterscheidung
zwischen Phantom und Wirklichkeit; andere bleiben übermäßig lange in
jenem unklaren Zustande stehen, in welchem Erlebtes und Erfundenes
chaotisch durcheinander gewirbelt ist. Hierbei kommen zweifellos Fälle
vor, die schon ins Pathologische hinübergreifen und daher besondere päda-
gogische — auch heilpädagogische — Beachtung und Beeinflussung erfordern.
Man darf aber andererseits nicht vergessen, daß ein gewisser Grad von Illu-
sionismus durchaus zum normalen Wesen der fi'ühen Kindheit gehört;
€8 ist daher völlig verkehrt, die hierauf sich gründenden Verwechslungen
von Schein und Sein: bei Spielen, Phantasieerzählungen, Erinnerunp-
aussagen usw. in Bausch und Bogen moralisch zu brandmarken oder gleich
als pathologische Symptome ansehen zu wollen.
3. Die UDbekümmertheit der kindlichen Phantasie. Die einzelne Phanta-
sievorstellung des Kindes ist ursprünp:lich recht unklar und arm an Inhalt.
Dies ergibt sich nicht nur aus den allgemeinen Gesetzen der Vorstellungs-
t ntwickluug, sondern auch aus gewissen Symptomen der Phantasie betäti-
gung selbst. Das kleine Kind zeigt iiämli.]! .luff/illige Unbekümmerthtit
310 Eigenschafton der frühkindlichen Phantasie.
um die Beschaffenheit des äußeren Objektes, an welches sich die Phantasie-
vorstellung knüpft. Irgendeine Zufallsform eines zerrissenen Papierstück-
chens wird als „Schuh" begrüßt — für unser Auge ist nur eine ganz entfernte
Ähnlichkeit vorhanden. Ein Kreis mit vier kleinen Strichen darin, den das
Kind zustande gebracht hat, gilt ohne jedes Bedenken als „Gesicht", viel-
leicht sogar als das des kleinen Bruders. Zwischen dem Stecken, auf dem
der Knabe reitet, und einem Pferd fehlt so gut wie jede Übereinstimmung;
der Umstand, daß man den Stecken zwischen die Beine nehmen kann,
genügt, um die Phantasievorstellung zu realisieren.
Man erblickt in dieser Unbekümmertheit einen Vorzug der kindlichen
Phantasie, und mit Recht, da sie zeigt, wie beweglich, wie stark aus dem
Innern quellend das Vorstellungsleben schon um jene Zeit ist. Aber man
darf andererseits nicht übersehen, daß der ganze Prozeß gefördert wkd durch
die relative Dürftigkeit des dabei vorgestellten Inhalts. Hätte das kleine
Kind wirklich eine scharf umrissene Form- und Farbenvorstellung von
Schuhen, dann würde der Anblick des Papierfetzens nicht so leicht zur Vor-
stellung ,, Schuh" führen; es würden die abweichenden Merkmale sofort eine
psychische Hemmung bewü-ken. Und der Stecken als Reitpferd stört den
kleinen Jungen nur deshalb nicht, weil neben dem Hauptmerkmal der
Pferdevorstellung, dem Darauf-Reitenkönnen, alle anderen Inhalte, nament-
lich die der speziellen Pferdegestalt, weit zurücktreten.
Durch diese Unbestimmtheit der einzelnen Vorstellung wird die Leistungs-
fähigkeit der kindlichen Phantasie in keiner Weise beeinträchtigt. Denn
diese will ja nicht, wie etwa die des bildenden Künstlers, ein ruliendes Ge-
samtbild in möglichster Anschaulichkeit und Vollständigkeit innerlich er-
fassen, sondern in schneller Bewegung von Vorstellung zu Vorstellung, von
Tätigkeit zu Tätigkeit eilen ; hierfür aber sind jene vagen Anklänge eben recht ,
um beliebige, sich darbietende Objekte zu Anhaltspunkten für die einzelnen
Phasen dieser motorischen Akte zu machen. So begreift man es auch, daß
ein und dasselbe Objekt in schneller Folge als Phantasiereiz für die ver-
schiedensten Vorstellungen dienen kann.
Hilde 2; 2. ,,H. hat ein viereckiges, flaches Stückchen Holz in der Hand, mit
dem sie spielt, wie mit einem Ball. Plötzlich legt sie es sich auf den Kopf und zeigt
es mir: Schöner Hut ! Dann nach einem Weilchen wiederum: is Taler". — 2; 5. „Das
I-Qnd saß mit einer Tante am Tisch; als Spielzeug diente ihr die Schürze. Zuerst
knüllte sie einen Ball aus der Schürze und tat, als ob sie ihn würfe; dann wickelte
sie die Schürze um den Finger wie einen Verband und sagte: Böser Finger; dann
nahm sie die Schürze hohl (wie beim Ballauffangen) mit der Bezeichnung: Teller."
Es ist schon eine höhere Stufe der Entwicklung, wenn das Kind von der
Diskrepanz zwischen Phantasiereiz und Phantasievorstellung ein Bewußtsein
hat, sich aber nicht durch sie stören läßt. Auf dieser Stufe sinkt das Objekt
ledigHch zum Symbol herab, zu einem behebigen Anknüpfungs- oder Aus-
lösungsmoment für die reiche innerliche Vorstellungstätigkeit. Das Kind,
das drei Stühle hintereinander stellt, um „Eisenbahn" zu spielen, weiß wohl,'
daß die Eisenbahn ganz anders aussieht ; aber es abstrahiert von den Unter-
schieden, um das eine ihm wesentlich erscheinende Merkmal, die Hinter -
einander-Reihung, als greifbare Grundlage für seine Spielphantasie zu be-
nutzen. So begegnet uns hier etwas ganz Ähnliches wie bei der Entwicklung
Eigenschaften der frühkindlichen Phant«töie. 311
des Sprech-Denkens : an die Stelle einer mechanischen Assoziation tiitt das
Symbolbewußtsein, das „Markieren", und hebt den Prozeß sofort auf ein
höheres Niveau.
So wurde um 2; 7 die Eisenbahn bei unserer Hilde markiert: einmal durch vier
hintereinandergelegte Kastanien, dann durch eine Reihe von Bauklötzen, dann wieder
durch ein Zentimetermaß, das sie hinter sich herzog. — Günther machte um 3; 11 sogar
einmal seine Hände zur Eisenbahn : ,,Er zeigte plötzlich auf seine Daimien : Das sind
die Lokomotiven, und das (er streckte die übrigen acht Finger aus) sind alles die
Wagen, Und hier (er zeigte in die Luft) ist der Weg und die Schienen."
Bei manchen dieser höchst sonderbaren Repräsentationen können wir
Erwachsenen kaum begreifen, daß das Kind über die krasse Unstimmigkeit
hinwegsieht, um an ein einziges nebensächliches Merkmal seine Vergleichung
zu knüpfen.
Noch 5; 10 beobachteten wir bei Hilde folgende merk\\'iirdige Personifikation:
,,Sie spielte mit einer Kaffeemühle. Der Deckel einer solchen besteht bekanntlich
aus zwei Halbkreisen, die um Scharniere drehbar sind und dadurch voneinander
entfernt oder einander genähert werden können. Das genügte, um dem Kinde die
Suggestion menschlicher Bewegungen zu geben. Sie ließ die beiden Deckel sich
berühren: Jetzt küssen sie sich. Sie drehte sie auseinander: sie gehen spazieren. Sie
fingierte Regen: beide keltren zurück. Der eine Flügel wird wieder nach außen gedreht:
er geht wieder spazieren; der andere aber will warten, bis der Nebel verschwunden ist."
Der höchste Grad dieser Unbekümmertheit liegt dort vor, wo die Phantasie
überhaupt auf ein gegenständliches Äquivalent verzichtet und geradezu
halluzinationsähnliche Leistungen ermöglicht. Wenn das Kind be-
ginnt zu „fabulieren" oder wenn es abends im Bettchen liegend noch vor
dem Einschlafen im Dunkeln seine Monologe hält, in denen die Angehöligen
und die Spielsachen, Ereignisse des Tages und Zukunftswünsche bunt durch-
einander wirbeln, so sind alle äußeren Phantasiereize gesch\sninden, und wir
haben das Spiel der inneren Vorstellungstätigkeit in Reinkultur vor uns.
Von hier zur Traumphantasie ist nur ein Schritt, und es ist ja charakteristisch
für das Kind, daß sich ihm zwischen wirklichem Erleben, der Wachphantasie
und dem Traum oft genug die Grenzen verwischen.
Eine besondere Nuance enthält der halluzinatorische Zug in der Spiel-
phantasie. Hier gibt es in der Tat ein Hantieren mit dem Nichts —
z. B. das Spielen mit dem fingierton Ball; es kann mit derselben Inbrunst
und Hingebung betrieben werden, als ob das reale Spielobjekt zur Verfügung
stände. Aber hierbei ist doch immerhin eine reale Grundlage vorhanden
und wie es scheint unentbehrlich, nämlich die Spielbewegung des Kindes;
sie kann nicht durch eine bloße Bewegungsvorstellung in der Phantasie
ersetzt werden. Somit kommt den motorischen Elementen der Vorstellung
eine andere Rolle zu als den visuellen, auditiven und taktilen. Das sichtbare,
hörbare, greifbare Objekt kann durch die bloße Phantasievorstellung ersetzt
werden, die Eigenbewegiing nicht. Diese verschiedene Rolle ist aber sehr
wohl verstand lieh. Das wirkliche Vorhandensein der Objekte ist nicht immer
in unsere Macht gegeben, der Mensch muß sich mit dem subjektiven Surrogat
der Phantasievorstellung begnügen; Beweirungcn aber können wir immer von
neuem wirklich ausführen; dafür braucht sich also nicht ein entsprechendes
Phantasiesurrogat herauszubilden. Die folgenden Beispiele von „Halluzi-
nationsspielen" bestätigen deutlich das Gesagte.
312 Eigenschaften der frühkindlicheu Phantasie.
Günther 2; 6/4. „D&ä kleine Schwesterehen ist eben gebadet worden. Kaum ist
es aus der Wanne herausgenommen, so klettert G. auf das Stühlchen, guckt in die
leere Wanne hinein mit den Worten: so tun e Bibi (= so tun, als ob ein Baby darin
wäre) und bewundert das nicht vorhandene Baby."
Hilde 3j 5. „H. spielt Einkaufen, d. h., wir schicken sie mit „gedachtem" Geld
,, imaginäre" Sachen kaufen; sie rennt in eine leere Ecke zum „Kaufmann" und bringt
von dort fingierte Butter, Schokolade usw. mit."
Günther 5j 10. „Ein bei den Kindern sehr beliebtes Spiel ist das „Paradies-Hüpfen".
Es wird auf den Boden ein Schema mit numerierten Feldern gezeichnet; dann muß
ein Steinchen in ein bestimmtes Feld geworfen und hüpfend wieder geholt werden,
ohne daß dabei einer der Grenzstriche mit dem Fuß berührt werden darf. G. spielt
nun zuweilen dieses Spiel im Zimmer ohne alle Apparate. Er tut so, als ob er das
Schema auf die Diele aufzeichne, fingiert das Werfen mit einem Steinchen, jauchzt,
als ob er in die 100 getroffen (augenscheinlich steht das Schema in großer Lebhaftigkeit
vor seinem innern Auge), hüpft vorsichtig, um die gar nicht vorhandenen Grenzstriche
nicht zu berühren usw."
Hilde 5; 10. „H. spielte „Kaufmann". Die Mutter, die etwas bei ihr eingekauft
hatte, sagte, sie werde es morgen abholen lassen. Um nun dieses ,, morgen" schnell
herbeizuführen, markierte H. die dazwischenliegende Nacht, indem sie in ihren
,, Laden" ging und im Stehen einige Male herzhaft und laut schnarchte. Dann sagte
sie vergnügt: Nun ist morgen. Zur „Nacht" war also kein Bett, keine Dunkelheit,
nicht einmal das Hinlegen nötig; der motorische Akt des Schnarchens galt als völlig
genügende Unterlage der Phantasievorstellung , Nacht'."
Das Merkmal der Unbekümmertheit scheidet die frülikiiidliche Phantasie
grundsätzlich von der eigentlich ästhetischen Phantasietätigkeit des Künst-
lers und des Kunstgenießenden. Denn zum Ästhetischen gehört, daß die
Phantasievorstellung eine adäquate objektive Darstellung finde. Und
weil eben für dieses Zusammenstimmen von innerem Gehalt und äußerer
Gestalt dem kleinen Kinde noch ganz das Organ fehlt, ist das eigentliche
Prinzip der Kunst ihm noch wesensfremd. Das muß hervorgehoben werden
gegenüber einem Ästhetizismus, der womöglich schon um diese Zeit die
,, Kunst im Leben des Kindes" kultivieren will.
Die wahre Ähnlichkeit der kindlichen und der künstlerischen Phantasie
liegt nicht auf dem Gebiete der Form, sondern auf dem der Illusionsfähigkeit ,
des spielenden Sich-Hinwegsetzens über Zwang und Enge der Wirklichkeit.
Derartige Phantasiebetätigungen sind aber, wie wir sahen, in den früheren
Jahren gerade nur durch die Unbekümmertheit um die äußere Darstellung
möglich; wird diese daher unterbunden, so findet leicht eine unerwünschte
Beeinträchtigung der Phantasie statt.
Wie wenig nimmt doch unsere Spielzeugpädagogik auf jenen Zug der
Unbekümmertheit Rücksicht! Bei Puppen und Puppenstuben, Spieltieren
und Soldaten werden keine Mühen und Kosten gescheut, bis alles, was sich
das Kind in der Phantasie vorstellen könnte, auch objektiv vorhanden ist.
Wo bleibt bei dieser Realistik dem Kinde die Möglichkeit, aus allem alles
zu machen? Glaubt man wirklich, daß das zusammengewickelte Stoffbündel
oder das stan-e Holzfigürchen als Puppe dem unverwöhnten Kinde geringere
Spielfreude und Phantasiebetätigung weckt, als dem verzogenen Kinde die
Luxuspuppe, die einen Charakterkopf hat, die Augen schließt und alle Raffi-
nements modischer Kleidung besitzt — und zu der deshalb nur schwer noch
etwas hinzuphantasiert werden kann? Oft erlebt man es in solchen Fällen,
daß die Puppe erst dann dem Kinde recht ans Herz zu wachsen beginnt,
Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandhmg im Unterricht. 313
wenn sie ihren Glanz verloren hat und nun ungeniert in jede beliebige Phanta-
siesituation versetzt werden kann.
Die Unbekümmertheit der Phantasie bringt es mit sich, daß es kein idealeres
Spielzeug gibt als die formlose Materie, die das Kind beliebig in seine
Gewalt nehmen und in die es alles hineinlegen kann, was seine Phantasie
ihm vorspiegelt. Da ist das Papier, das zemssen, gefaltet, geknüllt, geklebt,
bekritzelt werden kann; der Sand, der geschaufelt, geformt, geknetet, ge-
streut wird; das Wasser, der Ton, der Schnee — welche unerschöpfhchen
Stoffe für kindliche Phantasiefreuden! Es ist doch kein Zufall, daß nirgends
Kinder der verschiedensten Altersstufen glücklicher, ausdauernder im Spiel
und darum artiger sind als am Meeresstrand, wo sie Woche auf Woche die
unendlichen Spielmöglichkeiten des Sandes und Wassers auskosten.
Auch in der alltäglichen Umgebung des Kindes sollte die Verwertung der
formlosen Materie noch viel mehr gepflegt werden. Auf keinem öffentlichen
Platz, in keinem Garten, vor allem in keinem Kindergarten, sollte der große
Sandhaufen fehlen. Auch im Hause biete man ähnliche Gelegenheiten;
ein großer Klumpen Ton müßte stets zur Hand sein, daß das Kind darin
nach Herzenslust kneten und spielen kann. Die Mütter, welche diesen Ge-
danken aus Rücksicht auf die Kleidchen der Kinder und die schönen Kinder-
möbel entrüstet zurückweisen, ahnen nicht, wieviel Spielfreude und Phantasie-
freudigkeit sie dadurch unterbinden.
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung
im Unterricht.
Von W. Kraßmöller.
(Fortsetzung. )
II.
Wie kann der Lehrende bei nervösen Zuständen im Unterricht prophy-
laktisch wirken, und wie hat er neurast henische Schüler dabei zu behandeln ?
Schon seit langer Zeit wird die Forderung aufgestellt, daß für nervöse
Kinder besondere Schulen einzurichten und besondere Lehrpläne zu schaffen
seien. Als das Mindestmaß wird verlangt, daß die Schüler im Verhältnis ihrer
Fähigkeiten in zwei Abteilungen zu sondern seien, deren eine die geistig
exzessiv schnell ermüdenden Kinder aufnimmt. Meiner Ansicht nach ist
eine solche Einrichtung oder Gabelung nicht wünschenswert; denn neur-
asthenische Schüler, deren Krankheit schon weiter fortgeschritten ist, ge-
hören überhaupt nicht in die Schule. Ich weiß aus Erfahrung, daß einerseits
die prophylaktische Behandlung derartig schwerer Fälle von selten des
Lehrers zwecklos ist und daß andererseits die Disziplin durch derartige
Schüler so gefährdet wird, daß man den Eltern nur nahelegen kann, die
Kinder in Privaterziehung zu geben. Auch ist es nicht möglich, sich in einer
Klasse von 30 — 40 Schülern einem einzeln- n Ki mkon so zu widmen, w'w i
314 Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
für eine Besserung seines Zustandes nötig wäre. Ein neurasthenisches Kind
in fortgeschrittenem Kranklieitszustand gehört zunächst in die Behandlung
eines sachkundigen Nervenarztes und dann in die Hände eines Heilpädagogen,
der genau nach den Vorschriften des Arztes die Erziehung leitet. Vielleicht
läßt sich in diesem Stadium der Erkrankung auch ein Jugendsanatorium
oder ein Jugendheim empfehlen. Dagegen können Kinder, deren nervöse Zu-
stände sich noch im Anfangsstadium befinden, meiner Meinung nach unter
gesunden Kindern sehr wohl verbleiben, denn die Erfahrung hat gezeigt,
daß das Milieu von gesunden Kindern nur von gutem Einfluß auf Nervöse
ist, vorausgesetzt, daß sie eine entsprechende pädagogische Behandlung er-
fahren. Zu diesem Zweck muß der Lehrer allerdings ein medizinisch-psy-
chiatrisches Wissen besitzen, das ihn in die Lage setzt, die geistigen und
körperhchen Schäden seiner Zöglinge möglichst fi'üh zu erkennen, ihre Ur-
sache zu finden oder doch wenigstens zu vermuten, um dann den Arzt recht-
zeitig hinzuzuziehen oder selbst die prophylaktische Behandlung und die
nötige Rücksicht auf das Kind im Unterricht auszuüben. Es ist demnach eine
unerläßliche Forderung, daß der Lehrer neben den pädagogischen und fach-
wissenschaftlichen Studien auch medizinisch-psychiatrische Vorlesungen hört.
Es wäre daher wünschenswert, wenn diese Forderung unter die Zulassungs-
bedingungen zum Staatsexamen aufgenommen würde. Vielleicht könnten
aber auch — ich habe jetzt die Ausbildung der akademischen Lehrer im
Auge — in den Seminarsitzungen die angehenden Lehrer gelegentlich ihrer
Lehrversuche auf die neurasthenischen Schüler aufmerksam gemacht werden ;
über die Fälle wären Referate zu erstatten. Auch könnten Individuallisten
geführt werden von der Art, wie sie Ufer oder Berninger näher angeben.
Jedenfalls wird dadurch in den Jungen Lehrern ein verständnisvolleres In-
teresse für den neuropathischen Schüler wachgerufen werden. Der Lehrende
wird stets ein reiches Arbeitsfeld auf diesem Gebiet in der Schule finden;
denn hier ist noch viel Material aufgestapelt, das einer eingehenden ärztlichen
Analyse harrt. Mit Recht klagen die Ärzte darüber, daß sie dieses Material
erst dann für die Behandlung und für die Forschung erhalten, wenn es in der
Schule absolut nicht mehr taugt. Vom Standpunkt der Frülibehandlung ist
es durchaus notwendig, daß der Pädagoge und der Arzt auf diesem G-ebiete,
das auf der Grenze beider Berufe liegt, Hand in Hand arbeiten. Die Tätigkeit
des Schularztes scheint mir hier nicht auszureichen. Will man der Schul-
nervosität energisch zu Leibe gehen, so bedarf es zwischen dem Pädagogen
und dem Arzt einer fortwährenden gegenseitigen Verständigung. Der Pä-
dagoge muß in der Lage sein, Anzeichen einer beginnenden Neurasthenie
möglichst früh zu erkennen, und muß dem Arzt fortgeschiittenere Fälle sofort
überweisen. Dieser wird das Material dankend annehmen und seiner Be-
einflussung unterziehen.
Bisher dürfte es nur an der Mitarbeit des einzelnen Lehrers gefehlt haben.
Von Seiten der Schulbehörden hingegen ist in den letzten Dezennien viel ge-
schehen. Man hat die modernen Schulbänke gegen früher wesentlich ver-
bessert: die Schreibfläche ist abgeschrägt, die Sitzgelegenheit selbst be-
quemer, und schon hierin liegt eine gewisse Kontrolle für die körperliche
Haltung während des Unterrichts. Man hat der Hygiene der Schulräume die
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 315
größte Aufmerksamkeit geschenkt, insbesondere der Orientierung der Schul -
Zimmer, ihrer künstUchen Beleuchtung, ihrer Heizung und ihrer Innen-
ausstattung. Man hat den Druck der Schulbücher verbessert, er ist typo-
graphisch übersichtlicher und klarer geworden, ganz abgesehen davon, daß
die so sehr gefürchteten „kleinen Anmerkungen", die wie Augenpulver
wirkten, nun in den neuen Schulbüchern in großem, leicht lesbarem Druck
erscheinen. Während der Schulanfang früher generell auf 7 Ulu" morgens
gelegt war, hat man ihn schon lange auf 8 Ulu- festgesetzt, in der richtigen
Erwägung, daß ein ausgeschlafenes Kind mehr zu leisten vermag als eins,
das zu fiüli aufgestanden ist. Die Kurzstunde von 45 Minuten wurde ein-
gefülirt, die allerhand Vorteile bot. Es war ein alter Irrtum, daß man all-
gemein die Rezeptionsfähigkeit der Schüler zu hoch veranschlagt hatte.
In den letzten 15 Minuten einer Vollstunde mochten nur noch die wenigsten
aufgepaßt haben. Durch den 45-Minutenbetrieb ist die Walu-scheinlich-
keit erhöht worden, daß die Schüler bis zuletzt frisch und aufnahmefähig
blieben. Auch der Nachmittagsunterricht ^\^u•de fast ganz abgeschafft,
damit die Schüler in Ruhe ihre Arbeiten erledigen und dann ihre Muße-
stunden zum Ausspannen benutzen können. Ferner wurde die mechanische
Geistesarbeit auf ein Minimum reduziert. Man legt in allen Fächern weniger
Wert darauf, daß gewisse Formeln und Zahlen auswendig hergebetet werden,
sondern man verlangt hauptsächlich eine Einsicht in den Zusammenhang
und den Aufbau einer Materie. Das zeigt sich ganz besonders in der Ge-
schichte, wo heute nicht mehr der übermäßige Memorierstoff im Mittel-
punkte steht, sondern das Verständnis der Entwicklungsgeschichte und
der großen historischen Zusammenhänge. Auch in der Mathematik,
in der Grammatik aller Sprachen und in der Religion findet sich diese Ver-
minderung des mechanischen Lernstoffes. (Die tJberbtirdungsfrage, die hier
im Zusamnlenhang damit auftaucht, ist schon so oft behandelt, daß es nicht
meine Aufgabe sein kann, sie in diesem engen Rahmen nochmals anzu-
schneiden.) Ferner hat man für manche Tage häusliche Aufgaben überhaupt
vermieden^ damit die Schüler Gelegenheit haben, sich auch ein wenig dem
Sport zu widmen. Das gilt besonders für die Großstadtkinder, die infolge
der großen räumlichen Entfernungen der Wohnung, der Schule und der
Spielplätze voneinander sonst kaum Gelegenheit haben, ilu-en Körper durch
Sport zu kräftigen. Hierher gehören auch die Spielnachmittage, an denen
den Schülern Gelegenheit gegeben wird, unter Aufsicht ihrer Lehrer im
Freien zu spielen. Man hat auch den Sport dadurch gefördert, daß man von
Beitcn der Schule Sportvereine gegründet hat, die das Rudern, das Tennis-
spielen und das Fußballspiel pflegen. Aus demselben Grunde sind aucli
hier und da die Turnstunden um eine in der Woche vermehrt worden. Der
jüngst erfolgte Extemporale-Erlaß will dem Schüler jede Emotion ersparen,
die das so gefürclitete Extemporale bei nervösen Kindern zweifellos hervor-
ruft. Erst in allerletzter Zeit ist vom Königlichen Provinzialschulkollegium
zu Berlin eine Verfügung herausgekommen, nach der die Zensuren keine
Gesamtnummer mehr bekommen sollten (wie I, IIa, IIb usw.), „weil die
Angabe gewisser Stufen auf den Zeugnissen geeignet ist, einen äußerlichen
Ehrgeiz bei den Schülern hervorzurufen, "lni'' daß diese Einrichtungen den
316 Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
Eltern ein sicheres Urteil über den Stand der Leistungen ihrer Kinder er-
möglichen." Hieraus spricht deutlich die Tendenz, den Kindern unnötige
Aufregung zu ersparen, und wie wichtig diese Frage füi' die Gegenwart ist,
scheint mir auch daraus hervorzugehen, daß auch die große Tagespresse
Anlaß nimmt, diese Probleme in ausführlichen Artikeln zu behandeln.
Alle diese von der Behörde getroffenen Maßregeln und Einrichtungen
dienen in erster Linie der Hygiene der Schüler und speziell der Hygiene
ihres Nervensystems.
Es fragt sich nun, wie der Lehrende selbst durch sein ganzes Verhalten,
durch seine Persönlichkeit, durch die Art, den Betrieb und den Plan einer
Lehrstunde prophylaktisch auf Nervöse unter seinen Schülern einwirken
kann. Wir wollen zunächst versuchen, die Fehler und Mißgiüffe aufzuzählen,
die der Lehrende zu vermeiden hat, wenn er nicht w^esentlich zur Verschlim-
merung des nervösen Zustandes beitragen will.
Vor allem darf der Lehrende selbst nicht nervös sein, da der Nachahmungs-
trieb der Kinder außerordentlich gi'oß ist und sie selbst keine Selbstbeherr-
schung üben werden, wenn sie diese bei ihrem Lehrer nicht stets vor Augen
sehen. Außerdem bedeuten nervöse Lehrer eine gToße Gefahr für die Schüler,
ganz abgesehen davon, daß sie ihre nervösen Anzeichen sichtlich zur Schau
tragen und so den Kindern suggerieren. Sie wollen auch häufig mit den
Leistungen glänzen und bringen oft ein so hastiges Tempo in den Schul -
betrieb hinein, daß Aufregungen statt Sammlung, seelische Unruhen statt
Beruhigung Platz greifen. Der Lehrende muß aber auch in allen Punkten,
die den Unterricht betreffen, eine außerordentlich große Selbstbeherrschung
aufweisen; er muß aufs strengste die Anforderungen erfüllen, die man an
einen tüchtigen und geschulten Pädagogen stellen kann. Er darf nicht auf-
brausend, nicht ungeduldig sein; er muß konsequent und mit liebevoller
Strenge auf das Ziel zusteuern, das er sich gesetzt hat. Nervöse Elemente in
der Klasse werden nun stets — und das braucht durchaus nicht böswilliger-
weise zu geschehen — durch Um'uhe, Zappeligkeit, überflüssiges Fragen und
dergleichen versuchen, ein gedeihliches und ruhiges Fortschreiten des Unter-
richts zu verhindern. Hierdurch darf sich der Pädagoge durchaus nicht
reizen lassen. Er darf nicht den Schüler durch sein ganzes Verhalten dazu
herausfordern, sich zu widersetzen; er wird auch nicht von vornherein dem
Schüler zu erkennen geben dürfen, daß er nichts Gutes von ihm erwarte . . .
kurz : er darf in keiner Weise das sachliche Gebiet verlassen und auch niemals
einen Tadel, der sich doch immer nur auf das Kind als pädagogisch fortzu-
bildendes Objekt beziehen darf, ins Persönliche hinüberspielen. Es ent-
stehen sonst wahrhafte Feindschaften, die nm* zu geeignet sind, einmal zu
bösen Ausschreitungen Nervöser zu führen. Vor allem aber untergraben sie
jede Disziplin; denn in solchen Fällen stellt sich der Lehrende mit dem
Schüler, dem er etwa seinen Haß zu erkennen gibt, auf dieselbe Stufe. Der
Lehrende darf auch nicht dem nervösen Schüler in verletzender Weise
zeigen, daß er durch seine leichte Reizbai'keit und Unstimmigkeit im Ge-
mütsleben prädestiniert sei, eine untergeordnete Rolle zu spielen. Der Lehrer
darf niemals die ihm bekannten nervösen Anlagen des Kindes etwa aus-
nutzen, um durch eine, wenn auch harmlos gemeinte, Neckerei den ihm be-
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 317
kannten Effekt hervorzurufen. Ich erinnere mich aus meiner eigenen Jugend
eines Falles, der auch auf uns Unbeteiligte stets unangenehm wirkte: einer
unserer Lehrer in den unteren Klassen hatte die Angewohnheit, einen Knaben,
dessen Nervosität und Schreckhaftigkeit ihm bekannt war, durch plötzliche
Armbewegungen, starres Fixieren, Augenrollen so zu ersclu'ecken, daß der
Junge in Weinen ausbrach. Eine derartige Handlungsweise eines Päda-
gogen, durch die er sich vielleicht die Aufmerksamkeit des Schülers erzwingen
wollte, ist durchaus zu verwerfen: es tritt hierdurch eine unnötige Ver-
bitterung bei dem Schüler ein, die auf den Gesundheitszustand eines Ner-
vösen nur schädlich wirken kann.
Ebenso darf der Lehrende weder durch eine äußere Separation eines ner-
vösen Schülers von den anderen gesunden, noch durch wegwerfende Be-
merkungen den Zustand des Nervösen vor der Klasse zu erkennen geben.
Denn Kinder sind grausam und setzen später in den Pausen fort, was der
Lehrer in der Unterrichtsstunde begann; und man weiß aus Erfahrung, daß
durch derartige Neckereien, die dann auch zu körperlichen Mißhandungen
des Nervösen fülu'ten, diesem der Schulbesuch gänzlich verleidet wurde.
Ich möchte überhaupt davor warnen, in Gegenwart nervöser Kinder das
Wort „nervös" zu gebrauchen; möchte doch dieses Wort unseren Kindern
möglichst lange fremd bleiben; denn sobald sie einmal von sich wissen, daß
sie „nervös" sind, glauben sie daraufhin eine Ausnahmestellung in der Klasse
einnehmen zu dürfen. Leicht wird ihnen hierdurch auch der Glaube an einen
unheilbaren Zustand ihrer Nerven suggeriert, während der Erzieher doch
gerade dahin wirken muß, den nervösen Zustand seines Schülers dm'ch
geistige Energie, Schulung und Ablenkung abzuschwächen oder ganz zu
beseitigen. Man gebrauche also nie das Wort: „Schweig, du machst mich
nervös!" und ähnliches. Alle diese Mißgriffe hat der Lehrende streng zu
vermeiden.
Im übrigen sei noch einmal davor gewarnt, daß man die Folgsamkeit
iK.rvöser Kinder mit allzu großer Nachgiebigkeit zu erreichen versucht.
Man denke ja nicht, daß man später einmal wieder auf den alten Stand der
Disziplin zurückkommen könne, wenn man ihn einmal verlassen hat. Dieses
Nachgeben und das Abweichen von einer energischen Konsequenz wird dem
Erzieher stets übel gelohnt werden: denn gerade ein nervöser Schüler neigt
infolge seiner ganzen Veranlagung dazu, derartige „Schwächen" des Lehrers
— denn als solche sieht er dessen Gutmütigkeit an — gehörig auszunutzen.
Ein gedeihliches Arbeiten ist in solchen Fällen gänzlich ausgeschlossen.
Und so ist dem Nervösen in keiner Weise gedient, wenn man die Zügel, und
' i es auch aus den besten Motiven heraus, am Boden schleifen läßt.
Was kann der Lehrende nun durch sein positives Tun bewirken, damit
auch nervöse und wenig widerstandsfähige Kinder ihm in den Unterrichts-
stunden mit Liebe und mit Interesse folgen ? Da ist zunächst zu sagen, daß
der Nervöse eine doppelt starke Hand im Vergleich zu dem Gesunden braucht.
Wenn irgendwo, so ist hier jene liebevolle Strenge oder strenge Liebe am
1 Matze, von der wir so oft in der Pädagogik hören. Allerdings wird es sich
l)ii Nervösen darum handeln, diese Strenge in der richtigen Form anzu-
wenden. Man wird also nicht nur fortitf-r in re, sondern auch suaviter iu
318 Schülemervosität iind ihre prophylaktische Behandlung im Unttmcht.
modo verfahren müssen. Man wird vor allem Energie nicht mit Stimmki*aft
zu verwechseln haben, sondern man wird mit unerschütterlicher Ruhe und
Geduld und durch verständige Fragen den Schüler sicher machen und ihn
immer wieder in der Auffassung bestärken, daß er sehr wohl fähig ist, seine
Arbeit regelrecht zu leisten. Man wird die Gemütslage eines nervösen Schülers
in jeder Beziehung heben und jede Depression vermeiden müssen. Das
niedergedrückte Wesen Nervöser kann auch oft seinen Grund in vielleicht
unverschuldetem Versagen in den Schulleistungen haben. Gerade bei ner-
vösen Kindern ist ein streng fundiertes Wissen unerläßlich; denn jedesmal,
wenn ein nervöses Kind infolge seines lückenhaften Wissens eine Antwort
schuldig bleibt oder eine Aufgabe schlecht erledigt, wird es leichter als
seine normalen Kameraden mutlos, verzweifelt völlig und gibt sehr bald
jedes Mitarbeiten auf. Daher wird sich gerade bei nervösen Kindern ein
privater Unterricht nicht immer vermeiden lassen; der Heilpädagoge muß
eben, sei es dm'ch intensive Ai'beit in der Schule oder privatim, darauf hin-
zuwirken suchen, daß das Kind mit einem gefestigten Können zur Schule
geht. Man sage nicht, daß ein solcher Privatunterricht zu Hause eine Be-
lastung des Kindes sei, vielmehr ist er eine Entlastung, wenn die Hausarbeit
des Kindes durch geeignete Heilpädagogen überwacht und gefördert wird.
Allerdings muß diese intensive Arbeit eben eigener Natur sein.
Ein nervöses Kind wird am Anfang eines solchen Unterrichts in jeder Be-
ziehung zu beruhigen sein. Es muß daher bald merken, daß ihm hier keinerlei
Schrecknisse und Gefahren drohen und daß Fehler nur liebevoll verbessert
werden, ihm aber niemals heftige Strafen oder gar körperliche Unbill zu-
tragen. Es empfiehlt sich allerdings, von all diesen Dingen am Anfang des
Unterrichts weniger programmatisch zu reden und ihre Durchführung anzu-
kündigen, als durch die ganze milde Tonart und ruhige Stimmung dem Schüler
sofort zu zeigen, worauf es ankommt. Vertrauen wird niem-als eingeredet,
Vertrauen muß durch die Praxis erworben werden. Und dies Vertrauen
des Schülers braucht eben der Lehrende, um in die Vorstellungswelt des
Nervösen einen Einblick zu gewinnen. Nur so ist es möglich, das Seelenleben
des nervösen Kindes günstig zu beeinflussen und ihm Festigkeit, Geschlossen-
heit und Halt zu verleihen. Man wird, wie schon oben erwähnt, gerade bei
Beginn eines solchen Unterrichts — aber auch späterhin — ein neurasthe-
nisches Kind seelisch zu heben versuchen. Wie außerordentlich dankbar
und aufmerksam nervöse Kinder in dieser Beziehung sind, ist mir aus meiner
eigenen Praxis bekannt: ich habe da gefunden, daß gerade nervöse Kinder,
die ein außerordentlich reizbares Auffassungsvermögen besitzen, sehr genau
wittern, wie man es mit ihnen meint. Allerdings darf man niemals die Füh-
rung des Unterrichts dabei aus der Hand geben; der Schüler muß stets
merken, daß auch in der kleinsten Kleinigkeit der Wille des Lehrers domi-
niert. Gerade bei Nervösen rächt sich jede Disziplinüberschreitung auf das
ärgste, und man hat daher streng darauf zu achten, daß der Schüler die feste
Hand des Lehrenden in jeder Hinsicht fühlt. Man wird nun finden, daß die
nervösen Schüler dieser liebevollen Strenge oft eine übergroße Empfindlich-
keit entgegensetzen, daß sie hemmungslos und leicht weinen und dergleichen.
Hier hat nun eine systematische psychische Abhärtung einzusetzen; die
Schülemervosität und ihre prophylaktische Behandhmg im Unterricht. 319
seelischen Kräfte müssen ausgebildet werden, die bei der Beherrschung der
Affekte in Wirksamkeit treten. Ich habe im allgemeinen die Erfalu*ung
gemacht, daß in derartigen Fällen gütliches Zm'eden und eine überzeugungs-
starke Verbalsuggestion auf ein solches wehleidiges Benehmen nervöser
Kinder viel weniger Einfluß hat, als wenn der Lehrende Tränen überhaupt
ignoriert. Das Weinen ist nur allzu oft Mittel zum Zweck, und man tut besser,
CS nicht zu sehen, anstatt sich mit einer Gefühlsäußerung abzugeben, in der
sich der Nervöse selbst gefällt. Man wird sich natürlich hüten müssen, das
EhrgefühJ eines nervösen Kindes irgendwie anzutasten, wie man das ja auch
im sonstigen Unterricht zu Vermeiden hat, damit dem Schüler in keiner
Weise Gelegenheit gegeben ist, sich in Wahrheit verletzt zu fühlen. Eine
derartige Abhärtungsmethode darf auch nicht plötzlich rauh einsetzen,
sondern muß allmählich und vorsichtig bei jedem Fall angewendet und
langsam gesteigert werden. Es wird hier auch nötig sein, ein nervöses Kind
in körperlicher Hinsicht zu beaufsichtigen. Mag es sich um zapplige oder
um allzu phlegmatische Kinder handeln: in beiden Fällen wird es gut sein,
füi" körperliche Bewegung zu sorgen, diesen zur Aufrüttelung, jenen als Ge-
legenheit, sich auszutoben. Reckt und streckt sich daher einmal ein ner-
vöser Schüler während des Unterrichts etwas, so möge man ihm dies nicht
als ein schweres Unterfangen anrechnen. Ein mahnender Blick genügt oft,
den Schüler zur Rückkehr in die gebotene Körperhaltung zu veranlassen.
In keinem Fall lasse man sich zu körperlichen Strafen hinreißen, die bei
Nervösen vollkommen wegzufallen haben. Die Erfahrungen, die man damit
gemacht hat, sind durchweg ungünstig.
Vor allem aber wu-d man die Kinder von einer verderblichen Selbst-
betrachtung ablenken müssen, in die nervöse Schüler selbst im Unterricht
sehr leicht verfallen. Es ist das Symptom fast jeder Neurasthenie und Nervo-
sität, daß der Kranke seine Krankheit geradezu hegt und pflegt, sich mit
Liebe in die Einzelheiten ihrer Äußerungen versenkt und sich selbst außer-
ordentlich wichtig und interessant vorkommt. Das darf man bei nervösen
Kindern keinesfalls dulden. Alle längeren Gespräche und Erörterungen
über diesen Punkt wirken nur schädlich und sind zu vermeiden. Man muß
dem nervösen Kinde den Glauben an seine Nervosität nehmen, wenn man
überhaupt Aussicht haben will, es vom pädagogischen Standpunkt aus zu
heilen. Es handelt sich immer wieder in diesen Fällen darum, die Schwäche,
den Mangel an psychischer Kraft zu eliminieren und dafür Selbstvertrauen
und, soweit das durch Suggestion möglich ist, auch wirklich Kraft einzu-
setzen. Hierin ist schärfste Konsequenz am Platze: so vermeide man es
auch prinzipiell, im Unterricht allzu stark Gefühlsmomente zu betonen.
Das kann je nach dem Fache, in dem es geschieht, mitunter schlecht an-
schlagen und ein nervös veranlagtes Kind zu schwärmerischer Mystik oder
weichlicher Sentimentalität führen. Man stelle bei nervösen Kindern das Kon-
krete, das Reale in den Vordergrund und unterdrücke in ihnen den Hang
zur überflüssigen Grübelei, die sie nur schwermütig macht. Man vergesse
bei all diesen Dingen nicht, daß Beispiel und Nachahmung für die Ent-
wicklung und Heilung des Nervensystems von größter Bedeutung sind. Der
Lolu-ende selbst wird nach dem Ausspruch Schweningers „der Stärkcrc"
320 Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlting im Unterricht.
sein müssen. Das Kind muß fühlen, daß von einem lebenslustigen, kräftigen
Manne Kraft und Energie gewissermaßen herüberfließt, und seine Stimmung
wird selbst umso gehobener und freudiger sein, als es diese Gefühlsmomente
bei dem Lehrer bemerkt. Man glaubt nicht, daß die Arbeit, die man an die
Festigung und Kräftigung des Willens und des Charakters wendet, für die
Therapie des Nervensystems eines überreizten Kindes verloren sind; die
Zusammenhänge sind hier so eng, daß ich in allen Fällen sichtlich eine Besse-
rung konstatieren konnte, wenn nur das Nötige geschah. Das hier Gesagte
leuchtet um so mehr ein, wenn man sich auf den Standpunkt Kollarits
stellt („Charakter und Nervosität", Berlin 1912, S. 116). Nach Kollarits
ist die Nervosität häufig als eine normale, zuweilen aber auch als eine ab-
norme Charaktereigenschaft und durchaus nicht immer als eine Krankheit
aufzufassen. Der Lehrende wird also hiernach mit allen pädagogischen
Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, auf den Charakter des Nervösen
einzuwirken haben.
Vor allem lasse man ein nervöses Kind niemals müßig gehen, denn gerade
im Müßiggang entstehen grüblerische Gedankenkombinationen, die nur
Schaden anrichten können. Bei der Arbeit hingegen kräftigt sich der Cha-
rakter und der Wille eines nervösen Kindes, und es hat fortwährend Ge-
legenheit, sich mehr und mehr sicher zu fühlen und sich selbst mehr zu
schätzen als bisher. Diese MögHchkeiten bestehen bei verständiger Leitung
und Aufsicht auch beim Spiel; auch hier bedenke man, daß die uns ver-
hältnismäßig klein und bedeutungslos erscheinende Welt des Kindes in
seinen Augen nicht so relativ, sondern absolut wichtig genommen wh-d.
Auch hier vergesse man nie, daß sich kleine Charaktereigentümlichkeiten
gerade im Spiel deutlich offenbaren und man hier als Pädagoge reichlich
Gelegenheit hat, als ein deus ex machina Schicksale zu verbessern und ein-
zugreifen, wenn es zum Nutzen eines Kindes nötig erscheint. So dulde man
bei einem nervösen Kinde nie, daß es aus irgendeinem Anlasse heraus die
Selbstbeherrschung verliert. Nervöse Kinder neigen leicht dazu, ihren Ge-
fühlen auf Kosten der äußeren Form Durchbruch zu verschaffen. Hier hat
der Pädagoge jedesmal einzugreifen und dem Kinde durch Wort und Tat
begreiflich zu machen, daß sich niemals der Einzelne das Recht anmaßen
dürfe, seinen Trieben schrankenlos Luft zu verschaffen, ohne sich um die
Mitwelt im geringsten zu kümmern. (Man hüte sich übrigens hier davor, dem
Kinde etwa seine Unarten imitierend vorzuführen, weil es sich dann leicht
verletzt fühlen könnte und auch außerdem die Disziplin darunter leidet.)
Was hier der Pädagoge durch sorgfältiges Eingehen auf die zahllosen indi-
viduellen Eigenheiten der nervösen Schüler erreichen kann, wkd stets von
seinem persönlichen erzieherischen Takt und seinem Verständnis für die
Psyche nervöser Kinder abhängen. Das Ideal der Tätigkeit eines Päda-
gogen ist natürlich, daß sich nervöse und empfindliche Schüler in der Schule
ebenso wohl und sicher fühlen wie zuhause.
Was die Lektüre Nervöser angeht, so ist hier, wie schon bei gesunden
Kindern, erst recht die sogenannte Schundlektüre vollkommen zu ver-
meiden; auch die Zeitungslektüre wird nur nach vorheriger Durchsicht des
Elattes zu gestatten sein. Vor allem soll ein nervöses Kind keine Schilde-
Schülernervoaität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 321
rungen von aufregenden Gerichtsverhandlungen, Unglücksfällen und der-
gleichen in die Hand bekommen. Wir haben ja in Deutschland eigentlich
kaum eine gute Jugendzeitschrift, die die Kinder über Aktualitäten infor-
miert. Es wird also Aufgabe des Pädagogen sein, durch Erzählungen und
Berichte, soweit das in der Schule überhaupt möglich ist, die Kinder über
die Begebenheiten in der Welt, für die sie sich naturgemäß interessieren,
auf dem Laufenden zu erhalten. In jedem Falle ist die Erweckung krank-
hafter Phantasiegebilde zu vermeiden, wozu die schlechte Auswahl der
Lektüre wohl beitragen kann. Eine Liste empfehlenswerter Jugendschriften
ist ja vom Dürerbund und von der Hamburger Lehrerschaft herausgegeben
worden. Im großen und ganzen ist diese Wahl zu billigen, die man dort ge-
troffen hat. Nur hüte man sich, dem Kinde allzu trockene und lehrhafte
Schriften in die Hand zu geben. Grerade das nervöse Kind wird sich dann
mit Recht abgestoßen und gelangweilt fühlen. Es ist hier nicht unsere Auf-
gabe, eine derartige Liste noch einmal herzustellen, und wir möchten daher
nur kurz auf die bekannte Schrift von F. Johannesson verweisen: ,,Was
sollen unsere Jungen lesen?"
Ich komme nun zur Besprechung einiger Ratschläge technischer Art, die
der Lehrende kennen muß, wenn er im Unterricht prophylaktisch und thera-
peutisch der Schülernervosität entgegentreten will. Ich möchte da zuerst
einiges über die Einteilung einer Lehrstunde sagen, wie sie mir vom hygie-
nischen Standpunkt aus für den Nervösen zweckdienhch erscheint. Der
erste Grundsatz, der hierbei zu beachten ist, ist der, daß eine Überanstren-
gung des Nervensystems auf alle Fälle verhütet werden muß. Einer solchen
Überanstrengung, die meistens an der körperlichen und geistigen Ermüdung
des Nervösen zu erkennen ist, wird man mit Erfolg dadurch vorbeugen, daß
man eine gewisse Abweclislung in eine Lehrstunde hineinbringt. Man wird
daher einer abstrakten Denktätigkeit mechanische Arbeit folgen lassen.
Da es gerade für Nervöse schwierig ist, sich in cinemfort mit derselben Ge-
dankenreihe zu beschäftigen, so wird man es ihm leichter machen, wenn man
den Gegenstand des Denkens wechselt. Hierfür ein Beispiel: der Schüler
rechne zehn Minuten mit Brüchen im Kopf, in den nächsten zehn Minuten
wird man ihm interessante Textaufgaben vorlegen, um dann erst zu schrift-
licher Darstellung überzugehen. Auch in den Grenzen der Denktätigkeit der
Schüler selbst muß eine Schranke erblickt werden, über die der Lernende
nicht ungestraft vorübergehen darf, wenn er nicht das Wohl gerade der ner-
vösen Schüler aufs äußerste schädigen will. Wenn irgendwo das Wort „va-
riatio delectat" am Platz ist, ist es hier. Eine Unterbrechung der geistigen
Arbeit durch körperliche — etwa eine kleine Turnübung in der Klasse, aber
nur bei offenen Fenstern — wird einer völligen Ermüdung des Geistes vor-
beugen. Was die Einteilung einer Lehrstunde angeht, so ist noch zu be-
merken, daß man mit der Prüfung der häuslichen Aufgaben nicht bis zum
Schluß warten soll, weil die nervösen Kinder, die sich naturgemäß vor jeder
Prüfung ein wenig fürchten, stark beunruhigt werden und sie die dazwischen-
liegende Zeit nicht ordentlich aufpassen. Diese meine Ausführungen stützen
sich auf meine Erfahrungen und auf die praktischen Versuche, die Männer,
wie Mosso, Weygandt, Lorenz, Briesbach u. a. in betreff der Ermüd-
ZcltschriU (. pAdagog. Psychologie. 21
322 Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
barkeit angestellt haben. Sie kommen einmütig zu dem Schluß, daß die
richtige Ordnung und Abwechslung in der geistigen Arbeit ein Schutz gegen
die Nervosität ist.
Ferner ist das Placieren der Schüler im Klassenraum für die Gesundheit
der Nerven unserer Schuljugend von großer Wichtigkeit. Es gibt allerdings
immer noch Schulen, in denen die Kinder nach jeder schriftlichen Ai'beit,
ja sogar nach jeder mündlichen Leistung gesetzt werden. Ganz abgesehen
davon, daß diese wöchentliche, tägliche, ja mitunter sogar stündliche Loka-
tion eine Störung für den Unterricht bedeutet, ruft sie auch in dem Gemüts-
leben gesunder und erst recht nervöser Kinder gi^oße Emotionen hervor, die
auf die Dauer unter Umständen die Gesundheit des Nervensystems zu
unterwühlen geeignet sind. Man könnte solche Aufregung den Kindern er-
sparen und schädlichen Wirkungen aus dem Wege gehen, wenn man dieses
Placieren überhaupt vermeiden wollte. Die Angst vor dem ,, Herunter-
kommen" ruft gerade bei nervösen Kindern häufig genug eine zitternde Un-
sicherheit hervor, die das Wissen und die Leistungen sehr stark beeinflussen
kann. Das geht mitunter sehr weit : Schüler, die sonst den Lehrer durchaus
befriedigen, versagen vollkommen, weil sie die Strafe und den Tadel fürchten,
die doch in dem Herunterkommen stecken. Diese moralischen Depressionen
führen entweder zu einer vollkommenen Abgestumpftheit des nervösen
Schülers, oder sie steigern seine Reizbarkeit derartig, daß er für denUnterricht
überhaupt nicht mehr in Betracht kommt.
Ferner halte ich das allzu häufige Zensieren der Schülerleistungen für
eine Gesundheitsschädigung der Nerven. Jeder, der einmal in der Klasse
unterrichtet hat, weiß, daß schon gesunde Kinder beim Aufruf ihres Namens
häufig zusammenzucken, — um wieviel mehr wird das bei den Nervösen der
Fall sein. (Ich verweise auch hier auf die ausgezeichnete Schilderung einer
derartigen Gemütsverfassung in den ,, Buddenbrooks" von Thomas Mann,
Schulstunde des kleinen Hanno.) Es zeigen sich in diesen Fällen oft nervöse
Angstzustände oder wahre Angstanfälle, wenn der Lehrende im Beisein des
Kindes die Leistungen zensiert. Es empfiehlt sich daher, derartige Notizen
sofort nach der Stunde, jedenfalls nicht im Beisein nervöser Kinder zu
machen. Dabei wolle man sich mit den Leistungen derartig veranlagter
Schüler, ohne gerade ungerecht zu werden, leichter zufrieden geben als mit
denen gesunder Kinder. Auch wird man vermeiden müssen, daß der Ner-
vöse in außergewöhnliche Angst oder exaltierte Freude infolge übertriebener
Tadel oder Lobeserhebungen gerät; hierin maßhalten heißt die Nerven der
Schüler schonen. Ich sprach eben von dem Aufrufen der Schüler durch den
Lehrer; ich möchte noch hinzufügen, daß gerade nervösen Kindern viel
Aufregung erspart bliebe, wenn der Lehrende beim Herannehmen der Schüler,
denen er häusliche Pensen abhört, kein bestimmtes System anwendet, das
die Schüler in die Lage versetzt, sich vorher auszm^echnen, wenn sie heran-
kämen. Mütter haben mir des öfteren schon erklärt, daß ihre Kinder eine
schlaflose Nacht hatten, weil sie vermuteten, am anderen Tage einer strengen
Prüfung unterzogen zu werden. Es kommt in der Tat vor, daß solche Kinder
noch des Nachts im Bett das unter dem Kissen versteckte Buch hervorholen,
um zu lernen, ohne daß die Eltern etwas davon ahnen. Wenn es sich auch
Schülemervosität und ihre prophylsdctische Behandlung im Unterricht. 323
in solchen Fällen meist um neurasthenische Kinder handelt, so ist es doch
angebracht, derartige Prüfungen weder vorher anzukündigen noch durch
irgendwelche Andeutungen erwarten zu lassen.
Jeder Schulmann wird vollends einen tüchtigen Schulhygieniker abgeben,
wenn er u. a. darauf achten wollte, daß die nervösen Kinder in jeder Pause
etwas essen ; denn gerade sie müssen nach den Aussprüchen der Nervenärzte
recht oft Nalu'ung zu sich nehmen. Man weiß aber, daß Nervöse sich häufig
in den Pausen vergessen, wo das Spiel ihre ganze Aufmerksamkeit absorbiert.
Ich pflege daher jeden Schüler mit dem Frühstück in der Hand in die Pause
gehen zu lassen; dann ist doch wenigstens einige Garantie gegeben, daß er
ißt. Hierbei ist auch die Gelegenheit geboten, die Schüler darauf aufmerk-
sam zu machen, daß eine regelmäßige Lebensweise und eine vernünftige Er-
nährung zwei wesentliche Faktoren für das gedeihliche Wachstum und die
körperliche Gesundheit jedes Menschen sind und daß Alkohol, Nikotin
und Koffein geradezu ein Gift für die Nerven unserer Jugend bedeuten.
Man sage nicht, daß der Pädagoge in dieser Beziehung zu wenig Einfluß auf
das häusliche Verhalten seiner Schüler habe. Ich kann vom Gegenteil be-
richten! Wie kindlich klang es, als eine Mutter mir einst erzählte, daß ihr
Sohn ein Glas Bowle mit den Worten zurückgewiesen habe: „Der Lehrer
hat gesagt, das sei Gift". Hat einmal das Kind von früh an den Alkohol
meiden gelernt, so wird es ihm später als Erwachsenem nicht schwer fallen,
diesemGenuß völlig zu entsagen. (Ich habe übrigens gefunden, daß besonders
jüdische Eltern ihren Kindern hierin mit gutem Beispiel vorangehen.)
Um überhaupt seine Zöglinge in bezug auf ihren Gesundheitszustand
schnell und genau kennen zu lernen, empfiehlt es sich für den Lehrenden,
darauf hinzuweisen, daß die Eltern in Krankheitsfällen ihrer Kinder der
Schule mehr und Genaueres über die Ursache und den Verlauf der Krank-
heit berichten, als der obligate Entschuldigungszettel enthält. Da wäre es
z. B. sehr interessant, über das Verhalten des Kranken einiges zu hören,
über die Häufigkeit seiner Krankheiten in seiner frühesten Jugend und der-
• gleichen. Solche Krankheitsbilder und Krankheitsgeschichten sind immer
wertvoll für den Pädagogen, der dann vielleicht prophylaktische Maßregeln
im Interesse des Schülers treffen kann. So konnte ich jüngst einer Mutter
außerordentlich dankbar sein, die mir folgenden Entschuldigungsbrief zu-
gehen ließ. (Ich zitiere hier wörtlich nach dem Original.) „Berlin, 24. 10. 13.
S. g. Herr Doktor! Bei Martin stellten sich gestern starke Kopfschmerzen,
Neigung zum Erbrechen und ein immerwährender Drang in der Blase ein.
Auch sah er im Schlaf immer allerhand Gespenster. Es sind dieselben Zu-
stände, die sich bisher nach starken Erregungen bei dem Jungen einzustellen
pflegen . . ." Dieses Krankheitsbild zeigte mir deutlich, daß ich es mit
einem schwer von der Neurasthenie belasteten Schüler zu tun hatte, eine
Erkenntnis, die für mich, wie man wohl verstehen wird, von der allergrößten
Bedeutung war, zumal der Schüler erst gerade in meiner Klasse Aufnahme
gefunden hatte.
Es würde mich zu weit führen, wenn ich sämtliche Einzelheiten hier auf-
zuzählen versuchte, die der Lehrende bei der Bekämpfung der Schülernervo-
sität zu beobachten hat ; es wird stets Sache des erzieherischen Taktes sein,
21»
324 Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
im Unterricht alles das herauszufinden, was zur Verminderung der Nerven-
krankheiten beiträgt, und auch das zu unterlassen, was irgendwie ihre För-
derung bewirken könnte.
Auch außerhalb der Klasse ist es Aufgabe und Pflicht des Lehrenden, sich
um nervöse Schüler besonders zu kümmern. Er soll und muß innerhalb und
auch außerhalb des von der Schule gesetzten Rahmens mit den Eltern über
nervöse Kinder konferieren. Es ist auf jeden Fall für den Lehrenden von
Wichtigkeit, gerade diesen Eltern einmal gegenübergestanden zu haben, um
zu erkennen, ob sie selbst nervös sind. Wie schon Kollarits, Strümpell
und andere betonen, können nervöse Eltern und besonders die nervöse
Mutter einen entschieden ungünstigen Einfluß auf das Kind ausüben. Ihre
Suggestion, der Nervöse ja überhaupt außerordentUch leicht unterliegen,
wird durch das Zusammenleben gefördert, und man hat in solchem Falle
wohl ernsthafte Erwägungen darüber anzustellen, ob man ein solches Kind
von den Eltern, von der Mutter trennen soll. Die Frage ist deswegen so sehr
schwer zu entscheiden, weil man sich ja dann gewöhnlich nicht klar darüber
ist, wohin man das Kind zu geben hat. Man denkt wohl in erster Linie an
Verwandte. Dem ist aber im allgemeinen zu widerraten, weil gerade die
Verwandten kaum die nötige Objektivität zur Erziehung besitzen und auch
wohl selbst von der etwa vorhandenen Familiennervosität infiziert sein
können. Auf alle Fälle ist ein schwer neurasthenisches Kind auf längere
Zeit vom Schulbesuch auszuschließen. An dieser Stelle den Wert der Schul-
bildung gegenüber einer nicht völlig normalen Konstitution zu betonen,
heißt die Aufgabe der Schule ganz falsch einschätzen ; und diese Anschauung,
die oft genug von den Eltern vertreten wird, hat schon viel Unheil ange-
richtet. Ich weiß aus meiner Schulpraxis, daß die Eltern sehr häufig meine
Warnungen unbeachtet ließen und es manchmal erst der energischen Auf-
forderung des Arztes bedurfte, bis sie sich dazu entschlossen, ihi*en nervösen
Kindern einen Landaufenthalt oder dergleichen zu bieten, wo der neurasthe-
nische Zustand, wenn auch nicht immer vollkommen ausgeheilt, so doch
wenigstens gebessert und die schrankenlose Entfaltung seiner Symptome
gehemmt wurde. Möchten doch gerade hier die Eltern und Erzieher immer
das treffliche Wort Jean Pauls beherzigen: ,,Wer der Weisheit die Ge-
sundheit opfert, hat meistens auch die Weisheit mitgeopfert."
Bleibt ein nervöses Kind aber in der Schule, dann kann der Lehrende
auch seinerseits mit taktvollem Geschmack versuchen, in gewisse Familien-
eigentümhchkeiten so weit einzudringen, daß er das Verhalten des Kindes
besser verstehen kann, — er wird sich allerdings hüten, hier das zulässige
Maß zu überschreiten. Er soll vor allen Dingen für eine geordnete Lebens-
weise des Nervösen sorgen. Der Anregungen, die er auf diesem Gebiete
geben kann, sind unzählige. Es ist nicht meine Aufgabe, hier diese gesamten
Teilfaktoren aufzuzählen, sondern nur noch einmal die wichtigsten heraus-
zugreifen. In erster Linie wird der Lehrende darauf dringen müssen, daß ein
nervöses Kind unter allen Umständen Sport treibt. Es ist bei dieser Gelegen-
heit außerordentlich leicht, seine Zaghaftigkeit, seine Unsicherheit und
seinen Mangel an persönlichem Mut zu beseitigen, ohne daß es sich dessen
bewußt zu werden braucht. Allerdings muß auch hier mit großer Vorsicht
Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht. 325
verfahren werden. Ich entsinne mich einiger Fälle, in denen übermütige
Kameraden und die verkehrte Strenge der Lehrer dem betreffenden Knaben
das Schwimmen derart verleidet hatten, daß ich monatelang brauchte, um
seine fast unbezwingbare Scheu vor dem Wasser zu überwinden. Ich vermied
dabei alle körperlichen Gewaltmittel und erreichte es nur durch gutes Bei-
spiel und Demonstrationen, daß der Junge Schwimmunterricht nahm und
auch das Schwimmen erlernte. So weit wird ja nun die Tätigkeit eines Schul-
pädagogen im allgemeinen nicht gehen können, aber er kann doch mit An-
regungen und Vorschlägen darauf hinwirken, daß das nervöse Kind Sport
treibt. Der immer wieder heftig geäußerte Wunsch nervöser Kinder, vom
Turnen dispensiert zu werden, erklärt sich aus der Scheu, ihre Kraft ent-
falten zu sollen, und vielleicht auch ein wenig aus Furcht vor dem Gespött
tüchtigerer Kameraden. Der Lehrende muß darauf dringen, daß sogar noch
über den eigentlichen Turnunterricht hinaus von Nervösen Sport getrieben
wird. Er wird am besten die Einzelheiten der Ausübung und ihre Bestimmung
den Eltern überlassen, muß aber im allgemeinen die mir häufig genug von
den Eltern geäußerte Ängstlichkeit gegen jede Ausübung des Sports be-
kämpfen. Als Sportarten sind in erster Linie das sportmäßige Marschieren
und Wandern zu nennen. Es wird stets die ideale Körperbewegung sein.
Nach Chätelin verlangt dieser Sport vom Gehirn ein Minimum von An-
strengung, er ist außerdem sehr billig zu betreiben und kann zu jeder Jahres-
zeit und an jedem Orte ausgeübt werden. ,,Aus seinen Kindern gute Spazier-
gänger zu machen, ist einer der größten Dienste, die man ihnen erweisen
kann." (Chätelin, „Hygiene des Nervensystems", 1912, S. 58.) Dagegen
sind die gewaltsamen Sportsarten wie Ski, Fußball, Bobsleigh, weniger zu
empfehlen, da sie neben großen körperlichen Anstrengungen leicht das
Gehirn ermüden. Anders steht es mit Lawntennis, Schlittschuhlauf, Rad-
fahren, Schwimmen und Rudern, die durchaus für Nervöse zu empfehlen
sind. Der Pädagoge wird ferner einer Überbürdung des Nervösen mit Arbeit
von Seiten des Hauses entgegenreden, und dies ist der einzige Punkt, bei dem
jeder Pädagoge merkwürdigerweise immer wieder auf den schärfsten Wider-
stand der Eltern stößt. Ich denke hierbei an überflüssige Privatstunden, au
Musik-, Malstunden und dergleichen. Man will eben mit aller Gewalt durch-
drücken und zeigen, daß man ein Kind besitzt, das so gut wie alle anderen
ist und das so gut wie alle anderen sein Ziel erreichen kann. Wie oft war
mein Zureden erfolglos, den Jungen lieber ein Jahr zurückbleiben zu lassen
und in Ruhe und Muße ohne Schädigung für seine Gesundheit das aufzu-
arbeiten, was ihm noch fehlt. Mir wurde jedesmal entgegnet, der Junge
könne das verlangte Pensum leisten, und man wies mich immer darauf hin,
daß es ja die übrigen Klassengenossen auch könnten. Meine Einwendungen,
die sich auf die notorisch vorhandene Nervosität des Jungen bezogen, wurden
meist nicht gehört. Gerade hier wird einzusetzen sein: es muß immer und
immer wieder den Eltern gegenüber gesagt werden, daß eine gewisse ruhige
Gleichmäßigkeit im Arbeiten ohne hastige Überbürdung nötig ist, um den
Nervösen überhaupt schulfähig zu erhalten. Dazu gehört das Vermeiden von
allzuvielcn Privatstunden, Schlaf nach Tisch und eine Pause von mehreren
Stunden zwischen der Schulzeit und dem Arbeiten. Ebenso ist ein mindestens
326 Schülernervosität und ihre prophylaktische Behandlung im Unterricht.
zweistündiger Aufenthalt in frischer Luft tägUch erforderhch. In allen
Fällen, in denen diese Anforderungen nicht erfüllt werden, wird der neur-
asthenische Zustand eines Schülers sich derart verschlimmern, daß ein wei-
teres Verbleiben an einer öffentlichen Anstalt von dauerndem Schaden für
den Schüler sein wird. Bei einigem guten Willen aber, bei energischer Mit-
hilfe der Eltern und ständiger Überwachung des Lehrenden wird es sich
sehr oft ermögUchen lassen, daß auch ein so veranlagter Schüler mit Erfolg
durch die Schule geht.
Häufig genug wird der Lehrende, wenn er mit der Familie des Nervösen
auf einem etwas vertrauteren Fuß steht, vor die Frage gestellt werden, was
denn aus dem Kinde nach Abschluß der Schulzeit eigentlich werden solle.
Die Ratschläge, die man in dieser Beziehung geben kann, werden im allge-
meinen nicht allzu inhaltsreich ausfallen. SchÜeßhch kann der Nervöse
infolge seiner Veranlagung in jeder Laufbahn scheitern, und die Meinungen
der Ärzte, deren Sache es in letzter Linie doch ist, hierüber zu entscheiden,
gehen weit auseinander. Daß der Nervöse nicht zum Gelehrten tauge, wird
lebhaft bestritten. Jeder Stand hat für den Nervösen vom medizinischen
Standpunkt aus seine Vorteile und Nachteile, und der Pädagoge wird im
allgemeinen sich w^ohl nur darauf beschränken können, in einer gemeinschaft-
lichen Unterredung dem Hausarzt zweckdienliche Angaben aus dem Leben
des Nervösen zu machen. Im allgemeinen kann man wohl den Satz formu-
lieren, daß ein Schwernervöser eben in keinem Berufe etwas taugt, daß aber
ein Leichtnervöser sehr wohl überall ohne Schaden für sich und seine Um-
gebung tätig sein kann. Derartige Fragen, überhaupt auch solche hygie-
nischer Natur, könnten an den Elternabenden, die ja schon an vielen Schulen
eingeführt sind, behandelt werden. Es wäre w^ünschenswcrt, wenn an diesen
auch Schulärzte teilnehmen. Durch Vorträge und Diskussionsbelehrungen
könnten die Eltern über viele Probleme unterrichtet werden. Leubusch er
sagt hierzu (Schultätigkeit und Schulgesundheitspflege): ,,Vor allen Dingen
kann bei dieser Gelegenheit den Eltern der Zweck der schulärztlichen Insti-
tution und besonders auch der Zweck, den die Mitteilungen über Fehler und
Krankheiten ihrer Kinder anstreben, erörtert und klargestellt werden. Zu-
gleich ist auch bei diesen Zusammenkünften die Möglichkeit gegeben, den
Eltern Mittel und Wege zur Beseitigung der krankhaften Störungen zu
weisen. Die Wichtigkeit des schulärztlichen Amtes kann keineswegs hoch
genug geschätzt werden. Bei den in Aussicht genommenen Versammlungen
fällt nämlich dem Schularzt neben dem Lehrer die hauptsächlichste Tätig-
keit zu. Die Nützlichkeit derartiger Elternabende ist in der Literatur vielfach
betont worden, insbesondere auch von pädagogischer Seite. Gerade dadm^ch,
daß an diesen Elternabenden Schularzt und Lehrer gemeinschaftlich an der
Aufklärung teilnehmen, wird die Eimichtung geeignet sein, auch bei den
Lehrern selbst Interesse an der Schularztiustitution und an der Hygiene
wachzurufen." Auch wü'd meiner Ansicht nach durch diese Elternabende
ein Zusammenschluß zwischen Schule und Haus erreicht, der schon seit
langer Zeit angestrebt wird.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfälligkeit usw. 327
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit und
Urteilsbeständigkeit der Schulkinder.
Von Artur Lode.
Durch meine Untersuchungen über „Die Unterrichtsfächer im Ur-
teile der Schulkinder"*), die ergaben, daß man bei Schulkindern nicht
von einer Urteilsfähigkeit in dem Maße reden kann, wie man bishef wohl
geglaubt hatte, daß ferner ihr Urteil in weitaus den meisten Fällen beein-
flußt ist durch Zufälligkeiten und Äußerlichkeiten, wurde ich veranlaßt,
der Frage näher zu treten : Sind Schulkinder fähig, überhaupt ein feststehen-
des, abschließendes Urteil über irgend eine Sache abzugeben?
Die Frage ist leichter gestellt, als beantwortet. Meine Arbeit wird auch
nur eine Teilarbeit sein und zwar insofern, als sie zeigen will, ,,in welchem
Maße man von einer Urteilsbeständigkeit reden kann, wenn
Kinder über Bilder urteilen sollen".
Um eine Antwort auf diese Frage zu erhalten, stellte ich Massenversuche
an mit Knaben der letzten drei Schuljahre, also 11- bis 14 jährigen
Kindern.
Auf einem Gestelle hatte ich in symmetrischer Anordnung 15 Bilder auf-
gehangen. Beim Betrachten saßen jedesmal in 2 Reihen hintereinander
je 4 Kinder, so daß alle 8 die Bilder gut überschauen konnten. Die Schüler
bekamen folgende Anweisungen: ,,Ihr seht diese Bilder. Schaut sie Euch
recht genau an! Dann sollt Ihr Euch die drei Bilder aufschreiben, die
Euch am besten gefallen und zwar so, daß Ihr das allerliebste an erster
Stelle schreibt! Hinter jedes Bild, das Ihr ausgewählt habt, schreibt Ihr
dann noch, warum es Euch gefällt ! — Dann schreibt noch das Bild auf,
das Euch am wenigsten gefällt und ebenfalls dazu warum! — Auf den bereit-
liegenden Zettel hatten die Schüler vorher ihren Namen, das Alter und die
letzte ,, Hauptzensur" geschrieben. Da die Mehrzahl der Schüler beim 1. Ver-
suche (d. i. bei der ersten Untersuchung der ersten 8 Schüler) zur Beantwor-
tung 15 Min. gebraucht hatte, wurde diese Zeit als Norm für alle folgenden
Versuche beibehalten und von nur einigen ganz langsamen um 2 bis
3 Min. überschritten.
Die ausgewählten Bilder stammten zum größten Teile aus der Seemannschen
Sammlung ,, Meister der Farbe", 2 Bilder aus der Teuerdanksammlung,
2 Bilder waren Rasterdrucke aus Zeitschriften, ein Bild war das Titelblatt
eines Indianerschundromans, und das Lutherbild war das Titelbild der Luthor-
nummer der „Jugend". Das Indianerbild war wie alle übrigen Bilder auf
graues Fliespapier aufgezogen, so daß seine Herkunft nicht durch die „äußere
Aufmachung" zu erkennen war.
Ihrem Inhalte nach stellten die Bilder dar:
1. Die Überfahrt am Schreckenstein (farbig) v. Lud. Richter.
2. Frühlingsabend in der Heide (f.) v. Franz Hoffmann-Fallersleben.
>) Zeitschr. f. pädagog. Psych, u. exp. Päd. 13. Jahrg. S. 201 f., 320f.. 3r>9f.
328 Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
3. „Lasset die Kinder zu mir kommen" (f.) v. Gebliard Hügel.
4. Kreuzigung Christi (f.) v. Karl Schmauk.
5. Rehe im Walde (f.) v. Christopher Drathmann.
6. Königstiger (schw.) Ausgew. B. aus der 111. Ztg. (L. L.-Ver.).
7. Gute Freunde (f.) v. Theod. Kleehaas.
8. Blinder Bettler (f.) v. J. L. Dyckmans.
9. Geographieunterr. i. d. Dorfschule (f.) v. Carl Hertel.
10. 'Stierkampf (schw.) Zeitungsbild.
11. Luther (f) v. Karl Bauer aus der „Jugend".
12. Am Wegweiser (schw.) Zeichnung v. E. Liebermann; Teuerd.
13. Morgenlied (schw.) Zeichnung v. Hirzel. Teuerd.
14. Napoleon I. (f.) v. Delaroche.
15. Kampf mit Indianern (f.) Sammlung „Sitting Bull".
Die Versuche fanden dreimal statt und zwar so, daß zwischen dem 1. und
2. Vers, stets ein Zeitraum von einer und zwischen dem 2. und 3. Vers, ein
solcher von 4 Wochen lag.
Warum 3 Versuche ? Nur einige Wiederholungen konnten den Beweis
erbringen, ob man von einem feststehenden Urteile bei den Kindern reden
kann oder nicht. Es war ja von vornherein anzunehmen, daß die Schüler
nach dem 1. Versuche sich lebhaft über die ,, schönsten und schlechtesten"
Bilder unterhalten würden. Und das geschah nach meinen Beobachtungen
in ziemlich lebhafter Weise. Die Beeinflussung durch die Unterhaltung
mußte sich nun bei einem 2. Versuche, der bald nach dem ersten stattfand,
in der Weise zeigen, daß dies oder jenes Bild mehr oder weniger gewählt
wurde. Wir werden später sehen, daß sich diese Vermutung bei einigen Klas-
sen nicht in dem Maße bestätigte, als erwartet worden war. — Der 3. Ver-
such sollte zeigen, ob die Schüler, wenn sie beim 2. Vers, ihre Angaben ge-
ändert hatten, nun bei dieser Auswahl stehen bleiben würden. Damit die
Erinnerung den 3. Vers, nicht zu sehr beeinflusse, wurde der Abstand von
4 Wochen gewählt.
Nun zu den Ergebnissen. Zunächst zeige ich die Ergebnisse in jeder
einzelnen Klasse.
A. 30 Schüler aus einer 3. Kl. (Klasse für schwachbefähigte Schüler
mit den Fortschrittszensuren III u. Illb). Diese Klasse setzte sich zusammen
aus 17 Schülern im Alter von 13 bis 14 Jahren, aus 9 Schülern im Alter
von 12 Jahren und aus 4 Schülern im Alter von 11 Jahren, den einzigen,
die bisher noch nicht sitzen geblieben waren! —
Beim 1. Versuche waren als ,, beliebteste" Bilder ausgewählt worden
vor allem Indianerkampf und Kreuzigung, ferner der Stierkampf
und die Überfahrt am Schreckenstein. Diese Bilder bekamen auch
beim 2. u. 3. Versuche die meisten Stimmen, nur trat der Schreckenstein
an die 1. Stelle und die Kreuzigung mußte beim 3. Vers, weit zurücktreten
und dem Bilde Rehe im Walde seinen Platz einräumen. Die Tabelle 1
auf Seite 330 zeigt uns, wie oft die einzelnen Bilder (an allen 3 Stellen zu-
sammen) ausgewählt worden sind.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
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Da aus dieser Tabelle nicht hervorgeht, inwieweit die Angaben jedes
einzelnen Schülers bei allen 3 Versuchen übereinstimmen oder vonein-
ander abweichen, füge ich vorstehende Übersicht (A) (S. 329) bei, aus der ge-
nau zu ersehen ist, welche Bilder jeder einzelne Schüler gewählt hat und
welche Abweichungen vom 1. Versuche bei den folgenden Versuchen ein-
getreten sind.
Vergleicht man in dieser Übersicht A den 1. und 2. Versuch miteinander,
dann erkennt man, daß (die als die schönsten Bilder bezeichneten zunächst
berücksichtigt)
in 7 Fällen (231/3%) alle 3 Angaben
in 12 „ (40%) 2
in 8 ,, (262/3%) eine Angabe
in 3 „ (10%) keine
übereinstimmen.
Einmal ist ein beliebtes Bild des 1. Vers, zum jinbel. Bilde beim 2. Vers,
geworden; einmal ist sogar das eine beliebte Bild zugleich beim gleichen Vers,
das unbeliebte!
Beim Vergleich des 2. Vers, mit dem 3. Vers, zeigt sich, daß
in 11 Fällen (36%%) alle 3 Angaben
in 11 „ (36%%) 2
in 6 ,, (20%) eine Angabe
in 2 „ (6%%) keine „
übereinstimmen.
Vergleicht man den 1. und 3. Versuch miteinander, so findet man, daß
in 6 Fällen (20%) alle 3 beliebten Bilder
in 13 „ (431/3%) 2 beliebte Bilder
in 7 „ (231/3%) 1 beliebtes Bild
in 4 „ (131/3%) kein beliebtes Bild
übereinstimmen.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
331
Bei einem Schüler ist ein beliebtes Bild des 1. Versuchs beim 3. Vers,
zum unbeliebtesten, bei 2 Schülern dagegen ist das unbel. Bild des 1. Vers.
zum beliebten beim 3. Vers, geworden. —
Interessant ist noch folgende Zusammenstellung :
Die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern wird in allen 3 Versuchen über-
haupt beantwortet mit
3 Angaben von 4 Schülern (13^3%)
4 „ „ 10 „ (331/3%)
5 „ „6 „ (20''/o)
6 „ „6 „ (20%)
7 „ „4 „ (131/3%).
Wenden wir uns nun den Urteilen über die unbeliebtesten Bilder zu,
so zeigt uns die zweite Tabelle, welche Bilder als ,, unbeliebte" genannt
worden sind:
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Unsere Übersicht über die ganze Klasse läßt erkennen, ob das Urteil
über das unbeliebteste Bild bei jedem einzelnen Schüler stets dasselbe ge-
blieben ist. Wir finden, daß
der 1. und 2. Vers, bei 17 Schülern (662^3%) ] -,, . ,.
der 2. und 3. „ „ 19 ., (63i|%) \ Übereinstimmung
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zeigen.
All. W Versuche stimmen überein bei 14 Schülern (46% %). Keinerlei
rin 1, iri.stimmung besteht bei 4 Schülern (I3I3 %).
Kine letzte Tabelle (Nr. 3, S. 332) zeigt uns, wie oft die Versuche
übereinstimmen, wenn man alle 3 Versuche gleichzeitig untereinander
vergleicht :
332
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
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334
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfälligkeit usw.
B. 40 Schüler aus einer normalen 3. Klasse mit den Fortschritts-
zensuren II — III a. Dem Alter nach waren 5 Schüler 13 Jahre, 18 Schüler
12 Jahre und 17 Schüler 11 Jahre. Als schönste Bilder erhielten beim 1. Ver-
suche die meisten Stimmen Indianerkampf, Überfahrt, Kreuzigung und Stier-
kampf. Beim 2. Versuche trat an die 1. Stelle Überfahrt, dann folgte Indianer-
kampf (7 Stimmen weniger als beim 1. Vers.!) und mit gleicher Stimmenzahl
Kreuzigung, Rehe im Walde und Landschaft. Beim 3. Versuche stand
wieder an 1. Stelle Überfahrt (11 Stimmen mehr, als beim 1. Vers.!), dann
reihen sich an Indianerkampf, Landschaft und Rehe im Walde. Einen ge-
naueren Einblick gibt wieder die folgende Zusammenstellung:
Tabelle 4.
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16
9
10
9
4
3
1
1
5
8
6
20
Die vorseitige Übersicht (B) läßt wieder die Abweichungen vom 1. Vers,
bei jedem einzelnen Schüler erkennen.
Berücksichtigen wir zunächst wieder die ,, beliebten" Bilder, dann läßt
die vorstehende Tabelle erkennen, daß beim 1. und 2. Versuche
in 5 Fällen (12^4%) alle 3 Angaben '
in 16 „ (40%) 2 Angaben
in 10 ,, (25%) eine Angabe
in 9 „ (2214%) keine „
übereinstimmen.
Dreimal (7^2 %) ^^^^ beliebte Bilder des 1. Versuches zu unbel. Bildern,
einmal (2^2 %) i^^ ®^^ unbel. Bild beim 2. Vers, zu einem bei. Bilde
geworden.
Bei einem Vergleich zwischen dem 2. und 3. Vers, zeigt sich, daß
in 10 Fällen (25%) alle 3 Angaben
in 14 „ (35%) 2 Angaben
in 13 „ (321/2 ?^o) eine Angabe
in 3 „ (71/2%) keine
übereinstimmen.
Viermal (10 %) treten bei. Bilder des 2. Vers, als unbel. Bilder und wieder
einmal ein unbel. Bild als beliebtes beim 3. Versuche auf.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
335
Vergleichen wir nun noch den 1. Vers, mit dem 3. Versuche, so zeigt
sich, daß
in 7 Fällen (171/2%) a^^e Angaben,
in 19
in 10
in 4
(471/2%)
2 Angaben,
übereinstimmen.
(25%) eine Angabe und
(10?^) keine „
Viermal (10 %) treten beliebte Bilder des 1. Vers, als unbel. Bilder beim
3. Versuche auf.
Die Übersicht läßt ferner erkennen, daß die Frage nach den ,,3" liebsten
Bildern bei allen 3 Versuchen beantwortet wird
mit „3" Angaben von 5 Schülern (1214%)
» 4 „ „6 „ (15%)
„ 5 „ „ 10 „ (25%)
„ 6 „ „ 14 „ (35%)
„ 7 „ „3 „ (71/2%)
>> o ,, ,, J ,, (5 /oj-
Wenden wir uns nun wieder den Urteilen über dip unbeliebtesten
Bilder zu, so soll uns die folgende Tabelle Nr, 5 zunächst zeigen, welche
Bilder in dieser Klasse am wenigsten gefallen haben.
Tabelle 5.
3
2
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Ol
£
(0
m
o
Ol
1
o
es
12
10
11
14
Sa. aller
3 Vers.
13
18
8
18
37
Aus der Übersicht (siehe Seite 88!) ergibt sich, daß
der 1. und 2. Vers, bei 14 Schülern ( 35%)
„ 2. „ 3. „ „ 21 „ (521/2%)
„ 1. „ 3. „ „ 19 „ (471/2%), ferner, daß
alle 3 Versuche „ 13 „ (32 14%) übereinstim-
men, aber ebenfalls „ 13 „ (3214%) bei jedem
Versuche ein anderes unbeliebtes Bild genannt wird.
Tabelle Nr. 6 (S. 332) zeigt in übersichtlicher Weise wieder die wichtigsten
Ergebnisse dieser Klasse. (Fortaetzung folgt.)
336
Zwei neue Ergographen.
Zwei neue Ergographen.
Von Georg Anschütz.
Die beiden neuen Modelle von Ergographen, die hier beschrieben werden
sollen, suchen ganz verschiedenen Anforderungen gerecht zu werden. Das eine,
das mit schweren Gewichten und einer komplizierten Schreibung arbeitet, sucht
möglichst allen Anforderungen der Exaktheit zu genügen und eignet sich daher
hauptsächlich zu Untersuchungen im Laboratorium. Das andere dagegen ist
so leicht als möglich konstruiert und kann deshalb in besonderem Grade für
Massenuntersuchungen in Schulen Verwendung finden,^)
In Fig. 1 ist das erstere Modell dargestellt. Der Arm der Vp. liegt auf der
Armstütze A, die mit Hilfe von vier seitlich angebrachten Handschrauben je
nach Bedarf höher oder tiefer eingestellt wird. Am Ende der Armstütze befindet
sich außerdem eine eben-
falls bewegliche und mit
Hilfe von Schrauben fixier -
bare Ellenbogenstütze. Das
Handgelenk und der Unter-
arm werden durch zwei auf
der Armstütze liegende
Riemen in ihrer eiimial ein-
genommenen Lage festge-
halten. Die Hand umspannt
die beiden Griffe h und 6,
und führt so die erforderli-
chenDruckbe wegungen aus .
Im Gegensatz zu dem al-
ten Mossoschen Modell und
zahlreichen Nachahmungen
und Verbesserungen gelan-
gen bei diesem Modell nicht
ein bzw. mehrere Gewichte
Fig. 1.
zur Anwendung, die an jedem Punkte der auszuführenden Druckbewegung
sich gleich bleiben, indem sie nämlich einfach an der Schnur gehoben werden,
sondern die Gewichte befinden sich an je einem Hebel, der direkt- durch die
Druckbewegung der Hand gehoben wird. Auf diese Weise wirkt nach den Hebel-
gesetzen das jeweilig angebrachte Gewicht kontinuierlich stärker, je größer der
Druck wird, und es ist somit das Prinzip der Feder auf die Verwendung von
Gewichten übertragen worden. An den beiden Hebelarmen können nun in der
vorliegenden Konstruktion je 1, 2 oder 3 Gewichte angebracht werden. In diesen
drei Fällen entspricht der zur Maximalleistung zu vollführende Druck einem
Gewicht von 20,35 oder 50 kg. Die Gewichte sind aus Blei hergestellt und können
leicht mit Hilfe von Stiften eingesetzt werden. In nebenstehender Zeichnung
sind zwei Gewichte angegeben.
^) Mit der freundlichen Genehmigung von Prof, Meumann wurden die Appa-
rate für das psychologische Laboratori\im in Hamburg hergestellt.
Zwei neue Ergographen. 337
Die Registrierung der Leistungen erfolgt mit Hilfe des auf der Walze sich
bewegenden Schreibers e, der bei jeder gegenseitigen Entfernung der Gewichte
entsprechend angezogen wird, während ihn beim Nachlassen des Druckes die
Feder / wieder in seine ursprüngliche Lage zurückzieht. Der Faden, der den
Schreibstift zieht, läuft über zwei kleine Rädchen an den beiden Schenkeln,
wodurch bewirkt wird, daß lediglich die jeweilige Stärke des Druckes registriert
wird, nicht aber eine irgendwie zufällige Bewegung des Armes. Da nämlich die
ganze Druckvorrichtung mit den Gewichten an dem Punkt g aufgehängt ist,
so kann ein Pendeln stattfinden, ohne daß dadurch ein Fehler in die Registrierung
eingeführt würde. Die Beweglichkeit der Achse kann aber insofern nur einen
Vorteil bedeuten, als es durch sie ermöglicht wird, daß die Vp. Arm und Hand
in eine möglichst bequeme Lage bringt.
Die Walze d, auf der der Schreibstift läuft, sowie die in der Figur vor ihr
befindliche Walze d^ und die Achse h werden nun durch das Uhrwerk i in langsame
Rotation versetzt, während man zwischen den beiden Walzen d und d^ und der
Achse h das zur Registrienmg dienende 15 cm breite Papierband laufen läßt.
Da das Uhrwerk, das übrigens bei einmaligem Aufziehen etwa 14 Stunde läuft,
auch während des Versuches vollkommen geräuschlos aufgezogen werden und
da man ferner den Papierstreifen beliebig lang wählen kann, so ist man in der Lage,
mit dem Apparat unbegrenzte Reihen von Druckleistungen aufzunehmen. Die
Schreibung ist noch dazu eine äußerst einfache, da sie mit Bleistift in
Kurvenform auf Papier erfolgt. Mit Hilfe einer einfachen Eichungs-
tafel oder auch mit Hilfe von entsprechenden auf dem Papierband
angebrachten Linien kann man die Höhe der jeweiligen Leistungen un-
mittelbar ablesen, während man ihre Länge und Qualität aus der Gestalt der
Kurven ersieht.
Eine Erweiterung dieses Modells ist augenblicklich im Bau. Bei ihr kommt es
hauptsächlich darauf an, die Schreibung möglichst umfassend zu gestalten.
Es ist nämlich nicht eine einfache, sondern eine vierfache Schreibung vorgesehen,
indem L die Gesamtkurven, 2. die Teilkurven aus dem Fingerdruck allein,
3. die Maximalleistungen für sich und 4. die mathematische Auswertung der
Gesamtkurven registriert wird. Erst wenn man auf solche Weise alle Seiten einer,
wenn auch scheinbar ganz elementaren Leistung, wie sie die der Druckbewegung
ist, berücksichtigt, wird man erwarten können, zu symptomatischen Vorgängen
zu gelangen, die für die uns interessierenden Erscheinungen der Arbeit, der
Übung, der Ermüdung, der Anpassung, der Einstellung, der Disposition usw.
bezeichnenden Wert besitzen.
Endlich sei noch bemerkt, daß der Apparat auch für einfache Fingerzug-
bewegungen zu benutzen ist. Zu diesem Zwecke schaltet man auf dem der Arm-
stütze zugekehrten Schenkel die Gewichte ganz aus; außerdem entfernt man
die beiden Handhaben an den oberen Enden der Schenkel und befestigt an
dorn dem Beschauer zugewendeten oberen Ende des anderen Schenkels die Finger-
hülse k.
Das zweite Modell ist in Fig. 2 dargestellt. Durch das Zusammendrücken der
beiden HandhaWn a und a^ wird die (auswechselbare) Feder 6 gedehnt, und zugleich
macht der vSchreiber c eine entsprechende Bewegung auf der Walze d. Diese
Walze d und die sie treibende rfj werden durch .in kU^nes Uhrwerk in Bewegung
z«itMhrift t. r>*<u<o«. Piyoholod«. 92
338
Zwei neue Ergographen.
gesetzt, das durch den Druck der Vp. erst aufgezogen wird und imstande ist,
etwa 15 Sekunden zu laufen, also reichlich lange, um die Pause von einem
Druck zum anderen, die
ja zumeist kaum über
5 Sekunden betragen wird,
auszufüllen. Auf der
Walze e befindet sich
der Vorratspapierstreifen,
der dann zwischen den
Walzen d und d^ hin-
durchgeführt wird und
sich auf der Walze /
selbständig aufwickelt,
nachdem er mit den Kur-
ven beschrieben ist. Die
Walzen e imd / bewegen
sich stets gleichzeitig und
in derselben Richtung,
so daß das Abwickeln des
^ Papiers, das Beschreiben
und das Aufwickeln gleich-
mäßig und ohne Störung vor
sich geht. Die Regulierung
des (übrigens geräuschlos
laufenden) Uhrwerkes er-
folgt durch den Wind-
flügel g. Der Apparat ist
äußerst handlich, fast ganz
aus Aluminium gebaut und
hat ein Gewicht von 450 g.
f
Fig. 2.
Beide Modelle von Ergographen werden von der Firma Polikeit (Halle a. Saale)
hergestellt (zu etwa 135 M. Mod. 1 und 15 M. Mod. 2) und befinden sich zurzeit
auf der Leipziger Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Der Arbeitsplan einer Versnchsschule ist von der Hamburger Schul-
synode vor kurzem der Oberschulbehörde überreicht worden. Diese Schule
soll die bisher schon übernommenen Einzelversuche miteinander ver-
einigen. Die Lehrziele des Volksschullehrplans bleiben bestehen. Nur der
Weg zu diesen Zielen soll ein anderer werden als der bisher lehrplanmäßig
bestimmte. Die Denkschrift gibt die allgemeinen Richtungslinien der ge-
planten Arbeit und Ausführungen über den ersten Leseunterricht, den Unter-
richt auf der Unterstufe, den freien Aufsatz und den Leseunterricht, den
Sprachunterricht in der Volksschule, den Zeichenunterricht. Die Schule
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 339
soll unter die unmittelbare Aufsicht der Behörda gestellt werden. Die
Lehrkräfte will die Schulsyuode vorschlagen. Mit der Schule soll eine
Elterngemeinschaft verbunden werden. Die Oberschulbehörde hat mit der
Ausgestaltung des Plans einen aus Mitgliedern der Behörde und Vertretern
der Schulsynode gebildeten Ausschuß beauftragt. (Saemann.)
Das psychologische Institut in Hamburg ist in seiner Einrichtung und
Arbeitsweise nicht überall so bekannt, daß Mißverständnisse und Irrtümer
über seine Organisation und Aufgaben ausgeschlossen wären. Es sei darum einiges
über die Lehr- und Forschungstätigkeit an dieser Stelle mitgeteilt.
Das psychologische Institut bzw. das philosophische Seminar ist ein staat-
liches Institut und dem allgemeinen öffentlichen Vorlesungswesen in Hamburg
angegliedert. Es wird von Professor Dr. Meumann geleitet, dem als Assistent
Dr. Anschütz und mehrere andere Herren als Volontärassistenten zur Seite stehen.
Die wissenschaftliche Tätigkeit findet in mehrfacher Weise ihre Ausübung:
in Vorlesungen, praktischen Kursen, Serainarübungen und in wissenschaftlichen
Einzelarbeiten.
Die Vorlesungen sind teils öffentliche, d. h. dem allgemeinen Besuch ohne
weiteres zugänglich, teils Fach Vorlesungen, die den privaten Vorlesungen an der
Universität entsprechen und deren Besuch einer Zulassung durch den Dozenten
bedarf. Das Nähere über die einzelnen Grebiete, auf die sich die Vorlesungen er-
strecken, ist aus dem Programm des Winter- und Sommersemesters 1913/14 er-
sichtlich, das sich am Schlüsse dieses Berichtes befindet.
Von besonderer Wichtigkeit sind die praktischen Kurse , die eine Einführung
darstellen, nicht nur in die Experimental-Psychologie, sondern auch in die Grenz-
gebiete, welche die Psychologie mit anderen Disziplinen hat. Es fanden z. B.
in jüngster Zeit die folgenden praktischen Kurse statt, von denen der Einführungs-
kurs in die experimentelle Psychologie jedes Semester gehalten wird: Prof.
Meumann: Intelligenzprüfungen; Dr. Bischoff: Psychophysik des Zentral-
nervensystems; Dr. Boden und Dr. Bisch off: Kriminalpsychologisches Kollo-
quium. An dem Einführungskurs in die experimentelle Psychologie beteiligten
sich in diesem Winter über 60 Herren und Damen.
Die Seminarübungen liegen auf allgemein-philosophischem und psycholo-
gischem Grebiet.
Für die wissenschaftlichen Einzelarbeiten stehen die Räume des
psychologischen Instituts (Domstr.8) zur Verfügimg. Die Zulassungsbedingimgen
zu solchen Einzelarbeiten sind dieselben wie in den entsprechenden Universitäts-
laboratorien, d. h. es wird die vorangegangene Teilnahme an einem Einführungs-
kurs in die experimentelle Psychologie verlangt. Annahmen wie die, daß nur aus-
gebildete Psychologen hier wissenschaftlich arbeiten könnten, beruhen auf einem
Irrtum. Auch der Anleitung sind die wissenschaftlichen Arbeiten gewidmet.
Von den psychologischen Vorlesungen und Übungen im Winter-
und Sommersemester 1913/14 mögen die folgenden genannt werden: Prof.
Dr. Meumann: Lektüre und Besprechung völkerpsychologischer Schriften;
Praktikum für Lehrer und Lehrerinnen über psTfhnlocischc Probleme; Übungen
zur Intelligenzprüfung; Experimentelle Aih I^ychologie und Päda-
gogik. Dr. Anschütz: Einführung in die oxpenin.'ntelle Psychologie —
22*
340 Kleine Beitrete und Mitteilungen.
Übungen zur Psychologie der Aufmerksamkeit. — Übungen zur Psychologie des
kindlichen Denkens, — Übungen über W. Wundts Psychologie. Dr. Bischoff:
Psychophysik des Zentralnervensystems. Dr. Bisch off und Dr. Boden:
Kriminalpsychologisches Kolloquium. Dr. Boden : Grundzüge der Religions-
psychologie. Dr. Kehr: Einführung in die Methode 'der Intelligenzprüfung an
Kindern.
Ein deutsches „Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht", wie ein
solches in den letzten Jahren von der Lehrerschaft und der Schul Verwaltung als
Sammel-, Arbeits- und Auskunftsstelle gewünscht wurde, soll in kürzester Frist
in Berlin geschaffen werden. Geh. Oberregierungsrat L. Pallat gibt darüber im
Deutschen Philologenblatt (Festnummer zum 6. Verbandstage des Vereins-
verbandes akad. gebildeter Lehrer Deutschlands in München) die folgenden
Auskünfte.
Der Deutsche Kaiser hat in seiner Eigenschaft als König von Preußen eine
Stiftung genehmigt, die den Namen ,, Jubiläumsstiftung für Erziehung und
Unterricht" trägt und ihren Sitz in Berlin hat. Ihr Zweck ist die Gründung
und der Betrieb einer zentralen Sammlungs-, Auskunfts- und Arbeitsstelle für
Erziehungs- und Unterrichtswesen. Dies Ziel soll erreicht werden durch Sammeln
von Material für die wissenschaftliche Forschung und praktische Beratung auf
dem Gebiete des deutschen und ausländischen Erziehungs- und Unterrichtswesens ;
weiterhin durch Erteilung von Auskünften auf Grund des vorhandenen Materials ;
durch Forschungen auf dem Gebiet der Jugendkunde und Jugend-
bildung und durch dauernde und wechselnde Ausstellungen, sowie durch den Aus-
bau von Sammlungen, Bibliotheken und Werkstätten zu theoretischer und
praktischer Arbeit über Jugendkunde, Jugendbildung und sonstige
pädagogische Angelegenheiten aller Art. Ferner richtet die Stiftung Vorträge,
Führungen und Kurse ein für Fachleute, wie auch für andere an der Erziehung und
Bildung der Jugend teilnehmenden Kreise. Die Verwirklichung eines wesent-
lichen Teiles dieses Programms ist bereits dadurch gesichert, daß die Unterrichts-
verwaltung und die Stadt Berlin sich bereit erklärt haben, in den Rahmen des
Instituts einzugliedern: 1. die der Stiftung bereits als Eigentum überwiesenen
Bestände der ehemaligen deutschen Unterrichtsausstellung auf der Weltaus-
stellung in Brüssel; 2. das Schulmuseum der Stadt Berlin; 3. die königlich preu-
ßische Auskunftsstelle für Schulwesen; 4. die naturwissenschaftlichen Fort-
bildungskurse für Oberlehrer, die demnächst zu einer Zentralstelle für natur-
wissenschaftlichen Unterricht ausgebaut werden sollen ; 5. den wissenschaftlichen
Kursus für Seminarlehrer in Berlin. Ferner wird sich voraussichtlich dem Unter-
nehmen die Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte an-
schließen.
Zur Unterbringung dieser Anstalten und der noch neu zu begründenden Teile
des Zentralinstituts ist der monumentale Bau bestimmt, den die Stadt Berlin
aus Anlaß des Regierungs Jubiläums des Kaisers unmittelbar bei der kgl. Univer-
sität und Bibliothek errichten wird.
Aber nicht nur durch räumliche, sondern auch durch innere Beziehungen soll
das Zentralinstitut in enge Fühlung mit der Wissenschaft gebracht werden.
Als Organe der Stiftung sind vorgesehen ein Vorstand aus sieben und ein Ver-
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 341
waltungsausschuß aus 23 Mitgliedern. Die Arbeitsausschüsse sollen so zu-
sammengesetzt werden, daß sie auch die Zentralstellen bilden können für die
wissenschaftliche Fortbildung der Lehrer. Wenn für diesen Zweck die Gre-
winnung maßgebender Universitätslehrer gelingt, so ist die Entwicklung dieser
Stellen zu Fortbildungsinstituten von hochschulartigem Charakter gesichert.
Die Gesamtheit dieser Institute, in deren Mittelpunkt die pädagogische Arbeits-
und Forschungsstelle stehen soll, wird die so lange ersehnte pädagogische
Akademie bilden. Das Institut soll die Interessen und Bedürfnisse aller Schul-
arten gleichmäßig berücksichtigen und gewissermaßen die höhere Einheit bilden,
in der die Erziehungs- und Bildungsbestrebungen unserer Zeit gesammelt, ge-
sichtet und vertieft werden. Im Sinne dieses Programms soll in dem Gebäude
des Instituts auch den fachwissenschaftlichen und anderen Vereinigungen inner-
halb der Lehrerschaft Raum und Gelegenheit zu regelmäßigen Sitzimgen, Vor-
trägen und Tagungen gewährt werden.
Ein interuationaler Kongreß für Volkserziehung und Volksbildung findet
in Leipzig vom 25. bis 29. September statt. Er stellt in den Mittelpunkt seiner
Vorträge und Beratungen die Erziehung und Bildung der Jugend-
lichen. Bestimmend für diese Wahl ist der Gedanke, daß das Lebensalter vom
Beginn der Pubertät bis zu ihrem Abschluß einen eigenen Kreis von pädagogischen
Problemen bietet, die weder mit denen der eigentlichen Kindererziehung, noch
mit denen der Volksbildung überhaupt zusammenfallen. An der Spitze des
Programms steht die Anthropologie des Pubertätszeitalters, wofür
Professor Stanley Hall (Worcester), einer der besten Kenner dieses Themas,
als Redner gewonnen worden ist. Auf anthropologischen Grundlagen bauen
sodann die weiteren allgemeinen Vorträge fort. Am Eingang steht das umfang-
reiche Gebiet der körperlichen Erziehung mit seinen zahllosen Verzwei-
gungen: Turnen, Spiel, Sport und militärische Vorschulung; Generalfeld-
marschall v. d. Goltz wird das neuere deutsche System als Redner vertreten.
Das zweite Hauptgebiet bildet die moralische Erziehung; hier sind für
diese Abteilung Vorträge von Professor Dr. Friedrich Wilhelm Förster und dem
früheren französischen Unterrichtsminister Buisson angekündigt. An dritter
Stelle wird ein orientierender Überblick über die intellektuelle Bildung
von Professor Dr. Ernst Meumann geboten werden. Endlich sollen die psycho-
logischen und pädagogischen Spezialprobleme der weiblichen Jugend ge-
sondert behandelt werden ; als Referentin für dieses GJebiet hat Dr. phil. Gertrud
Bäumer zugesagt. Der Kongreß ist dann weiter in folgende Sektionen eingeteilt:
L Das Buch der Jugendlichen. 2. Vortrags wesen, Volkshochschulen, Settlements.
3. Bildende Kunst, Museen, Theater und die Jugendlichen. 4. Der Kinematograph
und die Jugendlichen. 5. Körperliche Jugendpflege, Leibesübungen und Sport.
6. Fürsorge für die gefährdeten und verwahrlasten Jugendlichen. Zu dem Ehren-
präsidium des Kongresses, dem Privatdozent Dr. Max Brahnin Leipzig vor«
steht, gehören unter anderen die Unterrichtaminister sämtlicher großen euro-
päischen Kulturstaaten.
Nachrichten. 1. In dem „wissenschaftlichen Ferienkursus in
München für Lehrer und Lehrerinnen" (15.— 28. Juni 1914) lesen
342 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
u. a. Prof. Dr. E. v. Aster über Fichte, Privatdozent Dr. A. Fischer
über Grundzüge einer Psychologie des Entwicklungsalters, Oberstudienrat
Dr. G. Kerschensteiner über die wissenchaftlichen Grundlagen des erziehe-
rischen Unterrichts.
2. 'Die Internationale Gesellschaft für Sexualforschung ver-
anstaltet am 31. Oktober, 1. und 2. November d. J. in Berlin einen ersten
Kongreß, der das gesamte Gebiet der wissenschaftlichen Sexualforschung
umfassen und voraussichtlich in eine biologisch -medizinische, eine sozial-
und kulturwissenschaftliche, eine juristische (einschließlich der Kriminal-
Anthropologie und -Psychologie) und eine philosophisch-psychologisch-päda-
gogische Sektion geteilt wird.
3. Der Zentralausschuß für Volks- und Jugendspiele wird vom
13. bis 22. Juni d. J. in Altona seinen 15. Kongreß abhalten.
4. Die deutsche Unterrichtsausstellung in Berlin beabsichtigt, in
nächster Zeit eine Sonderausstellung zu veranstalten, die in erster
Linie veranschaulichen soll, wieweit der Gedanke der Selbstbetätigung
der Schüler innerhalb des naturgeschichtlichen und biologischen
Unterrichtes Platz gegriffen hat. Abgesehen von einer Zusammenstellung
solcher Lehrmittel, die von Lehrern ersonnen oder hergestellt sind, wird
erstrebt, über die mannigfaltigen Schülerarbeiten, die im naturgeschichtlichen
Unterricht oder im Anschluß an diesen entstanden sind, einen möglichst
vielseitigen Überblick zu geben. Dabei kommt es weniger auf Einzel-
leistungen an, als vielmehr auf die Gesamtleistungen einer Klasse. Es
kommen in Betracht: 1. Schülerherbarien; 2. Naturkundliche Zeichenhefte;
3. Plastilinaarbeiten; 4. Zoologische und botanische Präparate (Blutanalysen,
Insektenzergliederung); 5. Biologische Präparate; 6. Biologische Naturauf-
nahmen; 7. Vivarien und Laboratorien.
5. Der Geschäftsführende Ausschuß des Bundes für Schulreform
hat beschlossen, den 4. Deutschen Kongreß für Jugendbildung und Jugend-
kunde in Köln vom 1. bis 3. Oktober d. J. zu veranstalten. Die Haupt-
themen des Kongresses lauten:
I. Das Kind vor dem Eintritt in die Schule: seine Entwicklung und Er-
ziehung und ihre Bedeutung für die Reform der Schularbeit.
II. Jugendbewegung und Erziehungsreform.
In einer öffentlichen Versammlung wird das Thema „Schulreform und
Werkbund" behandelt werden.
In der Werkbund aus st eilung wird der Bund für Schulreform einrichten:
1. ein allen Anforderungen der Hygiene und Pädagogik entsprechendes
Schulzimmer,
2. ein Kinderzimmer nach den Angaben der Frau Dr. Montessori.
Literaturbericht.
Hermann Ebbinghaus, Abriß der Psychologie. 5. Auflage, durchgesehen
von Prof. Dr. Ernst Dürr. Leipzig 1914. Verlag von Veit u. Co. 208 S. geb. 4 M.
Die psychologischen Werke von Hermann Ebbinghaus waren nach seinem
Tode in die Hände von Prof. Dürr gelegt, der mittlerweile nun in frühem Alter aus
Literaturbericht. 343
"X
der Arbeit an seinen eigenen Schriften gerissen worden ist. An dem „Abriß", der
innerhalb des Jahres 1908 sofort zwei Auflagen erlebte, ist von dem Nachfolger
nur behutsam geändert worden, so daß sich die 3. bis 5. Auflage von ihren Vor-
gängern im wesentlichen nur durch unbedeutsame sprachliche Änderungen, kleine
Textzusätze und Literaturergänzungen unterscheiden. Diese Erhaltung der ersten
Gestalt — mag dadurch auch eine Überholung durch die heute so rasch sich fort-
entwickelnde psychologische Forschung eintreten — muß darum besonders er-
wünscht sein, weil die seit vorigem Jahre vorliegende Vollendung der „Grundzüge"
durch Dürr keinesfalls im Geiste Ebbinghaus' geschehen ist und wohl ja auch kaum
geschehen konnte. Bei seinen didaktischen Vorzügen, bei der Einheitlichkeit und
Einfachheit seiner Grundauffassungen auch in der Darstellung der höchsten seelischen
Leistungen und bei der nahe ans Künstlerische rückenden Darstellungsweise wird
der „Abriß", mag er auch stellenweise veralten, beim Verzicht auf die Methodik
der Psychologie noch eine gute Weile eine brauchbare Einführung bleiben.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Ernst Meumann, Prof. der Philosophie am allgemeinen Vorlesungswesen
in Hamburg, Intelligenzund Wille. Zweite umgearbeitete und vermehrte Auf-
lage. Leipzig 1913. Verlag von Quelle und Meyer. 361 S. Preis: geh. 4,60 M.,
geb. 5,20 M.
Es dürfte Meumann peinlich sein, wenn ich in seiner eigenen Zeitschrift
meiner hohen Bewertung seines Buches „Intelligenz und Wille" beredten Ausdruck
gäbe. Es mag darum nur eine ganz kurze Inhaltsangabe überzeugen, wie die Schrift, die
Wundt für nicht zu gering hielt, sich darüber in einer großen Abhandlung zu erzürnen,
in ihrer Gedankenwelt auch für die Grundfragen der Pädagogik von klärendem Werte
ist. Mit Recht wird das sehr lebendig geschriebene Buch deshalb auch von der jungen
Lehrerschaft gern bei der Vorbereitung auf die zweite Prüfung durchgearbeitet.
Auch zieht man es vielfach im Seminarunterricht zur Vertiefung der psychologi-
schen und pädagogischen Lehren heran.
Meumann ist der Überzeugung, daß eine hervorragende Intelligenz und ein
kraftvoller, ausdauernder Wille die beiden Grundmächte seien, auf deren Ent-
faltung, Vervollkommnung und Wirksamkeit alle menschliche Größe und aller
Fortschritt des einzelnen und der menschlichen Kulturgemeinschaft beruhen, und
daß in ihrem Zusammenwirken die Kraft der großen Persönlichkeit die Wurzel
habe. Seine Schrift, indem sie die Erkenntnis dieses Probleragebietes vertieft,
gibt so einen wichtigen Beitrag zu der gerade in tmserer Zeitlage wichtigen
Wissenschaft vom persönlichen Leben.
Einleitend wird versucht, die psychologische Natur und die praktisch - tele-
ologische Bedeutung der Intelligenz und des Willens zu bestimmen. Es folgt
eine ausführliche Darstellung über die materialen und formalen Bedingungen der
Intelligenz. Dabei erfahren die Erscheinungen der Aufmerksamkeit und der
Übung und Ermüdung eine in die Tiefe gehende Behandlung, und es werden
im Gedächtnis, in der Phantasie und im Denken jene Begabungsseiten, die gemein-
hin als die Grundlage der komplexen intellektuellen Funktionen gelten, in ihrem
Verhältnis zur Intelligenz gründlich untersucht. Vom Gedächtnis wird erwiesen,
wie es die Entfaltung der Intelligenz teils hemmt, teils fördert, im allgemeinen
ihr aber hinderlich ist. Dagegen erheben sich nach Meumanns Darstellung je auf
der Grundlage der Phantasie und des Denkens zwei eigenartige Intelligenztypen,
von denen die Denkintelligenz mit ihrer letzten Stufe des Genies als der höhere
bewertet wird.
Im zweiten Teile wendet sich dann die Schrift der Untersuchung de.s Willena
zu. Sein Wesen wird im Gegensatz zur Wundt'schen Affekttheorie in der Art
erfaßt, wie sich Vorstellungen und Gefühle in Handlungen umsetzen. Einen
einfachen Willensvorgang, der als drittes Element neben reine Empfindung und
Gefühl träte, lehnt Meumann damit ab. Ist ho der Wille ein komplexes psychi-
sches Geschehen, in dem sich Motiv und Handlung verknüpfen, so vermag die
Persönlichkeit durch die Stiftung solcher Assoziationen ihr Wollen zu beherrschen.
344 Lit-eratiorbericht.
Das in. E. für die Pädagogik besonders wertvolle Kapitel „Wünschen und Handeln"
analysiert in dieser Grundaiiffassung die verschiedensten Erscheinungen des prak-
tischen Willenslebens. Die Erörterung der Begriffe Charakter und Temperament
führt hierauf zu differentialpsychologischen Betrachtungen. Ihren Gipfel erreicht
alsdann Meumanns Untersuchung in der Darlegung der Verhältnisse zwischen
Intelligenz und Willen. Als Ideal wird erkannt, daß die Intelligenz über dem
Willen thront: „Wenn es überhaupt einen Geistesfortschritt der Menschheit gibt,
so kann er nur darin bestehen, daß die Herrschaft der Intelligenz über den
Willen sich immer mehr verbreitet . . . niemals aber darin, daß brutale Willens-
stärke, die mit niedriger Intelligenz gepaart ist, an Zahl ihrer Vertreter zunimmt.
. . . Das Ideal unserer Persönlichkeit liegt nicht in einem über die Intelligenz
herrschenden oder einem relativ intelligenzlosen Willen, sondern vielmehr darin,
daß eine hohe, einsichtige, weitblickende Intelligenz, eine alle Ziele und Folgen
unserer Handlungen überblickende Intelligenz, den Willen leitet." Dabei erlangen
nach Meumanns Meinung die Gefühle „nur als Diener des Willens" neben der Intelli-
genz eine wichtigere Bedeutung für das Leben. Das Buch klingt schheßlich aus
mit Folgerungen der verfochtenen Anschauung für die Fragen der Weltanschauung.
Es führen diese philosophischen. Erörterungen zu einem Entscheid zu Ungunsten
des reinen Voluntarismus.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. phil. P. Gabins, Denkökonomie und Energieprinzip. Verlag von C,
Ciu-tius. Berlin W. 1913. 208 Seiten. 4 M.
Den Titel rechtfertigt der Versuch des Verfassers, den logischen Kern der beiden
Hauptsätze des Energieprinzips, von der Konstanz der Kräfte und des kleinsten
Kraftmaßes, auch auf die psychische Erscheinungswelt prinzipiell auszudehnen und
damit die Fülle der wissenschaftlichen Arbeitsmethoden und Probleme einheitlich
zu ordnen und in ihrer wechselseitigen Bedingtheit zu verstehen, d. h. dieses Prinzip
denkökonomisch nutzbar zu machen. — Nimmt man an, daß die Summe unserer
psychischen Leistungsfähigkeit konstant, also begrenzt ist, so folgt, daß einer Mehr-
leistung auf irgendeinem Gebiete unserer psychischen Tätigkeit notwendig eine
äquivalente Minderleistung auf einem andern entspricht, vorausgesetzt, daß alle
verfügbare Energie überhaupt in Anspruch genommen wird. In andern Worten:
Eine Intensität nach der einen Seite hat eine Negation nach der andern zur Folge.
Der logische Kern des ersten Hauptsatzes also lautet: Eine Leistungsfähigkeit auf
Kosten der andern. Im engen Zusammenhang mit dem L steht der 2. Hauptsatz.
Denn da wir bestrebt sind, dem jeweiligen Gegenstand unseres Interesses ein Maxi-
mum von Energie zuzuführen, so sorgen wir für die Freiwerdung einer solchen am
besten dadurch, daß wir von allem übrigen möglichst viel negieren und so mit dem
geringsten Kraftmaß eine möglichst breite Beziehvmgs- und Geltungsfläche für
unsern Gegenstand gewinnen. — Nun ist der Dualismus eine Ureigentümlichkeit
der Phänomena; alle Vorstellungen nämlich haben eine anschauliche und begriff-
liche Seite ; ihre begriffliche Seite aber läßt wieder eine mehr quantitative oder quali-
tative Betrachtungsweise zu, so daß wir vor der Tatsache der entgegengesetztesten
Formen und Methoden der Wissenschaften überhaupt und deren Widerstreit und
Verquickung innerhalb einer einzelnen stehen.
Aber fast ebenso eigentümlich ist dem Menschengeiste die Tendenz, diesen Dualis-
mus der Erscheinungswelt monistisch (= denkökonomisch?) zu lösen; und je nach
Anlage und Beruf des Betrachters geschieht dies auch merklich nach einer der beiden
Seiten der Dualismen. Obwohl jede ihrer Seiten, wenn man das Ding wahrhaft
erfassen will, gleichmäßig berücksichtigt gehört, negieren wir mehr oder weniger
von der einen oder andern, und zwar in einem gleichwertigen Verhältnis; d. h. es gilt
hier eben der Satz : Eine Leistungsfähigkeit auf Kosten der andern. Alles monistische
Streben bleibt aber immer nur Ideal ; denn die am meisten quantitative Betrachtungs-
weise hat einen notwendigen Rest von qualitativen Werten und umgekehrt, wie
auch die anschaulichste Demonstration mit Begrifflichkeiten arbeitet.
Die Tatsache der Geltung dieses Satzes : Eine Leistungsfähigkeit auf Kosten der
Literatlirbericht. 345
andern ! sucht der Verfasser auf den verschiedenen Gebieten desWissens nachzuweisen.
Zugleich will er aber auch eine Systematik einerseits der Metaphysik, wo die vor-
handenen und konunenden Systeme nach hauptsächlich den oben genannten Grund-
dualismen zusammengeordnet werden, vor allem jedoch eine Systematik der spe-
zielleren Wissenschaften geben und ordnet diese zwischen die beiden Pole der quanti-
tativen und qualitativen Betrachtungsmethode, hier zu äußerst die Mathematik, dort
die Historik.
Es sind zwei Tendenzen im Buche. Erstens, die Geltbarkeit des Energieprinzips
auf psychischem Gebiete zu beweisen und die Konsequenzen daraus zu entwickeln,
\ind zweitens, die bereits geltende Anwendung auf physischem Gebiete mit seiner
neuen Anwendung zu einer universalen, das Physische wie das Psychische gleich-
mäßig umfassenden Bedeutung zu verbinden und so ein einheitliches, ökonomisches
Weltbetrachtungsprinzip zu erhalten.
München. Josef Herkomer.
Pädagogik, Psychologie und Philosophie. Kritischer Literaturbericht.
L Abteilung des Pädagogischen Jahresberichtes von 1913. 66. Jahrgang. Heraus-
gegeben von Paul Schlager. Leipzig^l914. Friedrich Brandstetter. 73 S. 1.20 M.
Neben anderen äußeren Vorzügen hat der ,J*ädagogische Jahresbericht", seit
er unter der Leitung Paul Schlagers steht, auch die Pünktlichkeit seines Erschei-
nens vor den anderen Revuen gleicher Art voraus: Er lag diesmal bereits zu
Ostern vor.
Die uns hier interessierende Abteilung erscheint als eine der besten des statt-
lichen, gut gegliederten Bandes. Der theoretischen Natur der behandelten Gebiete
gemäß ist sie von Hochschullehrern bearbeitet worden und zwar von Gelehrten,
die zugleich in der praktischen Pädagogik eine gute Sa<;hkennerschaft aufweisen.
Den Bericht über die Pädagogik hat Dr. Paul Barth, Prof. an der Uni-
versität Leipzig, übernommen. Seine Literaturschau zeichnet sich aus durch
Sachlichkeit, gute Gliederung und Gleichmäßigkeit in der knappen inhaltlichen
Kennzeichnung der angeführten Schriften. In der Einleitung redet er ein kräf-
tiges, leider nur zu berechtigtes Wort gegen das Übel, daß die Lehrerschaft bei
der Vorbereitung zur zweiten Prüfung vielfach aus Leitfäden und Schwärtchen
auf bequeme Art ihr Wissen bezieht — übrigens oft auch auf Empfehlung der
Behörden — , statt in wissenschaftlichen Werken aus den Quellen zu schöpfen.
„Mit Recht verlangt man, daß der Lehrer eine Persönlichkeit werde. Wie kann
er dazu werden, wenn er nicht selbständig eine Weltanschauung erworben hat?
Wie aber ist dies wiederum möglich ohne eigene Versenkung in die Probleme der
Wissenschaft? Wer alles aus zweiter Hand hat, durch den Leitfaden, der bleibt
unmündig. Der Leitfaden kennt keine Probleme. Aber erst, wer Probleme sieht
und von sich selbst aus löst, der ist mündig geworden. Darum sollte die Lehrer-
schaft selbst wünschen: Die &n sich sehr verdienstlichen und sehr nützlichen
Leitfäden in die Seminare, für den jungen Lehrer aber die freie Wissenschaft, die
ihn selbständig macht, aber zugleich bescheiden im Bewußtsein, wie weit wir vom
Ideal des Wissens und Könnens entfernt sind. Und die Behörden sollten der
Lehrerschaft darin folgen."
Daß die Hochschulpädtagogik eine Sonderdarstellung in sehr eingehender
Weise erfährt, will im Rahmen des Pädagogischen Jahresberichts nicht gerecht-
fertigt erscheinen. Es ist dieser Abschnitt, der sich auf die Jahre 1912 und 1913
bezieht und der auch sehr Fernliegendes und Unbedeutendes heranzieht, von dem
wohl besten Sammler und Kenner der hochschulpädagogischen Literatur, Dr. Hans
Schmidkunz-Berlin, verfaßt worden.
Die Besprechungen, die |Prof. Dr. Ernst Meumann über psyohologisohe
Werke bietet, interessieren besonders dadurch, daß in ihnen zum Teil die Infor-
mation über den Inhalt verbunden ist mit der kritischen und manchmal sehr tem-
peramentvollen Stellungnahme des Referenten jund daß sich auch in diesen Klein-
arbeiten die von Meumanns Schriften her bekannte Kunst gefälliger und fließen-
der Darstellung zeigt. Das Gesamtbild der psychologischen Literatur des Jahres 1913
346 Literaturbericht.
wird in einer voranstehenden allgemeinen Überschau durch die Hervorhebung von
drei „Ereignissen" gekennzeichnet: Es brachte die Berichtszeit die beginnende
Auseinandersetzung zwischen dem Hauptvertreter der Assoziationspsychologie
— G. E. Müller in Göttingen — und der neu aufgekommenen Psychologie des
Denkens, die von Külpe und seinen Schülern vertreten wird; es gewann sodann
die Psychologie eine immer weitere Anwendung auf die verschiedenartigen Lebens-
und Wissenschaftsgebiete, und endlich geriet die immer mehr vordringende
Psychoanalyse in den Kampf mit den Vertretern der Jugendkunde.
Wie schließlich Prof. Dr. Max Frischeisen-Köhler, Privatdozent an der
Universität Berlin, die Bibliographie der Philosophie behandelt hat, gibt im ganzen
ein gutes Bild über die Richtungen und den Grad des heute neu erwachten
philosophischen Interesses und zeigt die Fülle der einander widerstrebenden
Lehren. —
Im Blick auf die vielerlei äußeren und inneren Schwierigkeiten, die sich der
Herstellung des „Pädagogischen Jahresberichtes" entgegenstellen, wird man in
dem Buche, das sonst große Sorgfalt der Bearbeitung erkennen läßt, über kleine
Lücken und Unzulänglichkeiten gern wegsehen. Daß aber z. B. die „Zeitschrift
für päd. Psychologie", die im Bande des vorangehenden Jahres als „führendes
Organ" bezeichnet wurde, übergangen ist, kann dem Herausgeber, sei es nun Ver-
sehen oder Absicht, kaum entschuldigt werden.
Zittau. Paul Ficker.
Dritter Deutscher Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde
zu Breslau am 4., 5. und 6. Oktober 1913. Der Unterschied der Geschlechter
und seine Bedeutung für die öffentliche Jugenderziehung. Heft 8
der Arbeiten des Bundes für Schulreform. Leipzig 1914. Verlag B. G. Teubner.
176 S. Preis 4 M.
Nachdem in dieser Zeitschrift ein sehr ausführlicher und teilweise kritischer
Bericht von Otto Scheibner über die bedeutungsvolle Breslauer Tagung des
Bundes für Schulreform gegeben worden ist, erübrigt sich hier eine ausführ-
liche Inhaltskennzeichnung des uns nunmehr (wiederum erst spät) vorliegenden
offiziellen Berichtes der Kongreßverhandlungen. Es sind in ihm ebensowohl die
Vorträge wie die Ansprachen und Debatten zumeist wörtlich wiedergegeben.
Daß die Thesen von Prof. E. Meumann zu seinem angekündigten, aber wegen
persönlicher Verhinderung auf dem Kongreß nicht dargebotenen Ausführungen
über die Probleme der Koinstruktion aus dem Vorbericht mit aufgenommen wor-
den sind und daß die Schriftleitung Dr. A. Fischer in München gebeten hat,
die von ihm während der Verhandlungen kurz dargelegten Forderungen in einer
besonderen Arbeit für den Gesamtbericht ausführlich zu begründen (womit nun
nachträglich einige in Breslau vernachlässigte Gedankengruppen noch zu ihrem
Rechte kommen), bedeutet eine glückliche Bereicherung des Bandes, der gegen-
über seinen Vorgängern in ganz besonderem Maße das psychologische mit dem
pädagogischen Interesse verbindet. Für die Geschichte der psychologisch-päda-
gogischen Bewegung werden die Kongreßberichte des Bundes für Schulreform die
Bedeutung eines Quellenwerkes gewinnen.
Zittau. Paul Ficker.
Fr. Jodl, Das Problem des Moralunterrichts in der Schule. Zwei Vor-
träge. Frankfurt a. M. 1913. 45 S. Preis 1.— M.
Die beiden Vorträge des vor kiirzem leider verstorbenen Wiener Philosophen
und Psychologen sind auf der Berliner Konferenz des deutschen Bundes für weltliche
Schule und Moralunterricht gehalten worden (vom 29. Sept. — 2. Okt. 1912; man vergl.
auch den Bericht über die Verhandlungen, von Penzig herausgegeben unter dem Titel
„Die Harmonie zwischen Religions- und Moralunterricht", Berlin 1912). In leben-
diger Darstellung charakterisiert Jodl im ersten Vortrag die Hauptprobleme
jenes Moralunterrichtes, der zwar nicht religionsfeindlich, aber religionsfrei
oder zum mindesten konfessionsfrei auf den allgemeinen, rein menschlich-ethischen
Literaturbericlit. 347
Anschauungen sich aufbaut. Die gegenwärtige Lage dieses Problems bringt es mit
sich, daß Jodl zunächst den Wert eines solchen Moralunterrichtes und damit zu-
gleich sein Existenzrecht im Gregensatz zur ethischen Unterweisung und Erziehung
des heutigen konfessionellen und vorwiegend religionsdogmatischen und religiös-
erbaulichen Religionsunterrichts lebhaft diskutiert. Dazu kommt freilich noch eine
persönliche Note; denn Jodl war ein eifriger Anhänger der Bestrebungen der Gesell-
schaft für ethische Kultvu-. Sodann skizziert der Vortragende die für diesen Moral-
unterricht leitenden ethischen Begriffe und Prinzipien in ilirem Zusammenhang
sowie die wichtigsten sittlichen Lebensgebiete, in die der L^nterricht einzuführen hat.
Der Schluß bringt bereits didaktische Ausführungen, z. B. wie man vermeidet, daß
der Schüler des Moralunterrichts überdrüssig wird (der Moralunterricht muß „eine
Feierstunde sein"), warum die Forderung des weltlichen Moralunterrichts als Grund-
lage idealer Lebensführung genau so für die Mädchenschule wie für die Knabenschule
gilt, welche besonderen Anforderungen die schwierige Aufgabe dieses Unterrichts
an den Lehrerstand stellt, wie diese organisatorischen Reformen zwar nur bei einer
\'ölligen Befreiimg der Schule von der Kirche möglich werden, aber doch nicht als
Feindschaft gegen wirklich vorhandenes religiöses Leben gedacht sind (als mögliche
Lösung des Verhältnisses zwischen dem Religionsunterricht und dem weltlichen
Unterricht schwebt Jodl die im englischen Schulgesetz von 1906 durchgeführte vor).
Der zweite Vortrag erörtert dann das Problem der Lehrbarkeit der Moral.
Jodl bestimmt hier nicht nur den lehrbaren Gegenstand des Unterrichts (Verständnis
dessen, was gut heißen darf, und Einsicht in die Gründe, welche die verschiedene
ethische Wertschätzung bedingen), sondern weist auch auf die im Bereich des Schul-
lebens liegenden Erlebnisformen hin, welche die individual- und sozialethische Willens-
bildung ztun mindesten vorbereiten und einleiten. Im letzten Grimde ist die Moral
als Einsicht und alsVerhalten deshalb der Vermittlung fähig, weil sie in der menschlichen
Natur selbst angelegt ist; natürlich kann darum auch von einer absoluten Sicherheit
des Erfolgs in jedem Falle keine Rede sein.
Nur allgemein konnte hier angedeutet werden, was die beiden inhaltsreichen Vor-
träge zusammenfassend behandeln; ihre Lektüre wird jedem ein Genuß sein und reiche
Anregung bieten. Die Notwendigkeit einer gründlichen Reform dieser Seite des
Unterrichts und der Erziehung zugegeben, kann man natürlich immer noch einen
zweiten Weg der Reform — neben dem von Jodl gezeichneten — für erstrebenswert
halten und ihn vielleicht sogar als den besseren ansehen, nämlich den, der den Reli-
gionsunterricht zugleich so zu reformieren sucht, daß er in einer natürlichen Ver-
bindung mit dem ethischen Unterricht bleiben kann. Aber man wird zugeben müssen
— und man kann dies geradezu zum Kriterium eines sachlichen und autonomen
Denkens in diesen Fragen machen — , daß in der von Jodl gezeichneten Richtung
ein bedeutungsvolles pädagogisches Ideal liegt. — In der Willenserziehung
erfährt die inhaltlich-positive Seite der Willenskultur, das Erfüllen des Bewußtseins
mit wertvollen Zielen, m. E. eine falsche und zwar verkehrte Einschätzung (S. 44) ;
denn wo es die sittliche Bildung nicht gerade mit recht Primitivem zu tun hat —
leider ist man in der Schule zumeist noch auf dieses Niveau eingestellt — , da dürfte
gerade in der inhaltlich-positiven Willenskultur eines der wichtigsten Probleme liegen,
das richtig gelöst die Bedeutung der formal- und inhaltlich-negativen Seite der
Willenserziehung, die Ausbildung von Hemmungen, auf ein Minimum herabdrückt.
Tübingen. Gustav Deuchler.
Schriften dos Deutschen Fröbelvorbandes, Heft 2: Über Einrichtung von
Volkskindergärten. 64 Seiten, mit Abbildungen. Preis 1 M. Zu beziehen
von Frl. G. Pappenheim, Berlin SW., Kloinbeerenstr. 26.
An mehreren Beispielen wird die äußere Einrichtung moderner, gut geleiteter
Kindergärten dargelegt, und an der Hand von Kostenaufstellungen werden die zur
Begründung und Erhaltung derartiger Anstalten nötigen Mittel berechnet. Lage*
plane und hübsche Abbildungen erläutern den Text. Ein Kapitel erzählt von dem
Leben im Volkskindergarten und von seinen erziehlichen Zwecken. Die Broschüre
soll einerseits den in der Kindergartenarbeit WirkmHon bei der Begründung neuer
348 Literaturbericht.
Anstalten praktische Hilfe leisten, andererseits will sie auch für die, denen dies
Gebiet noch fremd ist, ein Orientierungsmittel sein.
Berlin. Nelly Wolffheim.
Karl Cornelius Rothe, Sonderelementarklassen für sprachkranke
Kinder. Mit einem Begleitworte von Dr. med, Emil Fröscheis. München 1914.
Fr. Seybold's Verlagsbuchhandlung. 48 S. 1 M.
Die aus dem Titel der kleinen Schrift erkenntliche organisatorische Forderung
ist zum ersten Male — allerdings vorerst nur als pädagogischer Versuch gedacht —
von der Wiener Schulbehörde erfüllt worden. Begründet wird der Vorschlag des
Verfassers damit, daß die Zahl sprachkranker Elementarschüler — besonders
unter den aus ärmeren Volkskreisen stammenden — erheblich groß ist, daß die
Sprachstörungen mit besonderen psychischen Erscheinungen verbunden sind, die
eine besondere erziehliche Beeinflussung erfordern, daß ferner eine Behandlung
der Leiden im Anfangsstadium erfolgreicher ist, als der in manchen Städten unter-
nommene Versuch von Heilkursen für ältere Schulkinder, daß schließlich die Be-
hebung von sprachlichen Störungen in der Regel eine längere Zeit erfordert. Zudem
erfährt — das ist ein nicht unwichtiger Gedanke — durch die Einrichtung solcher
Sonderklassen der Unterricht an den sprachgesunden Kindern eine Entlastung von
hemmenden Schülern. Für die Gestaltung des Schullebens in seiner heilpädago-
gischen Klasse gibt der Verfasser nach den verschiedensten Richtungen hin prak-
tische Winke. So zeigt er den Akt der Schüleraufnahme, beschreibt den Unter-
richt und erteilt Anweisungen für die Beurteilung der Erfolge und für die
Ergreifung prophylaktischer Maßnahmen. Daß der Schrift eine Übersicht über die
Sprachentwicklung und die Sprachstörungen im Kinderalter vorangestellt ist, wo-
rin besonders das Krankheitsbild, die Grundlagen und die Therapie des Stotterns
behandelt werden, und daß sich am Schlüsse eine praktische Anleitung zur Unter-
suchung der Sprache bei Schülern findet, macht die sorgfältig gearbeiteten Ab-
handlungen über ihren heilpädagogischen Gegenstand hinaus für alle Lehrer der
jüngeren Jahrgänge wertvoll.
Leipzig. Otto Scheibner.
E. Scholz, Schulinspektor, Prof. Dr. W. Rein. Eine kurzgefaßte Darstellung
seines Lebens und Wirkens. Mit einem Bilde Reins. Leipzig 1914; Verlag von
K. F. Koehler. 84 S. 8«. 1.25 M.
Die Bedeutung Reins für den Ausbau der wissenschaftlichen und praktischen
Pädagogik auf Herbartischer Grundlage ist auch von der wissenschaftlichen Gegner-
schaft stets richtig und willig anerkannt worden. Eine Darstellung von dem schlichten
Lebensgange und der in die Breite gehenden, das Ganze der pädagogischen Dis-
ziplin umspannenden Lebensarbeit des Jenaer Professors der Pädagogik wird dar-
um nicht bloß in der Gemeinde der Herbartianer, die auch heute noch — besonders
irn Auslande — ihre Wachstumsgrenze kaum erreicht haben dürfte, eine freund-
liche Aufnahme finden. Freilich muß das fließend und klar geschriebene Schrift-
chen von Scholz an der Schwelle mit dem Vermerk hingenommen werden, daß
hier ein begeisterter und dankbarer Jünger das Werk des Meisters zeigt und daß
so eine kritische Würdigung von vornherein nicht zu erwarten ist.
Leipzig, Otto Schei bner.
Schulwartkatalog. Ein Lehr- und Lemmittelverzeichnis. Mit zahlreichen Ab-
bildungen und vielen bunten Beilagen. Leipzig 1914. Verlag F. Volckmar.
Obwohl für geschäftliche Zwecke bestimmt, ist dieser Band von 1200 Druck-
seiten nicht ganz ohne wissenschaftliche Bedeutung. Unter der Schriftleitung von
Prof. Dr. Job. Kühnel sind nämlich den achtzehn Abteilungen des Katalogs kleine
didaktische Studien, verfaßt von trefflichen Kennern dieser Teilgebiete, voran-
gestellt worden. Sie erörtern auf zumeist wissenschaftlicher Grundlage das Problem
der Lehr- und Lernmittel innerhalb der einzelnen Fächer und zeigen hier und
da auch Wege zur Verwirklichung der neueren didaktischen Forderungen, be-
Neue Zeitschriften und Sammlungen. 349
sonders der arbeitsunterrichtlichen Reformwünsche. Gegen die früheren Aus-
gaben des Katalogs ist die Abteilung ^Psychologie und Pädagogik" hinzu-
getreten, für die Otto Scheibner den einleitenden Text geschrieben hat.
Zittau. Paul Ficker.
Friedrich Beck, Americana Paedagogica. Bericht über eine Studienreise
na<;h den V^ereinigten Staaten von Nordamerika. Leipzig 1912. J. Klinkhardt.
139 Seiten.
Zu den Schriften von W.Müller (Amerikanisches Volksbildungswesen. Jena
1911, E. Diederichs), G. Kerschensteiner („Lehrmethoden in Amerika", „Ameri-
kanische Volksschule", erschienen in den Süddeutschen Monatsheften 1911/12), von
E. Perry (Die amerikanische Universität, Teubner) und F. Kuypers (Volksschule
und Lehrerbildung der Vereinigten Staaten, Teubner. 150. Bd. der Sammlung: Aus
Natur und Geisteswelt), welche über die Eigenart der Organisation des Erziehungs-
wesens der Vereinigten Staaten von verschiedenen Ausgangspunkten her und auf
verschieden breiter Basis orientieren, treten die frischen Schildenuigen F. Becks als
eine willkommene Ergänzung. Es berührt angenehm, daß die Schilderung der ein-
zelnen Hospitien vuid Lektionen getrennt ist von der Zusammenfassvmg, daß den
Fragen der Ausbildung des Lehrers ein so breiter Raum zugestanden wird und
daß die Würdigung amerikanischer Verhältnisse im Vergleich mit unseren eigenen
durchweg einen gesunden Standpunkt erkennen läßt. Es ist auch im Erziehungs-
wesen der Geist, der lebendig macht, nicht die Ausstattung, die Hilfsmittel, die Or-
ganisation, kurz der „Betrieb'*. Man wußte, daß es in Amerika leichter ist als bei uns,
rationale oder experimentell gewonnene Prinzipien in die Praxis einzuführen — es
steht keine Tradition hindernd im Weg ; man merkt aber auch, daß diese Leichtigkeit
zur Technisierung der Erziehung führt, zur unpersönlichen Ein^\•irk^ulg der aufs
Höchste ausgebildeten Sachmittel und zur Verkürzung der Persönlichkeitswirkung.
München. Aloys Fischer.
Nene Zeitschriften und Samminngen.
Die gewaltige Entwicklung der psychologisch-pädagogischen Forschung bringt
es mit sich, daß entgegen dem Wunsche nach literarischer Zentralisierung der
Arbeiten sich immer neue Unternehmungen auftun. Die Zahl der deutschen Zeit-
schriften und Sammlungen, die sich vornehmlich der psychologischen Pädagogik
widmen, hat sich nach dem gegenwärtigen Stande von über 30 im letzten Jahrzehnt
verdreifacht, und die an sich hocherfreuliche Begründung immer neuer Arbeits-
stätten und Arbeitsgemeinschaften für psychologische und pädagogische Unter-
suchungen sowie die stärkere Herausbildung von Richtungen und „Schulen" läßt für
die Zukunft nicht erwarten, daß der allmählich zur Kalamität werdenden Zersplitte-
rung endlich Einhalt geschähe. Zu den Organen '), die von uns im vorigen Jahr-
gange als neu angezeigt wurden, fügen wir als jüngste die nachfolgenden, die
teils sich ausschließlich, teils vorwiegend oder auch nur nebenbei der wissen-
schaftlichen Pädagogik zuwenden.
1. Zentralblatt für Psychologie und psychologische Pädagogik (mit
Einschluß der Heilpädagogik). Herausgegeben von Dr. W. Peters, Privatdozent
an der Universität Würzburg. Verlag von Gurt Kabisch. Jährlich 10 Hefte.
Preis 10 M. für den Jahresband von 30 — 40 Bogen.
Bei der Massenhaftigkeit der literarischen Produktion im Gebiete der Päda-
gogik und Psychologie ist es keiner der zahlreichen Fachzoitschrifton möglich
geworden, auch nur annähernd eine vollständige Bibliographie des umfänglichen
Gebietes zu geben. Es ist darum die Begründung eines Organs, das sich lediglich
den Referaten widmen will, erfreulich. Die Art, wie das „Zentralblatt" über die
1) Neue psychologisch-pädagogische Publikationsorgane. Zeitschr. f. päd. Psych.,
U. Jahrg.. S. 70.
350 Neue Zeitschriften und Sammlungen.
psychologische und pädagogische Literatur des In- und Auslandes eine Übersicht
geben soll, ist so gedacht, daß in knapper, sachlicher Berichterstattung — nur
informierend, nicht kritisch — rasch über Ziel und Ergebnisse aller neuen Unter-
suchungen, über den Inhalt aller jüngst erschienenen Monographien und Gesamt-
darstellungen, sowie über pädagogisch-psychologisch Wichtiges aus den Nachbar-
gebieten Auskunft gegeben wird. Das erste Heft erweist die neue Zeitschrift in
seiner trefflichen Ausstattung, seiner guten Ordnung, seinen brauchbaren Registern,
vor allem aber in seinem Inhalt als ein wertvolles bibliographisches Mittel; es
wird in ihm über 100 Untersuchungen und Schriften aus der Zeit vom 1. Jan. 1914
an berichtet.
2. Zeitschrift für Individualpsychologie. Studien aus dem Gebiete der
Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik. Herausgegeben von Dr. med. Alfred
Adler und Dr. phil. Carl Furtmüller in Wien. Verlag von Ernst Reinhardt in
München. Jährlich 12 Hefte im Gesamtpreise von 12 M.
Nach dem Geleitworte soll unter der Bezeichnung „Individualpsychologie"
die wissenschaftliche Anschauung verstanden werden, die da meint, „daß psychi-
sches Geschehen und seine Äußerungen nur aus dem individuellen Zusammen-
hang heraus verstanden werden können, daß alle psychologische Erkenntnis beim
Individuum anhebt". Damit sei, so äußert sich Carl Furtmüller, eine entschlos-
sene Umkehr von der hergebrachten Psychologie gegeben, die darauf abzielte, all-
gemeingültige Gesetze des seelischen Geschehens zu finden und die erst recht
spät in systematischer Weise den Versuch unternommen hat, die bei der „Ver-
dampfung" ins allgemeine verbleibenden Reste zu einer Psychologie der Diffe-
renzen zu verwerten. Die Erkenntnisquelle, aus der die Adler-Furtmüller'sche
Richtung vornehmlich schöpfen will, ist — ohne daß andere Forschungsmethoden
grundsätzlich ausgeschlossen werden — die individualpsychologische Methode der
Psychotherapie. Hier wird die Zeitschrift ihren Schwerpunkt suchen. „Sie hofft
damit gleicherweise den praktischen Bedürfnissen des Psychotherapeuten wie den
theoretischen Interessen der Psychologen zu dienen. Aber auch mit allen anderen
Berufen, in deren Mitte die Menschenkenntnis und Menschenbehandlung steht,
soll eine wechselseitige Förderung angestrebt werden, so besonders mit der Päda-
gogik — hoffentlich mit Vermeidung aller schädlichen Übergriffe der Psychoanalyse
auf fremde Gebiete. Von der konkreten Arbeit der Zeitschrift geben ein Bild die
Studien der zwei Hefte, je 32 Seiten stark, die bisher ausgegeben worden sind: Alexander
Neuer, Ist Individualpsychologie als Wissenschaft möglich? Alfred Adler, Das
Problem der Distanz; Erwin Weinberg, Zur Verwertung der Traumdeutung in der
Psychotherapie; Robert Fr esc he. Eine psychologische Analyse; Charlot Straßer,
Zur forensischen Begutachtung des Exhibitionismus; Alfred Adler, Lebenslüge
und Verantwortlichkeit in der Neurose und Psychose; Cai'l Furtmüller, All-
tägliches aus dem Kinderleben.
3. Beiträge zur pädagogischen Forschung. Herausgegeben von Privat-
dozent Dr. Max Brahn und Lehrer Max Döring, Leipzig. Verlag von Fr. Brand-
stetter in Leipzig.
Die beiden Herausgeber sind zugleich die Schriftleiter des „Archivs für Päda-
gogik" und wollen zu dieser ihrer Zeitschrift nunmehr größere Abhandlungen als
Ergänzungs- und Beihefte herausbi'ingen. Es soll sich dabei um Arbeiten und
Untersuchungen über kinderpsychologische, methodologische, didaktische und
organisatorische Fragen handeln, die nach experimentellen, statistischen und
anderen exakten Methoden angestellt wurden. Erschienen ist
Heft 1: Dr. Konrad Brandenberge r. Die Zahlauffassung beim Schulkinde. Aus
dem psychologischen Institut der L^niversität Zürich. Mit einer Einfüh-
rung von Prof. Dr. G. F. Lipps. 88 S. 2,50 M.
4. Arbeiten zur Entwicklungspsychologie. Herausgegeben von Felix
Krüger, ordentlicher Professor an der Universität Halle. Verlag von Wilhelm
Engelmann in Leipzig und Berlin.
Neue Zeitschriften und Sammlungen. 35I
\ ~~~ '
Die Veröffentlichungen dieser Sammelfolge werden zunächst den psycholo-
gischen Arbeitskreisen entstammen, die der Herausgeber erst in Leipzig, dann in
Halle gegründet hat. Sie wollen den Gedanken gesetzmäßiger Entwicklung, der
aufs Fruchtbarste die verschiedensten Wissenschaften beherrscht, auch innerhalb
der Psychologie zu weiterem Recht verhelfen und damit eine empirisch-genetische
Theorie des geistigen Lebens — wie sie Wilhelm Wundt in seiner Völkerpsycho-
logie anstrebt — auszubauen versuchen, besonders so, daß sie sich in streng
methodischer, monographischer Arbeit an eng begrenzten Fragen und Tatsachen-
gruppen — besonders aus dem primitiven Geistesleben — betätigen. Im ersten
Hefte wird der Herausgeber das neue Unternehmen geschichtlich an vorhandene
Bestrebungen anknüpfen und es methodologisch umgrenzen. Als zweites Heft
ist bereits erschienen eine genetische Studie Hans Volkelts über ,4Die Vorstellungen
der Tiere". In Vorbereitung befinden sich Untersuchungen zur Entwicklungs-
psychologie der Sprache, des zauberischen Verhaltens, der Religionen und
Künste, der Wirtschaft und der gesellschaftlichen Gliederung (des
näheren über: Bedeutungswandel, Gebärden, Wortschatz und Satzbau natur-
völkischer Sprachen, Entwicklung des kindlichen Sprechens, Standes- und Sonder-
sprachen; Zauber bei der Musik; Verhalten Kulturarmer zum Tode, zu
Fremden ; Stellung der Kinder, der Frauen, der Alten, der Tiere in der primitiven
Gesellschaft ; erste Entwicklungsformen des Wohnbaues, der Vorratsansammlung,
der Erziehung u. dgl.). Auch gedenkt der Herausgeber die Ergebnisse seiner
Studien über die Anfänge der menschlichen Arbeit in der Sammlung vorzulegen.
Die Arbeiten erscheinen zwanglos in einzeln käuflichen Heften, deren jedes nur
eine Abhandlung enthält und von denen drei bis vier einen Band von etwa
40 Bogen und im Preise von gegen 15 Mark bilden.
5. Münchner Studien zur Psychologie und Philosophie. Herausgegeben
von Professor Dr. Oswald Külpe und Dr. Karl Bühler. Stuttgart. Verlag von
W. Spemann.
Aus ihrem Kreise gedenken die beiden Herausgeber vor allem Untersuchungen
schon bewährter Forscher in dieser Sammlung erscheinen zu lassen. Sie über-
nehmen dabei nur die Verantwortung für die Methode, für die Probleme und für
die Sachlichkeit der Darstellung. Eine genauere Bestimmung über die zu pfle-
genden Gebiete ist — so heißt es in der Einführung — absichtlich unterlassen.
Nur so viel wird angegeben, daß zur Philosophie auch historische Beiträge Auf-
nahme finden und daß die psychologischen Abhandlungen sich nicht nur auf
experimentelle Untersuchungen gründen werden.
Die Hefte enthalten in der Regel nur je eine Arbeit, sind einzeln käuflich,
erscheinen in freier Folge und schließen sich zu einem Jahresbande bis zur (»renze
von 30 Bogen zusammen. Es liegen bereits vor:
I.Heft: Richard Pauli, Über eine Methode zur Untersuchung und Demonstra-
tion der Enge des Bewußtseins, sowie zur Messung der Geschwindigkeit
der Aufmerksamkeitswanderung. 36 S.
2. Heft: Dr. Carl Rath, Über die Vererbung von Dispositionen zum Verbrechen.
138 S.
6. Archiv für Religionspsychologio. Unter ständiger Mitwirkung von
Dr. K. Koffka, Privatdozent für Philosophie an der Universität Gießen, heraus-
gegeben von Dr. W. Stählin, Pfarrer in Egloffstein. Verlag J. B. Mohr (Paul
Siebeck) in Tübingen. (L Bd., 336 S., im Abonnement 12 M.; Einzelpreis lö M.).
Nachdem das einzige deutsche Organ für religionspsychologische Unter-
suchungen — die Zeitschrift für Religionspsychologie, zuletzt herausgegeben von
Runge, Klemm, Bresler — mit ihrem 6. Jahrgange das Erscheinen eingestellt hat,
ist es zu begrüßen, daß sich für das bedeutungsvolle Forschungsgebiet eine neue
Sammelstätto aufgetan hat. Das in größeren Bänden erscheinende ^»Archiv fiir
Religionspsychologie" will sich in weitestem Umfange aller Arbeit widmen, die
der Erforschung der Religion als einer psychischen Wirklichkeit dient. Noch der
352 Neue Zeitschriften und Sammlungen.
Einführung, mit der die beiden Herausgeber den I. Band eröffnen, soll sich die
wissenschaftliche Arbeitsweise der jungen Disziplin an den Methoden der allge-
meinen Psychologie orientieren, von der sie auch die Begriffe zur Ordnung und
Erklärung der seelischen Vorgänge herübernehmen wird, ohne sich aber dabei
in sklavische Abhängigkeit zu begeben. Einbezogen in das Arbeitsgebiet wird
alles, was sich irgendwie als Religion bezeichnet und dabei eine psychologische
Behandlung zuläßt. Als Gruppen von Aufgaben finden sich verzeichnet die
schlichte Deskription der religiösen Erscheinungen und die Auffindung von Regel-
mäßigkeiten oder funktionalen Zusammenhängen, nach denen sich die Erlebnisse
verbinden. Unter vier Gesichtspunken, so wird ausgeführt, lassen sich solche
Gesetzmäßigkeiten aufsuchen: es kann gefragt werden, welche Beziehungen lassen
sich zwischen religiösen Erlebnissen und äußeren Umständen beobachten; welche
körperlichen Äußerungen religiöser Seelenvorgänge sind feststellbar; welchen Ver-
lauf nehmen die religiösen Erlebnisse und wie sind sie in andere Erlebnisse ein-
gebettet; welche Korrelationen bestehen zwischen religiösen Phänomenen unter-
einander und zwischen diesen und anderen Veranlagungen. Welche Mannigfaltig-
keit der Aufgaben sich das „Archiv" gestelltj hat und wie es darum nicht bloß
auf das Interesse der Theologen, Psychologen und der Philosophen, sondern auch
der Sociologen, Naturwissenschaftlern und Pädagogen rechnen darf,; zeigt der
reiche Inhalt des sehr wertvollen 1. Bandes, der außer Referaten, Besprechungen,
Anzeigen und einer Zeitschriftenschau die folgenden Abhandlungen bringt:
Fr. Rittelmeyer, Die Liebe bei Plato und Paulus; S. Behn, Über das religiöse
Genie; A. Fischer, Über Nachahmung und Nachfolge; W. Stählin, Experimen-
telle Untersuchungen zur Sprachpsychologie und Religionspsychologie; R. Wie-
landt. Die Mitarbeit des praktischen Theologen an der Religionspsychologie;
J. Schlüter, Religionspsychologische Biographienforschung. Umfrage über
Gesangbuchlieder.
7. „Tierseele" Zeitschrift für vergleichende S-eelenkunde. Herausgeber
Karl Krall (Verlag Emil Eisele, Bonn). Jährlich 4 Hefte zu je 80—100 Seiten
12 M.
Bei der Bedeutung der sich immer sicherer ausbauenden Tierpsychologie
für die Erkenntnis des menschlichen Seelenlebens und bei der Wichtigkeit, die
neuerdings der Tierunterricht für manche pädagogische Grundeinsichten zu ge-
winnen scheint, bedarf es für die Anzeige dieser Zeitschrift in unserem Zusammen-
hange keiner näheren Begründung. Das neue Organ will es als eine ihrer mch-
tigsten Aufgaben betrachten, durch Austausch der Erfahrungen, die sich bei den
heute zahlreich unternommenen tierpsychologischen Versuchen und Beobachtungen
ergeben, weiteren Kreisen zu einem Gesamtbilde von dem gegenwärtigen Stande
der Tierseelenkunde zu verhelfen. Vertreter der verschiedenen Richtungen sollen
hierbei das Wort erhalten. Eingehende Berücksichtigung werden die Unterrichts-
versuche mit Tieren erfahren. Insbesondere der durch die Leistungen der Elber-
felder Pferde entbrannte Streit um die Frage der Denkfähigkeit der Tiere ist als
betontes Gebiet der Zeitschrift in Aussicht genommen. Weiter wird u. a. auch noch die
Gestaltung des Lebensverhältnisses zwischen Mensch und Tier — beispielsweise das
Problem vom Schutz und Recht des Tieres — in den Arbeitsplan einbezogen
werden. Aus dem ersten Hefte seien von den Aufsätzen erwähnt:
Prof. Ed. Claparede, Die gelehrten Pferde von Elberfeld (mit anschließen-
den genauen Protokollen); Karl Krall, Prüfung der Sehschärfe bei dem Osten-
schen Pferde; Heinrich Steen, Die Elberf eider Pferde und ihre Kritiker; Kreis-
tierarzt Dr. Schmitt, Zum Denkproblem bei Mensch und Tier; Dr. Paul Sarasin,
Weltnaturschutz; Prof. Paul Eisler, Kleine Beiträge zur Tierpsychologie.
-.^'^
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
Ein Beitrag zur experimentellen Gruppenpsychologie.
Von
Walther Moede.
Trotzdem die soziale Natur des menschlichen Wesens seit alters der
Gegenstand mannigfacher Spekulationen gewesen ist, so muß dennoch die
rein psychologische Analyse der Gemeinschaft oder Gesellschaft als recht
wenig zufriedenstellend charakterisiert werden. Die Individualpsychologie,
die absieht von allen den Beziehungen, die den Einzelnen an irgendeinen
Verband von Gefährten ketten und die das künstlich isolierte Individuum
im Laboratorium studiert, hat sich nach wie vor der meisten Arbeitskräfte
zu erfreuen. Die Völkerpsychologie kennt zwar den Gesichtspunkt der
psychischen Gemeinschaft und ihrer Wechselwirkung, aber sie spezialisiert
sich darauf, lediglich die historisch kristallisierten Produkte dieser Gemein-
schaft — Sprache, Sitte, Mythos usw. — einer wissenschaftlichen Analyse zu
unterziehen. Aufgabe einer exakten Gruppenpsychologie ist es, auch
die aktuellen Wechselwirkungen, die immer da entstehen, wo Gruppen von
Menschen zusammen sind, einer eingehenden Betrachtung zu unterwerfen.
Dadurch erhält erst die Völkerpsychologie eine Grundlage, die nötig ist,
ehe man zur historischen Erkenntnis der Gemeinschaftsprodukte vordringen
sollte, genau wie Physik und Chemie für die Geologie als aktuelle Er-
gänzungswissenschaften unabweisbar nötig sind.
Wir haben also die Psychologie zu teilen in Individual- und Gruppen-
psychologie, Wenn dann der historische Gesichtspunkt angewendet wird,
so wandelt sich die Individualpsychologie zu der gewöhnlich als Kinder-
und Tierpsychologie benannten Wissenschaft, während die Gruppenpsycho-
logie zur Völkerpsychologie wird. Daß die Gruppenpsychologie gleich-
wertig der Individualpsychologie ist, erhellt unmittelbar. Ehe der Mensch
selbständiges physisches Wesen wird, ist er mit dem mütterlichen Organis-
mus als Embryo innig verbunden, so daß erst durch Abspaltung aus einem
Kollektivwesen die Individualität hervorgeht. Das Kind wächst nun auf
in der Familie und erhält zunächst Nahrung und erste Erziehung von der
Mutter, 80 daß auch hier die Sonderung der Individualitäten nur relativ
besteht. Der Zögling tritt dann über in die Schule, wo wieder Gruppen
von Menschen der erzieherischen Einwirkung des Lehrers unterstehen.
Tritt nun schließlich der Schulentlassene ein ins Leben, so ist der Beruf
zunächst diejenige Organisation, die den Einzelnen aufnimmt. Stets sind
es also Momente der Kollektivität, die die individuelle Seele durchdringen.
Zeüschiift r. pttdagog. Psycholoffie. 23
354 Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
Eine systematische und exakte, d, h. Maß und Zahl verwendende Gruppen-
psychologie wird mit der Wechselwirkung zweier annähernd gleich-
wertiger Individuen anzuheben haben und erst dann allmählich die An-
zahl der Gruppenmitglieder vermehren und allmählich Ungleichwertigkeiten
einführen, die in unterschiedlichen körperlichen, seelischen, sozialen Quali-
täten der Teilnehmer einer Gruppe bestehen werden. Ganz systematisch
sind nun die einzelnen seelischen Funktionen und ihre Abänderung durch
die Gruppe zu betrachten. Die zunächst rein theoretisch wichtige Er-
kenntnis kann gleich pädagogisch fruchtbar gemacht werden.
Wir greifen ein Spezialproblem heraus und fragen nach der Abänderung,
die die Willenstätigkeit der Einzelnen erleidet, wenn sie in einer größeren
Gemeinschaft, also etwa als Schulklasse, zusammenarbeiten. Um messend
vorgehen zu können, werden naturgemäß die Arbeitsbedingungen genau
festgelegt. Wir wollen den Willen nach einem doppelten Gesichtspunkte
untersuchen. Zunächst messen wir die Schnelligkeit der Willenshandlung,
alsdann bestimmen wir die Kraftleistung eines Momentan-impulses.
Methodisch ist zu bemerken, daß einwandfreies Material nur durch
Vergleich der isoliert Arbeitenden mit den im Verbände Tätigen zu ge-
winnen ist. Die Arbeit der isolierten Schüler nennen wir lA oder Einzel-
arbeit, während wir die kollektive Arbeit als GA, also Gruppenarbeit, be-
zeichnen. Da wir nun dieselben Schüler in verschiedenen aufeinander
folgenden Zeiten teils in der lA, teils in der GA untersuchen, so will der
Einfluß der Übung wohl beachtet sein. Denn setzen wir voraus, daß von
allen Sitzungen ein Rückstand bleibt, ein Übungsrest, der gleiche oder
ähnliche Arbeit vorteilhaft beeinflußt, so durchkreuzt offenbar diese Übung
die gesuchten reinen Unterschiede der Isolations- und Gemeinschaftsarbeit.
Doch stehen uns mannigfache Mittel zu Gebote, diese Übungsfaktoren aus-
zugleichen. In der Willensuntersuchung verfuhren wir so, daß die Serie
der Sitzungen anhob mit einer Gemeinschaftsarbeit, auf die die Einzel-
arbeit folgte. Im zweiten Teil der Sitzungen begannen wir mit den Einzel-
arbeiten und schlössen mit der Klassenarbeit. Wir haben also dann
das Schema
lA oder GA
GA lA
GA
lA
lA
GA.
Nun hat jede der nachfolgenden Arbeiten etwa den gleichen Übungs-
fortschritt. Addiert man dann zur Verrechnung die beiden Einzel- und
die beiden Gemeinschaftsarbeiten, so hat man in diesen Zahlen gut ver-
gleichbare Werte. Es ist jedoch der Einfluß der gemeinschaftlichen Arbeit
meist so groß, daß schon bei 2 Sitzungen über alle üibung der neue
kollektive Faktor den Sieg davon trägt.
Natürlich ist es wünschenswert, nach der Gemeinschaftsarbeit die Einzel-
arbeiten in Kontrollsitzungen anfertigen zu lassen, die möglichst auf einen
Tag fallen, damit der Rückstand der letzten Sitzung annähernd gleich
groß ist bei allen Beteiligten. Dies war nur so möglich, daß wir die
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß. 355
Schüler aus dem Unterricht in das Versuchszimmer hinüberholten und nun
schnell hintereinander alle Mitglieder der Gruppe in der gleichwertigen
Arbeit prüften. Freilich, wird man einwenden, ist die Isolationsarbeit nicht
ganz rein, da doch der Versuchsleiter auch im Zimmer sich befindet.
Doch muß man bedenken, daß er in gleicher Weise die Klasse wie auch
den Einzelnen beaufsichtigt, wobei natürlich der Erfolg dieser Beaufsich-
tigung wahrscheinlich ein anderer sein wird, was jedoch eine Spezialfrage
ist. Doch führten wir auch Parallelversuche aus, wo der Schüler wirklich
streng isoliert arbeitete und nur Beginn und Schluß seiner Arbeit durch
den eintretenden Versuchsleiter verkündet wurde. Die Resultate waren
wieder die gleichen, vielleicht nur noch schärfer Einzelarbeit und Gesamt-
arbeit kennzeichnend. Doch da die strenge Isolation bei einzelnen Ver-
suchen ohne komplizierte Versuchstechnik nicht durchführbar ist, so wählten
wir das natürliche Verfahren und ließen jedesmal durch den gleichen Ver-
suchsleiter die Übungen überwachen und leiten. Versuchspersonen waren
Knaben der Gemeindeschule zu Sorau N-L. Sie besuchten die erste Klasse
und standen im Alter von 12 bis 14 Jahren.
Die zeitlichen Verhältnisse^ der Willenshandlung wurden au der
Hand des Punktierversuches bestimmt. Die Analyse eines einzelnen
Willensimpulses ist ohne kostspielige Apparatur nicht möglich; die Unter-
suchung einer Serie von Impulsen dagegen ist sehr einfach und hin-
reichend genau in einem Versuchsverfahren zu erledigen, bei dem nur
Bleistift und Papier sowie eine Fünftelsekunden-Uhr nötig sind. Die Ver-
suchsperson erhält den Auftrag, in einer bestimmten Zeit mit einem Blei-
stifte so viel Punkte auf ein Stück Papier zu setzen, als ihr möglich ist.
Um eine Dauerspannung des Willens zu bekommen, lassen wir das Punk-
tieren 30 Sekunden lang fortsetzen. Trotzdem die Arbeitszeit nur eine
halbe Minute beträgt, ist es doch ratsam, über diese Spanne nicht hinaus-
zugehen, da die Abspannung und Ermattung nach dem Versuch recht be-
trächtlich sind. Es bleibt der Versuchsperson unbenommen, wie sie die
Punkte auf das Papier setzen will. Sie kann sie wahllos über die Fläche
des Papiers verteilen oder sich in geraden Linien oder Spiralen fortbe-
wegen, ganz so, wie es für den Einzelnen als optimale Arbeitsweise in Betracht
konMnt. Nur dadurch sind für die Einzelnen wirkliche Maximalleistungen
möglich. Der Versuch geht nun so vor sich, daß auf das „Achtung" des
Versuchsleiters die Aufmerksamkeit gespannt und der Bleistift gehoben
wird. Auf das Kommando „Los" beginnt die Arbeit, die schließlich von
dem Signal „Schluß" prompt unterbrochen wird. Nach beendetem Ver-
suche wird die Fläche des Papiers in Felder eingeteilt und die Auszählung
vorgenommen. Zur Kontrolle wählten wir ein technisch weit genaueres Ver-
fahren. Diesmal wurden die Punkte auf ein Stück Eisenblech gesetzt, und
jedes Auftreffen des leitenden Graphits auf die Unterlage wurde auf der
berußten Trommel eines Kymographions registriert. Daneben wurden auch
die Befehle des Versuchslciters aufgezeichnet. Nun war eine absolut ein-
wandfreie Zeitregistrierung und Auszählung möglich. Diese Parallelver-
suche ergaben eine so hohe Übereinstimmung mit dem vereinfachten Vor-
fahren, daß wir dieses für die endgültigen Reihen allein verwandt,en.
23*
356 I^^"* Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
Trotzdem eine Einübung der Schüler stattfand, berücksichtigten wir
dennoch die Zeitlage der Versuche und wechselten mit Einzel- und Gesamt-
arbeit ab. Die Summen der jeweiligen Sitzungen unter den gleichen Arbeits-
bedingungen wurden dann zusammengezählt und vergleichsweise erörtert.
Beim Einzel versuch war verabredet, so viele Punkte als möglich auf
das Papier zu setzen. Traten dann zwei und mehr Schüler in Wettbewerb,
so erweiterte sich die Instruktion dahin, es gelte, sich gegenseitig im Punk-
tieren zu übertreffen. Daß ein scharfer Wettkampf jedesmal einsetzte,
konnte man zunächst an der erhöhten Arbeitsspannung der Konkurrierenden
sehen. Auch war der Druck, mit dem die Punkte auf das Papier gesetzt
wurden, in den meisten Fällen stärker. In einigen Fällen war die Intensität
der Arbeit so stark, daß durch den Druck des Bleistiftes an der Haut des
Fingers Einrisse entstanden und Blut auf das Papier floß. Erst das rinnende
Blut machte den Schüler auf die Verletzung aufmerksam. Es ist ja eine
alte Erfahrung, daß in Zuständen hoher Willensspannung, wie sie der Wett-
kampf bedingt, die Schwelle der Schmerzempfindlichkeit stark erhöht ist.
Geben doch Krieger an, daß erst das fließende und gerinnende Blut oft-
mals die Tatsache der Verletzung zu Bewußtsein bringt. Bei exakter
Messung dieser Verschiebung der Grenzmarke der Schmerzempfindlichkeit
fanden wir öfters eine Vergröberung um 50 bis 100 ^/q. Dies alles erlaubt
den Rückschluß, daß die Schüler auch in den künstlichen Bedingungen
des Experimentes wirklich durch starken Wetteifer angetrieben waren und
tatsächliche Höchstleistungen vollführten. So gut wie einstimmig wurde
angegeben, daß das Punktieren, das in der Tat eine hohe Willensspannung
voraussetzt, bei Gruppenarbeit oder beim Wettkampf zu Zweien viel besser
vonstatten gehe als bei isolierter Betätigung.
Die systematische qualitative Analyse wird diese Serienaktion des Willens
im Anschluß an den einfachen Reaktionsversuch zu diskutieren haben. Dort
wird auf einen einfachen Reiz eine einfache Willenshandlung verlangt, wenn
etwa auf einen Schall hin ein Taster niederzudrücken ist. Auf den einzelnen
Willensakt folgt dann die Doppelaktion, deren Zergliederung ebenfalls schon
unternommen ist. Der Doppelschlag wird nun erweitert zur Serien- oder
Daueraktion. Bei Erwachsenen ist in der Selbstbeobachtung eine aus-
gezeichnete Analyse der seelischen Prozesse, die diese Willensleistung be-
gleiten, zu erhalten. Durch sie wird die Kontinuität hergestellt zwischen
dem einfachen Reaktionsversuch und der Serienreaktion. Die Betrachtung
kann das Aufheben der Hand in Parallele setzen mit dem Loslassen des
Tasters bei dem einfachen Reaktionsversuch, so daß nun der Druck auf
das Papier und der Ton des Aufschiagens das Signal zum Aufheben des
Bleistiftes von der Unterlage darstellt, welcher Handlung sofort eine aber-
malige Innervation zum Zwecke des Weiterpunktierens folgt. Die Serie
der krampfartig erfolgenden poppelschwingungen wird dann durch das
Schlußkommando scharf abgebrochen, durch das auch eine allmähliche
Lösung der hohen Spannung erfolgt. Im Anfange werden noch gesonderte
Einzelakte bewußt, so daß das Aufschlagen des Stiftes noch als Reaktions-
motiv in Betracht kommt. Dann aber löst sich das Bewußtsein heraus
und steht in kritischer Betrachtung über den Schwingungen. Die Schnellig-
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
357
keit der Oszillationeu wird abgeschätzt, und beim Auftreten von Ermüdungs-
gefühlen werden Antriebe rege, die die Leistung wieder höher treiben
sollen. Einigemal wurden auch die Taktschläge der Nachbarschaft kritisch
verfolgt und wirkten als starker Anreiz, ihre Rythmik zu übertreffen.
Betrachten wir zunächst das Ergebnis einer Klassen arbeit, wo sich an
dem Wettkampfe 17 Schüler beteiligten. Wir berechnen als Repräsen-
tationswerte das arithmetische Mittel und die mittlere Variation. Das
Mittel ist bekanntlich der Wert, von dem aus die Abweichungen nach oben
und unten hin gleich Null sind. Daneben ist vor allem die mittlere Va-
riation pädagogisch wertvoll. Sie gibt uns an, wie die einzelnen Maßzahlen
der Schüler sich um das Mittel verteilen. Der Grad, wie sie um einen
Tabelle I.
JA. Einzelarbeit. GA. Gemeinschaftsarbeit.
Name
Rangordnung
Diff. in o/o.
lA.
GA.
Mül
572
520
—9
M. LEH
463
422
—9
WO
428
417
—2
Seh
416
393
—6
See
413
394
—5
Lan
410
406
—1
P. Leb
403
378
—6
BEI
390
375
—4
DU
386
413
+ 7
ST
378
406
+7
Mü
366
374
+ 2
LI
349
378
+ 8
WIE
345
349
+ 1
WE
344
393
+ 14
WEI
338
372
+ 10
Seh
324
383
+ 18
PO
316
1
356
+ 13
Arithraet. Mitt.
391
396
1,30/0
Mittlere Variat.
11,3 »/o
67o
5,30/0
Mittelwert streuen, ist deswegen so wichtig, weil wir daraus auf die Ab-
stände der einzelnen Schülerleistungen von einander schließen können. Jede
pädagogische Maßnahme will nicht nur einen hohen Mittelwert der Klassen-
leistung erzielen, sondern vor allem auch eine geschlossene Förderung der
gesamten Gemeinschaft erreichen, die in einer kleinen mittleren Variation
zum Ausdruck kommt. Alsdann werden wir die Werte nach der Stellung
der Einzelnen in der Rangordnung zu fraktionieren, also gesondert zu be-
trachten haben.
Die Tabelle I zeigt nun, daß das Mittel der Einzelleistung und das
Mittel der Klassenleistung annähernd gleich groß sind, da die Gruppen-
arbeit die Einzeltätigkeit nur um etwa 1 ^U übertrifft. Die Werte der
Einzelarbeit sind unter lA verzeichnet und in eine Rangordnung gebracht.
358 ^^^ Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
Die nebenstehende Spalte gibt die Werte der Gruppenkonkurrenz wieder.
Ist auch das Mittel nicht gar so sehr verschieden, so besteht dennoch ein
gewaltiger Unterschied zwischen Einzel- und Gruppenarbeit, betrachtet
man die Streuung der einzelnen Leistungen der Schüler. Denn die
Streuung der Arbeiten ist bei Gemeinschaftsbetätigung nur halb so groß
als bei isoliertem Punktieren der einzelnen Schüler. Dieser mittlere Ab-
stand aller Leistungen vom Mittel zeigt also eindeutig, daß die Gruppe
weit geschlossenere Arbeitsleistungen hervorbringt, die auf größere
Gleichartigkeit der Willensspannung zurückzuführen sein dürften, während
bei Einzelbetätigung die Leistungen der Schüler um viel größere Sprünge
voneinander abstehen. Die Tendenz zur Vereinheitlichung, die in
der arbeitenden Gruppe besteht, ist deutlich ausgeprägt. Schon im all-
täglichen Bewußtsein sind die Nivellierungstendenzen der Massen sprich-
wörtlich geworden, und nicht umsonst ist die Uniform das Symbol der
Masse, i)
Wie kommen nun diese Verschiebungen der Leistungen zustande, und
wie sind sie zu interpretieren? Kausale und teleologische Betrachtung
müssen bei Analyse der Erscheinungen des Lebens stets Hand in Hand
gehen.
Vergleichen wir die beiden Rangordnungen der lA- und der GA-Leistungen,
so ergibt sich, daß beim Übergang zur Gruppenarbeit genau die obere
Hälfte der Rangordnung der Einzelarbeiten sich senkt, während genau
die untere, also schlechtere Hälfte der lA-Rangordnung in der Ge-
meinschaftsbetätigung aufsteigt. Dabei ist die Herabminderung der
Leistungen der Besseren und die Aufbesserung der Schlechteren bei
Gruppenarbeit durchaus ungleich. Denn die Schlechteren, die untere
Hälfte der Rangordnung, steigen gerade doppelt so stark an, als die obere
Hälfte sich senkt. Die Besseren haben also bei dieser Art der Arbeit
von der Gruppe keinen Vorteil, sondern nur Nachteile, da ihre Leistungen
durch die Schlechteren herabgezogen werden. Trotzdem geben auch diese
Schüler die Gruppenarbeit als weit günstiger an als die Einzelbetätigung.
Die prozentuale Veränderung der Leistungen der Einzelnen durch die
Gruppe kann uns ein empirisches Maß sein für die kollektive Wertig-
keit des Einzelnen, seine Eignung zur Gemeinschaftsarbeit. Da ergibt
sich nun eindeutig, daß die unteren Schüler stets weit mehr durch
die Klasse gefördert werden als die Besseren. Welche Leistungen
wir auch immer auf exakte Weise prüften: Gedächtnis, Aufmerksamkeit
oder Wille, stets zeigte sich, daß die Besseren weniger gefördert werden
als die Schlechteren. In einigen Fällen senkt sich die obere Hälfte der
Rangordnung ausnahmslos, in anderen Fällen dagegen wirken die Be-
dingungen der gemeinschaftlichen Arbeit, etwa beim Chorlernen 2), auch für
die Oberen leistungssteigernd, doch ist auch dann der Unterschied vor-
handen, daß die Schlechteren wieder weit mehr gefördert werden.
1) Aug. Mayer, Über Einzel- und Gesamtleistung des Schulkindes. 1904.
Meumann, Haus- und Schularbeit. 1904. Vorlesungen zur Einführung in die
experimentelle Pädagogik. Bd. II, S. 67 und ff. I. Aufl.
2) Moede, Chorlernen und Einzellernen. Archiv f. Päd. IL Jahrg. II. Heft 4.
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß. 359
Beim Chorlernen z. B. heben sich bei einigen Versuchsbedingungen die
Schlechteren etwa elfmal so stark als die Besseren. Die Interpretation
dieser Tatsache und ihre pädagogischen Konsequenzen sind leicht zu geben.
Sie wird verschieden ausfallen je nach der Art der gerade geprüften
Funktion und der Art der gegenseitigen Beeinflussung der Gruppenmit-
glieder. Dessen ungeachtet bleibt der Satz bestehen, daß die Schlechteren
in jedem Falle durch die Gruppe mehr Vorteile haben als die Besseren.
Die Arbeitsintensität der Besseren scheint schon beim Einzelversuch so ge-
spannt zu sein, daß eine Verstärkung nur in geringem Maße oder gar
nicht möglich ist, so daß nun die Gruppe viel mehr Chance hat, störend
und leistungsherabsetzend zu wirken. Die Schlechten dagegen gehen offen-
bar keineswegs mit maximaler Aufmerksamkeitsspannung und Konzentration
an die Arbeit. Sie können daher durch die starke Arbeitsspannung der
Gemeinschaft weit eher angeeifert werden, so daß Hemmungen wegfallen,
Antriebe wirksam werden und sich im Resultat weit bessere Leistungen
ergeben.
Im vorliegenden Falle der Willensbetätigung ist es offenbar so, daß eine
Wechselwirkung der tätigen Schüler eintritt. Jeder sieht den arbeitenden
Nachbar und hört seinen aufdringlichen Rythmus. Er hat das Bestreben,
ihn zu übertreffen und seine eigene Leistung möglichst hoch zu treiben,
um als Sieger im allgemeinen Wetteifer hervorzugehen. Aber aller Wett-
eifer ist schwächer als die Wirkung, die von der Masse auf den Einzelnen
und seine Impulsgebung ausstrahlt. Da die Reaktionsgeschwindigkeit der
Konkurrenten große Unterschiede zeigt — stehen doch der Beste und der
Schlechteste um 256 Punkteinheiten von einander ab — so ist es ganz
natürlich, daß die Schnelleren durch das Tempo der Langsameren gehemmt
und die Langsameren von den Schnelleren mit fortgerissen werden. Die
Schlechteren hängen sich den Besseren an die Füße und hindern sie am
raschen Ausschreiten. Zwei Körper ungleicher Temperatur gleichen die
Temperaturdifferenz ebenfalls aus, indem sie sich auf einer mittleren Linie
einigen. Oder ein anderes Beispiel: Laufen ein Schneller und ein Lang-
samer Hand in Hand um die Wette, so schlagen die Beiden auch ein
mittleres Tempo ein, indem der Eine sich gehemmt, der andere gefördert
sieht. Da nun die Oberen ihre Leistungen in der Gruppe senken, die
Unteren dagegen aufsteigen, ergibt sich ein Mittelwert, der von dem Mittel
der Einzelarbeiten nicht sehr abweicht. Die Zusammenschließung der Teil-
nehmer jedoch durch die gemeinsame Tätigkeit zeigt sich in dem starken
Sturz der mittleren Variation; es ist die mittlere Streuung aller Arbeiten
der Klasse nur halb so groß als die Streuung aller Einzelarbeiten.
Ist diese Theorie der unmittelbaren Wechselwirkung richtig, so muß eine
Teilung der Gruppe und ein Wettkampf von nur annähernd gleichwertigen
Schülern die Probe auf das Exempel abgeben und eine Bestätigung der
Voraussetzung liefern können. Denn nun müssen die Konkurrenten, die
etwa der besseren Hälfte der Rangordnung angehören und in ihren
Leistungen sich lediglich um kleine Beträge unterscheiden, nur Auf-
besserung ihrer Leistung durch eine gemeinschaftliche Tätigkeit zeigen,
da nun der Hemmschuh der Schlechteren, der ihr Tempo bremste, weg-
360 ^^^ Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
fällt und nur die anregenden Wirkungen der Konkurrenz gleichwertiger
Partner wirksam sind. In der Tat bestätigt das Experiment diese An-
nahine. Treten nur gleichwertige Knaben in Konkurrenz, so zeigt sich
nur Aufbesserung der Leistung durch den Wettkampf. Tabelle 2 lehrt,
Tabelle ü.
Gruppe zu 16
Einzelarbeit
Wettkampf zweier Gleichwertiger
Vp.A.
Vp.B.
375
393
390
416
392
430
daß die Konkurrenten A und B, die Inhaber oberer Rangplätze, die
geringsten Leistungsmaßzahlen in der Gruppe zu 16 aufweisen, während
die Einzelarbeit über diesen Werten steht und die Konkurrenz zu zweien
die besten Leistungen aufweist. Die Bedingungen des Wetteifers, so können
wir schon jetzt ableiten, sind dann am günstigsten, wenn nicht gar zu
große Differenzen zwischen den zum Wettkampfe Antretenden bestehen.
Nun ist eine weitgehende Umwertung der Rangordnung und eine
Vertauschung der Rangplätze für alle Beteiligten von vornherein nicht
unmöglich, da sich nun jeder an die Spitze setzen oder in der Rang-
ordnung um hohe Werte aufsteigen kann. Doch diese Vermutung und die
besonderen seelischen Bedingungen, die der Wettkampf voraussetzt und
auslöst, studieren wir am besten, indem wir systematisch die andere Seite
des Willensimpulses prüfen, seine Kraftleistung am Dynamometer. Sollte
diese Tatsache, daß Wetteifer nur annähernd gleichwertiger Schüler,
deren Leistungen sich um nicht gar zu große Beiträge von einander ab-
heben, typisch sein für alle Arten wetteifernder ^Betätigung der Klasse,
so liegt schon jetzt eine Sonderung der Klasse nach Begabungsgraden, wie
sie im Mannheimer System geschieht, ganz am Wege. Zum mindesten
sind von dem Mittelmaß der Klasse die unter dem Mittel Stehenden ab-
zuscheiden, sowie natürlich vornweg schon die ganz Schlechten. Aber
weiter wären auch die höher Begabten und die extrem hoch Befähigten
in besonderen Verbänden zu unterrichten.
Ehe wir die Kraftleistung des Willensimpulses bestimmen, ist es nötig,
auf die Zweckmäßigkeit hinzuweisen, die durch die gegenseitige An-
näherung der arbeitenden Mitglieder einer Gemeinschaft sichtbar wird.
Offenbar ist es eine Art Gleichschritt der Massen, der sich auto-
matisch durch die gemeinsame Funktion herausbildet. Dadurch wird ohne
weiteres ein enger Zusammenschluß der Vielen zu einer Einheit erreicht,
was wieder eine Vorbedingung ist für alle gemeinsame Aktion sozialer
Wesen. Der Gleichschritt war schon im Altertum ein bekanntes Mittel,
um 'größere Menschenmassen zu einem Körper gleichsam zusammenzu-
schließen, so daß nun die Lenkung der künstlich hergestellten Einheit erst
möglich und durchführbar wird. Weiter ist es bekannt, wie eine gemein-
sam tätige Masse von Menschen sich oftmals ohne weiteres organisiert, in-
dem eine taktmäßige Arbeit eingeschlagen wird, wodurch Gliederung und
Struktur in die Menge kommt und der Arbeitsprozeß leichter und stetiger
abläuft.
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
361
Fig. 1. Dynamometer nach C ollin.
Die Kraftentfaltung eines momentanen Willensimpulses wirdmitHilfe des
Dynamometers geprüft. Das Dynamometer nach Coli in (vgl. Fig. 1) besteht
aus einem ovalen Stahlbande, das der
Versuchsperson in die Hand gegeben
wird und das sie auf ein Kommando
hin momentan zusammenzudrücken hat.
Die Kraftleistung bewirkt eine Durch-
biegung des elastischen Bandes, die durch
einen Zeiger in Kilogrammwerten regi-
striert wird. Da außerdem noch ein
zweiter Zeiger angebracht ist, der bei
der Höchstleistung stehen bleibt, so kann
die Maximalleistung leicht abgelesen werden.*) Bei richtiger Bedienung
des Instrumentes liefert es ruhige Werte, die sich den verschiedenen
Versuchsbedingungen ausgezeichnet anpassen. Bei hinreichender Übung
genügen schon 5 Werte, um uns über die Impulsleistung der Versuchs-
person zu unterrichten. Es werden wieder gesonderte Maßzahlen der
Einzelarbeit und Gruppenarbeit unter Wechsel der Zeitlage einge-
schaltet. Diesmal sind besonders die Ermüdungseinflüsse zu berücksichtigen
und die sich einstellenden Schmerzempfindungen, die teils leistungssteigernd,
teils herabsetzend wirken. Durch Einschaltung geeigneter Pausen wird
diese Fehlerquelle vermieden.
Wie ändert sich nun die Kraftleistung, wenn der Schüler in der Gruppe
arbeitet? Wie wirkt zunächst der Wettkampf zu Zweien und welchen
Einfluß hat eine Konkurrenz von ganzen Gruppen? Neben der Maßzahl,
der quantitativen Analyse, sind stets die parallelen seelischen Prozesse ein-
gehend zu zergliedern, die teils durch den Bericht, teils durch Verhör im
Protokoll niedergelegt werden.
Nachdem zunächst die Kraftleistung der Schüler in der Einzelarbeit
festgestellt ist, wird ein Wettkampf zu Zweien veranstaltet. Die Gegner
konnten sich selbst wählen. Sie standen einander gegenüber, komman-
dierten sich gegenseitig und überwachten die korrekte Ausführung des
Druckes und die richtige Ablesung der Leistung. Der Sieger wird stets
laut verkündet. Nach Erledigung von 5 Gängen wird eine Pause einge-
schaltet, auf die weitere 5 Versuche folgen. Tabelle 3 zeigt die Werte der
Isolationsarbeit und den Erfolg des Wettkampfes.
Tabelle HI.
Mittel
M. Variat.
Einzelvariation
Einzelarbeit
20,3 kg.
16,6«/o
6,60/0
Zweikampf
22,4 kg.
13,10/0
4,90/0
1) Wir benutzen für Demonatrationazweoke ein sehr billiges Zugdynamonieter,
da« nicht auf Druck, sondern auf Zug anspricht. Es befindet «sich in dem nach
meinen Angaben hergestellten Arbeitskasten, der einfache und billige Arbeits-
instrumente zur experimentellen Psychologie und Pädagogik enthält. Die In-
strumente sind von der Firma Wilhelm Petzold, Leipzig -Kieinzschocher
fabriziert und von ihr zu beziehen.
362 I^ßr Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
Aus dieser Tabelle ersehen wir, daß die Wettarbeit zu Zweien die Einzel-
arbeit um 10 Proz. übertrifft. Kontrollversuche 6 Wochen nach diesen
ersten Versuchsreihen ergaben 11 Proz., so daß die Beständigkeit der Auf-
besserung der Leistung durch den Wettkampf ganz besonders groß ist,
zieht man noch die Fehler des Instrumentes mit in Betracht. Die mittlere
Abweichung aller Leistungen der Teilnehmer vom Mittel ist wieder wie
beim Punktieren bei kollektiver Betätigung kleiner, geht doch die mittlere
Variation um 3,4 Proz. zurück bei den Werten des Wettkampfes. Da nun
10 mal gedrückt wurde, so müssen wir auch noch die mittlere Streuung
dieser einzelnen 10 Werte für jede Versuchsperson gesondert berechnen.
Wir nennen sie Einzelvariation. Diese Einzelvariation ist psychologisch
und pädagogisch sehr wertvoll, da sie ein Gradmesser ist für die Stetigkeit
der Willensspannung, die der Einzelne bei seiner Arbeit zeigt. Wie
zu erwarten, ist diese Konzentration des Willens größer beim Kampf
der Beiden als bei Isolationsarbeit. Die Gegnerschaft wirkt also stark
willensspannend und vermehrt die Stetigkeit der allgemeinen geistigen
Haltung, da sie Schwankungen der Konzentration und der Impulsgebung
nicht zuläßt.
Betrachtet man nun die Stärke der einzelnen Kämpfer, die sich frei
zum Kampfe forderten, so sieht man, daß die jeweils Ringenden um nicht
gSLT zu große Unterschiede der Kraftleistung von einander abstehen. Dadurch
also war die Möglichkeit vorhanden, daß jeder der beiden Konkurrenten
aus dem Zweikampfe als Sieger hervorgehen konnte. Damit ist aber ein
Hinweis gegeben für die günstigsten Bedingungen jedes Wettkampfes über-
haupt. Liegen gar zu große Unterschiede der Kraftleistung zwischen den
beiden Konkurrierenden, so entwickelt sich keine frohe Kampfesstimmung,
und eine Leistungssteigerung durch Wetteifer tritt nicht ein. Bei idealem
Wettkampfe bilden die beiden Kämpfer eine Gruppe, in der Stoß und
Gegenstoß sich gegenseitig bedingen. Das Gesetz des Parallelismus der
Impulse besagt, daß die beiden Gegner ihre Impulse wechselseitig ein-
ander anpassen. Steigt die Leistung des Einen, so treibt auch der Gegner
seine Druckwerte in die Höhe. An dem Verlauf der Maßzahlen des Dynamo-
meters kann dieser Satz der Korrespondenz der Impulse gut begründet
werden. Die wechselseitige Anpassung der Ringenden stellt augenscheinlich
eine zweckmäßige Einrichtung der Kräfteökonomie unseres Organismus
dar. Nur in sehr seltenen Fällen kommt diese Tatsache den Versuchs-
personen zu Bewußtsein. Ändert man wieder künstlich die Bedingungen
des Wettkampfes, so müssen ganz andere Werte sich ergeben, wenn wir
dieselben Schüler, nun aber in anderer Kombination, den gleichen Wett-
kampf erledigen lassen. Wir bestimmen also diesmal die Gegner und stellen
immer solche Knaben einander gegenüber, deren Kraftleistungen starke
Unterschiede aufweisen. Gilt der Satz derKorrespondenz derlmpulse
und der Satz geringen Distanzniveaus als einer notwendigen Bedingung
idealen Wetteifers, so werden sich ganz eigenartige Druckwerte am Dynamo-
meter zeigen. Tabelle IV enthält links die Maßzahlen idealer Wettarbeit,
während rechts die Werte der anormalen Konkurrenz aufgezeichnet sind.
Wir sehen aus ihr, daß bei idealem Wetteifer eine beträchtliche Höhe
Der Wetteiier, seine Struktur und sein Ausmaß.
363
der Leistung erreicht wird, daß aber bei anormaler Wettarbeit, wo die
Distanz der Leistungsfähigkeit zwischen den beiden Wetteifernden von
vornherein sehr stark ist, eine erhebliche Verschlechterung der Druck-
werte auf beiden Seiten eintritt. Der Schwache erhebt seine Impulsstärke
nicht, da die Aussicht auf Überwindung des allzu starken Gegners nicht
besteht, und der Starke paßt seine Innervation den Impulsen des Schwachen
an und läßt nach. Der Unterlegene nimmt wohl öfters einen Anlauf, aber
fällt bald ab, so daß die mittlere Variation seiner Leistungen wächst. Der
Starke umgekehrt leistet vielleicht in den ersten Gängen noch Gutes, sinkt
dann aber auch und kann seine Willensspannung nicht aufrechterhalten,
da der ebenbürtige Gegner fehlt, der ihn in Atem hält.
Tabelle IV.
Summe von 5 Gängen
Summe von 5 Gängen
Vp. A.
Vp. B.
134 kg.
130 „
Vp. A.
Vp. E.
111 kg.
80 „
Vp. C.
Vp. D.
109 „
104 „
Vp. C.
Vp. F.
94 „
79 „
Wir folgern also, die Bedingungen idealen Wetteifers, sind dann ge-
geben, wenn die in Wettkampf Tretenden um nicht allzu große Unter-
schiede der Leistungsfähigkeit voneinander entfernt sind. Hier, wo es sich
freilich nicht um ein automatisches Mitgerissen werden, wie beim Taktieren
handelt, sondern um aktive Impulsgebung und aktive starke Dauerspannung,
besteht genau wie beim Punktieren eine Grenze, die kollektive Schwelle
des Wetteifers, unterhalb derer die Möglichkeit eines normalen Wett-
eifers mit nur heilsamen Folgen auf Leistungshöhe und Konzentration
zunehmend unwahrscheinlicher wird. Diesseits der Schwelle, die also
objektiv die Niveaudifferenzen der gegenseitigen Leistungsfähigkeit festlegt
und subjektiv die Grenze darstellt, wo seelisch die Begleitprozesse normalen
Wetteifems eintreten, ist die Möglichkeit einer idealen und heilsamen
Konkurrenz gegeben, die dann von diesem Punkte aus zunehmend größere
Chancen hat, leistungssteigernd und willensspanncnd zu wirken.
Ein Gesetz der Anpassung der Impulse umschließt weiter die beiden
Gegner, indem Stoß und Gegenstoß sich wechselseitig bedingen. Der Satz
der Korrespondenz der Impulse hat natürlich seine Grenze an der Grenze
des idealen Wettkampfes. Er verliert seine Wirksamkeit, wo von vorn-
herein die Möglichkeit eines Austausches des Rangplatzes nicht besteht.
Welches sind nun die qualitativen Prozesse, die in den beiden
Kämpfenden den Ablauf des Wettkampfcs begleiten? Es treten zwei
Individuen in die Konkurrenz ein. Noch sind sie einander gleichwertig.
Beide sind beseelt von dem gleichen Ziele, den Anderen zu übertreffen.
Jeder wird eine Höchstleistung des Willens aufbieten, um den Anderen
zu besiegen. Eine Tendenz zur Differenzierung aber ist darin gegeben,
daß der Eine Sieger werden wird. Der Eine geht als Sieger hervor,
während der Andere als Unterlegener den Wettkampf verläßt. Damit ist
364 Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
eine Sonderung und Scheidung unter den zunächst gleichwertigen Gefährten
eingetreten. Der Prozeß der kollektiven Differenzierung ist von starken
Gefühlstönen begleitet. Die Wertschätzung, die die Menge dem Sieger
und dem Besiegten zuteil werden läßt, ist eine ganz verschiedene und
zwar polar entgegengesetzt. Dem Sieger jubelt die Menge zu, während
der Besiegte nur Spott und Mißachtung evtl. auch Bedauern erntet. Auch
im Innern der Konkurrenten sieht es ganz verschieden aus. Der Freude
des Siegers steht das Bedauern des Besiegten gegenüber. Der Sieger will
seinen Rangplatz behaupten, während der Besiegte die Rangplätze ver-
tauschen möchte. Die Impulsgebung des zweiten Ganges entspringt also
ganz anderer Motivation. Der Unterschied soll dauernd so bleiben, wie er
nach Ausgang des ersten Ganges entstand, das ist der Wille des Siegers. Es
soll eine Umwertung der Rangplätze eintreten, dahin geht der Wunsch des
Besiegten. Dieses normale Ringen aber ist nur dann möglich, wenn der
Kräfteunterschied zwischen den Kämpfenden von vornherein nicht zu groß
ist. Nur dann hat jeder die Möglichkeit, Sieger zu werden, und wechsel-
seitig können Kräfte zur Entfaltung kommen. Im anderen Falle dagegen,
wo das Ergebnis des Kampfes schon von vornherein feststeht und die
Möglichkeit des Austausches der Rangplätze nicht gegeben ist, werden
beide Partner nachlassen. Der Unterlegene wird mutlos und verschlechtert
seine Leistung. Auch der Sieger findet keinen genügenden Anreiz zu
Höchstleistungen. Dann liegt ein anormaler Wettkampf vor, und die
Leistungen der Beiden senken sich, so daß dann die Einzelarbeit bessere
und stetigere Werte ergibt.
Die Praxis der Schule benutzt seit alter Zeit Ehrgeiz und Wetteifer der
Schüler, um mit deren Hilfe Antriebe zu reger Arbeit zu setzen. Die
Leistungen der Schüler werden von einem Richter, dem Lehrer, gewertet.
Er ordnet die Schüler in eine Rangordnung. Der Rangplatz des Schülers
ist somit der Gradmesser der Leistung und des Betragens der Einzelnen.
Wie im Wettkampfe eine Sonderung in einen Sieger und Besiegten eintritt,
die beide bei dem Zuschauer ganz verschiedene Wertschätzung genießen,
so findet durch die Verschiebung des Rangplatzes der Schüler ebenfalls
eine stete Differenzierung im Schülerstaate statt. Die unterschiedliche
Wertung der einzelnen Rangplätze in den Gefühlen der Schüler, Lehrer
und Eltern sind die Voraussetzung dafür, daß diese Einrichtung verschieb-
barer Rangplätze pädagogisch wertvoll ist und wirklich antriebssetzend
wirkt. Denn nun bekommt der Schüler für seine Bemühungen anschau-
liche und objektive Gegenwerte. Der subjektive Wissenszuwachs und die
eigne Freude am Fortschritt kommen wohl sehr viel seltener als Motive
zur Kraftentfaltung für den Schüler in Betracht als die sichtbaren objek-
tiven Erfolge, die im Erringen eines höheren Rangplatzes und den mannig-
fachen Gefühlswerten bestehen, die der Mitschüler, der Lehrer und die
Eltern jedem Auf- und Abstiege in der Rangordnung entgegenbringen.
Die heilsamen Wirkungen dieser anschaulichen Wertung und Abschätzung
der einzelnen Leistungen in der Rangordnung wird kaum ein Pädagog
vermissen wollen. Indem nun der Rangplatz den Schüler in eine ge-
staffelte Reihe von Leistungsträgern einordnet und indem dieser Rangplatz
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß. 365
beweglich ist und seinen Verschiebungen nach oben und unten hin die
mannigfaltigsten Gefühlswerte aller Beteiligten entsprechen, so werden da-
durch dauernd Antriebe im Schüler gesetzt, seine Leistungen auf der Höhe
zu halten oder zu verbessern. Damit aber, daß die unmittelbare Nach-
barschaft für jeden Rangplatz die größte Bedeutung hat, da er von ihr
aus zu allererst einen Angriff auf seine Stellung zu befürchten hat, wird
idealer Wettkampf dieser Untergruppen der Klassengemeinschaft dauernd
erregt und wachgehalten. Die natürlichen Verhältnisse der Schule nähern
sich also sehr den künstlichen Bedingungen des als ideal bezeichneten
Wettkampfes an. Die Unterschiede zwischen den Nachbarn sind nicht
allzugroß. Für die größere Anstrengung hat der Schüler stets den an-
schaulichen Gegenwert des Umtausches des Rangplatzes vor Augen. Eine
vollkommenste Bedingung dieser idealen Konkurrenz ist nach diesen
Voraussetzungen dann gegeben, wenn zunächst in den einzelnen Fächern
gesondert versetzt wird und dann auch eine Differenzierung der Klasse
nach dem Gesichtspunkt der Begabung eingetreten ist, wie dies im Mann-
heimer System geschieht. Denn dadurch ist es möglich, daß die Ver-
schiebbarkeit der Rangplätze weit größer sein kann als in einer Klasse,
wo die Begabungsgrade schon wieder Gruppen schaffen, deren Grenzen
von vornherein unübersteigbar sind. In der Klasse der Unterbegabten,
den Förderklassen, kann sich in ganz anderer Weise unter den einzelnen
Schülern ein Wetteifer mit all seinen heilsamen Folgen für Lehrer und
Lernenden entfalten als in der gemischten Klasse, wo der Unterbegabte
bald die Grenze seines engbemessenen Aufstieges in der Rangreihe zu fühlen
bekommt i). Unter solchen Voraussetzungen besteht die Möglichkeit, daß
der Schüler seine unterschiedlichen Fähigkeiten voll arbeiten läßt, da er
sich nun in steter Reibung mit annähernd gleichwertigen Genossen befindet,
die in seiner unmittelbaren Nähe sitzen.
Auch die Praxis des Lebens zeigt uns, daß das Unterschiedsbe-
bewußtsein, dem das Bestreben nach Austausch der Rangplätze entspringt,
am stärksten unter annähernd Gleichwertigen entbrennt. Der König
und der Bettler konkurrieren nicht, wohl aber die Angehörigen benach-
barter gesellschaftlicher Rangplätze. Gerade dann, wenn zwischen zwei
Personen oder Familien große Gleichartigkeit besteht, so wird der in einer
ganz bestimmten Richtung bestehende Unterschied um so stärker bewußt.
Denn nun hebt sich von dem großen gleichartigen Besitztum um so schärfer
dasjenige ab, was der Gefährte allein besitzt. Das prächtige Gewand des
Fürsten erregt nicht ernstlich den Neid der Frau X und löst nicht ernst-
haft den Wunsch aus, es zu tragen, wohl aber die kostbare Robe der
Frau Nachbarin, die sich damit trotz gleicher sozialer und ökonomischer
Lage schmückt und gerade deswegen sich weit über ihre Bekannten zu
deren großem Leidwesen heraushebt, so könnte man ein triviales Beispiel
wählen. Oder betrachten wir die Geschichte, so kann man nach Simmel
behaupten, daß die Lutheraner und Kalvinisten sich ärger befehdeten
1) über die vorzügliche Stimmung auch in den Förderklassen berichtete uns
Herr Schulrat Sickingcr persönlich.
366 Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
als die Lutheraner und Katholiken. Gerade weil also zu dem großen
gemeinsamen Bezirke gleichartiger Überzeugungen nun etwas Neues und
Trennendes hinzukam, so war das Bewußtsein der Verschiedenheit zwischen
den eigentlich näherstehenden religiösen Gemeinschaften stärker. Abstrakt
kann man den Sachverhalt dahin formulieren: Es kommt nicht auf die
absolute Größe des Unterschiedes an, der den Einen vom Anderen trennt,
sondern nur auf den relativen Betrag von Verschiedenheit, der zu einem
gemeinsamen Besitz von bestimmter Größe hinzukommt. Diese kollektive
Unterschiedsschwelle, die den Wunsch nach Umwertung der Rangplätze
entstehen läßt, untersteht also ebenfalls einem allgemeinen Relativitäten-
gesetz wie alles psychische Erleben.
Nachdem wir den Wettkampf der Beiden untersucht haben, wollen
wir ganze Gruppen in Konkurrenz treten lassen. Immer 5 Schüler bilden
eine Partei, die einem Führer untersteht. Als neues Moment des Wett-
kampfes kommt nun die Solidarität der Parteigenossen hinzu, die die
Impulsgebung meßbar beeinflußt. Weiter ist wichtig der Einfluß des
Führers, der ebenfalls an dem Gange der Zahlen zu bestimmen ist. Die
Solidarität ist den einzelnen Parteimitgliedern teils bewußt, teils wird sie
nicht im hellen Erlebnis gespiegelt. Stets aber äußert sich dies neue
Moment in den Maßzahlen. Tafel V lehrt, daß das Mittel der gleichen
Anzahl von Dynamometerdrucken bei Gruppenkonkurrenz größer ist als
bei einem Wettkampf von je zwei Knaben. Am wenigsten leisteten also
die Schüler, wenn sie allein arbeiteten. Bei idealer Konkurrenz zu Zweien
steigen die Werte und beim Gruppenwettkampf erheben sie sich zu einem
Maximum.
Tabelle V.
Einzelarbeit
Zweikampf
Gruppenkampf
Druckwerte
Mittl. Variat.
161,6 kg.
71,2 o/o
188,8 kg.
60,9 o/o
195,2 kg.
53,8 o/o
Parallel mit dem Anstiege der Druckwerte verkleinert sich die mittlere
Abweichung aller Werte vom Mittel als Zeichen dafür, daß die Ge-
schlossenheit der Leistungen mehr und mehr zunimmt. Schon die
beiden Kämpfenden unterstehen dieser auf Angleichung gerichteten Tendenz
und mehr noch die solidarisch verbundenen Genossen der kämpfenden
Gruppe. Auch die Streuung der einzelnen Werte der Versuchsperson
Tabelle VI.
Tabelle der Einzelvariationen.
Einzelarbeit Zweikampf Gruppenkampf
35,6 O/o I 30,50/0 I 26,8 0/0
um ihr eigenes Mittel, die als Maß der individuellen Willensspannung de-
finiert worden war, wird naturgemäß durch das Bewußtsein der Soli-
darität noch kleiner werden als im Zweikampfe, der auch schon bei
günstigen Bedingungen stark willensspannend wirkte. Nun bei dem Gruppen-
Der Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
367
kämpfe stellt sich eine ruhige Sicherheit des Arbeitens ein, da jeder sich
dessen be\Mißt ist, an seinem Gefährten eine Hilfe zu haben. Jeder ist
bestrebt, seine eigene und damit die Leistung seiner Gruppe recht hoch
zu treiben. In dieser Hinsicht ist Solidarität Gruppenegoismus. Versagt
nun wirklich einer der Parteigänger, so tritt sein Nachfolger für ihn und
damit für das gefälirdete Parteiwohl ein. Der Satz der Korrespondenz
der Impulse, der also die Impulsgebung zwischen den Gegnern bestimmt,
wird hier ergänzt durch die solidarisch gerichtete Anpassung der
Impulse der Gefährten einer Gruppe. Durch erhöhte Willensspannung
wird der Leistungsausfall eines der Parteimitglieder auszugleichen versucht.
Diese auf der Grundlage der Solidarität beruhende Anpassung der Impulse
ist neben der durch die Gegnerschaft bedingten Korrespondenz oft zu be-
obachten. Durch diese kollektive Anpassung aber wird ein einendes Band
um die Partei geschlungen, wie auch zwischen den Parteien durch jene
andere Art der Impulsanpassung Beziehungen geschaffen werden. Der Aus
sage der Schüler zufolge ist das Gruppenringeu am schönsten von allen
Wettarbeiten.
Die Anpassung der Impulse zwischen den gegnerischen Gruppen kann
man sehr gut belegen. Die Werte der ringenden Gruppen A und B schlagen
einen genauen Parallelismus ein. Sie lauten:
i/n
m/iv
V/Vl
vi/vn.
Gruppe A
Gruppe B
147,5
141,2
148,5
150,3
141
146,3
138,5 kg.
143,3 „
Die Maßzahlen entsprechen den einzelnen Gängen. Die zweite Zahl
zeigt ein Überwiegen der Gruppe B. Sie ist bis dahin unterlegen gewesen
und holt nach der Pause nach dem zweiten Gange zum Gegenstoß aus»
schwingt sich zum Sieger auf und behält dann die führende Rolle bei.
Trotz dieser Impuls Verstärkung bleibt der relative Parallelismus der Werte
der beiden Parteien erhalten. Auch die Impulsanpassung innerhalb der
eigenen Partei ist mit mannigfachen Zalilen zu beweisen, stiegen doch
einige Schüler um volle 20 Proz. ihrer Werte, als es galt, infolge Nach-
lassens eines der Genossen das bedrohte Parteiwohl zu retten. Ein Spezial-
fall der solidarischen Anpassung ist die Leistungszunahme des Führers.
Sein Vorbild und Beispiel wirkt kräftig auf die ihm unterstellte Partei.
Schließlich ist wieder Sieg und Niederlage von entscheidender Bedeutung.
Liegt eine ideale Konkurrenz vor, so daß die einzelnen Abstände der Partei-
leistungen nicht allzu groß sind, so wirkt das Wechselspiel von Sieg und
Niederlage wieder kräfteerregend. Sind dagegen zwischen den Leistungen
der Parteien allzu große Abstände von vornherein vorhanden, so wird der
Besiegte mutlos. Auch der Sieger läßt nach und geht in seinen Leistungen
herab, da der ebenbürtige Partner ihm fehlt. In einigen Fällen versucht
der Unterlegene noch einen Schlußantrieb, der aber meistens nicht allzu
große Leistungszuwüchse bringt. Wonii die stets siegreiche Partei eich
auch auf der Höhe erhält, so streuen «l-mi <ii ihre Werte oftmals stärker.
368 1^6^ Wetteifer, seine Struktur und sein Ausmaß.
da die Stetigkeit der Willensspannung geringer ist, weil die Leistungen
gleichwertiger Gegner nicht die volle Konzentration wach halten.
Dieser durch das Gefühl der Solidarität noch verstärkte Wetteifer wird
sich oft auch im Schulbetriebe beobachten lassen. Wir erinnern an die-
jenigen Schulsysteme, in denen Koeduktion besteht. Dann ist die Partei,
der jeder angehört, durch die Natur gegeben und besteht in dem angeborenen
Geschlechte. Freilich wird eine w^ertvolle Wirkung nur dann recht in die
Erscheinung treten, wenn diejenigen Leistungen, in denen die Geschlechter
wetteifern, von vornherein nicht zu große Unterschiede der Quantität und
Qualität nach aufweisen, damit ein freudiger und idealer Wetteifer sich
entwickeln kann. •
Überblicken wir diese Versuchsreihen, die lediglich die Willenstätig-
keit in ihrer Abhängigkeit von Momenten der Gemeinschaft behandeln
und nur zwei Seiten der Willenshandlung mit einfachsten experimentellen
Hilfsmitteln untersuchen, nämlich die Schnelligkeit der Willenshandlung
im Punktierversuch und die Kraftleistung mit Hilfe des Dynamometers,
so zeigte sich bald, daß eine Fülle neuer Tatsachen und Gesetze sich auf-
finden lassen, wenn man die Wechselwirkung der Gruppenmitglieder unter-
einander studiert. Welche Seite man nun auch experimentell analysiert,
das Gedächtnis, Assoziation oder den Willen, stets ergibt sich, daß die
Gruppe neue und eigenartige seelische Bedinguugen schafft, die sich in
spezifischen Änderungen der einzelnen seelischen Fähigkeiten der in einer
Gruppe Vereinigten äußern. Dadurch wird ein experimenteller Beweis er-
bracht für die alte Grundüberzeugung, daß die Gruppe keineswegs ein
summierbares Nebeneinander von Individuen ist, die lediglich den Gesetzen
der Individualpsychologie gehorchen und die in der Gruppe eben nur ein
Mosaik gesonderter Einzelklötzchen darstellen, sondern daß vielmehr die
Gemeinschaft von Menschen neue und eigenartige Wechselwirkungen schafft,
deren kausale und teleologische Zergliederung Aufgabe der Gruppenpsycho-
logie ist. Die Ergebnisse aber dieser exakten Gruppenpsychologie sind
pädagogisch deswegen so wichtig, da es nach Einführung der allgemeinen
Schulpflicht so gut wie stets Gruppen von Schülern sind, die der erzieherischen
Einwirkung unterstehen. Eine genaue Kenntnis aber der seelischen Be-
dingungen der Gruppe hat damit für die pädagogische Praxis sowie auch
für die Fragen der äußern und innern Organisation eine weittragende
Bedeutung.
Literatur.
Sighele: Contra il parlamentarismo. 1865.
„ : La folla delinquente, II. Aufl., 1895.
„ : La coppia criminale, IL Aufl., 1897.
Tarda: Les Lois sociales. 1898.
Simmel: Über soziale Differenzierung. 1890.
Le Bon: La psychologie des foules. 1895.
Moede: Experimentelle Gruppenpsychologie. 1914.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
369
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit und
Urteilsbeständigkeit der Schulkinder.
Von Artur Lode.
(Schluß.)
C. 37 Schüler aus einer normalen 2. Klasse mit den Fortschritts-
zensuren II — III. Ihrem Alter nach sind 28 Schüler 12 Jahre und 9 Schüler
13 Jahre alt. Als beliebte Bilder mit der größten Stimmenanzahl sind ge-
wählt worden Überfahrt (19), Indianerkampf (14), Kreuzigung (13), Stier-
kampf (10), Landschaft (10), Lasset die Kinder zu mir kommen (10). Beim
2. Versuche schnellt die Stimmenzahl für Überfahrt auf 28, dann folgen
Landschaft (15), Indianerkampf (12) und Luther (10). Die übrigen Bilder
erhielten weniger als 10 Stimmen und gingen in ihrer Beliebtheit beim 3. Ver-
suche noch mehr zurück. Es erhielten Überfahrt 30 Stimmen, Landschaft 11
und Indianerkampf 10 Stimmen. Ausführlicher mag die folgende Tabelle
(Nr. 7) orientieren:
Tabelle 7.
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1
1
1
4^
es
TS
TS
3
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1
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TS
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2
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6
10
1
1
12
1
3
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11
7
9
7
4
4
4
4
3
7
8
2
1
10
—
Die folgende Übersicht (C) läßt wieder die Abweichungen vom 1. Versuche
bei jedem einzelnen Schüler erkennen. (S. 372.)
Hieraus ergibt sich, daß („die beliebten Bilder") beim 1. und
2. Versuche
in 9 Fällen (24,32%) alle 3 Angaben, |
in 12 „ (32,43%) 2 „ .., . ^.
in )nc^ Ano/\ 'AU j ) ubefeinstimmeii.
in 12 ,, (32,43%) eine Angabe und
in 4 „ (10,81%) keine „ |
Viermal (10,81%) sind beliebte Bilder des 1. Vers, zu unbel. Bildern
und einmal (2,7%) ist ein unbel. Bild beim 2. Vers, zu einem bei. Bilde
geworden.
■ Zeltschrift f. r&dagog. Psycholog!«. 24
370
Expsrlm enteile Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
übereinstimmen .
Aus dem Vergleich zwischen dem 2. und 3. Vers, ergibt sich, daß
in 11 Fällen (29,73%) alle 3 Angaben,
in 18 „ (48,64%) 2
in 7 ,, (18,92%) eine Angabe und
in einem Falle (2,70%) keine „
Dreimal sind beliebte Bilder des 2. Vers, zu unbel. beim 3. Vers, geworden
(8,11 %).
Ferner ergibt sich aus dem Vergleich des I.Vers, mit dem 3. Vers., daß
in 4 Fällen (10,81%) alle 3 Angaben,
in 20 „ (54,06%) 2
in 10 ,, (27,02%) eine Angabe und
in 3 „ (8,11%) keine „
Wieder viermal (10,81%) treten bei. Bilder des 1. Vers, als unbeliebte
Bilder und einmal (2,70%) ein unbel. B. als beliebtes beim 3. Vers. auf.
In dieser Klasse ist die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern bei allen
3 Versuchen beantwortet worden
übereinstimmen.
mit
„3"
Angaben
von 4
Schülern
(10,81 %),
mit
4
„ 12
(32,43%),
mit
5
„ 12
(32,43%),
mit
6
„ 5
(13,51%),
mit
7
„ 2
( 5,42%) und
mit
8
,, 2
( 5,42%).
Über die unbeliebten Bilder in dieser 2. Kl. gibt uns folgende Tabelle
(Nr. 8) Aufschluß:
Tabelle 8.
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1
08
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8
1
—
10
5
7
—
3
2
—
6
1
—
1
9
2
2
6
2
6
—
Dazu sagt uns die Übersicht (siehe Seite 372!), daß
der 1. und 2. Vers, bei 20 Schülern (54,06%),
der 2. „ 3. „ „ 23 „ (62,07%),
der 1. „ 3. „ „ 18 „ (48,64%), ferner daß
alle 3 Versuche ,, 16 „ (43,24%) übereinstimmen,
aber „ 8 ,, (21,62%) bei jedem Versuche
ein anderes unbeliebtes Bild genannt wird.
Die Tabelle Nr. 9 stellt die wichtigsten Ergebnisse dieser Klasse zu.^
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Experimentelle Un|«rsuchungen über die Urteilsfähigkeit xisw.
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372 Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
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Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
373
D. 33 Schüler aus einer 1. Kl. (Fortschrittzensuren Illa u. III.)
Alter: 13 bis 14 Jahre.
Als beliebte Bilder wurden ausgewählt beim 1. Versuche mit den höch-
sten Stimmenzahlen Überfahrt (22), Indianerkampf (17), Landschaft (12)
und Kreuzigung (10). Beim 2. Versuche behaupten diese Bilder ihren Rang,
nur Kreuzigung sinkt auf 5 Stimmen und wird jetzt von manchem Bilde
übertroffen, dem es erst voraus war. Beim 3. Versuche ergibt sich keine
weitere größere Verschiebung. Näheres ersehen wir wieder aus der folgenden
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Die Abweichungen der einzelnen Versuche von einander ergeben sich
aus der folgenden Übersicht D (S. 374).
Darnach stimmen die beliebten Bilder überein beim 1. und 2. Versuche
in 11 Fällen (33 14%) in allen 3 Angaben,
in 15 „ (45.45%),, 2
in 0 „ ( — %) ,, einer Angabe und
in 7 „ (21,21%),, keiner Angabe.
In einem Falle (3,03 %) wird ein bei. Bild zum unbel., in zwei Fällen
(6,06 %) wird ein unbel. Bild zum beliebten.
Beim Vergleich des 2. Vers, mit dem 3. Vers, zeigt sich, daß über-
einstimmen
in 14 Fällen (42,42%) alle 3 Angaben,
in 13 „ (39,39%) 2
in 5 „ (15,15%) eine Angabe und
in einem Falle (3,03%) keine Angabe, ferner daß
in „ „ ( „ ) ein unbel. Bild des 2. Vers, zum
bei. wird.
Vergleicht man den 1. und 3. Vers., dann zeigt sich, daß über-
einstimmen
in 12 Fällen (36,36%) alle 3 Angaben,
in 13 „ (39,39%) 2
in 6 „ (18,18?/^) eine Angabe,
in 2 „ ( 6,06%) keine Angabe, ferner daß
in 2 „ ( 6,06 %) ein unbel. Bild des I.Vers, zum bei. und
in einem Falle (3,03 ?/{,) ein bei. Bild des 1. Vers, beim 3. Vers,
zum unbel. geworden ist.
374 Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
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Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
375
Die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern beantworten bei allen 3 Versuchen
mit „3" Angaben 9 Schüler (27,27%),
„ 4 „ 7 „ (21.21%),
„ 5 „ 10 „ (30,31%),
„6 „ 5 „ (15,15%) und
„7 „ 2 „ (6,06%).
Die unbeliebten Bilder dieser Klasse zeigt
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Aus der Übersicht zu dieser Klasse erkennen wir, daß
der 1. und 2. Vers, bei 20 Schülern (60,62%),
„ 2. „ 3. „ „ 24 „ (72,72%),
„ 1. „ 3. „ „ 22 „ (66,66%), ferner daß
alle 3 Versuche ,, 18 „ (54,54%) übereinstimmen,
aber „ 3 „ ( 9,10%) bei jedem Ver-
suche ein anderes unbeliebtes Bild gewählt worden ist.
Die Tabelle (Nr. 12, S. 371) zeigt nochmals die wichtigsten Ergebnisse in
dieser Klasse.
E. 33 Schüler aus einer besseren 1. Kl. (Fortschrittzens. IIa — Illa).
Alter: 13 bis 14 Jahre.
Sie wählten als beliebte Bilder aus beim ersten Versuche mit mehr
als 10 Stimmen nur Überfahrt (19) und Indianerkampf (12), beim 2. Ver-
suche Überfahrt (20) und Landschaft (12) und dieselben Bilder beim 3. Versuche.
Die anschließende Tabelle (Nr. 13) ermöglicht einen genaueren Vergleich:
Tabelle 13.
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Experimentelle Untersuchmigen über die Urteilsfähigkeit usw.
377
Darnach stimmen die beliebten Bilder überein beim 1. und 2.Versuche
in 6 Fällen (18,18%) in allen 3 Angaben,
,, 18 „ (54,54%) „ 2
„ 6 „ (18,18%) ,, einer Angabe und
„ 3 ,, ( 9,09%) ,, keiner Angabe;
ferner sieht man, daß
in 2 Fällen ( 6,06%) ein beliebtes Bild des 1. Vers, zum
unbel. und
in einem Falle (3,03%) ein unbel. Bild des 1. Vers, zum be-
liebten Bilde geworden ist.
Bei einem Vergleich des 2. Vers, mit dem 3. Vers, zeigt sich, daß
übereinstimmen
in 12 Fällen (36,36 %) alle 3 Angaben,
„ 12 „ (36,36 %) 2 „
,, 8 „ (24,24 %) nur eine Angabe und
„ einem Falle (3,03 %) keine Angabe,
ferner daß in 3 Fällen (9,09 %) beliebte Bilder des 2. Vers, beim 3. Vers,
als unbeliebte und einmal ein unbel. Bild als beliebtes Bild auftreten.
Vergleicht man den 1. und 3. Versuch, dann zeigt sich, daß über-
einstimmen
in 6 Fällen (18,18 %) alle 3 Angaben,
„ 15 „ (45,45 %) 2 „
,, 9 ,, (27,27 %) nur eine Angabe und
,, 3 ,, ( 9,09 %) keine Angabe, ferner daß
„ 5 „ (15,15 %) beliebte Bilder als unbel. und
,, einem Falle (3,03 %) ein unbel. Bild des 1. Vers, als be-
liebtes Bild beim 3. Vers, auftreten.
Die Frage nach den ,,3" beliebtesten Bildern beantworten bei allen 3 Versuchen
mit „3" Angaben 5 Schüler (15,15 %),
» 4 „ 10 „ (30,31 %),
„ 5 „ 9 „ (27,27 %),
,, 6 „ 6 „ (18,18 %),
„7 „ 2 „ ( 6,06 %) und
» 8 „ 1 „ ( 3,03 %).
Die unbeliebtesten Bilder dieser 1. Kl. sind:
Tabelle 14.
CO
55
378
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
Nach der Übersicht auf Seite 376 ergibt sich, daß
der 1. und 2. Versuch bei 8 Schülern (24,24 %),
,, 2. ,, o. ,, ,, lu ,, (57,57 /q),
„ 1. „ 3. ,, „ 8 „ (24,24 %), ferner daß
alle 3 Versuche „ 6 „ (18,18 %) übereinstimmen,
aber „ 9 „ (27,27 7o) bei je dem Ver-
suche ein anderes unbeliebtes Bild gewählt worden ist.
Die Zusammenstellung der wichtigsten Ergebnisse in dieser Klasse ergibt
die Tabelle Nr. 16 S. 379.
• Versuchen wir nun, nachdem wir gesehen haben, wie die einzelnen
Klassen geurteilt haben, zu einem Hauptergebnis zu gelangen, so kann
das am besten auf die Weise geschehen, daß wir die einzelnen Klassen in bezug
auf ihre Urteilsbeständigkeit vergleichen. Wir berücksichtigen zunächst
nur die Urteile über die beliebten Bilder. (Tabellen 17 — ^20.)
(17)
1. Vergleich zwischen dem 1. und 2. Versuche.
Es stimmen
überein
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
alle 3 Angaben
231/3%
121/2%
24,32%
331/3%
18,18%
zwei Angaben
40%
40%
32,43%
45,45%
54,54%
eine Angabe
26%%
25%
32,43%
—
18,18%
keine Angabe
10%
221/2%
10,81%
21,21%
9,09%
(18)
2. Vergleich zwischen dem 2. und 3. Versuche.
Es stimmen
überein
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
alle 3 Angaben
362/3%
25%
29,73%
42,42%
36,36%
zwei Angaben
36%%
35%
48,64%
39,39%
36,36%
eine Angabe
20%
321/2%
18,92 %
15,15%
24,24%
keine Angabe
6%%
7^2%
2,70%
3,03%
3,03%
(19) 3. Vergleich zwischen dem 1. und 3. Versuche.
Es stimmen
überein
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
alle 3 Angaben
20%
171/2%
10,81%
36,36%
18,18%
2 Angaben
431/3%
471/2%
54,06%
39,39%
45,45%
1 Angabe
231/3%
25%
27,02%
18,18%
27,27%
keine Angabe
131/3%
10%
8,11%
6,06%
9,09%
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
379
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380
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
(20)
4. Vergleich aller 3 Versuche miteinander.
Es stimmen
überein
alle Angaben
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
. .
Klasse
E
aller 3 Versuche
131/3%
121/2%
10,81 %
27,27%
12,12%
des 1. u. 2. Vers,
231/3%
121/2%
24,32%
33,34%
18,18%
des 2. u. 3. Vers.
362/3%
25%
29,73%
42,42%
36,36 %
des 1. u. 3. Vers.
20%
171/2%
10,81%
36,36%
18,18%
Die nächste ^Übersicht (21) soll uns zeigen, wie viel beliebte Bilder die
Schüler der einzelnen Klassen ausgewählt haben.
Zahl der ge-
nannten Bilder
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
„3"
131/3%
121/2%
10,81 %
27,27%
15,15%
4
331/3%
15%
32,43%
21,21%
30,31 %
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25%
32,43%
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5,42%
6,06%
6,06%
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5%
5,42%
—
3,03%
Nun zu den unbeliebten Bildern.
Tabelle 22.
Vergleich
zwischen
Es werden
genannt
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
Versuch 1 u. 2 j
die gleichen
neue Bilder
562/3%
431/3%
35%
65%
54,06%
45,94%
60,72%
39,28%
24,24%
75,76%
Versuch 2 u. 3 |
die gleichen
neue Bilder
631/3%
362/3%
521/2%
471/2%
62,07%
37,93%
72,72%
27,28%
57,57%
42,43%
Versuch 1 u. 3 |
die gleichen
neue Bilder
60%
40%
471/2%
521/2%
48,64%
51,36%
66,66%
33,34%
24,24%
75,76%
Vergleich aller 3 Versuche miteinander. (Tabelle 23.)
Es stimmen überein
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
alle 3 Versuche
462/3%
321/2%
43,24%
54,54%
18,18%
2 Versuche
40%
35%
35,14%
36,36%
54,54%
keinerlei Übereinst.
131/3%
321/2%
21,62%
9,10%
27,27%
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfälligkeit usw.
381
Endlich mag uns die 24. Tabelle sagen, welches Ergebnis sich darbietet,
wenn wir alle Versuche untereinander vergleichen und dabei die beliebten
und die unbeliebten Bilder berücksichtigen:
Tabelle 24.
Es stimmen überein
alle Angaben
Klasse
A
Klasse
B
Klasse
C
Klasse
D
Klasse
E
bei allen 3 Vers.
10%
71/2%
8,11%
21,21%
9,09%
beim 1. und 2. Vers.
20%
71/2%
21,62%
30,31%
12,12%
beim 2. und 3, Vers.
231/3%
171/2%
27,02%
36,36%
21,21%
beim 1. und 3. Vers.
20%
121/2%
8,11%
30,31%
9,09%
Nach der vorstehenden Tabelle (Nr. 24) besitzt die Klasse D (schwach-
befähigte Schüler der 1. Kl. !) die beste Urteilsbeständigkeit. Erst an
3. Stelle folgt die 1. Kl., die die befähigsten Schüler enthält! Sie wird
sogar übertroffen von der Klasse 3, in welcher die schlechtesten Schüler
sitzen! Dieses Ergebnis überrascht, da doch eigentlich zu erwarten war,
daß die unbefähigten Schüler in ihrer Urteilsbeständigkeit den befähigteren
bedeutend nachstehen würden.
Wird sic-h auch ein so überraschendes Ergebnis darbieten, wenn man die
Schüler nur nach dem Alter zusammenstellt und die Befähigung einmal
ganz unberücksichtigt läßt? Diesem Gedanken nachgehend, ordnete ich
die Schüler der fünf untersuchten Klassen dem Alter nach. Von den 173
Schülern waren 21 elfjährig, 55 zwölfjährig und 97 dreizehnjährig. Nach
den Übersichten (siehe vorn!) konnte ich nun folgendes zusammenstellen:
I. 21 elfjährige Schüler.
Sie wählten aus als ,, beliebte" Bilder beim 1. Versuche mit größter
Stimmenzahl Indianerkampf (13) und Überfahrt am Schreckenstein (9).
Beim 2, Vers, trat das letztere Bild mit 12 Stimmen vor Indianerkampf (9)
an die Spitze und hielt diese auch beim 3. Versuche mit 14 gegen 12 Stimmen.
Näheres sagt die
Tabelle 25.
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382
Experimentelle Untersuchvingen über die Urteilsfähigkeit usw.
Aus den Übersichten (A u. B) der beiden 3. Klassen bereclinete ich nun, wie
oft die Angaben aller Elfjährigen bei den einzelnen Versuchen über-
einstimmten. Nur die beliebten Bilder berücksichtigt, ergab sich, daß beim
1. und 2. Versuche
in 2 Fällen ( 9,52 %) alle 3 Angaben,
„ 8 „ (38,08 %) 2
„ 7 ,, (33,33 %) eine Angabe und
„ 4 „ (19,04 %) keine Angabe
übereinstimmten.
In je einem Falle war ein beliebtes Bild unbeliebt, bzw. ein unbeliebtes
Bild beliebt geworden.
Beim 2. und 3. Versuche stimmten überein
in 5 Fällen (23,82 %) alle 3 Angaben,
„ 8 „ (38,08 %) 2 „ und ebenfalls
,,8 „ (38,08 %) eine Angabe. In einem Falle war ein beliebtes
Bild des 2. Vers, zum unbel. Bilde beim 3. Versuche geworden.
Beim 1. und 3. Versuche stimmten überein
in 3 Fällen (14,28 %) alle 3 Angaben,
„ 13 „ (61,90 %) 2
,, 2 „ ( 9,52 %) eine Angabe und
„ 3 „ (14,28 %) keine Angabe.
Wieder einmal wurde ein beliebtes Bild des 1. Versuches beim 3. Vers, zum
unbel. Bilde.
Bei den „11 jährigen" wurde die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern
bei allen 3 Versuchen beantwortet
mit „3" Angaben von
4
5J ^ 5J 5>
5 5 '-' 95 5*
1 Schüler ( 4,76 %),
5 Schülern (23,81 %),
5 „ (23,81 %),
9 „ (42,85 %) und
1 Schüler ( 4,76 %).
Als unbeliebte Bilder treten auf:
Tabelle 26.
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1
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3
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1
3
7
2
—
Experimentelle Unt^suchimgen über die Urteilsfähigkeit usw.
383
Aus den Übersichten ergibt sich, daß
der 1. und 2. Vers, bei 10 Schülern (47,62 %),
,, 2. „ 3. „ „ 10 „ (47,62 %) und
„ 1. „ 3. „ „ 11 „ (52,38 %) übereinstimmen.
Alle 3 Versuche stimmen überein bei 7 Schülern (33*4 %)i keinerlei
Übereinstimmung besteht bei 4 Schülern (19,04 %).
Die Ergebnisse für die 11jährigen sind zusammengestellt in
Tabelle 27 (S. 379).
II. 55 zwölfjährige Schüler.
Die folgenden Tabellen und Zusammenstellungen zeigen uns, wie alle
12jährigen Schüler aus allen 5 untersuchten Klassen geurteilt haben. Sie
nannten folgende beliebte Bilder mit höchster Stimmenanzahl beim
1. Versuche: Indianerkampf (24), Überfahrt (23) und Kreuzigung (21), beim
2. Versuche Überfahrt (33) und Landschaft (20), während die anderen unter
20 Stimmen zurückgingen, beim 3. Versuche wieder Überfahrt (39!) und
Landschaft (22). Genauere Angaben enthält die
Tabelle 28;
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33
39
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20
22
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14
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I
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Aus den Übersichten der entsprechenden Klassen (A, B u. C), denen die
Schüler angehören, ergab sich, daß
beim 1. und 2. Versuche
in 12 Fällen (21,82 %) alle 3 Angaben,
„ 18 „ (32,72 %) 2
„ 16 „ (29,09 %) eine Angabe und
„ 9 „ (16,36 %) keine Angabe übereinstimmten, daß
„3 ,, ( 5,46 %) beliebte Bilder unbeliebt und
,, 1 Falle ( 1,82 %) unbel. Bilder des I.Vers, zu beliebten
beim 2. Vers, geworden waren; ferner daß
384
Experimentelle Untersuchttngen über die Urteilsfähigkeit usw.
beim 2. und 3. Versuche
in 16 Fällen (29,09 %) alle 3 Angaben,
„ 21 „ (38,18 %) ^ 2
,, 13 ,, (23,64 %) eine Angabe und
,, 5 „ ( 9,09 %) keine Angabe übereinstimmten, daß
„ 3 ,, ( 5,45 %) beliebte Bilder des 2. Vers, zu un-
beliebten beim 3. Vers, geworden waren.
Beim 1. und 3. Versuche stimmten überein
in 8 Fällen (14,55 %) alle 3 Angaben,
„ 24 „ (43,64 %) 2
,, 16 „ (29,09 %) eine Angabe und
„ 7 „ (12,71 %) keine Angabe;
,, 5 ,, ( 9,09 %) wurden beliebte Bilder unbeliebt,
„ 2 „ ( 3,63 %) wurden unbel. Bilder beliebt.
Bei allen 3 Versuchen überhaupt beantworteten von den , ,12jährigen"
die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern
mit „3" Angaben 8 Schüler (14,55 %),
„ 4
12
(21,82 %),
„ 5
14
, (25,45 %),
„ 6
11
, (20,00 %),
„ 7
8
, (14,55 %) und
„ 8
2
, ( 3,63 %). •
Als unbeliebte Bilder werden bezeichnet;
Tabelle
29.
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1
1
18
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—
3
—
—
—
6
—
7
1
1
2
8
3
3
9
8
7
—
Aus den Übersichten ergibt sich, daß
der 1. und 2. Vers, bei 27 Schülern (49,08 %),
„ 2. „ 3. „ „ 35 „ (63,63 %),
,, 1. ,, 3. „ ,, 25 „ (45,46 %) übereinstimmen.
Alle 3 Versuche stimmen überein bei 21 Schülern (38,18 %), keinerlei Über-
einstimmung besteht bei 13 Schülern (23,64 %).
Die Ergebnistabelle (Nr. 30) der 12jährigen gibt nun dieses Bild:
Experimentelle Unt«suchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
385
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Adagog. Psychologie.
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386
Experimentelle üntersuchtingen über die Urteilsfähigkeit usw.
III. 97 dreizehnjährige Schüler.
Als beliebte Bilder wurden bei allen 3 Versuchen gewählt:
Tabelle 31.
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19
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12
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- nur die bei. Bilder be
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beim 1. und 2. Versuche
in 24 Fällen (24,74 %) alle 3 Angaben,
47 „ (48,45 %) 2
13
13
6
3
geworden.
Beim 2.
(13,40 %) eine Angabe,
(13,40 %) keine Angabe übereinstimmen.
( 6,19 %) waren beliebte Bilder zu unbeliebten,
( 3,09 %) ,, unbeliebte Bilder zu beliebten
und 3. Versuche stimmten überein
in 37 Fällen (38,15 %) alle 3 Angaben,
39 „ (40,20 %) 2
18 „ (18,56 %) eine Angabe,
3 ,, ( 3,09 %) keine Angabe; ferner waren
4 ,, ( 4,12 %) beliebte Bilder zu unbeliebten,
1 Falle ( 1,03 %) unbel. Bilder zu beliebten geworden.
Beim 1. und 3. Versuche stimmten überein
in 24 Fällen (24,74 %) alle 3 Angaben,
, (44,32 %) 2
(24,74 %) eine Angabe,
, ( 6,19 %) keine Angabe; ferner waren
, ( 9,28 %) beliebte B. des 1. Vers, zu unbeliebten
beim 3. Vers.,
„4 „ ( 4,12 %) unbel. B. des 1. Vers, zu beliebten
beim 3. Vers, geworden.
Bei den ,,13 jährigen" wurde die Frage nach den ,,3" liebsten Bildern
bei allen 3 Versuchen beantwortet
mit „3" Angaben von 18 Schülern (18,56 %),
43
24
6
9
4
„ 28
(28,86 %),
5
„ 28
(28,86 %),
6
„ 15
(15,47 %),
7
„ 6
(6,19 %) und
8
„ 2
(2,06 %).
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
387
Als unbeliebte Bilder wurden bezeichnet
Tabelle 32.
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1
3
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1
8
1
2
2
14
10
5
15
22
7
1
Aus den Übersichten ergibt sich, daß
der 1. und 2. Vers, bei 42 Schülern (43,30 %),
» 2. „ 3. „ „ 61 „ (62,89 %) und
,, 1. ,, 3. ,, ,, 49 ,, (50,52 %) übereinstimmen.
Alle 3 Versuche stimmen überein bei 39 Schülern (40,20 %), aber keiner-
lei Übereinstimmung besteht bei 20 Schülern (20,62 %).
Als Hauptübersicht ergibt sich endlich die Tabelle 33 (S. 385).
Um zu einem Hauptergebnis zu gelangen, stellen wir in den nächsten
Übersichten (Tabellen 34 — 38) die einzelnen Altersstufen nebeneinander und
berücksichtigen zunächst nur die Urteile über die „beliebten" Bilder.
Vergleiche zwischen Versuch 1 und 2. (Tabelle 34.)
Es stimmen
überein
Bei den 11 jähr.
Bei den 12jähr.
Bei den 13jähr.
alle 3 Angaben
9,52%
21,82%
24,74%
2 Angaben
38,08%
32,72%
48,45%
1 Angabe
33,33%
29,09%
13,40%
keine Angabe
19,04%
16,36%
13,40%
Versuch 2 und 3. (Tabelle 35.)
Es stimmen
überein
Bei den 11 jähr.
Bei den 12jähr.
Bei den ISjähr.
alle 3 Angaben
23,82%
29,09%
88,15%
2 Angaben
38,08%
38,18%
40,20%
1 Angabe
38.08%
23,64%
18,56%
keine Angabe
—•
9,09%
3.09%
2ö*
388
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
Versuch 1 und 3. (Tabelle 36.)
Es stimmen
überein
Bei den 11 jähr.
Bei den 12jähr.
Bei den 13jähr.
alle 3 Angaben
14,28%
14,55%
24,74%
2 Angaben
61,90%
43,64%
44,32%
1 Angabe
9,52%
29,09%
24,74%
keine Angabe
14,28%
12,71%
6,19%
Vergleich aller 3 Versuche miteinander. (Tabelle 37.)
Es stimmen alle
3 beliebten Bilder
überein bei
Bei den 11 jähr.
Bei den 12jähr.
Bei den 13jälir.
allen 3 Versuchen
4,76%
14,55%
17,53%
beim 1. u. 2. Vers.
9,52%
21,82%
24,74%
beim 2. u. 3. Vers,
23,81%
29,09%
38,15%
beim 1. u, 3. Vers.
14,28%
14,55%
24,74%
Die 38, Tabelle zeigt uns, wie die verschiedenen Altersstufen die
Frage nach den ,,3" liebsten Bildern bei allen 3 Versuchen beantwortet haben:
Tabelle 38.
Zahl der
genannten Bilder
11jährige
12jährige
13 jährige
„3"
4,76%
14,55%
18,56%
4
23,81%
21,82%
28,86%
5
23,81 %
25,45%
28,86%
6
42,85%
20,00%
15,47%
7
—
14,55%
.6,19%
8
4,76%
3,63%
2,06%
Nun zu den unbeliebten Bildern.
Tabelle 39.
Vergleich
zwischen
Es werden
genannt
bei den
11jährigen
bei den
12jährigen
bei den
13jährigen
Versuch 1 u. 2 |
die gleichen
neue Bilder
47,62%
52,38%
49,08%
50,92%
43,30%
56,70%
Versuch 2 u. 3 |
die gleichen
neue Bilder
47,62%
52,38%
63,63%
36,37%
62,89%
37,11%
Versuch 1 u. 3 j
die gleichen
neue Bilder
52,38%
47,62%
45,46%
64,54%
50,52%
49,48%
Experimentelle Unt;ersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
389
Vergleich aller 3 Versuche miteinander, (Tabelle 40.)
Es stimmen
überein
Bei den lljähr.
Bei den 12jähr.
Bei den 13jähr.
alle 3 Versuche
33,33%
38,18%
40,20%
2 Versuche
47,63%
38,18%
39,18%
keinerlei Übereinst.
19,04%
23,64%
20,62%
Nun mag uns eine letzte Tabelle (Nr. 41) sagen, welches Ergebnis sich
darbietet, wenn wir beliebte und unbeliebte Bilder berücksichtigen und alle
3 Versuche untereinander vergleichen:
Hauptergebnis (Tabelle 41):
Es stimmen
überein
alle Angaben
Bei den lljähr.
Bei den 12jähr.
Bei den 13jähr.
aller 3 Versuche
4,76%
9,09%
13,40%
des 1. u. 2. Vers.
9,52%
16,36%
20,62%
des 2. u. 3. Vers.
9,52%
23,64%
28,86%
des 1, u. 3. Vers.
14,28%
9,09%
19,59%
Diesmal stellt sich das ein, was ich erwartet hatte: Je älter die Schüler
sind, desto sicherer urteilen sie, desto beständiger wird ihr Urteil, wenn man
auch zugeben muß, daß die Urteilsbeständigkeit, die Urteils-
fähigkeit im großen und ganzen eine recht mäßige ist. Von
97 13 — 14 jährigen Schülern sind nur 13 Schüler (13,4 %) imstande, ein
sicheres, feststehendes Urteil über bestimmte Bilder abzugeben, wenn
diese ihnen zu verschiedenen Zeiten vorgelegt werden.
Ein letzter Abschnitt unserer Arbeit soll noch berichten, welche der 15 Bil-
der als besonders beliebt und als besonders unbeliebt gegolten haben und welche
Gründe für die Beliebtheit und Unbeliebtheit von den Schülern angeführt
worden sind.
Da von den 173 Schülern bei jedem der 3 Versuche drei beliebte Bilder,
aber jedesmal nur ein unbeliebtes Bild zu bezeichnen waren, so wurden
im ganzen 1557 Urteile über beliebte und 519 Urteile über unbeliebte Bilder
abgegeben. Es entfielen nun (in Prozenten ausgedrückt)
Beliebtheitsurt. Unbeliebtheitsurt.
anf
("herfahrt am Schreckenstein
Indianerkampf
Heidclandschaft
Kreuzigung
Stierkampf
Rehe im Walde
19,90?^
13.31 %
10,82%
8,83%
7,55%
6,85%
0.19%
9,60%
0,88%
5,95%
10,37%
0.77%
390 Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw.
Napoleon 1 6,08% 6,53%
Lasset die Kindlein zu mir kommen . . 5,38% 1,54%
Martin Luther 5,25% 3,84%
Königstiger 3,97% 9,41%
Blinder Bettler 3,65% 0,96%
Gute Freunde 3,39% 1,54%
Geographie in der Dorfschule 3,01% 4,80%
Am Wegweiser 0,96% 19,58%
Morgenlied 0,51% 21,70%
(Fehlende Angaben) 0,19% 2,50%
Darnach überwiegt die Beliebtheit die Unbeliebtheit bei
Überfahrt am Schreckenstein um 19,71%
Heidelandschaft „ 10,44%
Rehe im Walde „ 6,08%
Lasset die Kindlein zu mir kommen ,, 3,84%
Indianerkampf ,, 3,71 %
Kreuzigung „ 2,88%
Blinder Bettler „ 2,69%
Gute Freunde „ 1,85%
Luther „ 1,41%,
dagegen übersteigen die Unbeliebtheitsurteile die Beliebtheitsurteile bei
Morgenlied um 21,19%
Am Wegweiser „ 18,62%
Königstiger „ 5,44%
Stierkampf „ 2,82%
Geographieunterricht in der Dorfschule „ 1,99%
Napoleon L „ 0,45%.
Sonach hätte/i wir die Bilder der 1. Gruppe als die eigentlichen beliebten
und die übrigen als die unbeliebten anzusprechen.
Welche Gründe sind für diese Auswahl maßgebend gewesen?
Für das beliebteste Bild „Die Überfahrt am Schreckenstein" werden
folgende charakteristische Gründe angeführt:
Weil es eine schöne Stimmung ist und das Schloß auf dem Felsen mit Feldern
und Wiesen umgeben ist. (D)^). — Der Morgen kommt heran; die See ist still;
der Kahn mit Musik. Und auch so traurig sieht es aus. — Die Felsen, worauf
eine Burg steht und die schönen Farben. (D) — Weil mir die Burg imd die
Farben des Himmels gefallen. (D) — Weil die Sonne untergeht und der Himmel
bunte'lFarben auf das Wasser wirft. (D) — Weil alles so naturgetreu ist. (D) —
Es will uns zeigen, wie verlockend die stolzen Burgruinen sind. (C) — Weil eine
schöne Landschaft auf dem Bilde gemalt ist und uns schön die dortige Gegend
beschrieben wird. (C) — Weil es so schön bunt ist. (C) — Weil auf dem Felsen
eine Burg steht. (C) —
Das Bild Heidelandschaft gefällt: Weil es so natürlich gemalt ist. (C) —
Wegen der Ländlichkeit und Stille. (E) — Hier sieht man alle Reize der Natur. (C)
^) Die Buchstaben A — E bezeichnen die Klassen, aus denen die Begründungen
stammen. — Die gleichen Begründungen kehren in allen Klassen wieder.
Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit usw. 391
— Weil das Haus mitten in der Wiese liegt, und weil ich ein Naturfreund bin. (D)
— Die bunten Farben gefallen mir, und ich zeichne die Landschaften gern. (D) —
Weil das Bild schön bunt aussieht. (D) — Wegen seiner Schönheit. ( !) —
Rehe im Walde: Das Bild versetzt uns so schön in den Wald. (E) —
Weil die Rehe so niedliche Tierchen sind. (B) — Weil es genau nach Natur gemalt
ist. (D) — Weil ich ein Natur- und Tierfreimd bin. (D) —
Lasset die Kindlein zu mir kommen: Es spricht von der Liebe Christi
zu den Menschen. (C) — Es gefällt mir wegen des lieblichen Empfangs der Kinder.
(C) — Denn da sieht man die Liebe der Mütter und Kindlein zu Jesus. (D) —
Weil wir davon gesprochen haben. (B) — Weil Jesus das Christentum ver-
breitet hat. (C) — Weil es sehr schön aussieht ( !). — Weil es bunt gemalt ist. (B)
Indianerkampf: Weil ich einen großen Kampf sehe. (D) — Weil die In-
dianer wie ein Hagel über die Soldaten herfallen. (D) — Weil ich für den Krieg
viel Interesse habe. (D) — Weil ich so eine Schlacht noch nicht gesehen habe. (C)
— Weil es mir etwas aus dem Leben des berühmten Häuptlings Sitting Bull
erzählt. (C. Von einem, der diese berüchtigte Serie wohl zu kennen scheint!) —
Das Bild zeigt uns so richtig den Mut und die Entschlossenheit der Indianer. (C)
— Wegen der bunten Kleidung. (C) — Denn es ist sehr bunt gemalt. (E) —
Weil die Indianer so natürlich gezeichnet sind. (D) — Weil es schön aussieht. (B)
— Den Grund weiß ich nicht gleich ! (D)
Kreuzigung: Weil es sehr schön aussieht. ( ?) (B) — Weil das Bild so wunder-
bar und herrlich gemalt ist. (D) — Wegen der schönen Kleidung der Männer. (B) —
Weil Jesus für uns gestorben ist. (B) — Wir werden einmal in die alte Zeit zurück-
gesetzt. (C) — Weil wir in der Bibelkunde davon reden. (B)
Blinder Bettler: Es ist ein tiefergreifendes Bild und zeigt so recht, wie
traurig so ein Blinder ist. (E) — Weil das Kind für ihn bittet und ihn nicht
verachtet. (E) — Weil die Farbe so schön getroffen ist, (D) —
Gute Freunde: Weil ein Mädchen hier seine Liebe zum Hunde zeigt. (E) —
Weil der Dackel das Mädchen so treuherzig ansieht. (E) — Weil es so freundlich
aussieht. (C) — Weil die Berge so steil abfallen und die Häuschen so klein sind.
(B) — Es ist eine schöne Landschaft. (B)
Dr. Martin Luther: Weil er wirklich so aussah. (A) — Das ist so schön
gemacht. (C) — Weil er soviel Katholische evangelisch gemacht hat. (C) —
Weil er sich vor nichts in der Welt fürchtete. (D) — Weil Dr. M. Luther uns die
Bibel übersetzt und fromm gelebt hat. (D) — Weil er auch die Reformation
in Chemnitz eingeführt hat. (C) — Weil wir noch davon reden werden. (B)
Napoleon I.: Das Bild zeigt uns so recht die Züge und den Charakter Na-
poleons. Der Maler hat es verstanden, das Bild so zu malen, daß wir denken,
Napoleon säße vor uns. (E) — Weil Napoleon so dunklen Blickes vor sich hin-
schaut und denkt, daß seine Macht bald gebrochen sein wird. (E) — Ich kann
sehen, wie gedemütigt Napoleon dasitzt. (D) — Weil er ein berühmter Herrscher
ist. (B) — Weil es viel Erzählungen von Napoleon gibt. (B) — Weil er so auf dem
Stuhle dasitzt. (A) — Es sieht so schön aus. (C) — Weil es so schön ausgemalt
ist. (C) — Weil die Tracht schön gemalt ist. — Weil ich mich für Geschichte
interessiere, (E)
Geographieunterricht in der Dorfschule: Weil man endlich einmal
sieht, wie es in einer solchen Dorfschule zugeht. (E) — Weil die Kinder so einfach
392 Experimentelle Untersuchungen über die Urteilsfähigkeit mbw.
gekleidet sind. (E) — Denn es zeigt mir, wie es in einer Dorfschule zuging und wie
weit die Schule fortgeschritten ist ! (E) — Weil die Schüler machen, was sie wollen.
(D) — Weil es so lustig aussieht. ( A) — Weil die Kinder in der Schule schlafen. (A)
— Weil es schön bunt gemalt ist. (D) —
Stierkampf: Weil hier der kritische Moment eines Stierkampfes darge-
stellt ist. (E) — Man kann sehen, wie schrecklich die Stierkämpfe sind. (D) —
Weil ich den Mut der Männer kennen lerne. (C) — Weil der Stier das Pferd
aufspießt. (A) — Weil man etwas Neues sieht. (B) — Weil es auf Leben und Tod
geht. (C) -
Königstiger beim Mahl: Das Bild stellt so recht die Freude über die
erlegte Beute dar. (C) — Weil man da sehen kann, wie blutdürstig der Tiger ist.
(C) — Da kann man sehen, wie groß die Zähne dieses Raubtieres sind. (D) —
Weil er schön nach Natur gezeichnet ist. (C) — Wegen seinem schönen Fell. (C) —
Morgenlied: Weil es in der Natur so ist. (C) — Weil es so genau gezeichnet
ist. (C) — Wegen der schönen Natur. (D).
Am Wegweiser: Ich sehe eine Landschaft im Winter. Es ist etwas, was
einer in der Stadt nicht kennt ( !) (E) — Weil es so einsam dort ist und der Schnee
rieselt vom Himmel. (D) — Weil es so schön aussieht. (B) —
Bei den unbeliebten Bildern wurden folgende Gründe angeführt:
Morgenlied: Weil es nur eine einfache Zeichnung ist, die nicht viel Bedeu-
tung hat. (B) — Weil hier nichts weiter darauf ist als Wiese und Bäume. (E) —
Denn das Bild sieht nicht voll genug aus. Es ist nicht belebt. (C) — Man kann
sich nicht viel daraus denken. (D) — Dieses Bild sieht zu kindlich aus. (D) —
Weil es gar nicht bunt ausgemalt ist. (B)
Am Wegweiser: Es ist nicht schön zusammengestellt. (E) — Es liegt zu
wenig Wirkung darin. Es sieht aus, als wollte der Mann umknicken. (D) —
Weil es so einfach ist. (C) — Es sieht so verschwommen aus. (E) — Weil es nicht
bunt gemalt ist. (C)
Königstiger beim Mahle: Ich kann das nicht ersehen, weil der Tiger
das Tier zerfleischen will. (A) — Weil es traurig für uns und die Tiere ist, denn
der Tiger zerreißt alles in seinem Hunger. (B) — Wegen seiner Habgier. (C) —
Weil er auf den Menschen losgeht. (C) — Weil es nicht farbig ist. (C) —
Stierkampf: Es sieht gefährlich aus, denn es wird um das Leben gekämpft.
So gut wie der Stier um das Leben kommen kann, so gut kann auch der Kämpfer
ums Leben kommen. (D) — Weil es die Rohheit des Stierkampfes schildert. (C) —
Weil es eine Tierquälerei ist. (C) —
Geographieunterricht in der Dorfschule: Weil es in der Schule so
einfach ist. (D) — Denn der Lehrer hat die Mütze in der Schule auf. (A) —
Denn die Schulkinder reden und schlafen alle. (A) — Die Farbe gefällt mir nicht.(C)
Napoleon I. : Denn wir sollen nur deutsche Bilder lieben! (B) — Weil
ich ein Deutscher bin, liebe ich Napoleon nicht. (E) — Weil Napoleon unser
Feind war. (C) — Denn Napoleon ballt die Faust und verzieht das Gesicht. (A) —
Denn man sieht da seinen gierigen Blick nach Land, und er überlegt sich viel-
leicht, wie er ein Land unterdrücken kann. (E)
Dr. Martin Luther: Weil nichts besonderes am Bilde zu erblicken ist. (D) —
Luther sieht so schwarz aus wie ein Eisenarbeiter. (E) — Weil er so graubraun
aussieht. (C) — Weil er so schlecht gemalt ist. (C) —
Die IVLlieuerkrankung des Kindes. 393
Gute Freunde: Weil nichts Merkwürdiges zu sehen ist. (E) — Weil ich mir
da nichts Kechtes denken kann. (D) — Weil es ein Bild für kleine Kinder
ist. (C)
Blinder Bettler: Weil er blind ist und bettelt.(!) (B) — Denn es ist zu
bedauern. (!) (C) — Bei den wenigen anderen Urteilen fehlen Begründungen. —
Kreuzigung: Weil wir da sehen, daß Jesus gekreuzigt wird. (A) — Weil
Jesus so sehr gequält wird. (E) — WeH es so grausam ist. (A) —
Indianerkampf: Weil dadurch der jugendliche Geist aufgeregt wird. (E) —
Grausam und fürchterlich benehmen sich die Indianer. Ihre Kämpfe müssen jeden
abstoßen. (E) — Weil es im Kampfe so roh zugeht. (C) — Weil die Indianer
viele erschlagen haben und schlagen andere in den Kopf mit Beilen. (A) — Weil
es so mörderisch ist. (C) — Weil es so aufdringlich bunt gemalt ist. (D) —
Die wenigen, welche das Bild ,, Lasset die Kindlein zu mir kommen" ablehnen,
führen fast einstimmig als Gnmd an: ,,Weil es nicht so deutlich ist" oder „es
ist so verschwommen". —
Rehe im Walde: Weil es nicht zu natürlich aussieht. (A) — Rehe habe ich
schon viel gesehen. (E) — Weil ich mich nicht für das Tierleben interessiere. —
Diese Auswahl von Begründungen sowohl für die beliebten, als auch für die
unbeliebten Bilder läßt uns schon genügend erkennen, worauf die Schüler ihr
Urteil aufbauen. Die allerwenigsten Gründe sind ästhetischer Art. Nur in ganz
einzelnen Fällen fragen die Schüler nach dem Maler, seinen Absichten und nach
den Mitteln, die er anwendet, sein Ziel zu erreichen. Die wichtigsten Faktoren,
auf denen die Urteilsbegründungen beruhen, sind der Inhalt des Bildes, seine
Stimmung und die Farbe. Doch soll auf Weiteres in dieser Arbeit nicht einge-
gangen werden. Nur das eine soll am Schluß noch hervorgehoben werden,
daß ich nach einem Vergleich meines Materials mit den Darlegungen und Er-
gebnissen Dr. Müllers in seiner Schrift *) „Ästhetisches und außerästhetisches
Urteilen des Kindes bei der Betrachtung von Bildwerken" nur bestätigt finde,
was dort, besonders in § 2 des II. Kap., ausgeführt worden ist. —
Eine spätere Arbeit wird über die Urteilsfähigkeit und Urteilsbeständigkeit
der Schulmädchen berichten.
Die Milieuerkrankung des Kindes.
Von Fritz Kühner.
Die Läsung jeder schwierigen Frage ist von der Art der Fragestellung ab-
hängig. Die Antwort wird um so richtiger sein, je allgemeiner die Frage gestellt
ist, je mehr die dabei gebrauchten Begriffe frei sind von solchen Nebenvorstel-
lungen, die auf eine bestimmte Lösung hinführen. Ich beginne daher absicht-
lich die Untersuchung mit einer ultra-makroskopischen Frage, die formell nie-
mand eine Antwort suggeriert: „Leben wir in einer Zeit von vorwiegend natur-
wissenschaftlichem Denken"? Ich vermag darunter nur ein solches Denken
«u verstehen, das sich der Bedingtheit und anthropomorphen Beschaffenheit
') Quelle & Meyer, Leipzig 1012.
394 Die Milieuerkrankung des Bandes.
seiner Begriffe bewußt ist, das an die Begriffe nicht schlechtliin glaubt, sondern
sie erkenntnistheoretiscb ricbtig aus sich selbst, dem Vorstellungsleben, nicht
aber aus den Dingen heraus ableitet. Es wäre das der Plato'sche Idealismus
mit — 1 multipliziert. Seine Formel, die Begriffe seien vor den Dingen gewesen,
würde nicht einfach in die neue verwandelt werden, es seien jene erst aus diesen
abgeleitet: sondern sie müßte das wesentlichste Kennzeichen jedes Dinges be-
sitzen, die Veränderlichkeit, die Entwicklung; denn der Entwicklungsgedanke
macht vor nichts Halt. Sofort stellt sich auch die unabweisbare Antwort ein,
daß die oben formulierte Frage ganz und gar zu verneinen ist. Unser Denken
zeigt gegen früher unendlich viel mehr Zielrichtung auf kausale Zusammenhänge,
unsere Begriffsbildung aber ist rein scholastisch geblieben. Auch in den Natur-
wissenschaften übergibt die ältere der jüngeren Generation die Rüstung mit
den Worten: ,,Solm, da hast du meinen Speer, — meinen, so wie ihn mir dein
Großvater gab." Daß wir hier und da einen associationen-übersättigten Arbeits-
begriff durch einen neuen ersetzen, ist wohl ein Gewinn, aber kein erkenntnis-
genetischer, nur ein psychologisch-technischer.
Um auf das Einzelgebiet der Anthropologie im weitesten Umfang einzu-
gehen, so steht an deren Eingangspforte ein begrifflicher Cerberus aus grauer
Urzeit, eine Vorstellung, die ganze Anschauungswelten in unfruchtbare Sack-
gassen gedrängt hat (Strafrecht!) — der Normalmensch. Niemand kennt
ihn, alle glauben an ihn. Er verrät seine begrifflich primitive Herkunft, sobald
er der leisesten praktischen Prüfung unterzogen wird. Er ist nicht mehr als die
Wahrscheinlichkeitsrechnung, daß in einer Eigenschaftenreihe von 1 — oo bei
einer gegebenen Summe von Menschen das Vorkommen jeder einzelnen Eigen-
schaft wahrscheinlicher ist als ihr Fehlen. Ja, die Sache liegt sogar noch weit
dürftiger: es wird von jeder Eigenschaft verlangt, daß sie jedesmal vorhanden
und zwar in einer annähernd immer gleichen Menge vorhanden sei. In der platten
Gläubigkeit an diese jedem naturwissenschaftlichen Denken widersprechende
Begriffskonstruktion hat die Gegenwart sogar gelegentlich einen Schritt rück-
wärts getan: die Psychiatrie in realer Konkurrenz mit dem Strafrecht hat die
Formel ,, normal contra unnormal" so eng zusammenzudrängen verstanden, daß
sie kleinste Variationen in der psychischen Beschaffenheit unnormal nennt und
damit die unendliche Variabilität des Organismus ,, Mensch" auf eine trostlose
Mittellinie verengt, von der jedes Abweichen bürgerliche Grefahren mit
sich bringt.
Der Anthropologe jeglicher Färbung hat also in erster Linie den „Normal-
menschen" abzulehnen. Damit schafft er sich Raum für die unbegrenzte Mannig-
faltigkeit alles Naturgegebenen im Menschen. Aber hüten wir uns, in diesem
Weltmeer unkritisch herumzuplätschern ; denn auch die Begriffsgläubigen, die
Begriffsscholastiker, sind Intelligenzen, von denen man lernen muß. Es ist näm-
lich in der Definition eines Menschen als ,, unnormal" selten ein naturwissen-
schaftliches Urteil beabsichtigt; in der Regel soll es vielmehr ein soziologisches
Urteil sein, welches sagt: ,, Dieser und jener Mensch paßt nicht in die soziale
Gemeinschaft; er ist sozial nicht vollwertig: asozial, antisozial". Da an dem
Vorhandensein solcher Menschen nun nicht zu zweifeln ist, der Begriff imnormal
(der natürlich etwas sehr anderes bedeutet, wie der ebenfalls primitive Begriff
,, krank") aber als nicht naturwissenschaftlich abgelehnt werden muß, so muß
Die Milieuerkrankiing des Kindes. 395
die Erscheinung unter eine andere Vorstellung subsumiert werden. Diese Vor-
stellung ist „harmonisch" oder „unharmonisch".
Es ist ja mit Händen zu greifen, daß ein Mensch von vollendeter Harmonie
sein kann und dennoch „unnormal", weil asozial oder selbst suprasozial. Alle
wahrhaft großen Menschen sind dies gewesen. Mit dem Maßstab des Durch-
schnitts geraessen, gehören sie für die meisten ihrer Einzeleigenschaften unter
Polizeiaufsicht. Goethe, Leonardo, Napoleon, Luther, Bismarck, Spinoza, La-
marck. ,, Unnormal" weil suprasozial, weil getrieben von einem machtvollen
Vorstellungskomplex, die verharrende societas in einer gewissen Richtung fort-
zuziehen und insofern mit ihr in ungewolltem Gegensatz wirkend. Aber un-
harmonisch? Niemals! Keine ihrer Eigenschaften stand mit einer anderen in
leisestem Widerspruch; es waren Menschen, ausbalanziert wie die feinste Prä-
zisionsmaschine, Kunstwerke der Natur für jeden, der der Anbetung des Großen
fähig ist, aber nicht für die Meßlatte der bürgerlichen Ethik oder des Psychiaters
oder des Staatsanwaltes.
Es gibt auch infrasoziale Harmonische, Menschen, die in allem unter dem
Durchschnitt sind, Rückschlagstypen auf ein paar Jahrhunderttausende in die Vor-
geschichte hinein, tiefstehend im Denken, Urteilen, Empfinden, auf der Stufe eines
Zehnjährigen, aber auf dieser voll-harmonisch. Dabei sind diese Übergroßen und
Unterkleinen keineswegs Resultate der Multiplikation oder Division eines gleich-
artigen ,, Normalen". Der Schwerpunkt des Innenlebens der oben genannten
Männer ist jeweils ein völlig verschiedener, der Maßstab keines paßt zu dem
Wesen des anderen, aber mit wundervoller Abstufung umgibt die Menge ihrer
Eigenschaften jenen Schwerpunkt und macht sie zu dem, was man nur mit dem
Begriff „harmonisch" zu erschöpfen vermag.
Das Vorhandensein von in sich imharmonischen Menschen bezweifelt nie-
mand. Sie lassen sich am leichtesten als Kinder von Eltern vorstellen, die schroffe
Gegensätze zeigten, deren Verschmelzung in der Keimmasse unmöglich war
oder jedenfalls nicht stattfand. Ihr Zustand ist der des ,, Kampfes der Deter-
minanten"; diese können im Laufe von Jahrzehnten zu einem gewissen Aus-
gleich kommen, indem eine Gruppe kontrollierender Vorstellungen auf Gnmd
der Erfahrung dauernd zwischen den inneren Widersprüchen vermittelt, —
dann ist der Zustand ausgeheilt, die Ungunst des Keimplasmas für das Indi-
viduum überwunden, — oder sie führen zu mehr oder minder katastrophalen
Ereignissen, die ihren unglücklichen Träger dem Strafrecht oder dem Psychiater
überliefern. Ob diese oder jene Lösung stattfindet, ist von den gegebenen Be-
dingungen, den Reizen der Außenwelt, abhängig.
Am entgegengesetzten Ende stehen die in sich Harmonischen, die als ,, un-
normal" nur insofern gelten, als sie von dem Durchschnittstyp der normsetzen-
den menschlichen Gesellschaft abweichen. Mit ihnen hat sich die sogenannte
Menschheitsgeschichte so gründlich auseinanderzusetzen gehabt, daß ihr Vor-
handensein nicht erst nachgewiesen werden muß. Aber wir sind noch jahr-
hunderteweit von wirklich naturwissenschaftlichem, und, soweit Biologie in
Frage kommt, von genetischem Denken entfernt und haben bisher noch nicht
beachtet, daß zwischen den oben angedeuteten beiden Formen der Disharmonie
(die erste intra-individuell, die zweite intra-sozial) eine lange Reihe von Zwischen-
stufen besteht, die gerade den Erzieher zu größter Aufmerksamkeit zwingen
396 Die Milieuerkrankting des Kindes.
sollten. Der Mensch kann nämlicli, ebensogut wie mit der societas
im ganzen, auch mit deren kleineren und kleinsten Gruppen im
Streit liegen und dennoch vollharmonisch sein; z. B. mit Familie,
Berufsgenossen, Bürgerschaft usw. Sie stellen ein mehr oder minder ausge-
dehntes Milieu dar, an das die fragliche Person keinen konformen Anschluß
zu finden vermag, dessen Gegensätze mit ihm selbst ihn in dauerndem Reiz-
zustand erhalten, den Reiz auf die Gruppe rückleiten und in der Regel ver-
schärfen, vertiefen. Solche Zustände im Individuum mögen vorläufig als Um-
gebungsstörung, mit einem unschönen, aber associationenfreien Fremdwort
als Milieu-Psychose bezeichnet werden.
Je jünger der Mensch, um so enger ist seiner Unselbständigkeit entsprechend
der Anschluß an wenige Menschen, die mit ihm zusammen eine Lebensgemein-
schaft bilden. Mit ihnen lebt das Kind nur in seltenen Fällen in voller Harmonie.
Es besteht keine Wahrscheinlichkeit, daß in der Anlagensumme von Mutter und
Kind Identität vorhanden ist; bei mehreren Menschen untereinander ist sie ein-
fach ausgeschlossen. Immerhin wird es in der Regel nicht zu Reizzuständen
störender Art kommen, weil die Masse der Individuen im Großen genommen
nicht tief differenziert ist; aber die die Regel begleitende Zahl der Ausnahme-
fälle ist deshalb nicht minder groß. Nun kann es für den Erzieher natürlich nicht
gleichgültig sein, ob sein Objekt in seinem Lebensraum ungestört und friedlich
oder dauernd gereizt, gestört oder gar kämpfend seine Jugend verbringt und
dadurch Kraft verliert, die der produktiven Erziehungsarbeit verloren geht.
Denn die,, Umgebungsstörung" hat so gut wie nie die Form eines klaren, offenen
Kampfes, der die Kräfte fördert, kann sie gar nicht haben, da der Kampf des
Kindes mit Erwachsenen kein gleichartiger ist, zu keinem Sieg führt, von nie-
mand als berechtigt anerkannt wird, weil niemand konsequent biologisch denkt.
Fügen wir hinzu, daß oft dem nie endenden Unterliegen des Kindes, dem
Energieverlust ewiger zwecklosen Reizungen noch die moralische Verurteilung
folgt, so haben wir einen ungefähren Gesamteindruck von der Fülle und Tiefe
der Tragik, die das Aufwachsen vieler Menschen und gerade der wertvollsten
begleitet. Denn je feiner veranlagt ein Mensch ist, um so größer sind die Reiz-
flächen, um so größer die Wahrscheinlichkeit, daß sein Leiden bis in die frühen
Jahre der Kindheit hinabsteigt.
Hieraus ergibt sich schon, daß Milieuerkrankungen dieser Art weit häufiger
in Kulturschichten anzutreffen sind als in der durchschnittlich weniger diffe-
renzierten großen Masse; und hieraus wieder, daß das Studium dieser Er-
scheinungen Erzieher und Lehrer hauptsächlich zu dem Menschenmaterial der
höheren Schulen hinführt. Somit kommen wir zur praktischen Seite des Problems.
Will man diese Zustände verstehen, die mit ihnen verbundenen schweren
Verluste an nutzbarer Lebenskraft beseitigen, so ist natürlich strengste begriff-
liche Klarheit und genügende objektive Sachkenntnis vonnöten. Die erster e hat
vor allem eine Verwechslung von an sich disharmonischen Kindern mit solchen,
die nur durch die Kontaktwirkung des Milieus ,, erkrankt" sind, zu vermeiden;
die letztere muß zu erkennen vermögen, ob die Zustände des Kindes nicht indi-
viduelle Dauerzustände allgemeiner Art sind, denn leicht können Neurasthenie,
Pubertätserscheinungen usw. das Bild trüben oder sich ihm überlagern. Liegt
die Störung wirklich in Beziehungen zur Umgebung allein, so wird Verpflanzung
Die Milieuerkrankung des Ivindes. 397
in andere Umgebung in einiger Zeit Besserung bringen und die innere Gleich-
gewichtslage wiederherstellen. Diese Zeit wird meistens der Dauer der vorher
durchlittenen Milieukämpfe entsprechen, die bei jahrelangem schmerzvollen mid
vergeblichen Konflikt mit der Umgebung sogar zu unheilbarer — auch in gün-
stigem Milieu unheilbarer — Schädigung des Seelenlebens führen können, wie
auch manchmal wenige Wochen genügen, den erstrebten inneren Friedenszustand
zu ermöglichen, und zwar auf beiden Seiten, da ja das Kind wie auch der es
irritierende Erwachsene mit zwei mit gleicher Elektrizität geladenen und sich ab-
stoßenden Hollunderkugeln zu vergleichen sind, von denen jede in die Mittel-
lage zurückkehrt, wenn die andere entfernt wird. Ja, bei der inmier wieder über-
raschenden Mannigfaltigkeit organischer Bedingungen, die sich jeder Formel,
jeder Erstarrung in einer Definition entzieht, kommt es nicht selten vor, daß
der Erwachsene der psychisch Unterliegende ist, der an der Disharmonie tiefer
erkrankt, stärker leidet als das Kind.
Setzen wir den reinsten einfachsten Fall der Milieuerkrankung an den Anfang,
so kann es nur der sein, wo alle Beteiligten voll harmonische Menschen sind. Hier
kann die Ursache nur in der Verschiedenheit der Grundveranlagung zu suchen
sein, in dem oben genannten psychischen ,, Schwerpunkt". Lag er bei den 8 Ur-
großeltern und den 4 Großeltern weit auseinander, so wird die keimplasmatische
Konstellation der Eltern ebenfalls überraschende Neuformen schaffen. Kind
und Eltern hören zu einem gewissen Zeitpunkt auf, sich zu , .verstehen", und da
primitive ,, Erziehung" selten etwas anderes ist als die Aufzwingung der ge-
gebenen Vorstellungen der Eltern oder eines von ihnen auf das ihnen ziemlich
unbekannte Vorstellungsleben des Kindes, so ist der Konflikt da. Er wird,
wenn keiner der Streitteile ein entschiedener Willensmensch ist, keine tragische
Stärke gewinnen und mit den Jahren wieder schwinden. Kampf und Leid sind
in solchen Zuständen ausnahmelos direkt proportional dem Grade der Willens-
kraft der Parteien, denn diese ist es, die nach Verwirklichung zielt, die allein
„Gefechts wert" hat. Es liegt das im Wesen des Willens, der immer etwas rein
Quantitatives ist und durch die ihm zugrunde liegende Vorstellung nicht ver-
ändert wird.^) Neun Zehntel der Milieustörungen in der Familie entfallen auf
solche, wo ein starker Wille Handlungen auslöst, die für den anderen Teil einen
Angriff, eine „psychische Insulte" bedeuten und zu ähnlich starken Reaktionen
führt. Typischer Fall: Friedrich der Große als Siebzehnjähriger. Alle seine
Angehörigen waren harmonische Menschen; aber der Schwerpunkt des Vaters
war moralischer Wille, der des Sohnes Vemunftwille. Übrigens ist das für den
Konflikt selbst von keinem Belang; denn jede eine Willenshandlimg bewirkende
Vorstellung ist ausreichend dafür. Immerhin ist die Formel ,, Moral der Eltern
contra Vernunft der Kinder" keine schlechte Überschrift für einen Einzelab-
schnitt der Familientragik. Das Kind hat keine begriffene und konsequente
Moral, es hat nur verschieden hohe Stufen von Motiven; aber es hat eine Ver-
nunft, eine, seine eigene, die oft überrascht, in Einzelfällen imponiert und der
*) Ich habe in meinem Buch, Lamarck, die Lehre vom Leben (Diederiohs, Jona,
1913) folgondn Dofinition gegeben: „Wille int die in dorn Subjekt gegebene Span-
nungshöho oinor Vorstellung, die eine auszuführende Handlung bedeutet" (S. 257).
Die Vorstolhing gibt die Zielrichtung des Willens, seine Stärke aber ist von ihr ab-
solut imabhängig.
398 Die Milieuerkrankung des Kindes.
autoritiven Moral der Eltern mit der sehr störenden und kränkenden Forderung
entgegentritt, sich ebenfalls als vernünftig zu beweisen. Es gehörte zur Grund-
formel der Pädagogik aus der Zeit von etwa 1750 — 1850, den Willen des Kindes
vollständig zu zermalmen und die ratio quia absurda der Eltern zu göttlicher
Autorität zu erheben. Indem so die Berührungsfläche zwischen dem Vorstellungs-
leben der Eltern und dem der Kinder bewußt ausgeschaltet, die Beziehungen
der höheren Vernunft des einen Teils mit der primitiven des anderen vollständig
beseitigt wurden, legte man die Erzeugung des Kindheitsmartjrriums direkt in
das System, erhob sie zur Forderung, wenn auch ohne sie zu formulieren. Nie-
mals waren die Methoden der Tierhaltung so grausam, wie das antibiologische
Verfahren dieser Epoche bei der Kinderhaltung.
In jedem Falle, wo Erwachsene die niedere aber deshalb nicht minder ver-
nünftige Vernimft der Kinder ignorieren und, ihre Naturgesetzmäßigkeit nicht
begreifend, mit ihrem Willen erdrücken, wird, um beim Bild zu bleiben, das ge-
drückte Vorstellungsleben des Kindes ,, deformiert"; es erkrankt in Beziehung
auf den betreffenden Erwachsenen. Die Milieuerkrankung in der Familie hat
fast immer die Form dieser Beziehung, gleichzeitig aber strahlt sie aus auf die
Vorstellung der anderen Familienangehörigen und dies um so mehr, je stärker
von den Konflikten suggestive Wirkungen ausgehen. Dann nehmen die übrigen,
wollend oder nicht, zu dem Streit Stellung, vergrößern die Reibungsflächen und
den Schmerz.
Viele Faktoren sind es, die bei den Beziehungsstörungen Jugendlicher das
Endergebnis herbeiführen: die Art ihrer Vorstellungen, der Feinheitsgrad ihres
Empfindungslebens, die Stärke ihres Willens, ausgedrückt in dem Fembleiben
aller Nebenvorstellungen und ,,interkurrierenden Reize", wenn es sich um Aus-
führung und Verwirklichung vorhandener Tatvorstellungen handelt; ferner das
Temperament, — ein laienhaft unscharfer aber praktisch brauchbarer Unter-
schied über die Art, wie Reize Antworten auslösen.
Untersuchen wir die Vorstellungen. Darin allein schon, daß die Innenwelt
des Kindes allgemein als solche den Eltern unverständlich bleibt, kann der Anlaß
primärer Konflikte liegen; in Wirklichkeit kommt dies nicht oft vor. Es gibt
Menschen, die alt geboren sind, die es nie vermögen, aus ihren starrgewordenen
Zweckvorstellungen die scheinbar zweckwidrigen Handlungen des Kindes zu
begreifen; doch ist das beim weiblichen Geschlecht selten, denn bei ihm gehört
das Verständnis für das Wesen und Wollen sehr Jugendlicher mit in den Bereich
der angeborenen Funktionen. Allerdings liegen auch Konfliktsmöglichkeiten
in den ersten 6 — 8 Lebensjahren — ganz allgemein gerechnet — kaum vor; sie
sind meistens in der Verständnislosigkeit des Vaters gegen das Kindliche-an-sich
zu finden. Die Sachlage wird ernster, wenn einzelne Vorstellungsgebiete des
Kindes sich stark entwickeln und vergebens nach Verwirklichung drängen, weil
sie sich nicht mit der Eltern vemunft in Einklang zu bringen vermögen; und
umgekehrt, wenn erwartete Vorstellungen ausbleiben. Der Knabe will dauernd
gefährliche Dinge tun, klettern usw., ist nicht vom Lesen von Jugendschriften
abzubringen, verkehrt beharrlich mit „ungezogenen" Kameraden, neckt un-
aufhörlich die Geschwister, sammelt bis zur Verzweiflung Molche und Schlangen
usw. ; oder er weigert sich (aktiv oder passiv, wobei das letztere inmier schlimmer
ist), mit der Familie spazieren zu gehen, ist mit keinem Mittel zum Lesen zu be-
Die Milieuerkrankung des Kindes. 399
wegen, sondert sich von allen andern ab usw. Alles das ist noch harmlos, ersten
Grades; es wird ef:isi und dauernd, wenn bei einem der ,, Streitteile" oder was
das Häufigere ist, bei beiden, große Empfindlichkeit und Reizbarkeit besteht.
Sie kann bei Jugendlichen dauernd oder periodisch auftreten; bei den Erwach-
senen sind solche Schwankungen selten. Jedenfalls aber konmit es zu anhalten-
der imd schwerer Milieustörung, sobald erhebliche Abweichung im Vorstellungs-
leben beider Teile und beiderseitige Reizbarkeit sich mit stärkerem Willen ver-
binden. Für den Indolenten, Passiven gibt es keine Konflikte; er kann eine
unglückliche Jugend durchleiden, denn diese kann auch auf seelischen Ent-
behrungen beruhen, aber das ist kein Streit, keine erkennbare, meßbare , .Er-
krankung", kein Fall, der bei harmonischen Menschen aus ihrem Milieu heraus
zu erklären ist, und nur um solche kann es sich zunächst handeln. Sind aber beide
Teile willensstark, dann haben wir den Krieg, den offenen oder versteckten, mit
Frontangriff, Umgehung, Hinterlist und Xlberrumpelung. Dieser Krieg „kostet";
er kostet Zeit, Kräfte, Überlegung; er hat Sieger und Besiegte; aber als der un-
produktivste aller Kriege bringt er dem Sieger zwar Frieden, aber keine Befrie-
digung; ja, er endet oft erst mit dem Leben, denn die Erinnerung, immer wieder
wach und nach einer Zeit zurückblickend, wo die ersten und tiefsten Eindrücke
erfolgten, kämpft in schweigender Erbitterung weiter, wenn der, welcher unge-
wollt und vielleicht mit liebebedürftigem Herz zum Feind ward, längst und für
immer seinen Frieden gefunden hat.
Das Kind kämpft stets mit einem starken Rechtsbewußtsein; die Grundlagen
dafür sind seine organischen Bedingungen ; denn alles Naturgegebene hat ,, recht",
weil es sich nicht selbst verneinen kann, weil über organisch Gewordenem keine
Rechtsinstanz, kein Richter vorhanden ist. Sein vereinzeltes Rechtsbewußtsein
stößt auf Forderungen, die ihm als „Unrecht" erscheinen. Ist es seiner Erbmasse
nach der Umgebung ähnlich, so lernt es aus tausend kleinen Kämpfen und Rei-
bungen Anpassung, Unterordnimg. Treten ihm aber bei ausgeprägter harmo-
nischer Eigenart dauernd fremdartige und andersartige Anschauungen entgegen,
so muß es in jedem Fall, auch ohne Konflikt, in seinem individuellen Rechts-
bewußtsein leiden. Daher beruhen die schlimmsten Kämpfe im Innern der Fa-
milie auf dem, was dem Rechtsbewußtsein zugrunde liegt: der Moral. Der
Kampf um den kleinen Lebensspielraum des Kindes, seine Neigungen und Ab-
neigungen kann ein langer und erbitterter sein, — wenn er nur einer zwischen
Kräften ist, so hört er, sobald er äußerlich zu Ende gekommen ist, auch innerlich
auf. Niemals aber ist dies der Fall, wenn das moralische Urteil dazu kommt.
Haben die Erwachsenen, denkfaul oder verständnislos, jedenfalls ohne bio-
logisch es Verständnis, einmal angefangen, das Kind, mit dem sie in unbegriffe-
nem Konflikt liegen, moralisch zu verurteilen, so ist ihre Stellung für alle Zeiten
verloren, die Wunde für alle Zeiten vergiftet und an Stelle der Gegnerschaft
der Haß getreten, der bei Feinergearteten nie endet. Das Urteil „ich bin gut und
du bist böse" ist die Proklamation der Minderwertigkeit, im Kind einem Men-
sehen angetan, der seine Vollwertigkeit nicht beweisen kann, der hilflos ist sowohl
gegen die , .moralische" Verurteilung wie gegen den damit verbundenen Unter-
drückungswillen des Erwachsenen. Seine letzte Verschärfung erfährt jenes
Urteil in der systematischen Kontrastierung mit noch anderen „guten" Men-
schen, eine Art von erster Ausstoßung aus der Allgemeinheit, ein Verfahren, das
400 Die Milieuerkrankung des Kindes.
konsequent angewandt, nur „Verbrecher" heranzieht. Zu dem gekränkten Rechts-
bewußtsein des Kindes kommt die moralische Deklassierung, es innerlich ver-
nichtend: hier ist das Wort ,, Konflikt" natürlich in keiner Weise mehr aus-
reichend. Reagiert das in sich gesunde harmonische und damit vollwertige Kind
überhaupt noch gegen die aus schweren Fehlern des Denkens gekommene Wucht
der psychischen Insulte, so kann es nur in der Form von tiefem Haß und dumpfer
Verzweiflung sein, die zu dauernder Schädigung seines Innenlebens führt.
Sobald solche Zustände dem Erzieher in begreifbarer Form entgegentreten,
so ist für ihn als erste Maßnahme nichts anderes möglich wie sofortige Ent-
fernung des Kindes aus dem schädigenden Milieu. Ob diese eine wirkliche Hei-
lung, eine Wiederherstellung des Gleichgewichts des Jugendlichen bedeutet, ist
zunächst nebensächlich; so wie man aus einer Wunde erst die irritierenden
Fremdkörper entfernt, bevor man sie zum Schließen bringt, hat man auch hier
erst den schädigenden Reiz zu beseitigen. In allen leichteren Fällen, besonders
bei solchen Milieustörungen, die ersichtlich nur periodischer Art sind, bedarf es
keiner weiteren Schritte, vorausgesetzt, daß die neue Umgebung in der vorher
schädlichen Richtung ausgesprochen reizfrei ist. Hat aber der jugendliche Mensch
schon lange und viel zu leiden gehabt, so wird er die zur Gewohnheit gewordene
Kampfstellung auch gegen die Erwachsenen seiner neuen Umgebung einnehmen,
so das Vorurteil verstärkend, das die alten Gegner sich bemühten, gegen ihn zu
verbreiten; das Durchschnittsurteil braver ,, moralischer" Normalerzieher wird
sich dann beeilen, die Fehler der kampfmüden Eltern fortzusetzen und die heil-
same Wirkung der Milieuveränderung dadurch stark vermindern, — ganz aus-
zuschalten ist sie fast nie, wie auch dem krankbleibenden Patienten eine Lage-
veränderung im Bett fast immer eine Erleichterung verschafft. Der überlegene
Erzieher, — überlegen, weil kausal denkend — verfährt natürlich in enger An-
passung an die gegebenen Tatsachen. Er weiß, daß der extreme Pendelschlag
nach der einen Seite nicht sogleich zurückgehen wird, da erst langsam, vielleicht
von manchen Rückfällen unerfreulicher Art begleitet, die innere Entspannung
eintreten kann, die harte Kruste der Erbitterung mit Ruhe und Güte und viel
Geduld zur Erweichung gebracht werden muß. Dann kommt erst der Um-
schlag in das entgegengesetzte Extrem, die schwärmerische, manchmal an Hunde
erinnernde Anhänglichkeit dem neuen Führer gegenüber, bis endlich die Gleich-
gewichtslage dorthin zu liegen kommt, wo sie ihrem Namen nach gehört: in die
mittlere Linie zwischen Haß und Schwärmerei. Hier muß sie unter dem Schutz
des neuen Milieus bleiben, bis die störenden Erinnerimgsbilder so weit zurück-
getreten sind, daß die Heimkehr in die alte Umgebung gefahrlos ist; und ist der
überlegene Erzieher eine genügend starke Persönlichkeit, so wird er seinen
heilenden Einfluß auch auf die meist nicht minder ,, erkrankten" Erwachsenen
des gestörten Milieus erstrecken, hier ebenso stark an das Urteil und das Bewußt-
sein anknüpfend wie dort an das überreizte Empfindungsleben.
Bei völlig zerstörtem inneren Zusammenhang zwischen Erwachsenen (Eltern)
und Kind ist dieser Weg prophylaktischer Geduld und Güte nicht gangbar.
Hier hat der Jugendliche, seiner Vorstellung nach, keine Eltern mehr; er ist
nicht einfach ,, erkrankt" und selbst der Zusatz ,, chronisch" genügt nicht, seine
Lage zu kennzeichnen : er ist vielmehr bildlich ein Ejüppel geworden, der etwas
verloren hat, was sich vielleicht regenerieren läßt, vielleicht aber auch durch
Die Milieuerkrankung des Kindes. 401
Stärkung anderer Organe (= anderer Bedingungen des äußeren und inneren
Lebens) ersetzt werden muß. Tief eingefressenem Leiden, erbittertem Haß ist
weder mit Güte, noch einfach mit Milieuveränderung beizukommen; denn es
gehört zu den ersten Wirkimgen solcher Zustände, daß das Individuum sich
gegen andere hermetisch abschließt, sein Innenleben in einen Panzer verhüllt
und jedem neuen Menschen aus Selbsterhaltungstrieb heraus bewaffnet — in-
tellektuell und psychologisch — entgegentritt. Ist der unglückliche Jugendliche
noch näher am Kindesalter wie an dem des Mannes, nicht älter wie etwa 14 Jahre,
so wird der Erzieher die Frage zu beantworten haben, ob er nach Person und
allgemeiner Lebenslage es vermag, ihm die zimächst verlorenen Eltern ganz zu
ersetzen. Es ist dies sehr schwer zu verwirklichen, imd es sind Jahre dazu nötig.
Leichter ist es oft, an Stelle der Eltern andere Menschen mit anderen Beziehimgs-
formen einzuführen, während die Eltern selbst, wenn ihr Verständnis dazu aus-
reicht, bis auf seltensten brieflichen Verkehr in den Hintergrund zu treten haben,
natürlich in Formen, die es auch ihnen erleichtern, das Durchlittene langsam
zu überwinden. In etwas höheren Jahren des Jugendlichen gibt es nur ein Ver-
fahren, bildlich als ,, operativer Eingriff" zu kennzeichnen: der Erzieher muß
ihm, an den durch Leiden geschärften Intellekt anknüpfend, klar die Sachlage
zerlegen, den inneren Verlust der Eltern zugestehen und so amoralisch wie mög-
lich die Gründe und Gesetzmäßigkeiten aufdecken, die ihn herbeiführten. „Du
hast keine Eltern mehr, wenigstens für lange Zeit nicht; aber das Leben ist auch
ohne Eltern unendlich reich, und als Kamerad will ich dir die Wege zu diesem
Reichtum zeigen. Ob du später einmal die verlorenen Eltern wiederfindest, kann
niemand wissen; es ist Glückssache, und vielleicht hast du das Glück." —
Vor diese Untersuchung setzte ich zwei Voraussetzungen; die eine, daß es
sich um Störungen innerer Art handelt, die nicht auf Wachstumsvorgänge und
Erregungszustände periodischer Art zurückgehen, — die andere, daß die be-
troffenen Menschen in sich harmonisch sind, woraus sich Konflikte ergeben,
die nur in der Verschiedenheit der Grundveranlagung liegen. Periodische
Störungen im Individuum, die zu entsprechenden im Milieu führen —
Pubertät! — haben eine bestimmte Dauer, über die hinaus sie nicht nach-
teilig wirken können, sind auch zu alltäglich, um erst nachgewiesen werden
zu müssen. Umgebungsstörungen ausgesprochen disharmonischer Menschen
sind ('selbstverständlich und insofern eigentlich uninteressant. Daß Byron
als Knabe mit seiner Mutter, als Mann mit seiner Frau nicht ,, nor-
male" Beziehungen finden konnte, ist ebenso sicher, wie daß ein Adler
nicht zu einem Storch paßt. Immer aber kommt ein besonderer „erschwerender
Umstand" innerer Art dabei in Frage: der Konflikt mit anderen, an die man
durch Familienbande gefesselt ist, hat jenes Mehr an Erbitterung, welches das
Äquivalent für die von jedem gefühlte Unnatur gerade solcher Kämpfe dar-
stellt, genau so wie sogenannte Bruderkriege gehässiger sind als Kriege art-
fremder Völker. Seinen Angehörigen gegenüber ist also auch der disharmonische
Mensch stärker gereizt, verletzlicher, als der sogenannte „normale". Es ergibt
sich daraus auch für ihn eine günstige Heilprognose durch Wechsel der Umgebung.
So verteilen sich die heranwachsenden Menschen auf eine unendliche und
kontinuierliche Reihe. Sie beginnt mit den seltenen Fällen vollharmonischer und
gleichartiger Naturen im Familienkreis; sie geht langsam auf die harmonisch-
2^itschii(t f. pidAgog. Psychologie. 26
402 Die Milieuerkrankung des Eandes.
ungleichartigen über, um mit den disharmonisch-ungleichartigen zu enden, in
immer wechselnden, neukombinierten und mannigfachen Formen der Zusammen-
setzung. Da nun sicherlich die erste Gruppe im Verhältnis zu den beiden anderen
eine Minderzahl der Fälle umfaßt, so werden periodische oder dauernde Milieu-
störungen überall die Kegel sein, eine Tatsache, die deshalb nicht minder Tat-
sache ist, weil sie sich den Augen Außenstehender so gut wie immer verbirgt.
Deshalb besteht auch ein bemerkenswerter biologischer Parallelismus zwischen
den intraindividuellen Störungen bei der Inzucht, d, h. der Kombination der
Determinanten, und der extraindividuellen in der Familie, d.h. der Kombi-
nation der Individuen: in beiden Fällen können unendlich viele Einzelkombi-
nationen errechnet werden und vorkommen, aber die Zahl der harmonischen
Fälle ist immer gering, immer ein Glückszufall, weil die Anzahl der einzelnen
Konstituenten gering ist. (Um im Bilde zu bleiben: 32 Chromosomengruppen,
5 — 10 Familienangehörige.) Je größer die Zahl der Einzelteile, um so sicherer
die Erzielung einer relativen Harmonie, — haben doch selbst die von England
nach Australien verschickten Verbrecher dort eine gute bürgerliche Harmonie
zu schaffen vermocht. Es ist das eine biologische Grundlage zur Verteidigung
der Massenerziehung: der harmonische Jugendliche findet dort mit größerer
Wahrscheinlichkeit gleichgeartete andere ; der disharmonische stößt nicht schmerz-
lich gegen eine umgekehrte Disharmonie, sondern nur gegen eine die ,,Norm"
darstellende Masse. Allen wird der Masse gegenüber der Verzicht auf das Ab-
weichende der eigenen Veranlagung leichter als im Gebundensein an die wenigen
in der Familie. Daran schließt sich eine andere Betrachtungsnotwendigkeit,
die für den einzelnen pädagogisch, für das Ganze volkswirtschaftlich zu formu-
lieren ist: jede Verminderung an Konflikten und Reibungsflächen in der Familie
ist Ersparung von Energie zugunsten des Kindes, in der Masse ebenso zugunsten
des Volksganzen und der werterzeugenden Arbeit.
Niemand sage, eine solche Ersparung sei von keinem Belang, und niemand
sage, das geht nur die Familie selbst etwas an. Unsere Zeit hat den Mut, langsam
den Schleier von dem ängstlich verdeckten geschlechtlichen Elend zu ziehen,
sie wird den gleichen Mut dem gegenüber zeigen, was Feigheit und Sentimenta-
lität zum Schaden des kommenden Geschlechtes als Privatangelegenheit der
Familie darstellt. In der langsamen aber unaufhaltsamen Sozialisierung aller
unserer Einrichtungen ist es nur eine mehr oder minder große Zeitspanne, die
uns von dem Augenblick trennt, wo der Gemeinsinn laut und gebieterisch spricht :
Nein, die Kinder sind keine Privatangelegenheit der Familie, sie
sind eine Staatsangelegenheit. Und eine Staatsangelegenheit ist es,.
Kinder vor den Schädigungen einer konfliktsreichen Umgebung zu bewahren,
weil darin letzten Endes auch eine Schädigung der Öffentlichkeit liegt. Wer
hat den Mut, die Zahl der sogenannten ,, Verbrecher" abzuschätzen, die nicht
konstitutionell, sondern durch Milieu-Einflüsse zu Verbrechern wurden und die
durch Umgebungsänderung hätten geheilt werden können? Nicht viele; es ist
weit einfacher, sich durch das Wort „unnormal" gegen die Forderung biologischen
Denkens zu schützen.
Zahlbildung und Finger. 403
■x
Zahlbildung und Finger.
Von Hermann Walsemann.
Unter allen Umständen sind die Finger das natürliche Greif organ des Menschen.
Sollte die Natur sie noch zu einem ganz anderen Zweck bestimmt haben? —
Ohne weiteres kann man davon nicht überzeugt sein. Die Behauptung Wete-
kamps: „Die Finger sind die natürlichste und, weil immer vorhanden, prak-
tischste Rechenmaschine" (Selbstbetätigung und Schaffensfreude, S. 22) bedarf
jedenfalls einer Prüfung auf Richtigkeit und Haltbarkeit.
Fragen wir das Kind, so läßt es uns nicht im Zweifel darüber, daß es bei
seiner ersten Zahlbildung die Finger meist gar nicht berücksichtigt. Die
dinglichen Realitäten der Außenwelt sind es, welche das Kind hinsicht-
lich der Anzahl zuerst interessieren und beschäftigen. Besonders sofern das
Mehr oder Weniger mit einem Begehren und Grenießen in Verbindung steht,
läßt es sich die bestimmte Vergegenwärtigung desselben am ersten angelegen
sein. Die Tatsache, daß es an jeder Hand fünf Finger hat, beachtet ein Kind
nur dann, wenn man es geradezu dazu drängt. Eher schon fällt ihm die ver-
schiedene Gestalt der Finger auf, und es zeigt sich interessiert, wenn ihm Er-
läuterungen und Benennungen dazu gegeben werden. Die Folge ist aber, daß
jeder Finger als Einheit aufgefaßt und damit der Vergegenwärtigung einer
Fingeranzahl als Mehrheit noch entgegengearbeitet wird. Die hierin liegende
Schwierigkeit wird vom Kinde erst dann überwunden, wenn es gelernt hat,
von dem Verschiedenen in der Erscheinung abzusehen imd die gleiche Wesen-
heit ,, Finger" für sich richtig zu denken.
Geht nun nicht das Kind wenigstens von diesem Zeitpunkte an dazu über,
sich mit der Fingeranzahl genauer zu beschäftigen ? — Es kommt ganz auf die
Beeinflussung an. Wo man sich bemüht, es die Zahlen durch Zählen kennen
zu lehren und ihm für die Zählreihe in den Fingern eine sinnliche Grundlage
gibt, da mag es allmählich dazu kommen, die Finger zu beachten und auch
als Abzählmittel zu benutzen. Aber von selbst und gern geht es diesen Weg
nicht, und niemals wird es auf ihm eine wirkliche Kenntnis der Zahlen erlangen.
So beeinflußte Kinder (ihre Zahl ist sehr groß) werden beim Eintritt in die
Schule vielleicht bis 20 oder gar schon bis 100 „zählen" können, dabei aber
nicht wissen, ob und wieviel 5 mehr ist als 3 und 6 weniger als 8. Ihre Zahlen-
kenntnis erweist sich bei näherer Prüfung als eine Kenntnis von Worten,
mit denen sie einen genauen Sinn nicht verbinden. Ja diese Kenntnis ist
auch noch an die Reihe und Reihenfolge gebunden; außerhalb derselben ist
das einzelne Zahlwort nur Schall ohne Sinn und Bedeutung.
Man sagt vielleicht, ein sich selbst übcrlassenes Kind schreite doch in seiner
Zahlbildung naturgemäß von der Eins zur Zwei, von der Zwei zur Drei usw.
fort und werde so gewissermaßen von selbst zum Zählen gebracht. Allein
diese verbreitete Meinung beruht auf der Beobachtung von Kindern, die früh
das Zählen gelernt haben. Auf nicht beeinflußte Kinder angewandt, erweist
sie sich bei näherer Prüfung als vollkommen irrig. Ein vom Zählcnsollen
nicht behelligtes Kind vergegenwärtigt sich die Zahlmomente des Sinnlichen
durchaus außer der Reihe, in demjenigen Wecli > I üitnlich, in welchem sie
26*
404 Zahlbildung und Finger.
ihm zufällig entgegentreten. Außer der Einheit, Zweiheit, Dreiheit usw.
kommen für die erste Zahlbildung auch die Menge, die Hälfte, sowie ,,kein" und
alle in Betracht. Eine Reihenfolge festzulegen, in welcher diese und jene nume-
rischen Bestimmtheiten immer zur Auffassung gelangten, ist ganz unmöglich.
Eine bunte Mannigfaltigkeit greift hier Platz; die Gelegenheit, ihre Häufig-
keit und Ausnutzung, spielt die Hauptrolle dabei. Die Einheit mag in allen
Fällen voranstehen; aber dann folgt sicher nicht die Zweiheit, sondern erst
die Menge, vor der Dreiheit wahrscheinlich ,,kein", die Hälfte, alle. Tritt dem
Kinde häufig eine scharf ausgeprägte Vierheit (Beine der Haustiere, Wagen-
räder, elektrische Flammen) entgegen, so lernt es diese vor der Dreiheit
kennen. Und die Auffassung des einzelnen Zahlmomentes hängt durchaus nicht
von der vorhergehenden Anzahl ab. An die Dreiheit denkt kein Kind, wenn
es wiederholt die Vierheit sieht, benennen hört, festhält und wiedererkennt.
Menge, kein, Halbe, alle lassen ein Zurückgehen auf davorliegende Zahlen ja
auch gar nicht zu.
Die Zahlbildung eines Kindes, welches verbildenden Einflüssen nicht aus-
gesetzt ist, geht also sprunghaft, nicht reihenmäßig. Dabei tritt von vorn-
herein eine simultane Vergegenwärtigung der numerischen Bestimmt-
heiten in Wirksamkeit. Ein solches Kind kommt denn auch bald zum simul-
tanen Sehen beliebiger kleiner Mehrheiten, und zwar zu einer Zeit, da
es vom Zählen noch gar keine Ahnung hat. Ich habe einmal beobachtet, daß
ein Kind die Fähigkeit, Mehrheiten mit einem Blick zu erfassen, bereits bis
zur Vierheit vollkommen erlangt hatte. Die dann einsetzende Anleitung zum
Zählen brachte es vollständig in Verwirrung. Es tippte mit dem Finger auf
einen, dann auf einen anderen, oft auch auf denselben Gegenstand und zählte:
1, 8, 20, 17 usw. Es hatte alle möglichen Zahlwörter gehört und behalten, ihren
Sinn aber nicht erfaßt und die Herstellung einer Ordnung unter ihnen noch
nicht begriffen.^')
^) Seitdem ich Vorstehendes niedergeschrieben habe, sind ungefähr 5 Monate ver-
gangen. Der Kleine ist mit ,, Zählen" nicht wieder behelligt worden. Zu Weihnachten
bekam er ein ,, Buntes Rechen- Allerlei" (mit Versen von Robert Hertwig), in welchem
die Zahlen von 1 — 12 an Kindern in zweckmäßiger Gruppierung dargestellt
sind. Jedem Gruppenbilde ist die das Zahlmoment bezeichnende Ziffer groß bei-
gedruckt; Verse (herzlich schlechte) sind dazu gegeben. Beispiel:
,,. . . Doch jetzt hab ich ein Mittelchen,
Ich zähl die bunten Kittelchen:
Drei rot, drei Blau, zwei grün — das macht
Svunma Summarum — gerade acht".
Dieses Buch ist die Mutter mit ihm einige Male durchgegangen. Er wollte inuner
mehr Wiederholungen; bald wußte er die Verse größtenteils auswendig. Nun folgten
arithmetische Ereignisse: der Kleine kannte die Uhr; bis avd Viertelstunden wurde
jede Zeit genau abgelesen (die Uhr ist halb acht; ein Viertel vor 11 usw.). Dann
begann er plötzlich auf der Straße die Hausnummern laut auszurufen (Nr. 85, Nr. 139,
Nr. 27 usw.), auch Nr. A 98 (statt 98 A). Am 8. April d. Js. fragte ich ihn: Welches
ist unsere Hausnummer ? — 16 — Welche Nr. ist nebenan bei M.s ? — 14. — Welche
Nr, ist an der anderen Seite bei K.s ? — 18. — Welche Nr. wohnt Obl. St. ? — 20,
glaube ich. Welche Nr. wohnt Fritz ? — Fritz wohnt Nr. 22. Und schnell fügte er
hinzu: Jetzt wohnt er Nr. 82 (er war am 1. April \migezogen).
Am folgenden Tage fragte der Knabe mich: Wie viel ist „eigentlich" drei mal 5?
(zwei mal 5 stehen in seinem Bilderbuche). Wieviel ist aber zwei mal 10 und 3 ? —
Zahlbildung und Finger. 405
Es zeigt sich hier, daß sich die ursprüngliche Zahlbildung ganz unabhängig
von der Zählreihe vollzieht und die Herstellung dieser eine Sache für sich
ist, die mit rechtem Verständnis immer nur in dem Umfange möglich ist, in
welchem sich das Kind eine Kenntnis der Zahlen bereits erworben hat.
Die Zählreihe ist in dieser Hinsicht mit einem Katechismusstück zu vergleichen,
das diejenigen noch nicht können, die es auswendig können, imd diejenigen
niemals von Grund aus lernen, welche mit dem Text anfangen.
Der Schulunterricht muß an die vorhandene natürliche Zahlbildung an-
knüpfen und sie planmäßig erweitem und vertiefen. Ein Zählbetrieb wird dem
in keiner Weise gerecht; er verstärkt nur die Fehler vorzeitiger Zählübungen
im schulpflichtigen Alter; er übt gleich den zusammenhängenden Text ein,
ohne den rechten Sinn der einzelnen Bestandteile desselben vorweg erarbeitet
zu haben. Geht es dann an das Rechnen, so sind die Kleinen rat- und hilflos;
denn für die verlangten geistigen Exerzitien fehlt ihnen jede Vorstellungs-
grundlage. In ihrer Not greifen sie dann wohl begierig nach dem Leitseil der
Finger, an welchem sie die Zählreihe entlang schreiten wollen. Aber selbst
dabei können sie leicht straucheln und fallen. Wird etwa der Anfangspunkt
nicht richtig getroffen oder die Zahl der Schritte irrtümlich bemessen oder ver-
sehentlich ein Abstand übersprungen, so fällt der Endpunkt notwendig falsch
aus. Zwar ist die Antwort in der Regel nur um eins oder zwei unrichtig; aber
unrichtig ist sie eben doch.
Glaubt jemand, daß den Kleinen bei solchem Zählbetrieb die Zahlen und
Zahlenverhältnisse klar werden? — Vor lauter Angst und ,, Arbeit" achten sie
kaum darauf. Das leicht mögliche Verzählen erhält sie in beständiger innerer
100 000 Bänder, Vater, wieviel sind das ? — (so viel, daß ganz Schleswig davon voll
wird). Wie viel sind denn aber 200 000 ? — (wenn die hintereinander gehen, gibts
eine Reihe, die reicht bis Kiel). Darauf kam er noch ein paar mal zurück.
Einige Tage später fragte ich ihn morgens nach der Zahl der gelben Kugeln an den
Bettstellen. Er faßte die vorn befindlichen ins Auge und sagte ohne langes Besinnen:
da sind 4, darauf ohne sich umzusehen: hinten sind auch 4; zweimal 4 sind 8. Ich
fragte nach der Zahl der Glaskugeln, die eine elektrische Deckenbeleuchtung ver-
zieren. Er sah hin, besann sich einen Augenblick und sagte: 12 sind's oder ein Dutzend.
Ich mußte selbst erst nachzählen ob es stimmte.
Um die Zeit, als er mit dem Ausrufen der Hausnummern anfing, kam ich auf das
Zählen zurück. Ich sagte: Zähl mal, wieviel Knöpfe ich an der Weste habe! Er zählte
von unten nach oben (mit dem Zeigefinger auftippend): 1, 2, 3 — dann stockte er,
zeigte auf den vierten Knopf und sagte wieder: 1, dann 3, 6, 8. Nein, sagte ich, sieh
doch mal ordentlich zu! darauf die richtige Antwort: 7 sind's.
Bald darnach hörte ich zufällig, daß er II Schläge derUhr richtig zählte. Abgesehen
von dor Feststellung dieser Schlagreihe habe ich bis dahin niemals bemerkt, daß er die
Anzahl durch Zählen ermittelt hätte, und doch konnte er mit Blitzesschnelle jede
kleinere Anzahl auf den ersten Blick richtig angeben. Zählübungen sind in der
Zeit seiner größten Fortschritte überhaupt nicht mit ihm zur Ausfülirung gekommen.
Von den Fingern kennt er sieit langem die Fünf- und Zehnzahl; irgendeine andere
Bedeutung für seine Zahlbildung haben sie nicht gehabt. Das „Abzählen" an den
Fingern ist ihm bis heute eine unbekannte Prozedur.
Ich finde an diesem Knaben (z. Zt. 4% Jahre alt) nichts Verwunderliches; bemerkens-
wert ist nur, daß seine erste Zahlbildung nicht durch die psychologischen Unmög-
lichkeiten des Zä})lens und Abzählens vor der Erlangung der Zahlbegriffe ver-
nichtet worden ist; daher die erheblichen Anläufe zur Beherrschung der numerischen
Wirklichkeiten.
406 Zahlbildung und Finger.
Unrulie; das tatsächliche Denken falscher Ergebnisse bringt die Unsicherheit
systematisch in ihren Verstand hinein oder vielmehr in ihr Gedächtnis. Der
arithmetische Verstand wird durch das „Abzählen an den Fingern" im Keime
erstickt.
Die alten (und sehr alten) Fingermethodiker haben denn auch herausgefunden,
daß von der gewöhnlichen Fingerbenutzung nichts Erhebliches für das Rechnen
zu erwarten ist. Sie suchten und fanden den Ausweg, bestimmte Zahlen durch
immer gleiche Zusammenstellung der Finger bilden zu lassen. Auf
diesem Wege gelangten sie zu feststehenden Fingerbildern, mit denen
nun auch anschaulich gerechnet werden konnte. Es ist die einzige Möglichkeit,
das natürliche Greif organ des Menschen in den Rang einer ,, Rechenmaschine"
zu erheben. Eine künstliche Verwendung ist und bleibt es auf jeden Fall,
keine natürliche.
Die alten Völker haben bereits auf frühen Kulturstufen nach besseren Hilfs-
mitteln der Zahlerkenntnis gesucht und sie in Dingen gefunden, die nicht
zum eigenen Körper gehören. Die Chinesen erfanden und benutzten den
Suan-pan, die Griechen die pythagoräische Tafel, die Römer den Abakus, die
Russen den Tschotü. Diesem ist bekanntlich unsere ,, russische Rechenmaschine"
nachgebildet. Ihr Vorzug besteht in dem gänzlichen Verzicht auf Symbolik.
Die weiteren sehr mannigfaltigen und angestrengten Bemühungen um die Ver-
besserung der Rechenmaschine hatten zur Hauptsache die Ermittlung der
zweckmäßigsten Gruppenbildungen zum Ziel. Das Maschinenartige trat
mehr und mehr zurück — mit vollem Recht. Viele Methodiker sind zu bloßen
,, Zahlbildern" übergegangen, die entsprechend den Figuren in der Formenlehre
und den Karten im erdkundlichen Unterricht als Anschauungsgrundlage
zum Zweck der Gewinnung klarer Erkenntnisse benutzt werden sollen.
Ob solche Punktbilder mit Kreide an der Wandtafel hergestellt oder mit Kugeln
zusammengebaut oder mit Scheiben auf Papptafeln ausgeführt und hinterher
möglicherweise noch ausgeschnitten werden, ist ziemlich ohne Belang. Auf den
einheitlichen, übersichtlichen Aufbau der Zahlindividuen kommt
alles an. Wo dieser erreicht wird, kann nicht nur das genaue Wieviel jeder
Zahl, sondern auch die Zusammensetzung, Zusammenfügung und Zerlegung
derselben, sowie der Auf- und Ausbau des Zahlensystems und der Vollzug der
Operationen innerhalb desselben anschaulich gezeigt werden. Auch auf die
Bruchzahlen kann man diese Bemühungen ausdehnen (quadratische Bruch-
bilder). Voraussetzung für eine verständige Benutzung all und jeder Zahl-
versinnlichung ist natürlich das vorherige Herauswachsen und Herausarbeiten
der Zahlbegriffe aus konkreten Materien. An eine entsprechende Vorbedingung
ist ja auch die Benutzung der Figuren, Karten, Skizzen, Modelle usw. geknüpft.
Wer je Rechenschüler beobachtet hat, die durch ,, Abzählen an den Fingern"
Aufgaben lösen mußten und demgegenüber auch in die Lage gekommen ist,
andere zu sehen, die sich an übersichtliche Gruppenbilder (,, Einheitsanschau-
ungen") und ihnen entsprechende Vorstellungen halten konnten, der muß auch
den gewaltigen Unterschied bemerkt haben, den das bessere Hilfsmittel im
Gefolge hat. Die Lösung von Aufgaben erfordert hier nur einen einzigen geistigen
Akt, der bei hinreichender Beherrschung der Anschauungsgrundlage stets glatt
vollzogen wird. Innere Ruhe, Klarheit und Sicherheit ist solchen Rechenschülern
Zahlbildung und Finger. 407
vom Gresicht zu lesen. Alle arbeiten, auch die Schwachen, und mit Lust. Es
gibt keinen Unterricht, der mehr interessierte und die schlummernden Erkennt-
niskräfte nachdrücklicher weckte, als ein solcher Rechenunterricht. Das Gerede
von den ,, toten Zahlen" stammt von denjenigen nicht, die solchen Unterricht
verstanden und je erteilt oder auch nur gesehen haben. Die Vorstellung vom
lebendigsten Tier schließt nicht mehr ,, Leben" in sich als scharf ausgeprägte
und zu einander in Beziehung gesetzte Zahlvorstellungen.
Man sollte von einer Rechenmaschine im Sinne eines Hilfsmittels für den
ersten Rechenunterricht überhaupt nicht mehr reden und diese Bezeichnung
für mechanisch arbeitende, wirkliche Rechenapparate freigeben. Es handelt
sich hier, wie in allen Elementarfächern, lediglich um zweckmäßige Versinn-
lichungen der Grundbegriffe des Faches, und der Zweck ist die Ge-
winnung klarer, innerlich wahrer Erkenntnisse. Der sonst übliche
Ausdruck ,, Anschauungsmittel" wäre also angemessen. Will man aber durch-
aus den Ausdruck Rechenmaschine beibehalten, so ist die beste Rechen-
maschine diejenige, welche die Versinnlichung der Zahlbegriffe
am übersichtlichsten und einheitlichsten zur Ausführung bringt.
Eben dieses ist dann auch in Wahrheit das natürlichste Hilfsmittel; denn es
kommt der Natur des kindlichen Geistes am besten entgegen.
Es muß noch gesagt werden, daß die Rechenschüler möglichst bald vom an-
schaulichen Rechnen ab- imd zum sicheren verstandesmäßigen Arbeiten
mit reinen Zahlen kommen müssen. Hierzu ist erforderlich, daß das Hilfs-
mittel bald verschwinde und die Schüler wissen, daß dies geschehen wird.
Ihr Wille muß dadurch angespornt werden, das einmal klar Erkannte festzu-
halten. Darum ist eine ,, Rechenmaschine", die sie immer bei sich tragen, auch
durchaus kein praktisches Hilfsmittel. Sie verleitet zum Sichverlassen auf die
sinnliche Hilfe und ist deshalb so unpraktisch wie nur möglich.
Angesichts der langen und erfolgreichen Bemühungen, für den ersten Rechen-
unterricht wirklich brauchbare Versinnlichungsmittel zu finden, sollte man sich
hüten, zu dem primitivsten Hilfsmittel, den Fingern, zurückzukehren. Die es
tun, vollziehen einen ungeheuren methodischen Rückschritt, dessen Folgen für
die arithmetische Ausbildung der neuen Generation gar nicht abzusehen sind.
Es scheint, daß die moderne Werk- und Gesamtunterrichtsbewegung am ele-
mentaren Rechenunterricht ein Hindernis finden wird, über welches sie nicht
hinwegkommen kann. Hie Rhodus, hie salta! Die vielfach angekündigte und
auch notgedrungen ausgeführte Zurückschraubung der Rechenziele in den Unter-
klassen wird doch niemand für zuträglich und fortschrittlich halten. Man mag
drum herumreden, soviel man will: Es sind und bleiben Rückschritte!
Wir wollen aber nicht rückwärts schreiten, sondern vorwärts. Wir wollen mit
immer besseren Methoden Vollkommeneres erreichen, nicht all-
mählich auf das Bildungsniveau der Urvölker zurückkehren. Darum fort mit
der , .natürlichen Rechenmaschine"!! Wo man sie in Klassen in Anwendung
findet, kann man sicher sein, daß es um die wirkliche Zahlbildung der
Kleinen jätnrnerlich schlecht bestellt ist.
408 Probleme und Apparate zvir experimentellen Pädagogik.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(FortsetzTing.)
Der sinnfällige Eindruck von der Größe einer Strecke kann durch Neben-
linien wesentlich geändert werden; darauf beruhen viele der geometrisch-
optischen Täuschungen. Ich gebe eine Reihe einfacher Apparate an, mit
denen solche Täuschungen quantitativ untersucht werden können.
Nr. 22. Satz von Täuschungsfiguren mit Strichvariator, nach Rupp (Lehr-
mittelhandlung Grebr. Höpfel, Berlin). In der linken Hälfte des Apparatchens
wird ein Karton mit einer Täuschungsfigur eingesetzt.
Die rechte Hälfte bildet ein Strich variator (vgl. Nr. 10).
Man verändert die Länge des rechten Striches durch
Verschieben des deckenden Streifens so lange, bis er dem mit Nebenlinien
versehenen Strich auf der linken Seite gleich erscheint. Der linke Strich ist bei
dem bis jetzt ausgeführten Satz stets 3 cm lang gewählt,
a) Da der linke Karton auch ausgewechselt werden kann, so kann man mit
demselben Strichvariator
^ ^ ^^^ ^ crö ^ — ? 7 K I gjj^g große Anzahl von
V / - - Q p \, ^ y y , , Streckentäuschungen un
o
^ — 5 E — 3 /^-^ t — 3 b — i -♦- Kartons für die neben
stehenden
vorgesehen
tersuchen. Zunächst sind
Kartons für die neben-
stehenden Täuschungen
b) Durch andere Dicke oder Färbung der Nebenlinien oder durch Abtrennung von
der Hauptlinie wird der Zwang
< — > < — > < — > ^ — > < — 7 4: — > zurZusammenfassung und damit
(••■''«'♦) die Täuschung selbst geringer.
c) Hier ist die Länge der Nebenlinien variiert. Bei langen Nebenlinien
I I I I schlägt die Täuschung
in die gegenteilige Rich-
tung um: an Stelle
der Angleichung an die
Nebenlinien tritt Kon-
- trast zu ihnen. (Viel-
leicht tritt bei größerer
Abtrennung eher Kon-
trast ein.)
/—/ y^^-7^ /^ ^
Nr. 23. Variator für Täuschungsformen, nach Rupp (Lehrmittelhandlung
Gebr. Höpfel, Berlin). Das Instrumentchen wird später bei Besprechung der
Formen noch einmal erwähnt werden. Hier wird es zur Prüfung einiger Täu-
schungen verwertet.
Die zu variierenden Formen sind in der obenstehenden Zeichnung schraf-
fiert. Man betrachte zunächst den mittleren horizontalen Teil. Die Streifen
rechts und links von den schraffierten Formen und das kleine zwischen
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 409
ihnen liegende Stück sind aus weißem Karton geschnitten. , ,
Sie liegen auf schwarzem Karton auf und lassen so l w/ii W//A \
volle schwarze Formen frei. Durch Verschiebung der '
seitlichen Streifen (Schieber) läßt sich die Breite der Formen beliebig
variieren. Die beiden weißen rechteckigen Streifen oberhalb und
unterhalb des mittleren horizontalen Streifens sind so ausgeführt, daß
sie den Schiebern zur Führung dienen. Der ganze Karton hat die Größe
20X10 cm.
Verwendet man die oben besprochenen Einsatzstücke (Schieber), so kann
man die bekannte Täuschung bei der Vasenform untersuchen : die Vase erscheint
weniger breit als das Rechteck, - — _
dagegen die obere Seite länger ^ — ^ ^^ — ^ ' ' ^ — ^ ' ' ^ — ^
als die obere gleich lange Seite "s — r r \ i 1 / \ i i r~~^
eines Rechteckes.
In ähnlicher Weise lassen sich folgende Kombinationen ausführen:
Täuschung mit Strichvariator, transparent, nach Nr. .24.
Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin; Mechaniker Marx, Berlin).
Man braucht zwei Apparate ; der eine gibt eine der beiden Täuschungsfiguren,
der andere ist ein einfacher Strichvariator wie Nr. 11. Der erste Apparat ist in
folgender Weise eingerichtet. Auf der unteren Glasplatte (vgl. Nr. 11) ist
schwarzes Papier mit drei Spalten aufgezogen. Der mittlere Spalt ist 10 cm
lang, der obere und untere so lang wie die Platte. Über diese Platte werden von
rechts und links zwei Schieber geschoben. Wenn man sie nahe aneinander
schiebt, so decken sie den oberen und unteren Spalt immer mehr und mehr
zu, ohne den mittleren konstanten Spalt zu verkleinem. Schiebt man sie nach
außen, so werden der obere und untere Strich immer länger. Man kann so mit
dem einen Apparat« die Nebenlinien beliebig lang oder kurz machen und den
Einfluß dieser Variation auf die Täuschung verfolgen. Es läßt sich z. B. sehr
schön der Umschlag der Assimilation in die Kontrasttäuschung feststellen
(vgl. No. 22 c).
Indem man das untere Glas mit weißem oder buntem Seidenpapier oder mit
Gelatine unterlegt, kann man die Färbung der Nebenlinien variieren und so die
Analyse der Hauptlinien erleichtern.
Satz von Täuschungen mit Strich- und Distanz-Serie, nach Rupp Nr. «5.
(Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). War bei Nr. 22 die Täuschungs-
figur mit einem Strich variator verglichen worden, so steht hier eine Serie dis-
kreter Striche bzw. Distanzen zur Verfügimg.
Die Strecke mit den Nebenlinien ist wieder 30 mm lang, die Serie geht von
25 bis 35 mm, mit 14 mm Abstufung. Täuschungs- imd Serienfiguren sind
auf Papierblätter in Oktavformat aufgezeichnet. Bei dieser Anordnung lassen
sich neben Strichen auch Distanzen verwenden. Dadurch konnten zu den unter
Nr. 22 angeführten Täuschungen noch die gleichen Täuschungen, nur ohne den
mittleren Strich hinzugefügt werden, femer die Täuschung der leeren und aus-
410 Probleme vind Apparate zur experimentellen Pädagogik.
gefüllten Strecke, bei verschieden dichter Ausfüllung und bei Ausfüllung mit
dickeren und dünneren Strichen.
Nr. 26. Perlendistanzvariator für die Täuschung der leeren und ausge-
füllten Strecke, nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin; Me-
chaniker Marx, Berlin). Wie Nr. 14. Die eine Distanz wird durch Perlen aus-
gefüllt, die andere, welche variiert wird, bleibt leer. Die Ausfüllung kann durch
Perlen derselben Größe und Farbe geschehen ; dann ist die Täuschung am stärk-
sten. Oder es können zur Ausfüllung kleinere oder farbige Perlen gewählt werden ;
dann tritt die Täuschung zurück, weil der Zwang zur Zusammenfassung geringer
ist. In beiden Fällen kann die Ausfüllung dichter oder spärlicher genommen
und der Einfluß dieses Umstandes geprüft werden.
Nr. 27. Leiste mit Marken für die Täuschung der leeren und ausgefüllten
Strecke, nach Rupp (Lehrmittelanstalt Gebr. Höpfel, Berlin). Wie Nr. 15,
mit weißen und roten Steinen, ferner mit größeren und mit kleineren Steinen.
Damit lassen sich, nur in größeren Dimensionen, dieselben Versuche ausführen
wie mit dem vorigen Apparat.
Nr. 28. Serie für die Täuschung des schraffierten Quadrates, nach Rupp
(Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Quadrat von 20 cm Seite, parallel
zu einer Seite schraffiert; Serie von Rechtecken, 20 cm hoch, 18 — 24 cm breit,
in ^ cm abgestuft. Sucht man zum Quadrat das gleichbreite Rechteck, so wählt
man meist ein zu breites.
Es ist ein zweites schraffiertes Quadrat hinzugefügt, um die starke Täuschung
zu zeigen, die entsteht, wenn man ein horizontal und ein vertikal schraffiertes
Quadrat vergleicht.
Nr.29. Scheibchen-Serie für die Kontrasttäuschung, nach Rupp (Lehr-
mittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Der Serie Nr. 21 sind einige wesentlich
größere Scheibchen hinzugefügt, ferner eine farbige Serie. Umgibt man ein
Scheibchen, z, B. von 25 mm Durchmesser, einmal mit den kleinsten, einmal mit
den größten Scheibchen, so tritt der Kontrast deutlich auf.
Die Entfernung der Nebenscheibchen, die von Einfluß auf die Täuschung ist,
läßt sich beliebig variieren. Ebenso kann man die Isolierung der Hauptscheib-
chen durch andere Färbung derselben erleichtern.
Mit derselben Serie läßt sich die Täuschung O O O O
verfolgen, die bei Vergleichung der Dis- " — - — " r —
tanzen a und h oder a und c auftritt:
Nr. 30. Stab- Serie für die Kontrasttäuschung, nach Rupp (Lehrmittelhand-
lung Gebr. Höpfel, Berlin). Der Serie Nr. 7a sind einige wesentlich kleinere und
wesentlich größere Stäbe beigefügt, ferner eine andersfarbige Serie. Dadurch
lassen sich die analogen Versuche wie mit der Scheibchen- Serie Nr. 29
ausführen.
Nr. 31. Zylinder- (Röhren-) und Streifen- Serie, nach Rupp (Lehrmittelhandlung
Gebr. Höpfel, Berlin). Mit ihr kann man die Täuschung bei Vergleichung der
Dicke eines Zylinders und der Breite eines Streifens quantitativ verfolgen.
Der Zylinder wird bekanntlich für zu dünn gehalten. Die Zylinder-Serie ent-
hält 31 Stück, 2 bis 40 mm dick, in Millimetern abgestuft; die Streifen sind
2 — 40 mm breit, aber nur von 5 zu 5 mm abgestuft.
Man kann sie auch zu ähnlichen Zwecken verwenden wie die Serien 18 — 21.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 411
Die Täuschungen, die beim Vergleich von Strecken verschiedener Neigung
auftreten, können mit den bereits erwähnten Apparaten geprüft werden:
Eine Strecke erscheint kürzer, wenn sie vertikal, als wenn sie horizontal steht.
Sollen dabei die zwei Strecken getrennt sein, so ist die Täuschung mit Nr. 7 zu prüfen ;
sollen sie aneinander stoßen, so mit Nr. 12.
Eine schräge Strecke erscheint verkürzt, es wird gewissermaßen die Projektion
auf die Horizontale betrachtet. Daher erscheint a kürzer als b. ,
Diese Täuschung, die in der Praxis des Zeichenunterrichts sicher / \^
vorkommen wird, ist mit Nr. 12 d zu prüfen.
Die obere Strecke erscheint kürzer als die untere. Die Täuschung ist davon ab-
hängig, ob und wie innig die zwei Strecken zusammengefaßt werden. Mit den Appa-
raten Nr. 9b und 10 bis 14 ist die Täuschung iinter der Bedingung zu prüfen, daß
die zwei Strecken unmittelbar aneinander stoßen. Dagegen kann man die Streifen
Nr. 7 und die Scheibchen Nr. 20 oder 21 in beliebiger Entfernung übereinander legen
und so den Einfluß des Abstandes auf die Täuschung untersuchen.
Besonders innig scheint die Zusammenfassung zu sein, wenn die beiden Teile eine
einheitliche Figur ergeben, wie es bei Buchstaben und Ziffern der Fall ist. Diese
Bedingung ist bei den drei folgenden Apparaten verwirklicht.
Tafel mit den Buchstaben und Ziffern: BEHKSXZi;3 8, wobei Nr. 32.
die obere und untere Hälfte objektiv gleich sind (Lehrraittelhand-
lung Gebr. Höpfel, Berlin). Man erkennt deutlich die Täuschung: die obere
Hälfte scheint größer zu sein.
Tafel mit denselben Buchstaben und Ziffern, wobei sich der Nr. 33.
obere und der untere Teil wie 5 zu 6 verhalten. (Lehrmittelhandlung
Grebr. Höpfel, Berlin). Das angegebene Verhältnis entspricht ungefähr dem in
unserer Schrift angewendeten Verhältnis. Man erkennt zwar bei genauem Zu-
sehen, daß die oberen Teile etwas kleiner sind; aber der Unterschied erscheint
doch bedeutend größer, wenn man die Tafel umgekehrt hält, so daß alle Buch-
staben auf dem Kopf stehen.
Buchstaben -Variator nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. | |Nr. 34.
Höpfel, Berlin). Die Ausführung ist dieselbe wie beim Strich-
Variator Nr. 10. Das Brett wird vertikal gehalten. Von oben
und unten her wird ein Schieber eingeführt. Die darunter lie-
genden Kartons, die ausgewechselt werden können, tragen die
Buchstaben A, H, K, X. Man kann nun mittels der Schieber
die Buchstaben von oben bzw. von unten her so abdecken, daß
die normal erscheinende Buchstabenform herauskommt.
Sammlung von optischen Größentäuschungen, namentlich
von solchen, welche in der Praxis des Zeichnens, bei Ornamenten, Architekturen
usw. vorkommen. Jede Variante, jede Anwendung einer schon bekannten Täu-
schung ist von Interesse. Das ,, Institut für angewandte Psychologie" (Sekretär
Dr. Lipmann, Klein-Glienicke bei Potsdam), welches eine ähnliche Sammlung
plant, hat sich freundlichst bereit erklärt, Beiträge auch für unsere Sammlung
entgegenzunehmen. Es wird gebeten, Zusendungen mit dem Vermerk: „Für die
Apparatensammlung" zu versehen.
X
Nr. 36.
Ich gehe nun von den Größen zu den Neigungen über. Eine Strecke
kann für unsere Auffassung eine Neigung haben: vertikal, horizontal, steil,
schräg usw. Neigung ist, psychologisch betrachtet, keineswegs ein Winkel zur
Horizontalen oder Vertikalen, sondern wird absolut erfaßt. Auch wenn ein
412 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Winkel gegeben ist, wird manchmal ein Schenkel isoliert in seiner Neigung erfaßt.
So kann z. B. in ^ der schräge Schenkel für sich erfaßt werden und der Winkel
als solcher unbeachtet bleiben.
Wir fragen wieder nach der Unterschiedsempfindlichkeit. Wenn zwei Nei-
gungen gegeben sind, wie genau werden sie unterschieden? Wie genau ver-
schieden schräge? Wie genau vor allem die biologisch so wichtigen Neigungen
der Vertikalen und Horizontalen? Die Beurteilung der Neigung hängt von der
Länge der Schenkel ab, ferner von der gegenseitigen Lage der zu vergleichenden
Neigungen. Von Interesse ist der spezielle Fall, daß eine Neigung in vertikaler
Ebene auf das Zeichenblatt, also in eine horizontale Ebene, übertragen
werden soll.
Von wesentlichem Einfluß dürfte die Einfühlung sein. Verschiedene Nei-
gungen fordern verschiedene Einfühlungen : stehend, liegend, eine schräge Linie
fällt um. Auch die Richtung, in der man die Neigung auffaßt, spielt eine Rolle :
eine steile Linie ist von unten nach oben schwer zu erklettern, umgekehrt gleitet
ein Körper schnell hinunter. Ähnliche Unterschiede zeigen sich bei ,, sanften"
Neigungen usw. Durch derartige Einfühlungen wird vielleicht die Neigung
sehr genau erfaßt und eingeprägt. Sie haben zugleich pädagogische Bedeutung,
weil sie dem Kinde näher liegen, interessanter, lebensvoller sind als die abstrakt-
geometrische Auffassung 10°, 20° usw.
Bei den Größen wurde erwähnt, daß es nicht nur lineare, sondern auch nicht-
lineare, aber doch eindimensionale Größen gibt, z. B. die Breite eines Streifens,
die Höhe eines Rechtecks oder Dreiecks usw. Ähnliches gilt von den Neigungen.
Ein der Breite nach ausgedehnter Körper, z. B. ein Rechteck, kann eine Neigung
haben. Wir brauchen nicht etwa die lange Seite herauszufassen, um die Neigung
zu bestimmen. Auch bei länglichen Körpern von komplizierterer, ja sogar
unregelmäßiger Form fassen wir die Neigung auf. Wir wissen, ob eine
Glocke oder ein unregelmäßig geformtes Pendel vertikal oder schräg hängt.
Es ist von Interesse, zu prüfen, wie genau die Einstellung in solchen
Fällen erfolgt.
Ebenso wie die Größe, wird auch die scheinbare Neigimg durch Nebenlinien
beeinflußt. Einige im folgenden beschriebenen Apparate gestatten diese Täu-
schungen quantitativ zu bestimmen.
Nr. 86. Neigungsapparat, kleines Modell, nach Rupp (Lehrmittelhandlung
Gebr. Höpfel, Berlin; Mechaniker Marx, Berlin). Reissbrett 52x42 cm mit
mattem, schwarzem Kartonpapier bespannt. Zwei graue Kartonscheiben von
20 cm Durchmesser werden durch Stifte, welche in entsprechende Löcher des
Reißbrettes gesteckt werden, so gehalten, daß man sie leicht
drehen kann und daß sie doch in jeder Lage ruhig stehen
bleiben. Abstand der Scheibenmittelpunkte 25 cm.
a) Auf die Scheiben sind die zu beurteilenden Linien ge-
zeichnet, als Durchmesser oder Halbmesser, als längere oder kürzere
Schenkel. Die Neigung wird mittels Reißschiene und Transporteur gemessen.
b) An Stelle der einfachen Linien sind
nicht-lineare Gebilde verwendet. Sie sind
aus weißem Papier geschnitten und auf
schwarze Kartonscheiben geklebt.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
413
c) Scheiben mit den nebenstehenden Täuschungsfiguren werden mit einer
bloß mit einem Strich versehenen Scheibe verglichen. Die schrägen Neben-
linien lenken den Hauptstrich ab, drängen ihn
gewissermaßen etwas weg. Man kann die Neben-
linien in anderer Farbe zeichnen und dadurch die
Isolierung des Hauptstriches erleichtern.
Neigungs-Apparat, großes Modell, nach Rupp (Mechaniker Marx, >'■•• 3^-
Berlin). Großes Reißbrett 110x75 cm, mit schwarzem Tuch bespannt, in der
horizontalen Mittellinie vier Löcher, die zwei äußeren
in der Entfernung 55 cm, die zwei inneren in der Ent-
fernung 15 cm.
a) In die Löcher werden Achsen gesteckt, die an ihrer
vorderen Seite Stäbe aus Flachmessing (weiß gestrichen)
tragen, hinten mit einem Zeiger versehen sind, der
an einer Kreisteilung die Neigung des vorderen Stabes angibt. Die Stäbe sind
auswechselbar, es können längere oder kürzere eingesetzt werden.
b) An Stelle der Stäbe werden, ähnlich wie im vorigen Apparat, ausgedehnte
Formen, wie Glocke, Rechteck, Ellipse, eingesetzt.
c) Ebenso können Stäbe mit Nebenlinien eingesetzt werden.
Der Apparat ist wegen seiner größeren Form für Demonstrations- und Massen-
versuche geeignet.
Apparat zur quantitativen Prüfung
verwandter Täuschungen (Preußisches
burger Tor), nach Rupp (Lehrmittelhandlung
Gebr. Höpfel, Berlin). Die schraffierten Strei-
fen scheinen, ähnlich wie bei der Zöllnerschen
Täuschung, schräg zu stehen. Sie sind um
einen, nahe an ihrem oberen Ende gelegenen
Punkt drehbar, so daß man ihnen jene Nei-
gung geben kann, bei der sie vertikal zu 'u u u — u u u'
stehen scheinen. Mittels eines mit einer geeigneten Teilung versehenen Lineals läßt
sich der Betrag der Verschiebung und damit die Größe der Täuschung ablesen.
Da die zwei Täuschungen aus der Praxis der Schule entnommen sind, dürfte
eine quantitative Prüfung von Interesse sein.
Apparat zur Prüfung der Poggendorff-Täuschung, nach Rupp Nr. 39.
(Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin; Mechaniker Marx, Berlin). Die
schrägen Linien werden bekanntlich durch die vertikalen
weggedrängt und erscheinen daher nicht mehr in einer
Geraden zu liegen. Man kann nun die eine schräge
Linie, die auf einen Streifen gezeichnet ist, so ver-
schieben, daß sie in der Fortsetzung der anderen
schrägen Linie zu liegen scheint. Eine Millimeter-Teilung auf der Rückseite
des Streifens gestattet, den Betrag der Täuschimg abzulesen.
Wenn man den Apparat so hält, daß die schrägen Linien vertikal (vgl. die
2. Figur) oder horizontal liegen, so ist die Täuschung viel geringer, da die
wichtigen vertikalen oder horizontalen Linien leichter herausgefaßt und durch
Nebenlinien weniger beeinflußt werden.
zweier der Zöllner-Figur ^^r-?8a
^ und b.
Schildwachhäuschen, Branden-
\ / V
S / V
\ / V
unj
/
u
414 Probleme und Apparate ztir experimentellen Pädagogik.
In einem zweiten Modell sind die schrägen Linien rot gezeichnet, wodurch ihre
Isolierung erleichtert ist und die Täuschung zurücktritt.
Nr. 40. Sammlung von Beispielen für die Einfühlung in verschiedene
Neigungen. Bei der Wichtigkeit, welche die Einfühlung für das Verständnis
von Neigungen hat, dürfte es von Interesse sein, Beispiele hierfür zu sammeln.
Beiträge hat sich das ,, Institut für angewandte Psychologie" (Sekretär: Dr. Lip-
mann. Klein- Glienicke bei Potsdam) freundlichst bereit erklärt, entgegenzu-
nehmen. Es wird gebeten, Zusendungen mit dem Vermerk ,,Für die Apparaten-
sammlung" zu versehen.
Nr. 41. Sammlung von optischen Richtungstäuschungen. — Ähnlich wie
die Größentäuschungen, sollten auch die Richtungstäuschungen gesammelt
werden. Namentlich sind solche von Interesse, welche bei Ornamenten, Bauten
usw. vorkommen und dort durch entsprechende Änderungen des objektiren
Baues korrigiert werden, z. B. bei den Griechen. (Beim preußischen Schild wach-
häuschen geschieht dies nicht.) Das ,, Institut für angewandte Psychologie"
(Sekretär: Dr. Lipmann, Klein- Glienicke bei Potsdam), das eine ähnliche Sanm-
lung plant, hat sich freundlichst bereit erklärt, Beiträge auch für unsere Samm-
lung entgegenzunehmen. Es wird gebeten, Zusendungen mit dem Vermerk
,,Für die Apparatensammlung" zu versehen.
Winkel gehören wohl schon zu den Formen, sie mögen aber doch für sich
besprochen werden. Daß sie sich von Neigungen unterscheiden, ist schon erwähnt.
Wir fragen wiedernach der Genauigkeit, mit welcher die Unterschiede von Winkeln
erkannt werden. Ist die Genauigkeit für verschiedene Winkel verschieden ? Be-
steht eine Art Weber'sches Gesetz ? Ist sie bei dem gleichen Winkel verschieden,
wenn der Winkel verschiedene Lage hat, z. B. <C und /\, wenn er offen oder
geschlossen ist, z. B. cC und <C wenn seine Schenkel lang oder kurz oder wenn
sie verschieden lang sind? Treten bei Reproduktionen von Winkeln konstante
Fehler auf, indem z. B. kleine Winkel vergrößert werden?
Dabei ist immer vorausgesetzt, daß die zwei zu vergleichenden Winkel sich
nur durch ihre Winkelgröße unterscheiden. Wir können aber auch einen Winkel
in der einen Lage mit einem in anderer Lage, einen offenen mit einem geschlossenen,
einen langschenkligen mit einem kurzschenkligen vergleichen, usw. Vermutlich
werden sich Täuschungen ergeben, die dann für den Zeichenunterricht prak-
tische Bedeutung hätten. Bei Kindern kann es sogar sein, daß sie die Winkel
bei verschiedener Lage, verschiedener Schenkellänge usw. überhaupt nicht ver-
gleichen können. Zum Vergleichen ist ja in diesem Falle nötig, daß die Winkel-
größe herausgefaßt und daß von der Lage, von der Schenkellänge usw. ab-
strahiert wird.
Ähnlich wie bei den Neigungen, wird auch hier die Einfühlimg von Bedeutung
sein. Man kann denselben Winkel verschieden auffassen: als vollen oder leeren,
von außen und von innen gesehen. Dem entsprechen verschiedene Einfühlungen.
Bei Auffassung von außen fühlt man an einem spitzen Winkel die Spitze, bei
Auffassung von innen die Einengung. Die Einfühlungen sind namentlich bei
verschieden großen Winkehi verschieden. Unsere Ausdrücke „spitz", ,,stum.pf",
,, gestreckt", „erhaben" weisen darauf hin; sie besagen mehr als unsere ab-
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik, 415
_ , _
strakten geometrischen Begriffe. Wird durch solche Einfühlungen die Genauig-
keit der Auffassung und Einprägung erhöht?
Für andere Aufgaben sind diese Einfühlungen sicher hinderlich. Wenn ver-
schieden große Winkel, wenn dieselben Winkel bei verschiedener Lage ver-
schiedenartige Auffassungen und Einfühlungen verlangen, so verstehen wir
beim Kinde die Schwierigkeit, die Winkel in eine einsinnige Reihe zu
ordnen, und die Schwierigkeit, die Winkelgröße von der Länge imd Lage zu
abstrahieren.
Unter den Winkeln gibt es ausgezeichnete : den rechten, den gestreckten md
bei offenen Winkeln denWinkelO (Parallelismus). Wie genau werden sie eingestellt ?
Wie genau bei verschiedenen Neigungen der Schenkel?
Wie bei den Größen und Neigungen, gibt es auch bei den Winkeln Täuschimgen
durch Nebenlinien.
Winkelapparat nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). In der Mitte eines Nr. 42.
schwarz gestrichenen Reißbrettes ist senkrecht eine Nadel befestigt, um welche
sich eine Metallscheibe von 30 cm Durchmesser dreht. Die Schenkel des zu
beurteilenden Winkels werden durch weiße Fäden ge-
bHdet. Der eine Faden ist mit Plastellin-Klümpchen
auf der Scheibe ausgespannt, der andere wird an Reiß-
nägeln außerhalb der Scheibe befestigt oder durch
e- -^^
Klammem gehalten, die außen an beliebiger Stelle an das Reißbrett
angesteckt werden. Dreht man nun die Scheibe, so dreht sich der
auf ihr befestigte Faden gegen den an dem Reißbrett befestigten, und der
Winkel zwischen beiden wird geändert. Mit einem geeigneten, mit einem Griff
versehenen Transporteur wird der Winkel abgelesen.
Will man Winkel aus Halbmessern verwenden, so wird ein Faden mit dem
einen Ende an dem Rande der Scheibe befestigt, dann um die Nadel in der Mitte
der Scheibe einmal ganz herumgeschlungen und mit dem anderen Ende durch die
Klammer am Rande des Reißbrettes gehalten.
Mit einem solchen Apparat kann man rechte oder gestreckte Winkel bei be-
liebiger Lage der Schenkel einstellen, oder man kann einen vorher eingestellten
Winkel aus der Erinnerung reproduzieren lassen. Nimmt man einen zweiten
Apparat hinzu, so kann man zwei Winkel simultan vergleichen lassen, bei gleicher
oder verschiedener Lage der Schenkel. (Man könnte auch auf einem einzigen
Reißbrett nebeneinander zwei Scheiben befestigen.) Endlich kann man einen
Winkel, z. B. einen rechten, halbieren lassen; man vgl. dazu die 2. Figur.
Die Länge des Schenkels kann man dadurch variieren, daß man durch einen
Schirm mit einem runden Loch blickt, der konzentrisch zur Achse der Scheibe
liegt und je nach der Größe des Loches die Schenkel mehr oder weniger abdeckt.
Neigungsapparat Nr. 35 für Winkelbestimmungen eingerichtet, Nr. 48.
nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin; Mechaniker Marx,
Berlin). In ähnlicherWeise wie der vorige Apparat, läßt sich der Neigungsapparat
Nr. 35 verwenden.
a) In die 23 cm voneinander abstehenden Löcher werden zwei kleine Stifte
eingesetzt, die vom eine Nadel tragen. Auf diese Nadel werden Kartonscheiben
mit einem feinen, der Nadel enteprechenden Loch gesteckt. Die weitere Ver-
wendung ist ganz analog der beim Winkelapparat.
416 Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
b) Man benützt keine Scheiben, sondern befestigt einen Faden mit einem
Ende an einer Klammer am Rande des Reißbrettes, führt ihn um die Nadel
herum imd dann zu einer anderen Klammer oder befestigt ihn das zweite Mal
direkt mit Wachs am Reißbrett. Die Verstellung des Winkels wird durch
Verschieben der Klammer erreicht. Statt durch die Klammer kann man
den variablen Faden auch durch ein Gewichtchen spannen, welches an dem
nach hinten übergeschlagenen Ende befestigt wird.
•St.u. Einfache Vorrichtung zur Bestimmung des Scheitels offener
Winkel nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin).
a) Auf weißen Kartons sind offene Winkel aufgezeichnet. Die scheinbaren Schei-
tel werden dadurch bestimmt, daß man ein kleines
Metallscheibchen (vgl. Nr. 13) in die entsprechende
Lage bringt.
Nr. 45.
b) Auf weißen Kartons sind offene, durch Zwischenstrahlen ausgefüllte
Winkel gezeichnet. Man bringt wieder ein kleines Scheibchen in den scheinbaren
Scheitel. Dieser wird meist in zu große Entfernung verlegt.
Einfache Vorrichtung zur Bestimmung einer Scheiteltäuschung,
nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Stärker ist die eben
beschriebene Täuschung, wenn man zwei Winkel
symmetrisch so um einen gegebenen Punkt orientiert,
daß sich alle Strahlen in dem Pmikt als Scheitel zu
vereinigen scheinen. Da die Kartons nur in einer ganz bestimmten Richtung ver-
schoben werden sollen, so werden sie auf einen größeren Karton gelegt, welcher
den Scheitelpunkt und an seinem unteren Rande eine Leiste trägt, die den
Kartons als Führung dient.
Natürlich können mit dieser Anordnung auch die unter Nr. 44 beschrie-
benen Versuche ausgeführt werden.
Wenn man einen offenen Winkel dem Scheitel nähert, so scheint die dem
Scheitel zugekehrte Öffnung deutlich größer zu werden.
J^r. 46. Sammlung von Beispielen für Einfühlungen bei Winkeln. Bei-
träge hat sich das „Institut für angewandte Psychologie" (Sekretär Dr. Lip-
mann, Klein- Glienicke bei Potsdam) freundlichst bereit erklärt entgegenzu-
nehmen. Es wird gebeten, Zusendungen mit dem Vermerk „Für die Appa-
ratensammlung" zu versehen.
Beim Vergleichen von Größen und von Winkeln kommt es hauptsächlich auf
die Gleichheit an. Wenn Verschiedenheit vorkommt, so genügt die Konstatierung
derselben. Man kann aber weitergehen und genauer die Verschiedenheit, das
Verhältnis beurteilen. Das braucht nicht durch Auftragen und Auszählen zu
geschehen. Das Verhältnis kann auch ohne solche Mittel beurteilt werden. Wir
scheiden zwischen Messen und Schätzen. Schätzen kann auch ein Kind, das
noch nicht messen und zählen kann.
Wie genau können wir schätzen ? Wie genau kann es das Kind ? Wir können
die Genauigkeit der Schätzung bestimmen, indem wir zwei Verhältnisse ver-
gleichen. Allein, wenn die den Verhältnissen zugrunde liegenden Strecken oder
Winkel gleich sind, so besteht Gefahr, daß bei der Vergleichung nicht die Ver-
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik. 417
hältnisse, sondern die absoluten Strecken oder Winkel verglichen werden. Daher
ist es nötig, diese verschieden groß zu wählen. Damit ergeben sich aber neue
Fragen: Können wir die Verhältnisse bei beliebiger Vergrößerung oder Ver-
kleinerung vergleichen? Offenbar gibt es eine obere und eine untere Grenze.
Vor allem wird das Kind erst allmählich die Übertragimg in andere Dimensionen
lernen müssen.
Dazu kommen weitere Variationen. Die zwei in Verhältnis gesetzten Strecken
können aneinander stoßen oder nicht; sie können in einer geraden Linie oder
z. B. im rechten Winkel stehen. Ebenso können die zwei Streckenpaare gleich
orientiert sein, oder das eine liegt z. B. vertikal, das andere horizontal. Man muß
dann nicht allein von der Größe, sondern auch von der Lage abstrahieren. Ähn-
liches gilt bei Verhältnissen von Winkeln. Alle diese Variationen kommen in der
Praxis des Zeichenunterrichtes vor.
Unter den Verhältnissen gibt es ausgezeichnete. Eines desselben ist des langen
und breiten besprochen : die Gleichheit, die Halbierung einer Strecke oder eines
Winkels. Daneben sind alle arithmetisch einfachen Verhältnisse : ^/g, ^/g, ^f^, ^do
usw. als ausgezeichnet anzusehen. Außer diesen gibt es auch rein psychologisch
ausgezeichnete Verhältnisse: das schönste Verhältnis, das typische Verhältnis,
das natürliche Verhältnis einer größeren zu einer kleineren Strecke.
Es ist schwierig, bei Versuchen über Verhältnisschätzung die Formenschätzung
auszuschließen. Streng genommen sollten die einzelnen Größen getrennt be-
trachtet und verglichen werden. Vielfach aber werden sie zu einheitlichen Formen
zusammengefaßt, z. B. zwei in rechtem Winkel aneinander stoßende Strecken
zu einem Rechteck oder Dreieck. Auch wenn man zwei Strecken oder Winkel
auf ihre Gleichheit hin beurteilt, ist das häufig der Fall. Die Halbierung wird
meistens so vorgenommen. Alle diese Fälle gehören eigentlich nicht mehr zur
Beurteilung von Verhältnissen, sondern in die Formauffassung.
Zur Untersuchung der Verhältnisschätzung sind keine neuen Apparate nötig.
Handelt es sich um Streckenverhältnisse, so eignen sich die Scheibchen Nr. 13,
der Perlen-Apparat Nr. 14 und die Leiste mit Marken Nr. 15. Man kann zu
einer Strecke den dritten, vierten usw. Teil bestimmen oder kann ein Verhältnis
vergrößern oder verkleinem. Was die Winkel betrifft, kann man mittels der
Apparate Nr. 42 oder 43 einen Winkel halbieren, dreiteilen usw. Bei 42 befestigt
man zwei Fäden außen am Reißbrett, z. B. im rechten Winkel, und den dritten
Faden, welcher variiert werden soll, auf der Drehscheibe. Ähnlich bei 43. Um
ein Winelkverhältnis zu vergrößern oder zu verkleinern, werden fünf Strahlen
in fester Lage auf dem Reißbrett befestigt, und der sechste, auf der Scheibe be-
festigte, wird vom Beobachter eingestellt.
Ich komme endlich zur Formauffassung. Sie wurde schon mehrfach berührt.
Es besteht, wie mir scheint, keine strenge Scheidung gegenüber den früheren
Fällen, sondern es gibt Übergänge. Sicher läßt sich nicht durch die äußere
Anordnung bestimmen, ob Formauffassung oder z. B. Verhältnisschätzung
vorliegt.
Die genaue Formauffassung ist vielleicht die praktisch wichtigste Aufgabe
des Augenmaßes. In der weitaus größten Zahl der Fälle sind uns komplizierte
Zeitschrift t. pAdftgog. Piycholosie. 27
418 Probleme und Apparate zxir experimentellen Pädagogik.
Formen gegeben. Wir sollen nicht Linien herausreißen und vergleichen, wir -^
sollen die Formen nicht ausmessen, sondern wir sollen die ganze Form auf uns
wirken lassen und beurteilen. Nur die ganze Form hat Sinn und Bedeutung
und ästhetischen Wert, nicht der herausgerissene Teil. Aus diesen Gründen
bemühte ich mich, für die Formauffassung, für die bis jetzt noch fast keine
instrumenteilen Hilfsmittel vorhanden waren, eine Reihe einfacher, auch
in der Schule zur Erziehung des Formensinns verwendbarer Apparate zu
finden.
Man kann eindeutige und mehrdeutige Formen scheiden. Eindeutig sind
z. B. Gerade, Kreis, Quadrat, alle regelmäßigen Figuren usw. Mehrdeutig
sind z. B. der Bogen, Rechteck, Ellipse, Kreuz usw.
Bei einer eindeutigen Figur kann man das Augenmaß prüfen, indem man
eine einzige Figur einstellen läßt und die Genauigkeit der Einstellung bestimmt.
Bei mehrdeutigen Figuren könnte man durch Einstellung einer einzigen
Figur, z. B. eines Rechteckes, das Augenmaß nicht prüfen; denn jede
Einstellung wäre richtig, ergäbe ein Rechteck. Man muß so verfahren, daß
man zwei Figuren vergleichen läßt. Dabei wird man aus demselben Grunde
wie bei den Verhältnissen zwei verschieden große Figuren wählen.
Wie genau werden in allen diesen Fällen die Formen eingestellt oder ver-
glichen? Wie genau bei verschiedener Lage (z. B. stehendes und liegendes
Quadrat) ? Wie genau bei verschiedener Größe ? Welche Einfühlungen gibt es
für die einzelnen Figuren? Fördern sie die Auffassung?
Nahe dem Leben und den Zielen des Zeichenunterrichts steht folgende Auf-
gabe : Man läßt einen Gegenstand, z. B. ein Fenster, ein Buch, betrachten mid
mittelst eines Apparates nachahmen. Oder man läßt Gegenstände, die sich
schon früher dem Gedächtnis eingeprägt haben mußten, nachahmen, bei Recht-
ecken z. B. einen Eisenbahnwagen, ein Schulheft und dergleichen. Ich gab mir
viel Mühe, namentlich Apparate für solche im praktischen Leben vorkommende
Formen zu finden. Leider wird man sich aus technischen Gründen meist mit
den einfachsten Formen begnügen müssen.
Die eindeutigen Formen sind ausgezeichnete Stücke in der Reihe der mehr-
deutigen Formen. So ist das Quadrat ein ausgezeichnetes Rechteck, die Gerade
ein ausgezeichneter Bogen usw. Sie sind aber nicht die einzigen ausgezeichneten
Stücke. Unter den Rechtecken gibt es ein typisches, ein schönstes, ein mittleres
Rechteck. Welches sind diese ausgezeichneten Formen ? Wie genau werden sie
eingestellt ?
Ich führe nun Apparate für eine Reihe von einfachen Formen an.
A. Gerade (eindeutig).
Sie läßt sich mit den Scheibchen Nr. 13 einstellen. Man richtet z. B. das
mittlere von 3 Scheibchen so aus, daß es mit den anderen Scheibchen in einer
Geraden zu liegen scheint. Man kann auch die Endscheibchen verstellen, kann
mehr Scheibchen wählen, kann den Abstand größer nehmen, und man
kann der Geraden jede beliebige Richtung geben.
Die Einstellung eines gestreckten Winkels, wie sie mit den Apparaten Nr. 42
und 43 vorzunehmen ist, kann auch als Einstellung in eine Gerade aufgefaßt
werden. Ebenso bezieht sich die Poggendorff-Täuschung Nr. 39 auf Einstellung
in eine Gerade.
„Unsere Jugend". 419
Variator zur Einstellung eines Punktes in die Verlängerung Nr. 47.
einer Geraden, nach Rupp (Lehrmittelliandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Be-
quemer als die Scheibclienan Ordnung ist folgende Einrichtung : ^_^
a) Der Streifen mit dem Punkt wird so lange nach oben
oder unten verschoben, bis der Punkt in der Verlängerung
der geraden Linie zu sein scheint. Eine Millimeterteilung
auf der Rückseite gestattet, den Fehler abzulesen.
Tir
rj
1 1 ■ » 1 1 ■ 1 1 1
♦ ttOttM ♦♦
b) Mit einer ähnlichen Anordnung (vgl. die 2. Figur) läßt sich eine bekannte
Täuschimg prüfen. Wenn man links zwei nahe übereinander liegende Ge-
rade zeichnet imd die Aufgabe stellt, den rechten Punkt in die Verlängerung
z. B. der untersten Geraden zu bringen, so wird er zu hoch eingestellt. Man
ist durch die obere Gerade beeinflußt. Größere Entfernung und andere Färbung
des zweiten Striches verringert die Täuschung.
Perlen-Apparat für Einstellung in eine Gerade, nach Rupp (Mecha- Nr. 48.
niker Marx, Berlin). Prinzip ähnlich wie bei Nr. 14. An einer Reihe von Schnüren
sind weiße Perlen zu verschieben. Man stellt z. B. die End-
perlen in beliebiger Lage ein und läßt die zwischenliegenden
Perlen so verschieben, daß sie mit den Endperlen genau eine
Gerade zu bilden scheinen. Man kann mehr oder weniger Perlen wählen, man
kann als Endperlen die äußersten oder näher zusammenliegende wählen.
B. Bogen (mehrdeutig).
Tafel für die Täuschung beim Vergleich von Bögen verschiede- Nr. 49.
ner Längen, nach Rupp (Lehrmittelhandlung Gebr. Höpfel, Berlin). Links
ist ein Kreis gezeichnet, in der Mitte eine Serie von
längeren, rechts eine Serie von kürzeren Bögen. Die
mittleren Bögen jeder Serie haben den gleichen Radius
wie der Kreis, die oberen sind flacher, die unteren
stärker gekrümmt. Je zwei nebeneinander liegende
Bogenstücke haben die gleiche Krümmung. Man läßt
nun aus jeder der zwei Serien jenen Bogen heraus-
suchen, welcher die gleiche Krümmung zu besitzen
scheint wie der Kreis. Es wird meist ein stark gekrümmter Bogen gewählt,
namentlich bei den kürzeren Bögen. Je kürzer der Bogen, desto weniger scheint
er gekrümmt.
Ein ähnliches Resultat erhält man, wenn man 2 nebeneinander liegende
Bogen vergleicht.
Der Versuch läßt sich als Massen versuch durchführen, auch in Übungen.
(Forteetziing folgt.)
„Unsere Jugend".
Bericht über die Ausstellung in Essen a. d. R., Mai — Juli 1914.
Von Josef Weber.
Im Juli-August-Heft 1913 dieser Zeitschrift (14. Jahrg., S. 365) schreibt
Aloys Fischer: „Der Gesarateindruck der Ausstellung „Das Kind" (Berlin,
Ausstellungshallen am Zoo) ist so ungünstig, daß man fürchten muß, dieser
27*
420 „Unsere Jugend"
erste Versuch möchte die ganze Idee, die Grundtatsachen der körperlichen
und geistigen Entwicklung des Kindes und Jugendlichen in einer Ausstellung
zusammenzufassen, diskreditieren."
Woher dieser Mißerfolg? Weil die Ausstellung vorwiegend Geschäfts-
reklame war: Artikel der Ernährung, Kinderpflege, Spielwarenindustrie,
Lehrbücher, Jugendlektüre usw. in überreicher Wiederholung. Dagegen fehlt
fast alles Material zu jugendkundlichen Schlüssen, während uns doch in
erster Linie auf pädagogisch-psychologischen Ausstellungen das interessiert,
was die körperliche und geistige Arbeit und Entfaltung des Kindes erklärt.
Wir wollen wissen, wie das Kind sich entwickelt und müssen den Inhalt
seiner Arbeit und seines Denkens erkennen und so durch unsere Erziehung
leitend beeinflussen können.
Die Stadt Essen beteiligte sich an der Berliner Ausstellung durch bild-
liche und zahlenmäßige Darstellungen ihrer Erziehungseinrichtungen; die
jetzige Ausstellungsleitung hat offensichtlich von Berlin gelernt, wie man
es nicht machen soll. Denn im allgemeinen sind die Klippen, die der
vorjährigen Ausstellung in pädagogischer Hinsicht den Erfolg nahmen, ver-
mieden worden. Schon der Untertitel „Ausstellung für Gesundheitswesen,
Erziehung, Jugendpflege und Kunst" zeigt weise Beschränkung, Innerhalb
dieser selbstgezogenen Grenzen hat die Ausstellung ihre Aufgabe erfüllt.
Das sei anerkennend hervorgehoben, und kleinere Wünsche mögen bei dem
wohltuenden Gesamteindruck unterdrückt werden.
Bei der Fülle des Gebotenen, zu dessen Anordnung der Stadt Essen die
neuerbauten Ausstellungshallen (mehr als 8500 qm) zur Verfügung standen,
können hier die einzelnen Gruppen nur in großen Zügen kurz besprochen
werden.
Verschiedene Hauptabteilungen sind der ganzen Stoffanordnung zugrunde
gelegt:
1. „Unsere Jugend und die Gesundheit". Den Veranstaltern schwebte
als Ziel vor, durch Anschauung an Bildern, Tafeln, Modellen, Photographien
und anatomischen Präparaten das Wachsen des Menschen und die Ent-
faltung seiner körperlichen Eigenschaften zu zeigen, dann Aufklärungsarbeit
zu leisten über alles, was die Gesundheit der Jugend untergräbt (Alkohol,
erbliche Krankheiten, Inzucht, unzweckmäßige Kleidung, Ernährung und
Lebensweise u. a.), und so das Kind an Körper und Geist gesund schon im
Keim zu schaffen und heranzuziehen. Erforderlich dazu ist in erster Linie
durchgreifend gesunde Gestaltung der Wohnung, Kleidung und Nahrung, und
vorbildlich wirken die Pläne und Skizzen von Bauten, Grünanlagen, Kinder-
spiel- und Sportplätzen.
Weiter soll eine verständige Schulgesundheitspflege ererbte und erworbene
Schwächen und Fehler rechtzeitig erkennen und in besonderen Einrichtungen
(ein Schularztzimmer ist mustergültig ausgestellt) mildern oder beseitigen.
Gleichzeitig sind die durch die Schule vielfach hervorgerufenen Krankheiten
wie Rückgratverkrümmung (in den Schulbänken und bei praktischen Musik-
übungen), Einengen der Brust durch schlechte Haltung u. a. durch Modelle
menschlicher Gerippe zum Ausdruck gebracht.
„Unsere Jugend". 42 1
Die Forderungen zur gesunden Gestaltung der Kinder werden in der
Abteilung
2. „Unsere Jugendpflege" ins tägliche Leben übertragen, und hier er-
scheint naturgemäß alles, was in den Entwicklungsjahren des Kindes nach
jeder Richtung als zweckdienlich und notwendig gefordert wird. Erfreu-
licherweise ist die gerade hier drohende Gefahr, sich in Geschäftspropaganda
zu verlieren, glücklich umgangen und kluge Einschränkung als oberstes
Gesetz geboten worden. Auch die Darstellung jugendsportlicher Einrich-
tungen kommt hier zu ihrem Recht. Die Fürsorge für Kinder mit körper-
lichen Gebrechen oder geistigen Mängeln wird durch Modelle und Bilder
von Kinderhorten, Waisenhäusern, Hilfsschulen und Pflegeanstalten dar-
gestellt. Als Gegenstück sind Beispiele für gesunde Körpererziehung ge-
geben durch Übersichtstafeln der für die verschiedenen Altersstufen zweck-
mäßigsten Leibesübungen.
Die in dieser Weise schon im kleinsten Anfang gesund disponierte Jugend
läßt sich tüchtig erziehen und planmäßig unterrichten. Damit kommen wir
zum pädagogischen Teil der Ausstellung, der sich zunächst mit dem Ge-
biete
3. „Unsere Jugend und die Heimat" beschäftigt. Die Gruppe für
Heimatkunde und Heimatliebe zieht naturgemäß immer weiter ausgreifende
Kreise um den Heimatsort als Mittelpunkt, so daß hier als Gliederung von
selbst gegeben ist: Essen-Ruhr (mit alten Kirchen, Gebäuden und historischer
Umgebung), Rheinland-Westfalen (mit der Wiedergabe naturgetreuer Teile
aus Kohlen- und Erzgruben, der Krupp sehen Werke und des Zechenwesens),
Deutschland und deutsche Kolonien. Des weiteren hat die Essener biolo-
gische Vereinigung einen heimatlichen Tierpark, die Stadtgärtnerei einen
biologischen Garten hergestellt.
Da unsere Jugend auch zu ästhetischem Genießen erzogen werden soll,
ist eine besondere Abteilung
4. „Unsere Jugend und die Kunst" eingerichtet, die „vom Kinde
als Gegenstand der Kunst, vom Kinde als Künstler und von der Kunst
für das Kind" erzählt. Die Kinder sollen durch gute Reproduktionen
lernen, rechte Kunstbetrachtung zu pflegen. Künstlerische Bilderbücher
und Spielsachen (besonders gut und reichhaltig gestaltet) sollen zu künst-
lerischer Selbstbetätigung anregen und das Anschauungsvermögen fördern.
Die im selbständigen künstlerischen Zeichnen, Formen und Modellieren ge-
botenen Kinderarbeiten sind teilweise erstaunlich und für die Kenntnis der
Psyche des heranwachsenden Kindes ungemein interessant.
Den größten Raum beansprucht natürlich, da das Kind den Hauptteil der
Jugend in der Schule verbringt, die Abteilung
5. „Unsere Jugend und die Schule". Was hier gezeigt wird, ist in
zweckmäßiger Gestaltung und reichhaltiger Fülle besonders erfreulich. Nach
einzelnen Fächern geordnet sind Lehr- und Lernmittel, Anschauungsmaterial
(Karten, Bildwerke, Modelle, Apparate), methodische Arbeiten und Jugend-
schriften in guter Auswahl zusammengestellt.
An die Abteilung für Religion schließt sich das Morgenland mit den
assyrisch-babylonischen und den ägyptischen Kulturkreisen, an diese wieder
422 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
die klassische Kultur, deren Mittelraum die Vorhalle eines Akropolistempels
nachbildet und im Innern Modelle klassischer Bauten und Kunstwerke ent-
hält. Geschichte, Deutsch, Volkskunde (mit zahlreichen auch gedanklich
selbständigen Papierarbeiten von Vorschul- und Volksschulkindern), der neu-
gestaltete Schreib- und Gesangunterricht, Musik (mit hübschen Beispielen
zur Anregung der musikalischen Phantasie im Kinde), Zeichnen, neuere
Sprachen, Erdkunde, Biologie, Chemie, Mathematik, Physik, Leibesübungen,
sogar amerikanisches und englisches Schulwesen werden in je einem geson-
derten Raum mit ihren wesentlichen Hilfsmitteln gezeigt. Die Bedeutung
der Knabenhandfertigkeit wird praktisch in fünf Werkstätten (für Pappe,
Modellieren, Naturholz, Metall- und Holzarbeit) erläutert.
Eine besondere Abteilung ist der Hilfsschule gewidmet, worin ver-
anschaulicht wird, wie die heutige Schule den schwachbefähigten, beson-
derer Fürsorge bedürftigen Kindern die Hand reicht, indem sie einmal die
Unterrichtsfächer der Normalschule in beschränkterem Umfange, aber doch
mit deutlichem Abschluß betreibt, andrerseits den Anschauungsunterricht
durch Rechenapparate, Fingerlesemaschinen, Lauttafeln usw. fördert und
die Handfertigkeit von Knaben und Mädchen durch zusagende praktische
Arbeiten erhöht.
Mit dem letzten Wort sei der Abteilung für Psychologie gedacht,
deren Leitung entsprechend den in Essen eifrig geförderten Bestrebungen für
experimentelle Pädagogik gerade diese Seite der modernen Seelenforschung
hervorhebt und das ausgestellte Material durch wöchentlich mehrmalige
Vorträge erläutern läßt. Eine ausreichende Sammlung von Apparaten für
psychologische Untersuchungen, besonders zur Erforschung des Gedächt-
nisses, der Wahrnehmung, der Muskelleistung, des Farbensinnes, der Puls-
und Atemtätigkeit, der Apperzeptionsvorgänge, sowie ein Überblick über die
gebräuchlichsten Arten der Testpsychologie und die deutliche Versinnbild-
lichung besonders interessierender Ergebnisse der Kinderseelenkunde durch
Bildtafeln und Kurvendarstellungen gestatten einen gründlichen Einblick
in die Arbeitsweise der modernen Psychologie. Besondere Beachtung ver-
dienen vor allem die überraschenden Versuche über die Entwicklung des
kindlichen Ausdrucksvermögens im selbständigen Zeichnen und über die im
lehrplanmäßigen Unterrichte erzielten Erfolge bei Übungen in links- und
rechtshändiger Schrift (Ambidextrie).
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Stellung des deutschen Lehreryereins zur pädagogischen Wissen-
schaft wurde auf der Kieler Versammlung durch die folgende Erklärung
gekennzeichnet :
Die Deutsche Lehrerversammlung hält es für notwendig, daß die päda-
gogische Wissenschaft im Mittelpunkt aller Lehrerbildung stehe. Sie erhebt
daher die Forderung, daß die Pädagogik an den Universitäten als selb-
ständige Wissenschaft anerkannt und vollwertig vertreten und das päda-
gogische Studium Lehrern aller Schulgattungen zugänglich gemacht werde.
I
Kleine Beiträge und Mitteilungen, 423
Als Aufgaben des Deutschen Lehrervereins betrachtet die Versammlung
1. die Unterstützung der pädagogischen Forschung und die Verbreitung
ihrer Ergebnisse in der Lehrerschaft,
2. die Anregung und Organisation pädagogisch- wissenschaftlicher Arbeit
innerhalb der Lehrervereine.
Zweck der pädagogischen Arbeit im Deutschen Lehrerverein soll nicht
eine erzwungene Einheitlichkeit pädagogischer Überzeugungen, sondern eine
lebendige Anteilnahme der Mitglieder am pädagogischen Leben sein.
Zur Frage der Selbstregierung in der Erziehung legte Dr. F.W. Förster,
der Münchner Professor der Pädagogik, auf dem ersten deutschen Kinder-
schutztage in Halle die folgenden Leitsätze vor:
Die möglichste Heranziehung der Jugendlichen zur Selbstregierung und
Selbstverwaltung empfiehlt sich:
L als notwendige Anpassung an die psychologischen Bedingungen hoch-
entwickelter wirtschaftlicher Kulturarbeit. (Qualitätsarbeit verlangt
moralische Selbsttätigkeit.)
2. als eine wichtige Methode moralischer und staatsbürgerlicher Erziehung.
(Entwicklung von Selbstkontrolle, Gemeinsinn, Gerechtigkeitsgefühl.)
3. als allgemeine pädagogische Notwendigkeit. (Erst durch praktische
Mitarbeit und Verantwortlichkeit für geordnete Zustände werden junge
Leute innerlich für die Sache der Ordnung gewonnen und für frei-
willigen Gehorsam erzogen. Die einseitige Autoritätspädagogik macht
einen wirklich autoritativen Einfluß auf die Jungen unmöglich.)
4. als notwendige Anpassung an den besonderen psychologischen Zustand
der modernen Jugend. (Die antiautoritative Stimmung der modernen
jungen Leute macht einen möglichst geringen Gebrauch repressiver
Methoden und eine möglichst große disziplinarische Verwertung gerade
der zur Rebellion tendierenden Charakterkräfte [Ehrgefühl, Banden-
instinkte, Tätigkeitsdrang] sehr ratsam.)
5. als heilpädagogische Notwendigkeit gegenüber Abnormen und Ver-
wahrlosten. (Die abnorm Indisziplinierten sind ganz besonders explosiv
gegenüber aller bloß repressiv-autoritativen Leitung. Gegenüber ihrer
großen Suggestibilität bedürfen sie einer besonderen Stärkung ihrer
Selbständigkeit. Ihr Gewissensleben bedarf des kollektiven Haltes
durch Übung in gemeinsamen sittlichen Entscheidungen und Verant-
wortlichkeiten.)
Erzieherdisziplin und Selbstregierung sind beide gleich wichtige Faktoren
der Jugendbildung; die Jugend muß lernen, eine von höheren Instanzen
ausgehende Ordnung willig und exakt anzunehmen, und sie muß lernen,
selber Ordnung hervorzubringen. Wo einer dieser beiden Faktoren fehlt
ist ein Mißlingen der Erziehung zweifellos.
Ein religions-psychologischer Fragebogen findet sich inmitten einer
Aufforderung und Anweisung zur Biographienforschung in dem neuge-
gründeten Archiv für Religionspsychologie. Über seinen nächsten Zweck
hinaus kann er dadurch, daß er die wesentlichen Fragepunkte für die
424 Kleine Beiträge xind Mitteilungen.
Erkundung der religiösen Entwicklung angibt, der Beobachtung des indi-
viduellen religiösen Lebens überhaupt dienen, und er sei der Bedeutung
wegen, die solche religions-psychologischen Beobachtungen auch für die an-
gestrebte Reform des Religionsunterrichtes haben, im folgenden wieder-
gegeben :
A. Kindheit.
1. In welcher Umgebung wächst das Kind auf?
a) Welches ist das natürliche, b) das religiöse Milieu?
2. Welchen Einfluß hat die Erziehung auf die religiöse Entwicklung des Kindes ?
3. Wann und in welcher Form traten zuerst religiöse Erlebnisse und Vor-
stellungen in der Seele des Kindes auf?
a) Von welcher Person oder welchem Ereignis gehen sie aus?
b) Welcher Art sind diese Eindrücke?
c) Haben sie dauernde Bedeutung für das Gefühls-, Willens- oder Vorstellungs-
leben?
4. Entwickeln sich in dem Kinde besondere Eigenschaften, Neigungen usw.,
die von Bedeutung für die religiöse Entwicklung sind?
5. An welche einzelnen Erlebnisse knüpfen sich im Verlauf der kindlichen
Entwicklung Eindrücke religiöser Art, und von welcher Art und Bedeutung
sind sie?
6. Treten schon in der Kindheit Zweifel auf, und woran schließen sie sich an?
7. Gegen welche Fehler kämpft das Kind, und welche Rolle spielen dabei
religiöse Vorstellungen?
8. Welcher Art ist das kindliche Gebetsleben, und welche Erfahrungen werden
dabei gemacht?
9. Wann und wie tritt die Person Jesu für das religiöse Leben des Kindes
in Erscheinung?
10. Welche Wirkung hat der Religionsunterricht?
11. Beteiligt sich das Kind an der kirchlichen Sitte? Warum? Gern oder un-
gern? In welcher Weise ist es innerlich dabei beteiligt?
12. Kennt das Kind eine religiöse häusliche Sitte? Ist es innerlich an ihr
beteiligt? Welchen Einfluß hat sie auf die religiöse Entwicklung des Kindes?
13. Welchen Eindruck macht und hinterläßt die Konfirmation?
14. Weitere Mitteilungen.
B. Übergangszeit.
1. Wie gestaltet sich im allgemeinen in dieser Zeit das religiöse Leben (Gebet,
Sünde, Kirche, religiöse Lektüre, Umgang mit Menschen usw.)?
2. Welche Faktoren wirken neu auf die religiöse Entwicklung ein?
3. Treten Zweifel oder Anfechtungen auf?
a) Wann?
b) Wovon gehen sie aus (Person, Ereignis, Buch usw.)?
c) Welcher Art sind sie?
d) Wirken sie drückend oder befreiend auf das seelische Leben?
e) Wurden sie beseitigt? Wodurch? Warum nicht?
4. Welche Bedeutung hat das sexuelle Leben für die religiöse Entwicklung?
5. Ist die religiöse Entwicklung eine geradlinig fortschreitende oder führt sie
durch deutliche Krisen und Erschütterungen hindurch?
a) Wodurch werden sie hervorgerufen?
b) Welche äußeren und inneren Zustände gehen ihnen voraus?
c) Welchen Verlauf nehmen sie?
d) Welche Vorstellungen werden aufgegeben, welche zurückgestellt, und
welche treten jetzt in den Vordergrund?
6. Weitere Mitteilungen.
C. Zeit der Reife.
1. Welches ist das allgemeine Ziel (Religion, Konfession, Sondergemeinschaft,
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 425
Weltanschauung usw.), zu dem die religiöse Entwicklung in der Zeit der
Reife geführt hat".'
2. Werden auch in dieser Zeit noch wichtige Krisen durchgemacht? In welchem
Alter treten sie avif, und wie verlaufen sie?
3. Wie gestaltet sich im einzelnen die Religion des reifen Mannes?
a) Wie steht er zu den Lehren der offiziellen Kirche?
b) Welche Bedeutung hat für sein religiöses Leben die Kirche mit ihren
Einrichtungen und Dienern? Was zieht ihn an, was stößt ihn ab?
c) Welche Bedeutung hat die religiöse Literatur (Bibel, Gesangbuch, Kate-
chismus, religiöse Romane usw.)?
d) Sind besondere PersönHchkeiten der Gegenwart oder Vergangenheit die
ausgesprochenen Führer?
e) Welche Bedeutung hat die Person Jesu?
f) Welche Bedeutung haben Kunst, Natur, Wissenschaft usw.?
g) Welche Bedeutung haben die Wechselfälle des Lebens?
h) Welche Bedeutung hat das öffentliche und berufliche Leben?
i) Welcher Art ist das Gebetsleben? Frei oder gebunden? Regelmäßig
oder nur bei besonderen Anlässen? Welches ist der erfahrene innere
und äußere Erfolg?
k) Treten Erlebnisse irgendwie mystischer Art auf, und wie verlaufen sie
im einzelnen?
1) Inwiefern beeinflußt die Religion das sittliche Leben?
ra) Wie wird Sünde, Schuld und Gnade erlebt?
n) Wie äußert sich die Religion angesichts und während des Sterbens?
4. Weitere Mitteilungen.
5. Welches sind die Hauptmerkmale, die den Typus der Frömmigkeit der
behandelten Persönlichkeit charakterisieren ?
Das Pädagogisch-psychologische Institat zu München gibt im Jahres-
bericht des Bezirkslehrervereins (46. Vereinsjahr) folgende Mitteilung
über die Entwicklung im Berichtsjahre.
„Das Sommer-Semester 1913 war das erste, das beschlußgemäß von
Vorlesungen frei war; die wissenschaftlichen Arbeiten erfuhren dadurch einige
Förderung, wenn auch noch nicht so durchgreifend, wie es erwartet wurde
und sicher in nächster Zeit möglich wird. In ihrem Interesse entschloß sich
der wissenschaftliche Leiter des Instituts — Privatdozent Dr. A. Fischer , —
auf eigene Gefahr, aber mit Unterstützung des Bezirkslehrervereins München,
in den Tagen vom 21. mit 25. Juli 1913 einen praktischen Einführungs-
kurs in die pädagogisch-psychologischen Untersuchungsmethoden
zu veranstalten. Der Kurs wurde von insgesamt 126 Teilnehmern, Damen und
Herren aus allen deutschsprechenden Gebieten, besucht. Er war in der Intention
wie in der Art der Durchführung ein Vorstoß in Neuland. Auf die 5 Tage waren
20 Vortragsstunden zusammengedrängt; es wurde jeden Tag von 8 — 10 Uhr
und 2 — 4 Uhr erläutert; die wesentlichsten Leitlinien wurden den Teilnehmern
gedruckt in die Hände gegeben; dazu erhielten sie (mit nur vereinzelten
Ausnahmen infolge unzuverlässiger Lieferung durch die Geschäfte) die
Materialien zur Prüfung des Farbensinns, für Strecken- und Gewichtsvergleich,
Bildbetrachtung und ästhetischer Auffassung, zu Erhebungen über Sprach-
entwicklung und Ausdrucksfunktionen. Im Anschluß an die Vorlesungen
wurden die Versuche selbst vorgeführt, Anfragen beantwortet und Spezial-
instruktionen gegeben, so daß die täglich faktische Arbeitszeit nie unter
5 Stunden betrug.
426 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
In dieser eingehenden Weise kamen zur Behandlung die Methoden der
sprachpsychologischen Untersuchung des Schulkindes, die der Intelligenz
Prüfung, die der moralpsychologischen Analyse; ferner die Gesichtspunkte
der psychologischen Auswertung von Kinderzeichnungen, die Grundsätze für
die Beobachtung und das Unterrichtsprotokoll im elementaren Schreiblese-
unterricht, im elementaren Kechenunterricht, die Gedächtnishilfen im Schul-
betrieb, die Grundsätze der exakten Kontrolle des Unterrichtsresultates und
deren Bedeutung für die Lehrplangestaltung. In geringerer Ausführlichkeit
kamen die psychologischen Probleme des Schülerpsychogramms und die Fest-
stellung der außerschulischen Interessen des Kindes zur Behandlung. Die
den Teilnehmern zur Verfügung gestellten Materialien kamen für die Serie
auf 4 Mark zu stehen.
Im Winter-Semester 1913/14 kam der dritte Abschnitt des umfassenden
Programms: „Philosophie und Pädagogik" zur Verwirklichung. Es wurden
die Beziehungen zwischen Ästhetik und Erziehungswissenschaft
als leitendes Thema der Vorlesungen gewählt. Die einzelnen Zyklen, in
die es zerstückt wurde, sind folgende:
1. Dr. A. Fischer, Privatdozent an der K. Universität: Ästhetik und
Erziehungswissenschaft. — Prinzipielle Betrachtungen zur pädago-
gischen Ziellehre. — 5 Vorlesungen.
2. Dr. J. Popp, Privatdozent an der K. Techn. Hochschule: Die Haupt-
gesichtspunkte der ästhetischen Wertung von Werken der bildenden
Kunst. — 10 Vorlesungen.
3. Dr. K. Doehlemann, Professor an der K. Techn. Hochschule: Linie,
Licht, Farbe. — 8 Vorlesungen.
4. K. Freytag, Oberlehrer: Die Kunsterziehungsbewegung und die Me-
thoden der Bildung des Geschmacks auf dem Gebiete der bildenden
Kunst. — 6 Vorlesungen.
5. Dr. F. Wilhelm, Professor an der K. Universität: Einführung in die
ästhetische Analyse von Dichtungen. — 8 Vorlesungen.
6. Dr. H. Frhr. v. d. Pfordten, Professor an der K. Universität: Ästhetik
des Liedes. — 12 Vorlesungen.
7. Hauptlehrer J. Peslmüller, Inspektor der Städtischen Zentralsing-
schule: Die Schulgesangsmethoden in alter und neuer Zeit (unter
besonderer Berücksichtigung der letzteren). — 5 Vorlesungen.
Diese Zyklen umfaßten 56 Vortragsstunden und waren von insgesamt
248 Teilnehmern besucht.
Zur Frequenz im ganzen ist zu bemerken, daß sie eine erfreuliche Zu-
nahme gegenüber dem letzten Winter aufweist und allmählich stabil zu
werden verspricht. Nicht ohne Einfluß auf sie war der Beschluß geblieben,
daß Praktikanten und Praktikantinnen von jeder Honorarpflicht entbunden
sein sollen. Dies kommt deutlich zum Ausdruck in dem Verhältnis derer,
die im laufenden Semester Beitrag leisten — es sind 153 — , zu den Honorar-
befreiten 95. Die Einnahmen des Instituts aus Vorlesungsgebühren belaufen
sich deshalb in diesem Semester nur auf 980 Mark. Diese Ziffer ist eine
Folge des Kuratoriumsbeschlusses vom März 1913, während die Frequenz-
Zunahme eine steigende Wirksamkeit des Instituts zum Ausdruck bringt.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 427
\
Es ist dem Verein hoch anzurechnen, daß er um des ideellen Erträgnisses
willen das materielle Opfer bringt, das die augenblicklich einsetzende Ge-
staltung der Dinge in der Zukunft fordern kann: wie bisher wird auch in
Zukunft der Gesamtverein der bayrischen Lehrer tatkräftig fördernd hinter
dem Institute stehen.
Zur Förderung der wissenschaftlichen Arbeiten wurden die Sitzungen
der Arbeitsgemeinschaft wieder aufgenommen. Aus den Teilnehmern
bildeten sich 4 Gruppen, je nach den Problemen, für die sie sich vorzugs-
weise interessierten, die im Turnus wechselnd jeden Dienstag von 5V2 — 7 Uhr
unter dem Vorsitz des wissenschaftlichen Leiters beraten.
Die erste Gruppe behandelt Fragen der Psychologie der frühen Kindheit
und der Kindergartenpädagogik. Drei Themata wurden besonders in Angriff
genommen: der Nachzeichen versuch als Intelligenztest für das Alter 3; 0 — 6; 9
(die Vorarbeiten sind so geklärt, daß demnächst mit Hilfe des Vereins
städtischer Kindergärtnerinnen eine Eichung in großem Stil erfolgen wird),
ferner die Probleme des Bedeutungswandels und der Nebensätze in der
Kindersprache. Die zweite Gruppe behandelt die Entstehung der Diffe-
renzen der Knaben- und Mädchenschrift in der Schullaufbahn und besonders
gegen das Ende der Schulzeit zu. Die dritte Gruppe versucht die In-
telligenzprüfung nach oben auszudehnen, am Fortbildungsschulmaterial, und
die vierte Gruppe behandelt Fragen der Mädchenerziehung. Von den älteren
Arbeiten ist publiziert Karl Köhn: Experimentelle Beiträge zum Problem
der Intelligenzprüfung (Leipzig 1913, bei Quelle und Meyer, 138 S.), im
Druck befinden sich die Arbeiten von: Hu th. Versuche und Untersuchungen
zum Schreibunterricht im Kindergartenalter (Zeitschr. für päd. Psych.), und
H. Reichenbach, Zur Charakterologie des Schulkindes. Das Institut
beteiligte sich ferner an der Ausstellung, die im Oktober 1913 mit dem
3. Kongreß des Bundes für Schulreform in Breslau verbunden war und die
psychischen Differenzen der Geschlechter zum Gegenstande hatte.
Die medizinisch -pädagogische Fürsorge- nnd Beratungsstelle zu
Eisenach legt den Bericht über das erste Arbeitsjahr vor. Insgesamt
wurden in 30 Sprechstunden 73 Personen untersucht, der dritte Teil davon
durch Übungen innerhalb engster Grenzen beschäftigt. Die Gründe des
Besuches der Poliklinik waren: Stottern (51 Fälle), Idiotie (6), Stammeln (1),
Schwachsinn (8), Hysterie (1), Debilität (2), Aphasie (2), Paralyse (1),
Gaumendefekt (1) Fall. Die Tätigkeit der Arzte beschränkte sich vorzugs-
weise auf Untersuchungen und heilerzieherische Beratungen. In mehreren
Füllen wurde die Unterweisung der Stotternden durchzuführen versucht;
sie ist nachweislich in 6 Fällen von größtem Erfolg gewesen, nämlich
in jenen Fällen, in welchen die Zusammenarbeit mit den Angehörigen gelang.
Eine besondere Aufgabe war es, die Verständigung mit den Angehörigen
und nötigenfalls auch mit den Lehrern herbeizuführen. Zu diesem Zwecke
sind noch systematisch geordnete Vorträge gehalten worden.
Ein bedeutsames Preisausschreiben, das sicherlich auch der pädago-
gisch-psychologischen Ausbildung der deutschenOberlehrerschaft
428 Kleine Beiträge xind Mitteilungen.
förderlich sein wird, geht von der Verlagsbuchhandlung Quelle & Meyer
in Leipzig aus. Es lautet: „Die wissenschaftliche und praktische
Weiterbildung der akademisch gebildeten Lehrer an höheren
Schulen ist ein Problem, das seit Jahrzehnten im Vordergrunde des Inter-
esses steht, namentlich aber seitdem F. Paulsen im Jahre 1904 auf dem
ersten deutschen Oberlehrertage in Darmstadt in seinem Vortrage „Die
höheren Schulen Deutschlands und ihr Lehrerstand in ihrem Verhältnis
zum Staat und zur geistigen Kultur" lange nachwirkende Anregungen
ausstreute. Wie auf zahlreichen Philologenversammlungen, so stand dieses
Thema auch wieder auf dem 6. Verbandstage des Vereinsverbandes aka-
demisch gebildeter Lehrer Deutschlands auf der Tagesordnung, ohne indes
auch hier eine allseitig befriedigende und erschöpfende Lösung zu finden.
Um auch ihrerseits zu einer tieferen Erfassung und einer allgemeineren
Behandlung des Problems anzuregen, hat sich die unterzeichnete Verlags-
handlung entschlossen, für die besten Bearbeitungen des oben bezeichneten
Gegenstandes 3 Preise in Höhe von 500, 300 und 100 Mark auszusetzen.
Die Arbeiten sollen in Fortführung der Paulsenschen Gedanken das
Wesen und die Wege der wissenschaftlichen und praktischen Weiterbildung
der Oberlehrer an höheren Schulen darlegen und dadurch Anregungen und
Anleitungen geben, wie die bisher schon gebotenen Möglichkeiten für die
Weiterbildung nutzbar gemacht, umgestaltet und ausgebaut werden können.
Die Manuskripte werden bis zum 1. Oktober 1915 an die unterzeichnete
Verlagshandlung erbeten. Sie sind nur mit einem Kennwort zu versehen,
das auf dem den Namen und Wohnort des Verfassers enthaltenden ver-
schlossenen Umschlag wiederholt werden muß. Jede Arbeit soll den Um-
fang von 4 Druckbogen 8^ nicht übersteigen.
Um die gleichzeitige Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Lehrfächer
zu ermöglichen, ist es gestattet, daß zwei oder drei Verfasser sich zu einer
gemeinsamen Arbeit vereinigen.
Die preisgekrönten Arbeiten gehen in das Eigentum des Verlages über.
Zu deren Auswahl haben sich die Herren Geh. Oberregierungsrat Dr.
Norrenberg, Berlin, Geh. Eegierungsrat Dr. Klatt, Berlin, Gymnasial-
direktor E. Erythropel, Düsseldorf, Prof. Dr. P. Trautwein, Berlin,
freundlichst bereit erklärt."
Nachrichten. 1. Die Berliner Gesellschaft für Eassenhygiene
schreibt nochmals die Preisaufgabe aus: „Bringt materielles und soziales
Aufsteigen den Familien Gefahren in rassenhygienischer Beziehung?" Aus-
kunft gibt der Schriftführer der Gesellschaft Dr. G. Heimann, Charlotten-
burg, Cauerstr. 35.
2. Dem außerordentlichen Professor an der Universität München, Dr.
theol. Joseph Göttler, ist die Stelle eines etatsmäßigen Professors für
Pädagogik und Katechetik übertragen worden.
3. Das Institut für Arbeitsphysiologie, das aus Mitteln der Kaiser-
Wilhelm-Gesellschaft errichtet und bereits seit 1. April v. J. in Tätigkeit
ist, wird nunmehr sein eigenes Heim erhalten. Im ersten Stockwerk des
zweigeschossigen Gebäudes werden die Räume für die Untersuchungen
Vierteljaljrsverzeichnis neuer Schriften. 429
von Kraft- und Stoffwechsel und die statistische Abteilung untergebracht,
im zweiten die chemische Abteilung. Die Leitung des Instituts hat Ge-
heimrat Rubner; ihm stehen Privatdozent Dr. Thomas für psycholo-
gisch-chemische und Stoffwechselarbeiten, Professor Dr. Weber für ex-
perimentell-physiologische und psychologische Arbeiten und Dr. Albrecht
für statistisch-nationalökonomische Studien zur Seite.
4. In Breslau wird im Sommer 1915 eine große medizinische Ausstellung,
„Das Kind", veranstaltet. In 19 Abteilungen sollen Körper und Seele des
gesunden und kranken Kindes, Pflege und Ernährung, Spiel und körper-
lische Ertüchtigung in den verschiedensten Altersstufen, Säuglings- und
soziale Fürsorge, Sanatorien und Heilstätten, das Kind in der Kulturge-
schichte, Kunst und Literatur usw. eine lückenlose Darstellung finden.
5. Eine psychopädagogische Gesellschaft (Societe de Psycho-peda-
gogie) ist in Paris zur Vereinigung von Pädagogen, Medizinern und Psycho-
logen gegründet worden,
6. Der internationale Kongreß für Neurologie, Psychiatrie und
Psychologie findet vom 7. — 12. September 1914 in Bern statt. Von den
zur Verhandlung gelangenden Gegenständen seien genannt: Die Erziehung
junger Delinquenten (Ferrari-Bologna), Die Psychologie in der Schule, Die Prüf-
zeichen der Intelligenz. (Ziehen-Wiesbaden, Simon-Rouen, Descoudres-Genf.)
7. Die 44. Hauptversammlung der Gesellschaft für Verbreitung von
Volksbildung findet in Verbindung mit dem 3. Vortrags- und Übungs-
kursus für freiwillige Volksbildungsarbeit vom 1. bis 7. Oktober
dieses Jahres in Berlin statt. Auf der Hauptversammlung wird die
Jugendpflege in ihrer Bedeutung für die Volksbildungsarbeit
erörtert werden. Die Geschäftsstelle Berlin, NW. 52, Lüneburger Straße 21,
erteilt Auskunft.
8. Die akademischen Ferienkurse in Hamburg, die dieses Jahr in die
Zeit vom 13. Juli bis 22. August fallen, bieten in der Abteilung „Philosophie,
Psychologie, Pädagogik" die folgenden Vorlesungen: I. Dr. P. Hensel,
Prof. der Philosophie an der Universität Erlangen: Hauptprobleme der
heutigen Philosophie. IL Dr. H. Much, Oberarzt am Allgemeinen
Krankenhaus Eppendorf: Führt die Naturwissenschaft unter allen
Umständen zum Monismus? HI. Dr. G. Anschütz, wiss. Hilfsarbeiter
am Seminar für Philosophie: Die Hauptprobleme der modernen Psy-
chologie (mit Experimenten u. Demonstrationen). 1. Das Problem der
Psychophysik. 2. Grundmethoden der Psychologie und „psychische Ele-
mente". 3. Apperzeption und Aufmerksamkeit. 4. Auffassung und Ab-
straktion. 5. Psychische Dispositionen (Einstellung, Anpassung, Übung
und Ermüdung). 6. Körperliche und geistige Arbeit. 7. Anschauliches und
abstraktes Denken. 8. Elementares und komplexes Denken. 9. Denkfähig-
keit, Intelligenz und Anlage. 10. Die Prinzipien der Intelligenzprüfung.
11. Die Geistestypen und ihre Bedeutung. 12. Die Analyse der Persön-
lichkeit. IV. Prof. D. W. Weygandt, Direktor der Irrenanstalt Friedrichs-
berg: Probleme der Kriminalpsychologie. V. Prof. Dr. F. Ahlgrimm,
Direktor der Realschule am Weidenstieg: Das höhere Schulwesen in
Deutschland. VI. Das deutsche Volksschulwesen.
430 Literaturbericht.
9. Im Haraburgiachen Institut für Jugendkunde wurden die fol-
genden Arbeitsgruppen gebildet: 1. Die spracliliche und mathematische
Begabung und ihre Korrelation. Obmann: Dr. G. An schütz. 2. Die
geistige Selbständigkeit der Kinder im Verhältnis zu den einzelnen Stoffen.
Obmann: Dr. Th. Kehr. 3. Religionsunterricht. Obmann: Dr. P. Petersen,
4. Nachprüfung der Anschauungskategorien und ihre psychologische Er-
klärung. Obmann: C. Götze. 5. Versuche zur Bestimmung der Arbeits-
grenze für Schultag und Schulstunde. Obmann: Dr. Walther. 6. Unter-
suchungen über das sittliche Leben des Kindes. Obmann: Dr. Boden.
7. Sexuelle Aufklärung. Obmann: Prof. Dr. Meumann. Die Zahl der
Mitglieder der einzelnen Gemeinschaften wird nicht beschränkt. Zahl und
Zeit der Zusammenkünfte wie überhaupt die ganze Arbeitsweise wird den
einzelnen Gruppen überlassen. Das Institut nimmt die Veröffentlichung
der Arbeitsresultate in Aussicht.
Literaturbericht.
Psychologie des Zeicimens.
2. Sammelreferat von W. J. Ruttmann.
Zur Nachlese aus früher erschienener Literatur seien einleitend genannt:
Lobsien, Kinderzeichnung und Kunstkanon, Zeitschr. f. päd. Psych. 1905.
S. 393—404.
E. Ivanoff, Rercherches experimentales sur le dessin des ecoliers de la Suisse
romande. Correlation entre l'apitude au dessin et les autres apitudes.
Arch. de Psych. VIII 97—156. 1908. Vgl. auch die Arbeit von Katzaroff,
a. a. O. Bd. IX.
G. Rouma, Le Langague Graphique de l'Enfant. Brüssel 1912 (vgl. die bereits
erfolgte Besprechung in dieser Zeitschrift *).
G. H. Luquet, Le premier Age du Dessin enf antin. Arch. d. Ps. XII.
G. H. Luquet, Les Dessins d'un Enfant. Paris 1913.
Kinderzeichnungen finden sich auch in den Kindertagebüchern von Shinn
(übers, von Gladbach- Weber, Langensalza 1905), Körperliche und geistige Ent-
wicklung eines Kindes; Scupin (Leipzig 1907/10), Bubis erste Kindheit;
K. W. Dix (Leipzig 1912), Körperliche und geistige Entwicklung eines Kindes,
2. Heft; endlich sei noch genannt Ament, Die Entwicklung von Sprechen und
Denken beim Kinde (Neudruck, Leipzig 1912), worin die Kinderzeichnungen als
Quelle der Erkenntnis kindlicher Vorstellungen charakterisiert werden. —
I.
Das Kinderzeichnen fand zum ersten Male Beachtung durch geschulte Zeichen-
lehrer auf dem IV. Kongresse für Zeichen- und Kunstunterricht, woselbst Aus-
stellungen und Vorträge auf die psychologische und pädagogische Bedeutung der
Kinderzeichnung hinwiesen. Seit dem Jahre 1912 ist zu beobachten, daß die
Kinderzeichnung Aufnahme in die methodischen Arbeiten über Zeichnen findet.
Beispiele dafür sind: Fauth -Finkbeiner, Grundlagen des Zeichen- und
Kunstunterrichts (Stuttgart 1913), wo dem Referenten Gelegenheit gegeben wurde,
in kurzem Umriß die Entwicklung der zeichnerischen Begabung darzustellen (vgl.
auch Art et Dessin I. Jahrg. 1. Heft, S. 21 ff.); ferner Ernst Weber, Zeichnerische
1) Vgl. Jahrg. XIII, 8. Heft dieser Zeitschr., sowie das Literaturverzeichnis
zu der Schrift des Verfassers ,J)ie Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen zur
Psychol. d. Zeichnens" (Leipzig 1911).
Literaturbericht. 431
Gestaltung und Bildungsarbeit (Hannover 1913), worin ein eigener Abschnitt die
Psychologie der zeichnerischen Gestaltung behandelt und auch die Psychologen
mit ihren Forschungsergebnissen aufzeigt; endlich sei auf den überaus großzügigen
V^ersuch des Wieners A. Kunzfeld, Naturgemäßer Zeichen- und Kunstunterricht
(Wien 1912/13, bisher 4 Hefte) verwiesen. Kunzfeld gründete den genannten
Lehrgang auf die tatsächliche zeichnerische Gestaltungskraft des Kindes. Er hat in
systematischer Weise ausgeführt, was schon Eisner in seinem Werke andeutete. Für
die Kinderpsychologie enthält das sehr reich und bunt illustrierte Werk außer-
ordentlich viel Material. Das Geschick des einzelnen Lehrers ist es natürlich
immer, das Kind von „seiner" Kunst zur Kunst der Kultur hinüberzuführen,
um die verhängnisvolle Klippe zu umschiffen, welche durch die sich allmählich
im Kinde entwickelnde Erkenntnis des Leistungsunterschieds gegeben ist. Auf
jeden Fall ist die Methode, die natürliche Zeichnung als Ausgang zu nehmen,
psychologischer und darnach pädagogischer als einige neue Versuche moderner
Zeichenmethodiker, mittels des technischen Reizes die Kinderseele zu erobern.
Der Referent denkt hier an das Werk des Nürnberger Zeicheninspektors Möhring
(Das Gedächtnis- und Naturzeichnen in der Volksschule, Nürnberg 1913). Die
Pracht der technischen Leistung wird in gleichem Sinne Kind und Lehrer er-
schrecken lassen ob ihres Unvermögens. Wenn nicht erreicht werden kann,
daß der Zeichenunterricht die Ausbildung in der graphischen Ausdrucksform des
Menschengeistes in die allgemeine Volksschule einführt, dann helfen alle Reform-
ideen nichts. Wir können in der Volksschule nicht den Fachzeichenlehrer
brauchen, denn gezeichnet werden soll nicht nur in der technischen Erläuterungen
dienenden Zeichenstunde. Wir können auch nicht von jedem Lehrer eine dem
in der Reform gedeichten Zeichenunterricht entssprechende Befähigung fordern.
Aber ein Ergebnis der Begabungsforschung läßt sich verraten und praktisch
ausbeuten: Die freie Zeichnung ist nicht der Ausfluß einer außerordentlichen
Begabung, sondern das Produkt einer psychologisch umhegten Schulung, die
sich für die Leistung des Kindes mehr reguliernd denn normierend zeigt. Die
Kindesleistung ist gering, aber ihre elementare Form im einen Sinne wie ihre
anschauliche erlebte Kraft im anderen Sinne müßte unseren Zeichenmethodikern
die Augen öffnen. Ein jüngstes Verdienst kommt hier sicherlich dem von
der „Bugra" herausgegebenen Buche „Das Kind und die Schule" zu, welches
an mehreren Stellen eingehend auch die Kunst des Kindes und das Zeichnen
behandelt.
Die Kinderzeichnung hat einen Triumph erlebt in dem Versuche Bechterews,
sie „als bildliches Schreiben der Kinder" zu einem wichtigen methodischen
Mittel der „objektiven Psychologie" (Leipzig. Teubner, 1913) zu gestalten.
Bechterew will an der Kinderzeichnung folgende Eigentümlichkeiten berück-
sichtigt wissen: 1) Die mehr oder weniger große Regelmäßigkeit der Linien, als
Ausdruck der Koordination der Fingerbewegungen. 2) Die größere oder geringere
Kompliziertheit der Zeichnung, als Ausdruck des mehr oder weniger entwickelten
Vermögens der bildlichen Darstellung der Umgebung und der Phantasiegebilde.
3) Die größere oder geringere Übereinstimmung des Dargestellten mit der
Wirklichkeit, als Ausdruck des Nachahmungsvermögens. 4) Die größerere oder
geringere Exaktheit in der Darstellung der Wirklichkeit im Zusammenhange
mit der Beobachtungszeit, als Ausdruck des Reproduktionsvermögens, ß) Die
größere oder geringere Vollständigkeit in der Ausführung des Themas, das
sich das Kind selbst gestellt hat oder das ihm von anderen gestellt werde,
als Ausdruck der Weite seines Gesichtskreises und der Mannigfaltigkeit seiner
Xcuropsycho. 6) Die größere oder geringere Exaktheit in der Darstellung des
erzählten Ereignisses, als Ausdruck des Beobachtungsvermögens. 7) Die Er-
scheinungen der schöpferischen Kraft in der kindlichen Zeichnung, als Ausdruck
der sogenannten Kombinationsfähigkeit. 8) Die größere oder geringere Aus-
arbeitung und Darstellung der Teile, als Ausdruck des Analysierungsvermögens.
9) Die individuellen Eigenschaften der kindlichen Zeichnung, die von den ständigen
äußeren Lebensbedingungen des Kindes abhängen. 10) Die Eigentümlichkeiten
432 Literattirbericht.
des Charakters der Kinderzeichnungen im Zusammenhang mit äußeren oder
innern temporären Bedingungen, welche auf das Kind einwirken. —
Auch die psychologische Forschung im engeren Sinne hat sich nach dem "Vorgange
Meumanns dem Zeichenproblem genähert. In Meumanns Institut für Jugend-
kunde werden nach dem von ihm auf dem IV. Kongresse zu Dresden gegebenen
Programm Untersuchungen veranstaltet, wozu Peter in der vorliegenden Zeit-
schrift einen einleitenden Bericht gibt (XV. Jahrg. 2. Heft). Ebenso versuchte
Meßmer („Der zeichnerische und der sachUche Blick", Deutsche Schule,
XVII. Jahrg. S. 143 ff.) eine Analyse der psychologischen Voraussetzungen des
Zeichnens, indem er auf die Eigenart des zeichnerischen Blickes gegenüber dem
sachlichen hinweist. Dem Kinde ist an sich der sachliche Blick eigen, es zeichnet
ja bekanntlich zunächst nur, was es weiß, und muß erst zum zeichnerischen
Blicke erzogen werden. Diese Gegenüberstellung erst gibt den richtigen Gesichts-
punkt für das Verhältnis der Zeichentechnik zum Kinde. Zeichnerischer Blick
ist entschieden eine Veranlagung, aber er kann bis zu gewissen Grenzen adäquat
dem Grade der Veranlagung ausgebildet werden. Die Diskussion der künst-
lerischen Begabung und Erziehung des Kindes hat gezeigt, daß das Kind auf
jeden Fall zum sachlichen Darstellen gebracht werden kann, die zeichnerische
Seite kann aber nach Meßmers Meinung durch technische Anleitung, wie sie z. B.
im Kopieren gegeben ist, gefördert werden. Dabei möchte Meßmer das Kopieren
nicht als Selbstzweck beachtet wissen, ebensowenig wie Ernst W^eber, der in seinen
bekannten technischen Anleitungen Wege zur Verselbständigung der Technik gibt.
Maunz (a. a. O. S. 220 ff.) versucht in einer Entgegnung die Aufgabe des Zeichen-
unterrichts so zu formulieren, daß er nicht nur den Zweck hat, zum zeichnerischen
Sehen der Gegenstände anzuleiten, wie Meßmer meint, sondern daß er auch
„den Willen zum richtigen Sehen und die Fähigkeit zum vorurteilslosen, richtigen
Sehen" auszubilden hat, und deshalb komme dem Kopieren nicht nur eine „auch"
förderliche, sondern eine wesentliche Bedeutung zu. Auch hier kann, wie in vielen
pädotechnischen Fragen, nur das exakte Experiment entscheiden, das bis jetzt
noch nicht gemacht ist und erst möglich werden wird nach genauerer Analyse
der Zeichenvorgänge, wie sie Meumann und seine Schüler durchzuführen suchen.
Für die Psychologie des Zeichnens ist schließlich auch noch von Interesse
die ethnologische Seite des Problems. Vierkandt nennt in einer Arbeit über
„Das Zeichnen der Naturvölker" (Zeitschr. f. angew. Psych. VI, S. 299 — 373) einen
Zeichentypus „der Andeutung", wie er vor allem als primitivste Äußerung in den
Felszeichnungen vorliegt. Wenn diese Zeichnungen (vgl. die Sammlung von
Th. Koch-Grüneberg, Südamerkanische Felszeichnungen, Stuttgart 1907) auch
mit der ersten Periode der kindlichen Entwicklung verglichen werden können, so
liegt doch nach Vierkandt ein wesentlicher Unterschied darin, „daß beim Kinde
die Kenntnis der Lage und Gestaltsverhältnisse viel geringer und unklarer und
seine rein technische Fähigkeit ihrer Wiedergabe viel schwächer ist". Als
zweiten Typus unterscheidet Vierkandt Zeichnungen beschreibenden Charakters.
Er findet sich bei allen Naturvölkern der Erde verbreitet. Schema, gemischtes
Profil, falsche Lokalisation, Auswahl von Einzelheiten ohne Rücksicht auf die
Komplexdarstellung, nur selten Szenendarstellung, fast ausschließliche Dar-
stellung von Tieren und Menschen (also keine Pflanzen) sind charakteristisch.
Die beiden genannten Stufen findet auch R. Thurnwald in seinen ethno-psycho-
logischen Studien an Südseevölkern auf dem Bismarckarchipel und den Salomon-
inseln (6. Beiheft z. Zeitschr. f. angew. Psychologie S. 71). Wie Vierkandt als
dritten Typus ein anschauungsmäßiges Zeichnen bei den Naturvölkern erkennt,
so nennt Thurnwald einen kombinatorischen Typus. Beide sind Fortschritts-
typen. Gerade wie wir beim Kinde diesen dritten Typus zu einer außerordent-
lichen Entfaltung bringen können (vgl. die Abbildungen in dem Aufsatze des
Referenten in Art et Dessin), so ist dies auch, nur in beschränktem Maße, bei
einigen Naturvölkern in der ethnologischen Zeichenkunst zu beobachten. Die
Typen zeigen eine Entwicklungstendenz vom Subjektiven zum Objektiven. Ihnen
allen steht gegenüber das „Nutzzeichnen", womit Vierkandt alles zweckmäßige
Literatlirbericht.
433
Zeichnen, wie es im ritualen Zeichnen, dem mitteilenden Zeichnen und dem
Ornament zum Ausdruck kommt. „Das Nutzzeichnen aber erhebt sich be-
sonders selten über den Typus der bloßen Andeutung." Die überaus reichen
Ergebnisse der Untersuchungen von Vierkandt und Thurnwald fordern zu
einem eingehenden Vergleich mit den Beobachtungen an Kinderzeichnungen
heraus, wobei sich manches Problem der phylogenetisch-ontogenetischen Parallele,
wie sie uns vor allem Lamprecht bot, korrigiert und manches aber auch sehr
weitgehende psychologische Begründung erhält. Es sei dieser neue wertvolle
Gang der Forschung damit nur angedeutet. — In Ergänzung der genannten
Studien muß noch hingewiesen werden auf die „Vorschläge zur psychologischen
Untersuchung primitiver Menschen", welche vom Institut für angewandte Psy-
chologie gesammelt und herausgegeben wurden (5. Beiheft der Zeitschr. f. angew.
Psych. Leipzig 1912), worin Vierkandt (S. 83 — 90) Gesichtspunkte zur Untersuchung
gibt. Schließlich sei auch noch eine Säemannschrift (No. 2, Leipzig 1912) genannt
von Luise Potpeschnigg, „Aus der Kindheit bildender Kunst," in der sich die
Verfasserin in zusammenfassender Weise über die Parallele von Kunstentwicklung
und Jugendkunst äußert, wobei sehr interessante Versuchsbeispiele zum Aus-
gangspunkt der Betrachtungen über Wesen und Entwicklung der kindlichen
Darstellung, das Verhältnis der Pleistik zur Malerei, die Entwicklung der kind-
lichen Plastik und die Entstehung des Ornaments genommen werden.
n.
An besonderen wissenschaftlichen Untersuchungen des Kinderzeichnens sind
nur wenige neue Arbeiten zu verzeichnen. Nur hingewiesen sei auf die hoch-
interessante Studie Rudolf Lindners „Moralpsychologische Auswertung freier
Kinderzeichnungen von taubstummen Kindern", die in dieser Zeitschrift erschienen
ist {XV, 3. Heft). Eine Reihe beachtenswerter Tatsachen bot die Ausstellung des
III. Deutschen Kongresses für Jugendkunde und Jugendbildung (Katalog dazu
bei Teubner, Leipzig; Arbeiten 7 des Bundes für Schulreform) mit Bezug auf
das Problem der Geschlechter. Nagy gruppierte aus einer größeren Anzahl von
Kinderzeichnungen Typen, die in ihrer Verteilung auf Alter und Geschlecht aus
folgender Tabelle ersichtlich sind:
Alter «/o Typus
8
9
10
11
12
Mittel-
zahl
K.
M.
K.
M.
K.
M.
K.
M.
K.
M.
K.
K.
Realistischer Typus
Ästhetisclier Typus
Mit Komposition .
Ausdruck der Be-
wegung ....
42
57,8
25
33,3
20
80
42,8
16,7
70,3
29,6
78
60
8
92,1
46,8
15,8
64,3
36,7
70
92,8
6
94.1
68,6
13,4
54
45,9
80
81,8
4,5
94,2
64,4
33,3
66,6
33,3
66
76
3,4
96,6
34
46,2
59,4
40,5
66
75
5,2
94,8
60
26
Eingehend ist noch zu referieren über zwei Untersuchungen, wovon die eine die
Fortführung von Muths Studien über das Ornament („Über Ornamentations-
versuche mit Kindern im Alter von sechs bis zehn Jahren", Zeitschr. f. angew.
Psych. Bd. VIL S. 223—270, Bd. VIII, S. 607—648; vgl. Bericht über den ersten
Teil aus Bd. VI der Zeitschr. f. angew. Psych., in dieser Zeitschr. XIII, 8. Heft)
enthält und die andere von P. A. Wagner ,J)a8 freie Zeichnen von Volksschul-
kindern" (Zeitschr. f. angew. Psych. Bd. VIII, S. 1—70) erforscht. Muth ergänzte
zimächst seine Untersuchung durch Vorgleichsmaterial, das von 2 anderen Kindern
stammt. In der Untersuchung gibt sich die hohe Bedeutung der biographischen
Methode kund. Für die Motivenfolge im Laufe der Entwicklung stellte Muth
bei den drei Kindern folgendes fest: Zuerst Festhalten an den erst gewählten
sog. geometrischen Motiven; b) alsdann Verlassen derselben mit Benutzung von
Gegenstandsbildorn ; c) damit Variationen der Zahl und Formbehandlung; d) die
Zeitschrift f. pIcUgog. Psychologie. 28
434 Literatvirbericht.
neuen Motive verdrängen die alten; e) wenn auch deshalb die alten noch auf-
tauchen ; f ) beim Knaben zeigt sich deutlich Suchen nach neuen Motiven und nach
Wechsel der Motive, die Mädchen halten am geometrischen Ornamentsfond
fest. Es läßt sich somit eine Stufe der sogenannten geometrischen Motive von
einer fast zu deutlich als Gegenstände zu erkennenden Motive unterscheiden.
In einer dritten Studie zieht Muth auch noch einen Massenversuch heran, der
in einer gut organisierten achtklassigen Volksschule gemacht wurde. Auch hier
mußten die Kinder den Kerschensteinerschen Tellerversuch und die Verzierung
eines Schildes ausführen. Die quantitativen Altersunterschiede berechnet Muth
aus dem Material Kerschensteiners, das gegenüber dem des Verfassers erheblich
größer und ihm daher wichtiger als Grundlage schien. Darnach nehmen die un-
rhythmischen Leistungen immer mehr ab und die rhythmischen immer mehr zu.
Die Mädchen sind den Knaben voraus. Die qualitativen Unterschiede bestimmt
Muth nach den eigenen Versuchen. Bei den Sechsjährigen „wurden vorherrschend
lineare und geometrische Motive einfacher Art in geschickter, oft; origineller
Weise angeordnet";; die Lust an rhythmischer Betätigung tritt stark hervor. Bei
den Achtjährigen spielt bereits „der Inhalt des Gegenstandes eine ausschlag-
gebende Rolle". Für die Zwölfjährigen gelten alsdann folgende Eigentümlichkeiten :
Deutliche Fertigkeit und Sicherheit in der Zusammenstellung der rhythmischen Reih-
ungen. Verwendung von ornamental geeigneten Formen (vor allem Pflanzenmotive),
Verzicht auf den im vorhergehenden Alter gehegten Eigenwert der Zierleistung,
freiheitlichere Behandlung der Fläche. Schwankungen im Tempo der ornamen-
talen Entwicklung hatte bereits Kerschensteiner festgestelt. Ihnen parallel laufen
die Ergebnisse Muths, der wie Kerschensteiner einen Rückschritt der Knaben an der
unteren Grenze der Oberklasse feststellte. Muth, der sich in anderen Arbeiten sehr
eingehend mit der ethnologischen Ornamentik befaßte, vergleicht im phylogene-
tischen und ontogenetischen Sinne alsdann die vier Entwicklungsstufen der ,4inea-
ren" und „geometrischen" Ornamentik, die Stufe schematischer Gegenstandsformen
und die Stufe des sich entwickelnden Pflanzenornaments und der sich aufbauenden
organischen Tierornamentik. Besonders bedeutsam erscheint für die Art des
Entwicklungsverlaufs die Erscheinung, daß der Wechsel der Stufen nicht gleich-
mäßig ohne Zission sich vollzieht. „Der Übergang geschieht geradezu stoßweise.
Übergangsbildungen, die man als Zwischenstufen zwischen geometrischen Formen
und Bildern von Gegenständen bezeichnen könnte, kommen selten vor." Woher
die einbrechenden Ornamente der neuen Stufe stammen, ist nicht leicht zu
sagen. Bei den Kindern wird man sich den Vorgang so zu denken haben, daß
sie bei ihrem geistigen Wachstum die Formenwelt immer intensiver erfassen und
sozusagen einen Fond realistischer Formen ansammeln, noch während sie mit
primitiven Motiven verzieren. Diese neue Motive häufen, ja stauen sich und die
Stauung bewirkt natürlich dann die Plötzlichkeit des Einbruchs". Darauf er-
folgt für Kind und Volk die Zeit der Besinnung und Sammlung. Hierj stellte
Muth Erscheinungen fest, die beim Kinde auch in der Sprachentwicklung be-
obachtet werden. Deutlichere Fortschritte werden hier immer im Anschluß an
besondere Ereignisse beobachtet, die in der Regel eine wesentliche Erweiterung
des geistigen Besitzes bedeuten. Schließlich verfolgte Muth auch noch die Ent-
wicklung und die Charakteristik der Geschlechter. „Die Mädchen zeichnen sich
durch geschickte, oft feine bis kleinliche Arbeitsweise aus. Auch wissen sie auf
höheren Stufen die belebten und unbelebten Teile einer Fläche gut zu einander
abzustimmen. Die Knaben verhalten sich dabei zugreifend, idelfach originell.
Nicht selten wird der Wert ihrer Arbeiten durch Eigenschaften bestimmt, die
außerhalb des Ornamentalen liegen". Hier werden die so wertvollen und ihr Gebeit
vollständig in den Problemen erfassenden Untersuchungen von Muth ergänzt durch
Ergebnisse aus der Arbeit von P, A. Wagner. Fast nur für diej Ornamentik gilt
die Bevorzugung des Mädchens; bei anderen Zeicheninhalten über-naegen beim
Mädchen die primitiveren Zeichenweisen. Die Perspektive entwickelt sich bei ihnen
bedeutend langsamer als bei den Knaben. Dies alles zeigt sich besonders deut-
lich bei Hilfsschülern, die Wagner zum Vergleiche heranzog. ,J)ie Knaben er-
Literaturbericht.
436
ledigen 50 Proz. aller Aufgaben und erreichen damit fast den Normalsatz der
Volksschulen (51 Proz.). Die Mädchen haben durchschnittlich nur 40 Proz. der
Motive bearbeitet." Ausnahmen bestehen natürlich für reine Geschlechtsmotive.
Wagner führte den Sternschen „Schlaraffenland"-Versuch mit Schülern einer
kleinen Stadt (Waidenburg) durch und konnte damit Vergleichsmaterial zu dem
Breslauer Versuch gewinnen. Für das Verhältnis der ratunlosen zu den per-
spektivischen Zeichnungen fand er folgende Zahlen:
Prozentabnahme der
raumlosen Zeichnungen
Prozentzunahme der
Gesamtbilder
Knaben
Mädchen
Knaben
Mädchen
Unterklassen
Mittelklassen
Oberklassen
84
30
23
80
55
33
2
25
32
0^
3
23
Hieraus ergibt sich zugleich ein sehr schneidiges Entwicklungstempo der Knaben.
Als Gesamtergebnis sei aus Wagners Untersuchungen, die eine nicht referierbare
Fülle von Einzelheiten enthalten, noch angeführt: Die Schüler haben sich nach
Alter, Befähigung und Fertigkeit unterschieden. Sie fanden zu den 15 ver-
langten Motiven noch Ergänzungsmotive und Nebenmotive. Die räumliche Dar-
stellung der 1341 Schüler ist nach der allgemeinen Durchschnittsleistung als
zufriedenstellend zu bezeichnen, wenn man sie mit der Durchschnittsleistung von
3812 Großstadtkindern (Knaben und Mädchen) vergleicht, die eine ähnliche,
edoch bedeutend leichtere freie Kinderzeichnung zu bearbeiten hatten". Nähere
Ergebnisse zeigt die folgende Tabelle:
Durchschnittsleistungen in Prozent:
Volksschulen
Hilfsschulen
■Sil
o an
S ö
JZ o
©
© U)
u
©^
J3:3
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a
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© ©
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aben
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Anzahl
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W
113
652
109
689
628
713
1341
12
11
23
[ Raumlos
44
43
76
53
55
40
48
33
73
55
Dar-
Reihe
28
17
21
23
18
23
20
50
27
38
stel-
Bilder-
lun^s-
bogen
14
18
2
13
6
25
16
17
0
8
weise
Gesamt-
bild
14
22
1
11
21
12
16
0
0
0
Wagners Untersuchung gibt ein günstiges Bild der untersuchten Volksschulen.
Der Vergleich von Kindern der Provinz und der Großstädte ist einer der ersten
umfangreichen Versuche der Jugendkundo überhaupt, dem Stadtkind als sozialen
Typus das Landkind entgegenzusetzen. Es wird sich zwar nicht immer erweisen
lassen, daß das Landkind in vorteilhafter Position gegenüber dem Stadtkind sich
befindet, doch werden derartige Versuche zur Grundlegung einer Landschul-
pädagogik gegenüber der vorläufig herrschenden und einfach auf das Lftnd
übertragenen Stadtschulpädagogik fülirfn.
28*
436 Einzelbesprechungen.
Einzelbesprechungen.
Vorträge über wissenschaftliche und kulturelle Probleme der
Gegenwart. Aus dem Fortbildungskursus der baltischen literarischen Ge-
sellschaft. Riga 1914. W. Mellin. 173 Seiten. 6 M.
Der schön gedruckte Band enthält außer einer Einleitung über die Ursachen
und die Leitidee der freien Fortbildungskurse der baltischen literarischen Ge-
sellschaft 9 Abhandlungen; jeder Redner des ersten Kurses, der im August 1918
in Dubbeln am Riga'schen Strand abgehalten worden ist, hat ein innerlich zu-
sammenhängendes Kapitel aus seinen Vorlesungen zu einer Abhandlung aus-
gestaltet. Dem engeren Zweck dieser Zeitschrift entsprechend können die Ab-
handlung von Adolf Harnack (über wissenschaftliche Erkenntnis), Leopold
V. Schröder (die Arier und ihre Eigenart), Ludwig Deubner (die ältesten
Priestertümer der Römer), Ernst Tröltsch (die Restaurationsepoche am Anfang
des 19. Jahrhunderts), Karl Girgensohn (zur differentiellen Psychologie des
religiösen Gedankens), Bernhard Harms (Volkswirtschaft und Weltwirtschaft),
Rausch von Traubenberg (der heutige Stand unserer phj^sikalischen Grund-
anschauungen und ihre Stellung zur Erkenntnistheorie), Andreas vonAntropoff
(die chemischen Elemente im Lichte alter und neuer Forschung) hier nur genannt
werden. Es wäre aber gegen die Absicht des Referenten, wenn jemand daraus
ein wenig empfehlendes Urteil herauslesen wollte. Ausdrücklich sei deshalb
versichert, daß jede dieser Abhandlungen ganz ausgezeichnet über das Forschungs-
gebiet orientiert, dem sie entnommen ist, und insbesondere in den ja noch
keineswegs Gemeingut der Gebildeten gewordenen neuesten Stand derselben ein-
führt. So zeigen die beiden Naturforscher die Veränderung der Fragestellung
in Physik, Chemie und Naturphilosophie durch die Strahlenforschung und die
Chemie der colloidalen Lösungen, macht der Vertreter der ökonomischen Wissen-
schaften mit der so bedeutungsvollen weltwirtschaftlichen Fragestellung und Be-
trachtungsweise der Wirtschaftsverhältnisse bekannt, führt Girgensohn in das
methodisch noch vielfach unsichere, aber an reizvollen und wichtigen Problemen
überreiche Neuland der Religionspsychologie ein. Es ist das auszeichnende Merk-
mal dieses Bandes, das ihn auch aus der Bücherproduktion des Deutschen Reiches
heraushebt und ihm sicher überall Leser verschaffen wird, daß gerade der neuste
Stand einer so beträchtlichen Anzahl von wissenschaftlichen und kulturellen Fragen
so sachgemäß und zugleich ohne die Ansprüche fachwissenschaftlicher Vorkennt-
nisse behandelt wird. Ich wüßte keine Sammlung zu nennen, die, ähnlich reich und
ansprechend, den Gebildeten vertraut macht mit großen geistigen Strömungen,
zu denen er nicht ohne weiteres den Zugang besitzt.
Eine Abhandlung speziell ist es, die bei dem vorzugsweise pädagogisch
orientierten Interesse dieser Zeitschrift hier eingehende Würdigung erfahren kann
und soll: die Ausführungen von Aloys Fischer (München), über die Lage
der höheren Schule in der Gegenwart und ihre Aufgabe in der
Zukunft.
Die Einleitung sondert die vielfach verschlungenen Motive der Reformbe-
wegung, besonders der ersten Etappe von Entwürfen und Arbeiten zur Umge-
staltung der höheren Schule, und zeigt, daß die heutigen Typen derselben
(Gymnasium, Realgymnasium. Oberrealschule) und ihre äußerliche Gleichberech-
tigung kein endgültiger Abschluß der Reformbewegung sein können.
In tiefdringender Analyse werden sodann die wesentlichen Bedeutungen des
Wortes „höher" in Verbindung mit dem Wort „Schule" geklärt, und die „höhere
Schule" umrissen als „Schule der höheren Begabungen", als „Vorschule
der höheren Berufe", als „Erziehungsanstalt", weniger der als vielmehr
zu den höheren Ständen. Die Denkmotive und Organisationsprinzipien jeder
dieser drei Auffassungen von Wesen und Aufgabe der höheren Schule sind an
sich selbständig ; in dem bisherigen Werdegang der höheren Schule, sowie in den
gegenwärtigen Reformversuchen sind Tendenzen erkennbar, entweder eines der
Organisationsprinzipien rein durchzuführen oder einen neuen wertgemäßen Aus-
^inzelbesprechungen. 437
I
gleich derselben zu finden. Die mehr angedeutete als durchgeführte Kritik des
Gedankens der Begabungsschule wie der Berufsschule führt den Verfasser dazu,
als wesentliche Aufgabe einer höheren Schule die Erziehungsaufgabe zu erfassen,
und demgemäß für alle jene Reformen Partei zu ergreifen, welche auf eine vor-
nehme Erziehung und Höherbildung des Charakters abzielen, nicht die letzten
Endes durch außererziehliche Zweckgedanken empfohlene Ausbildung der In-
telligenz oder gar die vorwiegend utilitaristisch motivierte Vorbereitung auf Beruf
und Erwerb überordnen.
In der Analyse des Zieles der höheren Erziehung als einer solchen, die zu
verantwortungsbewußtem und differenziertem Wertleben führt, gipfeln die Aus-
führungen. Es wird zwischen den verschiedenen Verhältnissen genau unterschieden,
in denen ein Mensch zu den Werten stehen kann — von Werten nur wissen,
Werte fühlen, Werte haben — und es wird der konstante Wille zum Wert als
innerster Bestand jeder der heute üblichen Formulierungen des Erziehungszieles
aufgewiesen, als Kern sowohl dessen, was wir prägnant Charakter nennen, wie
auch als Grundvoraussetzung des Kulturprozesses — soweit dieser von den
daran beteiligten Personen erlebt und getragen wird.
In einem — nur skizzierten — Schlußabschnitt werden die bestehenden
Typen höherer Schulen und die erkennbaren Reformtypen daraufhin geprüft,
wieweit sie durch Lehrplan, Methodik, Satzungen und Unterrichtsbetrieb geeignet
sind, eine solche Erziehung zu leisten, und wird die große erzieherische Bedeutung
unserer eigenen klassischen Kultur gewürdigt. Freilich muß ihre pädagogische
Ausnutzung erst noch zum größten Teil erfolgen.
Die Abhandlung ist vorzüglich geeignet, über die Fragen der inneren Reform
der höheren Schule und die Linien ihrer zukünftigen Entwicklung zu informieren ;
schade ist, daß die Kürze vielfach eine zu gedrängte wird, es ist sogar zu fürchten,
daß sie Mißverständnissen begegnen wird; man möchte wünschen, daß ganz ver-
schwiegene, nur zwischen den Zeilen oder in Nebenbemerkungen angedeutete
Überlegungen ausführlich mitgeteilt wären; aber vielleicht war es gerade diese
Prägnanz, die den Verfasser als Problem der Darstellung so verwickelter Fragen,
wie es die Schulprobleme der Gegenwart sind, gereizt hat.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. Hans Henning, Assistent am psychologischen Institut der Akademie zu
Frankfurt a. M., DerTraum,einassoziativerKurzschluß. Wiesbaden 1914.
Verlag von J. F. Bergmann. 66 Seiten.
Ohne zu dem Inhalt des schlicht und anregend geschriebenen Schriftchens
Stellung zu nehmen, sei bemerkt, daß der Verfasser auf Grund seiner Unter-
suchungen an 65 Personen — zumeist Akademikern — der Freud'schen Traum-
deutung scharf zu Leibe geht, daß er in dieser kritischen Einstellung die ver-
schiedenen Formen und Inhalte des Traumbewußtseins — wie Fallen, Fliegen und
Schweben; Unvermögen des Gehens und Schreibens; Träumen vom Examen, vom
Sport usw. — unter Einstreuung belegender Traumbefunde durchgeht und daß
er mit seiner Theorie des assoziativen Kurzschlusses nicht auf eine metaphysische
Deutung des Traumes, sondern auf eine gehirnphysiologische Arbeitshypothese
hinaus will.
Zittau. PaulFicker.
Dr. Hermann Sandt, Stadtschulinspektor in Charlottenburg, Die Pädagogik
Wi ehern 8. Ihre Grundgedanken und deren Bedeutung für die modernen
pädagogischen Probleme. Verlag von Julius Klinkhardt. Leipzig 1914. 270 S.
Geh. 5,60 M.
Die Tatsache, daß diese Schrift neben ihrer historischen Einstellung sich be-
strebt, aus der Pädagogik Wichems besonders die Züge kräftig herauszuarbeiten,
die in unserem modernen pädagogischen Denken wieder zu finden sind — wie
die Entbindung lebendiger KreJt durch handelnde Selbstbetätigung, die Bildung
438 Einzelbesprechungen.
tatbereiter Gesinnung usw. — , mag es rechtfertigen, auch in einer pädagogisch-
psychologischen Zeitschrift der gehaltvollen Arbeit Sandt's ein empfehlendes
Wort zu sagen.
Leipzig. Lic. Paul Krüger.
O. V. d. Pfordten, Das Gefühl und die Pädagogik. Heidelberg 1914. Carl Winters
Universitätsbuchhandlung. VII u. 133 S. 3,40 M.
Der Verfasser will die psychologische Natur des Gefühls feststellen und
kommt, indem er alle fremdartigen Elemente, mit denen es sich im konkreten
Zusammenhange des psychischen Geschehens kompliziert, absondert, zu dem Er-
gebnisse: „Gefühl ist das Intensive an den Vorstellungen; diese aber und nur
diese sind das Qualitative, das Verschiedene . . . Das Gefühl kann ab- und zu-
nehmen, stärker und schwächer sein und verschieden lange Zeit dauern. Das
Gefühl ist also Intensität, besitzt Dauer — aber keine Qualität . . ." „Den In-
halt des Gefühls gibt die Vorstellung (aus Sinnesempfindung, Gedächtnis oder
Phantasie); das Gefühl bildet nur eine kontinuierliche Skala wie die Temperatur"
(S. 30).
Die Intensität soll aber nicht etwa als eine bloße objektive Eigenschaft der
Vorstellungen gedacht werden, sondern als ein zentraler subjektiver Faktor, der
sich abwechselnd auf verschiedene Vorstellungskomplexe verteilt und sie so nach-
einander ins Bewußtsein hebt. Damit wird die Intensität der Aufmerksamkeit
gleichgesetzt, und zwar in ihrer passiven Form, während die aktive Sache des
Willens ist (S. 41). Als Gefühl erweist sie sich indessen, indem sie die Komplexe
zugleich mit „Wärme erfüllt" (S. 38).
Das Eigentümliche der hier gebotenen Theorie scheint mir darin zu bestehen,
daß das Gefühl nach derselben ein intellektuelles Moment enthält, vermöge
dessen wir die (durch die Sinne vermittelten) Empfindungen auffassen und zu
einem Vorstellungskomplex (Dingvorstellung bezw. menschliche Individualität)
zusammenfassen, ein subjektiver Vorgang, der jedoch zugleich jeweils von einer
bestimmten Intensität begleitet ist (S. 37 — 38).
Aus der Intensität der Vorstellungen, die an sich doch nur eine formelle Be-
stimmtheit bezeichnet, läßt sich aber der qualitative Charakter, den wir
dem Gefühl beizumessen gewohnt sind, noch nicht erklären; er deutet vielmehr
auf eine spezifische Bewußtseinsanlage hin.
Der Grund, weshalb der Verfasser das Gefühl auf das Vorstellungsgebiet be-
schränkt haben will, scheint mir darauf hinauszulaufen, daß er dasselbe als ein
rein subjektives Bewußtseinsphänomen festzustellen und vom Denken und Wollen
als spezifisch gefühlsleeren und deshalb die Subjektivität ausschließenden psychi-
schen Faktoren grundsätzlich zu trennen wünscht, um auf die letzteren absolute
Normen gründen zu können, die auf dem von ihm vertretenen Standpunkte
der wissenschaftlichen und religiösen Erkenntnis eine ausschlaggebende Rolle
spielen. Jedenfalls wird bei dieser Erklärung das Gefühl nach seiner Bedeutung
als Motiv für die aktiven Bewußtseinsfunktionen des Denkens und Wollens, die
ihm sonst in der Psychologie zugewiesen zu werden pflegt, folgerichtigerweise
ausgeschaltet. Als wenn es nicht eine höhere Einheit, eine Synthese von Fühlen
und Denken einerseits und Fühlen und Wollen andrerseits gäbe, die z. B. den
musikalischen Theoretiker befähigt, eine Komposition im Hinblick auf die darin
angewandte Harmonielehre und Technik zugleich zu beurteilen und doch den
vollen musikalischen Genuß zu erleben !
Kann ich mich nach alledem mit der Ableitung, die der Verfasser vom
psychologischen Wesen des Gefühls gibt, nicht einverstanden erklären, so vermag
ich ihm um so lebhafter zuzustimmen, wenn er eine stärkere Betonung des
Gefühlsmäßigen im Unterricht und in der Erziehung fordert. „Das Gefühl ist
ans Intellektuelle in der Schule gebunden", „es rankt sich an ihm empor".
„Gefühlsmäßiges Erfassen des Gebotenen knüpft an die Person des Lehrers an
der es darbietet." Zur Entwicklung des Gefühls (des Gemüts nach seinen ver-
schiedenen Seiten) wird auch die reichere Pflege der persönlichen Beziehungen
Einzelbesprechungen. 439
zwischen Lehrer und Schüler beitragen können, wie sie dem Verfasser Vorschwebt,
die allerdings m. E. sich auf die Berücksichtigung der Individualität des Zöglings
stützen muß.
Freilich zeigt sich der Verfasser in seinen weiteren Ausführungen von seiner
einseitigen Gefühlstheorie beeinflußt, wenn er dem Denken und Wollen, wie sie
im wissenschaftlichen Unterrichte zur Geltung gelangen, jeden Gefühlscharakter
abspricht. Und doch bildet das Selbstgefühl und das darauf beruhende Selbst-
vertrauen, das aus der Freude des Gelingens, dem Bewußtsein des Wachstums
der geistigen Kräfte entspringt — neben dem pflichtmäßigen Moment, der „Norm",
die der Verfasser unbedingt gewahrt haben will — das Motiv, von dem der
Schüler bei der Schularbeit sich leiten läßt, ein Gefühl, das systematisch im
Unterricht zur Entwicklung gebracht werden soll. Auf die Wirksamkeit dieses
Motivs gründet sich das gefühlsmäßige Moment, das sich mit der Entfaltung der
freien geistigen Regsamkeit verbindet, die das Ideal der formalen Bildung dar-
stellt. Fehlt dieses Moment, so sinkt die Arbeit der Schule zu einem mehr oder
weniger mechanischen Geistesdrill herab. Das Arbeiten im Hinblick auf zu
schaffende „Werte", wofür sich der wissenschaftliche Forscher auch nach der An-
sicht des Verfassers begeistern kann, kommt auf der Stufe des Schulunterrichts
freilich noch nicht in Betracht. Aber der Anfang eines solchen Werturteils ist
doch schon für den Schüler bestimmend, wenn der antizipierte Gedanke eines
gut gelungenen Aufsatzes oder der Lösung einer schwierigen mathematischen
Aufgabe dem Zögling bei seiner Arbeit die Spannkraft verleiht, die ihn die
Schwierigkeit derselben freudig überwinden läßt. Das ist indessen eine Leistung
des Gefühls, nicht, wie Pf. meint, der verstandesmäßigen Wertschätzung des End-
ergebnisses. Die spezifische Verstandesfunktion kommt erst dann zur Geltung,
wenn das Subjekt sich Rechenschaft über sein Verhalten auf Grund fester
Normen gibt, wobei zugleich dem kritischen Denken eine wesentliche Bedeutung
zufällt. Daß sich auch solche Teile des Unterrichts finden, in denen die rein ab-
strakte Verstandestätigkeit geübt wird, ist natürlich dem Verfasser zuzugeben.
Immerhin ist das, was der Verfasser über die wechselseitige Abgrenzung des
gefühlsmäßigen und intellektuellen Faktors des Unterrichtes ausführt, welcher
letztere auf eine Steigerung der geistigen Leistungen des Zöglings abzielt (S. 116),
beachtenswert und die Schrift deshalb den Fachkreisen zu empfehlen.
Heidelberg. A. Hut her.
E. Meumann, Prof. am allgemeinen Vorlesungswesen in Hamburg, Abriß der
experimentellen Pädagogik. Leipzig 1914. Wilhelm Engelmann. VIII
und 462 Seiten. Mit 12 Figuren im Text. Broschiert 3,00 M., in Leinen ge-
bunden 3,60 M.
Noch ehe der mit Spannung erwartete III. Band von Meumanns monumentalem
Werke „Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik" erschienen
ist, — einem Werke, dem vielfach für die Erziehungswissenschaft die Bedeutung
zugeschrieben wird, die Wundt's „Grundzüge der physiologischen Psychologie" für
die Seelenkunde gewonnen haben — legt der Verfasser eine Schrift vor, die nun allen-
falls in Parallele mit Wundts „Grundriß der Psychologie" gestellt werden kann — nur
daß sie dem Verständnis leichter zugänglich ist. Das Verhältnis der „Vorlesungen"
und des „Abrisses" zu einander wird von Meumann selbst folgenderweise gekenn-
zeichnet: „Das Hauptwerk versucht die eigentliche Forschung in der empirischen
Pädagogik darzustellen und die Forschungsergebnisse an der Hand der Experimente,
Beobachtungen und Erhebungen, aus denen sie gewonnen worden sind, in allen
Einzelheiten zu entwickeln und ihre pädagogische Bedeutung darzutun. Dadurch
wird bei dem immer wachsenden Umfang der experimentellen Arbeiten eine
solche Gesamtdarstellung der empirisch forschenden Pädagogik für den Anfänger
leicht eine zu schwierige und mühsame Lektüre, und es bedarf eines kurzen
Leitfadens, der ihn zuerst einmal mit den Hauptproblemen, den grundlegenden
Untersuchungsmethoden und den wichtigsten Ergebnissen der pädAgogischen
Forschung bekannt macht und der doch mehr ist als eines jener winzigen Band-
440 Einzelbesprechungen.
chen, in denen heutzutage die Wissenschaft „popularisiert" wird. Seinem -Zwecke
gemäß geht dieser Abriß nicht auf Einzelheiten der kinderpsychologischen und
pädagogischen Experimente ein; daher ist auch von den Methoden und Hilfsmitteln
der Forschung nur das Wichtigste erwähnt worden, und dies nur, soweit es zur
Erläuterung und zur Veranschaulichung der Forschungsresultate selbst notwendig
war." — Es sei, um den reichen Inhalt des Buches anzudeuten, ein kurzer Über-
blick über die behandelten Gedankengruppen gegeben.
Der erste Hauptteil stellt, nachdem die Einleitung wissenschaftstheoretische
Erörterungen gebracht hat, die Grundlegung der Pädagogik durch die empirische
Jugendkunde dar. Nicht auf dem engen Boden der Kinderseelenkunde, so heißt
es im Eingangskapitel, darf die empirische Erziehungslehre fußen, sie muß ge-
gründet werden auf eine weitausgreifende, allseitig betriebene Jugendkunde, als
deren wichtigste Untersuchungsgebiete im Dienste der Pädagogik nachgewiesen
werden: die Entwicklungs- und die Individualitätenforschung, die Begabungs-
und die Arbeitslehre. Im Sinne dieser Gliederung widmet sich das zweite Kapitel
der experimentellen Untersuchung des körperlichen und geistigen Werdeganges
der Jugend, wobei in gleicher Weise den Problemstellungen und Forschungs-
methoden wie den Ergebnissen und den pädagogischen Anwendungen nachge-
gangen wird. Wichtige Abschnitte sind u. a. die Darlegungen über die Periodisierung
der jugendlichen Entwicklung, über die anatomischen und physiologischen Eigen-
schaften des Kindes, die Körpermessungen und Funktionsprüfungen, über die Heraus-
bildung der Aufmerksamkeit, der Sinneswahrnehmung, des Apperzeptionsinhaltes
und des Erfahrungskreises, des Gedächtnisses, des Darstellungsprozesses, des
Denkens und der Sprache, des Gefühles und des Willens. Inmitten findet auch
die Übungsfähigkeit und die Ermüdung des Kindes eine angemessene Behand-
lung. Der Erforschung der Individualitäten und der Begabungsunterschiede
gilt sodann das dritte Kapitel. Es wird auch hier den Aufgaben, Methoden, F.i-
gebnissen und den pädagogischen Verwertungen so weit nachgegangen, daß von
den bedeutsamen Gebieten der Intelligenzprüfung und der Begabungsanalyse ein
das Wesentliche umfassendes, allseitiges Bild des gegenwärtigen Standes der
Forschung entsteht.
Der zweite Hauptteil des Buches nun wendet sich einem engeren Gebiete
zu: er behandelt, wie durch die experimentelle Analyse die Arbeit des Schul-
kindes im Unterricht seine Grundlegung erfährt. Für die Didaktik der Arbeits-
schule sind hier so wichtige Erörterungen gegeben, daß allein schon um dieser
Partien willen der Meumann'sche Grundriß in der Hand jedes fortschrittlichen
Lehrers liegen müßte. In bekannterer Gegend bewegen sich zunächst die ersten
Erörterungen des Anfangskapitels, die sich im allgemeinen um die Ökonomie
und Technik der geistigen Arbeit bewegen und dabei das Lernen als Beispiel aus-
führen, ebenso die hygienischen Darlegungen über Ermüdung in der Schularbeit.
Weniger verbreitete Erkenntnisse — teilweise auch dem Kenner dieser Sonder-
gebiete neu — bieten dann die Abschnitte über die kollektiven und sozialen Be-
dingungen der geistigen Arbeit und über besondere Einflüsse auf die Betätigung
des Schülers. Es wendet sich der Gang der Schrift dann der experimentellen
Didaktik einzelner Unterrichtsfächer zu, wobei nach der gegenwärtigen Lage der
Forschung ausgewählt werden das Anschauungsfach, das vielgliedrige sprachliche
Unterrichtsgebiet, ferner ausführlich Rechnen und Zeichnen. Die das Werk ab-
schließenden Einblicke in die weitere Entwicklung der experimentellen Pädagogik
lassen deutlich erkennen, daß verheißungsvolle Anfänge die Hoffnung begründen,
in nicht zu ferner Zeit auch weitere Unterrichtsgebiete der experimentellen Er-
forschung erschlossen zu sehen.
Wenn dem Abriß, dem ein gleicher Erfolg wie den „Vorlesungen" sicher ist,
ein Literaturverzeichnis von über einem Bogen angeheftet ist und wenn sich auch
innerhalb des Werkes durchweg Hinweise auf Quellen finden, so sind damit für
die weitere Vertiefung, zu der Meumann überall die Lust zu erwecken versteht,
die Wege dankenswert gewiesen.
Leipzig. Prof. Dr. Rieh. Tränkmann.
Einzelbesprechungen. 441
Dr. W. Ament, Die Seele des Kindes. Eine vergleichende Lebensgeschichte.
4., verbesserte Auflage. Frankh'sche Verlagsbuchhandlung. Stuttgart 1914.
95 S., geb. 1,80 M.
Ament, dem man vor 15 Jahren die erste Gesamtdarstellung über die Kinder-
sprache dankte und der sich auch um das kindliche Denken und das jugendliche
Spielen wissenschaftlich bemüht hat, legt diese seine kleine Schrift nicht der
Fachpsychologie vor, sondern widmet sie den Erziehern, vor allen den Müttern.
Es wird damit der vulgärpsychologische Einschlag und auch die liebenswürdige
Ausstattung mit gefälligen Bildchen verständlich. Gegen die früheren Ausgaben
ist aus der Literatur und aus eigenen Beobachtungen des Verfassers weniges be-
richtigt und ergänzt worden. Der angefügte Wegweiser für eine weitergehende
Beschäftigung mit kinderpsychologischen Fragen empfiehlt teilweise veraltete,
teilweise auch minderwertige und für die bezeichneten Kreise ungeeignete Literatur.
Leipzig. Otto Scheibner.
Prof. Dr. med. F. A. Schmidt, Das Schulkind nach seiner körperlichen
Eigenart und Entwicklung. Leipzig 1914. R. Voigtländers Verlag. 141 Seiten.
2,60 M.
Von Professor Dr. med. Ferd. Aug. Schmidt sind in Lehrerkreisen die
beiden Schriften „Unser Körper" und ,JPhysiologie der Leibesübungen" geschätzt.
Bei dem Mangel einer besseren kurz orientierenden Darstellung über die An-
thropologie des Schulkindes wird auch sein neues Buch zunächst Freunde finden.
Entgegen der Titelangabe zieht Schmidt auch die frühe Kindheit in den
Kreis seiner Beobachtungen — mit Recht; denn der Eintritt in die Schule hat
für die körperliche Entwicklung nicht so wie für da« geistige Leben eine perioden-
begrenzende Bedeutung. Es wird aber durchweg versucht, womit dann der Buch-
name einigermaßen gerechtfertigt erscheint, auf die physiologischen Einwirkungen
der Schulbetätigungen einen Nachdruck zu legen. Daß sich der Verfasser
zumeist auf das reiche Material stützt, das im letzten Jahrzehnte durch die
Schulärzte angehäuft worden ist, bringt es mit sich, daß vorwiegend die Be-
funde an der Großstadtjugend (Berlin, Hamburg usw.) als Unterlage dienen. Eine
empfindliche Lücke ist das Übergehen der Beeinflussung der Sinnesorgane
durch das Schulleben; vermißt wird auch eine ausführlichere Darstellung der
körperlichen Veränderungen in der Reifezeit. Wegfallen dagegen könnte der
\mzulängliche Abschnitt über die Intelligenzprüfungen mit der Testtafel nach
Binet-Bobertag; stärker betont mußte unbedingt die Ermüdung werden. Wie-
wohl am geeigneten Orte durchweg der Unterschied in der körperlichen und
geistigen Entwicklung von Knaben und Mädchen betont ist und in den reichlich
eingestreuten Tabellen deutlich hervortritt, würde sich ein zusammenfassendes
Kapitel über diese bedeutsamen differentiellen Tatbestände empfehlen. Die
Einfügung brauchbaren Zahlenmaterials und guter Kurven — sehr hübsch ist z. B.
der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf das körperliche Wachstum zur Dar-
stellung gebracht — gibt dem Buche einen schönen Reiz; mit Abbildungen dei-
gegen ist geknausert worden. Schulhygienische Hinweise sind dort, wo die Be-
schreibung der körperlichen Erscheinungen dazu drängte, nicht versäumt. Noch
eins: Mit Mangel an Raum dürfte in einem Buch, das ausdrücklich für die sicli
so eifrig fortbildende und in wissenschaftlichem Geiste arbeitende Lehrerschaft
bestimmt ist, das Unterlassen von Literaturnachweisen und -hinweisen nicht
begründet werden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Das Kind und die Schule. Ausdruck, Entwicklung, Bildung. Leipzig 1914.
Dürr'sche Buchhandlung. 401 Seiten. 1,50 M.
Entstanden und gedacht ist dies Buch als eine Gabe der Sondergruppe JKind
und Schule" auf der Bugra — der Internationalen Ausstellung für Buchgewerbe
und graphische Künste in Leipzig. Es ist kein Führer der üblichen Art, der
hinweisend und erklärend von Gegenstand zu Gegenstand schreitet, sondern ein
442 Einzelbesprechungen.
Kunterbunt von Aufsätzen, die in Probleme und Gedankenkreise jener pädago-
gischen Schau einführen sollen. Hochwissenschaftliches mengt sich in diesem Aller-
lei, in dem nach dem Vorwort dem „tiefer Sehenden" leicht die Einheitlichkeit und
Ausgeglichenheit vor Augen treten soll, mit Feuilletonistischem; Gehaltvolles steht
neben Wertlosem, Überflüssigem und Vordringlichem, vor allem dort, wo das Schlag-
wort „Ausdruckskultur-' in oft recht übler Phrasenhaftigkeit gebraucht wird. Aber
des überwiegenden Guten wegen sei der Band, der ganz selbständig neben der Aus-
stellung steht, der Lehrerschaft aufs Beste empfohlen. Er wird bei der Vielseitigkeit
seiner Gegenstände keinem begegnen, dem er nicht Neues und Anregendes bringen
könnte. Ausgezeichnet ist die einleitende Abteilung, die — durchgängig von
Hochschullehrern verfaßt (Spranger, Meumann, Stumpf, Brahn, Deuchler) — in
wissenschaftlichen Beiträgen über die „allgemeinen Grundlagen'* handelt.
Insbesondere sind die kleinen psychologisch-didaktischen Studien, die Gustav
Deuchler über Sprache, Sprachunterricht und Lernen, Singen und Gesangunter-
richt und Psychologie des mathematischen Unterrichts bietet, Musterstücke von
hohem Werte. Auch in der 2. Abteilung, die sich dem „Zeichnen" widmet, ist
viel Gutes zu finden, so in den Arbeiten von Ruttmann, Stiehler, Lindemann
und Elßner. Aus dem Abschnitt „Schreiben" sei hier auf die Mitteilungen von
Joh. Schlag über Schriftmessungen hingewiesen. Weniger befriedigt die Gruppe
Sprechen, Lesen und Lernen, in die auch das Rechnen untergeschlüpft ist.
Karg ist dann „Sprechen, Singen, Musik" bedacht. Ein wirres Vielerlei
bietet die Abteilung „Photographie und Schule". Freundlich muten die
beiden Aufsätze an, die sich unter der Überschrift ,JCinder, Lehrer und
Schule in Kunst und Literatur" finden. Von den dürftigen Darstellungen
aus der Schulgeschichte hätte man den Band entlasten sollen. Neben ihnen
aber stehen als willkommene Beiträge „Schule und Statistik" und „Der Stand
der pädagogischen Fachpresse in Deutschland". Richard Seyferts „Aus-
blicke in die Zukunft der Schule" und Scheffers Ausführungen zu dem
Thema: „Der Weg zur Persönlichkeit" bilden einen guten Beschluß des
sehr billigen Buches, das sich bei guter Ausstattung mit einer Anzahl recht
hübscher Bilder geschmückt hat.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
A. Gerlach, Von schönen Rechenstunden, Anregungen und Vorschläge zu
einer Reform des Rechenunterrichts. 3. vermehrte Auflage. Leipzig 1914. Ver-
lag Quelle & Meyer XV, 256 S. mit 10 Tafeln. Brosch. 3,80 M., geb. 4,20 M.
G. hat in seinem überaus verdienstvollen Buche eine Anzahl fast selbstän-
diger Aufsätze (Die naturgemäße Entwicklung des Kindes. Die erste Schulzeit
des Kindes. Das Rechnen im ersten Schuljahre usw.) aneinandergereiht, von denen
viele einen Ausschnitt aus dem praktischen Schulleben bieten, die aber zusammen-
gefaßt ein einheitliches Ganze darstellen.
Im Verlauf der einzelnen Abschnitte sucht der Verfasser der Lösung des
Rechenunterrichtsproblemes von drei Seiten nahezukommen:
1. Von rein rechenpsychologischen Erwägungen aus;
2. Von den Forderungen der Arbeitsschule aus, wie sie durch den psych.-
wissenschaftlichen Bildungsbegriff aufgestellt worden sind (Bildungsidee);
3. Von dem Kulturkreis aus, dem letzten Endes unsere Bemühungen im
Unterrichte gelten (Bildungsnotwendigkeit).
Rein rechenpsychologisch handelt es sich im R.-U. wesentlich um Zahlauf-
fassung, Problemerfassung, Funktionserlebnis, Operationsfertigkeit und schließlich
für den Verlauf des Unterrichts um Abwägung der einzelnen Leistungen nach
ihrer Schwierigkeit.
Bei der Zahlauffassung, der Bildung der Zahlbegriffe sind für G. das wich-
tigste die Apperzeptionsakte bei der Auffassung von Einzelheiten. Das Wesen
der Apperzeption besteht in Aktivität. Aktivität ist vorhanden, wo wir mit etwas
in Beziehung treten, das unser Ich angeht. Folglich kann die Zahlauffassung nur
in der Welt der Kinder geschehen, nur an Dingen, an denen der Kinderglaube,
Einzelbesprechungen. 443
das ganze Kinderherz hängt. Zahlbilder, also Zusammenstellungen von den
Kindern zunächst ganz gleichgültigen Punkten oder Strichen läßt G. erst an einer
späteren Stelle gelten. Das Moment der Gruppierung ist auch ihm vsdchtig, aber
er wendet es auf Gegenstände des kindlichen Interesses an (Vergl. desselben Ver-
fassers: Des Kindes erstes Rechenbuch!)
Neben der Gewinnung der Zahlbegriffe sieht der übliche Rechenunterricht
bis jetzt seine Aufgabe wesentlich darin, durch Übung Rechenfertigkeit zu er-
langen. Das ist aber nur ein Teil der Leistung, die noch dazu unter wesent-
lich anderer psychologischer Gesamtstellung im Leben gefordert wird,
wenn die Notwendigkeit zu rechnen an uns herantritt. Verlangt auf diese
Rechenfertigkeit abzielende Unterrichtsübung lediglich die Ausführung bestimmter
angegebener Operationen, so fordert das Leben, aus einer gegebenen Situation,
die zum Rechnen drängt, gerade erst die richtige und günstigste Operation
herauszufinden : die Erfassung des Rechenproblems nach dem Weg oder wenigstens
der Richtung seiner günstigsten Lösung. Wahre, für das Leben brauchbare rech-
nerische Leistungsfähigkeit fordert daher Ausgehen von Situationen.
In dem erwähnten Unterricht liegt zugleich die Gefahr, daß er von vorn-
herein weiter nichts leistet, als ein rein äußerliches Einprägen von Gleichungen
oder wohl gar nur von bloßen Wortanspielungen, und die Einsicht in die einzelnen
Funktionen vernachlässigt. Wenn es auch meist, besonders im Anfange des
Rechenunterrichtes, kaum möglich sein dürfte, daß die Kinder klare Funktions-
begriffe erlangen, so kann in ihnen doch so etwas wie eine schematische, sym-
bolische Vorstellung, ein allgemeines Erleben der Funktionen erzielt werden,
was freilich nur möglich ist, wenn die Kinder von Anfang an an Vorgängen, die
sie an Dingen der Außenwelt wahrnehmen oder möglichst selbst vornehmen, die
einzelnen Funktionen des Vermehrens und Verminderns erleben.
Gewiß will auch G. die Mechanisierung der Rechenprozesse, Operationsfertig-
keit, aber eben Fertigkeit in der Ausführung der Operationen, nicht im Hersagen
gehörter Gleichungen. Er will das in der Hauptsache erreichen durch häufige
Wiederholung der Entwicklung und des Aufbauens der Aufgaben, durch Abwägen
der Aufgaben nach ihrer Schwierigkeit, also eigentätige Systembildungen der
Schüler, und durch Reihenbildungen.
In seinen Forderungen über den Lehrgang läßt sich G. im wesentlichen von
zwei psychologischen Erwägungen leiten: einmal, daß das Kind auch in seiner
Welt der Zahlen nur allmählich zur Abstraktion gelangt, zum andern, daß auch
im Rechnen das logisch Einfache nicht immer das psych.-päd. Leichtere ist. Es
liegt aber kein Grund vor, im Rechenunterricht die nach dem Grundsatze des
lückenlosen Fortschrittes aufgebauten Rechensysteme einzuhalten, wie es in fast
allen Lehrbüchern vorliegt. G. fordert vielmehr: Ausgehen von Sachgebieten, in
die der Lehrer die Kinder nach dem „System eines vorbauenden Unterrichtes"
einführt, zahlenmäßiges Erfassen jeden Gebietes, Verarbeitung der in ihm erlebten
Aufgaben und ihre eigentätigo Zusammenarbeitung zu einem System. Dieses
System, selbstgeschaffen, berechtigt, lebensvoll, kann dann auch selbständig zu
Übungen verwendet werden ; nur müssen dann die Probleme möglichst umfassend
gestellt werden, um der Selbsttätigkeit der Schüler freien Raum zu lassen.
Überall kommt G. bei seinen psychologischen Erwägungen zur Forderung
des Sachrochnens. Zu demselben Ergebnis gelangt er auch auf den Gedanken-
gängen, auf denen er von der Arbeitsschulidee herüberkommt. Wahres Arbeits-
leben entzündet sich nur, wo ein Problem in der Empirie erlebt wird.
Das ist für das Kind nur der Fall an konkreten Verhältnissen und auch nur,
wo diese in seine Ich-Sphäre hineinragen. Die Welt der Kinder: hier soll es
arbeiten und arbeiten lernen. Nicht die Arbeit als Produkt, nicht die von
Generation zu Generation gewonnene Arbeitsmethode und -technik soll es äußer-
lich Überliefort bekommen, sondern es gilt: selbst suchen, selbst forschen, selbst
finden. Es ist selbstverständlich, daß O. dabei dem Individuum nach Interesse,
Typus, Alter und Geschlecht Spielraum in seiner Betätigung läßt; Freiheit, Mannig-
faltigkeit ist seine Losung.
444 Viertel jahxsverzeichnis neuer Schriften.
Einige Schlaglichter erhält der G.'sche Rechenunterricht noch dadurch, daß
er ihn auch von dem Standpunkt aus beleuchtet, daß die Forderungen dieses
Unterrichtes zu messen sind an der Stellung und Bedeutung, die Zahl und
Rechnen in dem Lebenskreis der Menschen einnehmen. Die Bedeutung der Zahl
besteht darin, daß wir in und mit ihr unsere Umwelt nach ihrer quantitativen
Seite erfassen. Daher muß der Rechenunterricht in erster Linie Sachunterricht
sein, eine Ergänzung zum Anschauungsunterricht. Die quantitative Erfassung
geschieht wesentlich durch Zählen und Messen. Beides hat zugleich im prakti-
schen Berufsleben besondere Bedeutung. Übungen im Zählen, Messen, Wägen
stehen daher im Vordergrund. Mündliches Rechnen mit übermäßig großen Zahlen,
Aufgaben mit sinnlosen Bruchzahlen sind Forderungen, die das Leben nicht
stellt und die darum ausscheiden.
Überall kämpft G. auf der ganzen Linie seiner Untersuchungen für dasselbe
Ziel: für den wissenschaftlich psychologischen Rechenunterricht, und das ist
ihm der Saehrechenunterricht.
Seine Darstellung ist anschaulich, lebendig, voller Begeisterung, und überall
sucht er durch praktische Beispiele seine Ideen zu verdeutlichen.
Übrigens will sein Buch eine Anregung sein — keine Anweisung. Und es ist
eine Anregung, die jeder gern auf sich wirken läßt und die manchem vielleicht
als eine Selbstbefreiung erscheinen mag. Umso vertrauensvoller werden wir
seiner Führung folgen, als sich seine Methode unter seinen eigenen Händen in
jahrelanger Probe bewährt hat. Meumann urteilt daher über ihn: „Der Erfolg
spricht ebenso für seine Methode wie die allgemeine psychologische Überlegung."
Unter den Schriften, die auf psychologischer Grundlage der Reform des Unterrichts-
betriebes dienen wollen, ist das Werk von G., dessen Rechenfibel berechtigtes
Aufsehen erregte, eines der besten ; an ihm kann der sich weiter bildende Lehrer
nicht vorüber.
Leipzig. Kurt Döring.
Richard Wähmer, Spracherlernung und Sprachwissenschaft. Die Eingliederung
des Sprachunterrichts in den wissenschaftlichen Bildungsplan der höheren
Schule, dargelegt am Französischen. B. G. Teubner, Leipzig 1914. Preis geh.
2 M., geb. 2,80 M.
Das vorliegende Buch ist ein wohlgelungenes Beispiel für die wissenschaft-
liche Vertiefung des französischen Unterrichts an unsern höheren Schulen.
Indem der Verf. die Kardinalfrage: Kann Sprachfertigkeit so erzielt werden,
daß wissenschaftliche Schulung in den Gang der Spracherlernung einbegriffen
ist? bejahend beantwortet, zeigt er den Weg, auf dem der neusprachliche
Unterricht weiterhin zu reformieren ist. Er fordert nichts Geringeres als die
Verwertung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse für die Erlernung der Sprache
als eines Beseelten, Lebendigen, Werdenden (Goethe). Der neusprachliche Unter-
richt muß in seiner literarischen Aufgabe wie auch in sprachlich-wissenschaftlicher
Hinsicht ein vollwertiges Glied im Gesamtwerk unserer höheren Schule sein,
sofern diese die Vorstufe zur Universität darstellt. Je tiefer er in das Wesen
der Sprache eindringt, desto mehr leistet er zugleich für die philosophische Unter-
weisung der Schüler. Philosophie als besonderes Fach ist entbehrlich, wenn der
Unterricht gerade in den Sprachen das Seelische, Gestaltende stark betont.
Königsberg. Hermann Schmitt.
Vierteljalirsverzeiclmis neuer Schriften.
Windelband, Wilh.: Einleitung in die Philosophie. (XII, 441 S. Aus: Grundriß
der philosophischen Wissenschaften. Hrsg. v. Fritz Medicus. Tübingen,
J. C. B. Mohr. 7.50 M; geb. in Halbfrz. 10.— M.
Natorp, Paul, Philosophische Propädeutik (Allgemeine Einleitg. in die Philo-
sophie u. Anfangsgründe der Logik, Ethik u. Psychologie) in Leitsätzen zu
Viertel Jahrs Verzeichnis neuer Schriften. 445
____ — , ^^
akademischen Vorlesungen. 4., wiederum durchgeseh. Aufl. (70 S.) Mar-
burg, N. G. Elwert's Verl. '14. 1.50 M; kart. 1.80 M.
Hofraann, Priv.-Doz. Dr. Paul, Die antithetische Struktur des Bewußt-
seins. Grundlegung e. Theorie der Weltanschauungsformen. XVIII, 421 S.
gr8° Berlin, G. Reimer '14. 8.— M.
Eucken, Rud.: Der Sinn u. Wert des Lebens. 4., umgearb. u. erweit. Aufl.
15—17. Taus. (V, 180 S. m. Bildnis.) gr.8« Leipzig, Quelle & Meyer '14. 2.80 M.;
geb. in Leinw. 3.60 M.
Spranger, Eduard, Lebensformen. Ein Entwurf. Aus: »Festschr. f. Alois
Riehl«. 110 S. gr8«. Halle, M. Niemeyer '14. 2.40 M.
Büttner, Lehr. Geo., Im Banne des logischen Zwanges. Ethische Grund-
fragen in erkenntnis-krit. Beleuchtg. nebst e, pädagog. u. religionsphilosoph.
Ausblick. Im Mskr. preisgekrönt v. der Kant-Gesellschaft. VII, 216 S. gr8.
Leipzig, E. Wunderlich '14. 4. — M; geb. 4.60.
Abhandlungen zur Philosophie u. ihrer Geschichte. Hrsg. v. Prof. Dr.
R. Falkenberg. 8°. Leipzig, Quelle & Meyer.
23. Heft. Reuter, Dr. Hans, S. Kierkegaards religionsphilosophische Gedanken
im Verhältnis zu Hegels religionsphilosophischem System. VI, 131 S. *14.
4.50 M; Subskr.-Pr. 3.35 M.
Meumann, Prof. Ernst, System der Ästhetik. 144 S. '14. Aus : Wissenschaft
u. Bildung. Einzeldarstellungen aus allen Gebieten des Wissens. 8°. Leipzig,
Quelle & Meyer, je 1. — M; geb. in Leinw. 1,25 M,
Wundt, Wilh., Völkerpsychologie. Eine Untersuchg. der Entwicklungsgesetze
V. Sprache, Mythus u. Sitte. V. Bd. Mythus u. Religion. 2., neu bearb. Aufl.
2 Tl. XIII, 494 S. Leipzig, A. Kröner. IL— M; geb. in Halbfrz. 14.—.
Wunderle, Dr. Geo., Aufgaben u. Methoden der modernen Religions-
psychologie. Vortrag. 26 S. Fulda '14. Eichstätt, Ph. Brönner. — .50M.
Werner, S., Das Problem v. der menschlichen Willensfreiheit. Ver-
such e. Lösg. auf analyt. Wege. 152 S. Berlin, L. Simion Nf. '14. 3.50 M.
Friedenthal, Priv.-Doz. Dr. Hans, Allgemeine u. spezielle Physiologie
des Menschenwachstums. Für Anthropologen, Physiologen, Anatomen u.
Ärzte dargestellt. X, 161 S. m. 34 Abbildgn. u. 3 färb. Taf. LexS«. Berlin,
J. Springer '14. 8.— M.
Brücke, Prof. Dr. E. Th. v., Ü ber die Grundlagen u. Methoden der Groß-
hirnphysiologie u. ihre Beziehungen zur Psychologie. (Nach e. An-
trittsvorlesg.) 16 S. '14. — .50 M; Subskr.-Pr. — .40 M. Aus: Sammlung anato-
mischer u. physiologischer Vorträge u. Aufsätze, hrsg. v. Proff. Drs. E. Gaupp
u. W. Trendelenburg. gr8''. Jena, G. Fischer.
Weygandt, Prof. Dr. W., Soziale Lage u. Gesundheit des Geistes u. der
Nerven. 42 S. '14. Aus: Würzburger Abhandlungen aus dem Gebiet der
praktischen Medizin. Hrsg. v. Proff. Drs. Joh. Müller u. Otto Seifort. XIV. Bd.
Lex8«'. Würzburg, C.Kabitzsch. Der Bd. von 12 Heften 7.50 M; einzelne Hefte — .85M.
Sternberg, Spezialarzt Doz. Dr. Wilh., Die Physiologie des Geschmacks.
X, 65 S. Lex8<». Würzburg, C. Kabitzsch '14. 2.20 M.
Lorand, Dr. A., Die menschliche Intelligenz u. ihre Steigerung durch
hygienische u. therapeutische Maßnahmen. Eine Anleitg. zum ratio-
nellen Denken. VIII, 413 S. 8» Leipzig, Dr. W. Klinkhardt '14. 4.— M; geb. in
Leinw, 5. — M.
Bateson, W., M. A., Mendels Vererbungstheorien. Aus dem Engl, übers.
V. Alma Winckler. Mit e. Geleitwort von li. v. Wettstein sowie 41 Abbildgn. im
Text u. 6 (färb. [4 Doppel-]) Taf. u. 3 Porträts v. Mendel. X, 376 S. gr8». Leipzig,
B. G. Teubner '14. 12.— ; geb. in Leinw. 13.— M.
Haecker, Prof. Valentin, Über Gedächtnis, Vererbung u. Pluripotenz.
August Weismann zum 80. Geburtstage gewidmet. 97 S. m. 14 Abbildgn. £^8°.
Jena, G. Fischer '14. 2.50 M.
Strasser-Eppelbaum, Dr. Vera, Zur Psychologie des- Alkoholismus.
Ergebnisse experimenteller u. individualpsycholog. Untersuchgn. 52 S. '14. 1.50 M.
446 Vierteljahrsverzeichnis neuer Schriften.
SchulhofjHedw., Individualpsychologieu. Frauenfrage. 31 S. *14. — .80 M.
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1\
„Wir Deutschen".
Aus dem Seelenleben unserer Zeit.
Von Hugo Gaudig.
Aus dem Seelenleben unserer Zeit? Ja! Oder hat die Psychologie kein
Recht auf unsere Zeit? Vermag sie etwa so wenig Objektivität zu leisten,
daß sie auf ihre Arbeit verzichten muß? Ich meine: Im Kreise der Tätig-
keiten, die unsere große Zeit von unserem Volke fordert, darf das psycho-
logische Studium der Zeit nicht fehlen: dies psychologische Studium ist
eine notwendige nationale Arbeitsleistung. Und wenn die deutsche Psycho-
logie sich zu dieser Arbeitsleistung unfähig zeigen sollte, so würde vielleicht
die Anklage erhoben, daß sie durch dumpfen Laboratoriumsbetrieb, durch
den Tik der mathematischen Exaktheit um die Kraft der Erfassung des
seelischen Lebens betrogen sei. Auf Schritt und Tritt fordert die Zeit
die psychologische Betrachtung. Innerhalb weniger Tage wird unser Volk
aus einer Seinsweise, aus einer psychischen Verfassung, in die es sich in
jahrzehntelanger Priedenszeit hineingelebt hatte, jäh herausgerissen und
durch Zwang von außen in eine neue unerhörte Lage geworfen; eben noch
in einer Lage, in der es seiner selbst und seiner Zukunft sicher war, wird
es plötzlich an den Wurzeln seiner Existenz angegriffen, vor die Frage
Sein oder Nichtsein gestellt. Welch ungeheures seelisches Erlebnis für
unser Volk! Armselige Wissenschaft, die versagen würde, wenn wir dies
ungeheure Erlebnis unseres Volkes in der Tiefe verstehen wollten. Das
Volk erhebt sich mit einer beispiellosen Kraft. Diese Kraft gilt es in
ihrer Natur zu studieren. Das wirtschaftliche Leben des Volkes paßt sich
an die von Grund aus veränderte wirtschaftliche Lage mit einer unerhörten
Kraft und Schmiegsamkeit an. Muß man erst vom Geist der amerikanischen
Psychologie erfaßt werden, um die tiefere, die psychologische Natur dieser
Anpassung zu studieren? Und unser Heer! — Gewiß, gewiß! Hier fehlt
noch viel, ehe wir an ein tieferes psychologisches Studium der gewaltigen
Erscheinung „Das deutsche Heer des Jahres 1914" herangehen können,
selbst wenn wir uns auf die erste nun abgelaufene Phase des Krieges be-
schränken wollten. Aber täglich wächst der dokumentarische Stoff, der
psychologisch gewürdigt werden muß, und schon prägen sich im Seelen-
leben unseres Heeres und seiner Führer gewisse Züge mit einer solchen Klarheit
aus, daß man sie für wesenhaft halten möchte. Ich lese da bei v. d. Goltz
(„Das Volk in Waffen" S. 396) an einer Stelle, wo er von der unmittel-
baren Ausbeutung der im Kampf errungenen Erfolge spricht: im Kriege
1870/71 seien zwar bei den großen Schlachten die strategischen Gedanken
Zeitachlift f. pftdagoir- Psychologie. 29
450 »Wir Deutschen".
bis in die äußersten Folgen verwirklicht worden, doch sei unserer Krieg-
führung „ein Zug von vornehmer selbstbewußter Gelassenheit" eigen ge-
wesen, es habe die „Leidenschaftlichkeit" gefehlt, die die „unerbittliche
Siegesausbeutung" zuwege bringe. Sehe ich recht, so fehlt in der Gegen-
wart weder unseren Truppen noch unseren Heerführern die Leidenschaft-
lichkeit. — Eine Frage, die auch psychologisch zu würdigen ist, betrifft
die ungemein hohe Inanspruchnahme der Energie unserer Truppen. Die
physischen und psychischen Leistungen unserer Truppen scheinen die
Grenze des bisher für erreichbar Gehaltenen beträchtlich hinauszuschieben.
Daß aber die Elastizitätsgrenze bei dieser Inanspruchnahme des physischen
und psychischen Leistungsvermögens unserer Truppen innegehalten ist, dürfen
wir hoffen. — Es erübrigt sich, die Unsumme psychologischer Richtungen
aufzuweisen, in die der psychologisch geschulte Blick in unserer Zeit, dieser
Zeit tiefster seelischer Bewegungen, gelenkt wird. Ich will nur auf zwei
besonders interessante Gebiete hinweisen, die eine Fülle psychologisch zu
verarbeitenden Stoffs gerade in unserer Zeit darbieten, die Psychologie des
Gerüchts und die Psychologie der Aussage, vor allem natürlich der „Aus-
sage" in der Presse (der inländischen, aber auch der ausländischen). Hier
liegen Beobachtungsgebiete vor, die das Seelenleben der Presse von dem
Pol völliger Gesundheit bis zu dem Pol des bereits Pathologischen um-
spannen: oder fällt nicht manche Gruppe von Erscheinungen in der aus-
ländischen Presse unter pathologische Gesichtspunkte?
Aber — man wird sagen : Wer unter uns kann und will denn Jetzt mit
der Objektivität, die unsere Wissenschaft von uns fordert, unsere Zeit
psychologisch „bearbeiten"? Wir sind ja viel zu sehr mit unserem Affekt-
leben in die Geschehnisse der Zeit verwoben; Liebe und Haß und die
übrigen starken Affekte, die hoffentlich unser Herz durchwalten, fälschen,
wenn nicht schon die Aufnahme der psychologischen Tatbestände, so doch
deren psychologische Deutung. Gewiß besteht diese Gefahr, und man wird
dieser Gefahr vor allem schon dadurch gerecht werden, daß man sich vor
jedem überhasteten Festlegen des eigenen Urteils hütet, daß man die
psychologischen Deutungen als Deutungsversuche ansieht, die immer wieder
nachzuprüfen sind. Aber wollen wir denn wirklich warten, bis uns die
Ereignisse in die „objektive" Ferne gerückt sind, bis wir uns nur künst-
lich wieder in die Ereignisse einfühlen und einleben können, deren
psychischer Gehalt sich uns jetzt durch starkes und unmittelbares Ein-
leben und Einfühlen in seiner Tiefe erschließt?
Und vergessen wir nicht: Wir bedürfen die psychologische Arbeit an den
Zeitereignissen; wir bedürfen sie für die Gegenwart und für die Zukunft;
wir bedürfen sie so gewiß, als wir eine vertiefte Auffassung des Geschehenden
und der wirkenden Kräfte nicht entbehren können. Nicht zuletzt können
wir Lehrer diese psychologisch vertiefte Auffassung nicht entbehren, wenn es
uns mit der hohen Aufgabe, unseren Schülern zum Einleben in unsere ge-
waltige Zeit mitzuhelfen, heiliger Ernst ist.
Wenn ich selbst einige Gedanken zu dem Thema „Wir Deutschen" aus-
sprechen will, so soll es sich dabei um unser, der Deutschen, Wir-Be wußt-
sein handeln. Der allgemeine psychologische Tatbestand, der mit dem Aus-
„Wir Deutschen". 451
druck „Wir-Bewußtsein" bezeichnet wird, verdient — besonders auch von der
pädagogischen Seite her — eine weit größere Beachtung, als er sie bisher
gefunden hat. Das Wir-Bewußtsein ist sowohl im Seelenleben des einzelnen
wie der Gruppen ein hochbedeutsamer Faktor; nicht zuletzt wird die Schule
dem Wir-Bewußtsein der einzelnen Schüler wie auch der Klassen ein viel
stärkeres Interesse als bisher entgegenbringen müssen.
Zur Würdigung des Wir-Bewußtseins der Deutschen in unserer Gegen-
wart wird ein Vergleich der Gegenwart und der Zeit vor dem Kriege dien-
lich sein. Selbstverständlich hat auch in der Zeit vor dem Kriege der
Bewußtseinsakt, dessen sprachlicher Ausdruck das „Wir Deutschen" ist, im
Geistesleben der Deutschen nicht gefehlt. Aber doch bestehen starke Unter-
schiede, Unterschiede, die die Häufigkeit, den Inhalt, die Gefühlsbetonung,
die Willensnatur, überhaupt den Zusammenhang mit dem gesamten
seelischen Leben betreffen. Wenn wir ein leicht ansprechendes, an Vor-
stellungsinhalt reiches, stark gefühlsbetontes, den Willen leicht anregendes,
in das gesamte Seelenleben fest integriertes nationales Wir-Bewußtsein als
ein wertvolles Merkmal des gesamten nationalen Seelenlebens ansehen, so
werden wir in dem Wir-Bewußtsein der Deutschen vor dem Kriege tiefe
Mängel nicht verkennen dürfen. Ohne statistische Beweise dafür zu fordern,
wird jeder, der das nationale Leben miterlebt hat, zugestehn, daß ein leicht
ansprechendes und starkes nationales Wir-Bewußtsein dem deutschen Seelen-
leben vor dem Kriege fehlte. Warum? Wenn ein einzelner oder eine
Gruppe sich mit den anderen Deutschen in einem „Wir Deutschen" zu-
sammenfassen soll, so muß, falls es sich um einen eigentlichen Bewußtseins-
akt und nicht um einen bloßen Sprachgebrauch handelt, Anlaß und Ur-
sache gegeben sein, und dem Wirksam werden des Anlasses und der Ursache
dürfen sich nicht Hemmungen in den Weg stellen. Die Zeit vor dem
Kriege war nicht reich an Anlässen und Ursachen, reich dagegen an
Hemmungen. Als Hemmungen müssen die starken Gegensätze gelten, die
das nationale Leben zerfurchten und darum das nationale Wir-Bewußtsein
vielfach nicht aufkommen ließen. Von geringer, gelegentlich aber doch
unliebsamer Hemmungskraft waren landschaftliche Gegensätze, besonders
der von Nord und Süd; für das nationale Wir-Bewußtsein ist die Main-
grenze immer noch spürbar. Stärkste Hemmungen setzten sich der Ent-
stehung und Entwicklung eines allgemeinen nationalen Wir-Bewußtseins in
den polnischen Grenzbezirken, in Elsaß-Lothringen und an der dänischen
Grenze entgegen. Gleichfalls sehr stark hemmend wirkte der konfessionelle
Gegensatz und vor allem der soziale Gegensatz. Nicht mit Unrecht hat
man gesagt, daß namentlich der Klassengegensatz die Nation dualistisch
in zwei Nationen zu spalten drohe, zwischen denen die Momente des Ein-
heitsbewußtseins immer schwächer würden.
Was die Natur der Hemmungen angeht, mag noch auf folgendes hin-
gewiesen werden. Denken wir uns das Leben der Menschen, deren natio-
nales Wir-Bewußtsein wir untersuchen, nicht als ein allgemeines, unbe-
stimmtes Leben, sondern als ein Leben, das sich nach den verschiedenen
Lebensgebioten gliedert, so kann die Hemmung auf einem Lebensgebiet
liegen und für dies Lebensgebiet die Entstehung des nationalen Wir-Be-
29*
452 f. Wir Deutschen".
wußtseins verhindern; so z. B. kann auf dem religiösen Gebiet der Gegen-
satz zwischen den Konfessionen so gespannt sein, daß es hier nur zum
Bewußtsein des Gegensatzes und nicht zum Bewußtsein nationaler Ver-
wandtschaftlichkeit auf religiösem Gebiet kommt. Die hemmende Wirkung
des religiösen Gegensatzes kann sich aber auch auf andere Lebensgebiete,
z. B. auf das Gebiet der freien Bildung, fortsetzen und auch hier die Ent-
stehung und Entfaltung des Wir-Bewußtseins hindern. Umgekehrt aber
kann auch die Schärfe des Gegensatzes auf dem einen Lebensgebiet durch
die Einheitsmomente auf einem anderen gemildert werden. So kann sich
der religiöse Gegensatz mildern, wenn sich Zugehörige der verschiedenen
Konfessionen im Besitz eines hochwertigen nationalen Bildungsgutes eins
wissen. Grenzfälle, die die schwierige Frage beleuchten, dürften die
folgenden sein: Auf einem Gebiete ist der Gegensatz so scharf, daß nicht
nur auf diesem Gebiet und für dies Gebiet kein nationales Wir-Bewußt-
sein entsteht, sondern die Entstehung dieses Bewußtseins auch auf den
anderen Lebensgebieten verhindert wird. Man denke hier an den schroffen
Gegensatz zwischen den Konfessionen oder den schroffen Klassengegensatz.
Der entgegengesetzte Fall wäre die Beschränkung der Hemmung auf das
Lebensgebiet, auf dem sie entstanden ist. Ein anderes Gegensatzpaar stellt
sich in dem Fall einer Hemmung auf allen Lebensgebieten und dem Falle
einer ungehemmten Entwicklung auf allen Lebensgebieten dar.
Kennzeichnend für die nun zum Glück abgeschlossen hinter uns liegende
Periode war einmal die der Entwicklung des nationalen Wir-Bewußtseins
sehr schädliche Schärfe der Gegensätze auf den einzelnen Lebensgebieten,
anderseits ein Übergreifen der hemmenden Wirkungen von Gebiet auf Gebiet.
Und nun „wir Deutschen" in der Zeit des großen Kriegs! Ein großes
Kaiserwort: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche"
leuchtet uns hier voran. Unser nationales Wir-Bewußtsein hat, wenn ich
recht sehe, eine ungeheure Stärkung erfahren. Eine der größten Segnungen
unserer Zeit; eine Segnung, die, wenn sie dauernd bleibt, einen Teil der
beispiellosen Blutopfer wert ist, die Deutschland bringen muß. „Wir
Deutschen!" Eins wissen sich die Protestanten als Deutsche mit den
Katholiken, eins wissen sich die Anhänger der bestehenden Gesellschafts-
ordnung als Deutsche mit den Sozialisten, eins wissen sich die Träger
hoher Bildung als Deutsche mit den Männern aus dem Volke, eins wissen
sich, soweit dafür die freiwillige Kriegsbereitschaft von vielen Tausend
Männern zeugt, die Reichsländer und wir anderen Deutschen.
Und dieses Wir-Bewußtsein ist kein kalter Bewußtseinszustand. Das
beweist schon die Reizbarkeit unseres Wir-Bewußtseins. Man erinnere
sich z. B. an die schroffe Ablehnung, die das Vorgehen jener Parlamentarier
allgemein fand, die ohne Zuziehung der Sozialdemokraten Flottenfragen
berieten. Die Reizbarkeit unseres Wir-Bewußtseins ist aber groß, weil es
stark gefühlsbetont ist. „Wir Deutschen" — das sind wir, die wir auf Tod
und Leben kämpfen, die wir eine gerechte Sache gegen eine Welt voll Un-
gerechtigkeit verteidigen, die wir eine Weltkultur gegen den Einbruch der
Unkultur schützen, die wir „den Willen zum Sieg" und die Kraft zum
Sieg besitzen ....
„Wir Deutschen". 453
„Wir Deutschen" aber ist nicht nur ein schöner Tatbestand des deutschen
Bewußtseins und Gefühlslebens; eine Fülle von Willensentschlüssen und
Handlungen, von denen wir täglich hören, entspricht diesem Tatbestande:
es sei nur erinnert an das große Ereignis des 4. August, an die Aufhebung
von Kampfesorganisationen oder an die eben jetzt vollzogene Kundgebung
von Vertretern aller (sonst so oft im Kampf stehenden) wirtschaftlichen
Interessengruppen; eine Kundgebung, aus der ersichtlich wird, daß wir
Deutschen uns jetzt in wirtschaftlichen Fragen eins wissen.
Woher sich diese wundervolle Entfaltung unseres nationalen Wir -Be-
wußtseins erklärt, kann nicht zweifelhaft sein. Ohne es verschuldet zu
haben, wurde unsere Nation plötzlich vor die Frage „Sein oder Nichtsein"
gestellt. Denn darüber kann kein Zweifel sein, daß es sich für uns in
diesem Kriege nicht darum handelt, dieses oder jenes Stück unseres Be-
sitzes und unserer Geltung zu behaupten, daß vielmehr unsere gesamte
Existenz in Frage steht; im Falle einer Niederlage Deutschlands würden
unsere Feinde das gewaltige Ganze kultureller Kräfte, das Deutschland
heißt und das Gegenstand ihres Neides und Hasses ist, so zu schmälern
wissen, daß es nicht mehr es selbst wäre. So handelt es sich für uns um
nichts weniger als um Selbsterhaltung. Das Bewußtsein dieser ungeheuer
kritischen Lage aber schweißt uns vor allem zu innerer Einheit zusammen,
hebt die Wirksamkeit aller Unterschiede und Gegensätze auf und verleiht
uns das starke nationale Einheits-, das nationale Wir-Bewußtsein. Das
Bewußtsein der kritischen Lage ohnegleichen würde indes allein diese
Wirkung nicht hervorgebracht haben. Die Geschichte kennt Völker, die
angesichts der größten Existenznot nicht zum Einheitsbewußtsein gelangt
sind. Zu dem Bewußtsein unserer Not kam noch das Bewußtsein des
Wertes, der unserer Nation eigen ist und der durch den Neid der Feinde
nicht vermindert ist. Das Aufflammen eines, starken Selbstwertgefühls
war die Folge des Versuchs, das deutsche Kulturelement innerhalb der
Weltkultur zu vernichten oder doch aufs äußerste zu schwächen. Beson-
ders wichtig aber für die Entwicklung des nationalen Wir-Bewußtseins war
die unvergleichliche Kraftentfaltung, die der Überfall der Feinde in der
deutschen Nation auslöste: eine Mobilmachung, bei der die mathematische
Pünktlichkeit fast vergessen ließ, daß nicht tote Kräfte, sondern freie
Menschenkräfte zu einheitlicher Arbeit zusammengefaßt wurden, zugleich
eine Entfaltung der finanziellen Kräfte des Reiches, die man der Jugend
des Deutschen Reichs kaum zugetraut hatte, vor allem dann der Ausbruch
unserer kriegerischen Kraft in Ost und", West, nicht zu vergössen ferner
die Fortsetzung der wirtschaftlichen Arbeit in der neuen, so einschneidend
veränderten wirtschaftlichen Lage und alle anderen Beweise deutscher Kraft.
Ein Volk, das in seiner Existenz so schwer bedroht ist, seines Wertes
sich so bewußt sein darf und so seine besten Kräfte im Dienste der Selbst-
erhaltung mobil macht, muß zu einem starken, fest geschlossenen Wir-
Bewußtsein kommen, das alle Glieder des Volkes zu Gedeih imd Verderb
verbindet.
Von großem psychologischen Interesse ist es nun, zu beobachten, wie
dies nationale Einheitsbewußtsein sich zu den Gegensätzen und Spannungen
454 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw.
verhält und verhalten wird, die auf den verschiedenen Lebensgebieten be-
standen und hier dem nationalen Einheitsbewußtsein schädlich waren. An
sich gibt es verschiedene Möglichkeiten. Es könnte sein, daß diese Gegen-
sätze durch die Macht des Einheitsbewußtseins gleichsam mechanisch aus
dem Bewußtsein verdrängt würden; sie könnten aber auch absichtlich
(willentlich) aus dem Bewußtsein geschoben werden. Im ersten Falle
würden sie von selbst nicht wirksam, im zweiten würde man sie (vielleicht
für die Tage der großen Not) nicht wirken lassen wollen. In beiden Fällen
aber beständen die Gegensätze an sich im Bewußtsein fort, nur eben als
von selbst latente oder absichtlich unwirksam gemachte Tatbestände des
Bewußtseins. Wesentlich anders würde sich das nationale Wir-Bewußtsein
überall dort gestalten, wo das im Kampf um die Existenz gewonnene Ein-
heitsbewußtsein auf jene Gegensätze einwirkt. Man hat bei dieser Ein-
wirkung nicht etwa gleich an eine Aufhebung der Gegensätze zu denken;
auch der gewaltigste Existenzkampf vermag diese tief in dem Leben der
Nation eingewurzelten Gegensätze nicht aufzuheben; wohl aber vermag ein
starkes nationales Einheitsbewußtsein einmal sehr bedeutend auf die Art ein-
zuwirken, wie die Gegensätze ausgetragen werden und sich auswirken, und
dann ist es wohl möglich, daß unter dem Druck eines starken Einheits-
bewußtseins auch auf den Gebieten des Gegensatzes das Gemeinsame
erkannt und gefühlt wird, daß man also z. B. unbeschadet der Gegensätze
innerhalb der Gottesverehrung der Protestanten und Katholiken sich hier
wie dort dessen bewußt ist: „Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst
nichts auf der Welt".
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen über den
Fortschritt der Verbesserungen der öffentlichen Volksschulen
im Deutschen Reiche.
Im Auftrage der pädagogischen Zentrale des Deutschen Lehrervereins
bearbeitet von Aloys Fischer.
Vorbemerkungen.
1. Die Tendenz des Fragebogens.
Die Schulen sind jederzeit in Umbildung begriffen, in der Gegenwart besonders
stark; teilweise geht der Anstoß von ihnen selbst aus, von Lehrern, Schulleitern,
Schulkollegien, teilweise von anderen, an Erziehungsfragen interessierten Kreisen.
Diese letzteren haben sich wiederum in der Gegenwart auffallend gemehrt und
mit ihnen die Zahl und Tragweite der erhobenen Reformforderungen. Niemand
weiß zurzeit genau, welche Reformforderungen heute schon, ganz oder
teilweise, im Schulwesen durchgeführt sind, mit welchem Erfolge
sie sich bewährt haben, welche auf Probe eingeführt werden. Oft
erleben die Reformer die Überraschung, daß eine ihnen neu erscheinende For-
derung als längst erfüllt nachgewiesen wird, oft auch umgekehrt die Tatsache,
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw« 455
daß eine zweifellos vernünftige und einfache Maßregel merkwürdigerweise noch
I nicht ihren Eingang in die Praxis gefunden hat.
Es ist die Tendenz dieses Fragebogens, der Unsicherheit des Wissens auf
diesem Gebiete zu steuern und planmäßig, etwa von Jahrfünft zu Jahrfünft,
festzustellen, welche fortschrittlichen Neuerungen im deutschen
Volksschulwesen sich durchgesetzt haben und in welchem Umfang.
Der Fragebogen will in allererster Linie der Schulverwaltung einen
Dienst erweisen, insofern er Material beschafft, einer übertreibenden Kritik
des Schulwesens entgegenzutreten und öffentlich zu bezeugen, daß unsere
Schulverwaltungen keineswegs dem Fortschritt im Wege sind, sobald er sich
so ausgereift hat, daß seine Eingliederung in die naturgemäß nur langsam
sich wandelnde Tradition des Erziehungswesens möglich ist; er Kofft, auch
dem Fortschritt im Ausbau der Erziehungseinrichtungen selbst zu dienen,
indem er wenig beachtete oder nur vereinzelt unternommene, aber ergebnis-
reiche Versuche zu weiterer Nachahmung ans Licht holt.
2. Die Art der Erhebung,
Die Erhebung geschieht in der Weise, daß ein detaillierter Fragebogen durch
die Schulvorstände (Oberlehrer, Rektoren), event. unter Mitwirkung des
Lehrerrates genau ausgefüllt und, soweit er ganz besonderen Verhältnissen noch
nicht Rechnung trägt, selbständig erweitert wird.^) Dieses Material wird dann
von der Pädagogischen Zentrale des Deutschen Lehrervereins bearbeitet, na-
mentlich im Hinblick darauf, wie sich die tatsächlich durchgeführten Verbesse-
rimgen zu den Vorschlägen der Theoretiker und Reformer verhalten, welche
von den Reformströmungen eine sinkende, welche eine steigende Tendenz haben,
event. auch, ob sich die Kosten des Schulbetriebes mit den Reformen erhöhen
oder verringern, ob der nachweisbare Erfolg (Zensurenstatistik) mit den Re-
formen gleichen Schritt hält. Der Erfolg einer Erziehungsmaßregel ist ja niemals
vollständig und exakt nachweisbar, aber immerhin gibt die Zahl der Schüler,
welche an höhere Schulen übertreten, welche die Volksschule mit guter Note
verlassen, Nachhilfe brauchen, welche kriminell werden, in Sonderanstalten
überführt werden müssen, einige statistische Anhaltspunkte, die beim Ver-
gleich von Schulen mit starker Reformtendenz und solchen ohne sie ein gewisses
Urteil über den Wert der Reformen ermöglichen.
3. Der Umfang der Erhebungen.
Es soll sich darum handeln, ein möglichst vollständiges Bild des fortschrei-
tenden Zustandes der Volksschule zu gewinnen. Deshalb müssen die Erhebungen
sich auf alle wesentlichen Punkte des Schulwesens erstrecken, nämlich:
a) auf die Organisation der Volksschule und die Prinzipien der Klassenbildimg
b) auf die Lchrpläne und Lehrziele,
c) auf die Methodik der einzelnen Fächer und die Hilfsmittel in ihrer Unter-
weisung,
d) auf die hygienischen Einrichtungen,
») Der Fragebogen wird von der Pädagogischen Zentrale des Deutschen Lehrer-
vereins (Vcrsandtstolle: Rektor Otto Schmidt, Berlin NO. 18, Diestelmeyerstr. 12)
kostenlos an alle Interessenten abgegeben. Es wird erweirtet, daß er nach ge-
wissenhafter Ausfüllung derselben wieder zugeleitet wird.
456 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw..
e) auf die Vorkehrungen für Schülerwohlfahrt und Jugendpflege,
f) auf den Zusammenhang von Schule und Elternhaus,
g) auf die Einrichtungen, welche für die Einschulung des Lehrpersonals in
die Aufgaben der Praxis dienen,
h) auf diejenigen, welche die Förderung der pädagogischen Wissenschaft
selbst bezwecken.
Absichtlich bleiben alle frequenzstatistischen Erhebungen (Ge-
samtzahl der Schulen, Schulklassen, Kinder), alle Erhebungen über die Lehrer,
ihre Bildungs-, Wirtschafts- und Beförderungsverhältnisse ausgeschlossen. Ge-
wiß ist manches Reformerische in der Zahlenbewegung auch auf diesen Ge-
bieten besehlossen, aber im engeren Sinne pädagogische Verbesserungen
werden dabei nicht unmittelbar gefaßt. Überdies bieten die Mitteilungen der
statistischen Ämter sowie die Arbeiten der statistischen Zentrale des Deutschen
Lehrervereins sowohl die erforderlichen methodischen Hilfen wie für eine
Reihe von Fragen bereits einwandfreie Grimdlagen.
Daß die Reformbewegung auf dem Gebiet der höheren Schule nicht ein-
bezogen ist, hat nur äußere Gründe; ihre Erfassung ist ein genau so drin-
gendes Bedürfnis, erfordert aber einen vielfach anders gearteten Plan der Er-
hebung; ich hoffe, ihn in Kürze folgen lassen zu können.
Geographisch sollen sich die Erhebungen auf das Deutsche Reich erstrecken.
I. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Organisation des Volksschulkörpers.
a) Gliederung des Ganzen.
L Ist die bei Ihnen bestehende öffentliche (gemeindliche usw.) Volksschule
einklassig? mehrklassig? siebenklassig ? achtklassig? mit Parallelabtei-
lungen? mit zeitweisem Abteilungsunterricht?
2. Besteht ein Kindergarten an der Schule? Von wem eingerichtet und ge-
leitet? Besteht ein privater Kindergarten am Schulort? Wieviel Prozent
der Kinder haben vor dem Eintritt in die Schule einen Kindergarten be-
sucht ?
3. Besteht Koedukation? In welchem Umfang? Aus welchen Gründen? (Gilt
besonders für die Landschulen, die Reform- und Versuchsschulen.)
4. Ist für den Aufbau der Klassen das Alter maßgebend? Oder die Erlan-
gung bestimmter Lehrziele ohne Rücksicht auf das Alter? Welches
Durchschnittsalter haben die Kinder der einzelnen Klassen ? Welche oberste
imd unterste Altersgrenze ist für die einzelne Klasse amtlich festgesetzt?
Wird tatsächlich eingehalten?
5. Ist die Schule im Prinzip Konfessionsschule? Simultanschule?
6. Bestehen besondere Einrichtungen für die Förderung der Schwachbegab-
ten? Welche? (Förderklassen? Abschlußklassen? Mannheimer Gliederung ?
Obligatorischer Nachhilfeunterricht? Eigene Hilfsschulen? Wie sind letz-
tere organisiert?) Seit wann bestehen derartige Einrichtungen? Wie be-
währen sie sich ?
7. Bestehen besondere Einrichtungen (Sonderklassen, Zentralklassen, Wahl-
klassei;) für hervorragend Begabte? (z. B. für Singen, Zeichnen, Fremd-
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw. 457
sprachen?) Seit wann bestehen solche Einrichtungen? Welchen Berufen
wenden sich diejenigen Volksschüler zu, die von ihnen Gebrauch gemacht
haben? Bestehen wenigstens private oder genossenschaftliche Einrich-
tungen am Ort_, welche den Schülern schon auf der Oberstufe der Volks-
schule und namentlich nach der Volksschule eine weiter gehende Bildung
in einem nicht lehrplanmäßigen Fach ermöglichen ?
8. Ist die Mädchenschule in gleicher "Weise aufgebaut wie die Knabenschule ?
Welche Unterschiede bestehen?
9. Baut sich auf die Werktagsschule eine Fortbildungsschule auf ? Welche ?
(Sonntagsschule? gewerbliche, landwirtschaftliche, kaufmännische, Fach-
fortbildungsschulen? auch für Mädchen? Haushaltungsschulen?) Seit
wann?
10. Mit welchem Erfolg sind die Fortbildungsschulen tätig? (Vergleich der
beiden Abgangsprüfungen, Frequenz der Fortbildungsschulen usw.)
11. Nach welcher Klasse der Volksschule erfolgt bei Ihnen im Durchschnitt der
Übertritt an eine höhere Schule ? (Gymnasium, Realschule usw.) Ist er an
eine Prüfung geknüpft ? Wann findet diese statt ? Wer hält diese Prüfung
ab? Besteht Probezeit? Gibt es eine Gelegenheit zu spezieller Vorbe-
reitung auf die höhere Schule ? (Vorschule ? Vorbereitungskursus ? Be-
stehen private Kurse zur Vorbereitung auf die Übergangsprüfung? usw.)
12. Werden Volks- und Fortbildungsschule ergänzt durch (städtische, staat-
liche) Bürgerschulen? Mittelschulen? durch Fortbildungsveranstaltungen
für Jugendliche ? Wanderkurse ? Volkshochschulvorträge ?
13. Bestehen Versuchsklassen ? Eine Versuchsschule ? Wie hängt sie mit dem
Schulkörper zusammen ? Welches sind ihre speziellen Aufgaben ? Wer trägt
ihre Kosten?
14. Wie viele Schüler erreichen das Ziel der Volksschule ? (reguläres Abgangs-
zeugnis der 8. Klasse etwa?) Wie viele bleiben auf niedrigerer Klassen-
stufe ? Warum ?
15. Wie viele Schüler werden noch während der Schulpflicht zur Erwerbs-
arbeit oder wenigstens zu ausgiebiger häuslicher Mithilfe herangezogen ?
Wird in der Durchführung der Schulpflicht auf solche Verhältnisse Rück-
sicht genommen? (Gilt besonders für kleine ländliche Gemeinden.)
16. Wie hoch ist das Schulgeld für die Volksschule? Ist es nach dem Ein-
kommen der Eltern gestaffelt?
17. Bestehen Privatschulen und Mittelschulen (im norddeutschen Sinne) mit
parallelen Zielen neben der öffentlichen Volksschule ? Aus welchen
Gründen? Mit welcher Frequenz?
(Vergl. dazu Fragebogen C. Götze: Über die Schulorganisation, Arbeiten dos
Bundes für Schulreform 6. Vorbericht Leipzig 1913, S. 66.)
b) Zusammensetzung der einzelnen Klassen.
1. Wie groß ist der durchschnittliche Umfang einer Klasse? Warum so groß?
oder 80 klein? (Auszusondern für die einzelne Klasse 1 — 8, wenn
möglich).
2. Wird der gesamte Unterricht in einer Klasse jeweils von einer Lehrkraft
erteilt? (Klassenlehrer) oder von mehreren? (Fachlehrer).
458 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw.
3. Wird der Unterricht in den technischen Fächern (Singen, Turnen, Zeichnen,
Handarbeit) erteilt von dem Klassenlehrer bezw. der Klassenlehrerin ? Auf
jeder Stufe ? Oder ist ein besonders für diese Fächer vorgebildeter wissen-
schaftlicher Lehrer da? Warum? Seit wann?
4. Ist für den Handfertigkeitsunterricht ein Techniker (Gewerbelehrer) vor-
handen oder seine Einführung beabsichtigt?
5. Welche Gesichtspunkte sind für die Verteilung der Schüler im Klassenraum
maßgebend ?
6. Gestattet der Raum die Bildung kleinerer Gruppen zur Durchführung
arbeitsteiligen Klassenunterrichts ?
7. Sind für einzelne Fächer besonders eingerichtete Lehrzimmer vorhanden ?
z. B. für den Werkunterricht? Den Physikunterricht?
8. Besitzt die Schule eine Lehrmittelsammlung? Ihr Inhalt?
II. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die allgemeinen didaktischen und pädago-
gischen Grundlagen der Schularbeit.
L Ist ein Lehrplan vorhanden? Ein gedruckter? geschriebener? Seit wann
ist er in Geltung ? Welches sind die durch ihn festgelegten Unterrichtsziele ?
(ein Belegexemplar erbeten).
2. Welche Fächer umfaßt er ? In welcher Verteilung und Kombination ? Welche
an der Schule unterrichteten Fächer sind nicht einbezogen? Wem obliegt
ihre Regelung ?
3. Welche Hilfsmittel für die Hand des Schülers sind obligatorisch? (Lehr-
bücher, Schreibhefte, Rechenbücher, Tagebuch, Schreibblock, Merkheft.)
In welchen Fächern ist das Lehrbuch ganz verschwunden ? Warum ? Aus
welcher Zeit stammt die erste Auflage der noch im Gebrauch befindlichen
Lehrbücher? (Belegexemplare oder wenigstens genaue bibliograpische
Daten erbeten!)
4. Ist die Handarbeit in den Schulbetrieb einbezogen ? In welcher Weise ? Als
Prinzip? als Fach? in welchem Umfang? Wie sind die Lehrer, welche
Handarbeit verwenden oder Handfertigkeitsunterricht erteilen, dafür vor-
gebildet? (Siehe Fragebogen 0. Schmidt, IL Jahrbuch der Päd. Zentrale
des Deutschen Lehrer-Vereins 1912, Anhang.)
5. Welche Anschauungs- und Demonstrationsmittel sind vorhanden ? (Bilder ?
Karten? ein Projektionsapparat? ein Schulkinematograph ? Abmachungen
mit einem Kinotheater? Modelle? Pflanzen-, Tier-, Steinsammlungen?)
Für welche Fächer? (Heimatkunde? Geschichte? Geographie? Naturbe-
schreibung?) Besteht ein jährlicher Etat für die Vermehrimg dieser Hilfs-
mittel? In welcher Höhe?
6. Ist die Schülerwanderung üblich ? Obligatorisch ? Im Dienste welcher Dis-
ziplinen ?
7. Gibt es Schulgärten ? Aquarien ? Terrarien ? Schulküchen ? Vereinbarungen
mit wandernden Schaustellern?
8. Welche Ausdrucksmittel dürfen vom Kinde verwendet werden? Welche
werden absichtlich geschult ? (Zeichnen, Malen, Modellieren, Ausschneiden
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw. 459
und Kleben, Schnitzen, Singen, freie Erzählung, freier Aufsatz, Nach-
machen und Theaterspielen.) Von welcher Stufe an kann von Ausdrucks-
kultur gesprochen werden ?
9. Werden die bestehenden Museen (Sammlungen) zur Arbeit der Volksschule
mit herangezogen ? In welcher Weise ?
10. Gibt es Disziplinarsatzungen für die Kinder ? Aus welcher Zeit stammen sie ?
(Ein Belegexemplar erwünscht!)
11. Nehmen die Schüler an der Verwaltung der Schule und Aufrechterhaltung
der Ordnung teil ? In welcher Weise ? (Ältesten- Ausschuß ? Schulgemeinde ?
Selbstregierung ?)
12. Ist die Schule durch ihre Verfassung verpflichtet, die Schüler zur Erfüllung
der Pflichten ihres religiösen Bekenntnisses zwangsmäßig anzuhalten?
Werden Versäumnisse der Kinder in dieser Hinsicht durch die Schul-
vorstände als Disziplinarvergehen geahndet?
13. Gibt es Einrichtungen für die Pflege der ästhetischen Empfänglichkeit?
Welche? Schulschmuck? Anleitung zur Bildbetrachtung? Kunstwande-
rungen? usw.
14. Steht dem Lehrer ein Züchtigimgsrecht zu ? Für welche Fälle ? Nach wel-
chem Kanon?
15. Besteht noch die Einrichtung schriftlicher Hausaufgaben ? In welchem Um-
fange? Für welche Fächer? Seit wann nicht mehr?
16. Gibt es Schularbeiten (Klausurarbeiten)? Zu welchen Zwecken? Seit wann
nicht mehr?
17. Welchen Prüfungen ist das Kind im Laufe der Volks- und Fortbildungs-
schulzeit regulär unterworfen ? Wird über das Prüfungsergebnis ein Zeugnis
ausgestellt ?
18.. Besteht außer der im Zeugnis mitgeteilten Zensur eine Geheimzensur? Zu
welchen Zwecken? Kann Einsicht gegeben werden? Wird außer der
Schulzensur noch ein ständiger Personalbogen während der ganzen Schulzeit
geführt? (Belegexemplare erbeten!)
III. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Beziehungen zwischen Elternhaus und
Schule:
1. Besteht die Einrichtung von Sprechstunden? Wird von ihr Gebrauch ge-
macht ?
2. Veranstaltet die Schule Elternabende ? Aus welchen Anlässen ? Wer
leitet die Verhandlungen?
3. Gibt es am Ort eine Eltemvereinigung? Welche Tätigkeit hat sie bisher ent-
faltet? Wie verhält sich die Lehrerschaft zu ihren Bestrebungen?
4. Besteht ein offiziell anerkannter Elternbeirat? In welchen Fällen ist er
befugt, den Verhandlungen des Lehrerrats anzuwohnen?
5. Wie wird der laufende Verkehr zwischen Elternhaus und Schule besorgt?
Aus welchen Anlässen erfolgt Benachrichtigung (Ladung) der Eltern?
6. Werden die Eltern zu Beginn des Schuljahres über Stundenplan, I^hr-
mittel, Klassenziel offiziell verständigt, um die Überwachung der häus-
460 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw,
liehen Arbeit zweckmäßig darnach gestalten zu können? Werden die
Eltern über die Chancen aufgeklärt, welche der Besuch dieser oder jener
Gattung höherer Schule, freiwilliger Fortbildungsgelegenheiten usw. ihren
Kindern eröffnet?
8. Beteiligt sich die Schule offiziell oder wenigstens privat durch den Vor-
stand oder vereinzelte Lehrkräfte an der Berufsberatung der Schul-
entlassenen ? An der Stellenvermittlung für Fortbildungsschüler ?
7. Teilnahme der Eltern an Schulfesten ? Entlaßfeiern ? Prüfungen ?
IV. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Jugendorganisationen.
1. Bestehen gesellige, wissenschaftliche usw. Jugendvereine oder -gruppen an
dem Orte ?
2. Wer hat sie eingerichtet? Leitet sie?
.3. Gibt es Jugendorganisationen, welche von politischen oder konfessionellen
Parteien unterhalten werden?
4. Gibt es Jugendgruppen mit bestimmten kulturellen Tendenzen ? (z. B.
Abstinenz usw.).
5. Hat eine der zur Jugendbewegung im engeren Sinn gehörige Organi-
sation (Wandervogel) Ausbreitung gefunden? Oder eine der im Jung-
deutschlandbund zusammengefaßten? (Wehrkraft, Pfadfinder?) Welche
Kreise begünstigen und unterstützen derartige Organisationen?
6. Wie verhält sich die Schule offiziell zu diesen Jugendorganisationen ?
V. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Fortschritte in der Methodik der einzelnen
Fächer.
1. Stellung des Religionsunterrichts im Stundenplan? Wer erteilt den
Religionsunterricht? Ist auch die weltliche Lehrkraft zur Mitarbeit 'am
Religionsunterricht verpflichtet ? (Bibelstunde ? Abfragen und Repetieren
des Katechismus?)
2. Wird der Lehrplan des Religionsunterrichtes ausschließlich von der geist-
lichen Obrigkeit ausgearbeitet und überwacht?
3. Ist die Schule verpflichtet, ihre Schüler zur Erfüllimg der Pflichten ihres
religiösen Bekenntnisses auch außerhalb der Schule anzuhalten ? (Sonntags-
gottesdienst, Beichte usw.?) Siehe II, Teil 12.
4. Welche Hilfsmittel werden auf der Unterstufe des Religionsunterrichts be-
nützt ? Bilder ? Religiöse Prosa ? Arbeiten ? usw. Welche auf der Mittel-
und Oberstufe ? (Biblische Landeskunde ? Kirchengeschichte ? Religiöse
Lektüre? Apologetische Besprechung von Zeitfragen?)
5. Wird auf der Oberstufe mit dem Religionsunterricht eine Art Lebenskunde
verbunden? (Philosophische Propädeutik.)
6. Gibt es einen eigenen Moralunterricht? Seit wann? Für welche Kinder ?
Wer entwirft den Lehrplan? Und überwacht seine Durchführung? Wer
trägt die Kosten (freireligiöse Gemeinden?)
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw. 461
7. Ist die sexuelle Belehrung des Kindes speziell dem Religions- und Moral-
unterricht zugewiesen oder beteiligen sich alle Lehrkräfte je nach der Eignung
ihres Faches daran ? Ist eine solche überhaupt nicht vorgeseben ? Warum
nicht ? Wird wenigstens das Elternbaus auf die hier möglichen Aufgaben
aufmerksam gemacbt?
8. Werden Lesen und Schreiben vereint oder getrennt unterrichtet? Wenn
mit dem Leseunterricht allein begonnen wird, wann beginnt er dann? In
welchem zeitlichen Abstand folgt der Beginn des Schreibunterrichts ?
9. Wird zum elementaren isolierten Leseunterricht eine Fibel benützt? Ein
Bilderalphabet ? Merkbilder ? Von Anfang an ? Oder ein Setz-Lesekasten ?
Seit wann ? Wann folgt auf den Setzkasten der Gebrauch der Fibel ? Ist die
Fibel illustriert ? Ist sie literarisch oder heimatkundlich wertvoll ? (Beleg-
exemplar!)
10. Mit welcher Schriftart (Antiqua? Fraktur? Eigene Fibelschrift? Spieser?
Greyerz? Seyffert? Schreiber?) und mit welchem Alphabet derselben
(groß, klein) wird begonnen?
11. Werden mit dem Leseunterricht gleichzeitig oder als Vorbereitung auf
Schreib- imd Orthographieunterricht phonetische Übungen getrieben ? Ein
einfacher phonetischer Unterricht erteilt ? Mit welchen Hilfsmitteln ? (Laut-
tafeln, Modelle des Sprechapparates usw.)
12. Geht bei gesondertem Lese- und Schreibunterricht dem Beginne des Schreib-
unterrichts eine motorische Vorübung voran ? Wie lange dauert sie ? Auf
welche Formen erstreckt sie sich ? Erfolgt sie beidhändig ? An der großen
Schultafel ?
13. Welche Hilfsmittel werden im Schreibunterricht verwendet? (Griffel? Blei?
Tinte? Zusammenhang mit dem Zeichenunterricht?) Wird ein eigener
Schönschreibunterricht erteilt? (Probeschriften?)
14. Wird mit dem Schreibunterricht von Anfang an ein einfacher orthogra-
phischer Unterricht verbunden? Ist auf der höheren Stufe die Benützung
eines Orthographie-Wörterbuches gestattet? Welches orthographische
Wörterbuch ist im Gebrauch?
15. In welcher Verbindung steht der Deutschunterricht mit dem Schreib-
Lese- Unterricht auf den höheren Stufen ?
16. Ist in der Sprachlehre eine eigentliche grammatische Unterweisung vorge-
sehen ? Auf welcher Stufe ? Mit welchen Zielen ?
17. Ist der freie Aufsatz gestattet ? Ausschließlich gepflegt ? Seit wann? Warum
nicht? Welche Arten von Themata werden behandelt?
18. Wird die deutsche Literatur in den Schulunterricht einbezogen? In welcher
Weise ? Mit welchen Hilfsmitteln ?
19. Was tut die Schule zur Anregung und Überwachimg der Privatlektüre?
(Schülerbibliothek, Lesezirkel, Zeitungen, Kampf gegen die Schundliteratur.)
20. Gibt es Lesehallen? Rezitationsnachmittage? Schülervorstellungen im
Theater? Wie besucht? Wie sind diese Veranstaltungen dem Unterricht
eingegliedert ? Wer trägt die Kosten ? Spielen die Kinder selbst Theater ?
In der Schule ? Außerhalb derselben ?
21. In welchem Alter wird der Rechenunterricht begonnen? Gehen seiiem
462 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw.
Beginn Informationen darüber voraus, wie weit das Kind allgemeine Quan-
titäts- und Ordnungsbegriffe besitzt?
22. Welche Hilfsmittel zur „Veranscbaulichung" der Zahl, zur Übung im Zählen
werden gebraucht ? (Zahlbilder, Finger, Eechenmaschine usw.)
23. Wird der Rechenunterricht im ganzen auf bestimmte Tätigkeiten der Er-
wachsenen basiert? (Spielgeld und Kaufgeschäft.)
24. Wird auf den Oberstufen absichtlich dahin gestrebt, daß das Kind die wich-
tigsten Sachgebiete des werktätigen Lebens (Haushalt, volkswirtschaftliches
und statistisches Material, Marktbücher usw.) mittels der Zahl gewandt und
sicher zu erfassen und in Form von Aufgabestellung und Ausgabelösung
selbständig zu bearbeiten lernt?
25. Auf welchen Gebieten wird der Rechenunterricht sonst noch gepflegt bezw.
mit angewandt?
26. In welchem Umfange ist auf der Unterstufe geographische und ge-
schichtliche Belehrung möglich? In der Heimatkunde enthalten?
Wann differenziert sich aus dem heimatkundlichen Gesamtunterricht ein
eigener Geographie- und Geschichtsunterricht heraus?
27. Werden im Geographieunterricht das Zeichnen und Formen bzw. die Her-
stellung von Reliefs als Lehrhilfen benützt?
28. Schulatlanten? Lehrreliefs? Generalstabskarte?
29. Schülerausflug? Schülerreise? Anleitung zu Verständnis von Fahrplan
und Kursbuch? Wie weit erstreckt sich die Schülerreise? Wer hat die
Initiative dazu ergriffen? Wer trägt die Kosten?
30. Werden mit dem Geographieunterricht volkswirtschaftliche Belehrungen
verbunden? In welchem Umfange?
31. Werden die Originalarbeiten großer Forscher und Geographen auszugsweise
von den Lehrern, von den Schülern zur Belebimg des Geographieunter-
richts benutzt?
32. Wird im Geschichtsunterricht die Originalquelle verwendet? Als Ausgangs-
punkt? Zur Belebung? Befinden sich Quellenbücher in der Hand der
Schüler? Welche?
33. Wird die deutsche Dichtung in den Dienst der Geschichte gestellt?
34. Welche Rolle spielt der freie Vortrag des Schülers im Geschichtsunterricht ?
35. Welche Rolle spielt der Besuch von Sammlungen und Museen?
36. Werden Geschichts- und Geographieunterricht zusammen benützt, um die
Elemente der Bürgerkunde und staatsbürgerlichen Belehrung
zu vermitteln? Oder besteht ein eigener staatsbürgerlicher Unterricht?
Auf welcher Stufe ? Von wem erteilt ? Welches sind die Hilfsmittel ?
37. Naturkundlicher Anschauungsunterricht?
38. Naturkimdliche Exkursionen?
39. Bestehen physikalische, chemische und biologische Schülerübungen? In
eigenen Räumen ? Für welche Altersstufe ? Auch für Mädchen ?
40. Ist die Chemie der Hauswirtschaft und Ernährung besonders als Schulfach
anerkannt ?
41. Ist ein elementarer anthropologischer und hygienischer Unterricht
lehrplanmäßig vorgesehen ? Wird er freiwillig erteilt ? Von wem ?
Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw. 463
42. Welche Einrichtungen dienen zur Pflege des ästhetischen Gefühls und der
Kunsterziehung?
43. Welches sind die Ziele und Hilfsmittel der einzelnen technischen Fächer?
a) Singen (Ton wort-Methode ? Volkslied? Kunstgesang? Schüler-Orche-
ster ? Schulkonzerte ? Konzertbesuch ? usw.)
b) Zeichnen (als Prinzip ? als Fach ? mit wievielen Stunden ? Als Vorschule
für den ästhetischen Genuß?)
c) Turnen ? (Turnspiele ? Mädchenturnen?)
d) Handarbeiten (weibliche? Knabenhandarbeit? Ist eine eigene Werk-
stätte vorhanden? Eigene Handfertigkeitslehrer?)
44. In welchen Fächern erteilt die Volksschule fakultativen Unterricht?
Welches sind die Ziele der Lehrgegenstände, die Methoden und Hilfs-
mittel dieses fakultativen Unterrichts? (Stenographie, Buchführung,
Fremdsprachen ?)
45. Bietet die Zielsetzung und Methodik der Fortbildungsschule wesentlich
neue Gesichtspunkte? Wie arbeiten Werkstätte und Lehrmeister mit
Schule und Fachlehrer zusammen? In welcher Verbindung stehen die
„allgemeinbildenden" Fächer und ihr Betrieb mit dem Ziel der Fach-
schule ?
VI. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung der schulhygienischen Fortschritte.
1. Ist ein Schularzt tätig? Seit wann? Nur zur Untersuchung oder auch
behandelnd? Wer trägt die Kosten?
2. Berücksichtigt der Stundenplan hygienische Forderungen ? Zahl der Unter-
richtsstunden am Tag? Zahl und Länge der Pausen ? Zahl der Unterrichts-
stunden pro Woche ? für die einzelne Lehrkraft ?
3. Ungeteilte Unterrichtszeit? Seit wann? Mit welchem Erfolg ? Warum
noch nicht?
4. Langstunde? Kurzstunde?
5. Lage und Länge der Ferien?
6. Die Raumverhältnisse des Schulhauses und Klassenzimmers : Größe, Orien-
tierung, Heizung, Lüftung, Umgebung?
7. Ist ein Schulhof da? Ein Spielplatz für die Pausen? Müssen die Pausen
im Freien zugebracht werden? Auch im Winter?
8. Welche Trinkanlage ist vorhanden?
9. Sind für Schwerhörige, Kurzsichtige usw., soweit sie inNormalklassen
verbleiben, besondere Plätze und Lehrmittel vgrgesehen?
10. Wie werden die Kinder mit leicht ansteckenden Krankheiten be-
handelt? Wie wird bei Epidemien verfahren ? Wie werden die Rekonvales-
zenten behandelt ? Wie groß ist die Frist zwischen erlangter Genesung und
Wiederbeginn des Schulbesuchs?
11. Sind bestimmte Krankheiten (der Zähne, des Herzens, der Limge usw.)
und Defekte der Sinnesorgane in der Gegend auffallend häufig ? Warum ?
Leidet die Schularbeit darunter? Welche Maßregeln zur Bekämpfung sind
vorhanden ? erforderlich ?
464 Entwurf eines Fragebogens zu periodischen Erhebungen usw.
12. Wird den Schülern im Interesse der Fürsorge und hygienischen Erziehung
ein einfacher anthropologischer und hygienischer Unterricht erteilt? (Siehe
III. Teil 41.) Auf welche Kapitel erstreckt er sich besonders?
13. Erhalten sie hygienische Merkblätter? Etwa beim Schulaustritt? Mit
besonderer Berücksichtigung der Sexualhygiene ? Seit wann ? Durch wen ?
(Belege erbeten!)
14. Wie ist für erkrankte Kinder gesorgt? Gibt es Schülerkassen ? Wieweit
erstreckt sich die allgemeine Krankenversicherimg auf Fortbildungsschüler
(als Lehrlinge, kaufmännische Angestellte usw.)?
VII. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Wohlfahrtseinrichtungen und Vorkeh-
rungen zur Leibespflege.
1. Schulspeisung? Frühstück? Ist überhaupt eine Gelegenheit da, Nah-
rungsmittel zu bekommen?
2. Waschgelegenheiten? Schulbad? Brausebad? Schwimmbad? Im
Haus ? Im Freien ?
3. Hygienische Vorschriften für das Verhalten im Schulgebäude ?
4. Besteht Schulgeldfreiheit? Teilweise? Unter welchen Bedingungen?
5. Besteht Lehrmittelfreiheit? Teilweise? Unter welchen Bedingungen ?
Seit wann?
6. Gibt es für Kinder, die zu Hause keine Aufsicht und keinen geeigneten
Kaum haben, Aufenthaltsmöglichkeiten während der schulfreien
Zeit? Welche? (Hort? Bewahranstalt? Lesezimmer? Spielsäle? Turn-
platz ?)
7. Unterstützt die Schule gewisse für die Leibespflege und Jugendfreude ge-
troffene Einrichtungen? (Wandervogel, Pfadfinder, Wehrkraftverein,
fakultative Vereinigungen zur Pflege der Turnspiele, des Radsports, des
Ruderns?)
8. Gibt es Rekonvaleszentenheime? Waldschulen? Seeheime? Ferien-
kolonien? Wer ist zu ihrem Genuß berechtigt ? Wie wirken sie ? Speziell
im Hinblick auf die Schulziele ?
9. Besteht ein wirksamer Schutz gegen die Ausnützung der Kinder
in der Heimarbeit ? Im Laufdienst ? Zur Bettelei ? Welcher Art sind diese
Schutzmaßregeln ?
10. Bestehen besondere Gerichte und Anstalten für die kriminell ge-
wordene Jugend? Welche? Seit wann? Mit welchem Erfolg ?
11. Gibt es Schulfeste? Schulfeiern? Aus welchem Anlaß? Wie viele im
Durchschnitt ?
12. Bestehen Vorschriften über den Gasthausbesuch der älteren Schüler?
Über den Besuch von Theatern imd Kinotheatern ? Über die Teilnahme an
Ausflügen und sportlichen Veranstaltungen? An anderen Vergnügungs-
einrichtungen ?
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugend wanderns. 466
Vin. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über Schulaufsicht und Schulverwaltung.
1. Ist zwischen Schulauisicht mit Disziplinarbefugnis und Schulverwaltung
sachlich und in den damit betrauten Personen unterschieden ? Wer übt die
Schulaufsicht aus? Wer die Schulverwaltung?
2. Gibt es einen technischen Schulleiter? Fachaufsicht? Seit wann?
3. Besteht daneben die geistliche Schulaufsicht? Besteht sie ausschließlich?
Welches sind ihre gesetzlichen Befugnisse?
4. Wer ist zur Bekleidung höherer Stellen im Schuldienst qualifiziert?
5. Welches sind die Befugnisse der einzelnen höheren Schulämter? (Prorek-
torat, Oberlehrerstelle, Inspektorat, Schulratamt?)
,6. Welche Neuerungen in der Regelung der Befugnisse und der Besetzung dieser
höheren Stellen sind vorgekommen? Wann? Warum?
7. Welche Neuerungen werden erstrebt? Von wem?
IX. Teil des Fragebogens.
Zur Erhebung über die Mitarbeit des Schulwesens und der Lehrer-
schaft an der pädagogischen Forschung.
1. Besteht die Möglichkeit zu Lehrversuchen? Unter welchen Bedingungen?
2. Bestehen ganze Versuchsklassen? Versuchsschulen? (Siehe I. Teil, 12.)
3. Haben außer Lehrern und Schulleitern auch andere Personen das Recht,
Anträge zur Erprobung neuer Verfahren zu stellen? (Psychologen, Ärzte,
Eltemrat, theoretische Pädagogen.) Oder Einsicht in den inneren Schul-
betrieb sich zu verschaffen?
4. Wie und durch wen erfolgt die Begutachtung der Lehrbücher und Lehr-
mittel?
5. Welche Einrichtungen sind für die Fortbildung der Lehrerschaft vorhanden ?
(Konferenzen, Spezialkurse, Institute, Hochschulstudium, letzteres seit
wann und unter welchen Bedingungen?)
6. In welchem Maße beteiligen sich die Lehrkräfte Ihrer Anstalt an der päda-
gogischen Forschung und Publizistik? (Belege erbeten!)
(Zu Teil VIII siehe Fragebogen H. Th. M. Meyer betreffend Ausbildung und
Fortbildung des Volksschullehrers in Arbeiten des Bundes für Schulreform 6,
Leipzig 1913.)
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
Von Gurt Zeidler.
In dem Arbeitsprogramm der (Pädagogischen Vereinigung von 1905 in
Hamburg nehmen die in den Ferien und an Sonntagen von ihr veranstal-
teten Kinderausflüge eine hervorragende Stelle ein. Von anderen Organi-
sationen mit ähnlichen Aufgaben unterscheidet die Vereinigung sich vor-
nehmlich durch eine entschiedene Betonung der rein erziehlichen Werte des
Jugendwanderns, die sie in ihrer praktischen Arbeit durch Begünstigung
Zeitschrift f. pädagog. Piychologi«. 3Q
466 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwand erns.
alles dessen zu gewährleisten sucht, was geeignet ist, ein inniges Vertrauens-
verhältnis der in einer Gruppe wandernden Kinder zueinander und zu ihrem
Führer entstehen zu lassen. Darum nicht mehr als 15 Kinder in einer
Gruppe, darum eine den Kindern nahestehende Persönlichkeit, wenn mög-
lich der Klassenlehrer, als Führer. Bei diesem Interesse der Vereinigung
an der pädagogischen Ausgestaltung und Vertiefung des Jugendwander-
gedankens, der bei seiner wachsenden Popularität in der Tat in Gefahr ist
zu verflachen, lag es nahe, dieses Problem in exakter Weise in Angriff zu
nehmen. So versuchte die Vereinigung durch Verteilung von Fragebogen,
die Kinder zu Äußerungen und Urteilen über ihre Ausflüge zu veranlassen.
Über das Ergebnis dieses interessanten Versuchs soll im nachstehenden be-
richtet werden.
Die Aushändigung der Bogen an die Kinder erfolgte während des Aus-
flugs, und zwar kurz vor seiner Beendigung. Die vorgedruckten Fragen
waren von den Kindern schriftlich zu beantworten. Sie lauteten wörtlich:
„Wie heißt du? (Den Vornamen ausschreiben!) Wie alt bist du? Wo gehst
du zur Schule? In welcher Klasse bist du? Welche Ausflüge hast du bei
uns mitgemacht?" Nach diesen orientierenden Vorfragen dann die eigent-
lichen Hauptfragen:
I. „Welcher von diesen Ausflügen hat dir am besten gefallen? Sag auch
warum!"
II. „Was gefällt dir auf unseren Ausflügen am meisten? Warum ge-
fällt es dir?"
III. „Was hat dir heute nicht gefallen?"
Die Führer waren gebeten worden, darauf achtzuhaben, daß eine gegen-
seitige Beeinflussung der Kinder beim Schreiben nicht stattfand. Die Ant-
worten, bei denen dennoch eine solche erfolgt war, wurden vom Führer
gekennzeichnet und bei der Verarbeitung als unverwertbar ausgeschieden.
Um alle störenden Einflüsse fernzuhalten, war den Führern empfohlen
worden, die Ausfüllung im Freien vornehmen zu lassen. — Der Versuch
wurde um des Ausgleichs etwaiger Zufallsresultate willen zweimal angestellt,
zuerst am 1. August 1912 (Ziel: Alstertal — Saseler Heide), dann wiederholt
am 13. August 1912 (Kiekeberg — Rosengarten). Abgeliefert wurden am
ersten Tage 279 ausgefüllte Fragebogen, darunter 171 von Knaben, 108 von
Mädchen herrührend, am zweiten Tage 428 Bogen, 233 von Knaben, 195
von Mädchen, so daß im ganzen ein Material von 707 ausgefüllten Bogen
vorlag.
Eine aus diesen Bogen gewonnene Zusammenstellung der beteilig-
ten Kinder nach dem Alter hatte das folgende Ergebnis: In allen
4 Reihen (zweimal die Beteiligung der Knaben, zweimal die der Mädchen)
konnte ein ständiges Wachsen der Beteiligungsziffer mit zunehmendem
Alter beobachtet werden. Sie erreichte aber seltsamerweise schon bei
'12 Jahren ihren Höhepunkt, um dann sehr schnell wieder abzuschwellen.
Wir standen also vor der uns höchlich überraschenden Entdeckung, daß
die Teilnahme an unseren Ausflügen, sowohl bei den Knaben als auch bei
den Mädchen, gegen Ende der Schulzeit scheinbar erheblich nachläßt. Um
diese eigenartige und uns sehr bedeutungsvoll erscheinende Tatsache gründ-
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
467
lieh nachzuprüfen, wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1913 auf sämt-
lichen Ferien- und Sonntagsausflügen das Alter der an ihnen teilnehmen-
den Kinder notiert. Abschweifend sei mir gestattet, in Kürze das Ergeb-
nis dieser sehr viel umfangreicheren und somit zuverlässigeren Statistik
darzustellen.
Alter
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
i
a
o ®
IS
4 Sonntagsausflüge | Sädchen
1,7
0,9
4.9
5,5
10,2
9,1
15,5
12,6
18,8
13,7
15,9
15,9
15,7
15,9
11,6
16,4
3,2
6,5
5,5
3,5
56,1
43,9
811
635
5 Ausflüge in den Oster- / KnaDen
ferien \ Mädchen
4 Ausflüge in d. Pflngst- ? Knaben
ferien | Mädchen
6 Ausflüge in den Som- i Knaben
merferien { Mädchen
0,1
0,0
0,7
0,7
1,2
1,5
U,6
1,3
3,9
3,8
4,0
4,7
4,3
2,4
10,7
9,8
10,4
8,0
12,1
11,4
15,4
16,5
14,6
14,5
15,1
18,2
18,4
19,9
16,2
16,1
21,3
21,2
20,0
17,8
19,0
15,1
22,4
20,6
14,4
16,2
17,8
17,4
19,9
18,2
13,8
12,5
11,6
14,4
4,1
6,2
2,6
2,0
4,9
6,4
0.Ö
0,5
0,1
0,8
0,3
1,7
57,7
42,3
51,7
48,3
61,2
38,8
136Ö
995
1354
1263
2604
1651
Feriendurchschnitt | Mädchen
0,7
0,7
2,8
3,3
8,5
6,7
14,0
14,1
16,6
18,1
20,1
18,0
18,215,1
18,1 1 15,0
3,9
4,9
0,2i56,9]6318
l,0i43,l 13909
Prozente
Besser als viele Worte es vermögen, zeigt die vorstehende Tabelle,
die in Prozenten die Beteiligung der einzelnen Altersstufen angibt, bezogen
auf die Gesamtzahlen aller Knaben bzw. Mädchen, wie durch die weiteren
Feststellungen die ersten Vermutungen bestätigt und übertroffen wurden:
Zwischen 10 und 12 Jahren die stärkste Beteiligung, dann ein starkes
Sinken der Kurve. Die erstaunlich geringe Beteiligungsziffer der Kinder
von 14 Jahren und darüber darf freilich nicht wunder nehmen. Sie ist
dadurch erklärt, daß in dieser Jahreszeit nur ganz wenige der an den Aus-
flügen teilnehmenden schulpflichtigen Kinder schon ihr 14. Lebensjahr
vollendet haben; die meisten Kinder zählen bei Antritt ihres letzten Schul-
jahres erst volle 13 Jahre. Aber selbst wenn wir von den letzten beiden
Rubriken völlig absehen, tritt die gekennzeichnete Erscheinung mit genügen-
der Deutlichkeit zutage. Über ihre Ursachen lassen sich die verschiedensten
Vermutungen aufstellen, die aber eben nur Vermutungen bleiben können:
Das in diesem Alter der .beginnenden Pubertät sich regende Selbständig-
keitsgefühl, das einzelne, früher reife Kinder von der Schar der übrigen,
von der Aufsicht des Lehrers losreißt und sie zu selbständigen Unter-
nehmungen drängt; eine gewisse Übersättigung und, damit in Zusammen-
hang stehend, die in diesem Alter zuerst in größerem Umfange sich geltend
machenden Sensationswirkungen großstädtischen Amüsements (Kino, Flirt
usw.), die dann zugleich gegen die feineren Reize naturgemäßer Erholung
abstumpfen; soziale Gründe: Regelmäßige Unterstützung der Eltern im
Broterwerb durch Laufstellen u. dgl.; bei den Knaben auch wohl die „Kon-
kurrenz" anderer Veranstaltungen, wie der Pfadfindervereine, die sich bereits
an dieses Alter wenden u. a. m. Eine umfangreiche, vielleicht durch die
Schulen vorzunehmende Umfrage zu stichprobeweiser Feststellung der Muße-
beschäftigung der Kinder etwa an Sonntagen oder in den Ferien würde
möglicherweise ein Licht werfen auf die inneren Zusammenhänge dieser Er-
30*
468 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
scheinung mit der inneren Entwicklung des Kindes einerseits, andererseits
auch mit dem Ganzen unserer großstädtischen Verhältnisse.
Nach dieser Abschweifung nun zu der ersten Hauptfrage: „Welcher
Ausflug hat dir am besten gefallen? Sag auch warum?" Bei der
Bearbeitung dieser Frage durften natürlich nur die Antworten der Kinder
gewertet werden, die nicht nur diesen einen Ausflug mitgemacht hatten.
Man beabsichtigte mit dieser Frage, eine etwaige Vorliebe der Kinder für
bestimmte Ausflugsziele, gewisse Landschaftsformen zu erkunden. Daher war
auch eine Begründung verlangt worden. Diese ist nun in der Tat seltsam
genug ausgefallen. „Der Ausflug hat mir gefallen, weil wir so schön gewatet
haben", „weil wir gerudert haben", „weil das Spiel so schön war", „weil wir
gutes Wetter hatten". Als typisch gebe ich die Ausführungen eines neunjährigen
Mädchens wieder: „Der Ausflug Kiekeberg hat mich am besten gefallen. Es
hat mir gefallen, wie ein junger Herr ^auf dem Dampfer auf die Zupfgeige
spielte und die Knaben und Mädchen sangen mit. Ich hatte eine Flasche
Himbeersaft mit und 6 Schnitten Brot mit dickbelegte Wurst. Nachher bin
ich den Berg hinuntergefallen. Mit einemmal fand ich viele Bickbeeren und aß
sie auf. Dann haben wir Hase gespielt." Ahnlich ist die Begründung, wo
überhaupt eine gebracht worden ist, fast überall ausgefallen. Also keine
selbständige Bewertung des Landschaftlichen oder irgendwelches Eingehen
auf das für sie Charakteristische, vielmehr eine Beurteilung des Verlaufs
der Veranstaltung; eine Bewertung mehr der Erlebnisse in der Natur
als der Natur selber. Ich habe deshalb darauf verzichtet, eine geson-
derte Zusammenstellung der Gründe, die für die Kinder bei der Beantwor-
tung der ersten Frage maßgebend waren, zu geben und habe siß mit ver-
arbeitet bei der 2. Frage: „Was gefällt dir auf unsern Ausflügen am meisten?
Warum gefällt es dir?" Ich hielt eine Verschmelzung dieser beiden An-
gaben auch deshalb für vorteilhaft, weil die meisten Kinder die Verschieden-
artigkeit der Angaben unter I und II überhaupt nicht begriffen haben, so
daß beide Fragen ihnen zu einer einzigen ineinanderflössen. So haben
manche Kinder auch unter II landschaftliche und Natureindrücke wieder-
gegeben, freilich ohne damit ausschließlich auf das von ihnen als das schönste
hingestellte Ziel sich zu beziehen. Demnach bringe ich nunmehr unter I
eine Darstellung der Beliebtheit der verschiedenen Ausflugsziele, wie sie
aus unseren Feststellungen bedingungsweise sich ergibt, ohne nähere Be-
gründung, und unter II eine Zusammenfassung alles dessen, was in an-
erkennendem, positivem Sinne von den Kindern über ihre Ausflüge gesagt
worden ist. — Vielleicht wäre die erste Frage ergebnisreicher beantwortet
worden, wenn die Frageformulierung eine glücklichere gewesen wäre, etwa:
„Wohin möchtest du nächstes Mal wandern, wenn du wählen dürftest?"
Die direkte Beziehung auf den äußeren Verlauf eines vergangenen Ausflugs
wäre dann unmöglich gemacht, obgleich es auch so noch nicht ganz aus-
geschlossen gewesen wäre, daß die Kinder die durch ein fröhliches Erleben
gewonnenen positiven Gefühlswerte unbewußt in die Landschaft hinein-
projiziert und etwa deshalb eine Gegend als ihnen besonders lieb angegeben
hätten, weil sie dort einmal ein wohlgelungenes Kriegspiel ausgeführt
haben.
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 469
Ein Blick auf die durch unsere Fragestellung gewonnene Statistik lenkt
nun in allen 4 Reihen (a: 1. Ausflug, Knaben, b: Mädchen, c: 2. Ausflug,
Knaben, d: Mädchen) unsere Aufmerksamkeit auf 2 Zahlen, die alle übrigen
weit hinter sich zurücklassen. Von den 150 in Frage kommenden Knaben
des ersten Ausflugs erklären 42, d. h. 28 Proz., den Ausflug ins Alstertal,
also den gegenwärtigen, für den besten. Bei den Mädchen am gleichen
Tage sind es 35 Proz., also noch ein gut Teil mehr. Auf dem Ausflug
nach dem Kiekeberg entschieden sich für diesen 18 Proz. der Knaben und
31 Proz. der Mädchen. Im ganzen wählten am ersten Tage 23 Proz. aller
Kinder den noch unbeendigten Ausflug des gleichen Tages, wenn nichts
weiter, so jedenfalls ein ganz interessanter statistischer Nachweis für die
köstliche Fähigkeit der Kinder, die Gegenwart zu genießen und in der
Freude des heiteren Augenblicks die Vergangenheit zu vergessen. Die Tat-
sache, daß beide Male dieses Urteil von seiten der Mädchen beträchtlich
häufiger ausgesprochen wird als von den Knaben, verdient Beachtung. Wie
sehr diese Urteile aus dem Augenblick geboren sind, um in der Regel auch
mit diesem einer neuen und andersartigen Meinung zu weichen, das zeigt
die erstaunliche Erscheinung, daß von 10 Kindern (7 Kn., 3 Md.), die am
ersten Tage sich für das Alstertal entschieden hatten und auf dem zweiten
Ausflug anwesend waren, nur 2 (1 Kn., 1 Md.), ihr Urteil aufrecht hielten.
Die Hälfte der übrigen, also 4 Kinder (2 Kn., 2 Md.), die am 1. August
mit dem Vollton der Überzeugtheit für das Alstertal gestimmt hatten, er-
klärten 12 Tage später den Kiekeberg für das schönste Ziel; offenbar weil
sie gerade an diesem Tage dort waren.
Nächst dieser Zahl fällt eine zweite vor allen andern ins Gewicht. Eine
beträchtliche Anzahl Kinder erklärt einfach: Alle Ausflüge haben mir
gefallen. In der bekannten Reihenfolge beantworten die erste Frage in
dieser Weise: 21 Proz., 13 Proz., 25 Proz., 10 Proz., im ganzen am ersten
Tage 18 Proz., am zweiten Tage 19 Proz., also annähernd ^k aller Kinder,
deren Urteil verwertbar ist. Wenn wir bei einigem Optimismus ja vielleicht
Veranlassung haben, dieser radikalen Zustimmung zu unseren Veranstal-
tungen uns zu freuen, so darf man doch nicht übersehen, daß das letzte
Motiv dieser Art des Urteils in vielen Fällen mehr in gedanklicher Un-
regsamkeit zu suchen sein wird.
Auffällig i8t,wie sehr die Knaben bei den Urteilen dieser Gattung über-
wiegen. Sollten Knaben mehr zu derartig summarisch-oberflächlichen Urteilen
neigen als Mädchen?
Nahezu die Hälfte aller Kinder gibt auf Frage I eine der genannten
Antworten, und in weitem Abstand folgen dann die verschiedenen Zahlen
für die einzelnen zurückliegenden Ausflüge, die einzigen für unsere Absichten
wirklich brauchbaren Angaben. — Auch hier bestätigt sich, daß im all-
gemeinen diejenigen Ausflüge, die am wenigsten weit zurückliegen, also
relativ am frischesten in der Erinnerung sind, die größte Zustimmung finden.
Der Cuxhaven ausflug, der letzte vor der Verteilung der Fragebogen, steht
am ersten Versuchstage mit 23 Stimmen obenan. Ihm folgt mit 22 Stim-
men der Ausflug nach Schulau, der freilich mehr als eine Woche zurück-
liegt, aber für die zahlreichen mit Dauerkarten versehenen Kinder der letzte
470 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
war, an dem sie sich beteiligten. Aber während dieser Ausflug am zweiten
Versuchstage seine Stimmen bis auf 6 verloren hat, scheint bei den 19 Stim-
men, die sich trotz der längeren Zeitspanne (es waren inzwischen 14 Tage
verflossen) auf den Cuxhavenausflug vereinigen, das Interesse für diesen
stetiger zu sein. — Eine ähnliche Beobachtung läßt sich in bezug auf das
Ziel Blankenese — Wittenbergen machen. Obgleich der letzte Ausflug dort-
hin bereits 14 Tage zurücklag und die Kinder, die am 1. August mit
Dauerkarten erschienen, also ein beträchtlicher Teil der Beantworter, durch
ihre Dauerkarten nicht zur Teilnahme an diesem Ausflug berechtigt gewesen
waren, entschieden sich 16 Kinder für dieses Ziel. Diese Zahl erhöht sich
am zweiten Tage gar auf 35, trotzdem auch hier 10 Tage verflossen waren,
seit das Ziel, das zweimal auf dem Plan der Sommerferien stand, zuletzt
aufgesucht worden war. — Drittens sind in diesem Zusammenhange die
Zahlen für den Ausflug Geesthacht — Tesperhude heranzuziehen. Am ersten
Tage erklärten sich 7, am zweiten gar 14 Kinder dafür. Wenn man auch
hierbei berücksichtigt, daß dieser Ausflug in den großen Ferien nur ein-
mal, und zwar als erster, ausgeführt worden ist, daß demnach am ersten
Versuchstage bereits 3 Wochen, am zweiten 4 ^2 Wochen seitdem verstrichen
waren, so wird man sich sagen müssen, daß dieser Ausflug, um so nach-
wirken zu können, in der Tat einen sehr starken Eindruck hervorgerufen
haben muß. Auf Grund dieser Angaben glaube ich mit verhältnismäßig
großer Sicherheit aus unserm Versuch feststellen zu können, daß diejenigen
Ausflüge, die eine kürzere oder längere Dampferfahrt mit sich bringen
und die Möglichkeit eines Aufenthaltes am Strande gewähren, in unserer
Kinderwelt am meisten geschätzt werden.
Nicht minder interessant sind die Urteile der Kinder über die Nacht-
ausflüge, i) 19 Kinder entschieden sich am 1. August für den Nachtaus-
flug nach der Neugrabener Heide, der wenige Tage vorher stattgefunden
hatte. Man dürfte also Verdacht haben, daß es sich hier wieder um einen
augenblicklichen Begeisterungsrausch handelt, wenn nicht am 13. August
noch 10 Kinder der gleichen Meinung wären. Am selben Tage stimmten
19 Kinder für den vor wenigen Tagen stattgefundenen Nachtausflug nach
Buchwedel. Eine Nachprüfung in bezug auf die Stetigkeit dieses Urteils ist
ja nicht möglich. Übrigens dürfte es interessieren, daß unter diesen
19 Urteilen 11, unter den oben erwähnten 10 Urteilen vom gleichen Tage
8 von Mädchen herrühren. Ein Beweis dafür, daß solche Nachtausflüge
keineswegs bloß das Interesse der Knaben beanspruchen. Im Gegenteil darf
man annehmen, daß Mädchen, die man im allgemeinen mehr von derartigen
Veranstaltungen fernzuhalten pflegt als Knaben, gerade deswegen den sen-
sationellen Reiz eines Nachtausfluges viel stärker empfinden als jene. —
Am 1. August sagten 4, am 13. August 10 Kinder aus, daß sie ganz all-
gemein Nachtausflüge allen andern vorzögen. — Angesichts all dieser über-
einstimmenden Urteile glaube ich als zweites Resultat unserer Untersuchung
1) So nennen wir der Kürze halber anderthalbtägige Ausflüge, die am frühen
Nachmittag beginnen und am Spätnachmittag des zweiten Tages enden. Die
Kinder übernachten im Stroh.
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 471
— — — — — ^;^ - — -— —
hinstellen zu dürfen, daß neben den Wasserfahrten die Nachtausfliige einer
weitgehenden Zustimmung unter unserm Kinderpublikum begegnen.
Bemerkenswert unter den Angaben des zweiten Versuchstages sind sodann
die folgenden beiden: 23 Kinder stimmen für die Fischbecker Heide, 11 für
das Ziel „Fuchsberg — Forst Höpen". Das erste Ziel wurde erst 5 Tage
vorher aufgesucht und war für Inhaber von Dauerkarten der letzte Ausflug,
das andere lag 8 Tage zurück und galt für die gleiche Dauerkarte, war
also für diese Kinder ihr vorletztes Ziel. Weil man nicht annehmen darf,
daß das Erinnerungsbild nach einem so kurzen Zeitraum sich genügend ab-
geklärt hatte und für diese Ausflüge eine Nachprüfung durch ein zweites
Urteil nicht vorliegt, wird man diese Angaben kaum benutzen dürfen. —
Alle weiteren unter Punkt I gemachten Aussagen sind von geringerem In-
teresse und ohne grundlegende Bedeutung. Zu erwähnen wäre noch, daß
das Zahlenverhältnis von Knaben und Mädchen nirgendwo etwas Bemerkens-
wertes aufweist.
Während die Bearbeitung dieses einen Punktes verhältnismäßig einfach
sich gestaltete, komplizierte sich die Registrierung bei der II. und III. Frage:
„Was gefällt dir auf unsern Ausflügen am meisten? Warum ge-
fällt es dir?" und „Was hat dir heute nicht gefallen?" Unter II war
nunmehr alles, was an positiven Urteilen aus dem Versuch sich ergab,
zusammenzutragen, unter III waren alle negativen Urteile zu sammeln, alle
ablehnenden Äußerungen. Um inhaltlich Zusammengehöriges nicht ausein-
anderreißen zu müssen, wird man mir gestatten, Punkt II und III neben-
einander darzustellen.
Erfreulich ist zunächst, daß unter den mehr als 2000 auf diese Weise
gewonnenen Kinderurteilen 427 ablehnenden nahezu 1600 anerkennende
gegenüberstehen, erfreulich als kindliche Bestätigung der überwiegend posi-
tiven Werte unserer Ausflugsarbeit. Interessant aber ist die Verteilung
dieser Urteile auf die Geschlechter. Zunächst bei Frage II. Am
ersten Versuchstage lieferten hierzu 171 Knaben insgesamt 360 Urteile.
Die durchschnittliche Zahl der Antworten, die auf jeden fiel, war demnach
2,1. Dem standen am gleichen Tage die Mädchen mit durchschnittlich
3,0 Antworten gegenüber. Am zweiten Versuchstage waren die entsprechen-
den Zahlen 1,8 und 2,5. Das Resultat beider Tage zusammengezogen er-
gibt, daß die Zahl der abgegebenen Urteile bei den Knaben im Durchschnitt
1,9, bei den Mädchen 2,7 betrug, d. h. auf 2 Antworten der Knaben kamen
etwa 3 der Mädchen.
Bei Frage III waren die entsprechenden Zahlen am ersten Tage 0,6 bei
den Knaben, 1,1 bei den Mädchen, am zweiten Tage 0,4 und 0,6. Gesamt-
resultat beider Ausflüge: Jeder Knabe 0,5 negative Urteile, jedes Mädchen
0,8, d. h. wieder: Auf 2 Antworten der Knaben kommen etwa 3 der Mäd-
chen. — Was oben bei der Erörterung der Antworten unter I angedeutet
wurde, erfährt somit hierdurch eine gewisse Bestätigung: Knaben scheinen
in der Tat in ihrer Kritik — sei sie nun anerkennender oder ablehnender
Natur — oberflächlicher, gleichgültiger zu sein. Eine geringere Urteils-
fähigkeit der Knaben läßt sich daraus nicht ohne weiteres herleiten.
Aber was den Mädchen zur Klarheit wird und sich ihnen sprachlich for-
472 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
muliert, darüber mögen Knaben, in deren Unterbewußtsein vielleicht ähn-
liche Gefühle schwingen, nicht erst nachdenken. Es scheint sich demnach
a,u8 unserm Versuch zu bestätigen, daß Mädchen nachdenklicher, zum min-
desten offenbarungsbedürftiger, mitteilsamer veranlagt sind als Knaben. —
Was die Zahl der abgegebenen Urteile nach Altersstufen betrifft, so läßt
sich hier, wie zu erwarten, im allgemeinen eine deutliche Zunahme ent-
sprechend dem Alter wahrnehmen.
Unter den Antworten auf die II. Frage nimmt nun eine eine bevorzugte
Stellung ein — alle, die in der praktischen Ausflugsarbeit stehen, werden
das als selbstverständlich hinnehmen — : „Das Spielen gefällt mir an
den Ausflügen." Wer mit dem Sprachschatz unserer Kinder einigermaßen
vertraut ist, der weiß, daß, wenn auf einem Ausflug vom Spielen gesprochen
wird, immer Bewegungsspiele gemeint sind, wie Jäger und Hase, „Insche^)
und Trapper", Grenzwächter, Bergstürmen, Kriegspielen usw. Andersartige,
wie Gesellschafts- und Unterhaltungsspiele, werden immer besonders charak-
terisiert. Bei einer Anzahl von Kindern löst der bloße Gedanke an das
Spiel einen solchen Wirbelsturm von Lustgefühlen aus, daß sie es sich
nicht versagen können, ihr ganzes spielvolles Herz auszuschütten. So kom-
men solche Leistungen zustande wie die des dreizehnjährigen Knaben E. W.,
der in anerkennenswerter Gewissenhaftigkeit den ganzen Bogen benutzt, um
ihn mit einer detaillierten Beschreibung von dem Verlauf seines Kriegspiels
zu füllen:
„Der Ausflug am 8. August 1912 nach Fischbecker Heide hat mir am
besten gefallen. Weil wir uns in zwei Abteilungen eingeteilt haben, und
dann mußte die eine Abteilung die andere suchen. Wenn sie nun die
Abteilung gefunden hatte, so mußte sie einen Angriff versuchen, und wer
die meisten gefangen nahm, hatte das Spiel gewonnen. Es wurden drei
weggeschickt, die sich verstecken mußten, und wenn sie gesehen wurden,
mußten sie da sitzen bleiben. Dann versteckten die drei sich weit weg
vom Lager. Dann schickten die übrigen Patrouillen aus, damit sie uns
suchen sollten. Als sie uns gefangen genommen hatten, kamen die drei
vorm Gericht. Der eine wurde zum Tode verurteilt. Der andere wurde
am Baum gebunden, und einer mußte ihn befreien. Dann kam die
andere Partei wieder hinter der einen. Wenn sie ihn zu fassen kriegen,
wurde er wieder vors Gericht geladen und dann doppelt bestraft. Der
andere, der ihn befreit hatte, wurde aufgehängt. Diesen Ausflug habe
ich bei Herrn .... gemacht."
Um eine Übersicht über die Verteilung der ausgesprochenen Urteile auf
die Altersstufen zu [gewinnen, teile ich die Kinder in 8 Gruppen ein,
entsprechend den Jahresstufen von 7 bis 14. Die wenigen Kinder von
6 und 15 Jahren sind den 7- bezw. 14 jährigen angegliedert. Die Zahlen
der ersten beiden Altersstufen, besonders der ersten, müssen mit Vorsicht
hingenommen werden, weil es sich hier um die Angaben nur weniger Kinder
handelt, also Zufallsresultate sehr viel wahrscheinlicher sind als bei den
1) Indianer.
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwandems.
473
übrigen Altersstufen, bei denen man durchaus mit einem natürliclien, durch
die größere Zahl gegebenen Ausgleich rechnen kann.
Alter
6u.
7
8
9
10
11
12
13
14
u.
15
Durch-
schnitt
..Ver,uohstag..{KnaW
2.Versuohstag..{Knabe„_^
50
100
25
57
50
30
25
59
44
69
47
36
55
87
61
39
53
89
61
55
71
75
69
62
60
67
67
66
78
64
73
54
58
69
59
53
Prozente
Die vorstehende Tabelle gibt, in Prozente umgerechnet, die Zahl der
Kinder an, die das Spiel in positivem Sinne hervorheben. Die Prozente
beziehen sich auf die Gesamtzahl der Knaben bzw. Mädchen der jeweiligen
Altersstufe, die sich an dem betr. Ausfluge beteiligt haben, so daß z. B. am
ersten Tage von allen Knaben im Alter von 6 und 7 Jahren, die sich be-
teiligten, 50 Proz. , das ist die Hälfte, das Spielen auf dem Ausfluge
rühmen usw. Danach ergibt sich bei den Knaben des ersten Tages ein
deutliches Aufsteigen der Linie mit dem Alter, ein zweifelsohne höchst
überraschendes Ergebnis. Am zweiten Tage ist bei den Knaben die Steigung
noch deutlicher und kaum unterbrochen. Auffallend ist die Übereinstimmung
der Durchschnittszahl beider Tage: Fast genau beidemale ^/s aller Knaben
heben das Spiel als etwas ihnen an unseren Ausflügen Erfreuliches hervor.
Die entsprechenden Zahlen bei den Mädchen zeigen zunächst wiederum
ein deutliches Aufsteigen; dann tritt eine Senkung ein, am ersten Tage
früher, am zweiten ganz nach dem Ende hin. Beidemale aber führt die
Senkung der Kurve nicht unter 50 hinunter. Die Durchschnittszahlen
zeigen, daß auch über die Hälfte aller Mädchen das Spiel in anerkennendem
Sinne erwähnen.
Aus diesen Feststellungen folgt zweierlei: Es ist falsch anzunehmen, daß
Mädchen, denen Gelegenheit zu freier körperlicher Betätigung gegeben wird,
im allgemeinen erheblich geringeres Wohlgefallen an Bewegungsspielen finden
als Knaben. Zweitens ist auch die Annahme falsch, daß bei Knaben im
Schulpflichtalter mit zunehmenden Jahren das Interesse für Bewegungsspiele
sich verringere; gerade das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Bei den
Mädchen jedoch scheinen gegen Ende der Schulzeit diese Interessen teil-
weise andersartigen zu weichen, nehmen aber selbst dann noch einen breiten
Raum ein im Interessenkreise des Kindes.
Nun ist das Bewegungsspiel nur eine Äußerung — auf dem Ausfluge
freilich wohl die hervortretendste — des kindlichen Triebes nach körper-
licher Betätigung überhaupt. Wenn ein Kind z. B. schreibt: „Mir
hat heute das Herumsitzen nicht gefallen; ich möchte lieber herumspringen
und -toben," so geht daraus hervor, daß das Kind zwar ausgiebige körper-
liche Bewegung sich wünscht; daß diese durch ein organisiertes Spiel auch
planvoll gemacht werde, scheint ihm jedoch nicht unbedingt erforderlich. In
der Tat legen eine Reihe'^von weiteren Urteilen beredtes Zeugnis dafür ab, daß
dieser körperliche Betätigungstrieb des Kindes auf die mannigfaltigste Weise
474
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
sich zu äußern versteht. 28 Knaben und 18 Mädchen freuen sich am
ersten Tage über das Bergeklettern und -hinabrutschen und -laufen, 19 Kn.
und 47 Md. am zweiten Tage. Das Marschieren, das Wandern an sich
wird gerühmt von 15, 10, 25, 22 Kindern (gleiche Anordnung). Große
Zustimmung findet das Waten mit 30, 27, 17, 20 Stimmen. Nicht viel
geringer (geringer wohl nur, weil selten gestattet) ist bei den Knaben die
Begeisterung für das Baden, das 13 und 28 Anhänger findet, die dann,
entrüstet über das leider wohl notwendige Badeverbot, ihren Enttäuschungs-
gefühlen in manchmal arg temperamentvoller Weise Luft machen und durch
die Größe der gewählten Schriftzüge, mehrfaches Unterstreichen und Hinzu-
fügung einer Summe von Ausrufungszeichen die innere Bedeutung ihrer
Worte glauben äußerlich markieren zu können. — Einige Knaben begeistern
sich am Rudern. 9 bzw. 10 Mädchen finden Wohlgefallen am Kreisspiel
und Tanz. Vereinzelt sind erwähnt: Springen und Toben, Barfußgehen,
Grubenspringen, Umherstreifen durch die Büsche u. a. m.
Insgesamt bezogen sich auf körperliche Tätigkeiten 201, 145, 239, 211
Urteile, das sind am ersten Tage 51 Proz., am zweiten Tage 49 Proz., also
die Hälfte aller Urteile.
Alter
6u.
7
8
9
10
11
12
13
14
u.
15
Durch-
schnitt
1. Versuchstag.. {g-Sa
2. Versuohstag..{ Knaben^
75
75
75
60
72
57
55
60
63
58
59
41
61
48
60
38
50
43
65
41
54
41
56
44
47
40
51
37
43
36
50
46
56
45
57
43
Prozente
Im einzelnen zeigt die vorstehende Tabelle in Prozenten das Verhältnis
der anerkennenden Urteile, die sich auf körperliche Tätigkeit beziehen, zu
der Gesamtzahl aller gefällten positiven Urteile der betr. Altersstufe. —
Bei den Knaben beobachtet man ein deutliches Abschwellen mit zunehmen-
dem Alter. Das steht scheinbar im Widerspruch zu der vorhin festgestellten
Tatsache, daß bei Knaben das Interesse für Körperspiele mit dem Alter
eher zu- als abnehme. Aber nur scheinbar! Denn hier sind die Zahlen
eben bezogen auf die Gesamtzahl der Urteile, nicht, wie vorhin, auf die
Zahl der beteiligten Kinder. Zwar ist das Interesse für körperliche Betäti-
gung geblieben oder gar stärker geworden; aber mit dem Alter mehrt sich
die Zahl der Interessen überhaupt, und so treten die ersteren — relativ,
nicht absolut! — mehr und mehr zurück. Ahnlich läßt sich bei den Mädchen
am ersten Tage eine deutliche Senkung erkennen; am zweiten Tage ist die
Kurve unruhiger und eine Gesetzmäßigkeit kaum ersichtlich. — Bemerkens-
wert ist die Übereinstimmung der Durchschnittszahlen beider Tage, bei den
Knaben sowohl wie bei den Mädchen; bei diesen jedesmal mehr als 10 Proz.
weniger als bei den Knaben. Wenn schon, wie wir gesehen haben, die
Mädchen in bezug auf körperliche Betätigung nicht beträchtlich weniger
interessiert sind als Knaben, so sind sie augenscheinlich vielseitiger, und
jene Interessen treten infolgedessen im Verhältnis weniger hervor.
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 475
Zur Ergänzung und Bestätigung unserer Ergebnisse mögen wir gleich
hier die unter Frage III abgegebenen negativen Urteile heranziehen, so-
weit sie körperliche Tätigkeiten betreffen. 5 Kinder (4 Kn., 1 Md.)
beschweren sich am ersten Tage über das „ewige Spielen" und über Spiel-
zwang. 2 Kinder am ersten, 4 am zweiten Tage mögen nicht Bergesteigen,
3 Mädchen wollen nichts von Tänzen und Kreisspielen wissen. Eine größere
Zahl aber ist unzufrieden mit der ihr zugemuteten Marschleistung: 3 Knaben
und 8 Mädchen am ersten, 14 Knaben und 34 Mädchen am zweiten Tage,
wo die Marschleistung allerdings auch erheblich größer gewesen sein wird,
wenn die betreffenden Gruppen das angesetzte Ziel (Kiekeberg — Rosengarten)
wirklich aufgesucht haben. Irgendeine Gesetzmäßigkeit in der Verteilung
auf die einzelnen Altersstufen ist hier nicht zu erkennen. Die übrigen in
diese Gruppe gehörigen Urteile sind nur von einzelnen Kindern ausge-
sprochen worden und ohne Bedeutung. Ich darf sie deshalb verschweigen.
Zum Vergleich lasse ich in der festgesetzten Reihenfolge die absolute
Zahl der abgegebenen positiven und negativen Urteile, soweit sie körper-
liche Betätigung betreffen, unter Voranstellung der ersteren nebeneinander
folgen: 201—13, 145—14, 239—22, 211—40. Man sieht, daß die ab-
lehnenden Äußerungen einen geringen Bruchteil der anerkennenden ausmachen,
eine Bestätigung dafür, daß Kinder beiderlei Geschlechts körperlicher Bewegung
durchweg zugeneigt sind und nur in Ausnahmefällen, wie bei Überanstrengung,
sich dagegen wehren. Daß diese bei Mädchen wegen ihrer zarteren Kon-
stitution im allgemeinen leichter eintritt als bei Knaben, ist bekannt.
Der Interessengruppe, mit der wir es bisher ausschließlich zu tun hatten,
der bedeutungsvollsten und am klarsten von allen übrigen abgrenzbaren,
stehen nun noch eine Reihe anderer gegenüber. Ich nenne des inneren
Zusammenhangs willen zuerst die Gruppe der Urteile, die sich auf körper-
liche Erholung und Ruhe beziehen. Im ganzen wird 6 mal von Knaben,
14 mal von Mädchen die lange Zeit des Lagerns auf einem Platze ge-
rühmt. Ich weiß, daß darin sehr wohl ein Lob des Spiels liegen kann, das
während dieser Zeit ausgeführt worden ist, daß nicht ohne weiteres ein
Rühmen körperlicher Passivität darin zu liegen braucht. Dennoch konnte
ich diese Urteile nicht wohl an anderer Stelle unterbringen. Die mäßige
Marschleistung wird 2 mal von den Knaben, 12 mal von den Mädchen an-
erkannt. Ihre Freude über die schöne Mahlzeit im Freien drücken aus
2 Knaben und 7 Mädchen. 3 Knaben und 4 Mädchen mochten gern in
„in der Sonne" oder „im Grünen" liegen. — Aber was dem einen angenehm
ist, das ist dem anderen Grund zur Klage. 2 Knaben und 7 Mädchen be-
schweren sich über die lange Lagerzeit. 5 Knaben und 6 Mädchen klagen
darüber, daß gar nicht oder nach ihrer Meinung zu wenig gespielt worden
ist. 9 Knaben und 4 Mädchen stellen mit Entrüstung fest, daß das Baden
verboten ist und versuchen mit ihrer ganzen Beredsamkeit darzutun, daß
diese Vereinsverordnung von Grund aus verfehlt sei.
Bei den Knaben des ersten Ausflugs betrug die Summe der hierher ge-
hörigen Urteile, soweit sie anerkennender Natur waren, 9; soweit sie sich
gegen die zu weit gehende Ruhe und Beschränkung der körperlichen Be-
tätigung wandten, gleichfalls 9. Weiter lauten die entsprechenden Zahlen
476 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
unter Voranstellung der positiven Urteile: 21 — 16, 5 — 11, 14 — 5, so daß
sie sich annähernd aufheben. Bei einer prozentmäßigen Berechnung dieser
Werte, bezogen auf die Summe aller positiven bzw. negativen Urteile, ergibt
sich in dieser Gruppe natürlich ein vollständiges Übergewicht der ablehnen-
den Urteile (2 — 9, 7 — 17, 1 — 11, 3 — 4) ein neues Moment, das wiederum
das Überwiegen der Interessen der körperlichen Betätigung bei Kindern
erhärtet.'
Eine besondere Abteilung ließ sich aus den Urteilen bilden, die sich auf
die mehr unterhaltende Beschäftigung der Wandergruppe bezogen.
Über allerlei Unterhaltungs- und Scherzspiele, vorgetragene und vorgelesene
Geschichten und Witze äußern sich anerkennend 3 Knaben und 12 Mädchen,
ablehnend 1 Knabe. Man erkennt ein deutliches Überwiegen dahingehender
Interessen bei den Mädchen. Interessant sind die Meinungen der Kinder
über das Singen beim Wandern. Es rühmen das Singen 11 Knaben, aber
36 Mädchen, mehr als dreimal soviel. Wer über praktische Erfahrung ver-
fügt, kann bestätigen, wie außerordentlich viel schwerer es ist, eine nicht
schon gut geschulte Knabengruppe zum Singen zu begeistern als eine
Mädchengruppe. 1 Knabe klagt, daß zu viel, 1 Mädchen, daß zu wenig
gesungen werde.
Zu einer weiteren Gruppe lassen sich die auftauchenden Interessen des
Besitzerwerbs zusammenfassen. 4 Knaben können die Äpfel und Birnen
nicht vergessen, die sie unterwegs bekommen haben; andere freuen sich
über schönes Trinkwasser, das sie unterwegs gefunden haben, über geschenkten
Sauerbrunnen, gefundene Muscheln und Tannenzapfen. 6 Knaben sind auf
der Suche nach Tieren und Pflanzen oder gar auf der Eichhörnchenjagd
gewesen. Man kann versucht sein, einzelne dieser Interessen mit unter die
körperlichen zu bringen. Vermutlich gehen hier, wie überhaupt in vielen
Fällen, mehrere Interessenmotive nebeneinander her. 5 Knaben und 6 Mädchen
berichten, daß sie Blumen und Heide gepflückt haben. Aber die Zahl dieser
ist gering gegenüber denjenigen, die von geplünderten Bickbeer- und
Himbeersträuchern zu erzählen wissen: 24 Knaben, 38 Mädchen. Das sind,
die Gesamtbeteiligungsziffern der Geschlechter berücksichtigt, genau doppelt
soviel Mädchen als Knaben. Ein exakter Nachweis für die größere Empfäng-
lichkeit des weiblichen Geschlechts gegenüber allem Süßen und Naschbaren!
Pädagogisch bedeutsamer als alle vorangegangenen ist die Gruppe der
Urteile, die sich auf von den Kindern angestellte Beobachtungen, auf
allerlei Geschautes, passiv Erlebtes beziehen. — Ein zehnjähriger Knabe
antwortet unter II: „Mir gefällt, daß wir ordentlich marschieren. Dann
kriegen wir ordentlich was zu sehen." Also ein deutliches intellektuelles
Interesse, ein Ausdruck der Freude an der Bereicherung des Vorstellungs-
schatzes. Ahnlich äußert sich ein zwölfjähriges Mädchen: „Mir gefällt am
meisten auf den Ausflügen, daß ich die schöne Gegend besehen kann. Da-
mit ich es auch lernen und später auch Fräulein werden kann." Einzelne
Kinder führen bestimmte Sehenswürdigkeiten an, die ihnen in der Erinne-
rung geblieben sind. Das Schloß (gemeint ist wohl das Mausoleum) in
Friedrichsruh wird einmal, die Kugelbake, die Kanonen in Cuxhaven werden
mehrfach erwähnt. Andere Kinder berichten erfreut, daß sie ein Dorf be-
l
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 477
sichtigt haben oder in einem Bauernhaus gewesen sind. Derartige Urteile
werden 10 mal von Knaben, 5 mal von Mädchen ausgesprochen. Daß diese
Interessen nicht auf Ortlichkeit und Landschaft sich beschränken, beweisen
u. a. die Ausführungen eines Selektaners, in denen es an einer Stelle heißt:
„Ferner hat mir der Ausflug noch gefallen, weil unser Führer uns alles er-
klärte, wonach wir fragten, und oft zeigte er uns auch noch etwas, was
wir nicht gesehen hätten, z. B. das Zerpflücken des Frauenhaarmooses."
Das im allgemeinen schöne Wetter, die gute, gesunde Luft preisen
13 mal die Knaben, 20 mal die Mädchen. Man hat hier zuweilen, wie häu-
figer bei Urteilen dieser Gattung, den Eindruck, daß sie nicht ganz frei von
angelernter oder angenommener Phrase seien. Überzeugender wirkt es
jedenfalls, wenn am ersten Tage 50 Knaben und 47 Mädchen, am zweiten
Tage 11 Knaben und 27 Mädchen über das regnerische Wetter klagen.
An beiden Tagen fiel kurze Zeit ein leichter Regen.
Eine Reihe von Urteilen ergibt die. Wertschätzung, welcher die verschie-
denen Landschaftsformen begegneten. 11 Knaben und 4 Mädchen lieben
den Strand und bestätigen somit das unter I gewonnene Ergebnis. Andere
rühmen Berge, Moor, Wiese und Feld, 10 Knaben und 18 Mädchen die
Heide, 37 Knaben und 67 Mädchen den Wald, der damit an erster Stelle
steht. — Bei der Registrierung dieser Antworten kam ich wiederholt in
die Verlegenheit, eine für die Beurteilung wichtige Entscheidung aufs Gerate-
wohl treffen zu müssen. Wenn ein kleiner Junge seine Wanderfreude be-
kräftigt mit den Worten: „ — wegen daß wir soviel Wald haben," so glaube
ich eine ehrliche primitive Freude am Wald daraus entnehmen zu können.
Häufiger aber taucht der Satz auf: „ — weil wir im Walde gespielt haben."
Es handelt sich für mich nun darum zu entscheiden, ob der Nachdruck
auf das Wort „Wald" oder das Wort „Spiel" zu legen war. Wenn ich auch
nach dem Ergebnis unserer Feststellungen und nach meiner eigenen Erfah-
rung annehmen mußte, daß die Vorstellung des Spiels alle anderen neben
sich verdunkelt, so mußte ich doch mit der Möglichkeit rechnen, daß die
Umgebung, ganz abgesehen davon, daß der Wald als geeignete Spielgelegen-
heit eine hohe Wertschätuing genießt, doch dem Spiel einen eigenartigen
Reiz verlieh, der aber als nicht greifbare zarte Gefühlsvibration im Unter-
bewußtsein verblieb. Ich habe in allen diesen Fällen einen positiven Gefühls-
ton dem Walde gegenüber angenommen und dementsprechend vermerkt,
obwohl ich wußte, daß in vielen, vielleicht den meisten Fällen, das Wort
„Wald" in dem angegebenen Zusammenhang keine größere Bedeutung als
die eines schmückenden Beiworts beanspruchen darf. Man wird also von
den großen Zahlen, die scheinbar eine schwärmerische Begeisterung unserer
Kinder für den Wald verraten, ein gut Stück abstrahieren müssen.
Damit soll nicht gesagt sein, daß Naturgefühle bei Kindern eine Un-
möglichkeit seien. Oder ist es nicht ein Ausdruck des Gefühls der Be-
freiung von dem atembeklemmenden Druck der Großstadt, eines Gefühls,
dem unsrigen ganz ähnlich, wenn eine kleine Elfjährige sagt: „Der Aus-
flug nach dem Kiekeberg war der beste. Weil ich hier Berge und Heide
gesehen habe; denn in der Stadt, wo ich wohne, sehe ich doch nur Häuser!"
Oder wenn ein Zwölfjähriger seine Vorliebe für den Cuxhavenausflug mit
478 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
den Worten begründet: „Ich hatte mich da freier gefühlt." Ich kann
nicht umhin, eine Andeutung des Gefühls beim Anblick des Meeres darin
zu erblicken, das uns Erwachsenen allen bekannt ist und das in sehnsuchts-
voller Hingebung an die Größe der Unendlichkeit die Brust uns schwellen macht.
Auch einzelnen Erscheinungen der Naturwelt gegenüber offenbaren manche
Kinder ein unerwartetes Verständnis, ein überraschendes Mitfühlen. Ein
dreizehnjähriges Mädchen sagt von seiner Cuxhavenfahrt: „Man sah, wie
man in die Nähe der Nordsee kam, wie die Wellen aufstiegen, und es sah
aus, als wenn es Schneeberge wären." Wenn man auch solch — ich möchte
es fast nennen: poetischem Erfassen der Natur selten begegnet, so darf
man doch aus der Seltenheit ihrer Formulierung nicht das Nichtvorhanden-
sein solcher Naturgefühle bei Kindern herleiten wollen. — Ein paar weitere
Zeugnisse liebevoller Naturbeobachtung wird man mir anzuführen gestatten. —
Ein neunjähriger Junge rühmt den Ausflug nach dem Alstertal: „Weil wir
gewatet haben. Und die Schleuse rauschte so laut, und das Wasser stieg
sehr hoch." Ein zwölfjähriges Mädchen mag gern im Wald sein, „weil er
grün ist, weil die Bäume so rauschen." Ein zwei Jahre jüngeres Mädchen
weiß davon zu sagen: „Wenn wir durch den Tannenwald gehen, riecht es
sehr schön." Eine Beobachtung, auf die bei dem rückgebildeten Geruch-
sinn des Großstädters die wenigsten Kinder verfallen. — Daß die Natur-
beobachtung zuweilen gar zu einem liebevollen Versenken in das Leben der
Kleinwelt führt, zeigt die Äußerung eines Elfjährigen: „Wenn man ruhig
im Versteck liegt, macht man oft allerlei Beobachtungen." — An weiteren
Erlebnissen und Beobachtungen ähnlicher Art greife ich heraus: Ein ein-
samer Aufenthalt in der Heide und im Walde, der frühe Morgen, die abend-
liche Sonne, bewundernswerte Tiere, Beobachtungen von Kühen und Stör-
chen auf der Wiese.
Daß bei der immerhin groben Art der Feststellung durch unser Verfahren
wir im allgemeinen nur die am leichtesten zutage tretenden, gewisser-
maßen voluminösesten Interessen der Kinder auffangen konnten, daß hin-
gegen feinere Gefühlsregungen, wie die zuletzt charakterisierten, durch die
Maschen des Netzes schlüpfen mußten, kann niemanden wundernehmen.
Unsere wenig präzise und spezialisierte Fragestellung bedeutete eine so ge-
ringe Reizung des kindlichen Vorstellungsinhalts, daß nur die mit einem
starken natürlichen Auftrieb versehenen Vorstellungen über die Bewußtseins-
schwelle drängten. Das ist der Vorzug unseres Versuchs und ist auch sein
Mangel. Wenn dabei auch Vorstellungen mit nach oben gerissen wurden,
deren Erscheinen wir kaum erwarten konnten, so mögen wir einerseits
dieser quantitativ zwar weniger ergiebigen, aber inhaltlich bedeutsamen
Ausbeute uns freuen; andererseits dürfen wir vermuten, daß in den Tiefen
des kindlichen Bewußtseins Vorgänge sich abspielen, die sich bisher im all-
gemeinen unserer Kenntnis entziehen, und man wird über feinere Methoden
nachsinnen müssen, um das vielumstrittene ^und angezweifelte Verhältnis
des Kindes zur Natur sorgfältiger und einwandfreier beobachten und fest-
stellen zu können.
Eigenartig wirken neben diesen mannigfachen Lustbezeugungen die ver-
einzelt auftauchenden und meist reichlich naiv anmutenden negativen
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 479
Urteile dieser Gattung. So schreibt ein vierzehnjähriger Junge: „Es
gefällt mir nicht, weil in den Wäldern so viele Tannennadeln liegen.
Will ich ein Berg hinaufgehen, so rutsch ich wieder hinunter." — Ander©
Vereinzelte beklagen sich über nassen und „matschigen" Boden, die stechen-
den Tannennadeln, über Ameisen und „andere häßliche Tiere." Ein neun-
jähriges Mädchen jammert: „Die Bienen haben mir gepiert." Damit ist
diese Gattung Urteile genügend charakterisiert, und ich kann darüber hin-
weggehen.
Ganz interessant, weil vorher Festgestelltes bestätigend, ist die Meinung
der Kinder über die angenehmste Fahrgelegenheit. 23 Knaben und
33 Mädchen ziehen eine Dampferfahrt jeder anderen vor. Eisenbahnfahrten
finden mir 7 Freunde. Dagegen protestieren 6 Kinder gegen Straßenbahn-
fahrten, die nicht einen Verteidiger finden. Ein Knabe klagt über die
„Stickluft" in den Wagen. Der Grund für die bevorzugte Stellung der
Wasserfahrten wird wohl ganz richtig von einem dreizehnjährigen Mädchen
angegeben, wenn es sagt: „— weil man dann mehr von der Natur hat
und spielen kann." Die geringere Behinderung der Bewegungsfreiheit auf
dem Dampfer wird für die Stellungnahme der Kinder ein ausschlaggebendes
Moment gewesen sein.
Ein besonderes Interesse dürfen diejenigen Urteile für uns haben, die
sich mit der Organisation und der Ausführung unserer Ausflüge
im besonderen beschäftigen. — Zunächst zur Frage des Einkehre ns.
8 Knaben nnd 13 Mädchen sind fürs Einkehren und beklagen sich teil-
weise darüber, daß ihre Gruppe gar nicht oder erst so spät am Tage ein-
gekehrt ist. Hingegen lehnen 12 Knaben und 5 Mädchen grundsätzlich
das Einkehren ab, ein erfreuliches Kennzeichen dafür, daß gesunde Wander-
sitte auch unter unsern Kindern immer weiter um. sich greift. — 6 Knaben
und 17 Mädchen sind darüber '^ungehalten , daß das Abpflücken von
Blättern, Zweigen, Blumen usw. durch Vereinsverordnung verboten ist. Das
auffällige Überwiegen der Mädchen ist auch hier charakteristisch. Dagegen
versichern 2 Kinder (1 Knabe, 1 Mädchen), daß sie das Verbot „sehr ver-
nünftig" finden. Also dürfen wir uns trösten. 3 mal wird gewünscht, daß
die Ausflüge recht früh des Morgens beginnen möchten. Die Billigkeit der
Ausflüge wird 6 mal, die Austeilung von Verbandsdosen an die Führer (ent-
haltend Pflaster, Binde usw.) 2 mal rühmend anerkannt. Einen neunjährigen
Knaben freut es, daß er unterwegs den Fragebogen ausfüllen muß, 4 Knaben
und 2 Mädchen haben sich darüber geärgert. — Auch über die Zusammen-
setzung der Gruppen äußern sich die Kinder. Eine dreizehnjährige
Selektanerin sagt darüber: „Daß nicht so viele Kinder in einer Gruppe ge-
nommen werden, gefällt mir. Werden viele Kinder in einer Gruppe genom-
men, so kommen sie nicht mit, und man kann im schönsten Marschieren
stehen bleiben. Sind wenig Kinder in einer Gruppe, so braucht man nicht
so oft nachzuzählen, und wir werden im Singen und Marschieren nicht
gestört. Daß die Gruppen sich nachher verteilen und nicht alle zusammen
bleiben, gefällt mir." Ihrer Meinung sind mehrere; im ganzen äußern sich
11 Kinder lobend über die geringe Gruppenstärke. 4 Kinder beklagen sich
darüber, daß ihre Gruppe zu groß war; nur 1 Junge sähe gerne mehr
480 Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns.
Kinder in der Gruppe. Weitere 9 Kinder wollen von einem Zusammensein
oder einem Zusammenspiel mehrerer Gruppen nichts wissen. Das letztere
wird nur einmal rühmend hervorgehoben. Es scheint also auch in den
Kindern das Bedürfnis vorwiegend dahin zu gehen, den Tag in engum-
schlossenem Kreise zu verleben.
Die Kinder haben durchaus ein Gefühl dafür, wie sehr eine gegenseitige
Vertrautheit die Stimmung einer Wanderung zu heben vermag. 7 mal
wird ausdrücklich hervorgehoben, wie vorteilhaft und schön es sei, wenn
immer dieselben Führer und dieselben Kinder sich^'wieder zusammenfänden.
Ein Kleiner, dem dieses Glück anscheinend selten blüht, berichtet freude-
strahlend, daß er mit seinem Klassenlehrer gewandert sei. — Die frische,
lebensfrohe Stimmung beim Spielen und Wandern wird hier und da sehr
wohl als solche empfunden. „Wir sind alle immer so vergnügt zusammen."
Das ist die einzige Antwort, die ein zwölfjähriges Mädchen auf Frage II
zu geben weiß. Dieser erfreulichen Wirkung des Kinderausflugs auf die
Gemüter verleihen 10 Kinder Ausdruck. 6 mal wird die Freiheit und
Zwanglosigkeit, die in unsern Gruppen herrscht, ausdrücklich anerkennend
hervorgehoben und einigemale zu der schulgemäßen Gepflogenheit in be-
wußten Gegensatz gebracht. — Daß diese Zwanglosigkeit aber bei manchen
Kindern auch ausarten und für die übrigen zur Plage werden kann, dafür
haben auch die Kinder schon ein gesundes Verständnis. 9 Knaben und
5 Mädchen klagen über freches, albernes, launisches, wildes Benehmen
einzelner Kinder. 5 Mädchen bedauern, daß in ihrer Gruppe etwas weg-
genommen sei, 5 anderen Kindern ist das „unvernünftige Gedränge" am
Dampfer oder an der Bahn unangenehm. Ein Selektaner schreibt: „Mir
hat sonst alles gefallen. Bloß daß die Jungen die Verbote und Rufe nicht
beachten. Es wäre wünschenswert, daß solche ungehorsamen Jungen be-
straft würden oder scharf angefaßt würden." Das hört sich recht altklug
an. Und doch, wenn ich an ähnliche Empfindungen denke, die mir im
gleichen Alter wiederholt kamen, so möchte ich annehmen, daß dieser
Junge ein Gefühl, das ihm vielleicht schon lange auf der Seele brannte und
das auszusprechen er sich scheute, in einem unbewachten Augenblick aufs
Papier brachte in der Hoffnung, es nun an die richtige Adresse befördert
zu haben. Die zuweilen recht weichliche Nachgiebigkeit mancher Jugend-
führer gegenüber den Launen der ihnen anvertrauten Jugend, die sich
vielleicht noch gar damit ziert, „moderne" Pädagogik darstellen zu wollen,
muß immer da ihre Grenzen finden, wo der Führer als der mächtigere und
einflußreichere dazu berufen ist, sich zum Bundesgenossen der edleren
Regungen des Kindes zu machen. Er mag dann getrost scharf und rück-
sichtslos gegen alles vorgehen, was diese zu gefährden droht und darf über-
zeugt sein, daß er auch dann noch seine pädagogischen Maßnahmen „vom
Kinde aus" orientiert hat und daß selbst äußerlich widerstrebende Elemente
seinem Tun Verständnis oder gar innere Zustimmung entgegenbringen. In-
sofern ist mir die herangezogene Äußerung des Knaben überaus wertvoll. —
Es scheint überhaupt in dieser Beziehung nicht überall zum besten zu
stehen. Wenn ein Mädchen schreibt: „Wir haben gespielt, Jäger und
Hund. Mir hat das gefallen, weil kein Streit war," so scheint fast daraus
Beiträge zur Psychologie und Pädagogik des Jugendwanderns. 481
_
hervorzugehen, daß nach Meinung des Kindes dieser Verlauf des Spiels als
Ausnahmeerscheinung besondere Erwähnung verdient. — Welchen Einfluß
der Führer durch seine bloße Beteiligung am Spiel auf den Verlauf des-
selben auszuüben imstande ist, bezeugt der Ausspruch eines kleinen Zehn-
jährigen: „Ich mag gern spielen, aber nur, wenn der Lehrer mitspielt, weil
dann keiner mugscht^)." 4 Kinder erheben — berechtigterweise — bittere
Klage über ihren Führer oder ihr „Fräulein", weil [sie sich am Spiel nicht
beteiligen wollten oder gar sie allein gelassen {haben. Dagegen steht das
erfreuliche Zeugnis von 30 Knaben und 44 Mädchen, die aussagen, daß ihr
Führer, ihre Führerin so freundlich und „nett" zu ihnen gewesen sei und
fein mit ihnen gespielt habe, — Man wird mit mir den Eindruck haben,
daß diese schlichten Aussagen uns einen flüchtigen Blick haben tun lassen
in ein bisher besonders wenig bearbeitetes und hochwichtiges Gebiet der
Wanderpädagogik: Das Problem der Bedeutung des Jugendwanderns für
die Charakterentwicklung, die moralische und Willensbildung des Kindes,
dem man künftig m. E. mit ganz besonderem Ernst sich wird zuwenden
müssen.
Mehr um der Kuriosität als der inneren Bedeutung willen erwähne ich
eine letzte Gruppe von Urteilen, derjenigen, die irgendeiner erlebten
Sensation auf der einen, allerlei persönlichem Mißgeschick auf der
andern Seite ihre Entstehung verdanken. „Wir haben das Scharfschießen der
Jäger beobachtet, ein junger Herr spielte die Zupfgeige auf dem Dampfer,
wir sind photographiert worden, haben den Zeppelin gesehen" usw. Derartige
kleine Außergewöhnlichkeiten verleihen bei manchen Kindern dem Ausflug
einen solchen Reiz, daß sie darüber alles andere vergessen. — „Ich bin in
einen Graben oder ins Wasser gefallen, dieses oder jenes Kleidungsstück ist
verloren gegangen oder beschädigt oder beschmutzt, ich habe mir weh getan,
ich bin von meinem Lehrer angeschnauzt worden, habe einen Backs ge-
kriegt, die Kinder haben mich naßgespritzt, ich hatte überhaupt nie Lust."
Solch kleine Leiden und Geringfügigkeiten können unter Umständen doch
den Kindern die Freude erheblich beeinträchtigen.
Damit ist das Ergebnis unseres Versuchs Jim wesentlichen erschöpft.
Manche uns interessierende Frage der Wanderpädagogik ist uns — wenn
wir rückschauend das Gesamtergebnis dieses unseres ersten, zaghaft tasten-
den und gewiß nicht überall einwandfreien Versuchs überblicken — vom Stand-
punkte des Kindes aus in eine neue und eigenartige Beleuchtung gerückt
worden; Dinge, die wir bisher nur ahnen und fühlen konnten, haben sich
uns überraschend bestätigt. Freilich wollen wir uns nicht verhehlen, daß
die Mehrzahl der Probleme noch in sehr unvollkommener Weise einer
Lösung nahegebracht worden sind. Es wird Aufgabe nicht nur der Ver-
einigung, von der diese Anregung ausgeht, sondern aller an der Jugendpflege
interessierten pädagogischen Kreise sein, die hier begonnene Arbeit fortzu-
setzen, auszubauen und für die Praxis fruchtbringend zu gestalten. Mächtig
hat die moderne Jugendpflegebewegung in die Breite sich entwickelt. Daß
die künftige Entwicklung auch in die Tiefe gehe, muß die Sorge der päda-
1) Streit machen, sich trotzig absondern.
Zeitschrift f. pBdaffOff. Psycttologi«. 31
482 I^i® Ermüdung und das Antikenotoxin.
gogischen Welt sein. Gegenüber den vielfacli planlos, mit großer Zielun-
ßicherheit oder irrtümlicher Orientierung arbeitenden Bestrebungen heißt es,
die Bewegung psychologisch zu durchdringen, pädagogisch zu vertiefen,
damit sie zu dem werde, was sie sein könnte und müßte: einer ernst zu
nehmenden pädagogischen Bewegung.
Die Ermüdung und das Antikenotoxin.
Eine Entgegnung.
Von Friedrich Lorentz.
Die von dem Erlanger Gelehrten Prof. Dr. W. Weichardt inaugurierten
Kenotoxinforschungen, über deren Anwendung zur Erforschung der Schüler-
ermüdung ich in dieser Zeitschrift (Jahrg. 13, S. 472 ff.) eingehender berichtet
habe, finden auch außerhalb der speziellen Fachkreise eine immer eingehendere
Beachtung. So erwünscht nun auch solche Nachprüfungen der bislang ge-
machten Beobachtungen von selten der Fachphysiologen und Fachhygieniker
sind, so dürfen dabei doch keineswegs die pädagogischen Anforderungen an
die Schülerexperimente so vernachlässigt werden, wie es augenscheinlich in
einer Arbeit der Fall ist, die neuerdings Dr. Hacker unter dem Titel „Die
Wirkung des Antikenotoxins auf den Menschen" in den „Fortschritten der
Psychologie und ihrer Anwendungen", herausgegeben von Prof. M a r b e
(1914. Bd. IL Heft 6), veröffentlicht hat. Die Hacker sehe Arbeit, die
auch auf meine hier veröffentlichten Beobachtungen, sowie diejenigen eines
anderen pädagogischen Beurteilers Bezug nimmt, wirft anderen Autoren
oberflächliche Ausführung ihrer Versuche vor, während sie selbst zahlreiche
Ungenauigkeiten und Fehlschlüsse enthält, die unbedingt berichtigt werden
müssen.
Herr Hacker weist darauf hin, daß bei den Versuchen über Muskel-
arbeit jede Autosuggestion ausgeschaltet werden müßte. Darauf hat schon
Weichardt verwiesen, wenn er bei seinen ersten Versuchen mit sehr hoch-
wertigen Antikenotoxinpräparaten schreibt: „Das suggestive Moment aus-
zuschalten, gelingt einzig und allein nur dann, wenn das Versuchsindividuum
vollkommen im Unklaren darüber bleibt, worauf es beim Versuche über-
haupt ankommt". Trotzdem behauptet Herr Hacker: „Ob die Versuchs-
personen von der erwarteten Wirkung des Mittels wußten, gibt Weichardt
nicht an".
Aber auch die Meinung, daß es bei der Hantelfußübung gelingt, „bei ent-
sprechender Willensanstrengung das Mehrfache des Erreichbaren zu leisten"
ist, völlig haltlos. Meine zahlreichen Versuche haben dargetan, daß es bei
exakter Ausführung der Hantelfußübung mit absoluter Sicherheit möglich ist,
die muskuläre Höchstleistung zu bestimmen. Jede persönliche Willkür wird
z. B. ausgeschlossen, wenn man die Übung in der Weise modifiziert, daß
die Haltung der Hände und das Emporheben der Füße durch Leinen an
einem im Turnsaal überall vorhandenen Sprunggestell fixiert werden. Das
Herabfallen der Schnur zeigt unwiderleglich das Ende der Übung an; auch
Die Ermüdung und das Antikenotoxin.
483
i8t ein Ausdruck der geleisteten Arbeit in Kilogrammetern hierbei leicht
möglich. Vorbedingung zur Erzielung gleichbleibender Leistungen ist aller-
dings ein gehöriges Training, dessen Durchführung jedem exakten Beob-
achter geläufig sein sollte, um den Übungszuwachs bis auf das geringste
Maß herabzudrücken. Die Hacker sehe Modifikation der Hantelfußübung
(Ausschalten der unteren Körpermuskulatur) ist keineswegs eine Verbesserung
dieser Ermüdungsmaßmethode, da eine ausreichende Toxinproduktion hierbei
nicht erzielt werden kann. Unrichtig ausgeführt, verliert jede Ermüdungs-
maßmethode ihren Wert; sie ist nur brauchbar, wenn vollkommen Trainierte
die Übung (in der von mir vorhin angegebenen Weise) ganz gleichmäßig
wiederholen. Versuchsergebnisse, gewonnen an Individuen, die nur an
2 Tagen an den Versuchen teilnahmen, sowie mit solchen „älteren Versuchs-
personen" (bei Hacker figurieren darunter außer einem 66jährigen, die
Jahre 40, 22 und 43), die äußerst schwer ermüdbar sind, müssen von vorn-
herein als ausschlaggebend abgelehnt werden.
Unklarheit in den serologischen Begriffen beweist Herr Hacker insbe-
sondere durch die Prägung des Satzes: „Daß sich die Wirkung des Anti-
kenotoxins als eines die Antigenbildung (???) anregenden Stoffes gar nicht
deutlich zeigen könne". Der Verfasser zeigt hier, daß ihm geläufige Vor-
stellungen der Immunitätsforschung fehlen. Antikenotoxin ist ja gar nicht
fähig, Antigenbildung zu veranlassen.
Das Wichtigste der Hack er sehen Veröffentlichung ist unzweifelhaft seine
Nachprüfung meiner Schulversuche über Leistungsbeeinflussungen durch
Antikenotoxin.
Herr Hacker legt, und zwar mit Kecht, großen Nachdruck auf die
Rechenergebnisse, welche in nachstehender Tabelle übersichtlich zusammen-
gestellt sind :
Vereuchstag
Morgens
Mittags
Zerstäubung von
Differenz
8V4 Uhr
11 Uhr
Wasser, 8V« Uhr
14. Januar
6964
7508
ohne Antikenotoxin
544
16.
7332
7072
mit „
640
22.
8208
8600
ohne „
392
23. „
8692
9042
mit „
350
24.
9096
9628
ohne „
532
26.
8960
9460
mit .,
500
28. „
9052
9548
ohne „
496
29.
9380
9836
mit „
456
30. „
9336
10044
ohne „
708
31.
9820
10488
mit „
668
Die Hack ersehen Ergebnisse weisen kontinuierliche Zunahme der Leistun-
gen im Laufe der 10 Tage und ganz regelmäßige Mehrleistungen bei den
Mittagversuchen auf. Herr Hacker folgert hieraus das Fehlen jedweder
besonderen Einwirkung, trotzdem am 15., 23., 26., 29. und 31. Januar
Antikenotoxin in der Klasse versprayt wurde. Ich selbst vermag die
kontinuierliche Zunahme der Leistungen nicht ohne weiteres einzig und
31*
484 Über psychische Idiosynkrasien bei Schülern usw.
allein als normalen Leistungszuwachs anzuerkennen; dazu ist diese Zunahme,
in anbetracht der doch vorausgehenden 8 Übungstage, entschieden viel zu
hoch. Die Kinder errechneten am 14. Januar früh 6964 und am 31. Januar
9820, also nahezu 1/3 mehr. Ganz ähnliche Kesultate ergeben die 11 Uhr
Werte. Solche Höchstleistungen habe ich — wie auch neuerdings Marx
Lobsien-Kiel in seiner Entgegnung auf die gleiche Arbeit (s. Archiv für
Pädagogik IL Jahrg. Heft 4) betont — niemals erzielen können, ohne Anti-
kenotoxinwirkung gleichzeitig dabei festzustellen. Viel ungezwungener er-
klärt sich dieses überreichliche Anwachsen der Leistungen, wenn man der
Antikenotoxinwirkung ihren Anteil nicht vorenthält.
Bei seiner Versuchsanordnung hat offenbar Hacker die ihm übrigens
bekannte (s. S. 332) Nachwirkung der Präparate — nach Weichardt bis
ca. 30 Stunden — nicht beachtet, sonst hätte er sich doch sagen müssen,
daß so schnell wiederholte Antikörperanwendung (zumeist am 3ten Tage)
doch den folgenden, angeblich antikenotoxinfreien Tag mit beeinflussen
muß ! Dazu kommt, daß bei so gehäufter Antikenotoxinversprayung ein
Zimmer an den folgenden, sogenannten antikenotoxinfreien Tagen für Leer-
versuche unbrauchbar ist.
Damit fallen alle weiteren Erwägungen bezüglich der Differenzen voll-
kommen; denn die Kinder standen unter einer kontinuierlichen, und
zwar wachsenden Antikenotoxinein Wirkung. Die mit den Hacker sehen
Werten zu erzielende Kurve ist somit eine durch geringen Übungszuwachs
etwas verstärkte prächtige Antikenotoxinkurve, die beste, welche
bisher der Forschung auf diesem Gebiete zu Gebote steht.
Die jüngsten Untersuchungen von Abderhalden über die Abwehr-
fermente des Körpers lassen die Weichardt sehen Ergebnisse in neuem
Licht erscheinen. Es ist daher eine dringende Forderung, daß die Hy-
gieniker und Physiologen die Ergebnisse einer eingehenden Nachprüfung
unterziehen. Aber es dürfen dabei keinesfalls so wichtige Tatsachen der
Immunitätsforschung und der experimentellen Psychologie übersehen werden,
wie es Herr Hacker offenbar getan hat. Aus so magerem Versuchsmaterial
und noch dazu mit wenig trainierten Personen lassen sich keinesfalls der-
artige Schlüsse ziehen.
Über psychische Idiosynkrasien bei Schülern und ihre
heilpädagogischc Behandlung.
Von J. Girstenberg.
Das Wort Idiosynkrasie kommt bekanntlich von dem griechischen t8io<; eigen
und auyxpaatt; Vermischung. Es bedeutet etwa Eigenmischung, d.h. eigentümliche
Mischimg von Körpersäften. Nach einer veralteten medizinischen Ansicht näm-
lich sollten die verschiedenen Mischungen von Körpersäften die Ursachen von
Krankheiten oder krankhaften Zuständen sein. Heute versteht man unter
Idiosynkrasie die eigentümliche, von der Norm abweichende Reaktionsweise
eines Individuums auf bestimmte Reize, die bei normalen Menschen anders wirken.
über psychische Idiosynkrasien bei Schülern usw. 486
^\ • ■
Dem praktischen Arzte ist die idiosynkratisch ausgeprägte Empfindlichkeit
gewisser Personen eine wohlbekannte Erscheinung. Kommt es doch recht häufig
vor, daß Kinder und Erwachsene nach dem Genüsse von Erdbeeren, Birnen,
Hummern, Krebsen usw. in charakteristischerWeise von Nesselsucht oder anderen
Hautausschlägen befallen werden, ist doch die übermäßige Empfindlichkeit
vieler Säuglinge gegen Kuhmilch, femer die Arzneimittel-Idiosynkrasie gegenüber
der offiziellen Dosierung ohne Zweifel auch auf eine pathologische Disposition
zurückzuführen. Kinder leiden, wie schon angedeutet, besonders häufig an Idio-
synkrasien. So ist Strophulus (Schälknötchen) bei Kindern oft der Ausdruck
einer idiosynkratischen Beschaffenheit, wobei es sich in diesem Falle um so-
genannte Organidiosynkrasie handelt: die Haut allein reagiert auf Ernähnmgs-
störungen so stark und nachhaltig, daß es zu wirklichen entzündlichen Prozessen,
zur Bildung von Strophuluspapeln kommt. Allgemein bekannt ist übrigens auch
die abnorme Art, in der manche Individuen auf gewisse Gerüche wie Heu- und
Lindenduft reagieren (Heufieber, Lindenkrankheit).
Außer der pathologisch gesteigerten Reaktion auf materielle Reize, der so-
genannten somatischen Idiosynkrasie, gibt es aber auch ausgesprochen psychiscbe
Idiosynkrasien, die einen seelischen Widerwillen gegen gewisse Vorstellungen
bedeuten. Diese psychischen Idiosynkrasien beruhen ohne Zweifel auf einer
pathologisch gesteigerten Reizbarkeit des Nervensystems und finden sich spe-
ziell bei neurasthenischen und psychasthenischen Kindern in Verbindung mit
anderen psychopathischen Stigmaten.
Einige Beispiele aus der heilpädagogischen Praxis mögen als Beleg dienen.
Heinrich X., 14 Jahre alt, schwach begabt, kommt in keiner öffentlichen Schule
mit. Sprache unzusammenhängend, beinahe etwas polternd, besonders beim
Lesen. Schrift trotz unaufhörlicher Übungen und Besserungsversuche unordent-
lich : die einzelnen Buchstaben werden exzessiv auseinandergezogen, sind ungleich
in Größe und Lage. H. kann auch, obgleich er sehr gute Augen hat, die Linie nicht
einhalten. Offenbar ist die Koordination der einzelnen Muskelbewegungen, die
beim Schreiben in Frage kommen, pathologisch gestört. Das Gedächtnis ist
mangelhaft, die Ermüdbarkeit erhöht, die Aufmerksamkeit läßt schnell nach.
Durch Zufall bemerke ich folgendes. Beim Spiel im Freien wollen einige Jungen
in H.s Gegenwart als Kraftprobe einen größeren Stein mit einer Hand aufheben.
H., der sonst recht phlegmatisch ist, gerät hierbei in größte Aufregung und schreit :
,,Um Gottes willen, hört bloß auf, pfui Teufel, mit den Nägeln dagegen, schreck-
lich mit den Nägeln an den Stein I" Er hält sich die Ohren zu, verzerrt das Ge-
sicht und wendet sich schließlich mit allen Zeichen des Grauens zur Flucht.
Ähnlich liegt folgender von mir beobachtete Fall.
Ein löjähriger, herzleidender Junge, erblich belastet (Vater im Sanatorium,
Mutter schwer nervös), kann keine Wolle anfassen. Er ist nicht imstande, wollene
Wäsche anzuziehen, ja er fürchtet geradezu die Berührung wollener Gegenstände
wie z. B. Handschuhe. Aber nicht bloß das ist ihm zuwider, er fürchtet sogar die
Vorstellung, daß er mit wollenen Gegenständen in Berührung kommen könne.
Wenn man ihm z. B. einen wollenen Handschuh nur hinhält, ohne ihn damit zu
berühren, gerät er schon außer sich. Schon die Erwähnung von spezifisch wollenen
Sachen, wie z.B. Sweater u.a., regt ihn auf. Demselben Jungen istes auch unerträg-
lich, wenn jemand mit ausgestreckten Fingern sich ihm langsam nähert. Ja, ea
486 Über psychische Idiosynkrasien bei Schülern usw.
ist gerade, als ob er die eigentümliclie Fähigkeit hätte zu fühlen, wenn man ihm
in der geschilderten Weise von hinten nahe kommt, ohne daß er einen sehen kann.
Er schreit dann laut auf und ergreift die Flucht. Dabei ist er aber keineswegs
kitzlig im gewöhnlichen Sinne. Übrigens leidet er auch an der ziemlich häufigen
Idiosynkrasie gegen Plüsch. Wenn er gezwungen ist, sich auf ein Plüschsofa
oder einen Plüschstuhl zu setzen, so steht er angeblich Qualen aus. Er legt dann
die Hände krampfhaft in den Schoß, um nur ja nicht aus Versehen den ,, ekel-
haften Plüsch" anzufassen. Die Schilderung, die er mir selbst gibt, schließt mit
den Worten: ,,Ach, Herr Doktor, mir wird schon ganz übel, wenn ich nur daran
denke."
Ein anderer Fall:
A. B., 12 Jahre alt, sehr begabt, äußerst sympathischer Junge, ehrgeizig und
fleißig, Vater überarbeitet, Gelehrter in hoher Stellung, Mutter sehr nervös.
A. B. litt, als er zur Schule ging, an nervösem Erbrechen. Er konnte nie vor
der Schule morgens frühstücken, ohne alles wieder von sich zu geben. Nachts
fürchtete er sich oft vor Mäusen, angeblich, weil er einmal auf dem Lande eine
Maus aus Versehen totgetreten hatte. Körperlich war er sehr weich und schlaff,
besonders in den G-elenken.
Dem Jungen wurde schon bei der Vorstellung von einem Fleischladen übel,
auch wenn man etwa nur den Geruch von Fleisch erwähnte. Merkwürdigerweise
aß er gerne und ohne Widerwillen Braten, Schinken, Wurst. Aber es wäre ihm
angeblich unmöglich gewesen, einen Fleischerladen zu betreten, ohne ohnmächtig
zu werden. Sein Vater, der diese Aversion seines Sohnes für Unsinn hielt, befahl
ihm einmal, ihn zum Schlächter zu begleiten. Der Junge gehorchte, mußte aber
sofort wieder ins Freie gebracht werden, da er erblaßte, Schweiß auf seine Stirne
trat und er umzusinken drohte.
Ein psychisch minderwertiger, sowohl in direkter als auch kollateraler Hinsicht
hereditär stark belasteter Junge von 13 Jahren hatte eine pathologisch betonte
Abneigung gegen die gelbe Farbe. Sogar an einem gelben Papierkorb nahm er
gelegentlich Anstoß. Der Junge wurde durch Maßnahmen der allgemeinen Er-
ziehung von seiner Nervosität geheilt und von vielen seiner unzähligen Absonder-
lichkeiten befreit. Es gelang mir, dabei auch seinen krankhaften Widerwillen
gegen Gelb zu beseitigen, indem ich ihm, der für Poesie sehr empfänglich war,
eines Tages scheinbar ganz ohne Absicht bei der Lektüre Homers, als von der Eos
mit safranfarbenem Gewand die Rede war, erzählte, daß im Altertum Gelb weit
und breit eine gottgeweihte Farbe war. Ich sprach möglichst pathetisch von dem
Safranpeplos der Athene, von dem gelbglänzenden Bernstein, der den Alten ge-
radezu als ein Produkt der Sonne galt — Helios weinte Bernsteintränen — und
zitierte endlich Goethe, seinen Lieblingsdichter, der Gelb die Farbe ,,der Ehre
und Wonne" nennt. Von da an war sein Widerwille, der wohl nur eine aus
Ästhetendünkel entstandene Autosuggestion war, verschwunden.
Bei einem anderen meiner Schüler, der ebenfalls aus einer sehr nervösen
Familie stammte, konnte ich eine eigentümliche Unfähigkeit, Watte anzufassen
konstatieren. Besonders das Auseinanderziehen von trockener Watte bereitete
ihm die größte Pein. Er behauptete, die Watte „knirsche" so unerträglich.
Besonders grauenhaft war ihm angeblich der Gedanke, daß er trockene Watte
sich in die Nase oder in die Ohren stecken müsse.
über psychische Idiosynkrasien bei Schülern usw. 487
Gegenüber den unzähligen Fällen von negativen Idiosynkrasien, bei denen
es sich also um die Ablehnung eines unangenehm empfundenen Reizes handelt,
sind nach meiner Erfahrung Beispiele für positive Idiosynkrasien verhältnismäßig
selten. Doch kann ich auch hierfür einige Beispiele aus meiner pädagogischen
Praxis anführen.
Derselbe Junge, von dem ich berichtete, daß er den Geruch des Fleischer-
ladens nicht erträgt, kann sich nichts Schöneres vorstellen als Butter zu berühren.
Ja, es wäre für ihn ein ganz außergewöhnliches Vergnügen, ein großes Stück
Butter nach Herzenslust mit den Händen kneten und drücken zu dürfen. Ein
anderer — ISjähriger — Junge hält das Berühren von Pelzen, besonders von weißem
Kaninchenfell sowie das Anfassen von Seide für einen der höchsten Genüsse.
Was nun die Frage der heilpädagogischen Behandlung psychischer
Idiosynkrasien angeht, so muß man sich m. E. hüten, jede ungewöhnlich starke
Aversion von Kindern gleich als krankhaft gelten zu lassen. Auch hier kommt es
in der Hauptsache darauf an, ein Kind schon in der Wiege, wenn ich so sagen
darf, an Gehorsam, Ordnung und Selbstbeherrschung zu gewöhnen. Sobald
jedoch das Pathologische des kindlichen Widerwillens durch einen Nervenarzt
oder Kinderarzt festgestellt ist, dann darf man nicht etwa mit körperlichen
Strafen oder Moralpredigten dem Übel beikommen wollen, sondern man wird
möglichst abzulenken, zu verhindern suchen, vor allem aber alles tun, um den
kleinen Idiosynkratiker durch Sport und Spiel, viel frische Luft, kräftige Kost,
heitere Lebensbedingungen zu stärken und zu heben. Von größter Bedeutung
ist es namentlich, ihn zur Selbstbeherrschung zu erziehen. Wenn dann die ge-
eignete Persönlichkeit, d. h. ein mit der nötigen Suggestivkraft begabter Erzieher
in scheinbar unbefangener Weise seinen Einfluß psychotherapeutisch geltend
macht, dann gelingt es meistens mit einiger Geduld, das Kind von seinem psy-
chischen Widerwillen zu heilen. ,
Über die Idiosynkrasien als psychische Phänomene haben meines Wissens
wenige Philosophen spekuliert. Eine geistreiche psychologische Erörterung,
,,Idio8ynkra8eologie", findet sich in einem älteren Buche, nämlich in der ,, Philo-
sophie des Geistes" von dem Philosophen und Literarhistoriker Joseph Hille-
brand.^) Dieser Forscher sieht in den Idiosynkrasien rein subjektiv-individuelle
und damit gleichsam ausnahmsweise Tätigkeitsäußerungen. Die Bedeutung
der Idiosynkrasie ist nach Hillebrand diese, daß sie das rein-individuelle eigen-
tümliche Sensitiwerhältnis der Seele ausdrückt. Im Leben besonderer Tier-
gattungen allerdings verliert die psychische Idiosynkrasie das ihr eigene Merkmal.
Die sinnlich-individuelle Isolierung der sensitiven Seelentätigkeit ist das eigentlich
Idiosynkratische. Sein Prinzip ist die besonders „konstitutive" (die objektive
Wesenheit bestimmende) Natürlichkeit eines Individuums. Es offenbart sich
also in den Idiosynkrasien nur individuelle Naturbestimmtheit in einer besonderen
Tätigkeitsrichtung. Der nähere Grund idosynkratischer Erscheinungen liegt in
einer gesteigerten Reizbarkeit der Nerven. Sie erhöht das G«meingefühl und
modifiziert dadurch nicht nur die Sinnesempfindimgen, sondern steigert sie auch.
Die idiosynkratischen Erscheinungen zerfallen in intuitive und instinktive,
>) ,, Philosophie des Geistes oder Encyklopädie der gesamten Oeistoslehre". Heidel-
berg 1835.
488 ^"'^ Psychologie der Schrift des Kindes.
je nachdem sie durcli (äußere und innere) Anschauungen oder durcli Triebe be-
stimmt sind. Zu den intuitiven Idiosynkrasien rechnet Hillebrand auch das
Empfinden verborgener Metalle und Quellen, das Wittern der Gegenwart ge-
wisser Tiere, das Vorempfinden künftiger Ereignisse in der Natur wie im mensch-
lichen Leben, das Schauen entfernter Dinge und Menschen, ,, Ahndungen" usw.
Zu den instinktiven Idiosynkrasien gehören nach Hillebrand die rein indivi-
duellen Sympathien und Antipathien in bezug auf Menschen, Tiere, Nahrung usw.,
ferner ungewöhnliche geistige Neigungen, wie z. B. der unwiderstehliche Drang
nach besonderen Wissenszweigen, endlich auch moralische Eigentümlichkeiten,
wie z. B. die Lust an Mord und Grausamkeit.
Man sieht, wie weit Hillebrand den Begriff Idiosynkrasie faßt. Nach ihm wären
also Lustmord und sadistische Perversität psychische Idiosynkrasien, d. h. eigen-
tümliche Reaktionsweisen auf Reize, die normal entgegengesetzt wirken. In
diesem Sinne könnte natürlich fast jede psychische Absonderlichkeit als Idiosyn-
krasie angesprochen werden, insbesondere, wenn man wie Hillebrand den Begriff
auch in positivem Sinne gelten läßt. Moderne Forscher tun das bekanntlich nicht ;
sie gebrauchen den Idiosynkrasiebegriff meist nur in negativem Sinne, i)
Die Erklärung der idiosynkratischen Erscheinungen findet Hillebrand gegeben
in einer dispositiven (angeborenen, angeerbten) oder erworbenen,, eigentümlichen
Steigerung der Reizbarkeit des Organismus über das regelmäßige Allgemein-
verhältnis desselben zur geistigen Subjektivität".
In der Hauptsache erklärt Hillebrand die Idiosynkrasie aus einer inneren
Potenzierung des organischen Lebens.
Zur Psychologie der Schrift des Kindes.
Von F r'i t z K u|h'l mann.
Gleich von vornherein soll es [gesagt werden: Wir haben noch keine
Psychologie der Kinderschrift! Die Ursache dazu liegt in der Tatsache,
daß wir überhaupt keine eigentliche Kinderschrift |haben, nichts von der
wahren Schrift des Kindes wissen, sie nicht kennen. Jeder wird mich
auf die vor aller Welt daliegende Tatsache hinweisen, daß heute, wie schon
seit vielen Jahrzehnten, alle Kinder schreiben lernen, gesunde wie kranke,
lahme wie blinde, und wird es mit Kopfschütteln entgegennehmen, wenn
ich gleichwohl behaupte: Wir haben trotzdem keine Kinderschrift! Man
wird ganz unbedingt glauben und mir sagen: Was unsere Kinder schreiben,
das ist doch Kinderschrift, was sollte es denn anders sein?
Demgegenüber behaupte ich: Die Schriften unserer Kinder sind keine
Kinderschriften; es ist ein großer Irrtum, wenn man sie als solche bezeichnet
und wertet.
Da wird man fragen: Was sind denn diese Schriften, wenn sie keine
Kinderschriften sind?
*) Eduard Hess, Über Idiosynkrasien. Abhandhingen der Naturforschenden Ge-
sellschaft zu GörUtz. 26. Bd., 1. Heft 1906.
Zur Psychologie der Schrift des Kindes. 489
Darauf zur Antwort: Was man heute als Kinderschriften ansieht, ist eine
Schrift, mit der das Kind innerlich, psychisch, nichts oder doch nur in
den größten Ausnahmefällen irgend etwas gemein hat. Es ist deshalb in
Wahrheit nicht des Kindes Schrift; es ist die Schrift anderer, die Schrift
der Erwachsenen, die Schrift von Schreiblehrern, Kupferstechern und Litho-
graphen; und was uns Kinderschrift dünkt, ist nichts weiter und nichts
anderes als das ungelenke, krampfhafte Quälen und Mühen des Kindes,
die ausgeklügelte und gekünstelte Schrift der Erwachsenen und Kalligraphen
imter dem Zwange der Schule sich anzueignen. Die Verzerrungen und
Verrenkungen, die das Kind dabei zutage fördert, dünken der Welt heut
als das »Kindliche« in der Schrift.
Nun, ist denn dieses Mühen, dieses Ungeschick nicht kindlich?
Ohne Zweifel! Das macht aber diese Schrift noch nicht zu einer wahren
und natürlichen »Kinderschrift«, ebensowenig wie das krampfhafte Mühen
des Kindes, die vollendete und erkünstelte Sprache der Erwachsenen nach-
zuahmen, die dadurch entstehende Sprache zur »Kindersprache« macht.
Die Sprache wird vielmehr zu ihrem Gegenteil, zu einer Sprache, die un-
kindlich und unnatürlich ist, weil sie dem Wesen und Charakter des Kindes
widerspricht. Wie denn ja auch die mühsam nachgequälte Zeichnung eines
Erwachsenen seitens des Kindes keine Kinderzeichnung im rechten Sinne ist.
Schrift ist Ausdruck, wie es Sprache und Zeichnung sind.
Schrift ist zugleich fixierte Bewegung.
Das führt zu einem andern Vergleich: So wenig es eine Kinderbewegung
ist, wenn das Kind den Gang oder die Geste des Erwachsenen nachahmt,
80 wenig ist die Nachahmung der durch die Bewegung Erwachsener ge-
formten Schulschrift durch das Kind eine Kinderschrift im rechten Sinne.
Wie als Kindersprache nur die natürliche, vom Kinde selbst unmittelbar
geformte Sprache angesehen werden kann, so als Kinderschrift nur die Schrift,
die nicht den Stempel der Nachahmung der künstlichen Schrift der Schreib-
meister und Kupferstecher trägt, dagegen den Charakter des unmittelbaren
Ausdrucks kindlichen Empfindens und kindlicher Bewegung zeigt.
Die Kindersprache kämpft heute noch mit nur geringem Erfolg um
Bürgerrecht, Anerkennung und Pflege in der Schule. Noch schwereren
Stand wird die Kinderschrift haben, weil wir sie noch gar nicht kennen,
sie erst entdecken, suchen und entwickeln müssen. Die Arbeit ist umso
schwerer, weil weder die Augen der Lehrer, noch der Eltern, noch weniger
die der Schulleiter und Behörden für die Kinderschrift, für die Erkenntnis
ihrer Merkmale und Einschätzung ihrer psychischen Momente entwickelt
sind. Wie wir Lehrer erst lernen mußten und es mit der letzten Reform
des Zeichenunterrichts erst gelernt haben, Kinderzeichnungen zu beurteilen
und mit dem rechten Verständnis zu genießen, so werden wir auch erst
lernen müssen, wirkliche Kinderschriften recht zu sehen und zu beurteilen.
Und wie wir als Erstes lernen mußten, das Kind zum unmittelbaren, unge-
zwungenen zeichnerischen Ausdruck zu führen und anzuregen, so werden wir
jetzt ein Gleiches in bezug auf den Ausdruck durch Schrift zu lernen haben.
Wir können auf diesem Gebiete heute noch nichts und wissen deshalb auch
noch nichts von der rechten Kinderschrift.
490 Zur Psychologie der Schriffc des Kindes.
Wir wissen nur, wie das Kind schreibt, wenn es sich abmüht, die vom
Lehrer ihm vorgeschriebenen Buchstaben des von der Behörde vorge-
schriebenen Schulduktus nachzumalen. Wir wissen aber nicht und haben
es noch nie untersucht, wie das Kind die Buchstaben der Richtung nach
steiler oder schräger stellen, wie es die Form umgestalten, welche Größe
es wählen, wie es den Druck verteilen würde, wenn man es ihm gestattet,
sein eigenes Ich, seinen Charakter in der Schrift auszudrücken, seine eigenen
Kräfte zu betätigen. So viel freilich wissen wir — und das zwingt uns zu
den bis jetzt versäumten psychologischen und physiologischen Untersuchun-
gen — daß es vielen Kindern nach ihren psychischen wie nach ihren
physischen Verhältnissen ganz unmöglich ist, nach den heute strikte ohne
Ansehen des Individuums durchgeführten Schul- Vorschriften zu schreiben,
wie wir weiter wissen, daß die Lage, Form, Größe der Schrift, gewisse
Ecken, Bogen, Haken usw. zumeist nicht sowohl durch äußeren
Zwang und Gewohnheit, als vielmehr durch Charaktereigenschaften, also
inneren Zwang erzeugt werden und bedingt sind. Wir fühlen uns genötigt,
daraus zu schließen, daß es eine seelische Tortur für ein charaktervolles,
nach Ausdruck verlangendes Kind sein muß, wenn man es dauernd zwingt,
fremde, seinem Wesen widersprechende, nach einem beliebigen Schema ge-
formte Schrift sich anzueignen und zu gebrauchen.
Angesichts der eingangs erhobenen Behauptung, daß wir noch keine
Psychologie der Schrift des Kindes haben, wird man darauf hinweisen, daß
es bereits grundlegende und anerkannte Werke über die Psychologie des
Schreibens gibt. Das ist mir wohlbekannt, und die besten dieser Werke,
»Die Psychologie des Schreibens« von Preyer und »Handschrift und Cha-
rakter« von Schneidemühl liegen vor mir. Aber gerade diese Forscher
geben mir recht, ja veranlassen mich im Grunde zu meinen Behauptungen
und Betrachtungen; denn Preyers Untersuchungen setzen erst bei der Schrift
der Erwachsenen ein, und er gibt als Grund dafür an, die Schrift der
Kinder sei unnatürlich und verstellt, weil nachgeahmt, und lasse Schlüsse
auf Seele und Charakter deshalb nicht zu. Als für uns bedeutungsvoll er-
wähnt dieser Gelehrte die Tatsache, daß Erwachsene, sofern ihnen daran
liegt, ihr wahres Wesen möglichst zu verschleiern, ihre individuelle Hand-
schrift möglichst aufgeben und sich der in der Schule erlernten Schrift
bedienen. Von nicht geringerer Bedeutung und wenig günstig für die Schul-
schrift ist die Beobachtung, daß nur unselbständige Charaktere an ihr
dauernd festhalten. Wie dem aber auch sein möge, als Kinderschrift im
wahren Sinne des Wortes kann also die Schulschrift der Kinder auch auf
Grund der Untersuchungen dieses Gelehrten niemals angesprochen werden.
Der zweite der genannten Forscher, Schneidemühl, widerspricht zwar
Preyer, indem er sich auf .das Urteil eines Dritten, Ufer, bezieht und
behauptet, es ließen sich aus den Schriften der Kinder doch Schlüsse auf
ihre Psyche ziehen. Aber dieser Widerspruch bestätigt in seiner Begründung
durchaus das von mir eingangs Behauptete. Denn diese beiden Forscher
begründen diesen Standpunkt mit der Erfahrung, daß es trotz allen Schul-
drills und der äußersten Strenge nicht bei allen Kindern gelinge, die Indivi-
dualität in der Schrift zu unterdrücken Sie stellen fest, und das bestätigt
Zur Psychologie der Schrift des Kindes. 491
-
meinen Standpunkt, daß trotz allen Zwanges des Schreiblehrers schon früh-
zeitig, oft schon im Alter von 10 — 12 Jahren, die Individualität in der
Schrift sich zeige und daß es niemals gelinge, auch nur eine geringe An-
zahl der Kinder, nicht einmal Geschwister, zu gleicher Schrift zu bringen.
Damit ist zugleich der Einwendung der Freunde des Schulduktus, daß
Kinder weder Neigung noch Begabung zu individueller[Schrift hätten, treffend
begegnet. Indem diese Forscher die erwähnten Tatsachen feststellen, be-
kunden sie 1) daß beim Kind« die Schrift, sofern sie sich natürlich und
ohne Hemmung entwickelt, ebenso wie beim Erwachsenen, individuell ist
und im Gegensatz zur Normal-Schulschrift steht, 2) daß auch da, wo wirk-
lich die seelische Kraft des Kindes den Schulzwang sprengt, nimmermehr
von einer natürlichen, wahren Kinderschrift die Rede sein kann, weil ihre Ent-
wicklung ja gehemmt, der unmittelbare Ausdruck gestört und gefälscht wurde.
So ist denn auch nach dem Urteil dieser Forscher die Schrift unserer
Schulkinder keine Kinderschrift im wahren Sinne, und es war somit niemals
eine Grundlage gegeben, eine Psychologie der Kinderschrift zu schaffen.
Schrift ist, wie schon gesagt wurde, fixierte Bewegung, und nachgewiesen
ist es längst, daß die Schreibbewegung vom Gehirn aus geleitet wird, nicht
die ausschließliche Angelegenheit äußerer Organe, nicht Resultat der Ge-
wöhnung und des Drills ist, daß sie mit der Sprache zusammenhängt und vom
Charakter beeinflußt wird. Da nun aber kindliche Bewegungen in Wesen
und Art ganz anders sind, als die von Erwachsenen, so kann und darf
das Kind nicht gezwungen werden, durch die Bewegung seiner Hände
Buchstaben zu bilden in der gekünstelten und vollendeten Form, die Litho-
graphen und Kupferstecher (denn von ihnen stammt die heutige Normal-
schrift) ihr gegeben haben. Wie es keine Normal-Gehbewegung für Kinder
geben kann, so wenig darf es eine in allen Teilen ausgebildete Normal-
schrift für sie geben. Nur ein Normalgerüst der Buchstaben darf festgesetzt
werden, das nach Richtung, Form, Größe vom Kinde, seinem Charakter
und Wesen gemäß zur Entwicklung gelangt, unter Beobachtung der Forde-
rungen des guten Geschmacks, wenn anders auch im Schreibunterricht die
Grundforderung aller Erziehung : Natürlichkeit und Wahrheit, Erfüllung finden
soll. Der Zwang des Kindes im Schreibunterricht zu den bekannten Formen des
Schulduktus, wirkt auf das Kind genau so hemmend und quälend, als regu-
lierte man sein Laufen und Gehen im Turnunterricht durchHand-[und Fußfesseln.
Es wäre verlockend, weiter zu untersuchen, wie nun die Schule den
Schreibunterricht einzurichten hat, daß sich die Kräfte des Kindes darin
wirklich entwickeln und seine Individualität in der Schrift zum Ausdruck
kommt. Doch bedarf das so weitgehender Einzelausführungen, daß hier davon
abgesehen werden muß.
Es sei genug, festgestellt zu haben, daß es angesichts des Zwanges des
Kindes zu einer unpersönlichen Normalschrift, eine Kinderschrift bis heute
nicht gibt, daß der herrschende Schreibunterricht eine unzeitgemäße, höheren
erziehlichen Forderungen ins Gesicht schlagende Fesselung des Kindes be-
deutet, angesichts der eine Reform desselben unbedingt notwendig erscheint.
Es bietet sich hier pädagogisches Neuland, ein weites, dankbares Feld der
Arbeit, sowohl für wissenschaftliche Forscher wie für praktische Pädagogen.
492 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
Untersuchungen über die Rechtsehreibung von Volksschülern.
Von H. Tittmann.
I. Laut und Lautzeichen.
Aus Versuchen und einer umfangreiclien Felilerstatistik, die ich in einer großen
Leipziger Volksschule aus sämtlichen Aufsätzen und Diktaten eines ganzen
Jahres zusammengestellt habe, gewann ich die Überzeugung, daß ein großer Teil
der orthographischen Fehler lediglich auf den Umstand zurückzuführen sei,
daß den Schülern bis in die erste Klasse hinauf mehT oder weniger die Fähigkeit
mangelt, für den gehörten oder gesprochenen Laut das entsprechende Lautzeichen
zu setzen. Zum Beweise hierfür seien ein paar beliebig herausgegriffene Bei-
spiele für einige Vokale und Konsonanten angeführt.
1. Fehlerhafte Bezeichnung der Vokale, einschließlich Umlaute
und Diphthonge.
0. Die Rase, die Kahlen, die Kartaffel, das Brat, der Schlasser, die Sada, der
Hanig, am Margen, die Margenliift, ein schöner Samertag, die liebe Sänne, die Mäbel,
der Känig, die Vägel, der Asterhase, das Äl, schan, var, dart, kämmt, begamt (be-
kommt), du härst, die Mutter kacht, gewarden.
ä. Der Ber, die Leden, der Maigefer, das Medchen, das Schefchen, der Sebel, das
Redsei, Retsei und Retzel (Rätsel).
Das Görtchen, der Lörm, der Örmel, die Öpfel, die Bönke, die Tumgeröte, anföngt,
beschöftigen, geschöftig, rückwörts, vorwörts.
i. Die Kürschen, der Füsch, der Kürchturm, der Würt, bewürten, die Wündmühle,
die Bürke, das Geschürr, das Gebürge, der Silberblück, der Wüpfel, die Bümen,
der Quürl, die Flüge, der Schürm, die roten Fümen, das Fürmament, der Südepunkt,
der Lügestütz, mit früschen Wangen, fünster, schümpfen, würbelt, wuscht, würst.
ei. Arbiet, Miester, Kliester, Lieter, Zwieg, Röslien, Würmlien, rief, wiech, klien,
zwie, ienst, riech, wiel, wieter usw. Auch wurde umgekehrt das ie als ei geschrieben:
die Scheinen, die Weisen, die Leibe, die Schmeide, das Leid, die Zeigelei, dei (die),
fleißen, speilen, neidlich, veile, leiblich usw.
au. Der Räch, der Schlach, die Schäkel, das Lastato, die Satzassage, das Has,
in der Schule wund (wohnt) der Hasmann, habtsächlich, brachen (brauchen).
eu, äu. Das KJröz, die Mose (Mäuse), der Löchter (Leuchter), der Löchtkäfer,
die Belöchtung, lochten, es lochtet, die Höserreihe, das Kehöse (Gehäuse), das Höschen
(Häuschen), das Seitengeböde, das Föer, die Sole (Säule), die Stöern (Steuern), sie
ißt gern Windbödel, die Ferköferin und Ferküferin, drömt (träxxmt), ströhen (streuen)
— Tind umgekehrt: es herrschte die größte Freulichkeit, das freuliche Ernten, strävimt
(strömt), in den wäurmeren Ländern.
Anmerkung: Im letzten Beispiele hat der Schüler statt wärmeren wörmeren ar-
tikuliert; infolge des Einflusses des bilabialen w ist ä zu ö gerundet, dann aber
wegen des ähnlichen Klanges als äu geschrieben worden.
Wie große Schwierigkeiten die Darstellung des Lautes eu bereitet, möge man
aus der mannigfaltigen Schreibung des Wortes Feuer ersehen. Zum Verständnis
der dabei entstandenen Fehler sei daran erinnert, daß die Buchstabenverbindung eu(äu)
dem in Frage kommenden Laute nicht entspricht, denn er ist phonetisch oi oder oe.
Durch das voraufgehende f wird dieser Zwielaut oi zu ui verdunkelt. Obgleich die
Schüler über den phonetischen Wert des eu nicht unterrichtet waren, schrieben sie
doch oi bzw. ui. Außerdem machte sich in den Fehlem der ähnliche Klang des eu
mit dem ö wieder geltend, sowie auch die Bezeichnimig äu. Von weiteren Faktoren,
die die korrekte Darstellung des eu bzw. des ganzen Wortes Feuer beeinträchtigten,
sind zu erkennen: Verdrehungen, mangelndes Lautbewußtsein und infolgedessen
Unfähigkeit, das Wort lautlich zu analysieren, fehlendes Scliriftbild.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 493
^::
Also: Für Feuer wxirde in den siebenten Klassen (2. Schuljahr) geschrieben: Feur,
Veuer, Feui, Veuher, Fäuer, Väner, feuer, Feuer, Fetiier, feur, feüer, Feure, Fäeur,
Feußer, Fäer, Feuo, Füeer, Feuher, fäuer, fäer, Fenner, fäüer, faur, Faür,
Fäuher, Pf euer, fähr, Fäier — feir, fieer, Veier, feier, Feier, Feihr, Fier, Fie — Foir,
Voier, fom. Vor, f oen, foler, föne, foher, Foer, for, fo, — Fuir, Pfuaer, fuier, Huiär,
Füer, Für, Vüer, für, Füeer, Fier, füer — Föher, Föier, Föuer, För, Vöer, Föer, Föhr,
för, ör, Pföer — fre, Pf, fr, sar, er, ä, r, her.
2. Fehlerhafte Bezeichnung einiger Konsonanten und Konsonanten-
verbindungen.
ch (a,ch-Laut) : Der Ztir (Zug), der Drare (Drache), der Kuren (Kuchen), der Gnoren
(Knochen), der Narbar, das Sprarrohr, mit Hochartung, der Karrelofen, mare (mache),
er mart imd gemärt (macht und gemacht), nor nicht (noch), dor (doch), nar (nach),
darte (dachte), einfaren (einfachen), hör (hoch), zerbrar (zerbrach).
r. Der Moch (Mohr), die Moche (Möhre), die Fuche (Fuhre), Rotbacht, die Wage
(Ware), das Papiech (Papier), der Köchber (Körper), der Gechuch (Geruch), die
Phachisäer, klache (klare), lerchnen (lernen), chuft (ruft), fachen (fahren), höchen
(hören), angefrochen (angefroren), verlochen (verloren), wachen (waren).
ch (ich-Laut). Das Lischt (Licht), die Kusche, der Teisch, die Milsch, der Schunge
(Junge), das Bäschlein, die Flasche, das Gedischt, das Bäumschen, das Lämmschen,
leischt, dursch, rescht, frosch, weisch, zeischte, rieschen, scha (ja), scheden (jeden). —
Die Beleustung (Beleuchtung), leist (leicht), fürsterlich (fürchterlich), tüstig (tüchtig),
erreisten (erreichten).
seh. Der Fich, das Gechenk, der Tich, das Fleich, der Fleicher, die Muchel, die
Tache, reife Elirchen, der Kirchbaum, Schlittchuhe, die Wachfrau, die Wichtüscher. —
Das Gesenk, der Snee, der Slauch, der Smetterling, der Sonnensein, der Simmer,
der Srank, das Swein, das Saufenster, der Snürsenkel, die Sule, das Sulzimmer,
snell, sön, süttet, sickte.
ng. Der Finer, Dinwörter, Bäckerjune, Vorhäne, Sprinschnur, im Gefänisse,
Zöglin, Hunersnot, jvmes, jünste, änstlich, hunrig, hinen, ginen, gerinste, lansam,
vergänlich, die abhänige Rede.
f. Der Storch pfängt Pfrösche, die Suppfe, die Pf lache, der Umpfang, die Zunpft,
der Kopf er (Koffer), das pfaule Blind, pfüttert, pf liegen, gepf lochten, unbepf leckt,
träupfelte, die Krapft.
qa. Kwirl, Qwirl, Qwelle, Gwelle, Qwark, Qark, Gwecksilber, Axuator, beywem*)
(bequem).
8. Die Zense (Sense) und Senze, die Sehnzucht, der Greiz (Greis), zetzen, entzetzlich,
die Zenzuren, unz, unzer, floizig, zerreizt (zerreißt).
z, tz. Die Sunge, das Hers, die Pflansen, die Seilen, die Erßähltmg, der Weißen
(Weizen), susammen und suzanunen, der einselne, su (zu), seigte, glänst, nun tziehon
wir intz Freie, tzeigen, tzelen (zählen), die Tsiege (Ziege) und Siege und ßige, die
Dampfsprise, Katse, Kadse, Kaße und Gasse (Katze).
bl, br. Die Bume, das But, die Buten, das Batt, Zifferbatt, die Bätter, der Bick,
der Beistift, der Bitz.
Der Bief, Biefträger, das Bötchen, der Buder, der Bunnen, die Bautstühle, der
Schiffbuch, beit, baun, bennt, verbacht.
Ich glaube, schon diese Auswahl aus dem umfangreichen Fehlermaterial,
das mir zur Verfügung steht, wird genügen, um erkennen zu lassen, daß die
Falschschreibung der hier verzeichneten Wörter darin besteht, daß die Laute
bzw. Lautverbindungen nicht durch die entsprechenden Zeichen (Buchstaben)
wiedergegeben sind. Welche Ursachen physiologischer und psychologischer
Art hierbei wirksam sind, mag vorläufig unerörtert bleiben. Ich werde später
^) Man stelle sich alle die fehlerhaft geschriebenen Wörter In Kurrentachrif t vor 1
494
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülem.
Gelegenheit nehmen, darauf näher einzugehen. Wir bescheiden uns für jetzt,
zusammenstellend zu konstatieren, daß in den angeführten Fehlerbeispielen
eingesetzt worden ist:
für den
o
ä
i
ei
au
eu
ch (ach-
r
ch (ich- seh
ng
f
qu
s
z
tz
bl
br
Laut
Laut)
Laut)
der
a
e
ü
ie u. um-
a
ö(oi,
r
ch
seh u. s
chu.s
n
pf
kw.qw,
z
8, tS,
8, ß.
b
b
Buch-
gekehrt
ui)
gW, XU,
u. tz
ts,ds
stabe
yw
Beim Nachdenken über die vorgefundenen Fehler tauchten nun verschiedene
Fragen auf, die einesteils rein wissenschaftliches Interesse beanspruchen,
andernteils sich direkt auf die Praxis des Kechtschreibunterrichtes beziehen.
1. Sind die Lautfehler dadurch hervorgerufen, daß die Laute im Worte in
Verbindung mit anderen auftreten oder zeigen sie sich auch, wenn sie isoliert
dargeboten und schriftlich fixiert werden ? 2. Welcher Art sind in letzterem Falle
die event. Fehler, verglichen mit jenen im Worte vorkommenden ? 3. Geschieht
die Vertauschung der Laute regellos oder lassen sich hierfür bestimmte Normen
ableiten? 4. Wie ist es in den verschiedenen Klassenstufen überhaupt um die
Fähigkeit der Schüler, den Laut durch sein Schriftzeichen darzustellen, bestellt ?
5. Was muß geschehen, um die Schreibung lauttreuer Wörter fehlerlos zu ge-
stalten ?
Zur Beantwortung dieser Fragen bediente ich mich — neben dem statistischen
Fehlermaterial aus Aufsätzen und Diktaten und besonders veranstalteten Wort-
diktaten — des Lautdiktates. An ihm waren 1319 Kinder in 37 Klassen des
2. bis 8. Schuljahres beteiligt. Das Diktat bestand aus folgenden 61 bzw. 62 Lau-
ten und Lautverbindungen, wovon 36 in kleinen und 25 bzw. 26 in großen Buch-
staben wiederzugeben waren (bei den 7. und 6. Klassen -wurde das Qu weggelassen).
Im ganzen waren 81 371 Buchstaben zu schreiben. Die diktierten Laute waren
folgende :
a, ch (ich-Laut), e, g, i, 1, n, p, s, u, w, b, d, f, ch (ach-Laut), k, h, m, o, r,
seh, t, ü, eu, ö, ä, ei, br, fl, bl, dr, kl, st, schw, fr, pf.
M, K, W, G, P, A, F, D, Pf, Sp, Seh, O. S, B, Z, Br, H, E, I, T, U, J, L,
R. N, Qu.
Dazu kamen nachträglich in 4 Klassen noch ng und nk.
Zu dieser Lautreihe sei folgendes bemerkt: sie repräsentiert alle Buchstaben
des Alphabets mit Ausnahme des x; denn für f konnte auch v, für z: c, für i: y,
für s : s, ß geschrieben werden. Von den gebräuchlichen konsonantischen Laut-
verbindungen ist nur eine Auswahl geboten, damit das Diktat durch zu große
Länge nicht ermüdete. Die Keihenfolge der Laute ist im allgemeinen zufällig,
nur eu und ö, H und E, I und T, R und N stehen absichtlich hintereinander,
und zwar eu und ö des ähnlichen Klanges, die übrigen genannten Paare der
Ähnlichkeit der Schriftzeichen wegen. Die Artikulation der Laute beim Dik-
tieren erfolgte im allgemeinen in Übereinstimmung mit der Phonetik. Es wurden
also insbesondere b, d, g, j mit Stimme gebildet und zwar g als stimmhafter Ver-
Untersuchtingen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 495
schlußlaut, nur bei s und r wurde absichtlich die phonetische Sprechweise un-
berücksichtigt gelassen, da stimmhaftes s und Zungen-r meinen Versuchsperso-
ilen gänzlich unbekannt waren. Zum Verständnis der verzeichneten Fehler muß
ich noch darauf hinweisen, daß k mit der Mundstellung des e, h mit der Mund-
stellung des a artikuliert wurden. Die Vokale erhielten die geschlossene (lange)
Aussprache: a wie in Abend, e wie in Esel usw.
Da aus Versuchen Gutzmanns^) bekannt ist, daß die Auffassung vieler Laute
bedeutend erschwert ist, wenn die Beobachtung des sprechenden Mundes und
die ,, eklektische Kombination" ausgeschaltet werden, ließ ich in meinen Versuchen
die diktierten Laute von den Schülern unt^r den natürlichen Perzeptionsbe-
dingungen aufnehmen. Ja, sie wurden sogar noch besonders ermahnt, nicht nur
aufmerksam zuzuhören, sondern mir beim Diktieren auch auf den Mund zu
sehen.
Zum Niederschreiben erhielt jeder Schüler ein Quartblatt mit der seiner Klas-
senstufe entsprechenden Liniatur. Um das Abschreiben zu verhindern, ließ ich
die Versuchspersonen auf den zweisitzigen Subsellien an die Ecken rücken
und zwischen sich die Ranzen als Scheidewände hochstellen. Zudem wurde
das Absehen streng verboten. Die Zeit des Diktierens fiel jedesmal in die zweite
Unterrichtsstunde der betr. Klasse. Sämtliche Diktate wnirden von ein und der-
selben Person, dem Verfasser, gegeben und auch korrigiert.
Als bedeutimgsvoll für die Fehlerbeurteilung will ich schon jetzt hervorheben,
daß fast alle Schüler der 7. und 6. Klassen die vorgesprochenen Laute halblaut
oder im kräftigen Flüstertone nachartikulierend niederschrieben. Es machte
den Eindruck, als ob der Laut für sie erst vorstellbar und damit zur schriftlichen
Fixierung erst geeignet würde, nachdem er die Zunge passiert hatte, mit anderen
Worten, nicht unmittelbar die Klangwahrnehmung, sondern der sie auslösende
Sprechakt, die Sprachbewegungsempfindung, induzierte die Schreibbewegung.
Die schreibende Hand empfängt bei diesen Schülern ihre Impulse unmittelbar
durch den Sprechakt, vermittelt natürlich durch das Klangbild, das ja bei
Hörenden in unserem Falle nicht umgangen werden kann. Von den 5. Klassen
ab tritt das hörbare Nachsprechen der diktierten Laute allmählich zurück,
bis schließlich in den Oberklassen eine Bewegung der Sprechorgane äußerlich
nicht mehr zu beobachten ist. Hieraus den Schluß ziehen zu wollen, daß nun
an Stelle des Sprechaktes (bzw. der Sprechbewegungsvorstellung) das Klangbild
die Darstellung des Schriftzeichens bestimme, ist nicht zwingend, da immer noch
die Möglichkeit bestehen bleibt, daß trotz des Unterbleibens des äußerlich
wahrnehmbaren Nachsprechens die Sprechmuskeln der Artikulation gemäß
innerviert werden und entsprechend dieser Innervation geschrieben wird. Welche
von den beiden Schlußfolgerungen der Wahrheit am nächsten kommt, kann
erst auf Grund der Art der Fehler, wie sie bei unsern Lautdiktaten hervor-
jT^ treten ist, beurteilt werden.
Ich gebe nun zunächst eine zahlenmäßige Zusammenstellung der Fehlschrei-
bungen für die einzelnen Versuchsklassen; ausgelassene Buchstaben sind mit
eingerechnet worden.
') H. Gutzmann, Über Hören und Vorstehen. Zeitschr. f. angew. Psychologie
u. psychol. Sammelforschung. I. Bd. Leipzig 1908. S. 483 ff.
496
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
Übersicht der F
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Versuchsk
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Knaben.
Mädchen.
Klasse
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Zahl
der
Fehler
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durch-
schnitt
Klasse
Zahl
der
Schü-
ler
Zahl der
zu
schrei-
benden
Buch-
staben
Zahl
der
Fehler
%
Fehler-
durch-
schnitt
la
Ib
28
33
1736
2046
208
230
11,9
11,2
7,4
7,0
|7,2
la
Ib
38
26
2356
2232
202
144
8,6
6,4
5,3
4,0
} 4,6
IIa
41
2542
260
10,6
6,3
1 6,8
2a
37
2294
212
9,2
5,7
IIb
41
2542
304
11,5
7,4
2b
31
1922
188
9,7
6,0
5,8
Illa
36
2232
280
12,5
7,7
2c
35
2170
201
9,2
5,7
Illb
38
2356
322
13,6
8,4
8,2
3a
41
2542
317
12,5
7,7
]
IIIc
37
2294
319
13,8
8,6
3b
37
2294
260
11,3
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6,8
IVa
32
1984
380
19,1
11,9
3c
38
2356
216
9,2
5,7
IVb
32
1984
228
11,5
7,1
9,2
4a
33
2046
196
9,5
6,0
IVc
30
1860
265
14,2
8,8
4b
32
1984
209
10,5
6,4
6,4
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43
2666
462
17,3
10,7
1 9,7
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4c
33
2046
224
10,9
6,8
Vb
Via
43
39
2666
2379
373
417
13,9
17,5
8,7
10,7
5a
5b
44
43
2728
2666
319
199
11,6
7,4
7,2
4,6
1 5,9
VIb
38
2318
490
21,1
13,2
6a
36
2196
430
19,6
11,9
VIc
38
2318
477
20,5
12,5
6b
37
2257
356
15,8
9,6
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Vlla
32
1952
674
34,5
21,0
6c
32
1952
392
20,0
12,2
Vllb
32
1952
778
39,8
24,3
17,2
7a
28
1708
383
22,4
13,7
VIIc
31
1891
200
11,1
6,4
)(22,6)
7b
7c
32
32
1952
1952
511
642
26,2
32,8
16,0
20,0
16,5
18
644
39718
6667
17
10,4
19
675
41653
5601
13,8
8,5
Aus dieser Zusammenstellung ist ersichtlich, daß durch sämtliche Klassen
hindurch die Fähigkeit, den Laut durch sein entsprechendes Lautzeichen wieder-
zugeben, recht mangelhaft ist. Von sämtlichen 3319 Versuchsschülern hat
nicht ein einziger fehlerfrei gearbeitet. Die Mädchen sind den Knaben auf allen
Klassenstufen bedeutend überlegen. Allgemein läuft mit fortschreitender sprach-
licher Entwicklung von selbst eine Steigerung der Fähigkeit der Lautdarstellung
parallel. Ein wie günstiger Faktor aber hierbei die Übung ist, lehrt Knaben-
klasse VII c, in der der Orthographieunterricht mit der Lautdarstellung begonnen
hatte. Wie notwendig diese Vorübung ist, zeigen die übrigen 7. Klassen, in denen
die Fehlerzahl, besonders bei den Knaben, überaus hoch ist. Dieser bedeutende
Mangel rührt aus den Elementarklassen her, in denen eben auf die innige Verbindung
von Laut- und Lautzeichen nicht genügend Bedacht genommen worden ist. Der
Abfall der Fehlerzahl und damit die Steigerung der Leistungsfähigkeit ist am be-
deutendsten beim Vorrücken der Schüler aus den 7. bis in die 5. Klassen. Bei den
Knaben zeigen die 6. Klassen gegenüber den 7. eine Besserung um 5,1 Fehler oder
8,7 %, die 5. gegenüber den 6. um 2,4 Fehler oder 4, 1 %. Bei den Mädchen betragen die
entsprechenden Differenzen 5,3 Fehler oder 8,7% und 6,3 Fehler oder 9,0%. Von
den 5. bis zu den 1. Klassen hinauf treten sowohl bei den Knaben als auch bei den
Mädchen so große Unterschiede nicht mehr hervor; eine wesentliche Besserung
ist also bei diesen Schülern ohne besondere Übungen nicht mehr zu verzeichnen.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
497
Eine vergleichende Durchsicht der Fehlerverzeichnisse für die einzelnen Klassen-
stufen ergibt zunächst die für den Rechtschreibunterricht überaus wichtige Tat-
sache, daß im zweiten Schuljahre die Fähigkeit der Lautdarstellung außer-
ordentlich gering ist. Das geht aus der bunten Mannigfaltigkeit der Verfeh-
lungen hervor. Die assoziative Verknüpfung zwischen Laut und Lautzeichen ist
hier noch so unsicher und unbestimmt, daß die schriftliche Aufzeichnung mehr ein
tastendes Versuchen und Probieren als ein geläufiges Können ist. In den folgenden
Schuljahren nehmen die Varianten im allgemeinen mehr und mehr ab, und es treten
allmählich in der Hauptsache nur noch gewisse Fehler hervor. Diese mögen als
typische bezeichnet werden, wenn sie sich durch alle Schuljahre hindurchziehen, als
häufige, wenn sie in mehreren Klassenstufen in die Erscheinung treten, und als
verstreute, wenn sie nur auf einer oder zwei Klassenstufen vorkommen. Wenn
die letzteren auch weniger zahlreich sind als die ersten beiden Gruppen, so
dürfen sie doch bei Beurteilung der Fehlerquellen nicht unberücksichtigt bleiben.
Vorläufig mögen sie jedoch außer Betracht bleiben und die Fehler nur nach den
typischen und häufigen geordnet werden. Darnach ergibt sich folgendes Bild:
Typische und häufige Fehler bei der schriftlichen Darstellung
der Laute und Lautverbindungen.
Einzelne Laute.
Laut bzw.
Laut-
Typische
Häufige
Laut bzw.
Laut-
Typische
Häufige
Fehler
Fehler
Fehler
Fehler
zeichen
zeichen
a
—
w
m
V
A
—
H, a
W
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M, w, V
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J
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Stimm-
M
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—
a
hafte
1
—
n, w, m
Vokale
0
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Dauer-
L
1
N, W, M, B
u
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—
laute
r
—
ch, R
U
—
u. V
R
—
Rr, r
ä
—
äu, e
J
j, I, Ch,
Ü, Schi, Ih,
ö
eu
e, öu, äu, ü
Seh, ch
Hi u. Hü,
ü
—
i, ö, u
Jü, Wi, G,
ei
—
äu, au, ie, eu
Ich, Li
eu
ö
eü,e, öu(ou),
,
Konso-
ue, ei
f
—
pf
nanten :
h
P
g. B
F
f
Pf
B
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B, Be
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z
Stimm-
S .
—
Z, f, 8. ß
hafte
d
t
g. k
Stinmi-
seh
ch
g, Sch, s
J
Explo-
D
T
G, B, d, t
/ lose
Seh
8Ch
sivlaute
g
k
d, ü
Dauer-
ch (ich-
seh, j, g
ich, f (8, S)
G
g. Iv
B, Qu, D, k
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Laut)
ch (ach-
Stimm-
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b, t
k, g, pf (fp)
r
h, g, nh
lose
V
B, p
T, Pf, K, b
Laut)
h
Explo-
t
k
d,ck,g,tz,T
sivlaute
T
k
K
D
ck, g
G. k
Tsch, K, G,
t, d
g, ck
H
h. Ha.
Zeitschrift f. pttdagog. Psychologie.
32
498
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülem.
Lautverbindungen.
Laut bzw.
Tjrpische
Lautzeichen
Fehler
Häufige Fehler
bl
pl, 1
bil, m, n, wl, bi, Ib, 11, w, bn, ml.
br
brr, pr, r
ch, bru, Pr, Br, Lr, rb.
Br
Brr, Pr, R
BR, br, Lr, PR, pr, Bru, B.
dr
tr, gr
drr, br, kr, trr.
pf
fp, bf, f, V
Pf, ff, bv, fb, p, pv.
Pf
Bf, F, V
pf, Fp, P. B, f, Pp, PF, Ph, Vf.
kl
gl
tl, ckl, kn, dl, qu, gr, klü, kü, tu, k.
fl
pf], vi
Fl, fil, fü und fi, fn, fw, f, l, pf, sl, w.
fr
vr
frr. Fr, r, fru.
schw
—
chw, chm, schm, sohl, sehr, schwu, sw.
st
—
St, zt, sk.
Sp
sp.
Schp, schp, Schb
Sb, sb, S, St,Stb, Schbe, schb,SchB, SchP, Schk.
Z
S, Tz
Tf, ts, Df, tz, z, s. St, ZI und Zs, Dz, Pf, Bf.
Qu
Q
, Qw, Gw, Kw
Gu, Quw, Km, Kr.
Wir ersehen hieraus, daß bei der schriftlichen Wiedergabe die Vokale im all-
gemeinen weniger Schwierigkeiten bieten als die Konsonanten mid diese wiederum
weniger als die konsonantischen Lautverbindungen. Letztere sind am schwierig-
sten darzustellen. Denn bei ihnen kombinieren sich die Schwierigkeiten, die
schon aus der Darstellung mehrerer Konsonanten erwachsen, noch mit denen,
die aus ihrer Verbindung entstehen.
Bei der Aufzeichnung der reinen Vokale kommen, außer 1= J, typische Fehler
nicht vor, auch häufige fehlen zum Teil, zum Teil variieren sie in engen Grenzen.
Aber schon bei den Umlauten und Diphthongen werden sie mannigfaltiger,
und die Verwechslung von ö und eu ist sogar typisch.
Die Konsonanten dagegen sind fast durchweg mit typischen Fehlern behaftet
und zwar die Explosivlaute durchgängig, ebenso die Dauerkonsonanten mit
Ausnahme von 1, r, f, s und h. Unter den häufigen Fehlern der Konsonanten
weist J die meisten Varianten auf. Es gleicht in dieser Beziehung den Lautver-
bindungen, bei denen nicht nur in der Gruppe der häufigen Fehler, sondern auch
in der der typischen die größte Mannigfaltigkeit hervortritt. Hieraus sieht man,
wie große Schwierigkeiten im besonderen die Lautverbindungen den Schülern
bei der schriftlichen Wiedergabe bereiten.
Die physiologischen und psychologischen Ursachen der
Lautfehler,
Die typischen und häufigen Fehler, die bei der schriftlichen Aufzeichnung
der Laute zutage treten, vollziehen sich nicht regellos, sondern bewegen sich
in ganz bestimmten Richtungen. Dies läßt schon vermuten, daß sie aus be-
stimmten physiologischen und psychologischen Ursachen hervorgehen. Sie,
wie es gemeinhin geschieht, als Leichtsinns- oder Faselfehler zu bezeichnen
und damit auf mangelnde Aufmerksamkeit zurückzuführen, ist für einen tieferen
Einblick ungenügend. Um den zu gewinnen, ist es notwendig, zu untersuchen,
warum dieser vermeintliche Mangel eintritt, welche Faktoren die Aufmerksam-
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern, 499
keit überwältigen und verdrängen. Und femer, wenn diese ihres Wächteramtes
entsetzt ist, wie verläuft der physische und psychische Mechanismus von selbst,
ohne ihre regulierende Überwachung.
Die verzeichneten Fehler lassen unschwer folgende Ursachen erkennen.
1. Sie entspringen aus der Schreibtätigkeit = Schreibfehler.
2. Sie beruhen auf einem Verhören = Hörfehler.
3. Sie gehen hervor aus Verhören und Verschreiben = Hör- Schreibfehler.
4. Sie werden erzeugt durch falsche Artikulation = Sprechfehler.
5. Sie entstehen durch falsche Artikulation und folgendes Verschreiben =
Sprech-Schreibfehler.
6. Sie werden verursacht durch Unkenntnis des Lautwertes der Buchstaben
und Buchstabenverbindungen.
7. Sie haben ihren Grund in der Einwirkung der Laute aufeinander.
Es liegt mir nun ob, diese Ursachen im einzelnen an der Hand der Fehler-
verzeichnisse nachzuweisen.
I. Schreibfehler.
Ich verstehe darunter solche Fehler, die lediglich der Schreibtätigkeit ent-
springen, insofern die schreibende Hand Bewegungen ausführt, die den gewollten
nicht entsprechen. Dabei läßt sich aber nicht umgehen, daß wir auch die der
Schreibbewegung zugrunde liegenden Vorstellungen in Betracht ziehen. Als
nächstliegende kommen die Schriftbild- und die Schreibbewegungsvorstellung
in Frage. Denn wenn ich einen Laut schriftlich fixieren soll, muß ich wissen,
wie sein Schriftzeichen aussieht und wie es geschrieben wird. Beides sagen
mir aber die im optischen Zentrum und im motorischen Zentrum der Hand ab-
gelagerten Vorstellungen. Zum Zustandekommen der Schreibbewegung ist dann
noch nötig, daß zwischen beiden Zentren eine Verbindung besteht {Assoziations-
verfahren), die eine Verknüpfung und gegenseitige Erregung der Vorstellungen
möglich macht. Erst durch die Assoziation treten beide Vorstellungsarten in
Beziehung zueinander. Ein innerer Zusammenhang etwa in dem Sinne, daß
mit der Erwerbung des Schriftbildes zugleich auch die Schreibbewegungsvor-
stellung gegeben sei, besteht von vornherein nicht, wie ja auch die akustische
Vorstellung des Lautes keineswegs ohne weiteres seine Sprechbewegungsvor-
stellung einschließt, sondern die Komplikation der Vorstellungen, die schließlich
den beabsichtigten Schreibakt erst ermöglicht, muß durch vielfache Übung
erst erworben werden. Bei Erlernung der Schrift kommt es zunächst darauf
an, das Schriftzeichen in seinen einzelnen Teilen und deren Anordnung genau zu
erfassen, damit eine klare Schriftbildervorstellung entsteht. Dann gilt es weiter,
dieser die entsprechende Schreibbewegung zuzuordnen, die ja, wie bereits er-
wähnt, mit der Übermittlung des Schriftbildes noch keineswegs zugleich gegeben
ist. Dazu bedarf es eines Aufsuchens und Probierens aller der Arm- und Hand-
muskeln, die geeignet sind, die dem Schriftbilde entsprechenden Bewegungen
auszuführen. Ist diese Auswahl nach manchen tastenden, unvollkommenen
Versuchen und mit Unterdrückung unnötiger, störender Mitbewegungen endlich
gelungen, so müssen die verschiedenen Muskeln zu einheitlicher Zusammenarbeit
32«
500 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
eingeübt werden, bis die notwendige Koordination der Bewegungen erzielt ist.^)
Das ist bei der Kompliziertheit des Vorganges und dem nahen Zusammenliegen
der an ihm beteiligten Muskelstränge mit großen Schwierigkeiten verbunden.
Schwierig nicht sowohl für die arbeitenden Muskeln, die ja nur dem Befehle
gehorchen, den ihnen die motorischen Nerven überbringen, als vielmehr für das
nervöse Zentralorgan, das so mannigfache nach Richtung und Stärke fein ab-
gewogene Bewegungsreize zur Gesamtbewegung zahlreicher Muskeln zugehen
lassen muß. Aber indem die verwickelte Bewegung immer und immer wieder-
holt wird, wird sie mehr und mehr der mühsamen koordinierenden Willens-
tätigkeit entrückt; es lagert sich im motorischen Zentrum der Hand ein Er-
innerungsbild ab, dessen Reproduktion durch das assoziierte Schriftbild schließlich
hinreicht, um die ganze nötige Summe von Bewegungsreizen in ihren mannig-
fachen Abstufungen mit einem Schlage wie von selbst auszulösen. Erst wenn
auf diese Weise der ganze komplizierte Vorgang mechanisiert ist, kann eine
leichte und sichere graphische Wiedergabe des Lautes nach Maßgabe seiner Schrift-
bildvorstellung erfolgen. Doch darf nicht erwartet werden, daß dieser Mechanis-
mus nun jedesmal mit unfehlbarer Sicherheit abläuft, sondern es bleibt wie bei
jeder technischen Fertigkeit, mag sie auch noch so gut eingeübt und das Be-
wegungsgefühl auch noch so vollkommen entwickelt sein, immer noch etwas
Unsicherheit übrig. Hierin liegt der Grund für die mannigfachen Schreibfehler,
denen wir in unseren Lautdiktaten begegnen. Und zwar resultieren sie, abge-
sehen von Ungenauigkeiten, die schon bei der akustischen Perzeption und der
sie begleitenden Artikulation der Laute unterlaufen, entweder aus Abweichungen
von der Schriftbildvorstellung oder aus Ablenkungen von der Schreibbewegungs-
vorstellung oder aber auch aus Hemmungen, die bei der Reproduktion ihrer
Verknüpfung sich einstellen.
Fehler, die lediglich aus der schreibenden Hand hervorfließen, sind darauf
zurückzuführen, daß die einmal eingeleitete Schreibbewegung sich über die
gewollte hinaus fortsetzt, weil die antagonistischen Muskeln im rechten Momente
nicht hemmend eingreifen. So entstehen : 1 = b, L = B, o = a, 0 = A, v = w,
n = u, h = ch, kl = kb, bl = bb, seh = snh, chw (schw) = nhw, fr = hr, Qu = Gu,
ng = ug, br = fr. Dieselbe Ursache spielt auch mit, wenn die Elemente der
Buchstaben in falscher Reihenfolge niedergeschrieben werden. Wenn z. B.
beim k der untere Bogen vor der Hocke gemacht wird, erscheint es als t
und kl als tl.
Ferner können die Schreibmuskeln in ihrer Tätigkeit eine andere Richtung
einschlagen als beabsichtigt, wie ja auch die halbautomatisch verlaufenden Ver-
richtungen des täglichen Lebens manchmal in Unordnung geraten und zu-
weilen zu recht komischen Vorkommnissen führen. In unserem Falle handelt es
sich um eine Umdrehung in der Reihenfolge der Schreibbewegungen, woraus
die bei konstanten Buchstabenverbindungen so häufig auftretenden Umstellun-
gen resultieren, wie: br=rb, bl = lb, kl = lk, ng = gn, Br = Rp, sch = chs,
pf = fp, vb und fb, Pf = Fp, fl = fpl (pfl), eu = ue, äu = uä, ei = ie. Bei den
jüngeren Schülern ist zuweilen die Koordinationsfähigkeit der Bewegung noch
nicht genügend ausgebildet, so daß nicht entsprechende Bewegungen induziert
1) Vergl. F. A. Schmidt, Unser Körper. 3. Aufl. Leipzig 1909. S. 391 ff.
XJntersuchungen über die Rechtschreibung von Volksachülem. 50I
werden, die zu falschen oder unvollkommenen Buchstabenformen führen : (5 = y,
U = 9^, U =^, SS = 5^, 2Ö = ^.
Für den Erfolg der Lautdarstellung kommt als zweiter Faktor die Schriftbild-
Vorstellung in Frage. Wir bemerken besonders in den Unterklassen, daß ihre
Reproduktion auf den zugerufenen Laut keineswegs immer prompt erfolgt,
sondern vielfach gänzlich ausbleibt, wie aus den vielen Auslassungen von Buch-
staben ersichtlich ist. Aus solcher Verlegenheit versuchten sich die jüngeren
Knaben und Mädchen manchmal dadurch zu helfen, daß sie ihren Klassenlehrer
zu Rate zu ziehen sich bemühten, indem sie ihn leise fragten: Herr X, wie wird
denn der gemacht ? Die bis vor einigen Jahren in Leipzig gebräuchliche analytische
Lesemethode bot für solche Fälle in ihren Normalwörtern eine treffliche Repro-
duktionshilfe. Jetzt unterrichten wir in der Elementarklasse nach der synthe-
tischen Methode auf Grund einer Fibel in Antiqua. Diese Druckschriftform
^vi^d zugleich als erste Schreibschrift verwendet. Welche Nachteile sich hieraus
für die Darstellung der Laute in der üblichen Kurrentschrift ergeben, wird alsbald
gezeigt werden. Die Schriftbildvorstellung erwdes sich bei den jüngeren Schülern
auch insofern unzulänglich, als die Reproduktion derselben durch den gehörten
Laut oft langsam und unsicher vonstatten ging. Das Niederschreiben der be-
treffenden Buchstaben erfolgte häufig erst nach längerem Besinnen und unter-
blieb deshalb, wenn währenddes bereits wieder ein neuer Laut diktiert wurde,
zuweilen gänzlich, oder aber seine Wiedergabe geschah in vielgestaltiger Weise,
wie z. B. aus den mannigfaltigen Varianten des eu zu erfahren ist. Die Ähnlichkeit
gewisser Schriftzeichen bringt es mit sich, daß sich ihre Vorstellungen verwischen
und bei der Reproduktion gegenseitig hemmen. Die Folge davon ist, daß bei der
schriftlichen Aufzeichnung leicht eine Verwechslung ähnlicher Buchstaben ein-
tritt. Sie liegt vor bei : I und T, I und J, H und E, N und St, N und S, V und W,
v und w, g und q, G und Q, f und s, U und A, U und N, L und B.^)
Eine andere Schwierigkeit für die graphische Darstellung der Laute erwächst
aus dem Umstände, daß für denselben Laut verschiedene Schriftzeichen ge-
bräuchlich sind, so allgemein neben den kleinen die großen Kurrentbuchstaben
und für unsere Verhältnisse noch im besonderen die Antiquatypen. Es ist klar,
daß mit der Häufung der Zeichen ihre Assoziation mit dem Klangbild einerseits
und der Schreibbewegung andererseits um so schwieriger wird und daß dadurch
auch ihre Reproduktion eine ungünstige Beeinflussung erfährt. Von diesem
Gesichtspunkte aus bedeutet die Einführung der Antiqua als erster Schreib-
schrift eine bedauerliche Zeit- und Kraftvergeudung. Bei dem Widerstreite,
in den die verschiedenen Schriftbildvorstellungen eines Lautes bei der Repro-
duktion geraten, prävaliert diejenige, die am leichtesten über die Schwelle des
Bewußtseins emporsteigt. Als solche erscheint die zuerst erworbene bevorzugt
vor den später hinzugekommenen und die häufiger reproduzierte vor der weniger
häufig wiederholten. Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß die ersten Eindrücke,
die die Kinder in der Schale empfangen, die frischesten und nachhaltigsten sind.
Und so sehen wir in der Tat im zweiten Schuljahre die in der Elementarklassc
erlernte Antiqua zuweilen noch die Kurrentbuclistaben verdrängen. Wir finden:
*) Man muß sich hier immer wieder die geschriebenen Kurrentbuchstaben
vorstellen !
502 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
A und a für q, E für ©, L für l, S für j, U für u, St für ft, R für S5r, R für 91^,
U für U, N für 9^, Auch die vielfach verzeichnete Aneinanderreihung zweier
großer Buchstaben bei konstanten Verbindungen ist dem Einflüsse der Lapidar-
schrift zuzuschreiben. Es steht: BR und PR für Br — PF, PV und BV für Pf —
SP, sP, SB, sB und StP für Sp — tS für Z — schW und schM für schw. Ähnliche
Fehler traten auch bei Wortdiktaten auf, insofern mitten im Worte große Buch-
staben geschrieben wurden: eMil, ReGen, LeVe (Löwe), faDer (Vater), MuDer
und MutDe (Mutter), sOnta, SonDag und sotAr (Sonntag), PuPe (Puppe),
POst, LamPe, gaZe (Katze), AbPfeb und aFöl (Apfel), tRare (Drache), SchPüne
(Spinne), JäGer, SleiF und liFe (Schleife), KaPe und naP (Knabe), PferD,
bauM usw. Derartige orthographische Ungeheuerlichkeiten sind erst möglich
geworden, seitdem wir eine Antiquafibel besitzen. Es ist daraus ersichtlich,
daß es durchaus keine gleichgültige oder untergeordnete Frage ist, welche Schrift
die Elementaristen zuerst erlernen, sondern im Interesse der Rechtschreibung
und speziell zur Erzielung einer sicheren Lautdarstellung, die eine feste Asso-
ziation zwischen Laut, Schriftbild und Schreibbewegung zur Voraussetzung hat,
muß von vornherein die Kurrentschrift eingeübt werden.
Wie selbst schon der Gebrauch des kleinen und großen Alphabets nebeneinan-
der die Assoziation und Reproduktion ungünstig beeinflußt, ersieht man daraus,
daß häufig Buchstaben aus dem einen für solche aus dem anderen eintreten.
Da die kleinen viel häufiger geschrieben und wohl auch meist vor den großen
eingeübt werden (wenn man nicht gerade auf die Antiqua verfällt), so sind ihre
Schriftbild- und Schreibbewegungsvorstellungen auch fester mit dem Klang-
bilde verknüpft mid tauchen daher auf den Zuruf des Lautes auch leichter und
lebhafter im Bewußtsein auf als die großen. Die Folge davon ist, daß sie bei
der Lautdarstellung bevorzugt werden. Hierin liegt zu einem Teil wohl auch der
Grund für die häufig bemerkte Kleinschreibung der Hauptwörter. Kleine für
große Buchstaben treten in imseren Lautdiktaten vielfach als typische oder
häufige Fehler auf, nämlich : g, 1, p, f , k, seh, j — i, w, b, d, h, o, t, r, n für die
entsprechenden Großbuchstaben. Viel seltener und meist nur in den 7. und
6. Klassen sind die umgekehrten Fälle zu verzeichnen.
Andererseits ist wieder zu bemerken, daß die Schriftbildvorstellung sehr leicht
verblaßt und damit ihren bestimmenden Einfluß auf die Schreibbewegung ver-
liert. Der Schreibakt erfolgt in solchem Falle direkt als Auslösung der optischen
oder sprechmotorischen Empfindung. Der Ausfall der Schriftbildvorstellung
aber hat zur Folge, daß ganz ungebräuchliche Buchstabenverbindungen aus der
Feder fließen, die als visuelle Erinnerungsbilder niemals im optischen Zentrum
abgelagert worden sein können, sondern durch den Klang oder die Artikulation
veranlaßt erst kombiniert werden. So wurde geschrieben : vr für fr — bv und bf
für pf — Bf für Pf — vi für f 1 — Sb, Schb, Schp für Sp — eü, öu usw. für eu — sd
für st. Hieraus ist deutlich zu erkennen, wie schon bei der Schreibung der ge-
bräuchlichen konstanten Mitlautverbindungen (erst recht bei Wörtern) die
Schriftbildvorstellung ihre Wirksamkeit zugunsten des Klangbildes oder der
Artikulationsempfindung versagt.
Fassen wir vorstehende Ausführungen zusammen, so erhalten wir folgendes
Resultat :
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 503
Die Schreibfehler entstehen
1. aus Ablenkungen von der Schreibbewegungsvorstellung :
a) durch Fortsetzung der Schreibbewegung über die gewollte hinaus,
b) durch falsche Reihenfolge bei Anordnung der Elemente der Buchstaben,
c) durch Umkehrung der Schreibbewegung bei Buchstabenverbindungen,
d) durch ungenügende Koordinatinationsfähigkeit der Bewegungen;
2. aus Abweichungen von der Schriftbildvorstellung:
a) indem die Reproduktion des Schriftbildes gänzlich ausfällt,
b) indem sie unsicher (und langsam) geschieht,
c) indem ähnliche Buchstaben verwechselt werden;
3. aus ungenügender Assoziation zwischen Schriftbild und Schreibbewegung:
a) durch Gebrauch mehrerer Schriftzeichen für einen Laut,
b) durch Überwiegen der akustischen und sprechmotorischen Empfindungen
über das Schriftbild.
(Fortsetzung folgt.)
[Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Theodor Lipps. Am 17. Oktober 1914 ist Theodor Lipps im Alter_von
63 Jahren nach langer schwerer Krankheit verschieden. Ein Leben hat
geendet, das, auch äußerlich bebrachfceb, nach Schicksalen, Wirkungen und
Erfolgen selten gewesen ist, ein Mann ist gestorben, dessen gewaltige For-
schungs- und Lehrarbeit in der Geschichte der Philosophie unvergänglich
fortleben und fortwirken wird, eine geschlossene, feste und unabhängige
Persönlichkeit, die vielen Freunden, Schülern und Bewunderern mehr war
als ein großer philosophischer Forscher.
Die Lebensarbeit des großen Forschers gliederb sich deutlich in mehrere
Abschnitte. Seine wissenschaftliche Jugend fiel noch in jene Epoche
der neudeutschen Geistesentwicklung, in der man die Philosophie überwunden
zu haben glaubte und ihr Erbe an eine größere Zahl von neuen Fach-
wissenschaften aufteilte. Besonders die Psychologie und eine ausgebreitete,
gelehrte Behandlung der Geschichte der philosophischen Theorien galten als
berufen, die Philosophie zu ersetzen; selbst die Werbwissenschaften verloren
an Ansehen und innerem Leben; die Fragen der Mebaphysik endlich wurden
selbstverständlich als Scheinprobleme betrachtet, die als solche erkannt und
damit aus dem Bereich der wissenschaftlichen Arbeit ausgeschlossen zu
haben die junge, vielfach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften
nachstrebende Psychologie als eines ihrer Hauptverdienste pries. Als Lipps
nach ausgedehnten Studien, die namentlich durch den mathematisch-natur-
wissenschaftlichen und kunstgesohichtlichen Einschlag von dem üblichen
Bildungsgang des Studierenden der Philosophie abwichen, seine selbständige
.wissenschaftliche Arbeit begann, waren es vorzugsweise Einzelproblome der
Psychologie, besonders der Raumwahrnehmung, des Zeitbewußtseins, des
Gefühls- und Affektlebens, und solche der Ästhetik, die reiche Förderung
durch ihn erfuhren. Daneben aber machte sich das ursprüngliche philo-
sophische Interesse in ganz eigenartiger Weise geltend: durch die Zeit-
504 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
läge sozusagen verdrängt, äußerte es sich in einer enttäuschten Unzufrieden-
heit mit dem vielfach an den Kandzonen des Seelenlebens haftenden Betrieb
der Psychologie, in einer einschneidenden, aber durch ihre Wirkung segens-
reichen Kritik der damaligen Psychologie, die allzuängstlich die von Fechner
und Helmholtz eingeschlagenen Bahnen wandelte und so Gefahr lief, im
Streben nach mathematischer und experimenteller Exaktheit die Kraft zur
Erfassung des seelischen Lebens einzubüßen. Auch die häufige Blick-
wendung nach den Tatsachen des ästhetischen Bewußtseins und des sitt-
lichen Lebens lassen erraten, daß der junge Forscher, der sich hier zum
Worte meldete, mehr ist als ein Nur-Psychologe, so leidenschaftlich er auch
seine Versicherung wiederholt, nichts anderes sein zu wollen. Als die Werke,
welche den Geist dieser ersten Epoche am deutlichsten kennzeichnen, müssen
„die Grundtatsachen des Seelenlebens" und „die Psychologischen Studien"
gelten.
Die psychologische Fachbegabung und das philosophische Interesse, von
Anfang ungeschieden, durchdringen sich in dem zweiten Abschnitte seiner
Entwicklung vollständig; die immer erneuten geistigen Bemühungen von
Theodor Lipps gelten im Grunde dem Aufbau einer neuen Philosophie, der
Konzeption einer Logik, Ethik, Ästhetik und Ontologie, die, besser fundiert
als vieles von dem traditionellen Gedankengut, durch Einheitlichkeit und
systematischen Aufbau das Ideal einer Philosophie als strengen Wissenschaft
verwirklichen sollte. Aber die Denkmittel und Methoden, mit denen er
diese gewaltige Aufgabe in Angriff nahm, waren zum wesentlichen die psy-
chologischen, nämlich die Analyse der Bewußtseinstatsachen bis zum letzten
unmittelbar Gegebenen. Aus dieser, wohl durch die persönliche Veranlagung
wie durch den Geist der Zeit in gleichem Maß bedingten Verbindung psy-
chologischer und philosophischer Problemstellung und Betrachtungsweise
erwuchs jene Philosophie, die eine spätere, vielfach unberechtigt abschätzige
Kritik Psychologismus genannt hat. Theodor Lipps vertrat diese Verbin-
dung zweier Wissenschaften mit einer für beide gleich großen Begabung,
verfolgte den Versuch, vom Boden der Psychologie aus, richtiger gesagt:
von der Phänomenologie des Bewußtseins aus, philosophische Einsichten zu
verarbeiten mit einem jahrelang viele gleichzeitige Forscher mitreißenden
Schwung. Und als ihm selbst — das leitete den dritten Abschnitt seiner
Entwicklung ein — Zweifel aufstiegen, als Zweifel von anderer, auch be-
freundeter Seite laut wurden, verteidigt er das Eecht seines Standpunkts
mit einer Hartnäckigkeit, die den Gegner leicht sich zum Feinde macht,
wenn dieser nicht auch von unermüdlicher Liebe zur Wahrheit beseelt ist.
Beide Gebiete, Psychologie und Philosophie, verdanken den Arbeiten gerade
dieser Epoche unverlierbare Erkenntnisse und fruchtbare Methoden. In der
Psychologie kam die Phänomenologie zu ihrem vollen Recht; in immer
zentralere, wesenhaftere Gebiete des Seelenlebens drang vorsichtig spürend
die Analyse ein, und speziell in der Zergliederung des geheimnisvollen Ge-,
fühlslebens und im Verständnis der Gesamtstruktur von Persönlichkeiten
ist kein Psychologe weiter gedrungen als Theodor Lipps. Von den philo-
sophischen Disziplinen erfuhren Ethik und Ästhetik wie die reichste Pflege
so auch die reichste Förderung, waren Logik und Naturphilosophie die
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 505
_ _
Gebiete, auf denen der innere Wandel sich am deutlichsten zeigte. Unter
den großen Systemen der Ästhetik der Gegenwart steht das Werk von
Th. Lipps weitaus an erster Stelle. Vorzugsweise psychologisch orientiert
— es nennt sich im Untertitel : Psychologie des Schönen und der Kunst —
aber überall über die psychologische Fragestellung hinausdrängend, bohren
seine Forschungen in den Kern des ästhetischen Erlebnisses, von immer
anderen Ausgangspunkten, an immer wechselnden Beispielen, unter geist-
reicher Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten versucht er den Ein-
fühlungsbegriff der Romantik tiefer zu fassen und einheitlich durchzuführen
für alle Einzelfälle des ästhetischen Genusses und alle Gattungen der Kunst.
Mag die Darstellung schwierig, die sachliche Berechtigung einzelner Be-
hauptungen zweifelhaft sein, vorbildlich bleibt der unnachgiebige Ernst,
mit dem nach einer Formel für das Unformulierbare gerungen wird,
und alle Lösungen, auch wenn sie gelegentlich in sehr dogmatischem Ton
vorgetragen werden, immer wieder überprüft, in Zweifel gezogen und zu
neuen Fragestellungen Anlaß werden. In der Ethik waren es weniger die
kasuistischen und phänomenologischen Problemgebiete, als die psycho-
logische Analyse des wertenden, wollenden, handelnden Menschen, und die
eminent philosophische Frage, die Grundfrage der Moral nach der Berech-
tigung und Begründung des sittlichen Sollens, die unter dem Einfluß der
Ethik Kants im Mittelpunkte seiner Überlegungen standen. Die ethische
Forschung hat gewiß auf anderen Gebieten Fortschritte gemacht, die Phäno-
menologie des sittlichen Bewußtseins ist anderen Forschern vollständiger
bekannt; aber ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich meine, daß zu
dieser Grundfrage nur auf dem von Lipps bereiteten Boden maßgebende
Beiträge möglich waren.
Psychologie, Ethik und Ästhetik waren auch die Hauptgebiete seiner
Vorlesungstätigkeit; ihnen entnahm er die Probleme der seminarischen
Übungen; für sie suchte er seine Zuhörer und Schüler zu begeistern. Von
jedem Einzelproblem eröffnete er den Ausblick auf die letzte grundwissen-
schaftliche Fragestellung; wie tief er selbst auch in dieser Zeit von den im
engeren Sinne philosophischen Fragen, von den erkenntnistheoretischen und
ontologischen Problemen bewegt war, das konnte man erkennen, wenn man
im persönlichen Verkehr mit ihm über die inzwischen beginnende Renaissance
der Philosophie diskutierte oder in einem der nur selten gelesenen Kollegien
ihm zuhörte, in denen er, ganz unzünftlerisch und scheinbar ungelehrt, aber
persönlich tief bewegt, die Geschichte der philosophischen Gedanken ent-
rollte, oder, wie in den letzten Vorlesungen über Logik, mit dem Neu-
aufbau seiner eigenen geistigen Welt rang.
Das Streben nach einem Anfang von vorne kennzeichnet nämlich die
letzte Phase seiner Entwicklung. Die neuen Fachwissenschaften der Psycho-
logie und Biologie, der fachwissenschaftliche Betrieb auch einzelner philo-
sophischer Disziplinen hatten inzwischen der Erneuerung der Philosophie
die erforderlichen Vorarbeiten geleistet. Die Fortbildung vergangener
Systeme genügte dem philosophischen Trieb ebensowenig mehr wie der aus
der Überschätzung der Naturwissenschaften erwachsene naive Naturalismus
und der immer genauer als Grenzüberschreitung, als unberechtigte Über-
506 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
tragung psychologischer Betrachtungsweise auf andere Fragegebiete erkannte
Psychologismus. Die Philosophie ist nach den Zeiten der drohenden Auf-
lösung in Geschichte der Philosophie, Psychologie und anderes wieder im
Begriff zu erstarken. Von verschiedenen Ausgangspunkten her, namentlich
aber unter dem Einfluß der gerade von Lipps mitbegründeten phänomeno-
logischen Forschungsweise, wurden die Probleme der Ontologie und Meta-
physik, des Seins und der Geltung, wieder aufgenommen, vielfach unter
anderem Namen; es mehrten sich die Ansätze zur Systembildung. Ins-
besondere wurden die von allen psychischen Erlebnissen, in denen sie erfaßt
wird, verschiedene objektive Welt der Wahrheit, der Geltungen und Ver-
pflichtungen, der Gegenstandsordnungen immer deutlicher gesichtet. Mit
einer Rücksichtslosigkeit, die heroisch heißen muß, weil sie sich auch gegen
eigene Gedanken und Überzeugungen richtete, begann Lipps die Aus-
einandersetzung mit den neuen Strömungen, die Revision seines Stand-
punktes, und bis zuletzt hat er, unermüdlich nach Wahrheit strebend, ein-
gerissen und wieder aufgebaut. Die geistige Hochspannung, die sein ganzes
Leben ausgezeichnet hat, erreichte in diesen Jahren, die auch sonst an
Erregungen reich waren, ihren Höhepunkt; leider hat Lipps die große und
nach den letzten Proben aus seinen gesunden Tagen erfolgreiche Arbeit
nicht fortführen können — ein langsam sich steigerndes Siechtum ver-
hinderte ihre Vollendung.
So spiegelt das philosophische Werk von Theodor Lipps die typischen
Etappen des Entwicklungsganges der neuen deutschen Philosophie wider,
von der es selbst ein Teil, und, wie ich meine, ein nicht kleiner Teil ge-
wesen ist. Sein Schöpfer steht würdig neben den beiden Genien, die ihn
am nachhaltigsten beeinflußt haben, neben David Hume und Hermann
Lotze, dem einen verwandt durch die erstaunliche Fähigkeit, die komplexen
Tatbestände unseres Seelenlebens und seine verborgenen Hintergründe
analytisch zu durchleuchten, dem anderen ähnlich durch die Energie, mit
der er aus allen Einzelheiten 'der Fachwissenschaften nach Einheit des
Weltbildes, nach letzter Erkenntnis und Wertung des Ganzen der Welt
strebte, beiden überlegen durch die Leidenschaftlichkeit, mit welcher er
seine Forschungsarbeit und Lehrpflicht erlebte und seine wissenschaftlichen
Überzeugungen auch in der Beurteilung und Gestaltung der Lebenswirklich-
keiten nicht verleugnete.
Daß ein philosophischer Forscher von seiner Prägung auch als Lehrer
nachhaltig zu wirken verstand, bedarf beinahe keiner Versicherung; es lehrt
ja doch letzten Endes die Persönlichkeit, nicht die Methode. Gerade an
der Universität München erreichte die Lehrtätigkeit von Theodor Lipps
ihren Höhepunkt. Er gründete das Psychologische Seminar dieser
Universität, schuf eine umfassende psychologisch - philosophische Fach-
bibliothek und wurde nicht müde, für die Gründung eines psychologischen
Institutes zu arbeiten. Schon bei seiner Berufung nach München 1894 war
ihm durch den damaligen Kultusminister v. Müller ein Institut zugesagt
worden; wenn zuweilen die wissenschaftliche Arbeit, zu der er anregte,
unter dem Mangel an Räumen und Hilfsmitteln litt, vertröstete er seine
Schüler immer wieder auf das sicher kommende Institut. Als der Er-
Kleine Beiträge und Mitteilungen. SOT"" 507
^
Weiterungsbau der Universität durchgeführt wurde, erreichte er es endlich,
daß auch für das ersehnte Institut Räume vorgesehen wurden. Und
als die Räume fertiggestellt waren und er daran denken konnte, sie ein-
zurichten und der wissenschaftlichen Arbeit in seinem Geiste zuzuführen,
mußte er von seinem Werk zurücktreten.
Über diese organisatorische Arbeit der Schaffung der äußeren Bedingungen
für das philosophische und psychologische Studium ragt aber an Bedeutung
weit hinaus die Wirkung seiner Vorlesungen, Vorträge und Übungen. Ein
Meister des Wortes, ganz auf die Sache gerichtet, zog er seine Zuhörer
unwiderstehlich in den Bann seiner Gedanken; selber suchend verstand er
es vorzüglich, hilfsbereit auf Fragen, Zweifel, Einwände einzugehen, allen
ein Vorbild unbestechlichen wissenschaftlichen Ernstes und rastlosen Strebens
So wirkte er auf eine lange Reihe von Schülern, ohne doch eine eigentliche
Schule zu begründen; denn — so charakterisiert ihn zutreffend Alexander
Pfänder 1) als philosophischen Erzieher — er wollte nicht Schüler im Sinne
von gläubigen Nachbetern und bloßen Verkündern überlieferter Wahrheiten.
Seine Schüler sollten vor allem durch strenge methodische Schulung dazu
befähigt werden, gemäß ihren Anlagen, Fähigkeiten und Kräften möglichst
selbständig und gründlich philosophisch zu forschen. Damit war die wissen-
schaftliche Entwicklung des einzelnen unter ihnen so frei gelassen, daß sie
dieselben auf verschiedene, bisweilen entgegengesetzte Wege geführt hat.
Gerade dafür waren und sind seine Schüler Theodor Lipps zu besonderem
Dank verpflichtet, und gerade dadurch bewies er sich als geborenen und
berufenen Lehrer. Soweit seine Schüler auch heute noch persönlichen und
geistigen Zusammenhang pflegen, liegt ihre Einheit nicht in der Gemein-
samkeit eines Lehrgutes, einer Schulmeinung, sondern in derjenigen einer
wissenschaftlichen Gesinnung und Arbeitsweise.
Der Forscher und Lehrer, dessen Arbeit ich hier würdigen wollte, hat
auch am öffentlichen Leben teilgenommen, so oft es ihm als Gewissens-
pflicht erschien. Die Lauterkeit der Gesinnung, die seinem Wort in weiten
Kreisen Gehör verschaffte, ist unvergessen geblieben, als auch die Krank-
heit ihn nach und nach der öffentlichen Wirksamkeit, der Lehrkanzel, der
literarischen Produktion und schließlich selbst dem Umgang mit Schülern
und Freunden entzog. Das leuchtende Bild, das alle von seiner Persön-
lichkeit aus der Zeit ihrer höchsten Entfaltung gerettet haben, wird un-
vergänglich fortleben.
München. Aloys Fischer.
Wilhelm Wundt über den „wahrhaften Krieg*. Für Leipzig war es
ein eindrucksvolles Erlebnis, als der greise Philosoph der Universität —
sonst abhold öffentlichem Hervortreten — kürzlich vor einer Gemeinde
von Tausenden als Redner stand — nicht in der Weise und mit der
Wirkung des zündenden Volksredners, aber zur Ehrfurcht und Andacht
erhebend als Denker, der mit Geistesgewalt die Wahrheit erkennbar macht,
*) In der Einleitung zu den „Münchener philosophischen Abhandlungen", die
frühere Schüler Theodor Lipps' zu »einem 60. Geburtstage gewidmet haben.
(Leipzig 1911.)
508 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
die Erscheinungen in ihren Wurzeln aufdeckt, den Geschehnissen auf den
Kern geht und der Dinge letzte und höchste Zusammenhänge aufweist.
Es seien einige' der allgemeiner und philosophisch gehaltenen Gedanken-
gruppen des bedeutenden Vortrags hervorgehoben, i) Mit dem Leitgedanken
seiner Ausführungen ließ Wundt daran erinnern, wie Fichte 2) im Sommer
des schicksalschweren Jahres 1813 vor seinen Zuhörern der Berliner Hoch-
schule das Wort vom „wahrhaften Kriege" prägte und den Begriff also
erklärte: Ein wahrhafter Krieg ist derjenige, den ein Volk aufnimmt gegen
den Feind, der ihm Freiheit und Selbständigkeit rauben will. Frei und
selbständig aber ist ein Volk nicht schon dadurch, daß jeder Einzelne
innerhalb der Grenzen der Eechtsordnung seines Staates sich frei bewegen,
Güter nach eigenem Willen erwerben und verwenden kann, sondern wenn
es von äußerer Gewalt wie von Neid und Mißgunst anderer Völker unbe-
hindert ist, seine Kraft in den Dienst der allgemeinen menschlichen Kultur-
arbeit zu stellen, und wenn es so zu seinem Teil auf den ihm durch Natur
und Geschichte zugewiesenen Gebieten die Pflichten, die ihm in der Kultur-
gemeinschaft der Völker auferlegt sind, erfüllen kann. Das Problem des
gegenwärtigen Krieges, so führte dann Wundt aus, ist nun größer als das
der Befreiungskriege. Damals kämpfte der Deutsche nur um die Sicherung
des friedlichen Lebens innerhalb der Grenzpfähle; heute aber ist in uns
das Bewußtsein lebendig geworden, daß der Einzelne nicht bloß Staatsbürger,
sondern daß er zugleich auch Weltbürger ist, freilich ein Weltbürger, der
vor allen in der eigenen Erde, in seinem Volke und Staate, festgegründet
stehen muß, wenn er in der Welt und für die Welt dauernde Werte
schaffen will. Das Leben der Völker ist heute überall in Handel und
Wandel, in Erzeugung und Austausch der materiellen nicht minder wie
der geistigen Güter auf den Verkehr der Völker gestellt, und so stehen
nicht mehr, wie zur Zeit unsrer großen Dichter und Denker der Ver-
gangenheit, bloß die Kunst und die Wissenschaft unter dem Zeichen des
Weltverkehrs, sondern Leben und Eigentum, Recht und Sitte, Industrie
und Technik wurzeln ebenso wie alle geistigen Schöpfungen in dem Ganzen
des nationalen Lebens. England aber, als der Hauptschuldige bei der
Anfachung des Weltbrandes, hat sich in der Beseitigung der deutschen
Nation aus dem Rat der Völker sein klar erkennbares, durch keine Schein-
gründe und Phrasen mehr zu verhüllendes Ziel gesetzt. Man hat wohl
zuweilen einen Widerspruch darin gefunden, daß der einzelne Engländer
ein ehrenwerter, zuverlässiger Charakter ist, daß aber der Engländer als
Nation diese Eigenschaft vermissen läßt. Doch der Geist eines Volkes
findet schließlich seinen treuesten Ausdruck in seiner Philosophie, aller-
dings nicht in derjenigen, die ein Land hervorgebracht hat, aber sicherlich
in derjenigen, die in ihm die herrschende geworden ist. Die populäre
Philosophie des heutigen Englands aber ist nicht die eines Bacon und
Locke, eines Shaftesbury, Berkeley, Hume, auf die wir mit Ehrfurcht blicken;
*) W, Wundt, Über den wahrhaften Krieg. Rede gehalten in der Albert-
halle zu Leipzig am 10. Sept. 1914. Leipzig 1914. Alfred Kröner. 40 S. 0,50 M.
') Joh. Gottl. Fichte, Über den Begriff des wahrhaften Krieges. Leipzig 1914.
Verl. F. Meiner, 1,00 M.
IQeine Beiträge vind Mitteilungen. 509
die Moral, von der England im Grunde seines Herzens erfüllt wird, ist
vielmehr die Nützlichkeitsmoral mit ihrem Grundaxiom : Jeder tue, was ihm
selbst nützlich ist. Dieser Utilitarismus, dessen philosophischer ^Interpret
der Jurist Jeremias Bentham war, rechtfertigt anderen Nationen gegen-
über den schnödesten, rücksichtslosesten Egoismus. Und da der Erwerb
und die Erhaltung der Glücksgüter nach der Lehre des englischen Utilitariers
das Ziel alles menschlichen Strebens ist, wird das allgemeine Tauschmittel,
das Geld, zum Wertmaßstab. Was mehr Geld kostet, ist das höhere Gut.
So will England den Lohn der Soldtruppen erhöhen, um den Patriotismus
zu steigern. Wir Deutsche aber kennen keine Soldtruppen, sondern unsere
Söhne und Brüder, unser Volk selbst führt diesen uns aufgezwungenen
Krieg, und wir führen ihn nicht wie die Briten als ein Handelsgeschäft.
Darum ist dieser Krieg im vollsten Sinne ein wahrhaftiger Krieg; denn er
ist, wenn wir uns nicht selbst aufgeben wollen, ein notwendiger und, weil er
unsere höchste Pflicht in sich schließt, ein heiliger Krieg. — Wie nun
jedes Ding, nach dem Worte des deutschen Idealisten Jakob Böhme, sein
Gegenteil neben sich hat, steht neben dem wahrhaften Krieg der unwahre,
der trügerische und lügenhafte. Welcher Krieg aber trüge mehr diese Merk-
male als der von unseren Feinden gegen uns geführte ? Lüge von Anfang an ! —
Uns Deutschen ist es nicht gegeben, die Hände müßig in den Schoß zu
legen. Die friedliche Arbeit ist unser Leben. Je mächtiger unser Staat
wird, je reichere Hilfsquellen dadurch auch dem Einzelnen zu friedlicher
Arbeit sich eröffnen, um so größer werden auch die Pflichten sein, die
nicht nur unserem Staate, sondern die uns allen auferlegt sind, damit
unser Volk in der Mitarbeit an den großen Gütern der menschlichen Kultur
die führende Stellung gewinne und bewahre, die ihm gebührt. Darum gilt
Kants Wort: Das Höchste für den Menschen ist die Pflicht, und das
Größte unter den Gütern der Welt ist der sittliche Wille.
Zehn Gebote einer Kriegspädagogik — im Stile des Jägerschen päda-
gogischen Testamentes gehalten — veröffentlicht Theobald Ziegler in
der „Frankf. Zeitung".
1. Du sollst auf Zucht und Ordnung sehen unter deinen Schülern und
sie nach wie vor anhalten zu pflichtmäßiger Erfüllung dessen, was ihnen
obliegt. Denn du bist deinem Volke heute mehr als je verantwortlich
für die nächste Generation. Aber darum sei doch kein Schultyrann,
heute weniger als je, und verstehe die Kunst, gelegentlich auch fünf
gerade sein zu lassen. Und gib ihnen nicht viel auf: sie müssen ja täg-
lich die Zeitung lesen.
2. Du -sollst den Krieg nicht zum Amüsement werden lassen für die
Schuljugend; denn er ist eine gar ernste Sache. Darum feiere nicht jeden
Sieg durch einen schulfreien Tag.
3. Du sollst deine Schüler zu Staatsbürgern erziehen. Du hast jetzt
die beste Gelegenheit dazu, denn der Krieg ist ein staatsbürgerlicher Er-
zieher allerersten Ranges.
4. Du sollst noch interessanter unterrichten, als es sonst schon deine
Pflicht war; denn die Gedanken der Schüler gehen jetzt gar zu leicht ihre
610 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
eigenen Wege. Deshalb setze allen Unterricht in Beziehung zu den Er-
eignissen des Tages und der Stunde. Wo es sich leicht macht, da laß
dir die Gelegenheit ja nicht entgehen; wo es schwer ist, da ziehe sie getrost
an den Haaren herbei.
5. Du sollst noch mehr als bisher jede Stunde zu einer deutschen
Stunde machen und deine Schüler lehren den Stil des General-
quartiermeisters V. Stein. Das kannst du auch im Lateinischen tun
und in der Mathematik.
6. Du sollst im deutschen Unterricht Schiller lesen, soviel du kannst
und magst; denn er ist doch der männlichste unter unseren Dichtern ; und
Ästheten zu erziehen, hat^vorläufig keinen Wert mehr.
7. Du sollst im Geschichtsunterricht viel von Schlachten reden und
dich freuen, daß du es wieder tun darfst unbeschrien; deine Jungen inter-
essieren sich dafür und können sie in den Pausen gleich umsetzen in die
Praxis: das tut ihnen gut. Und du sollst sie sachte hinweisen auf das
Schreiten der Gottheit in der Geschichte, das sich heute so wunderbar und
wundervoll unter uns offenbart.
8. Du sollst dich nicht [ängstlich kümmern um Lehr- und um Stunden-
plan. Ist dir vorgeschrieben, von Hinterindien zu reden, so mache ruhig
eine Kriegsstunde daraus und führe deine Tertianer den Weg von Metz
nach Paris oder'' zu den Masurischen Seen. Auch~ in den Schulbehörden
sitzen ja keine Unmenschen, sondern vernünftige und patriotische Männer.
9. Du sollst dir überlegen, ob nicht wirklich ein Unterschied ist zwischen
Mann und Frau und zwischen dem Heldentum des Mannes und dem Helden-
tum der Frau; deshalb darfst du dir die Frage der Koedukation wohl
wieder zum Problem werden lassen, wenn auch du schon Geheimer Studien-
rat bist. Denn wir brauchen männliche Männer und wir brauchen frau-
liche Frauen, und jeder Teil hat seine besondere Gabe und Aufgabe im Krieg.
10. Du sollst dich freuen, daß es aus ist mit dem Jahrhundert des
Kindes; denn das war ein ganz törichtes Schlagwort. Unsere Heerführer
sind Männer zwischen 50 und 70 Jahren, und auch die rührenden Knaben,
die als die Jüngsten so todesmutig hinausziehen ins Feld, werden als ernste
Männer heimkehren von ihrer schweren Männerarbeit und auch der Zeit
nachher^ihren Stempel aufdrücken.
Richtlinien [für die militärische TorMldung gibt ein im Eeichsan-
zeiger veröffentlichterj Ministerialerlaß. Sie sind bestimmt für die älteren
Jahrgänge der Jugendabteilungen während des gegenwärtigen Kriegszustandes,
haben aber darüber hinaus auch eine allgemeinere Bedeutung und sind mit
ihrer starken Betonung der geistigen Ausbildung von psychologischem
Interesse. Es heißt in dem Erlaß:;
Vor allen Dingen ist Vaterlandsliebe, Mut und Entschlossenheit anzufeuern;
Hingabe für das Vaterland, für Kaiser und Reich zu entflammen durch
den Gedanken' an die ungeheure Gefahr, in der diese sich befinden.
Es ^ist klar [zu machen, daß Deutschland untergehen würde, wenn wir
nicht siegen, so daß wir siegen müssen, und jeder einzelne Vaterlandsver-
teidiger bis zum jüngsten hinab den festen Willen dazu im Herzen trägt.
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 511
Die vorzunehmenden Übungen werden folgende sein:
Schnelles lautloses Antreten in den einfachsten Auf Stellungsformen: der
Linie, der Gruppenkolonne. Sammeln in denselben Formen im Stehen
und in der Bewegung nach bestimmten durch den Führer angegebenen
Richtungen. — Das Zerstreuen aus diesen Formen und das schnelle laut-
lose Wiederzusammenschließen; die Jungmannschaft ist dabei anzuhalten,
Richtung und Fühlung selbsttätig einzunehmen. Einige einfache Bewe-
gungen in der Gruppenkolonne ohne Tritt mit Richtung Veränderungen auf
Zuruf und Wink. Marschübungen mit Unterweisungen in den Marsch-
regeln, namentlich hygienischer Natur. Regelung des Schrittmaßes und
der Geschwindigkeit. Ein Janger freier Schritt ist zu erzielen. Der An-
marsch und Rückmarsch zum Übungsplatz kann ; hierzu ausgenutzt
werden,; die allmähliche Verlängerung, die Marschfähigkeit steigern. Lehre
vom Gelände ist^ damit' zu verbinden. — Bildung einer Schützenlinie,
Bewegung von Gruppen, Zügen im Gelände, stets mit überraschenden
Übungen im Sammeln verbunden, um die Aufmerksamkeit zu wecken. —
Jede Bewegung derf Jugendabteilungen soll den Eindruck von Frische
und Munterkeit machen, ohne daß auf exerziermäßige Genauigkeit gehalten
wird. Unbedingt ^ist aber auf pünktlichste Folgsamkeit gegenüber
Zurufen und Befehlen der Führer zu halten. Schnelles Antworten und
Vortreten Aufgerufener ist zu erziehen. Einfache Lehre vom Gelände,
seine Bedeutung undj seine Benutzung für den Kampf, mit kurzer Angabe
über die heutige Waffenwirkung verbunden. — Geländebeschreibungen
mit Angabe auch der kleinsten Gegenstände als Vorbereitung zum Ziel-
erkennen. — Augenübungen aller Art. — Entfernungsschätzen. — Schnelles
Schätzen und Abzählen gleichartiger Gegenstände. — Gedächtnisübungen
als Vorübung für Meldungen über angestellte Beobachtungen. — Horch-
übungen. — Spurenlesen, d. h. Ziehen richtiger Schlüsse aus den im Gelände
gemachten Beobachtungen, t— Genaues und unbedingtes zuverlässiges
Wiedergeben^ von angestellten Beobachtungen. — Richtiges Weiter-
geben von kurzenj Anordnungen. — Genaues Zurechtweisen anderer im
Gelände. — Gebrauch von Uhr, Kompaß, Fernsprecher, Kenntnis der Morse-
schrift. — Benutzung der Karte. — Winkerdienst. — Mauer- und Baum-
ersteigen. — Kleine Behelfsarbeiten: Knotenbinden, Herstellen von
Schwimmkörpern, Flößen,' Behelfsbooten, Biückenstegen, Beobachtungs-
warten, Übergängen aller Art. Ferner: Zeltebau, Hüttenbau, Kochlöcher-
graben, Feueranmachen' und i Abkochen, Lagereinrichtungen aller Art. —
Tragbahrenbau. Erste Hilfeleistungen bei Verwundeten. — Benutzung
des Geländes als Deckung und zur Annäherung an den Feind. — Einnisten
von Schützenlinien, Anlage von Schützengräben. — Vorgehen aus einer
Deckung; Zurückgehen in eine solche. — Lösung ganz einfacher kleiner
Aufgaben zweier Abteilungen gegeneinander. — Erklärung des Vorposten-
dienstes; Aufstellung von Vorposten usw. — Bei allen diesen Übungen
ist jede Gelegenheit zu benutzen, um die Jungmannechaft mit selbständigen
Aufträgen in Ordonnanz-, Verbindungs-, Relais-, Erkundungsdienst zu
versehen, damit sie sich an Selbständigkeit, Verantwortlichkeit, Zu-
verlässigkeit gewöhnt. ■ — Alle Mittel sind zu benutzen, um Ausdauer
612 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
und Willen der Jungmannschaft zu stählen. Kein Auftrag, den sie
einmal übernommen hat, darf von ihr im Stiche gelassen werden. Jeder-
mann hat seine Pflicht bis zum Äußersten zu .erfüllen. — Die rein körper-
liche Ausbildung durch Freiübungen, Gymnastik, Laufübungen, einfache
Sportspiele usw. ist in die bisher abgehandelten Jungdeutschland-Übungen
hineinzulegen und besser öfter, als jedesmal lang andauernd zu treiben. —
In den Abendstunden hat einfacher theoretischer Unterricht über
Feld-, Wach- und Lagerdienst stattzufinden. Vor allen Dingen aber ist
auf die Herzen der Jugend durch Erzählung von den Großtaten der
Väter einzuwirken, durch Mitteilung von Kriegsnachrichten der Zorn
gegen den Feind zu entfachen, der, zumal im Osten, wo er deutschen
Boden betritt, alle Dörfer in Flammen aufgehen läßt und die Einwohner
vertreibt oder tötet.
Das Institut für Jugendkunde in Bremen, das im Sommer 1911 be-
gründet worden ist und unter der Leitung von Oberlehrer Dr. Valentiner
steht, gibt in den Statuten über seine Absichten und Arbeitspläne die
folgende Auskunft:
„Das Institut verfolgt den Zweck, Eltern und Lehrer in ihrem Wirken am
Kinde und Jugendlichen weiterzubilden, sie mit den Zielen, Aufgaben und Er-
gebnissen der Jugendkunde und Jugendbildung bekannt zu machen und die
wissenschaftliche und praktische Arbeit auf diesen Gebieten in jeder Weise
zu fördern.
Diesem Zwecke dienen vor allem folgende Veranstaltungen :
a) Vorträge über Jugendkunde und Jugendbildung ;
b) eine Bibliothek, enthaltend wissenschaftliche Werke und Schriften jeder
Art über Jugendkunde und Jugendbildung, sowie Jugendschriften;
c) Arbeitsräume und Arbeitsmittel, sowie eine praktischen und wissen-
schaftlichen Zwecken dienende Kinderlesehalle ;
d)] wissenschaftliche und praktisch wertvolle Arbeiten des Institutes (z. B.
Herstellung von Verzeichnissen empfehlenswerter Jugendschriften) ;
e) Sammlungen und Ausstellungen von Schülerarbeiten, Jugendschriften,
Bildern, Spielsachen, die Hygiene des Kindes betr. u. a., verbunden
mit Führungen und Referaten; Schülervorstellungen, bestehend in
Märchenerzählungen mit Lichtbildern u. ä."
Aus den bisher ins Leben gerufenen Einrichtungen und den in die Wege
geleiteten Veranstaltungen sei erwähnt, daß eine wissenschaftliche Bibliothek
begründet worden ist, die der Orientierung über die jüngsten jugendkund-
lichen Arbeiten dienen soll, ferner auch eine Sammlung von Jugendschriften
in dem Bestreben, den Jugendlichen im Leihverkehr gute Bücher zugänglich
zu machen, daß eine große von Dr. Valentin er geleitete Arbeit „Über den
freien Aufsatz von Schülern beiderlei Geschlechts" im Gange ist und bereits
auf der Breslauer Ausstellung des Bundes für Schulreform Teilergebnisse
vorlegte, daß weiterhin im Dezember 1913 eine Reihe von Vorträgen
die Frage der Jugendschriften behandelte, nachdem schon früher im An-
schluß an eine Ausstellung von Schülerarbeiten (Zeichnungen, Knet- und
Klebearbeiten) eine Vortragsreihe veranstaltet worden war, und daß schließ-
Kl^e Beiträge und Mitteilungen. 513
lieh auch eine Beteiligung an den Arbeiten der Sektion für Jugendkunde
im Bunde für Schulreform stattfindet. Für dieses Jahr ist geplant, 10000
Schulaufsätze nebst anderen Schülerarbeiten auszustellen. Das Institut er-
hofft auch, die Mittel zur Gründung einer Kinderlesehalle zu erhalten, um
zugleich mit der literarischen Anregung und Erziehung der Kinder niederer
Schichten die Gelegenheit zum Studium der Psychologie der kindlichen
Lektüre zu finden.
Bas pädagogisch-psychologische Laboratorinm an der Landeslehrer-
akademle in Wien erstattet in willkommener ausführlicher Darstellung
den Bericht über sein arbeitsreiches erstes Studienjahr. Leiter des im
Mai 1913 gegründeten Institutes ist der verdienstliche Professor Dr. Willi-
bald Kammel. Für das Jahr 1913 — 1914 hat der nordösterreichische
Landesausschuß 3000 Kr. bewilligt und diese Unterstützung auch für weiter
in Aussicht gestellt. Untergebracht ist das Laboratorium in einem geräu-
migen Zimmer des n.-ö. Pädagogiums in Wien (I. Bezirk, Hegelgasse 12
oder Schellinggasse 11). Für die zweckentsprechenden Einrichtungsgegen-
stände wie Kasten, Experimentiertische und dergleichen hat ebenfalls die
Landesverwaltung Sorge getragen. Elektrischer Strom kann als Licht- und
Kraftquelle benützt werden. Ein Schuldiener und ein zweiter Diener, der
Mechaniker ist, stehen für die Bedürfnisse des Laboratoriums zur Ver-
fügung. Wie die meisten psychologisch-pädagogischen Laboratorien ver-
folgt auch das an der n.-ö. Landes-Lehrerakademie einen zweifachen Zweck:
1. Es wird dort die Pädagogik als empirische Forschung gepflegt. 2. Es
will Lehrer und Lehrerinnen verschiedener Schulkategorien und allen an der
Erziehung interessierten Personen zur Übermittlung theoretischer und prak-
tischer Kenntnisse auf dem Gebiete der Pädologie dienen. Dem ersten
Punkte hat der Leiter einstweilen durch 2 Veröffentlichungen, denen andere
bald folgen, entsprochen (Über ästhetische oder außerästhetische Gefühle
und Urteilsreaktionen bei Schulkindern [Pharus, V. Jahrg.]: Eine neue
Methode zur Bestimmung der Ermüdbarkeit mit Demonstrierung eines
neuen Gewichtsdoppelästhesiometers [Kösel, Kempten 1914]), dem zweiten
durch Vorträge. Außer den regelmäßigen an der Lehrer-Akademie hielt
der Leiter 30 Vorträge, die von mehr als 1200 Personen besucht waren.
Ein schon reiches Instrumentarium und eine planmäßig angelegte Bücherei
dienten als Arbeitsmittel.
Das reichhaltige Verzeichnis der hierzu im Institute ausgeführten Unter-
suchungen, von denen die meisten im Zusammenhange mit den Arbeiten
für die geplante Psychographie einer Schulklasse in Verbindungen stehen,
dürfte allgemein interessieren und brauchbare Anregungen geben:
1. Über ästhetische oder außerästhetische Gefühls- und Urteils-
reaktionen bei Schulkindern. Die Versuchspersonen dieser Untersuchung
waren 44 Schüler der I. Klasse B der Staatsrealschule im 18. Wiener Bezirke.
Der Leiter des Laboratoriums konnte dadurch, daß er seine Vpn. zu einer spon-
tanen Betätigung des Gefühls und Urteils veranlaßte, zeigen, daß sich seine Vpn.
bei der Prüfung des Farbensinns in ihren Gefühls- und Urteilsreaktionen in zwei
Dritteln von allen Fällen von außerästhetischen Nebenassoziationen leiten ließen,
eine Tatsache, die, wenn weitere Untersuchungen sie verifizieren, intensivere
Zeitschrift f. pädagog. Paycliologie. 33
514 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Pflege des Farbensinns bei Schulkindern heischt, damit ihr außerästhetisches
Urteilen allmählich in ein ästhetisches hinübergeleitet werde.
2. Untersuchung der zeichnerischen Begabung. An der Untersuchung
beteiligten sich 23 Schüler der I. Bürgerschulklasse der Übungsschule des n.-ö.
Landeslehrerseminars und 24 Schüler der 3. Klasse B derselben Anstalt. Den
Vpn. war als Aufgabe gestellt worden, ein kleines Wohnhaus mit allem, was da-
zu gehört, 1. zu zeichnen, 2. zu modellieren. Da die Schüler beider Klassen bis
zum Tage des Experimentes noch keinen Unterricht im Modellieren erhalten
hatten und gerade die Modellierarbeiten bei den älteren Schülern weit besser
als die Zeichnungen ausgefallen sind und bei den Volksschülern sich beide Arten
der Bearbeitung dieser Aufgabe als gleichwertig erwiesen, so zeigen diese ver-
gleichenden Untersuchungen im plastischen und zeichnerischen Darstellen neuer-
dings, wie namhafte Vertreter der experimentellen Pädagogik recht haben (Meu-
mann, Kerschensteiner, Lay u. a.), wenn sie verlangen, daß Zeichnen und Modellieren
nicht nur Lehrgegenstand, sondern im Sachunterricht geradezu Unterrichtsprinzip
sein sollen. Die Untersuchungen werden im kommenden Schuljahre in größerem
Umfange durchgeführt werden.
3. Anthropometrische Messungen der Schüler der 3. Klasse B der Übungs-
schule des n.-ö. Landeslehrerseminars. Gemessen wurden die Körperhöhe, der
Brustumfang (Inspirium und Exspirium), das Körpergewicht. Die Messungen
wurden während des Schuljahres fortgesetzt.
4. Bestimmung der Reaktionsweise bei Kindern nach der Methode der
Häufigkeitskurven. Schüler der Klassen I B, II A und III B der Übungsschule.
Die Versuche wurden mit akustischer Reizung und chronoskopischer Registrie-
rung durchgeführt.
6. Bestimmung der individuellen Taktart zweier Schüler der I. Klasse
der Übungsschule mit Hilfe der graphischen Registrierung.
6. Ermüdungsmessungen wurden vorgenommen mit dem Ergographen
nach Dubois und dem Gewichtsdoppelästhesiometer nach Kammel. Als Versuchs-
personen dienten bei den ergographischen Messungen teils Erwachsene, teils
Schüler. Bei. den ästhesiometrischen Untersuchungen waren Schüler der I. Klasse
B, der 5. Klasse A und B der Staatsrealschule im 18. Wiener Bezirk Versuchs-
personen, Das Ergebnis der letzteren Untersuchungen ist auf der 83. Tagung deut-
scher Naturforscher und Ärzte in Wien, September 1913, mitgeteilt worden; das
Ergebnis der ergographischen Messungen, die sich zum Teil über mehrere Wochen
erstrecken, wird in Kürze publiziert werden.
7. Urteile von Schülern über Funddiebstahl und ,, Naschen". Diese
Umfragen wurden unternommen, um diejenigen Ginzyckis in Berlin zu über-
prüfen.
8. Umfrage über die Frage der Koedukation und Koinstruktion.
Die 11 Fragen enthaltenden Fragebögen wurden zahlreichen Lehrern, welche
längere Zeit an Schulen mit Koedukation und Koinstruktion tätig waren, mit
der Bitte übergeben, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Die Sammlung des
Materials ist noch nicht abgeschlossen.
9. Prüfung des Zahlengedächtnisses von sechs Schülern der 3. Klasse
B der Übungsschule nach der Methode Ranschburgs.
10. Prüfung der Suggestibilität aller Schüler der 3. Klasse B mit Hilfe
von Erinnerungsvorgängen. Zu diesem Zwecke wurde ein sogenannter „Sugge-
stivkasten" hergestellt, der 6 Objekte enthielt. Unter den Fragen, welche beim
Verhör an jeden Schüler einzeln gerichtet wurden, befanden sich einige Sug-
gestivfragen, um den Widerstand der Schüler gegen dieselben zu kontrollieren.
11. Bestimmung des interindividuellen Vergleiches der Vorstellungs-
weise von Schulkindern. Die umfangreichen experimentellen Untersuchungen
dieser Frage nahmen beinahe einen Monat in Anspruch und ergaben die Bestim-
mung der Vorstellungsweise der Schüler einer Klasse mit Hilfe der Fehler, die
bei der Ausführung von einfachen Rechenoperationen in den Operationszeichen
gemacht wurden.
Kleine Beiträge wad Mitteilungen. 515
12. Umfrage über den Genuß geistiger Getränke. Die Umfrage erstreckt
sich zunächst nur auf die Schüler der 3. Klasse B der Übungsschxile. Das Er-
gebnis ist nebenbei bemerkt als ein günstiges zu bezeichnen, da nur zwei Schüler
(unter 23) täglich regelmäßig alkoholische Getränke genießen.
13. Über Intelligenzprüfungen einiger Schüler nach dem Binet-Simon-
schen Textverfahren. Untersucht wurden Schüler der Klassen I B, II A u. HI B
der Übungsschule. Die Prüfungsergebnisse sprechen neuerdings für die Brauch-
barkeit des Binet-Simon sehen Verfahrens zur Ermittlung der Intelligenz eines
Schulkindes. Nichtsdestoweniger sollen im nächsten Schuljahre an den einzelnen
Tests Modifikationen vorgenommen werden, die diese Prüfungsmittel für Wiener
Kinder noch geeigneter machen dürften.
14. Das Ideal von Kindern (künftiger Beruf). Unter den 24 Vpn. der 3.
Klasse B der Übungsschule bevorzugten beinahe die Hälfte der Schüler aka-
demische Berufe (Ingenieur) und den Wehrstand, eine Interessenrichtung, die
uns bei Knaben wohlsituierter Eltern nicht überrascht.
15. Überprüfung der von Univ.-Prof. Marbe in Würzburg formulier-
ten Gleichmäßigkeit des psychischen Geschehens in bezug auf die
Nennung einer beliebigen Farbe oder Zahl. Versuchspersonen waren die Schüler
der Kltissen III A, III B, IV und V der Volksschule und der I. Klasse der Bürger-
schule der Übungsschule des n.-ö. Landeslehrerseminars, des IV. Jahrganges
dieser Anstalt, des IV. Jahrganges des k. k. Lehrerbildungsanstalt im IIL Bezirke
Wiens, die Schülerinnen von vier Klassen einer Mädchenbürgerschule in Wien
und die Schülerinnen von sieben Klassen einer Mädchenvolksschule. Diese
Umfrage bestätigt im großen und ganzen Marbes Ansicht.
16. Untersuchung des unmittelbaren Behaltens (Gedächtnis). Es wur-
den mit den Schülern der III. Klasse B zwei Parallelversuche durchgeführt, ein-
mal mit sinnvollen, das anderemal mit sinnlosen Wörtern. Im nächsten Schul-
jahr soll vor allem deis Problem des unmittelbaren und mittelbaren Behaltens
des Lehrstoffes in einigen Klassen der Übungsschule und des Seminars durch-
geführt werden,
17. Prüfung der Qualität freier Assoziationen. Den 18 Vpn. der III.
Klasse B wurden Reizwörter in Ranschburgs Mnemometer dargeboten. Die Er-
gebnisse wurden als Kontrolle zu den Intelligenzprüfungen verwendet. Von einer
chronoskopischen Registrierung wurde bei diesen Experimenten abgesehen, da
der zeitliche Ablauf derartiger Assoziationen in zahlreichen Versuchen mit Hilfe
des Schallschlüssels nach Hempel und des Hipp sehen Chronoskopes im Monat
Juni gemessen werden wird.
18. Bestimmung der Intensität und des Gleichmaßes der Konzen-
tration der Aufmerksamkeit nach der Methode von Bourdon. Auch das
Ergebnis dieses Experimentes wurde bei der Beurteilung der Intelligenz der
Schüler der IH. Klasse B herangezogen.
19. Das liebste Spielzeug der Schüler der IH. Klasse B. Wie zu erwarten
war, wählten fast 90°/o aller Schüler sich bewegende, die konstruktive Tätigkeit
fördernde Spielzeuge.
20. Die Korrelation zwischen der Begabung für Mathematik und
Gesang. Als Vpn. dienten die Schüler des III. Jahrganges A und B des n.-ö.
Landeslehrerseminars. Diese Untersuchung wurde durchgeführt, um die in
letzter Zeit in einigen pädagogisch-psychologischen Zeitschriften erschienenen Ar-
beiten über diese Frage einer Überprüfung zu unterziehen.
21. Über die Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichtsfächer
im Urteile der Schüler. Im Anschlüsse an die Arbeit Kammeis im „Pharus"
(IV. Jahrgang, 1913) hat Fräulein Klima bei den Schülerinnen einer Bürgerschule
in Wien eine Umfrage über die Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichts-
gegenstände veranstaltet. Als beliebtester Gegenstand ist bei ihren Vpn., die
Mädchen waren, Turnen zu nennen, während die Geographie und Geschichte
von denselben Mädchen abgelehnt wurden. Das Material der Umfrage bei den
Schülern der III. Klasse B der Übungsschule wurde noch nicht verarbeitet,
33*
516 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
ebenso noch nicht das, welches von den Schülern der I. Klasse der Bürgerschule
dieser Anstalt abgeliefert wurde. Zweck der letzteren Umfrage, welche mit der
besonderen Erlaubnis des Herrn Seminarlehrers A. Strolz vorgenommen wurde,
war, festzustellen, wie diesen Schülern der Arbeitsunterricht gefallen h'atte. Die
provisorische Sichtung des Materials ergab, daß der Arbeitsunterricht die Vpn.
bis auf eine partielle Ablehnung (Modellieren) sehr stark interessiert hatte.
22. Versuche über die Auffassung simultan dargebotener homogener
Reize, welche in dem Mnemometer nach Ranschburg optisch vorgeführt wurden.
Für die 23 Schüler der III, Klasse B der Übungsschule wurden die Reizkarten
No. I — III bei einer Exposition des Reizbildes von 0,1 Sekunde = 100 Sigmen
verwendet. Aus den protokollarischen Aufnahmen sei kurz mitgeteilt, daß nur
je sieben Schüler imstande waren, drei, beziehungsweise vier homogene Reize zu
erfassen, obgleich die tachistoskopische Darbietung länger dauerte als bei den
Experimenten von James Catell, Goldscheider, Freeman und anderen.
23. Umfrage, betreffend die Freundschaften der Schüler. Die Ant-
worten, welche die Schüler der III. Klasse B darauf gaben, sind als Ergänzungen
der Frage nach den Idealen der Schüler aufzufassen.
24. Aufnahmen der Mimik der Aufmerksamkeit nach der von Univ.-
Prof. Sommer erfundenen graphischen Methode. Vpn.: Schüler der Vorbereittmgs-
klasse des n.-ö. Landeslehrerseminars und zwei erwachsene Personen.
25. Bestimmung des Einflusses der Aufmerksamkeit auf die Atem-
tätigkeit mit Hilfe der kymographischen Registrierung. Mehrere Schüler der
III. Klasse B der Übungsschule dienten als Vpn.
26. Tachistoskopische Leseversuche, ausgeführt mit allen Schülern der
III. Klasse B der Übungsschule. Als Tachistoskop wurde das Mnemometer von
Ranschburg verwendet und die Reizbilder 100 Sigmen exponiert. Diese für die
Kenntnis des Leseprozesses wichtigen Experimente werden im nächsten Schul-
jahre mit Schülern der ersten Klasse vorgenommen und dann veröffentlicht
werden.
Die internationale pädagogische Fachpresse wurde in der Über-
sicht auf der „Bugra", der internationalen Ausstellung für Buchgewerbe
und Graphik in Leipzig, gezeigt. Es war wohl das erste Mal, daß dieser
schwierige Versuch durchgeführt und bei dem Zusammentreffen einer Reihe
ungewöhnlich günstiger Umstände gelungen ist. Die lehrreiche Veranstaltung
ist dem Lehrer Max Döring zu danken gewesen.
Man zählt zurzeit allein im deutschen Sprachgebiete nicht weniger
als rund 500 pädagogische Zeitschriften und andere Periodica. Sie waren
zum größten Teile in Sachgruppen ausgestellt und gaben in sehr anschau-
licher Weise ein Bild von dem vielgestaltigen pädagogischen Leben unserer
Zeit. Man braucht z. B. nur an irgend eine pädagogische Frage zu denken
— sagen wir „Jugendfürsorge" oder „Weibliche Bildung" oder „Psycho-
logische Pädagogik" — und man hat in der Anzahl der aufgelegten Zeit-
schriften einen guten Maßstab für die Aktualität und zugleich für die ein-
ander oft widerstrebenden Strömungen eines dieser Sondergebiete.
In einer historischen Abteilung wurde die Entwicklung der deutschen
pädagogischen Presse gezeigt. Sie setzt etwa in der Mitte des 18. Jahr-
hunderts ein und schreitet vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis in unsere
Zeit hinein geradezu stürmisch, um nicht zu sagen „beängstigend" vorwärts.
Von besonderem Reiz ist es, die Organe namhafter Pädagogen (Basedow,
Pestalozzi, Diesterweg, Dittes u. a.) in den Originalen vor sich zu
sehen. An einer Reihe sehr anschaulicher statistischer Tafeln konnte man
Kleine Beiträge und Mitteilungen. 517
sich über die Entwicklung, Verbreitung und den Umfang der pädagogischen
Presse leicht orientieren.
Die pädagogische Presse des Auslandes kam wohl zum ersten
Male systematisch gesammelt in übersichtlichen Zusammenstellungen zur
Geltung. Auch hier wirkte ganz überraschend die ungemeine Reichhaltigkeit.
Der Gesamteindruck lehrte auf das eindringlichste vor allem eins: die päda-
gogische Idee ist zurzeit lebendiger denn je zuvor, sie führt ein kräftiges
Eigenleben in allen Ländern der Welt. Es sei nur hingewiesen auf die
außerordentlich reichhaltige, selten gut ausgestattete Presse der Vereinigten
Staaten von Nordamerika und auf die in mehr als einer Beziehung sehr
interessante Japans, die z. B. in vielen Punkten das deutsche Vorbild verrät.
Mitteilnngen. 1. Im 81. Halbjahre der Wissenschaftlichen Vorlesungen
des Berliner Lehrervereins (Winter 1914/15) sind für Pädagogik und Psycho-
logie die folgenden Veranstaltungen angesetzt: Oberlehrer Dr. Buchenau:
A. Geschichte der Pädagogik. III. Semester: Rousseau. Zeitalter des
Neuhumanismus. Romantik und Reaktion. Mit Übungen über Fichte,
W. V. Humboldt und Schleiermacher. Sozialpädagogen der Gegenwart:
Rißmann, Kerschensteiner, Tews, F. W. Foerster. Darstellung und Kritik.
Dr. Poppelreuter: I. Vorlesung: Psychologie an Hand der Beispiele:
Lernen, Sprechen, Lesen, Schreiben, Rechnen, Zeichnen. IL Praktische
Übungen im Anschluß an Themata der Vorlesung. IIL Leitung und
Besprechung selbständiger Arbeiten. Oberlehrer Dr. Buchenau:
Schwierige Kapitel aus der Ostermannschen Psychologie. (Zugrundegelegt
wird die fünfzehnte Auflage. Oldenburg, 1914.) Zur Behandlung kommen
u. a. folgende Gebiete: Entstehung der Raumvorstellung; Gedächtnis,
Apperzeption, Aufmerksamkeit; die Gemütsbewegungen; Kinderpsycholo-
gisches. Es sollen von den Teilnehmern auch kleinere Arbeiten geliefert
werden. An die einstündige Vorlesung schließt sich ein 30 — 40 Minuten
umfassendes Kolloquium zur Klärung der Probleme. — Den früheren und
jetzigen Teilnehmern an den psychologischen Vorlesungen und Übungen
bietet sich in der Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik unter
der wissenschaftlichen Leitung des Herrn Dr. 0. Lipmann Gelegenheit zu
selbständigen pädagogisch-psychologischen Arbeiten. Es werden dort Unter-
suchungen angestellt über Normalleistungen der Schüler im Rechnen und
im Deutschen und über Altersfortschritte in den Leistungen. Ferner
werden die Versuche mit einer Fehlerstatistik und psychologischen Fehler-
analyse fortgesetzt. Außerdem steht es jedem Mitgliede frei, Arbeiten nach
eigener Wahl anzufertigen.
2. Im Wintersemester 1914/15 finden sich an der Hochschule für Frauen
in Leipzig unter der Gruppe Pädagogik die folgenden Vorlesungen und
Übungen verzeichnet: Spranger, Systematische Pädagogik mit einem Abriß
der Kinderpsychologie (Pädagogik III. Teil). Brahn, Zeitfragen der Er-
ziehung und des Unterrichts. Gedan, Historisch-pädagogische Übungen,
IL Teil: Rousseaus „Emil". Spranger, Friedrich Fröbels „Menschen-
erziehung" von 1826 (mit schriftlichen und mündlichen Übungen). Brahn,
Übungen zur experimentellen Pädagogik. Im Institut für experimentelle
518 Literaturbericht.
Pädagogik: a) für Anfänger; b) für Fortgeschrittene: Schulorganisatorische
Fragen. Kretzschmar, Übungen zur vergleichenden Kinderforschung:
Ursprung und Entwicklung des Ichbewußtseins. (Im Institut für Kultur-
und Universalgeschichte.) Prüfer, Methodisch-praktische Übungen: Aus-
gewählte Kapitel aus der Kinderpsychologie. (Im Institut für Erziehungs-
kunde. Die Probelektionen werden in einer Klasse des Seminars für
Kindergärtnerinnen abgehalten.) — Einführung in die Benutzung des im
Erziehungsmuseum gesammelten Materials durch die Assistentin des Museums.
— Kursus für Lehrerinnen zur Einführung in die Fröbelsche Kindergarten-
praxis.
3. Des Krieges wegen sind aufgehoben worden: der IV. Internationale
Kongreß für Volkserziehung und Volksbildung, der in der Zeit vom 25. bis
29. Sept. in Leipzig abgehalten werden sollte, und der IV. Kongreß für
Jugendkunde und Jugendbildung, den der Bund für Schulreform für die
1. Oktoberwoche in Köln festgesetzt hatte.
4. Am 9. Juli d. J. ist zu Dölau bei Halle a. S. Pastor Otto Flügel,
einer der Führer der Herbartschen Schule, Mitherausgeber der „Zeitschr. für
Phil. u. Päd.", gestorben.
5. An der Kölner Handelshochschule hat sich der Provinzialschulrat a. D.
Dr. Wilhelm Kahl als Privatdozent für Pädagogik habilitiert.
Literaturbericht.
Friedrich Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. Dritter
Teü: Die Neuzeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts, 11. mit einem
Philosophen- und Literatoren-Register versehene Auflage. Vollständig neu
bearbeitet und herausgegeben von Dr. Max Frischeisen-Köhler. Mittler &
Sohn. Berlin 1914. XI und 439 und 144* S. M. 10 — , geb. M. 11,75.
Nach dem Todes Heinzes ist es offenbar nicht mehr möglich gewesen, die
Bearbeitung aller vier Teile des „Überweg-Heinze" einem Herausgeber zu
übertragen, und so haben sich denn vier Gelehrte in die Aufgabe geteilt. Was
besonders diesen dritten Band betrifft, den Frischeisen-Köhler bearbeitet
hat, so ist er in wesentlichen Teilen völlig umgestaltet. Die Anordnung und
Verteilung des Stoffes ist ganz verändert. „Nahezu der gesamte Text des Groß-
gedruckten (der eine allgemeine -Würdigung der Bewegungen und der Denker
gibt) und beinahe die Hälfte von dem Texte des Kleingedruckten (der eine
Reproduktion der Lehren im engen Anschluß an die Hauptschriften der Philosophen
gibt) ist neu geschrieben worden." Die kritischen Betrachtungen Überwegs
zu den verschiedenen Systemen glaubte der neue Herausgeber durchweg streichen
zu sollen, wie er auch die „Werturteile über die neuere Literatur" offenbar dem
jetzigen Charakter des Werkes nicht mehr entsprechend fand. Manche Neuerungen,
die er dem Werke zugute kommen lassen möchte, hat der Herausgeber bei
dieser Auflage noch nicht durchführen können, so daß sie in einem gewissen
Sinn als Durchgangsstadium zu bezeichnen ist. Immerhin wird es allgemein
Befriedigung hervorrufen, daß nun in absehbarer Zeit der ganze Überweg in einer
dem Stande der gegenwärtigen Forschung angepaßten Neubearbeitung vorliegen
wird, denn dieses Werk hat sich allmählich in allen Kreisen, die mit der Philo-
sophie Berührung haben, unentbehrlich gemacht.
Berlin. Werner Bloch.
Literaturberi cht. 519
\
Jahrbücher der Philosophie. Eine kritische Übersicht der Philosophie der
Gegenwart. Herausgegeben in Gemeinschaft mit zahlreicl^n Fachgenossen von
Max Frischeisen-Köhler. 2. Jahrgang. Mittler & Sohn. Berlin 1914.
V u. 240 S., geh. 6 Mk., geb. 7,50 Mk.
Der vorliegende zweite Jahrgang der Jahrbücher der Philosophie ist im
wesentlichen der praktischen Philosophie gewidmet. Er enthält Berichte über
„Die Grundlagen der Werttheorie" von Oskar Kraus, „Die Freiheit des Willens"
von Otto Braun, die „Ethik" von Max Scheler, die „Soziologie" von
Othmar Spann, die „Pädagogik" von Rudolf Lehmann, „Die Bedeutung der
Psychologie für Pädagogik, Medizin, Jurisprudenz und Nationalökonomie" von
August Messer. Hier interessieren naturgemäß am meisten die Aufsätze von
Rudolf Lehmann und August Messer. Der Bericht über die pädagogische
Literatur scheint mir unter allen Aufsätzen dieses Bandes derjenige zu sein, der
am meisten seiner Aufgabe gerecht wird. Er bietet eine großzügige Orientierung
über die verschiedenen Tendenzen, die sich auf dem Gebiet der Pädagogik
geltend machen, er geht ruhig und sachlich auf die Lehren der sich bekämp-
fenden Schulen ein, sucht jedem gerecht zu werden und hält sich mit der Kritik
in solchen Grenzen, daß der letzte Zweck des Ganzen, eine Orientierung über
die gegenwärtige pädagogische Literatur nicht gestört wird. Gewundert hat mich
nur, daß die von Wynecken ausgehende pädagogische Bewegung keinerlei Er-
wähnung gefunden hat. Auch die kurze Orientierung Messers über die päda-
gogische Psychologie ist lesenswert, insofern sie immerhin den Versuch macht,
die einzelnen Arbeitsgebiete vom Standpunkt des Ganzen aus zu überblicken.
Aus Gründen aber, die wohl mehr in der Sache als am Verfasser liegen, —
die ganze pädagogisch-psychologische Bestrebung ist ja einerseits noch jung
und andererseits in ihrer wechselseitigen Bestimmtheit zur philosophischen
Pädagogik noch nicht sicher festgelegt — bietet dieser Überblick weniger große
und allgemeine Gesichtspunkte, als eine bloße Ordnung und Nebeneinander-
stellung der wichtigsten Erscheinungen. Durchaus begründet scheint mir der
Hinweis auf die Gefahren eines sich entwickelnden pädagogischen „Psychologis-
mus" zu sein. Es wäre traurig, wenn auch die Pädagogik vor diesem jetzt ja landes-
üblichen Geschick aller philosophischen Disziplinen nicht bewahrt werden sollte.
Berlin. Werne^r Bloch.
Dr. phil. Friedrich Karl Schumann: Religion und Wirklichkeit
Kritische Prolegomena zu einer Religionsphilosophie. — Quelle und Meyer
Leipzig 1913. — 152 S. —
Aus dem Ganzen der religionsphilosophischen Fragestellung hebt diese Arbeit
ein Problem heraus, das sie zum Gegenstande der wesentlich kritisch gerichteten,
Untersuchung macht: die Frage nach dem Wirklichkeitsanspruch der Religion
genauer gesagt nach dem Rechte, das dieser Wirklichkeitsanspruch vor einer
wissenschaftlichen, philosophischen Prüfung ausweisen kann. Und zwar stellt sie
sich im wesentlichen die Aufgabe, einige besonders charakteristische derjenigen
neueren Versuche einer religionsphilosophischen Grundlegung, die in ihrer Methode
unter dem Einflüsse des neukantischen Kritizismus stehen, daraufhin zu prüfen,
ob sie dem Wirklichkeitsanspruch der Religion gerecht werden, ihn verständlich
machen und so die Möglichkeit bieten, die zentrale Aufgabe der Religions-
philosophie als Wissenschaft, nämlich die organische Eingliederung der Religion
in das Ganze des Geisteslebens und seine Gesetzlichkeit, einer Lösung zuzuführen.
Für diese kritische Auseinandersetzung bereitet sich Schumann zuvor den
Boden durch eine orientierende Untersuchung der Religionsphilosophie oder —
\vie er auf Grund seines wohl wesentlich an Rehmke orientierten Standpunktes
zu sagen vorzieht — der systematischen Religionswissenschaft: nach ihrer Methode»
ihrem Gegenstande und ihrer Aufgabe. Die letztere findet er in der Bestimmung
des Wesens des Religiöseii, d. h. dessen, was subjektiv oder objektiv als religiös
vorgefunden wird, auf Grund einer Sammlung und phänomenologischen Ver-
arbeitung des Tatsachenmaterials. Dabei lehnt es der Verfasser ab, Religions-
520 Literaturbericht.
Psychologie und Religionsgeschichte innerhalb der systematischen Religions-
wissenschaft als Son^erwissenschaften anzuerkennen, vielmehr sieht er in ihnen
nur aus praktischen Gründen besonders benannte Ausschnitte aus der historischen
bezw. psychologischen Gesamtwissenschaft. Das Religiöse als Religiöses, nicht als
psychisches oder geschichtliches Faktum, ist der besondere Gegenstand einer
besonderen Fachwissenschaft, der Religionswissenschaft. Damit verneint
Schumann auch die Notwendigkeit der Scheidung einer quaestio facti — die
der Religionspsychologie und Religionsgeschichte zufiele — und einer quaestio
juris innerhalb der Religionswissenschaft; denn diese ist ihm vom ersten bis zum
letzten Schritt Tatsachenforschung und^ Tatsachenbestimmung, und die Wirk-
lichkeitsbestimmung ist nur ein Stück dieser Bestimmungsarbeit. Allerdings
scheint diese Ablehnung jener Scheidung vorwiegend der Befürchtung zu ent-
springen, daß sie notwendig zu der psychologistischen Auffassung der Religion
führen müsse, die Schumann im Kritizismus bekämpft; sachlich scheint sie uns
nicht zwingend begründet und wird auch von Schumann späterhin nicht voll-
inhaltlich aufrechterhalten.
Die gestellte Aufgabe setzt ferner voraus, daß das religiöse Tatsachenmaterial
selbst daraufhin angesehen werde, was sich aus ihm für die Frage der Wirk-
lichkeit des Gegenstandes der Religion ergibt. Bei dem Mangel einer ausgeführten
,J*hänomenoIogie des religiösen Lebens" beschränkt sich Schumann auf einige
allgemeine Sätze, die als „Selbstaussagen der Religion" sollen gelten können. Die
Methode, welche zu diesen Sätzen führt, die Frage, in welchem Sinne sie als
eine „phänomenologische" bezeichnet wird, sowie ihre Abscheidung von empiri-
scher Induktion gelangt dabei nicht zu völliger Klärung. Es ergibt sich für
Schumann, daß es sich in der Religion um ein Verhältnis des Menschen zu
einer höheren Macht handelt und zwar um ein], Wirkensverhältnis, dessen Glieder
stets die menschliche Seele und ein göttliches Bewußtsein sind, usw. Gegenüber
einer kritizistisch beeinflußten Religionsphilosophie, die auf Grund ihrer erkenntnis-
theoretischen Voraussetzungen ein solches Wirkensverhältnis und den darin be-
haupteten „transzendenten" Gegenstand der Religion bestreiten zu müssen
glaubt, — und daher genötigt sei, jenen „Sachverhalt" umzudeuten oder zu ver-
schleiern, — muß Schumann diese Selbstaussagen der Religion aufrechterhalten
und gelangt so zur Aufrollung des Problems der „Transzendenz". Der neuere
Versuch der kritizistischen Religionsphilosophie, den Transzendenzbegriff des
älteren Kritizismus, — der auch dasjenige als unerfahrbar ausschloß, was für
den Rationalismus den allgemeinen Vernunftwahrheiten der Religion „trans-
zendent" war, nämlich das nicht rational Wahre, den positiven Offenbarungs-
inhalt, — zu überwinden und auf Grund einer Kritik desselben den Gehalt der
Religion als „religiöse Erfahrung" zu begründen, — auch dieser Versuch genügt
nach Schumann den Anforderungen des religiösen Gegebenen nicht; denn auch
er enthält noch das tzqcözov tpevöog des alten Kritizismus : den Transzendenzbegriff
überhaupt mit seinen logischen Voraussetzungen, und geht daher von einer
falschen Fragestellung aus, die in den Tatsachen der Religion selbst keine Unter-
lage besitzt. Die folgende eingehende kritische Auseinandersetzung mit Natorp
und Simmel, die dieses zu zeigen unternimmt, bildet den Hauptinhalt der
Arbeit. Schumann gibt zu, daß der Wirklichkeitsanspruch, den das religiöse
Erlebnis stellt, der wissenschaftlichen Nachprüfung bedarf, in diesem Sinne also
einer quaestio juris unterliegt. Wenn andererseits seine Wesensbestimmung der
Religion Geltung hat, so wird man ihm beistimmen dürfen, daß weder die kriti-
zistische Ablehnung des Transzendenzanspruchs stichhaltig erscheint, noch die
Begründung der Religion auf die Sphäre des Gefühlsjund seine Formgesetzlichkeit,
wie sie Natorp, oder auf eine besondere selbständige und allumfassende Kate-
gorie des Geistes, wie sie Simmel versucht, dem Wesen der Religion völlig ge-
recht zu werden vermag. Wie aber über den Wirklichkeitsanspruch der Religion
letztgültig entschieden werden muß, darauf bleibt uns auch Schumann die
Antwort schuldig; vielleicht gibt er sie in einer eigenen Religionsphilosophie, die
nach dem Untertitel des Buches erwartet werden darf.
München. H. v. Müller.
Literatiirbei-icht. 591
Paul Schrecker: Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit.
Ein Essay über analytische und intuitive Psychologie. — Schriften des Vereins
für freie psychoanalytische Forschung: No. 3. München, Ernst Reinhardt, 1912. —
Die Neurosenbehandlung hat sich in unserer Zeit von den zahlreichen mehr
oder minder unbefriedigenden Versuchen einer medikamentösen oder — im
weiteren Sinne — chirurgischen Therapie immer entschiedener einer Psycho-
therapie zugewendet. Dieser Weg ist gekennzeichnet durch die Ablösung einer
kausal erklärenden Psychologie durch eine verstehende. Solche Entwicklung
macht es begreiflich, wie die „Intuition" Bergsons, das Sich-hineinversetzen in
den „Strom" des seelischen Lebens, als ein wesentliches Mittel zum Verständnisse
der Persönlichkeit und ihrer pathologischen Abarten aufgefaßt und herangezogen
werden kann.
Die vorliegende Schrift versucht an Hand einer gedrängten Darstellung der
Bergsonschen Lehren vom Wesen der Intelligenz, von der Intuition, vom Ge-
dächtnis, sowie von dem Verhältnis von Geist und Körper aufzuweisen, daß sich
von diesen Gedankengängen aus, unter Mitberücksichtigung der Methode der
Wiener psychoanalytischen Schule und ihrer Resultate, eine Theorie der Persön-
lichkeit finden lasse, die den Ansprüchen einer solchen zu genügen vermag, in-
dem sie nicht nur die Probleme einer Lösung zuführe, die im Wesen der Persön-
lichkeit, in ihrer Psychologie und Ethik gelegen sind, sondern auch die Möglichkeit
schaffe, normale und pathologische Formen der Persönlichkeit in ihrer Genese
und teleologischen Struktur zu verstehen.
Soweit die Darlegungen Schreckers über die referierende Darstellung
Bergsonscher Gedanken hinausgehen und die Parallelisierung derselben mit der
Betrachtungsweise der Psychoanalyse zur Synthese fortzubilden trachten, handelt
es sich allerdings mehr um eine Einpassung der Psychologie Freud scher Schule,
speziell des von Alfred Adler angebahnten Versuchs einer Deutung der Genese
der Persönlichkeit und ihrer pathologischen Abarten, in die Struktur der Bergson-
schen Gedanken. Es wird gezeigt, wie sich die Symptome der Neurosen, der
^Krankheiten der Persönlichkeit", avif Grund der Bergsonschen Gedächtnis-
theorie verstehen lassen; es wird ferner gezeigt, wie von der von Adler ge-
gebenen allgemeinen Ätiologie des nervösen Charakters aus die neurotische
Krankheit als ein Mittel zur Erhaltung der Kontinuität der Persönlichkeit im
Sinne Bergsons aufgefaßt werden kann. Schrecker sieht endlich in der
Philosophie Bergsons und ihrer antiintellektualistischen Tendenz die Möglich-
keit einer ähnlichen Förderung für die Menschheit und ihre Erkenntnis, wie sie
die Psychoanalyse dem Einzelnen gewähren soll. Wie diese dem Menschen eine
Intuition in sein eigenes Leben gestatte und seine Ziele einer vernünftigen An-
passung an die Realität zuführe, so sei jene imstande, eine Beantwortung der
letzten Fragen des Lebens zu geben.
Es darf bezweifelt werden, daß die psychologischen Theoriebildungen der
psychoanalytischen Autoren durch die Verbindung mit der Problematik der
Bergsonschen Philosophie und Metaphysik einen Ersatz für das gewinnen
können, was ihnen vornehmlich mangelt, nämlich eine gegründete Fundamentie-
rung in gesicherten Tatsachen des normalen bezw. abnormen Seelenlebens.
Auch die Adler sehe Theorie, so wertvoll zweifellos die ihr zugrunde liegenden
Gedanken als Gesichtspunkte für eine Verständnispsychologie der Persönlichkeit
sind, ist keineswegs frei von Gewaltsamkeiten und schematischen Verallgemeine-
rungen, die das Erbteil so vieler von Freud beeinflußter Denker zu sein scheinen, ')
Eine kritische Stellungnahme vermissen wir bei Schrecker. Eine solche ist
aber umso wichtiger, als alle Versuche, auf dem Wege der Psychoanalyse ein
Verständnis des Seelenlebens zu gewinnen, besonders in ihrer Ausdehnung auf
die Persönlichkeit im ganzen, auch ethische bezw. pädagogische Bedeutung be-
anspruchen und entscheidende Folgerungen für die ethische und pädagogische
Theorie und Praxis nach sich ziehen. Es liegt gegenwärtig die Gefahr vor, daß
1) Vgl. K. Mittenzwey: Zeitschrift für Pathopsychologie II, S. 626 f.
522 Literaturbericht.
die psychoanalytische Praxis und Therapie zu einer theoretischenAuflösung
echter ethischer Zielsetzung für die Gestaltung des Charakters führt, an deren
Stelle eine biologisch gerichtete „nervenhygienische" Einstellung zu den Problemen
der Persönlichkeit tritt. Diesen Abweg kann die Psychotherapie unseres Er-
achtens nur dann vermeiden, wenn sie sich von der Orientierung an einem der
physischen Pathologie entnommenen Krankheitsbegriffe befreit und ihre Motive
sowie ihre wesentlichen Mittel und Methoden dem Gebiete entnimmt, dem sie
ihrem Gegenstande wie ihrer Zielsetzung nach am nächsten steht, nämlich der
Erziehung im weitesten Sinne des Wortes.
München. H. v. Müller.
Josef Kohler: Recht und Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart.
Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart und Berlin 1914. IX u. 278 S.
Obwohl der Verfasser dieses Buches der Träger eines der bekanntesten Namen
der juristischen Welt ist, sehe ich mich doch nicht in der Lage, das Buch als ein
besonders lesenswertes zu empfehlen. Es mag dem, der den Rechtsfragen der
Gegenwart ganz fremd gegenübersteht, mancherlei des Wissenswerten bieten.
Eine tiefere Begründung der Stellungnahme des Verfassers zu den Tagesfragen
fehlt durchweg. Wie wenig zutreffend der Verfasser die wirklichen Verhältnisse
der Gegenwart beurteilt, kann wohl nichts schlagender beweisen, als die Prophe-
zeiung, daß „sich die Kriegsfurie in den Orient geflüchtet hat, um hier ihre
letzten Tage zu fristen. Jetzt kann das Völkerrecht seine Fackel erheben; es
wird dem' Verein der Staaten die Leuchte vorantragen, damit die Konflikte
geläutert werden und in dieser Läuterung ihre rationelle Lösung finden. Das
ist die erfreuliche Sicherheit, in welcher wir, trotz aller Ungewißheit, der Zukunft
ins Auge sehen". So schrieb der Verfasser noch Silvester 1913 in der Vorrede
zu seinem Buch. Schlagender als durch die Ereignisse des Juli und August 1914
konnte er nicht widerlegt werden. Nicht unerwähnt kann ich lassen, daß ich
einer weitverbreiteten Gelehrtenuntugend, nämlich der Mißachtung logischer und
grammatischer Anforderungen der deutschen Sprache, auch in diesem Buche
leider mehrfach begegnet bin.
Berlin. Werner Bloch.
Gustav Kafka: Einführung in die Tierpsychologie auf experimenteller
und ethologischer Grundlage. I. Band: Die Sinne der Wirbellosen. Leipzig 1913.
J. A. Barth. 593 Seiten mit 362 Abbildungen im Text. Preis M. 18; geb. 19,50.
Es sind verschiedene Interessen, die zur Beschäftigung mit dem Seelenleben
untermenschlicher {Lebewesen, speziell der Tiere, führen können; die einfache,
sozusagen interesselose Neugierde des Tierfreundes ist ein ebenso legitimes Motiv
wie die gar nicht mehr am Tierleben als solchen, sondern etwa an der angeblichen
oder wirklichen Ausnahmestellung des Menschen im Weltganzen interessierte
Spekulation des Philosophen; der Physico-chemiker, der grundsätzlich auf dem
Standpunkt einer lückenlos geschlossenen mechanischen Naturkausalität steht,
und der Psychologe können gleichfalls in verschiedener Absicht an die Phänomene
herangehen, die als Symptome des Seelenlebens untermenschlicher Organismen
sei es behauptet, sei es bestritten werden, sie können namentlich mit einem ver-
schieden weiten, ja einem verschieden orientierten Begriff des Psychischen sich
an ihre Aufgabe machen.
Diese Verschiedenheit der Endabsichten und Einstellungen, der vorwissen-
schaftlichen Begriffe und Erwartungen beeinflußt die Fragestellung und Me-
thodik der tierpsychologischen Forschung, erschwert die Verständigung der
Forscher untereinander und hat es bis zum heutigen Tage verhindert, daß die
Tierpsychologie in jenes Stadium der Erfahrungswissenschaften tritt, in dem
neben vielen strittigen und offenen Fragen doch ein kleines Stammgut allgemein
zugestandener Resultate sich zu bilden beginnt.
Eine der Hauptursachen, welche den Fortschritt hintanhielten, war auch
der Mangel eines Werkes, das die vielen Einzelbeobachtungen der Forscher
Literaturbericht. 523
übersichtlich und unter psychologischen Gesichtspunkten zusammenstellte und
so zeigte, wie viel (oder wie wenig) Material den entgegengesetzten Schlüssen und
Deutungen der verschiedenen Schulen und Richtungen zugrunde liegt.
Kafkas Einführung in die Tierpsychologie, deren erster Band die Sinne der
Wirbellosen behandelt, darf das Verdienst in Anspruch nehmen, diesen Mangel
zu beheben und einer Systematik sowohl der tierpsychologischen Problemstellung
und Methodik wie ihrer Resultate die zurzeit notwendigste Vorarbeit zu leisten.
Der vorliegende erste Band behandelt in einer streng genommen nicht ganz zu-
lässigen, aber dem Verfasser als solcher voll bewußten Erweiterung der Bedeutung
des Wortes „Sinn" den Tastsinn, den statischen Sinn, den Gehörssinn, den Tem-
peratursinn, den chemischen Sinn, den Lichtsinn, den Raumsinn, den Zeitsinn
der Protozoen, Coelenteraten, Echinodermen, Würmer, Mollusken und Arthropoden.
Es werden mit großer Sorgfalt die von den einzelnen Beobachtern beschriebenen
Veränderungen in der Form und im Verhalten von Exemplaren der verschiedenen
Gattungen und Arten zusammengefaßt, welche diese auf einen zufälligen oder
absichtlichen, mechanischen, akustischen, statischen, thermischen, chemischen,
optischen Reiz haben eintreten sehen; es werden die Umstände der Beobachtung
und die Vorrichtungen des Experimentes genau notiert, es wird der anatomische
Befund, soweit er ermittelt ist, wiedergegeben.
Diesem Tatsachenbericht werden die bei der großen Zahl von Umständen
und bedeutungsvollen Faktoren naturgemäß vielfachen Interpretationsmöglich-
keiten andeutend oder ausführlicher gegenübergestellt. Abschließende theore-
tische Formulierungen der Konvergenzen der Einzelresultate werden für den
zweiten Band in Aussicht gestellt.
In dieser Zeitschrift ist es nicht möglich, ausführlicher auf den Inhalt ein-
zugehen; vermißt habe ich persönlich einen zusammenfassenden Abschnitt hinter
jedem Kapitel, der die durch Einzelfälle belegten Arten von Leistungen des jeweils
behandelten Sinnes typisierend beschreibt und vorläufig nach einem bestimmten
Gesichtspunkt ordnet (z. B. dem der Höhe, oder des Mitwirkens vorangegangener
Reizungen \ind Betätigungen gleicher Art). Alle, die sich mit dem ebenso inter-
eaeanten wie schwierigen tierpsychologischen Teil der vergleichenden Psychologie
beschäftigen, werden dankbar sein für die bequeme und zuverlässige Orientierung
über das schon vorliegende Material und die wertvollen fast 30 Seiten umfas-
senden Literaturnachweise; und alle, die sich erst einarbeiten wollen, können
sich getrost (aber nicht ohne gute zoologische Vorkenntnisse) seiner Führung
anvertrauen.
München. Aloys Fischer.
Marx Lobsien, Das Gedächtnis. Eine übersichtliche Darstellung der Ergeb-
nisse der neuesten Forschungen. 21. Bd. vom „Bücherschatz des Lehrers",
Osterwieck j. Harz 1914. Verlag von A. W. Zickfeld. 268 S. geh. 3,30 M, geb. 4 M.
Das unterscheidende Merkmal der Lobsienschen Monographie über das
Gedächtnis gegenüber anderen Darstellungen des gleichen Gebietes — ^vie z. B.
der sehr trefflichen von Offner — liegt in ihrem ausgesprochen didaktischen
Zuge, der es auch dem psychologischen Anfänger bei einigen"grundlegenden
seelenkundlichen Kenntnissen ermöglichen dürfte, sich zuverlässig unter der
Führung dieses Buches in das immerhin nicht leichte Gebiet einzuarbeiten-
In solcher Einstellung werden eine manchmal willkürlich erscheinende Auswahl
des Stoffes, eine häufig sehr vereinfachende Ordnung des umfänglichen Tatsachen-
materials, eine ausgesprochene Schlichtheit der Form, eine hier und da zu grob
und sprunghaft gehaltene historische Darstellung nicht zu Mängeln; denn
letzten Endes gefährden sie hier doch nicht den Gesamteindruck der Wissenschaft-
lichkeit. Ein offenbarer Vorzug aber ist es, daß Lobsien grundsätzlich' unfruchtbare
metaphysische Erörterungen meidet, daß er sich durchweg auf den Boden der
Tatsachen stellt und nicht bloß die Ergebnisse, sondern eingehend und geschickt
auch die Methoden der Untersuchung vorführt, daß er am geeigneten Orte Hin-
weise auf die Geschichte der Gedächtnisforschung gibt, daß er mit Proben aus
524 Literaturbericht.
den Quellen und mit Beispielen nicht geizt. Die gelegentliche Einfügung eigener
experimenteller Studien des Verfassers, der ja im Kreise der empirisch forschenden
Pädagogik einen guten Namen hat, ist nicht ohne Reiz.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. H.H. Goddard: Die Familie Kallikak. Eine Studie zur Vererbung des
Schwachsinnes, übersetzt von Dr. Karl Wilker aus: Beiträge zur Kinder-
forschung und Heilerziehung. Heft No. 116. Langensalza. 14 Tafeln. 75 S. 1,65 M.
Die ausgezeichnete Studie, durch Unterstützung des bekannten Bodenreformers
S. Fels t ermöglicht, beweist erneut den beispiellosen Fleiß und die Gründlich-
keit, mit der in den Vereinigten Staaten soziale Anthropologie getrieben wird.
Ein ganzer Stab von Personen (field workers) war damit beschäftigt, die 2 Nach-
kommenreihen eines Mannes zu erforschen, dessen einer Zweig sich aus einer
Gelegenheitssünde des Stammvaters mit einem schwachsinnigen Mädchen ableitet,
während der andere auf eine gesunde „normale" Mutter zurückgeht. Daher die
Zusammensetzung des Pseudonyms Kallikak. Die unbedachte Vermischung des
Stammvaters mit dem schwachsinnigen Mädchen hatte in 41 Ehen 222 schwach-
sinnige Kinder als Nachkommenschaft, und ist damit heute natürlich noch
lange nicht zu Ende! Außer diesen — Prostituierten, Trinkern, Verbrechern,
Idioten — sind noch 258 Abkömmlinge nachgewiesen, die zwar somatisch
normal, aber Träger eines geschädigten und dauernd verdächtigen Keimplasmas
sind. Daneben geht der gesunde Zweig von der vollwertigen Stammutter aus
und besitzt 496 nachgewiesene Angehörige, von denen nur 3 leichte Minderwertig-
keiten (vermutlich erworbener Art) zeigen. In diesem Parallelismus der beiden
Zweige liegt die einzigartige und zermalmende Wucht des gesammelten Beweis-
materiales ; es bietet daher auch weit mehr Interesse als die 709 defekten Nach-
kommen des berühmten Stammbaumes Jukes.
Die praktische Lösung — und eine solche allein kann die aufgewandte
Arbeitsmenge rechtfertigen — kann nicht darin bestehen, daß die Menschen-
trümmer mit unermeßlichen Opfern an Zeit, Geld und Kräften in Hilfsschulen
und Idiotenanstalten untergebracht werden; sie liegt in den Worten S. 50: „..In
diesem Hause voll dreckiger Armut gab es nur einen sicheren Ausblick; es wird
noch mehr schwachsinnige Kinder hervorbringen, um mit ihnen die Räder mensch-
lichen Fortschrittes zu hemmen. — Die Gesetze unseres Landes erlauben nicht,
daß zehnjährige Kinder heiraten. Warum wollen sie es Menschen erlauben, deren
geistige Beschaffenheit die von zehnjährigen Kindern ist? . , ."
Die Übersetzung ist sehr gut und flüssig. Sie unternommen zu haben, war
eine gute Tat von Dr. Wilker. Ich empfehle allen Straf rechts Juristen dieser
furchtbaren Anklageschrift aus dem Wege zu gehen; sie würde ihnen wehe tun,
und das ist nicht ihr Zweck.
Eisenach. Ferdinand Kühner.
Dr. S. Edward Seguin. „Die Idiotie und ihre Behandlung nach physio-
logischer Methode" herausgegeben von Dr. Krenberg er. Verlag von Karl
Graeser & Kie., Wien 1912. — Preis K. 6.
Das Werk, das der Herausgeber nach der englischen Ausgabe des Lehrer-
kollegiums der Columbia-Universität aus dem Jahre 1907 und nach einer ersten
Übersetzung von Heinrich Neumann (Wien) bearbeitet hat, ist 1866 erschienen.
In Übereinstimmung mit bedeutenden englischen, amerikanischen und romanischen
Forschern glaubt der Herausgeber, „daß ^Seguins Lehren noch bestehen", und
er will in aller Bescheidenheit behaupten, „daß sie bisher von niemanden über-
holt, von keinem erreicht wurden, daß sie gekannt und befolgt werden müssen,
falls man in der erziehlichen Behandlung der Idioten kulturelle und hebende
Erfolge haben will, die nur halbwegs den allseits für die Besserung der geistig
schwachen Jugend aufgewendeten Mühen und Geldmitteln entsprechen".
Einer eingehenderen, das Vorwort des Herausgebers bildenden, kritischen
Würdigung Seguins, die überall Beziehungen und Berührungen von dessen
Literaturbericht. 526
Lehren mit unsern modernen Anschauungen dartun, folgen eine kurze, von
Dr. Henry Herbert Goddard geschriebene Darstellung des Lebens und Wirkens
Seguins, eine Übersicht seiner Schriften und die von Seguin selbst seinem
Buche vorausgeschickte Vorrede. Das Werk selbst behandelt in der Einleitung
Geschichte und Wesen der methodischen Behandlung und Erziehung von Idioten,
im I. Teil: Idiotie, im IL: Physiologische Erziehung, im IIL: Moralische Be-
handlung, im IV.: Die Anstalt.
In Seguins Werk liegen, wie der Herausgeber mit Recht betont, „drei Jahr-
hunderte pädagogischer und psychologischer Gedankenarbeit verwertet vor, und
eine Summe von Erfahrungen ist hier niedergelegt von Männern, welche die Kultur-
welt befruchtet und Bildung und Erkenntnis befördert haben". Es ist ein sehr
verdienstliches Unternehmen des Herausgebers, dieses Standard- Werk den in Be-
tracht kommenden Kreisen in so übersichtlicher Form zugänglich gemacht zu haben.
München. Dr. Ernst Levy.
Prof. Dr. G. F. Lipps, Über die geistige Entwicklung des Schulkindes.
Erläuterungen zu den Arbeiten des psychologischen Laboratoriums der Univer-
sität Zürich. Mit 4 Tafeln. H. Aufl. 16 S. Preis 50 Cts. Zürich und Leipzig.
Verlag von Gebr. Seemann & Co. 1914.
In nur andeutender Weise berichtet das wissenschaftlich belanglose Heftchen
über die Problemstellung, über die Versuchsanordnungen und über einige Er-
gebnisse von fünf kinderpsychologischen Untersuchungen. Sie haben zum Gegen-
stande die Zahlauffassung, die räumliche Auffassung, die Reaktion auf Reizwörter,
das Schließen, das Lesenlernen nach analytischer und synthetischer Methode, das
Erfassen größerer Zusammenhänge im naturkundlichen Unterrichte. Seh.
Dr. Johannes Prüfer, Vorläufer Fröbels. Langensalza, Beyer u. Söhne.
36 S. 50 Pf.
Dr. J. Prüfer, Kleinkinderpädagogik. Leipzig 1913. Nemnich. 251 S. geb.
5,40 M.
Dr. J. Prüfer, Quollen zur Geschichte der Kleinkindererziehung.
Frankfurt a. M., Diesterweg. 190 S. geb. 1,60 M.
Dr. J. Prüfer, Friedrich Fröbels Mutter- und Koselieder. Neuausgabe.
Leipzig, Wiegandt. 3,80 M.
Es ist nunmehr geläufig geworden, daß die Reformgedanken, die sich unter
dem Namen ,, Arbeitsschule" sanuneln, eigentlich nichts Neues sind, daß vielmehr
die großen Pädagogen der Vergangenheit sie fast alle schon mit mehr oder weniger
Klarheit durchdacht haben. Ihre Zeit aber war für das Verwirklichen nicht reif;
daß es unsere Zeit sei, glauben wir und streben darum mit aller Kraft nach der
Umsetzung der Gedanken in die Tat. In diesen unsern Bestrebungen sind uns also
die Klassiker der Pädagogik hochwillkonunene Helfer, und wir können zur Begrün-
dung unserer Forderungen gar nichts Besseres tun, als uns nicht nur auf die moderne
psychologische Wissenschaft, sondern auch auf die alten Pädagogen zu berufen.
Da ist es denn ein sehr verdienstliches Beginnen, wenn man sich regt, jene Seher-
gestalten in ihrem Wollen und Wünschen, in ihren Werken und Taten uns wieder
näher zu bringen. Besonders ist es Friedrich Fröbel, dem besondere Verdienste
um die Arbeitsschulgedanken zugeschrieben werden müssen. Eben weil jene Zeit
noch nicht reif dafür war, so galt sein Streben nicht der Schulerziehung jener Tage,
sondern seine Lebensarbeit war der Entwicklung und Ausgestaltung einer idealen
Erziehung des vorschulpflichtigen Alters gewidmet. Fröbels Wirken und Be-
deutung nun der Gegenwart wieder greifbar zu machen, hat sich Johannes Prüfer
als Aufgabe gestellt.
Die erste der oben angeführten Schriften zeigt im Überblick, wie Conrad Bitschin
Comenius, Rousseau, die Philanthropisten — hier besonders Wolke — , außerdem
Heusinger und Blasche, endlich auch Pestalozzi Fröbels Vorläufer sind.
Das zweite Werk enthält zunächst denselben Stoff, aber in ausführlicher Dar-
stellung und ergänzt durch J. J. Wagner und Joh. Pavd Fr. Richter. Sodann wird
526 Vierteljahrsverzeichnia neuer Schriften,
über die Entstehung der Spielschulen, Kleinkinderbewahranstalten und Kindergärten
berichtet, wobei eine Menge bisher unveröffentlichtes Material, besonders über
Fröbel, verarbeitet worden ist. Der zweite Teil des Buches bespricht nach einer
allgemeinen Grundlegung wichtige Einzelfragen zur Kleinkindererziehung vom Stand-
punkte der Gregenwart aus, und zwar Spiel, Beschäftigtmg, Kameraden, Märchen,
Kinderlügen, Gewöhnimg, Strafen. Ein Anhang zeigt endlich, was in Fortsetzung
dieser Entwicklung geschehen müßte: die Kleinkinderpädagogik ist auf wissenschaft-
liche Grundlage zu stellen, die Mütter sind mehr zu interessieren, die bestehenden
öffentlichen Einrichtungen sind besser zu organisieren. Es ist interessant, zu sehen,
wie der Verfasser auf Grund historischer Studien auf dem Gebiete der Kleinkinder-
pädagogik zu denselben Forderungen gelangt, die die heutige Reformbewegung auf-
stellt in bezug auf die Schulpädagogik: wissenschaftliche Grundlegung, Gewinnung
der Elternkreise (und der Lehrherren für die Fortbildungsschule), endlich Verbesse-
rungen in der Organisation.
Die dritte imd vierte Schrift sind eine Ergänzung zu den beiden ersten. Die
„Quellen" bringen gewissermaßen das Anschauungsmaterial, und zwar sorgfältig
ausgewählte Abschnitte aus den oben genannten Autoren (Herbart und Middendorf
kommen noch hinzu), wobei Heusingers Abhandlung ,,Über die Benutzung des bei
Kindern so tätigen Triebes, beschäftigt zu sein" undFröbels „Entwurf eines Planes"
vollständig abgedruckt werden. Der Neudruck der ,, Mutter- und Koselieder" aber
wird den Freunden und Sammlern pädagogischer Schriften eine bibliographische
Freude sein.
Leipzig. Johannes Kühnel.
III. TierteljahrsTerzeichnis neuer Schriften 1914.
Eucken, Rud.: Der Sinn u. Wert des Lebens. 4., umgearb. u. erweit. Aufl.
15—17. Taus. V, 180 S. mit Bildnis. Leipzig, Quelle & Meyer. 2.80 M; geb. in
Leinw. 3.60 M.
Ziegler, Theob.: Menschen u. Probleme. Reden, Vorträge u. Aufsätze. IX, 424 S.
Berlin, G. Reimer. 7. — M; geb. 8.50 M.
Cohn, Prof. Jonas: Der Sinn der gegenwärtigen Kultur. Ein philosoph.
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schluß an das naturwissenschaftl. Unterrichtswerk v. Prof. Dr. O. Schmeil u. zu
selbständ. Gebrauche bearb. (Schmeils naturwissenschaftl. Unterrichtswerk).
VIII, 132 S. m. 32 Abbildgn. Leipzig, Quelle & Meyer. 2.20 M; geb. in Leinw.
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stellgn. nebst zahlreichen Dokumenten jugendl. Erotik bei Knaben. VII, 82 S.
Greiz, O. Henning. 2. — M.
Jahrbuch f. praktische Jugendpflege. Ratgeber u, Nachschlagebuch f. alle
Fragen der prakt. Jugendpflege, unter Mitwirkg. namhafter Fachleute u. unter
Benutzg. amtl. Materials hrsg. v. Alfr. Rosenthal. 1. Jahrg. 1914. 438 S. m.
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druckt 1.20 M: beide Ausg. zusammen 2. — M.
yv'^
Der Krieg und die Schule.
Von August Messer.
Durch den Krieg ist der seelische Zustand von Lehrern und Schülern
so tiefgreifend verändert, daß es eine wichtige und dringliche pädagogische
Aufgabe geworden ist, darüber nachzudenken, wie dieser ungewohnten Ge-
samtlage Rechnung getragen werden kann.
Was zunächst die Lehrer betrifft, so wird ein bestimmtes Gefühl bei
gar vielen vorherrschen: die Trauer darüber, daß sie nicht selbst wie
Tausende ihrer Amtsgenossen mit ins Feld ziehen konnten. Diese
Stinmiung wie zugleich auch die innere Unruhe, die mit der ständigen
Erwartung neuer Nachrichten vom Kriegsschauplatz und der Sorge um
teuere Angehörige, die im Felde stehen, gegeben ist, hat aber die Tendenz,
die gewohnten Interessen und Wertschätzungen in hohem Grade zu ver-
ändern oder ihre Motivkraft zu mindern.
Die Beschäftigung mit wissenschaftlichen Dingen erscheint leicht schal
und bedeutungslos; es fällt schwer, auf andere Gegenstände als die prak-
tischen Fragen des Tages seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Selbst
die Arbeit in der Schule trägt für viele — und zwar umsomehr, je mehr
sie den Kampf fürs Vaterland ersehnen und schätzen — den Charakter des
Minderwertigen.
Darunter aber muß diese Arbeit selbst leiden; denn das ist doch eine
feststehende psychologische Tatsache, daß eine Arbeit um so besser gelingt,
je mehr wir mit ganzer Seele, d. h. mit unserem vollen Interesse und mit
unwillkürlicher Aufmerksamkeit dabei sind, und eine je intensivere Wert-
schätzung unseres Tuns und seiner Ziele uns durchdringt.
Soll darum eine schwere Schädigung der ganzen Schularbeit während der
Dauer des Krieges abgewendet werden, so muß sich jeder Lehrer von der
Überzeugung durchdringen lassen: Das, was du als Erzieher und Lehrer zu
leisten hast, ist nicht minderwertig gegenüber dem Kampf mit der Waffe.
Zwar ist die Verteidigung des angegriffenen Vaterlandes heute die dring-
lichste Pflicht, aber der Krieg selbst empfängt doch nur seine sittliche
Rechtfertigung, sofern er notwendiges Mittel zum Schutze unserer natio-
nalen Kultur ist. An deren Erhaltung und Förderung aber mitzuarbeiten,
ist der Lehrer unmittelbar berufen.
Wer in dieser Erwägung nicht volle Beruhigung findet, der sage sich
noch, daß jeder, der heute vom Dienst mit der Waffe gegen seinen Wunsch
ausgeschlossen ist, es aus einem gesetzlichen Grunde ist. Unsere Pflicht
dem Vaterlande gegenüber aber besteht darin, daß wir ihm dienen an der
Stelle, wo wir nach Recht und Gesetz hingestellt sind, nicht an der, wo-
ZeitBchrift f. pttdagog. Psychologie. 34
530 Der Krieg und die Sciiule.
hin wir uns gerade wünschen und sehnen. Auch im Heere wird gar
mancher sich an einen anderen Platz wünschen, als den, der ihm gerade zu-
gewiesen ist. Daß es uns Lehrern aber während der Kriegszeit schwerer
wird, unsere Gedanken auf die Berufsarbeit zu konzentrieren, ist psycho-
logisch sehr begreiflich, aber das Bewußtsein unserer Pflicht ist hoffent-
lich ein ausreichend intensives Motiv, um die willkürliche Aufmerksamkeit
da herbeizuführen, wo die unwillkürliche sich nicht einstellen will.
Es wäre nun freilich eine ganz falsche Berufsauffassung, wenn der Lehrer
es für seine Pflicht hielte, seine Tätigkeit genau so zu gestalten wie im
tiefen Frieden, und in der Schule sich so zu verhalten, als existiere der
Krieg überhaupt nicht. Bei einer derartig pedantischen Auffassung würde
man gerade verkennen, daß die Schule dem Leben dienen und mit dem
Leben in innigster Fühlung stehen soll. Wer die gewaltigen Ereignisse,
die wir heute miterleben, im Unterricht kühl ignorieren wollte, um ja dem
vorgeschriebenen Lehrplan und dem gewohnten Verfahren treu zu bleiben,
der würde die Kluft zwischen Schule und Leben für seine Zöglinge un-
erträglich machen; er würde unersetzliche Gelegenheiten, tiefgreifende
Wirkungen auf die Jugend zu üben, verpassen und um schematischer
Korrektheit willen höheren Aufgaben seines Berufs gegenüber kläglich
versagen.
Damit aber der Lehrer den neuen und eigenartigen Anforderungen, die
vor allem an seine erziehliche Tätigkeit aus der Zeitlage erwachsen, gerecht
werden könne, muß er für sich selbst einen festen sittlichen Standpunkt
für die Beurteilung des Krieges gewinnen.
Als allgemein zugestanden darf ich hier wohl voraussetzen, daß nicht
der Kriegs-, sondern d'er Friedenszustand unter den Einzelnen wie unter
den Völkern als der sittlich wertvolle, als der eigentlich seinsollende zu
gelten habe. Wie läßt sich nun der Krieg überhaupt sittlich rechtfertigen?
Ist er nicht Selbst wert, so kann er nur abgeleiteten sittlichen Wert
besitzen als unentbehrliches Mittel zu einem sittlichen Eigenwert. Um ihn
als ein solches Mittel darzutun, hat man hingewiesen auf gewisse sittliche
Gefahren, die ein langer Friedenszustand für die Völker mit sich bringt,
und andererseits auf die hohen sittlichen Leistungen, die der Krieg hervor-
zurufen pflegt. So erklärt selbst Kant, obwohl er den „ewigen Frieden"
als einen Idealzustand anerkennt: „Der Krieg, wenn er mit Ordnung und
Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes
an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volkes, welches ihn auf
diese Art führt, uns um desto erhabener, Je mehr Gefahren es ausgesetzt
war und sich mutig darunter hat behaupten können; da hingegen ein
langer Friede den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigen-
nutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungs-
art zu erniedrigen pflegt." Auch Hegel sieht im Kriege ein unentbehr-
liches Mittel, um Staaten und Völker vor sittlicher „Fäulnis" und „Ver-
sumpfung" zu bewahren und ihre „sittliche Gesundheit zu erhalten". Von
ähnlichen Erwägungen aus ist Moltke sogar zur Ablehnung des Ideals des
„ewigen Friedens" gekommen; an einer viel zitierten Briefstelle schreibt
er: „Der ewige Friede ist ein Traum und nicht einmal ein schöner, und
Der Krieg und die Schule. 53 1
^-
der Krieg ist ein Element in Gottes Weltordnung. In ihm entfalten sich
die edelsten Tugenden der Menschheit, Mut und Entsagung, Pflichttreue
und Opferwilligkeit mit Einsetzung des Lebens. Ohne den Krieg würde
die Welt im Materialismus versumpfen."
Zweifellos enthalten derartige Aussprüche viel Wahres, und jeder von
uns hatte wohl Gelegenheit zu beobachten, wie auch der jetzige Krieg zur
„Entfaltung der edelsten Tugenden" Veranlassung geboten hat und fort-
dauernd bietet.
Trotzalledem scheint mir diese Art, den Krieg sittlich zu rechtfertigen,
nicht ausreichend.
Zunächst kommt doch in Betracht, „daß — um wieder mit Moltke zu
reden — , jeder Krieg, auch der siegreiche, ein Unglück für das eigene
Volk ist; denn kein Landerwerb, keine Milliarden können Menschenleben
ersetzen und die Trauer der Familie aufwiegen", i)
Wer würde seinem Volk und Land die Pest oder ein Erdbeben wünschen,
weil auch sie Gelegenheit bieten, „die edelsten Tugenden zu entfalten"?!
Schwerer noch wiegt, daß der Krieg zugleich Anlaß und Anreiz zu sittlict
verdammungswürdigen Taten bietet, wie sie ja auch diesmal massenhaft
von unseren Gegnern berichtet werden: zu Rechtsbruch, brutaler Zerstörungs-
wut, wildem Haß und feiger Tücke, erbarmungsloser Grausamkeit u. a.
Wer vermißt sich abzuschätzen, ob der moralische Gewinn oder der mora-
lische Verlust, der dem Menschengeschlecht aus einem Kriege erwächst,
überwiegt? Und dann: ist der Krieg wirklich das einzige Mittel, um
ein Volk vor sittlicher Fäulnis zu bewahren? Wie viel gesicherte geschicht-
liche Erfahrungen hierüber müßten wir haben, um einen solchen Satz aus-
reichend zu begründen! Man erwäge auch dies: der moralische Zustand
unseres Volkes nach dem 70 er Kriege war, nach dem Urteil einsichtiger
Beobachter, kein besonders erfreulicher. Man denke z. B. an die „Gründer-
zeit" der 70er Jahre! Hat andrerseits der lange, dreiundvierzigjährige Friede
uns moralisch versumpfen lassen? Würde endlich eine Regierung sittlich
handeln, die absichtlich Krieg herbeiführte, lediglich um ihr Volk vor den
sittlichen Gefahren eines dauernden Friedens zu bewahren? Da gibt es
denn doch andere Mittel. Sie liegen in den gesunden sittlichen Instinkten
eines Volkes, in dem Erziehungs- und Bildungswesen, in der Religion, in
der Philosophie, schließlich in dem Daseinskampf selbst, der ja für die
meisten auch im Frieden hart genug durchzufechten ist.
Wie wenig jene Art, den Krieg zu rechtfertigen, dem allgemeinen sitt-
lichen Bewußtsein unsres deutschen Volkes entspricht, geht schließlich klai-
aus folgender Tatsache hervor: uneingeschränkte Billigung hat unser Kaiser
gefunden, da er alles, was er mit Ehren tun konnte, tat, um seinem Volke
und Europa den Frieden zu wahren.
Eine Rechtfertigung des Krieges wird nur dann jedes sittliche Bedenken
siegreich überwinden, wenn er wirklich als notwendiges, als noch einzig
*) In änlichem Sinne erklärte Bismarck: „Ich betrachte auch einen siegreichen
Krieg an sich immer als ein Übel, welches die Staatskunst den Völkern zu
ersparen bemüht sein muß."
34*
532 ^^^ Krieg und die Schule.
mögliches Mittel zur Erhaltung eines absolut notwendigen sittlichen Eigen-
wertes erscheint.
Es wird nun die Behauptung schwerlich Widerspruch finden, daß unsere
deutsche Kultur — sofern sie auch unser sittliches Bewußtsein einschließt
und vor dessen Urteil besteht — einen solchen Eigenwert darstellt, und
daß ihre Erhaltung und Weiterentwicklung sowohl um ihrer selbst willen
als auch um der Kultur der Menschheit willen gefordert erscheint.
Ist es nun richtig, daß unsere staatliche Selbständigkeit und unsere Welt-
stellung eine notwendige Voraussetzung ist für das Gedeihen unseres Volkes
und unserer Kultur, dann muß auch der Krieg gerechtfertigt sein, wenn
er als letztes, unvermeidliches Mittel zur Wahrung dieser Güter sich dar-
stellt. Das gilt aber nicht nur für unser Volk in seiner jetzigen Lage,
sondern das gilt — wie ethische Sätze überhaupt — unter den gleichen
Umständen allgemein.
Durch derartige Erwägungen, denke ich, kann die gefühlsmäßige Sicher-
heit von unserem guten Recht zur Kriegsführung in eine klare, ihrer Gründe
bewußte, sittliche Überzeugung verwandelt werden. Eine solche scheint mir
aber ein wichtiges seelisches Erfordernis zu sein für die besonderen erziehlichen
Aufgaben, die während der Kriegsdauer dem Lehrer gestellt sind.
Eine weitere Voraussetzung dafür ist, daß er als Psychologe die
seelischen Wirkungen des Krieges auf die ihm anvertraute Jugend
beobachte. Eine reiche Fülle von Erscheinungen ,wird sich ihm dabei
darbieten. Und nun wird es wieder darauf ankommen, diese ethisch zu
bewerten und je nach ihrer negativen oder positiven sittlichen Bedeutung
die geeigneten Maßnahmen zu ergreifen. Nur an ein paar Beispielen mag
dies veranschaulicht werden.
Vor allem gilt es, einer Verwirrung und Erschütterung gewisser
sittlicher Grundanschauungen vorzubeugen. Die Gefahr einer solchen
ist groß. Heilig gilt sonst das Gebot: Du sollst nicht töten. Jetzt wird
es freudig begrüßt, wenn Tausende von Feinden gefallen sind; jetzt feiert
unsere Technik ihre Triumphe darin, möglichst wirksame Werkzeuge zur
Tötung von Menschen herzustellen.
Hier gilt es nun, der Jugend zum Bewußtsein zu bringen, daß der Krieg
einen — an sich nicht wünschenswerten — Ausnahmezustand darstellt,
der nur erlaubt sei in der Notwehr und als unentbehrliches Mittel, um
einen möglichst dauernden Frieden wieder herzustellen.
Es ist auch — wenn sich Anlaß bietet — klar zu machen, wie die
Verwundung und Tötung eines Feindes sich völlig von dem unterscheidet,
was als „Körperverletzung" oder „Mord" von Moral und Strafrecht schlecht-
hin verpönt ist. Der Soldat verwendet seine Waffe gegen den Feind einem
berechtigten Gebot gehorchend; er braucht dabei keinen Haß gegen die
Person des Feindes zu hegen, ja er sollte es nicht. Und sobald dieser
kampfunfähig geworden ist oder sich ergibt, darf er ihn nicht mehr ver-
letzen oder töten. Dem verwundeten Feinde wird ebenso Pflege zuteil
wie dem Verwundeten des eigenen Heeres.
Ein besonders schwieriges Problem erwächst aus Folgendem. Es ist
psychologisch durchaus begreiflich, daß durch den Kriegszustand die Kampf-
Der Krieg und die Schule. 533
__
Instinkte, die in der männlichen Jugend ohnehin stark zu sein pflegen,
mächtig gereizt und genährt werden. Sie erlebt ja den eigentlichen Krieg
(soweit sie nicht in den Grenzbezirken selbst von ihm betroffen wird) nur
in der Phantasie mit. An diesem Phantasiebild arbeiten mit all die Instinkte
für das Abenteuerliche, das Heldenhafte, für Mut, Kraft und List — aber
die gräßlichen und niederdrückenden Seiten des Krieges treten stark zurück,
ja kommen kaum zur Geltung. Und so kann das Gesamtergebnis eine
kriegerische Stimmung, eine kritiklose Begeisterung für den Krieg sein,
wie sie wahrscheinlich neun Zehntel derer, die aus dem Krieg zurück-
kommen, nicht teilen werden und gegen die auch ernste sittliche Bedenken
bestehen.
Andrerseits wäre es aber doch falsch, die kriegerischen Instinkte unsrer
Jugend und die jetzt besonders stark aufflammende Kriegsbegeisterung bei
ihr schlechthin bekämpfen zu wollen. Die Lage unsres Volkes, das von
den Feinden sozusagen umringt ist und für absehbare Zeit umringt bleiben
wird, macht eine Erziehung der Jugend zur inneren Kriegsbereitschaft
und zur Kriegstüchtigkeit zu einer gebieterischen Pflicht der Selbst-
erhaltung.
Es gilt hier nun pädagogisch derselbe Grundsatz, wie er für die Behand-
lung des Instinktiven, des naturhaften Trieblebens und der daraus erwach-
senden Wertschätzungen überhaupt gilt: nicht auszurotten ist die seelische
Energie, die in dem allen sich regt und nach Auswirkung ringt, es ist
nur dafür zu sorgen, daß der jugendliche Mensch allmählich Herr wird
über diese naturhaften Gewalten in seinem Innern, und daß er fähig wird,
sie seinen sittlichen Wertschätzungen, d. h. seinem Gewissen, entsprechend
zu lenken. Dazu ist neben der praktischen Übung die sittliche Klärung
eine wichtige Vorbedingung. Gerade unsere Zeit wird reichlich Anlaß
bieten, wenigstens mit älteren Zöglingen die Frage, wann ein Krieg sitt-
lich berechtigt ist, zu erörtern. Was ich darüber oben an grundsätzlichen
Gedanken kurz andeutete, das kann — in elementarer und konkreter
Form — auch Kindern und Jugendlichen sehr wohl zum Verständnis
gebracht werden. Man vergesse dabei nicht von der klärenden Wir-
kung des Kontrastes Gebrauch zu machen durch den Hinweis auf die
Hauptmotive, die — aller Wahrscheinlichkeit*) nach — unsere Gegner
zum Kriege trieben : bei den Russen Streben nach Macht, bei den Franzosen
Sucht nach „Revanche" und Erneuerung ihres alten Kriegsruhms, bei den
Engländern Geldgier in der Form des schnöden Geschäftsgeistes, der einen
gefährlichen Konkurrenten nicht durch Verbesserung der eigenen wirt-
schaftlichen Leistung überwinden, sondern durch tückischen Angriff mit
Übermacht beseitigen will. Bei allen mochte zudem mitwirken: Mißgunst
und Neid auf Deutschlands neu erworbene politische und wirtschaftliche
Großmachtsstellung, Ärger über deutsche Rührigkeit und Betriebsamkeit
auf allen Kulturgebieten, die die anderen aus bequemem Dahinleben auf-
•) Natürlich lassen sich diese Fragen nur mit Wahrscheinlichkeit beant-
worten ; tatsächlich werden sie aber in Deutschland mit großer Übereinstimmung
HO beantwortet, wie im Text angegeben.
534 ^^^ Krieg und die Schule.
rüttelte und zu stärkerer Anspannung ihrer Kräfte nötigte, endlich Miß-
trauen gegen Deutschland und Furcht vor seiner gewaltigen Landmacht
und seiner wachsenden Flotte — ein Mißtrauen und eine Furcht, die
psychologisch begreiflich sind, wenn wir ihnen auch im Hinblick auf
Deutschlands mehr als vierzigjährige beharrliche Friedenspolitik die ob-
jektive Berechtigung absprechen müssen.
Man wird nun leicht durch den Hinweis auf die Motive unserer Gegner
auch die Zustimmung der Jugend dafür finden, daß ein Krieg, der aus
solchen Beweggründen hervorging, vom ^Gewissen nicht gebilligt werden
kann, während der Verteidigungskrieg, den Deutschland und Österreich
führen, ohne weiteres als ein gerechter Krieg beurteilt werden wird. Aus
diesen konkreten Fällen läßt sich dann aber ohne weiteres die allgemeine
Einsicht abstrahieren, daß Krieg nicht schlechthin und unter allen Um-
ständen etwas sittlich Billigenswertes sei, sondern daß es durchaus auf
seine Motive und Zwecke ankommt.
Dabei mag noch eine Nebenfrage gestreift werden, die völkerpsycho-
logisch interessant ist und die auch, wenn sich Anlaß bietet, mit der
Jugend zu deren sittlicher Klärung besprochen werden kann, nämlich die
Frage, wie die Motive der Gegner im Vergleich zu einander zu bewerten
sind. Auch hierüber herrscht, soweit ich beobachten konnte, bei den Er-
wachsenen eine auffällige Übereinstimmung: am mildesten urteilt man
über die Franzosen, schärfer über die Russen, am schärfsten über die
Engländer. Die Motive dieser Beurteilung sind natürlich nicht völlig ein-
fache und eindeutige (so spielt gegenüber den Engländern die Entrüstung
darüber eine Rolle, daß sie trotz ihrer Stammesverwandtschaft uns an-
greifen usw.), aber es macht sich dabei hauptsächlich die uns auch sonst
geläufige Rangordnung in der Bewertung ihrer Hauptziele: Ruhm, Macht,
Geld, geltend. Daß derartiges in interessante Fragen der Psychologie des
Bewertens hineinführt, ist leicht ersichtlich. —
Mit psychologischer Notwendigkeit wird aber der Gedanke an unsere
Gegner und ihre Motive, ferner die Nachrichten über die Art ihrer Kriegs-
führung bei unserer Jugend Gefühle der Erbitterung, des Hasses und
der Rachsucht wecken. Damit kommen wir auf einen weiteren Punkt,
wo es gilt, seelischen Schädigungen unserer Jugend durch den Krieg vor-
zubeugen. Wir haben es bisher als einen besonderen Vorzug unseres
deutschen Volkes geschätzt, daß es ernstlich bestrebt war, gerecht zu
urteilen über andere Völker, auch über seine Feinde; daß es besonders
fähig und geneigt war, fremdes Volkstum zu verstehen und fremde Vor-
züge neidlos anzuerkennen und sich zum Muster zu nehmen. Es scheint
mir eine heilige Pflicht unserer gesamten Lehrerschaft zu sein, daß sie
diese echt humane Gesinnung, deren Wertschätzung wir bei unseren
größten und edelsten Denkern finden, unserer Jugend unversehrt über-
mitteln, und daß sie dadurch an ihrem Teil dafür Sorge trage, daß durch
den Krieg unser Volk nicht Schaden leide an seiner Seele.
Zwar kann man es nur begrüßen, wenn der Krieg einen starken Anstoß \
dazu gegeben hat, der bei uns vielfach bestehenden urteilslosen Über-
schätzung des Fremden zu Ungunsten heimischer Leistungen (vor allem
Der Krieg und die Schule. 535
auf dem Gebiete der Kunst und der Mode) und dem Gebrauch von Fremd-
wörtern i), wo wir gut deutsche Ausdrücke dafür haben, scharf entgegen-
zutreten. Die Erfahrungen, die der Krieg uns brachte, werden voraus-
sichtlich auch unser Volk mit gutem Grund dazu führen, gegen Angehörige
fremder Staaten vorsichtiger zu sein und ihnen geistige Güter und tech-
nische Errungenschaften nicht so freigebig wie bisher zu liefern, da die
Japaner und Russen uns gezeigt haben, daß sie Dankbarkeit nicht kennen
und gegen uns als Waffe mißbrauchen, was sie durch unsere Großmut und
unseren Sinn für die Einigung der Menschheit empfingen. Aber deshalb
wollen wir nicht blindem Haß gegen alles Fremde, nicht einmal gegen die
uns jetzt bekämpfenden Völker verfallen. Wir wollen uns insbesondere
auch davor bewahren, die Fremden als Einzelne zu hassen. Auch die
Jugend soll es wissen, daß bei all diesen Völkern, besonders bei den Eng-
ländern, es nicht an solchen fehlte, die den Krieg mißbilligten, ja daß
wohl überhaupt die eigentliche Masse der Völker den Frieden vorgezogen
hätte, daß die Hauptschuld am Kriege bei gewissen Gruppen von Hetzern
(die besonders durch einen Teil der Presse Macht gewannen) und bei den
Regierungen liegt.
Vor allen geeignet, Haß- und Rachegefühle auszulösen — auch gegen
die Feinde als Personen — sind die Nachrichten von den mannigfachen
Greueln, Gewalttätigkeiten und heimtückischen Schädigungen, die sie gegen
uns verüben. Es wäre nun freilich unter pädagogischem Gesichtspunkte
das Rätlichste, der Jugend, insbesondere den Kindern, die Kenntnis solcher
Dinge möglichst zu ersparen. Fast in jedem Menschen, zumal beim männ-
lichen Geschlecht, schlummern gewisse Instinkte der Rache und der Grausam-
keit, die leicht zu sittlich verwerflichem Wünschen und Tun auch gegen-
über Volksgenossen führen und die besonders schwer zu versittlichen sind.
Eltern und Lehrer werden also in erster Linie darauf bedacht sein müssen,
vom Kinde alles fern zu halten, was diese dunklen, unheimlichen Gewalten
reizen und stärken kann. Aber das wird sich — zumal in der gegenwärtigen
Zeit — nur sehr unvollkommen durchführen lassen. Und so wird man
Sorge tragen müssen, Gegenmotive gegen jene bedenklichen Instinkte zu
erwecken und auch sie, soweit möglich, sittlich zu läutern und umzubilden.
Es ist also hinzuweisen auf die allgemeine Unkultur und Roheit weiter
Teile der russischen Bevölkerung; es sind die Beispiele menschlicher, ritter-
licher Kriegsführung, die bei unsern Feinden auch nicht fehlen, zur Geltung
zu bringen; es ist schließlich der allgemeine sittliche Grundsatz einzuprägen,
daß wir nicht in erster Linie fragen dürfen: wie treiben es die andern,
sondern: was sind wir uns, unserem Gewissen und unseren Idealen schuldig?
Dies unser Gewissen fordert nun freilich nicht, daß wir alles Frevelhafte
und durch das Völkerrecht Verpönte von Seiten unserer Feinde ruhig und
sanftmütig hinnehmen. Nur gilt es, den persönlichen Haß gegen die
Täter zur sachlichen Entrüstung über derartiges Tun (gleichgültig, von
wem es verübt wird) und den Rachetrieb zum positiven Streben nach
') Freilich muß sich gerade die Bekämpfung der Fremdwörter sorgfältig davor
hüten, nicht unersetzliches Sprachgut zu verwerfen und nicht ins Läppische und
Kindische zu verfallen.
536 Der Krieg und die Schule.
Abwehr und Schutz der Unseren umzubilden. An einem Beispiel mag das
Letztere veranschaulicht werden. Viel wurde in letzter Zeit geklagt über
die barbarische Behandlung der in England festgehaltenen Deutschen. Der
Racheinstinkt fordert: Behandeln wir die bei uns weilenden Engländer
ebenso schlecht oder noch schlechter! Und dieser Racheinstinkt will sich
vor unserem Gewissen rechtfertigen als Verlangen nach „Vergeltung'*. Aber
die sittliche Berechtigung der Vergeltung ist heute vielen unter uns zweifel-
haft geworden. Es ist etwas Böses geschehen: welchen Sinn soll es nun
haben, ein weiteres Böses hinzuzufügen!? — Aber werden wir darum jene
üble Behandlung unserer Landsleute geduldig hinnehmen? Durchaus nicht;
im Gegenteil, unser Gewissen mißbilligt es, daß wir so lange ruhig zugesehen
haben. Was es aber fordert, das ist nicht etwas so Negatives wie Rache,
sondern etwas Positives: die schärfsten Maßnahmen, um Jene aus ihrer
Lage zu befreien. Wenn wir als einzig mögliches Mittel hierzu der
englischen Regierung die Festnahme der Engländer androhen und, falls sie
die Unsrigen nicht freigibt, diese auch wirklich durchführen, so ist das ein
Handeln, dessen Sinn und Zweck selbst alle die billigen werden, denen
die Berechtigung der Vergeltung zweifelhaft geworden ist. —
Dieses Beispiel leitet zu einer weiteren Frage, zu deren Erörterung mit
der Jugend dringender Anlaß vorliegt in dem gegen die Deutschen so laut
erhobenen Vorwurf der „Barbarei" — (zumal auf Grund ihres Vorgehens
gegen Löwen und Reims ist er laut geworden). Auch Kinder können schon
einsehen, daß Zerstören aus bloßer Lust am Zerstören und Zerstören aus
Notwendigkeit der Kriegsführung etwas ganz Verschiedenes ist. Es unter-
scheidet sich das psychologisch nach den Motiven und ethisch nach unserem
Gewissensurteil darüber. Wenn überhaupt ein Krieg als ein sittlich
berechtigter von uns anerkannt ist, so muß alles gebilligt werden, was
als unumgängliches Mittel zur Erreichung des Kriegszweckes (die Besiegung
des Gegners und weiterhin die Herstellung des Friedens) erscheint. Wenn
dazu ungeheuerliche Opfer erforderlich sind nicht nur an wirtschaftlichen
Gütern und an Kulturwerten aller Art, sondern auch an Menschenleben, so
kann im Hinblick darauf schon dem jugendlichen Menschen eine Ahnung
dafür aufgehen, daß es sittliche Pflichten gibt, die geradezu Härte von uns
verlangen (ohne daß wir uns deshalb der Grausamkeit und Barbarei schuldig
machen); daß ferner menschliches Leben, Glück und Behagen „der Güter
höchstes" nicht ist, sondern die ernste Durchführung des als sittlich richtig,
als „Pflicht" Gefühlten oder Erkannten. —
Wir haben bisher wesentlich solche Beziehungen des Kriegs ins Auge
gefaßt, bei denen es gilt, Schädigungen des jugendlichen Gemüts abzu-
wenden und die Eindrücke, die bedenklich wirken könnten, zum Guten zu
wenden. Kürzer können wir uns fassen bezüglich der Erfahrungen, von
denen von vornherein vorwiegend günstiger Einfluß erwartet werden
kann. Hier gilt es zunächst, der Jugend die Augen zu öffnen für das
Große und Gewaltige, für das Edle und Erhabene, das wir jetzt in Fülle
erleben, draußen im Felde wie auch zu Hause. ^)
*) Freilich auch hier liegt eine Gefahr nahe, auf die ich mit einem Wort hin-
weisen will. Wir wollen nicht in der Jugend einen Begeisterungstaumel und ein
Der Krieg und die Schule. 537
Wenn es vor dem Kriege eine ernste Sorge war für den Patrioten und
Volkserzieher, wie der inneren Zerklüftung unsres Volkes abzuhelfen sei:
dem Klassenhaß, dem Parteizank, der konfessionellen Verärgerung, so hat
der Krieg mit einem Schlag das ganze Volk wieder innerlich geeint, und
an diesem großen Segen, den er uns schon gebracht hat, soll auch die
Jugend Anteil bekommen. Ihr muß dieses erhebende Schauspiel besonders
nachdrücklich vor die Seele gestellt werden, denn der würde einer argen
Selbsttäuschung unterliegen, der etwa glaubte, die wichtige Aufgabe der
inneren Einigung und Versöhnung unsres Volkes sei nun durch den Krieg
für die Dauer gelöst. Ist der Friede einmal wieder im Land, so werden
auch die Gegensätze wieder sich geltend machen. Diese sind sozialpsycho-
logisch zu tief begründet, und den Deutschen zumal wohnt die Neigung
zur Parteiung und Eigenbrödelei besonders stark inne. Daß Gegensätze
bestehen und sich auswirken, gehört zur inneren Gesundheit und Lebendig-
keit eines Volkes. Nur bleibt es höchst wünschenswert, daß der Kampf
möglichst sachlich und vornehm geführt, und daß über dem Trennenden
das Gemeinsame nicht vergessen werde. Dieses ruht aber vor allem in
der inneren Zugehörigkeit zu demselben Staat und Volke, in der Vater-
landsliebe.
Der ganze Verlauf des Krieges hat bisher gezeigt, daß die Vaterlandsliebe
viel mächtiger in unserem Volke lebt und wirkt, als gar mancher vorher
zu hoffen wagte. Damit ist aber auch bewiesen, daß diejenigen Pädagogen
den richtigen psychologischen Blick hatten, die meinten, man solle nicht
viel von Patriotismus auf die Jugend einreden; man solle ruhig vertrauen,
daß die Vaterlandsliebe ganz von selbst in ihr wachse.
Dabei bleibt aber doch eine wichtige Aufgabe die, welche man seit einigen
Jahren erst in ihrer großen Bedeutung erkannt und als staatsbürgerliche
Bildung und Erziehung bezeichnet. ^) Hierfür ist jetzt eine geradezu ideale
Zeit. Wenn es sonst nicht ganz leicht ist, Interesse und Verständnis der
Jugend für den Staat zu gewinnen wegen seines abstrakten, ungreifbaren
Wesens und wegen der Selbstverständlichkeit, womit sein Walten uns umgibt,
80 tritt jetzt sein Wirken viel augenfälliger hervor; es ist auch darin so
vieles anders als in der Friedenszeit und drängt sich daher (nach einem
bekannten psychologischen Gesetz) dem Bewußtsein viel schärfer auf; und
endlich wird der Einzelne gewissermaßen durch einen Anschauungsunter-
richt nachdrücklichster Art darüber belehrt, wie viel Bande ihn an seinen
Staat und an sein Volk fesseln, und wie sein eigenes Wohl und Wehe
von dem Ergehen des Ganzen abhängt. Wenn schon in der Friedenszeit
alle Unterrichtsfächer ihren Beitrag leisten können für die staatsbürger-
liche Bildung, so drängt die Kriegszeit die Anlässe dazu geradezu auf.
Nur meine man ja nicht — nochmals sei es betont — , aus pedantischer
übersteigertes Selbst- und Nationalgefühl aufkommen lassen, als ob nun alles, was
deutsch heißt, ohne weiteres sittlich vollkommen sei. An einzelnen betrübenden
Erscheinungen fehlt es auch jetzt nicht. Man denke an manche Versuche, durch
Wucherpreise die Notlage der anderen auszunützen u. a.
') Vgl. darüber meine Preisschrift „D&a Problem der staatsbürgerlichen Er-
ziehung, historisch und systematisch behandelt" (Leipzig 1012).
538 I^ß^ Krieg und die Schule.
Pflichtauffassung heraus, den Unterricht genau so gestalten zu müssen wie
im Frieden, Es bedeutet z. B. wahrlich nicht, „Allotria" im Geschichts-
unterricht treiben, \venn der Lehrer einmal mit seinen Schülern die Ursachen
des jetzigen Krieges oder seinen bisherigen Verlauf oder einzelne wichtige
neue Ereignisse bespricht. Man erwecke auch ihr Interesse und ihr Ver-
ständnis für das, was im Innern für die erfolgreiche Durchführung des
Krieges geleistet werden muß: die Ausbildung des Ersatzes, die Pflege der
Verwundeten, den Nachschub an Proviant, Munition, Kriegsmaterial aller
Art, die Sorge für die Ernährung unsres Volkes („Höchstpreise"), die Ein-
wirkungen der Lahmlegung des Seeverkehrs, die Stockungen in der Industrie,
die Aufbringung der Gelder für den Krieg usw. Nur angedeutet, nicht
erschöpft soll hier die reiche Fülle von Themen werden, die der staats-
bürgerlichen Belehrung dienstbar gemacht werden können.
Derartige Besprechungen führen aber zwanglos hinüber zu der erzieh-
lichen Seite. Wir ^yollen voll Hochgefühl uns sagen, daß v/irklich der
Krieg in unserem Volke einen überraschenden Reichtum von „edlen Tugenden"
offenbart hat, und auch die Jugend soll das merken. Wir brauchen ihr
jetzt die Beispiele von Mut, Entsagung, Opferwilligkeit, glühender Vater-
landsliebe nicht mehr nur aus der Vergangenheit vorzuführen: wir können
sie ihr in ihrer unmittelbaren Umgebung aufweisen. Wir haben das erhebende
Bewußtsein, daß wir nicht bloß Epigonen einer großen Zeit sind, daß wir
vielmehr selbst Großes erleben und leisten, und auch davon soll die Jugend
ergriffen werden.
Sie soll aber nicht nur in tatlosem Hochgefühl schwelgen oder vergeb-
lich sich sehnen, selbst mit der Waffe schon für das Vaterland kämpfen
zu können. Es soll ihr vielmehr das Verständnis dafür eröffnet werden,
daß sie jetzt schon, auch im noch nicht waffenfähigen Alter dem Vater-
land dienen kann — vor allem durch treueste Erfüllung der gewöhn-
lichen Pflichten. Auch die Jugend kann schon begreifen, daß nicht nur
kriegerischer Sinn und kriegerische Leistung Deutschland groß gemacht
hat, sondern auch die deutsche Wissenschaft und Technik, die deutsche
Ordnung, Rührigkeit und unverdrossene, sorgfältige Arbeit. Aber auch
darauf ist hinzuweisen, daß die Kriegszeit der Jugend noch besondere
Pflichten auferlegt: sie kann mancherlei Helferdienste bei der Fürsorge für
Verwundete, für durchziehende Truppen, für Flüchtlinge aus den Grenz-
gebieten oder sonstige Notleidende leisten; sie kann sich an den allerorts
organisierten Vorübungen für den Heeresdienst beteiligen, die weibliche
Jugend mancherlei Liebesgaben anfertigen usw. Aber auch im häus-
lichen Leben bringt die schwere Zeit für die Kinder besondere Pflichten
mit sich: können sie nicht in erster Linie die Mutter trösten, wenn der
Vater im Felde weilt und vielleicht schon Tod oder Verwundung erlitten
hat? Können sie nicht mannigfach sparen helfen, wo die Einkünfte durch
den Krieg aufgehört haben oder sehr vermindert sind? Und auch, wo
dies nicht der Fall : können nicht Kinder wohlhabender Eltern durch kleine
Entsagungen aus ihrem Taschengeld gar manches für gemeinnützige Zwecke
erübrigen? In welcher Weise man ihnen das nahe legen kann, dahin
möchte ich sozusagen eine kleine „Lehrprobe" einschieben. Ich hatte
Der Krieg und die Schule. 539
jüngst Veranlassung, in meinem Wohnort Folgendes in dem gelesensten
Lokalblatt zu veröffentlichen:
Offener Brief an die Schüler höherer Lehranstalten.
Liebe Jungen! Die meisten von Eucli würden jetzt sieher Heber im Krieg sein
und für das Vaterland Leben und Gesundheit opfern, als behaglich im warmen
Zimmer auf der Schulbank sitzen; und ich weiß: wenn Euch jemand zeigt, hier
und dort könntet Ihr selbst etwas tun für die große Sache, so würdet Ihr nicht
zögern, es zu vollbringen.
Nun gut, ich will Euch eine solche Gelegenheit zeigen.
Kürzlich ging ich an einer höheren Schule vorbei, als gerade Pause war. Da
sprangen viele in eine nahe Konditorei, und sie kamen zurück mit Törtchen,
Cremschnittchen und anderen leckeren Sächelchen. — Ich habe mich über den
guten Appetit gefreut, mit dem das verzehrt wurde, aber zugleich kam mir doch
der Gedanke an die Tausende Vertriebener oder Arbeitsloser, die jetzt in unserm
\'aterland Not leiden, und an die vielen wichtigen Aufgaben, für die jetzt dringend
Geld gebraucht wird. Und ich dachte mir: wenn jetzt unsere Jugend statt der
teueren Konditorwaren — Brot äße und das ersparte Geld für vaterländische
Zwecke sammelte, das bewiese echte, männliche opferwillige Vaterlandsliebe,
das wäre schlichtes Rittertum. Ist das im Grunde nicht auch Eure Ansicht?
Und vielleicht findet Ihr bei näherer Überlegung noch andere Gelegenheiten
zu solch wertvollen Entsagungen im Dienste des Vaterlandes ? Wie steht es denn
z. B. mit dem Trinken und Rauchen und Euren Weihnachts wünschen? Ich bin
sicher: Eurem findigen Geist fällt noch Tausenderlei ein, woran ich Alter gar nicht
denke. Wie wäre es, wenn Ihr damit Ernst machtet?
Euer alter Freund A. M.
Natürlich meine ich nicht, daß für den Lehrer der gegebene Weg —
die Zeitung wäre, er hat nähere; aber da ich nur noch an der Universität
\vii"ke, so wählte ich diesen. —
Nur kurz angedeutet sei, wie noch manches andere Gute gerade während
der Kriegszeit in der Jugendlichen Seele gepflanzt werden kann: die Dank-
barkeit gegen die, welche draußen im Felde ihr Leben für uns einsetzen
und unsägliche Entbehrungen und Mühen und Beschwerden ertragen; das
hoffnungsfreudige Vertrauen auf die Leitung unsres Staates und Heeres
und auf die Kriegstüchtigkeit unserer Land- und Seemacht; die Herrschaft
über Ungeduld und Zaghaftigkeit in Zeiten, da der Krieg gleichsam ins
Stocken gerät; Enthaltung von Übermut und Ausgelassenheit bei Siegen
und innere Stärke bei Mißerfolgen und ähnliches mehr. Auch das wollen
wir nicht übersehen : was eine gesundem Fortschritt huldigende Pädagogik in
den letzten Jahren an Reformen verlangt hat, dessen Bedeutung wird durch
den Krieg auch dem Voreingenommenen vor Augen geführt. Über die staats-
bürgerliche Erziehung habe ich bereits gesprochen. Nicht minder bedeutsam
ist die Forderung, daß die Schule ihren etwas weit- und gegenwartsfremden
Charakter verliere, daß die innigste Wechselbeziehung zwischen Schule und
Lf'ben hergestellt werde: ferner daß auf die körperliche Ertüchtigung
der Jugend viel mehr Wert gelegt werde; daß gesundheitliche Schädigungen
aller Art, z. B. auch durch den Alkohol, viel entschiedener fern gehalten
werden. Endlich sei der Mahnung gedacht, daß die Schule, besonders die
Iiöhere, nicht so einseitig an Verstand und Gedächtnis sich wende, daß sie
mehr erzieherisch wirke; daß unser Volk nicht in gleichem Maße Gelehrte
540 Zur Psychologie und Methodik des matlieinatischen Unterrichts.
wie sittlich gerichtete Willens- und Tatmenschen brauche, und daß die
Schule nicht nur den intellektuellen Begabungstypus berücksichtigen dürfe.
Überhaupt darf es uns mit einem gewissen freudigen Vertrauen auf unsere
Pädagogik und ihre wichtigsten Grundlagen, unsere Psychologie und Ethik,
erfüllen, daß der Krieg die Vertreter dieser Fächer nicht etwa rat- und
hilflos gemacht oder genötigt hat, in wichtigen Punkten umzulernen. Er
kann sie vielmehr in der Zuversicht bestärken, daß sie auf dem richtigen
Wege sind, und daß unsere Lehrerschaft mit dem geistigen Rüstzeug, das
sie diesen Wissenschaften entnimmt, den ungewohnten und großen Aufgaben,
die der Krieg in überraschender Weise für sie gebracht hat, gerecht zu
werden vermag. Es gehört nur etwas geistige Weite, Beweglichkeit und
Anpassungsfähigkeit des Einzelnen dazu.
Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts.
Von Paul Cauer.
Unter der Ägide von Felix Klein sind innerhalb einer Reihe von Ab-
handlungen über „Einzelfragen des höheren mathematischen Unterrichts"
drei Hefte erschienen, die für sich eine Art von Einheit bilden; sie be-
wegen sich auf Grenzgebieten, die auch dem Nichtfachmann zugänglich
und jedem, der an der Gesamtaufgabe höherer Geistesbildung Anteil nimmt,
interessant sind.^)
Dr. D. Katz, Privatdozent an der Universität Göttingen, hat sich die
Psychologie der Mathematik und des mathematischen Unterrichts zum
Thema genommen. Mit den Methoden der experimentellen Pädagogik ver-
traut, untersucht er die Entwicklung der Zahlvorstellung wie der Raum-
vorstellung beim Kinde, weiter die Bedeutung der Lehre von den Vor-
stellungstypen für den mathematischen Unterricht, die Besonderheiten der
mathematischen Begabung, von ihrem Versagen bei Schwachsinnigen und
Mindersinnigen an bis zu den übernormalen Leistungen der Zahlenvirtuosen
und Rechenkünstler. Obwohl er den Wert experimenteller Ergebnisse für
die pädagogische Praxis [nicht überschätzt, ist der Verfasser imstande,
dem Lehrer manchen beherzigenswerten Wink zu geben. Er mahnt, die Di-
daktik des elementaren Rechenunterrichts mehr nach praktischen als nach
philosophischen Gesichtspunkten einzurichten, warnt vor dem Versuche,
etwa nach der Parallelität geistiger Entwicklung bei Kindern und bei
primitiven Völkern einen Lehrgang zu konstruieren. Wie sich Begabung
und Neigung zueinander verhalten, prüft er an der Hand von Erfahrungen
*) Martin Gebhardt: Die Geschichte der Mathematik im mathematischen
Unterricht der höheren Schulen Deutschlands, dargestellt vor allem auf Grund
alter und neuer Lehrbücher und der Programmabhandlungen höherer Schulen.
1912. VII, 157 S. — Alex. Wernicke: Mathematik und philosophische Propä-
deutik. 1912. VII, 138 S. — D. Katz: Psychologie und mathematischer Unter-
richt. 1913. IV, 120 S. — Hefte 6—8 des III. Bandes der „Abhandlungen über den
mathematischen Unterricht in Deutschland", veranlaßt durch die Internationale
Mathematische Unterrichtskommission, herausgegeben von F. Klein.
Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts. 54I
und findet, daß sich ein tiefes Interesse für eine Disziplin auch da ein-
stellen kann, wo es an besondrer Begabung für sie fehlt: eine Erkenntnis,
die sich ohne weiteres nützlich erweist, um die einzelnen Schüler sach-
gemäß zu führen und gerecht zu beurteilen.
Martin Gebhardt stellt auf Grund von Lehrbüchern und Programm-
abhandlungen den Anteil dar, den seit Ende des 18. Jahrhunderts die
Geschichte der Mathematik an dem mathematischen Unterricht unserer
höheren Schulen gehabt hat. Mit großem Fleiß ist ein weitschichtiges,
zum Teil entlegenes Material zusammengebracht und übersichtlich ver-
arbeitet. Im letzten Abschnitt wird dann erwogen, in welcher Weise es
für die Praxis verwertet werden könne. Der Verfasser, Professor am
Vitzthumschen Gymnasium in Dresden, kennt nur diese Schulart. Wenn
er glaubt, daß sich bei ihr die geschichtliche Betrachtung der Mathematik,
die ja unvermeidlich ins klassische Altertum führt, am besten pflegen lasse,
so hat er gewiß recht. Aber daraus möchten wir nicht mit ihm schließen,
daß es „die Aufgabe speziell der Gymnasien" sei, „die Jugend mit der
Geistesarbeit bekannt zu machen, welche die vergangenen Zeiten ihr teils
in fertigen Resultaten, teils in noch zu lösenden Problemen hinterlassen
haben" (S. 59). Durch die Beschäftigung mit den Griechen wird der
historische Sinn von selber wach; deshalb müssen Schulen, denen dieses
Element fehlt, umsomehr darauf bedacht sein, das Studium jeder einzelnen
Wissenschaft geschichtlich zu vertiefen.
„Mathematik und philosophische Propädeutik", so lautet der Titel eines
inhaltreichen Heftes von Alexander Wernicke, Direktor der Oberreal-
schule und Professor an der Technischen Hochschule in Braunschweig.
Auch er beginnt mit einem geschichtlichen Rückblick, zeichnet dann auf
der einen Seite die allgemeine Aufgabe der philosophischen Propädeutik,
auf der anderen den gegenwärtigen Stand des höheren Schulwesens in
Deutschland — wo sich manches einwenden ließe — , und würdigt von
hier aus zunächst die Schwierigkeiten dessen, was er in Angriff nehmen
will. Im zweiten Hauptteile bemüht er sich, an Kant anknüpfend, in
gründlicher erkenntnistheoretischer Untersuchung die Beziehungen zwischen
Mathematik und Philosophie ins Klare zu bringen. Der letzte Teil enthält
auch hier die Folgerungen für den Unterricht. Wernickes Erfahrungen
liegen, anders als die Gebhardts, im Bereiche der Oberrealschule; im
übrigen ist es natürlich, daß er sich mit diesem wie mit Katz vielfach
berührt. Daran wird hier und da noch zu denken sein, wenn wir jetzt
versuchen, etwas von dem Ertrag hervortreten zu lassen, den die drei
Schriften zusammengenommen dem Lehrer vermitteln können. Daß er zu
gutem Teil in Fragen besteht, die angeregt werden, entspricht der Natur
der Gegenstände und stimmt wohl auch zum Charakter des ganzen Unter-
nehmens, dem sich deren Behandlung verständnisvoll einfügt.
Von Anschauung zu Begriff! das ist jetzt ein anerkannter Grundsatz.
Doch hält es Katz nicht für überflüssig, „gegen den schädlichen Logizismus
im mathematischen Unterricht anzukämpfen". Seine Ausführungen beziehen
sich unmittelbar nur auf die erste Einführung, und sind da gewiß zutreffend;
auch der weitergehenden Mahnung möchte man zustimmen: „vor und
542 Zur Psychologie und Methodik des matliematischen Unterrichts.
Während der Pnbertätsentwicklung nicht zu hohe Anforderungen an die
Abstraktionsfähigkeit zu stellen und mehr einen die Anschauung berück-
sichtigenden Unterrichtsgang einzuschlagen" (S. 69). Aber nun ist es doch
auch eine erzieherische Aufgabe der Mathematik — oder wird darüber ge-
stritten? — ; das naive Vertrauen zur Anschauung zu erschüttern, ein Be-
dürfnis nach dem Beweise zu wecken. Wann und wie soll der Übergang
gemacht werden? Katz hat diese Frage nicht aufgeworfen. Und doch
möchte man sich gerade hier mit dem Psychologen beraten. Vor dreißig
Jahren hatte ich eine Tertia des Kieler Gymnasiums nach dem Lehrbuche
von Julius Petersen (Kopenhagen 1881) zu unterrichten, wo der Satz von
der Gleichheit des Sehnentangenten -Winkels mit dem Peripherie -Winkel
über der Sehne so bewiesen wird, daß ersterer nur als ein spezieller Fall
erscheint. Man denkt sich den Scheitel auf der Peripherie gleitend, während
die Schenkel dauernd durch die beiden Endpunkte der Sehne gehen; in
dem Augenblick, wo der Scheitel mit einem dieser Endpunkte zusammenfällt,
deckt sich der eine Schenkel mit der Sehne, der andere tritt ganz aus dem
Kreise heraus, er wird zur Tangente; und dabei ist der Winkel, als Hälfte
des zugehörigen Zentriwinkels, immer derselbe geblieben: die Richtigkeit
der behaupteten Beziehung springt in die Augen. Solches Beweisverfahren
im Elementarunterricht war mir neu, empfahl sich aber sofort durch über-
zeugende Anschaulichkeit. Offenbar beruhte es auf dem Grundgedanken
der Differenzialrechnung, die Tangente als Grenzfall aus der Sekante,
durch Zusammenrücken ihrer Schnittpunkte, entstehen zu lassen. Aber
eben hieraus erhob sich, so sehr mir die neue Methode gefiel, nun doch
ein Bedenken. Wurde damit nicht in den Schülern eine Anschauung ge-
weckt und alsbald zum Beweise verwertet, über deren Berechtigung sie
sich noch keine Rechenschaft geben konnten? War nicht zu fürchten,
daß sie sich, an dergleichen Folgerungen gewöhnt, künftig auch da auf
den Augenschein verlassen würden, wo es eben ein bloßer Schein wäre?
In späteren Jahren habe ich deshalb diese Betrachtung zwar immer
wieder gern heranzogen, aber nur da, wo der rechnerische Beweis — mit
Hilfe des rechtwinkligen Dreiecks — schon geführt war. Da folgte denn
also Anschauung auf Begriff: das Auge brachte lebendige Bewährung für
das, was der Verstand hatte zugestehen müssen. Dabei kam jeder von
beiden zu seinem Rechte, jeder hatte etwas zu leisten; zeigt man die
Gleichheit jener beiden Winkel zuerst anschaulich, so macht nachher der
exakte Beweis den Eindruck des Überflüssigen und wird wie eine Zumutung
empfunden. Hier haben wir es ja gerade mit dem Alter zu tun, vor dessen
zu starker Inanspruchnahme für abstraktes Denken gewarnt wurde, dessen
Neigung, es nicht allzu genau zu nehmen, doch auch wieder bekämpft
werden muß.
Ein Beispiel wie dieses reicht aus, nicht etwa um die Frage zu ent-
scheiden, wohl aber um den Zweifel zu wecken: ob die Reihenfolge An-
schauung — Begriff schlechthin die pädagogisch richtige ist, ob nicht unter
Umständen gerade im Elementarunterricht Gründe gegeben sein können, um-
gekehrt vorzugehen. In etwas reiferem Alter, wenn der kritische Sinn sich
schon befestigt hat, wird man sicherer von der Anschauung ausgehen
Zui" Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts. 543
können. Bleiben wir noch bei der Tangente. Daß ihre Strecke von irgend-
einem Punkt aus mittlere Proportionale ist zwischen den vom selben Punkt
aus gerechneten Abschnitten der Sekante, läßt sich, wenn diese bis zur
Grenzlage gedreht wird, wie durch ein Experiment finden. Es ist eine
Entdeckung; daß die aber streng geprüft und, ehe man .sie dem Wissen
einordnet, bewiesen werden muß, darüber besteht jetzt zwischen Schülern
und Lehrern im voraus schon Einverständnis. Je höher hinauf, desto
fruchtbarer wird diese Grundform des Denkens. An den pythagoreischen
Lehrsatz kann man von verschiedenen Seiten herankommen, u. a. wieder
so, daß man ihn als Grenzfall beobachtet. Die Schenkel eines Winkels,
die verschieden lang gemacht sind, läßt man in Gedanken langsam auf-
und zuklappen, während ihre Endpunkte stets durch eine dritte Gerade
verbunden bleiben. Ist der Winkel sehr spitz, so ist das Quadrat der ver-
änderlichen dritten Seite augenscheinlich kleiner als die unveränderliche
Summe der beiden andern Quadrate; ist er sehr stumpf, so ist das Gegen-
teil ebenso deutlich. Wächst der spitze Winkel, so wächst das Verhältnis
des dritten Quadrates zur Summe der beiden gegebenen ; nimmt der stumpfe
Winkel ab, so nimmt dieses Verhältnis ab. Einmal im Laufe der Bewegung
muß es durch die Gleichheit hindurchgehen, und der Winkel durch die
Größe des Rechten: da liegt die berühmte Beziehung auf der Hand. Be-
darf es noch eines Beweises? — Doch! Denn es steht nicht an sich fest,
daß beide Übergänge im gleichen Augenblick stattfinden. Dieser Einwand
wird in einer zum Zweifeln erzogenen Klasse nicht lange auf sich warten
lassen: und wenn nun der Beweis gegeben wird, so entspricht er einem
Wunsche, der nach ihm ausschaute, der sich deshalb auch durch die Um-
ständlichkeiten des euklidischen Gedankenganges nicht wird abschrecken
lassen.
Je höher hinauf, desto freier wird der Blick; je reifer die Schüler, desto
natürlicher ist es, daß sie erst mit der Anschauung — man könnte sagen
mit der Phantasie — das Ziel erfassen, um dann selber die Wege zu suchen,
auf denen sich der Verstand Schritt für Schritt heranarbeitet. Aber solcher
EntWickelung wirkt eine andere Tendenz entgegen, die durch ein erlebtes
Beispiel deutlich werden mag. Am Schluß eines Unterrichts, der wissen-
schaftlich auf beträchtlicher Höhe stand und in seiner Art als Muster
gelten konnte, war an einer Oberrealschule u. a. folgende Prüfungsaufgabe
gestellt: „Ein Rautenzwölfflach entsteht aus einem Würfel, wenn man den
Mittelpunkt des Würfels an allen Würfelflächen spiegelt. Es ist dieser
Körper im Schrägbild zu konstruieren und die Zahl seiner Ecken und
Kanten und sein Rauminhalt zu bestimmen. (w==30ö, w«=— J . Zeich-
nung und Rechnung war von allen geleistet. Sie hatten die Kantenlängen
berechnet, von ihnen aus den Inhalt des Gesamtkörpers, und waren so,
langsam und sicher, dieses Teiles der Aufgabe Herr geworden. Keinem
war im voraus der Gedanke gekommen, dnß durch Spiegelung des Mittel-
punktes nach jeder von sechs Seiten hin (im V^erdoppelung des Raum-
inhaltes unmittelbar gegeben sei; keinem auch nur nachträglich, bei der p]in-
fachheit des Resultates, etwas auf- oder eingefallen. Durch die Gewöhnung
544 Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts.
an streng rechnerische Behandlung auch geometrischer Beziehungen war
der Trieb verkümmert, aus der Anschauung Tatsachen abzulesen.
„Arithmetisierung der Mathematik" — als vor zwei Jahrzehnten Felix
Klein diesen Ausdruck prägte, war es seine Absicht, vor der Gefahr einet
Einseitigkeit zu warnen.^) Dabei hatte er wissenschaftliche und päda-
gogische Ziele gleich lebhaft ins Auge gefaßt: naturgemäß werde „der
Lernende im Kleinen immer denselben Entwicklungsgang durchlaufen, den
die Wissenschaft im Großen gegangen ist". Was er der Forschung als
Aufgabe hinstellte, daß man, wenn eine Zeitlang die Raumanschauung
zurückgedrängt worden sei, „die auf arithmetischem Wege gewonnenen
Resultate mit der Raumanschauung wieder in Verbindung setze," dürfen
wir ohne weiteres auf die erzieherische Tätigkeit des' Unterrichts übertragen.
Und wir freuen uns, wenn ein hervorragender Kenner und Könner die
psychologische Grundlage der Mathematik dahin bestimmte, daß die An-
schauung, als Betätigung angebornen Talentes verstanden, „auf ihrem
Gebiete dem logischen Denken überall voraneilt und also in jedem Momente
einen weiteren Bereich besitzt als dieses". Darüber mögen vielleicht andere
anders urteilen. Aber auch Gegner können sich in dem Gedanken zu-
sammenfinden, mit dem damals Klein seine Ausführungen schloß: bei
„einem Baume, der seine Wurzeln nach unten immer tiefer in das Erd-
reich treibt, während er nach oben seine schattengebenden Äste frei ent-
faltet," solle man nicht fragen, ob Wurzeln oder Zweige das Wesentlichere
seien, sondern von den Botanikern lernen, wie „das Leben des Organismus
auf der Wechselwirkung seiner verschiedenen Teile beruht".
Den vollen Anblick solcher Wechselwirkung bietet die Mathematik der
Griechen. In Euklids Lehre von den Proportionen scheinen Raumgrößen
und Zahlgrößen ineinander überzugehen; vielmehr, sie haben sich noch
nicht voneinander gelöst. Man meint es mit zu erleben, wie die Arith-
metik danach drängt, sich von der Geometrie, an der sie erwachsen ist,
abzutrennen und selbständig zu werden. Leider ist dieser Zusammenhang
in der historischen Studie von Gebhardt nicht zur Geltung gekommen.
Er rühmt (S. 75) Pythagoras' Verdienst, das Irrationale entdeckt zu haben;
aber auf welchem Wege war er dazu gelangt? Danach zu fragen ist doch
wichtiger als das Anknüpfen der Entdeckung an einen berühmten Namen.
Aus dem pythagoreischen Lehrsatz ergab sich die Möglichkeit, ein Quadrat
zu zeichnen, das doppelt, dreimal, fünfmal so groß war als ein gegebenes.
Nun verglich man die Seiten, und sah, daß sie zu der des ersten kein
Verhältnis hatten; denn ein Verhältnis ßöyog) kannte man nur zwischen
ganzen Zahlen (ccQi^f^dg Jtgdg uqi&^öv). Und doch war auch hier eine
feste Größenbeziehung, mit der sich mußte rechnen lassen : so schuf — oder
fand? — man eine besondere Art von Größe, {äXoyog, irrationalis) und
mit ihr eine Fülle wichtiger Aufgaben. Erzeugt worden ist der neue Be-
griff durch Ausdehnung einer geläufigen Methode auf ein Gebiet, das ihr
von Natur unzugänglich zu sein schien, das nun eben mit seiner Hilfe
*) „Über Arithmetisierung der Mathematik'-, in den Nachrichten der K. Gesell-
schaft der Wissenschaft zu Göttingen. Geschäftliche IVIitteilungen, 1895, Heft 2.
Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts. 545
,- —
erobert wird; die negative, die imaginäre Zahl sind ebenso entstanden.
In unserm Falle, bei der Entdeckung — oder Erfindung? — des Irrationalen
ist der Anstoß zur Erweiterung des Zahlbegriffes sichtbar von der Geometrie
ausgegangen. Wie sich das tatsächlich zugetragen hat, darüber streiten
die Gelehrten: das mag man, ohne auf Einzelheiten einzugehen, den Schülern
sagen. Für sie ist das Wesentliche die Einsicht, daß, ehe jemand daran
denken konnte die Irrationalität eines bestimmten Verhältnisses nach-
zuweisen, der neue Begriff selber gefunden sein mußte, und zwar gefunden
beim Suchen nach etwas, das noch nicht er war.
Wenn Katz daran erinnert, daß mathematische Sätze oft nicht so ge-
funden werden, wie man sie später beweist (S. 58), so gilt das einigermaßen
auch, wie hier, von der Gewinnung neuer Denkformen. Bei Ableitung der
trigonometrischen Funktionen geht der Unterricht mit Bedacht einen andern
Weg, als auf dem die Wissenschaft einst vorgeschritten ist. Worauf es
für die Erziehung des Geistes ankommt, ist doch, daß man überhaupt die
Begriffe nicht als fertige mitteilt, sondern das Bedürfnis danach aus einer
Betrachtung erwachsen läßt, zu der die bisher erworbene Erkenntnis fort-
entwickelt wurde. Wo nun aber der tatsächliche Hergang seinerzeit ein
solcher gewesen ist, daß er diesem Zwecke dienen kann, wird man ihn
doch nicht verschmähen. Und damit dürfte allgemein ein Gesichtspunkt
gefunden sein, von dem aus sich bestimmen läßt, welche Stellen in der
großen Geschichte der Wissenschaft für den Unterricht wertvoll sind.
Gebhardts Beantwortung dieser Frage hält sich zu sehr im Negativen: es
„braucht im Laufe der Schulzeit kein zusammenhängender Kursus in
Geschichte der Mathematik geboten zu werden"; man soll das Geschicht-
liche weder ausschalten, noch zur Hauptsache machen, es nicht „zum
Gegenstande des Einpaukens, der peinlichen Wiederholung oder zur Quelle
von Schulstrafen" werden lassen. Auch seine positiven Vorschläge — Be-
handlung in einer Festrede, Benutzung von Vertretungsstunden, Stellung
geschichtlicher Themata für Fachaufsätze usw. — bieten keinen Anhalt
für die Auswahl, die getroffen werden soll. Der ergibt sich am besten
aus den Bedürfnissen des Unterrichts selber: wo die Einführung eines neuen
Begriffes, der Eintritt in eine neue Disziplin zur Besinnung einladet und
es sich zugleich so trifft, daß der geschichtliche Verlauf den Übergang
vermitteln kann, weil er einem inneren Zusammenhang entspricht, da ist
die Hilfe willkommen. Draußen bleibe alles, was biographische Notiz ist,
Entwickelung von Problemen, von Betrachtungsarten ist das Fruchtbare.
Damit ist bereits ein philosophisches Element gegeben; denn Philosophie
ist Wissenschaft vom Wissen, Nachdenken über das Denken. Den Wert
des „Geschichtlichen der Mathematikstunde" für philosophische Proprädeutik
erkennt grundsätzlich auch Wernicke an (S. 85 f.); aber auf die Frage ist
er nicht eingegangen, inwieweit die äußere Reihenfolge in der Erweite-
rung mathematischen Wissens durch innere Beziehungen bedingt sei. Wenn
er in systematischer Behandlung die Arithmetik der Geometrie voranstellt
(S. 96 f.), so hat er seine guten Gründe, die ich zu verstehen glaube; aber
daß der geschichtliche Hergang umgekehrt gewesen ist, gibt doch zu denken.
Wernicke nimmt darauf keine Rücksicht; ja stellenweise klingt es so, als
/cH-^chrift f. T'Mngn^ Psychologie. 36
546 Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts.
wolle er nicht einmal die Tatsache gelten lassen. Unter seinen „allgemeinen
Gesichtspunkten" für den Unterricht stellt er auch den auf: es sei „zur
Erkenntnis zu bringen, daß die Reihenfolge Arithmetik (Zahl), Geometrie
(Raum), Phoronomie (Zeit) und Dynamik (Masse) eine fortschreitende
Eroberung der Wirklichkeit bedeutet, deren Ziel es ist, eine eindeutige
Ordnung des Geschehens zu erkennen und darzustellen" (S. 811). Viel-
leicht ist nur der Ausdruck nicht glücklich gewählt; aber das nun gerade
an einer Stelle, wo es sich um ein so wichtiges Grundverhältnis, Ja das
grundlegende Verhältnis handelte: der Ordnung des Denkens zu der Ord-
nung des Seins. Kurz vorher ist von den Beziehungen zwischen Wissen-
schaft und Praxis die Rede; dabei meint der Verfasser: „Was den selbstän-
digen Wert der Mathematik anbelangt, so wird für die Schule immer
Schillers Epigramm" 'Archimedes und der Schüler' maßgebend sein: Die
Mathematik war eine göttliche Kunst, ehe sie die Mauern der Stadt vor
der Sambuka beschützte, und so wird es immer bleiben." — Nimmermehr!
Dem Range nach geht die Wissenschaft Jeder Anwendung voran; der Zeit
nach aber steht es sehr oft so, daß der Ausdruck „Anwendung" überhaupt
nicht paßt, weil eine praktische Aufgabe es gewesen ist, durch die zuerst
der Spürsinn gestachelt und in die Richtung geführt wurde, in der ein
wissenschaftliches Problem lag. Wenn man deshalb den Einfluß rühmt,
den Mathematik und Naturwissenschaft auf die Vervollkommnung der
Lebensbedingungen ausgeübt haben, so soll man nicht vergessen, daß ebenso
sehr und vielleicht in noch höherem Grade das Streben nach vollkommneren
Lebensbedingungen die Wissenschaft gefördert hat. Auf diesen Zusammen-
hang zu achten ist nicht nur eine Pflicht der Gerechtigkeit, sondern für
die Erziehung künftiger Mitarbeiter vor allem deshalb wertvoll, weil sich
dadurch Einblicke in das innere Getriebe des geistigen Lebens auftun. ^)
Und doch könnte Schiller auch darin recht behalten, daß die Wissen-
schaft früher sei als alle Dienste, die sie den Menschen leistet. „Früheres
und Bekannteres gibt es in doppeltem Sinne," das wußte schon Aristoteles;
,denn es ist nicht dasselbe ,früher von Natur' und ,mit bezug auf uns
früher', auch nicht ,bekannter' und ,für uns bekannter'. Ich nenne mit
bezug auf uns früher und bekannter das, was der Wahrnehmung näher
liegt, schlechthin früher und bekannter aber das, was ferner liegt." 2) —
Daß die Ursache früher ist als die Wirkung, die Gattung früher als das
einzelne Wesen, leuchtet ein; aber auch bekannter? wem denn? Doch
wohl dem Schöpfer, aus dessen Geiste die Ordnung der Dinge hervor-
gegangen ist. Menschliche Erkenntnis hat von Jeher den umgekehrten
Weg einschlagen müssen.
Wenn Wernicke an ein jcqöisqov xat yvcoQifKbrsQov (pvaei gedacht hat,
als er die wissenschaftliche Mechanik der Waffentechnik, die Arithmetik
der Geometrie voranstellte, so sind wir einig; und im Grunde hat er es
wohl so gemeint. Aber in einem Buch über philosophische Propädeutik
*) Gerade mit Bezug auf eine der Entdeckungen des Archimedes und ihre Be-
handlung in der Schule habe ich dies an andrer Stelle (Palaestra vitae^ 14 ff.)
etwas eingehender dargelegt.
•) Zweite Analytik I 2, p. 71b, 33 ff.
Zur Psychologie und^ Methodik des mathematischen Unterrichts. 547
verdiente diese Unterscheidung docli gewiß einen Platz. Umsomehi*, als
die Vermischung beider Betrachtungsreihen im täglichen Leben und somit
auch in dem der Schüler gar nicht so selten ist. Überall da droht sie
sich einzuschleichen, wo eine beobachtete Tatsache begründet werden soll
und nun in der gleichen sprachlichen Form (mit „denn" oder „weil") so-
wohl der Grund des Geschehens wie der des Erkennens angegeben werden
kann. Und das muß doch, wo es sich um Einführung von Philosophie in
den Unterricht handelt, leitender Gedanke sein, nicht zu fragen: „Welche
Teile der Philosophie können beanspruchen, schon in der Schule gelehrt
zu werden?" — sondern: „Wo bieten sich in Mathematik und Sprachen,
in Geschichte und Naturwissenschaft dringende oder zwingende Anlässe zu
vertiefter Betrachtung?" All ohjects are as Windows, thvough which the Philo-
sophie eye looJcs into Infinitude itself, sagt Carlyle (Sartor Resartus I 11).
Solche Fenster gilt es zu öffnen; und unter den Handhaben dazu sind die
Denkfehler unserer Schüler die natürlichsten. Jenen Grundsatz wird auch
Wemicke anerkennen; aber er hat ihn wohl nicht streng genug durchgeführt.
In seinem umfangreichen grundlegenden Teil ist nur wenig darauf Rück-
sicht — oder besser, Voraussicht — genommen; und innerhalb der „Fol-
gerungen für die Schule" nimmt das, was eigentlich ein Hauptstück sein
müßte — „Psychologisches und Formal-Logisches im Unterrichte der Mathe-
matik" — einen recht bescheidenen Raum ein (8 Seiten von 44, bzw. 127).
Vom Definieren ist in diesem Zusammenhange nur kurz die Rede
(S. 88 ff.), ausführlicher vorher in den grundlegenden Betrachtungen, da
wo nach einer Definition der Mathematik gesucht wird, und weiter, wenn
die Stufen der Begriffsbildung psychologisch erörtert werden (S. 67 ff.,
71 ff.). Für Propädeutik scheint mir die wichtigste Frage, was „Definition"
überall sei; damit das der Primaner verstehe, muß früh beginnende Ge-
wöhnung helfen, zu der alle Wissenschaften beitragen, keine doch mehr
als die Mathematik. „Wann bezeichnet man zwei Dreiecke als kongruent?"
— „Wenn sie entweder in zwei Seiten und dem eingeschlossenen Winkel
übereinstimmen oder . . ." Ein Lehrer, der sich solche Antwort gefallen
läßt, leistet das Gegenteil von philosophischer Vorerziehung; er darf sich
nicht beklagen, wenn ihm nachher in Sekunda der Versuch begegnet, die
Gleichung „cos a »« sin (90 " — c)" zu „beweisen." Vielleicht beklagt er sich
auch nicht, sondern hält es sogar mit complementi sinus selber nicht anders.
Und doch wird jeder zugeben, daß es in allem wissenschaftlichen Denken
unerläßlich ist, Begriffsbestimmung und Lehrsatz auseinander zu halten.
Wernicke scheint den Definitionen keinen großen Wert beizumessen; ci*
weist, beinahe spottend, auf die Schwierigkeit hin, die Katze oder den
Menschen zu definieren, für Ebene, Gerade, Punkt eine vollkommene Be-
griffsbestimmung zu geben. Das ist natürlich teils schwer, teils unmöglich;
diese Begriffe sind zu arm an Inhalt, jene zu reich. Für den Schüler ist
doch etwas Gutes gewonnen, wenn er die Grundform der Definition —
Abgrenzung des Umfanges einer Art gegen andere derselben Gattung —
mit Sicherheit handhaben lernt; und dazu liefert der elementare Unter-
richt, der geometrische noch mehr als der arithmetische, fortwährend
Gelegenheit. Das Definieren kann freilich erst da einsetzen, wo es Gattungen
35»
548 Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts.
und Arten schon gibt. Innerhalb dieses weiten Bereiches aber bietet nicht
nur die Schärfe der Formulierung dem Verstand eine gute Vorschule für
künftige, schwierigere Aufgaben, sondern zugleich kräftigt sich der Sinn
für das Wesentliche, wenn auf die Wahl des artbildenden Merkmales ge-
achtet wird. Welche verschiedenen Definitionen für jeden der drei Kegel-
schnitte sind in der Schule vorgekommen? Wir vergleichen sie unter-
einander, nehmen die ursprünglichen des Archimedes hinzu, der nur mit
rechtwinkligen Schnitten arbeitete: so ist das viel mehr als bloße Gymnastik
des Denkens. Ein Blick tut sich auf in Entwicklung und innere Zusammen-
hänge der Wissenschaft.
Umkehrung eines Urteils ist eine Denkoperation, für die man in einem
Kursus der Logik die Beispiele herbeischaffen müßte. In der Mathematik
sind die Beispiele da; und man braucht nur zu tun, was der Fortgang
des Unterrichts ohnehin verlangt, so lernen die Schüler die Fehler ver-
meiden, die dabei gemacht werden können, und werden des richtigen Ver-
fahrens sich bewußt. In einem alten und verbreiteten Lehrbuch stand
vor wenigen Jahren und steht wahrscheinlich heute noch zu lesen: „Satz.
Wenn von einem Punkte zwei Tangenten an einen Kreis gezogen sind,
so sind ihre Abschnitte bis zum Berührungspunkte gleich, und der Winkel,
den sie bilden, wird von der Zentrale halbiert. — Umkehrung. Die
Halbierungslinie des Winkels, den zwei an einen Kreis gezogene Tangenten
bilden, geht durch den Mittelpunkt." Es war den Jungen nicht übel zu
nehmen, daß sie mit dem Beweise nicht reinlich zustande kamen, sondern
immer die Gleichheit der Strecken wie etwas Gegebenes mit hereinbrachten.
Mit einiger Hilfe entdeckten die Klügeren auch den Grund der Verwirrung:
nur die eine der beiden Behauptungen des ursprünglichen Satzes war hier
zur Voraussetzung gemacht; der Satz hätte in zwei zerlegt und dann jeder
für sich umgekehrt werden müssen. Auch für die Streckengleichheit wäre
das ja möglich gewesen, hätte nur eine etwas umständliche Aufstellung
und keinen recht verwendbaren Satz ergeben. — Das Beispiel zeigt von
der negativen Seite her, wie der mathematische Unterricht, schon in Tertia,
durch exakte Gewöhnung zu logischer Erziehung beitragen kann.
Die Forderung, daß überhaupt jede Umkehrung, ehe sie gelten soll, ge-
prüft werden müsse, ist ein weiterer, stetiger Beitrag. Hier vor allem gilt
es, das Gewissen zu schärfen, das Bedürfnis nach dem Beweise wach zu
halten. Daß dabei der Beweis in der Regel indirekt geführt wird, ist ein
Übelstand, den man hinnehmen muß, jedoch bemüht sein wird, so viel als
möglich einzuschränken. Sehr erfreut war ich einst, einem Lehrer zu be-
gegnen, der die Umkehrung der beiden Sätze, daß in jedem Sehnenviereck
die Summen der gegenüberliegenden Winkel, in jedem Tangentenviereck
die der gegenüberliegenden Seiten gleich sind, auf direktem Wege bewies.
Dabei wurde eine unnatürliche Figur vermieden, die innere Notwendigkeit
unmittelbar zur Anschauung gebracht.
Auf einer oberen Stufe wird man gern einmal die mannigfaltigen Beweis-
gänge, die vorgekommen sind, in gemeinsamer Arbeit zusammenstellen, sie
beschreiben und nach innerer Verwandtschaft oder Verschiedenheit grup-
pieren lassen. Das bedeutet schon etwas. Ist die Klasse befähigt, weiter
Zur Psychologie und Methodik des mathematischen Unterrichts. 549
\
mitzugehen und den methodischen Gedanken, der in einer ganzen Art von
Beweisen wirksam ist, zu erkennen und auszusprechen, um so besser. Die
Stärke wie die Schwäche des ausschließenden Verfahrens wird dabei klar
hervortreten; gefühlt hat sie schon der Knabe: es erzwingt Anerkennung,
schafft aber keine volle Überzeugung. Einsicht in das Wesen der Dinge
kann der negative Schluß nicht gewähren, sie liegt immer im Positiven,
das neu zutage gefördert wird; und da ist es, angesichts einer unend-
lichen Fülle möglicher Beziehungen, sehr viel schwerer, den leitenden
Gedanken zu erfassen. Poincare sah das eigentlich Schöpferische in der
Mathematik in dem Schlüsse von n auf n -j- 1. Wernicke zitiert diese An-
sicht, um sie erheblich einzuschränken (S. 59 f.); an der Diskussion darüber
teilzunehmen, wird sich ein Laie nicht unterstehen. Für die philosophische
Propädeutik aber hat diese Schlußform in der Tat einen besonderen Wert,
der in den „Folgerungen für die Schule" wohl stärker, als geschehen (S. 89),
hätte hervorgehoben werden können: es ist in aller Wissenschaft der einzige
Fall einer vollkommenen Induktion. Das erkennen Primaner auch ganz
gut, wenn man sie den Plan, der die Schlußreihe zusammenhält, finden
läßt; und damit haben sie, von allem Ertrag für die Mathematik abgesehen,
das Wesen und die natürliche Begrenztheit induktiven Denkens besser ver-
standen, weil sie es an der einen Stelle beobachten, wo die Grenze nun
doch durchbrochen wird.
Von demselben französischen Gelehrten führt Katz einige Sätze über das
Wesentliche eines Beweises wörtlich an (S. 3): ,J)er Logiker zerlegt so-
zusagen jeden Beweis in eine sehr große Zahl Elementaroperationen.
Wenn man alle diese Operationen, eine nach der anderen, prüft, und ge-
funden hat, daß jede von ihnen fehlerlos ist, wird man dann glauben, den
wahren Sinn des Beweises verstanden zu haben? Würde man ihn ver-
standen haben, selbst wenn es durch eine Anstrengung des Gedächtnisses
gelänge, den ganzen Beweis zu wiederholen mit Ausführung all der ele-
mentaren Schritte, in derselben Reihenfolge, in der sie der Erfinder an-
geordnet hat? — Offenbar nicht; wir besäßen noch nicht die volle Wirk-
lichkeit; das gewisse Etwas, das die Einheit des Beweises ausmacht, würde
uns entgangen sein." — Poincare hat bei diesen Worten wohl schwerlich
an die Schule und ihren manchmal mühseligen Betrieb gedacht; und doch
gelten sie ohne weiteres auch hier. Wir brauchen nichts hinzuzufügen,
wollen auch nicht streiten, ob er im Grunde damit eine Schranke der
Logik oder ihre höchste Aufgabe bezeichnet hat. Nehmen wir die Mahnung,
wie sie da steht, und wünschen wir, daß sie von allen immer beherzigt werde,
die in mathematischem Unterricht, als Lehrende oder Lernende, mitzu-
arbeiten haben.
550 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
Von H. Tittmann.
(Schluß.)
II. Hörfehler.
Bei der schriftlichen Aufzeichnung der diktierten Laute begegnen uns zahlreiche
Fehler, denen man es auf den ersten Blick ansieht, daß sie durch ungenaues
Hören veranlaßt worden sind. Diese mangelhafte Perzeption durch das Ohr ist
um so auffallender, als die Schüler wiederholt angehalten worden waren, das-
Auge mit zur Hilfe zu nehmen. Wenn sie dennoch die einzelnen Lauteindrücke
schwer voneinander unterschieden, so mag einesteils Unachtsamkeit, andern-
teils Ungeübtheit im Beobachten der Artikulationsbewegungen die Schuld tragen,
oder aber dem Gesicht ist überhaupt bei der Auffassung der Laute keine allzu-
große Bedeutung beizumessen, sondern diese muß, wie wir bald sehen werden,
einem anderen Faktor zugesprochen werden. Keinesfalls hat die Unterstützung
durch das Auge genügt, um Hörfehler überhaupt zu vermeiden, noch auch sie
etwa auf solche Laute zu beschränken, deren Artikulationsbewegungen wenig
oder gar nicht sichtbar sind. Im allgemeinen sind isoliert gebotene
Laute schwierig zu verstehen, da Apperzeptionshilfen, wie sie bei vor-
gesprochenen Wörtern sich einstellen, hier vollständig fehlen. Aber selbst
unter diesen günstigen Umständen sind Hörfehler nicht ausgeschlossen, wie
Gaßmann und Schmidt^) beim Nachsprechen von Sätzen konstatieren konnten.
Und zwar verlief bei ihnen die Verwechslung der Laute ganz in derselben Weise
wie bei meinen Lautdiktaten und wie in früheren Versuchen Gutzmanns^) bei
Prüfung mit sinnlosen Silben am Telephon. Unser Ohr erzeigt sich demnach
bei der Perzeption der Laute im allgemeinen und besonders, wenn es ganz allein
auf sich selbst angewiesen ist, als ein unzuverlässiges, trügerisches Organ. Seine
Wahrnehmungen werden daher — worauf eingangs schon aufmerksam gemacht
wurde — ganz unwillkürlich imd unbewußt unter Kontrolle gestellt, und zwar
wird diese ausgeübt von den Sprachbewegungsempfindungen. Sie sind das
Kriterium für den akustischen Wert des Lauteindruckes. Die Erklärung hierfür
finden wir darin, daß sich die Lautvorstellung nicht nur als eine Klangempfindung,
sondern als eine Komplikation von dieser und den entsprechenden Artikulations-
empfindungen erweist. Daher wird auch der Lauteindruck erst dann, wenn mit
seiner akustischen Empfindung die zugehörige Artikulation sich assoziiert, zur
vollen Klarheit und Gewißheit erhoben. Solange diese Assoziation zwischen
Laut- und Artikulationsempfindungen noch nicht völlig ausgebildet ist, ist
auf das Ohr kein Verlaß. Wir vermögen eben, wie Wundt^) bemerkt, nur die
Sprachlaute vollkommen richtig zu hören, die wir selbst richtig erzeugen können.
Und erläuternd fügt er hinzu: ,,Wer im eigenen Sprechen das linguale mit dem
I
^) Gaßmann u. Schmidt, Die Fehlererscheinungen beim Nachsprechen von Sätzen
und ihre Beziehung zur sprachl. Entwicklung des Schulkindes. Leipzig 1913, Quelle
& Meyer.
*) a.a.O.
») Wundt, Völkerpsychologie. 3. Aufl. 1911. I. Bd. S. 317.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern, 551
_
gutturalen r oder die Tenuis mit der Media verwechselt, dem entgehen die Unter-
schiede meist auch beim Hören der Laute. Nicht anders verhält es sich bei der
Aneignung einer fremden Sprache, die darum in ihrem Lautcharakter stets
nach den geläufigen Lauten der eigenen umgemodelt wird."
Ein Deutscher wird darum z. B. die nasalierten Vokale ä, o der französischen
Sprache nicht als solche, sondern als ang, ong hören, also etwa enfant nicht als
afä, sondern als angfang, allons nicht als allo, sondern als allong. Umgekehrt
vermag ein französisches Ohr nicht lang und bang zu vernehmen, sondern hört
lä und bä. Und solange ein deutsches Kind z. B. die Laute s, z, ch, seh noch nicht
scharf artikulieren kann, ist es auch unfähig, sie mit Sicherheit durch das Ohr
zu unterscheiden. Die Ausbildung des Sprach Verständnisses geht in diesem
Sinne Hand in Hand mit der Ausbildung der Sprechfähigkeit, die Schärfe des
Crehörs gewinnt mit der Schärfe der Artikulation. Feinere Auffassung der Sprache
vermittelt man, indem man zu feinerer Sprechweise anleitet. Diese Überzeugung
spricht auch Gutzmann in seiner bereits zitierten Arbeit über Hören und Ver-
stehen aus, indem er bemerkt: ,,In ähnlicher Lage, wie die kleinen Kinder der
Sprache der Erwachsenen gegenüber, befinden sich die Schüler des Berliner
orientalischen Seminars den ihnen dort vorgeführten Afrikanern gegenüber,
deren Sprache sie noch nie gehört haben, deren Gesprochenes sie aber doch
mit unseren Schriftzeichen fixieren sollen. Da gibt es die gleichen Verwechs-
lungen, wie die, welche die sprechenlernenden Kinder begehen, und manche
Unterscheidungen, z. B. die des labiodentalen vom labiolabialen f werden kaum
je von selbst, d. h. ohne Nachhilfe des Lehrers aufgefunden und scheinen docli
nachher so außerordentlich leicht hörbar und auf faßbar zu sein."
Wenn wir uns nun die Hörfehler, die bei unseren Lautdiktaten unterliefen,
genauer ansehen, so ist in der Tat zu bemerken, daß sie sich häufig in derselben
Richtung wie die Lautverwechslungen beim Stammeln bewegen und zwar so-
wohl bei den Einzellauten als auch bei den Lautverbindungen. Diese Parallele
erklärt sich daraus, daß dem Stammeln des sprechenlernenden Kindes ebenfalls
ein undeutliches Hören zugrunde liegt, hauptsächlich bedingt durch die geringe
Geschicklichkeit der Sprechorgane. Wenn bei dem sprachlich viel weiter ent-
wickelten Schulkinde, bei dem von einem dermaßen motorischen Ungeschick
nicht mehr die Rede sein kann, trotzdem das Verhören in derselben Weise ver-
läuft, so muß bis zu einem gewissen Grade die Ursache hierfür in den Lauten
selbst gesucht werden imd zwar einerseits in ihren akustischen, andererseits
in ihren sprechmotorischen Eigenschaften oder auch in beiden zusammen.
In bezug auf das akustische Moment des Lautes zeigen unsere Versuche, daß
die klangkräftigen öffnungslaute, die Vokale, dem Verhören viel weniger aus-
gesetzt sind als die schwächer klingenden Hemmungslaute, die Konsonanten. Bei
ersteren treten Hörfehler fast nur zerstreut auf, und zwar werden nicht immer
differenziert und daher mit einander vertauscht: e und ö (E und ö), i und ü,
o und u (0 und U), ä und e, ö und ü, ei und äu (eu). Typisch dagegen ist das
Verhören von ö und eu, die besonders bei schlechter Aussprache einander sehr
ähnlich klingen. Daraus erklären sich auch die Fehler in Wörtern wie Kreuz,
Mäuse u. V. a. Ich bin überzeugt, daß bei vorstehenden Vokal verhörungen auch
die Artikulation ihren Anteil hat. Die akustische Ähnlichkeit ist es in erster
Linie auch bei den Konsonanten, die ihr Verhören und dadurch weiterhin die
552 .Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
Fehler bei ihrer schriftlichen Fixierung hervorruft. Daher treffen wir bei den
Mitlauten mit vokalischem Klange, bei den stimmhaften Dauerkonsonanten
oder Halbvokalen, die meisten und mannigfaltigsten Verwechslungen an, ein
Umstand, der bei Gehörprüfungen z. B. der Schulrekruten wohl zu beachten
ist. Verhältnismäßig am besten sind die stimmlosen Reibegeräusche zu ver-
stehen, dieselben Laute also, die auch in der Flüstersprache am deutlichsten
hervortreten und unterschieden werden können. Die Explosivlaute bereiten
der Perzeption durch das Ohr dagegen wiederum größere Schwierigkeit. Sind
sie doch außer durch den gleichen Klangcharakter noch durch die gleiche Arti-
kulationsart (Verschluß!) nahe miteinander verwandt. Dieselben verwandt-
schaftlichen Beziehungen bestehen auch bei den Nasalen: m, n, ng. Schließlich
kann bei ganz verschiedener Entstehungsart und völlig verschiedenem Klange
der Laute (z. B. w = b, F = P) ein Verhören stattfinden, wenn nur die Arti-
kulationsstelle (Lippen, Zähne, Gaumen) dieselbe bleibt. Nach dem Gesagten
lassen sich demnach für die Hörfehler bei den Konsonanten folgende Regeln
aufstellen. Das Verhören derselben geschieht:
a) nur infolge ihrer akustischen Ähnlichkeit,
b) infolge des ähnlichen Klanges und der gleichen Artikulationsart,
c) nach der gleichen Artikulationsstelle bei verschiedenem Klangcharakter.
In Übereinstimmung mit unserer ersten Regel kam auch Gutzmann bei seinen
Telephon versuchen zu dem Resultate, daß gewöhnlich Laute mit ähnlichem
akustischen Charakter miteinander verwechselt werden. Er konnte folgende
Lautgruppen als miteinander verwechselbar aufstellen : p, t, k — b, d, g — seh,
f, z, SS, X, ch — m, n, ng — w, s, j. R und 1 wurden dagegen meist richtig perzipiert.
Höchst bemerkenswert ist auch, daß Gaßmann und Schmidt beim Nachsprechen-
lassen von Sätzen an dem Lautbestande falsch reproduzierter VTörter nicht
nur dieselben Hörfehler konstatieren, sondern daraus auch dieselben Regeln
(nur b ist nicht ausgesondert) ableiten konnten, wie ich sie bei Darbietung iso-
lierter Laute erhalten habe. Daraus dürfen wir den Schluß ziehen, den ich auch
durch das Fehlermaterial aus meinen Wortdiktaten bestätigt finde, daß die
Hörfehler nicht erst durch die Lautfolge, durch die Kontaktwirkung
der Laute, wie sie im Worte vorliegt, entstehen, sondern bereits dem
einzelnen isolierten Laute anhaften. Dieser Satz ist auch gültig bei
anderen Fehlerquellen, wie Schreib- und Artikulationsfehlern. Damit soll jedoch
keineswegs gesagt sein, daß die Kontaktwirkung der Laute nicht ihre besonderen
Fehler erzeuge. Im Gegensatz zu Gaßmann imd Schmidt finde ich in meinen
Versuchen keinen Beleg für das Verhören der sprachgeschichtlich so interessanten
Liquida r und 1. Für das von beiden Autoren auf S. 32 ihres Buches angeführte
Versprechen: der Blitz ist der Schall des Donners wähl = wir nehmen wahr,
möchte ich auch den Grimd nicht in einem Verhören, sondern vielmehr in einer
Beeinflussung sprechmotorischer Art suchen (Nachwirkung des 1 von Schall).
Ob und inwieweit dem Verhören eine Bedeutung für gewisse lautliche Wand-
lungen in der Sprachgeschichte zukommt, vermag ich nicht zu entscheiden.
Ich muß mich mit dem Hinweise begnügen, daß vielfach Parallelen bestehen
zwischen dem Lautwandel, wie er in der historischen Entwicklung der Wörter
■unserer Sprache hervortritt, und den Veränderungen der Konsonanten, welche
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksachülern. 663
sie durch das Verhören erleiden, z. B. Kartoffel aus tartufolo, Knoblauch aus
klobelouch, Blachfeld aus Flachfeld etc.^)
In der folgenden Übersicht der Hörfehler sind die typischen Verwechslungen
fett gedruckt und die häufigen in den gewöhnlichen Lettern beigegeben.
Infolge des gleichen Klangcharakters bez. desselben und der gleichen Artiku-
lationsart geschieht:
A. Das Verhören bei den stimmhaften Dauerkonsonanten, und zwar
werden verwechselt:
a) Nasale unter sich: m=n — M=N — n=m, ng — N= M, Ng — ng=n.
b) Nasale mit labialen Spiranten: m = w — M = W.
c) Labiale Spiranten mit Nasalen: w=in — W=N, M. — schw=schm.
d) Labiale Spiranten mit Liquiden: schw=schl, sehr.
e) Liquide mit Nasalen: l=m, n — L=M, N — fl=fn — bl=bn, bm — kl=kn.
f) Liquide mit labialen Spiranten: l = w — L=W — fl=fw — bl = bw — kl=qu (kw).
g) Nur der Stimmton, nicht aber das begleitende Geräusch wird wahrgenommen,
beruhend aul Unkenntnis der Artikulationsweise stimmhafter Konsonanten,
daher Verwechslung mit Vokalen: l = ü — L = Ü — m=ü — br=bru, — Br=Bru,
bl=bi, blü — kl = ki, gü, kü, klü — fl = fli, fü, fi — schw=schwu, schu — dr=
dru, dro, tru, tri, dre — fr=fru, fro, fri — J=Ü, Ji u. Jü, Schi u. schü.
In den Versuchen von Gaßmann u. Schmidt wurden aus dieser ganzen Konsonanten-
gruppe verhört: m f ür w, r für 1, 1 für n, m für n.
B. Verhören bei den Explosivlauten.
a) Labiale Explosiva mit dentalen: p=t, d — P=T.
b) ,, ,, ,, gutturalen: p=k, g — b=g, k — br=gr — bl=gl, kl.
c) Dentale ,, ,, gutturalen: d=g, k — D=G — t=k, ck, g — T=K,
dr=gr, kr — 8t=8k.
d) Dentale Explosiva mit labialen: d=b — D=B — dr=br.
e) Gutturale Explosiva mit labialen: g=b — G = B — kl=qu, gw.
f) Gutturale Explosiva mit dentalen: g=d — G=D — kl = dl.
g) Stimmhafte Explosivlaute werden als Vokale oder als mit Vokalen verbunden
gehört: b = ü, g=ü, ö, J=Ü, Ji, Hi.
Gaßmann u. Schmidt fanden unter den Explosivlauten verhört: b für k, g für b,
t für k, g für t, t für p. Gutzmann stellt als verwechselbar die Gruppen p, t, k
und b, d, g zusammen.
C. Verhören bei stimmlosen Dauerkonsonanten.
ft) f=8 — F=S, 8 — fr=sr (vielleicht nur Schreibfehler!), fl=8l, sü, su — b) 8ch=8,
8 — c) ch=8.
Gaßmann u. Schm. : f für s, f für z, f für eh.
Gutzmaim: seh, f, z, ß, x, ch, verwechselbar.
Verhören der Konsonanten, wenn der Klangcharakter verscliieden ist, aber die
Artikulationsstelle erhalten bleibt, zeigte sich in folgenden, aber nur verstreut auf-
tretenden Fehlem:
Labiale vmter sich: W=B u. b — B=W — F=P — br=mr — bl = ml, wl, mn,
wn — fr=pr, wr.
Dentale unter sich: d=kn — t=8t — D=S — T=L — Sp=De.
G. u. Schm. S. :H: b für w, f für m, 1 für d, r für d, s für d, t für s, d für n. Auch
bei stimmhaften Dauerkonsonanten mag außer dein gleichen Klange die gleiche
Artikulationsstelle mit zur Venvechslung beitragen. Daß aber vorwiegend der erstere
') cf. Behagel, Geschichte der deutschen Sprache. 3. Aufl. 1911. S. 187 ff. Vergl.
auch: Meringer und Mayer, Versprechen und Verlesen. Stuttgart 1896.
554
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
aiissclilaggebend ist, geht aus Fehlern wie W=N, m=n, w=r, l = w, m hervor, wobei
die gleiche Artikulationsstelle nicht in Frage kommt.
Verhören bei Lautverbindungen (soweit nicht schon besprochen). Sie werden ver-
nommen:
a) als einfache Laute und zwar entweder
a) als solche, die in der betr. Verbindung vorkommen, wobei der klang-
stärkste bevorzugt wird : bl=l, br=r (Br=R), dr=r, £1 = 1, f, fr=r, kl=l.
pf=f, V, ff {Pf=F, V) — Z (t8) = S oder
ß) als völlig neue Laute von ähnlichem Klangcharakter: bl = m, n, w — fl=w.
b) mit eingeschobenem vokalischen Klange (mit nachklingendem Vokale siehe
vorher): bl=bil — br=bur, brur — fl = fil — fr=frur — dr=dur, tor.
III. Hör-Schreibfeliler.
Sie gehen hervor aus einem Verhören und darauf folgendem Verschreiben, nach
Maßgabe der verschiedenen Modalitäten, wie sie unter I und II abgehandelt
wurden. Es kombinieren sich z. B. Verhören infolge des gleichen Klang-
charakters -j- Verschreiben durch Fortsetzung der Schreibbewegung, Verhören
auf Grund der gleichen Artikulationsstelle + Verschreiben infolge der Ähnlich-
keit der Schriftzeichen u. s. f. Ohne Kenntnis dieser Vorgänge ist eine Beurteilung
der bei der schriftlichen Aufzeichnung der Laute bez. Lautverbindungen ent-
stehenden Fehler vielfach ein Ding der Unmöglichkeit, wie etwa, wenn man
statt n b, für ö ue, statt eu uö, für br rg geschrieben findet. Die hierher gehörigen
Fehler ersehe man aus der folgenden Zusammenstellung. In ihr steht zuerst der
vorgesprochene Laut, bzw. die Lautverbindung, dann der verhörte Laut und an
letzter Stelle das verschriebene Lautzeichen.
o = eu = ue
ä := ai = ia
ei = eu = eü
eu = öu = ou, oü, uö
eu ^ ei = ie
n = 1 = b
m = n = nn
M = N = U, Nn
U = O = A
U =- Ou -= Au
g = ü = u
g = gü = qü, qu
b ^ g = qu
T -= B = L
D = g = ch = h
br ^=: gr ;:= rg
bl = bül = lül
dr = br = (rb) = rl
fl = bl = bf
kl = kü = tu, tu
kl = kö = tö.
Auch sonst noch manche vereinzelt auftretende Fehlschreibungen finden über
das Verhören hinweg ihre Erklärungen.
IV. Artikulationsfehler.
Während in Gruppe II die Klangwahrnehmung des Lautes das Schriftzeichen
desselben bestimmt, geschieht dies hier durch den Sprechakt, die Artikulation
des Lautes, bzw. durch die Sprechbewegungsempfindung oder Sprechbewegungs-
vorstellung. Die Fehler entstehen nicht durch die Unfähigkeit des Ohres, die
Klänge zu unterscheiden, sondern durch Ungeschicklichkeit der Sprechwerk-
zeuge, die Laute dem Klange gemäß zu erzeugen. Der Klang ist nur insofern
maßgebend, als er den Anstoß, den Reiz abgibt für die verlangte Schreibtätigkeit.
Der Erfolg derselben im speziellen aber wird bestimmt durch den sich ein-
schiebenden Sprechakt, bzw. die Sprechbewegungsvorstellung und die damit
verknüpfte Schreibbewegungsvorstellung. Zu dieser Überzeugung gelangen wir
auf Grund der Betrachtung der Fehlerarten wie auch durch die Beobachtung,
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 555
daß das Gros der Versuchsscküler sprechend schreibt. Der naive Schreiber be-
gnügt sich nicht mit dem Klange, sondern setzt ihn um in die Sprechbewegung,
und von deren Zentrum aus erfolgt über das optische Zentrum die Erregung
des motorischen Zentrums für die Hand. Es macht den Eindruck, als ob für die
Mehrzahl der Schüler der Laut erst schriftlich darstellbar wäre, nachdem er
vorher die Lippen passiert oder die Sprechmuskeln wenigstens innerviert hätte.
Da nun auch dann, wenn ein Verhören vorliegt, die Sprechbewegung beim Nieder-
schreiben zuhilf e genommen wird, so kommen wir zu dem Schlüsse, daß letzten
Endes die schriftliche Darstellung des Lautes durch die Sprechbewegung bzw.
Sprechbewegungsvorstellung bestimmt wird — wenn jene nicht im letzten
Moment noch durch die Schreibbewegung selbst modifiziert wird. Mit einfachen
Worten: Der Schüler schreibt den Laut so, wie er ihn spricht. Der Schreibakt
erscheint demnach als unmittelbare Auslösung des Sprechakts. Somit ist die
Sprechbewegung bzw. Sprechbewegungsempfindung die Grundlage
für die Lautdarstellung. Die anderen daran beteiligten Momente sind nicht
zu vernachlässigen, stehen aber an Bedeutung nach.
Von den Faktoren, die bei der Lautdarstellung wirksam sind, sind es be-
sonders zwei, die bei der Abwägung ihrer Bedeutung große Schwierigkeit bereiten,
das Klangbild und die Sprechbewegung. Man wird daher bei Beurteilung eines
Fehlers sehr oft im Ungewissen sein, ob er durch diese oder jenes erzeugt, ob
falsch gehört oder falsch gesprochen worden ist. Aber in bestimmten Fällen
kann darüber gar kein Zweifel walten. Sind sie erst erkannt, so haben wir einen
Maßstab, nach dem wir auch andere weniger klar zutage liegende Fälschungen
bemessen können. Derartige unzweifelhafte Fälle liegen vor bei den Lauten,
die durch dialektische, also sprechmotorische Eigentümlichkeiten, ausgezeichnet
sind. Das sind in der Leipziger Mundart besonders die Verschlußlaute (Ver-
wechslung der Mediä und Tenues), die dunklen Umlaute (ö, ü = e, i) und die
Reibelaute ch, (j, g) und seh, die beide einen Klang haben, der zwischen ch und
seh liegt. Man kann einem Leipziger Schulkinde wohl 10- und 20 mal Meter vor-
sagen, und immer noch wird es ,,Meder" artikulieren und darnach auch schreiben.
Von einem Falschhören kann unter solchen Umständen nicht mehr die Rede
sein, hier ist einzig die falsche Artikulation der Grund zum falschen Schreiben.
Hat der Schüler t eben noch ganz richtig gehört und er schreitet zur schrift-
lichen Wiedergabe, so setzt er den Klang um in die ihm geläufige Sprechbewegung
des d und setzt das dieser Sprechbewegung entsprechende Zeichen. Oder spreche
ich ihm lOmal das Wort Fleisch mit deutlich hörbarem seh vor und er soll es
darauf niederschreiben, so werden vom motorischen Zentrum aus die ausge-
fahrenen Nervenbahnen zum ch erregt, der Klang seh also in die Sprechbewegung
ch umgesetzt und demgemäß Fleich geschrieben. Das Gleiche gilt von vielen
anderen Lauten, natürlich immer bedingt durch die dialektischen Eigenheiten
der betreffenden Gegend. So dürfen wir es als gewiß annehmen, daß d und t,
b und p, g und k, ch und seh, e und ö, i und ü, ä und e, ö und ü, ö und eu, euundei,
s und z dem Klange nach wohl unterschieden werden. Wenn sie aber trotzdem
der Falschschreibung anheimfallen, so trägt nicht das Klangbild die Schuld,
sondern einzig und allein der sprechmotorische Akt, indem er im Moment des
Xiederschreibens die Klangvorstellung (und die ihm entsprechende Schriftbild«
Vorstellung) verdrängt und für sie einspringt. Der Erfolg tut sich darin kund.
556 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
daß der betr. Laut in der Darstellung nicht seinem Klange, sondern seiner
dialektisclien Artikulation gemäß erscheint. Für den schreibenden Schüler
besteht in unserm Falle der Inhalt der Lautvorstellung in der Sprechbewegungs-
vorstellung.i) Nach den früheren Ausführungen gilt dieser Satz auch für verhörte
Laute. Nach dieser Vorstellungsweise schreibt bei weitem die Mehrzahl der
Schüler, gehört also nach ihrem Verhalten beim Niederschreiben diktierter Laute
dem sprechmotorischen Sprachtypus an.^) Er bekundet sich bei jüngeren Schülern
in einem mehr oder weniger leisen Mitsprechen des zu schreibenden Lautes, bei
älteren dagegen verbleibt es bei einer bloßen Innervation der Sprechmuskeln ohne
sichtbare Sprechbewegung. Als Konsequenz hieraus ergibt sich: Die Erzeugung
klarer Sprechbewegungsempfindungen ist die Grundvoraussetzung
für die richtige Darstellung der Laute und damit für den orthographischen
Unterricht, soweit die lauttreue Schreibung in Frage kommt.
Die in unseren Lautdiktaten auftretenden Artikulationsfehler gruppieren sich
wie folgt. Sie betreffen :
a) die Vokale: e=ö (E=Ö) — i = ü — ü=i, ö — ö—e, eu, öu — ä =e, äu — eu=ö,
ei — ei =äu.
b) Die Explosivlaute: b=-p (B=P, bl =1>1, br=pr, Br=pr)— p=b (P=B, pf = bf,
Pf=Bf, Sp-=Schb)— d=t (D=T, dr=tr, tsch)— t=d (T=:D— g=k— k = g, ek
(K-G, kl -gl, ckl).
c) Die Reibelaute: f = pf (fl=pfl, fr=pfr) — s=z (S = Z, st=zt) — sch=cb, g, j —
seh =s (sehw=sw) — palatales ch — sch, j, g — ch=s — J = Sch, cb — gut-
turales ch =r, seh, s.
d) Liquida und Affrikatä: r=ch (br=:bch, dr=tch — pf=f — z(ts) = s.
e) verschiedenartige Laute ; sie werden asperiert : gh, Ih, mh, wh, rh — oder als
Affrikatä gesprochen: p =pf, t=tch, tz, tch.
f) Konsonanten, mit Vokalen zu Wörtern kombiniert und als solche gesprochen:
ch—ich — ch = ach — st = ist — P=Paar.
g) Aus Unkenntnis der Artikulationsweise erfolgt eine den akustischen Eindruck
der betreffenden Laute nur ähnlich wiedergebende Artikulation. Hierher sind
zum Teil die unter Hörfehlern vokalisch dargestellten stimmhaften Konsonanten
und Konsonantenverbindungen zu reclinen. (Vergl. bes. J.)
Die hier verzeichneten Artikulationsfehler beruhen, wie schon hervorgehoben,
zum größten Teile auf mundartlichen Eigentümlichkeiten und Gewohnheiten,
und diese wiederum werden erzeugt durch die imserem (wie jedem) Dialekte
eigene Artikulations- oder Operationsbasisa), d.i. durch die Mundlage, in der die
Laute ständig gesprochen werden. Durch sie erhält die Lautgebung ihre charak-
teristische Färbung und ihr besonderes Gepräge. Das, was die Artikulationsbasis
des Leipziger Dialekts kennzeichnet, ist ein breiter in die e- Stellung gezogener
Mund mit wenig beweglichen Lippen. Sie bleiben beim Sprechen immer den
beiden Zahnreihen angeschmiegt, gleichgültig ob ä, e, i oder o, u, ü zu artikulieren
ist. Die Ringmuskeln der Lippen treten nie in Tätigkeit und bleiben daher ganz
ungeübt. Daraus erklärt sich's, daß die Aufforderung an unsere Schüler, den
Mund zu runden oder zu spitzen (bei o — u, ü), meist ohne Erfolg bleibt, ja die
jüngeren Schüler sind häufig zunächst gar nicht imstande, diese ungewohnte
*) Vergl. Stricker, Studien über Sprachvorstellmigen. Wien 1880.
*) Pfeiffer, Über Vorstellungstypen. Leipzig 1907.
^) V«rgl. O. Jespersen, Elementarbuch der Phonetik. Leipzig 1912. S. 185.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 557
Muskeltätigkeit ohne Zutun des Lehrers auszuführen. Es bedarf vieler Übung,
ehe die trägen Lippen sich von den Zähnen abheben und sich nach vom schieben.
Eine weitere Eigenschaft der Operationsbasis unseres Dialekts ist die Trägheit
der Zunge. Sie bleibt meist flach im Munde liegen imd erhebt sich nur wenig
und energielos gegen das Gaumendach und die Zähne, so daß Verschlüsse und
Engen mit schlaffer Einstellung gebildet werden. Dazu kommt ferner noch eine
oberflächliche Atmung, wodurch der Exspirationsdruck ohne Kraft gegen jene
andrängt. Alle diese Eigenschaften der Artikulationsbasis, die, wie wir dargelegt
haben, im letzten Grunde nichts als Eigenschaften der Artikulationsmuskeini
also rein physiologischer Natur sind, bewirken in ihrer Gesamtheit die dem
Dialekt eigene Sprechbewegung und die beim Schreiben daraus fließenden
Artikulationsfehler. Die Trägheit der Lippen verhindert die Bildung der dumpfen
Umlaute und der Diphthonge oder gibt zu fortwährender Verwechslung mit den
einfachenVokalen Anlaß, wie auch von f und pf . Die Schlaffheit der Zunge ist es
hauptsächlich, die die Unklarheiten in der Darstellung der Reibelaute verursacht.
Der häufigste Fehler, den unsere Schüler hier machen, besteht in der Ver-
wechslung von ch und seh. Sie haben von Haus aus für beide Konsonanten nur
einen Laut, der akustisch die Mitte zwischen ihnen einnimmt. Er wird erzeugt,
indem der Zungenrücken sich nur wenig gegen den harten Gaumen hebt und die
Luft in breitem Strome über die unteren Schneidezähne abfließt, während die
Lippen die e-Stellung einnehmen. Beim Erlernen der Buchstaben geht nun
dieser Zwitterlaut und die ihm entsprechende Sprechbewegungsempfindung
sowohl mit der Schreibbewegung des ch als auch der des seh eine assoziative
Verbindung ein, und die Folge ist eine durch die ganze Schulzeit sich fortsetzende
Konfusion. Sie kann nur dadurch beseitigt werden, daß man durch scharfe,
präzise Artikulation klare und deutlich voneinander unterscheidbare Sprech-
bewegungsempfindungen bzw. -Vorstellungen zu gewinnen strebt. Die gleiche
Bedingung muß erfüllt sein, ehe s und z, ch und s, seh und s, ch und r fehlerfrei
zur Darstellung kommen können. Solange es z. B. beim gutturalen ch nicht
gelingt, auch die leiseste Bewegungsempfindung im Zäpfchen auszutilgen, liegt
immer die Möglichkeit einer Verwechslung mit dem (bei uns gebräuchlichen)
Uvularen r vor. Weitere Details anzuführen, wie die übrigen Artikulationsfehler
entstehen, muß ich mir hier versagen und auf die Lehrbücher der Phonetik ver-
weisen. Nur bezüglich der Explosivlaute sei noch bemerkt, daß zu ihrer Unter-
scheidung das Bewußtsein des geringeren oder stärkeren Exspirationsdruckes
neben der Vorstellung des lockerem oder festeren Verschlusses maßgebend ist.
Daß endlich bei völliger Unkenntnis der Artikulationsvorgänge gewisse Laute
(s. unter g) ganz falsch wiedergegeben werden, ist ohne weiteres verständlich,
wie auch die Erscheinung leicht erklärlich ist, daß einige Konsonanten aspiriert,
andere als Affrikatä gesprochen werden. Die Stimmritze schließt sich nämlich
nicht momentan nach der Aussprache der betreffenden Laute; streicht nun der
noch nicht erschöpfte Exspirationsstrom durch sie, so erscheint der betr. Kon-
sonant behaucht, oder geht bei einem der stimmlosen Verschlußlaute die Arti-
kulationsstellung in die des an gleicher Stelle entstehenden Reibelautes über,
während der Atem noch andauert, so erscheint jener angerieben.
Hiermit glaube ich genügend nachgewiesen zu haben, welch hohe Bedeutung
der Sprechbewegung bei der schriftlichen Darstellung der Laute zukommt,
558 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
und ich wende mich nun zur Gruppe derjenigen Fehler, die aus falscher Arti-
kulation mit nachfolgendem Verschreiben hervorgehen.
V. Sprech-Schreibfehler.
Zu ihrer Erklärung brauche ich nach den vorangegangenen ausführlichen Dar-
legungen nichts mehr zu sagen und kann mich hier auf ihre Zusammenstellung
beschränken. In der ersten Reihe stehen die vorgesprochenen Laute, in der
zweiten die dafür eingesprungenen Artikulationsfehler, in der dritten die ihnen
folgenden Verschreibe-Fehler.
U = O = A
U = Ou = Au
N = Nh = Hn, Hin
R = Reh = Rh
P = b = 1
k = ksch, seh = chs
Seh = ch = h
Sch = Tsch, Ksch=Kch,
Seht
st = zt = tz, tzt
Br = pR = Rp
fl ^ pfl = fpl
fr = fch = chf
kl - gl = gb
pf .^ f = h
pf =- bf, fb -= fh
pf =: bv = bw.
über Rh, fh ließe sich streiten, sie könnten auch als Aspiratä mit gehauchtem
Absatz gedeutet werden, während man Hn als Klanggeräusch mit gehauchtem
Einsatz gesprochen auffassen könnte.
Nebenbei sei bemerkt, daß außer den beiden Kombinationen unter III und V
auch noch andere vorkommen können. Wenn z. B. dr als pfr geschrieben wird,
liegt ein Verhören (br oder pr) mit darauf folgender falscher Artikulation (pfr),
also ein Hör- Sprechfehler vor. Es ist wichtig, sich alle diese Möglichkeiten vor
Augen zu halten, um die oft recht sonderbar erscheinenden Fehler nach ihren
psychologischen Vorgängen entwirren zu können, worauf schon bei Besprechung
der Hör- Schreibfehler hingewiesen wurde.
VI. Fehler, verursacht durch Unkenntnis des Lautwertes der
Buchstaben.
Wie falsche Aufzeichnungen entstehen, wenn die Schüler infolge mangelnder
Kenntnis der Artikulationsvorgänge nicht imstande sind, den Klangcharakter
der Laute zu erfassen (z. B. bei stimmhaften Explosiv- und Reibelauten), so
ergeben sich auch Fehler, wenn sie nicht wissen, welcher Lautwert den dar-
zustellenden Buchstaben zukommt. Schwierigkeiten erheben sich besonders da,
wo das Lautzeichen dem Laute nicht entspricht. Um ihnen zu begegnen, muß
von vornherein betont werden, daß der Laut etwas Gesprochenes und Hör-
bares, der Buchstabe aber nur ein sichtbares Symbol für ihn ist, das jedoch mit
seinen motorischen und akustischen Eigenschaften nicht das geringste gemein
hat, wenngleich nicht verschwiegen werden soll, daß mehrfach Versuche unter-
nommen worden sind, einen inneren Konnex der Schriftzeichen mit der Laut-
sprache herzustellen. Als erster, der einen derartigen Versuch machte, wird der
spanische Mönch Juan Pablo Bonet (1620) genannt. Ihm bedeutet z. B. das latei-
nische B den Verschluß der beiden Lippen, das umgelegte H = W die Hauchstel-
lung, das umgelegte pf^ die Artikulation des Zungenrückens gegen den Gaumen,
das umgelegte <J den geöffneten Mund u. s. f. Für die deutsche Schreibschrift
dürften solche Vergleiche wohl schwer herbeizuziehen sein. Ihre Zeichen stehen,
wie auch die lateinischen, in keinem Zusammenhange mit dem gesprochenen Laute.
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 559
Gleichwohl kann man die Erfahrung machen, daß Kinder und auch viele Er-
wachsene Laut und Lautzeichen infolge der beständigen Verknüpfung voll-
ständig identifizieren, der Buchstabe ist für sie der Laut. Erst durch Belehrung
kann dieser festsitzende Irrtum beseitigt werden. Wenn wir hiermit einer deut-
lichen, bewußten Scheidung von Schriftzeichen und Laut das Wort reden, so
soll dadurch aber beileibe nicht die innige Assoziation zwischen beiden berührt
werden ; denn sie ist es ja gerade, die die Voraussetzung für eine leichte und sichere
Reproduktion der Schriftzeichen auf zugerufene Laute bildet. Hier soll nur
nachdrücklich hervorgehoben werden, daß beide Ausdrucksformen zwei total
verschiedene Dinge sind, so verschieden, daß die Schriftzeichen oft gar nicht dem
akustischen Werte des Lautes — nur diesen, nicht auch den motorischen, drückt
der Buchstabe nach der allgemein gültigen Auffassung aus — entsprechen. So
schreiben wir zwei Zeichen, wo nur ein einfacher Laut erklingt : ng, seh, ph, oder
umgekehrt, wir setzen nur eins, obwohl eine Lautfolge vorliegt: z = ts, x = ks,
oder endlich die Buchstaben entsprechen überhaupt nicht dem Lautwerte: eu
und äu, phonetisch = oe (oi). Wenn die Schüler über diese Dinge nicht belehrt
werden und nicht wissen, welche phonetische Gültigkeit den einzelnen Buch-
staben und Buchstabenverbindungen zukommt — nach meiner Auffassung:
welche Sprechbewegungen in erster Linie wir mit ihnen verbinden — , so entstehen
Rechtschreibfehler, wie sie im folgenden verzeichnet sind:
i = j (I
= J)
k = ck
Qu = Kw, Qw, Gw, Quw
eu = oi,
Die, oeu, Ö, öu
p£ = V (Pf == V)
ng = n
ö = eu,
öu
pf = ph (Pf = Ph)
nk = ng (= zweilautig)
s --=. äu,
eu
Sp = Schp u. schp
, , i meinemWortfehler-
nk — ngkl Material entnom
ch ^ j
J = ch,
Ch
Z = Tz, tz, Ttz, Dz,
Ds, Zs, ß
Ts,
Y YB f isi&n: Schrangk —
■*• *"* > Exsempel, Axst
Im einzelnen brauche ich diese Fehlschreibungen wohl nicht alle zu erklären,
da bereits im Vorhergehenden auf ihre allgemeine Ursache eingegangen ist. Nur
auf einige Irrtümer sei hingewiesen. K ist für unsere Kinder lautlich g, artiku-
lieren sie nun die tenuis scharf, so genügt ihnen k nicht und sie schreiben ck.
Ng wird vielfach nicht als einfacher Laut, sondern als n — g bewertet. Das s
hinter x steht deshalb, weil der Schüler sich nicht bewußt war, daß das x-Zeichen
den phonetischen Wert ks hat und darum s schon mitenthält, u. a. m. Merk-
würdig erscheint noch die Bewertung des v (V) ; es wird durch alle Klassenstufen
hindurch dem Klange der Affrikata (pf) gleichgesetzt. Im übrigen darf es nicht
Wunder nehmen, daß einige Fehlererscheinungen hier wieder notiert sind, die
schon in früheren Gruppen auftraten. Sie können eben aus verschiedenen Ur-
sachen entsprungen sein, z. B. kann für eu ö geschrieben sein, weil falsch artikuliert
wurde oder weil der Klangwert unbekannt ist oder gar weil die Schriftbild-
Vorstellung nicht mehr gegenwärtig war und darum, durch die Klangähnlichkeit
veranlaßt, eine andere, geläufigere über die Schwelle des Bewußtseins trat;
schließlich können auch noch allerhand Zufälligkeiten mit im Spiele sein.
VII. Fehler, verursacht durch Einwirkung der Laute aufeinander.
Ich komme nun zur letzten Gruppe der Fehler, die sich bei meinen Laut-
diktaten ergeben hat. Sie hat ihre gemeinsame Ursache in der Beeinflussung,
560 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
die die Laute aufeinander ausüben, Sie tritt zwar als häufige Erscheinung erst
in dem Worte hervor, wo sich die Sprachlaute und Schriftzeichen viel intensiver
berühren, doch macht sie sich auch bemerkbar, wenn die Laute in längerer Reihe
isoliert aufeinander folgen. Während sie jedoch im ersten Falle als Vorwirkung
imd Nachwirkung auftritt, kann sie im zweiten, wo es sich um die Nachschrift
diktierter einzelner Laute handelt, sich nur nach einer Richtung, nämlich in
vorwärtsschreitender (als Nachwirkung) geltend machen. Diese Beeinflussung
hat ihren Grund in der Perseveration der Vorstellungen. Ein Laut kann, nachdem
er verklungen und geschrieben ist, noch als Vorstellung im Bewußtsein ver-
harren, während bereits zur Aufzeichnung des folgenden Lautes geschritten wird,
so daß er die neue Schreibbewegung noch einmal beeinflußt und sie in falsche
Bahnen leitet. Welche Seite der Lautvorstellung hierbei hauptsächlich wirksam
ist, läßt sich von vornherein schwer beurteilen. Es kann die Perseveration ent-
weder die Klangstellung oder die Schriftbild- und Schreibbewegungsvorstellung
oder die Sprechbewegungsvorstellung betreffen, ja schließlich kann bei Aus-
schluß jeder dieser vier Möglichkeiten imd eines Bewußtseins Vorganges überhaupt
die rein mechanische Fortsetzung des Schreibaktes die Ursache zum Fehlschreiben
werden. Es ist denkbar, daß eine Lautvorstellung deshalb länger im Bewußtsein
verweilt, weil der Laut für den Versuchsschüler aus individuellen Gründen
mannigfacher Art ein besonderes akustisches Interesse erweckt, oder es tritt
sein motorischer Charakter in den Vordergrund, weil seine Artikulation vielleicht
Schwierigkeiten bereitete oder die Schreibbewegung und das Schriftzeichen im
Augenblick die Aufmerksamkeit fesselte, oder aber die einmal eingeleitete Schreib-
tätigkeit kommt nicht im rechten Momente zum Stillstand (wie es z. B. bei den
Fingerübungen am Klavier der Fall ist), sondern setzt sich rein mechanisch über
die gewollten Grenzen hinaus fort.
Wegen der Unsicherheit, die bei Beurteilung der hier in Frage kommenden
Fehler, wie auch der in anderen Gruppen, nach den maßgebenden Momenten
der Lautvorstellung hervortritt, ist größte Vorsicht geboten, wenn man sich
anschickt, aus der Art der Lautfehler den individuellen Vorstellungstypus der
Versuchsperson zu erschließen. Diese Vorsicht, scheint mir, ist nicht immer an-
gewendet worden. Es ist z. B. unstatthaft, aus den häufigen Hörfehlern p=t,
t=k usw., die bei einem Schüler auftreten, schließen zu wollen, er hätte vorzugs-
weise nach dem Gehör geschrieben, sei also ein auditiver Typus. Ohne Zweifel
ist das Gehör hier maßgebend gewesen, aber das ist nicht individuell begründet,
sondern diese Schreibung ist objektiv bedingt durch die Verwechslungsmöglich-
keit infolge der akustischen Ähnlichkeit der betr. Laute. Das gleiche gilt für die
visuell bedingten Schreibfehler, wie die Verwechslung von b und 1, v imd w,
I und T, H und E, St und N usw. Man kann hierfür ebensowenig die subjektive
Vorstellungsweise verantwortlich machen; denn die Möglichkeit derartiger
Verwechslungen ist jederzeit und für jeden Menschen objektiv in der Ähnlichkeit
der betr. Schriftzeichen gegeben. Die Absonderung eines visuellen Typus auf
Grund der Aufzeichnungen von vorgesagten isolierten Lauten ist überhaupt
untunlich, da bei Vollsinnigen die Schreibbewegimg wohl stets auf Grund der
Schriftbildervorstellung erfolgt. Nach dieser Voraussetzung haben ja auch die
Kinder in der Schule das Schreiben der Buchstaben gelernt, und diese Art der
Einübung bestimmt und beherrscht dann auch in ihrem späteren Leben den
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
561
Reproduktionsvorgang. Der reine schreibmotorisclie Typus dürfte bei der Schul-
jugend daher wohl ausgeschlossen sein. Die obige Behauptung, daß bei der
Schreibbewegung die Schriftbildvorstellung niemals umgangen wird, besteht also
zu recht und damit die daraus gezogene Schlußfolgerimg. Um Mißverständnissen
vorzubeugen, sei noch bemerkt, daß aus diesen kritischen Bemerkungen keines-
falls herausgehört werden soll, daß ich eine typische Vorstellungsweise überhaupt
leugnen wolle. Es kam mir nur darauf an, hervorzuheben, daß Fehler, wie sie bei
der Lautdarstellung hervortreten, zur Erkennung des auditiven oder visuellen
Vorstellungstj'pus imgeeignet erscheinen. Nichts steht aber der Behauptung ent-
gegen, daß sich die Schüler — die jüngeren ausgesprochener als die älteren —
beim Aufzeichnen diktierter Laute sprechmotorisch verhalten. Darnach hat es
auch viel Wahrscheinlichkeit für sich, daß die Beeinflussung der Laute unter-
einander, die zu bestimmten Fehlererscheinungen Anlaß gibt, vorwiegend sprech-
motorischer Art ist. Die unten verzeichneten Beeinflussungsfehler wären also
dahin zu erklären, daß beim Erklingen des folgenden Lautes (bzw. Lautver-
bindung) die Sprechbewegungsempfindung des vorhergegangenen noch perse-
veriert oder sogar noch einmal dessen Artikulation veranlaßt, so daß der alte
Laut den neuen vollständig unterdrückt und an seine Stelle tritt oder in Ver-
bindung mit ihm erscheint.
Auf e folgte g, geschrieben als e
t „
u
a ,,
ei
br „
fl
fl M
bl
kl „
schw
schw
pf
pf „
dr
K „
W
6
Auf
w
folgte
G, geschrieb.
als m( = ver-
b (== ver-
hörtes w)
schrieb. 1)
»>
p
A
„ Ba, Paar
gi
«)
D
Seh „
„ Seht
V (= ver-
>5
S
B
., Sp
schrieben.
7>
B
H
„ Ba, Pa
w), qu
>»
E
I
„ Ei
tu
>»
L
R
„ Rl,Rh( =
a (= ä), äi
verschr. 1
bl u. Bl.
,,
Pf
>>
Sp(Schp)
„ Sf, Spf,
pfl, pf, vi
Schf.Schv
qu, wl
>>
Sp(Schp)
z
„ Zeh ( =
wf, w, bw
Z8ch),8ch^
pfr, pf
Seh, Sp,
Qu,Km{ =
Pl,Ps,Bs,
verhörtes
Pz, Bk,
Kw)
Kf, ks.
Hiermit habe ich die Mehrzahl der Fehler nach ihren physiologischen und
psychologischen Ursachen in bestimmte Gruppen untergebracht und damit den
Schlüssel in die Hand gegeben, ihre oft rätselhaften Erscheinungen zu erschließen
und einen Einblick in die Verborgenheit des hierbei im Geheimen sich abspielenden
Vorstellungsablaufs zu tun. An einem Beispiele will ich dies darlegen. Man sehe
hierzu die bei g verzeichneten Fehler der Reihe nach durch. Dort steht zuerst
g=k, ist Artikulationsfehler, dann g=G, größere Geläufigkeit, vielleicht nur durch
zufällige Umstände im Unterricht bedingt, g=d, Hörfehler, g=ö Hörfehler,
vokalischer Klang des stimmhaften Verschlußlautes, g=p Schriftbildähnlichkoit
oder Hörfehler, g=hi Artikulationsfehler, indem der stimmhafte Verschlußlaut
umgesetzt wurde in den stimmlosen Reibelaut ch, wie bei uns g allgemein ge-
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 36
562 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
sprochen wird, und dann Verschreibefehler, nämlich Umkehrung der Schreib-
bewegung und Fortsetzung derselben über die gewollte Grenze hinaus (der Punkt),
g==ü Hörfehler, vokalischer Klang des stimmhaften Verschlußlauts wie bei g=ö,
g=n wie vorher, aber Strichelchen fehlen, g=K Artikulationsfehler, größere
Geläufigkeit, g=:e siehe g=ö und g=ü, g=ck Artikulationsfehler imd Unkenntnis
des Lautwertes des Lautzeichens, g=ng Lautwertfehler, g=ch Artikulations-
fehler, g=gh Artikulationsfehler: gehauchter Absatz, g=h gehauchter Absatz
allein oder Artikulationsfehler mit folgendem Verschreiben g=ch=h, g=kü
Artikulations- und Hörfehler: vokalischer Klang, g=b Hörfehler, g=m Grund?
g=u: Hör- und Schreibfehler, nämlich g=ü=u, g=qu Schriftbild ähnlichkeit.
Wer bisher meinen Ausführungen gefolgt ist, wird in gleicher Weise sich Auf-
schluß auch über die Fehler bei allen übrigen Lauten und Lautverbindungen
geben können. Man versuche es beim p!
Ein kleiner Rest vereinzelt auftretender Fehler, der noch übrig bleibt und in
keiner der sieben Gruppen besprochen worden ist, ist psychologisch ohne Be-
deutung, da er meist seine Entstehmig einer augenblicklichen Ablenkung der
Aufmerksamkeit durch äußere Umstände verdankt. Der betreffende Laut wurde
gar nicht perzipiert. Wenn trotzdem an seiner Stelle ein Buchstabe in der Nieder-
schrift erscheint, so ist dieser ein reines Verlegenheitsprodukt, das mit dem
diktierten Laute in gar keiner Beziehung steht (vergl. vorher g=m).
Zusammenfassung.
Wenn vorgesprochene isolierte Laute und Lautverbindungen unter gewöhn-
lichen Perzeptionsverhältnissen (Ohr und Auge) schriftlich dargestellt werden,
so stellen sich die mannigfaltigsten Fehler ein.
Die Fähigkeit unserer Volksschüler, den Laut durch sein entsprechendes
Schriftzeichen wiederzugeben, ist im allgemeinen recht mangelhaft. Sie ist am
geringsten im zweiten Schuljahre, bessert sich wesentlich im dritten und vierten,
macht aber von da ab bis ins achte Schuljahr hinauf keinen nennenswerten Fort-
schritt mehr. Die Mädchen sind den Knaben auf allen Klassenstufen bedeutend
überlegen.
Diese Mängel stehen in Beziehung zur Perzeptions- und Reproduktionsfähigkeit
der Laute oder ergeben sich erst bei Ausführung der Schreibtätigkeit.
Im allgemeinen sind isolierte Laute schwierig zu perzipieren, da Apperzeptions-
hilfen, wie sie beim Hören von Worten sich darbieten, hier wegfallen.
Die bei der Lautdarstellung hervortretenden Fehler sind nach ihren physio-
logischen und psychologischen Ursachen: 1. Schreibfehler, 2. Hörfehler, 3. Hör-
Schreibfehler, 4. Artikulationsfehler (Sprechfehler), 5. Sprech- Schreibfehler und
Hör- Sprechfehler, 6. Lautwert-Fehler, 7. Beeinflussungsfehler.
Fehler, die mit der Schreibtätigkeit in Beziehung stehen, haben ihren Grund
entweder in der mechanischen Tätigkeit des Schreibens selbst oder in dieser in
Verbindung mit der sie unmittelbar bedingenden Schriftbildvorstellung.
Ein Verhören findet weniger bei Vokalen, desto mehr aber bei Konsonanten
statt. Von den ersteren sind eu und ö am schwersten voneinander zu unter-
scheiden. Von letzteren weisen die stimmhaften Dauerkonsonanten und die
Explosivlaute die meisten und mannigfaltigsten Verwechslungen auf, während
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 563
i^.
die stimmlosen Reibegeräusche verhältnismäßig am besten zu verstehen sind.
Das Verhören der Konsonanten geschieht entweder auf Grund der Gleichheit
ihres Klangcharakters oder der Gleichheit ihrer Artikulations weise. Konsonanten-
verbindungen werden vielfach als einfache Laute wahrgenommen, und zwar
werden sie ersetzt durch die klangkräftigsten Konsonanten der Verbindung oder
durch einen vollständig neuen, aber akustisch ähnlichen Laut.
Der bestimmende Faktor bei der schriftlichen Darstellung der Laute ist im
letzten Grimde der Sprechakt bzw. die Sprechbewegungsvorstellung. Der
Laut fließt so als Buchstabe in die Feder, wie er die Lippen passiert hat. Zu
dieser Erkenntnis gelangen wir durch die Beobachtung der schreibenden Schüler
wie auch durch die psychologische Beurteilung der Art ihrer Fehler. Es kommt
beim Niederschreiben von Lauten nach Diktat alles darauf an, wie nach dem
Hören der Sprechakt verläuft; nach ihm bzw. seiner Vorstellung erfolgt die
Auswahl der Schriftbildvorstellung im optischen Zentrum und die Erregung
des motorischen Zentrums der Hand. Die Sprechbewegung bzw. Sprechbe-
wegungsvorstellung ist die Grundlage für die Lautdarstellung.
Zur richtigen Lautdarstellung ist Kenntnis des Lautwertes der Buchstaben
und Buchstabenverbindnngen notwendig.
Folgen Laute in längerer Reihe aufeinander, so tritt oft eine Perseveration
der Vorstellungen ein, die beim Schreiben als Nachwirkung sich geltend macht,
und zwar sind die perseverierenden Vorstellungen wahrscheinlich vorwiegend
sprechmotorischer Art.
Anwendung für die Schulpraxis.
Wenn meine Ausführungen richtig sind oder wenigstens in ihrem Hauptsatze,
daß bei der Lautdarstellung der Sprechakt die wichtigste Rolle spielt, der Wahr-
heit nahe kommen, so ergibt sich daraus für die Unterrichtspraxis eine Reihe
beachtenswerter Folgerungen, die ich in Kürze hier noch andeuten will.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß durch die vorliegenden Untersuchungen,
die zum ersten Male die graphische Wiedergabe der Laute durch Schulkinder
verschiedenen Alters umfassend behandeln, dem Praktiker vor Augen geführt
wird, daß der Lautdarstellung eine größere Aufmerksamkeit ge-
widmet werden muß, als es bisher gemeinhin geschehen ist.
Zeigen sie doch in ihren Ergebnissen mit aller Deutlichkeit, daß die Fähigkeit
der schriftlichen Wiedergabe der Laute bei den Schülern nicht als etwas Selbst-
verständliches vorausgesetzt werden darf, sondern vor oder beim Begiim des
planmäßigen orthographischen Unterrichts als dessen Voraussetzung durch
besondere Übung bis zur unfehlbaren Sicherheit und Geläufigkeit
erworben werden muß. Erst wenn die Assoziation zwischen Laut und Laut-
zeichen derartig befestigt ist, daß der zugerufene Laut leicht und sicher die
korrespondierende Schreibbewegung auslöst, kann der beginnende Rechtschreib-
unterricht mit Aussicht auf bessere Erfolge betrieben werden. Darum muß
gefordert werden, daß schon der Elementarlehrer bei Einübung der deutschen
Schreibschrift dieses Ziel fest ins Auge faßt und dementsprechend verfährt.
Er darf sich vor allem durch außerhalb der Sache liegende Erwägungen nicht
verwirren und verleiten lassen, vor der endgültigen Schreibschrift vorübergehend
eine andere zu verwenden, weil dadurch der zu erstrebende Assoziationsprozeß
36*
564 Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern.
verzögert und gestört wird, was dann fernerhin eine unsichere und fehlerhafte
Reproduktion der Schriftzeichen zur Folge hat. Die einzige richtige Bewegungs-
vorstellung, die von vornherein mit der sichtbaren Wiedergabe des Lautes
verbunden werden muß, ist die Schreibbewegung, nicht aber Bewegungen,
die zu Tastempfindungen führen, wie dies beim Stäbchenlegen oder Kneten
der Buchstaben in Plastilin und Ton der Fall ist. Hierdurch kann wohl die
Schriftbildauffassung unterstützt werden, niemals aber die Schreibbewegung
selbst, da diese eine ganz andere Muskeltätigkeit verlangt als jene. Der Grund-
irrtum besteht darin, daß man die Bewegungen, mit denen beide ausgeführt
werden, infolge der Grleichheit der Objekte, identifiziert.
Damit nun eine recht innige Verknüpfung von Laut und Lautzeichen zustande
kommt, ist erforderlich, daß mit letzterem nicht nur das Klangbild, sondern
auch die Sprechbewegungsvorstellung verbunden wird, so daß dann umgekehrt
der Buchstabe nicht nur als ein akustisches, sondern auch als ein sprechmoto-
risches Symbol erscheint. Um dieses zu erreichen, ist der Artikulation
jedes einzelnen Lautes wie auch der mannigfaltigen Lautverbin-
dungen ganz besondere Sorgfalt zu widmen. Dieses setzt aber voraus,
daß der Lehrer die Phonetik gründlich beherrscht und vor allem praktisch an-
zuwenden versteht, daß er ferner insbesondere auch über die physiologischen
Bedingungen der Lautgebung des in seiner Landschaft gebräuchlichen Dialekts
aufs genaueste unterrichtet ist. Nur wenn er diese Voraussetzungen erfüllt,
ist er imstande, seine Schüler zu einer korrekten Aussprache der Laute anzuleiten
und ihnen beim Versagen zweckentsprechende Hilfe zu leisten, sonst bleiben
derartige Versuche eine armselige Stümperei. Bei Vornahme solcher Sprech-
übungen muß immer im Auge behalten werden, daß ihr Zweck dahin geht,
dem Schüler durch scharfe Artikulation der Laute zu klaren
Sprechbewegungsvorstellungen zu verhelfen, damit er sie dann mit
dem entsprechenden Schriftzeichen verknüpfe; denn nach unserer Ansicht
sollen ja die Buchstaben nicht nur einen akustischen, sondern ebenso sehr einen
sprechmotorischen Wert repräsentieren. Damit die Schüler gewöhnt werden,
neben dem Klange auch die Sprechbewegung mit in den Buchstaben hinein-
zulegen, empfiehlt es sich nach erfolgter Einübung der Artikulation, die Laut-
zeichen stets sprechend schreiben zu lassen und zwar in den Unterklassen
anfangs mit lautem Chorsprechen, das späterhin allmählich zum Flüstertone
herabgedämpft wird, bis schließlich jeder Schüler einzeln für sich die Schreib-
bewegung mit der zugehörigen Sprechbewegung oder wenigstens für sich die
Schreibbewegung mit der zugehörigen Sprechbewegung oder wenigstens der
Innervation zu ihr begleitet. Auf diese Weise werden die Schüler gewöhnt, z. B.
die Empfindung des festen Zungen-Zahnverschlusses und starken Atemdrucks
neben dem Klangbilde in die Auf-Ab-Bogen-Bewegung des t mit hineinzulegen
und auch wieder herauszulesen , wodurch die Lautdarstellung ganz wesentlich
unterstützt und gesichert wird. Diese Gewöhnung ist um so leichter, als die
jüngeren Schüler schon von selbst das Schreiben mit Sprechbewegungen be-
gleiten. Es ist nur nötig, diese natürliche Neigung in sorgfältige Pflege zu nehmen,
um sie zu einer klar bewußten Tätigkeit zu erheben. Analog dem angeführten
Beispiele ist bei jedem einzelnen Laute und jeder einzelnen Lautverbindung
zu verfahren. Ich habe durch die vorliegenden Untersuchungen me auch durch
Untersuchungen über die Rechtschreibung von Volksschülern. 565
vielfache Beobachtungen des Unterrichtsbetriebes die feste Überzeugung ge-
wonnen, daß eine Sicherheit in der Lautdarstellung ohne Zuhilfe-
nahme der Sprechbewegungen nicht zu erreichen ist. Solange
diese noch nicht die volle Präzision erlangt haben, bleiben auch ihre Vorstellungen
ungenau und unklar und dadurch für die schriftliche Aufzeichnung der Laute
eine Quelle sich durch die ganze Schulzeit fortschleppender Fehler. Nach dieser
Richtung hin erheischen für ujisere Gegend besondere Beachtung: b und p — d
und t — g und k — ch und r — g, ch, j, seh — s und z — f und pf — eu und
ö — i und ü — e und ö — ei und eu — n und ng.
Hierbei versäume man nicht, bei passender Gelegenheit nachdrücklich auf
den Lautwert bestimmter Buchstaben und Buchstabenverbindungen hinzu-
weisen, wie ich das früher schon angedeutet habe. In Frage kommen: ng, nk,
seh — q, X, z — eu. Da sich ergeben hat, daß viele Fehler bei der Lautdarstellung
auf ein Verhören zurückzuführen sind, ist es notwendig, besondere Übungen
zur Schärfung des Ohres vorzunehmen. Zwar wird eine solche schon
mit größerer Genauigkeit der Artikulation von selbst eintreten, doch möchten
eigens zu diesem Zwecke angestellte Übungen sie noch erhöhen. Diese Hör-
übungen werden in der Weise angestellt, daß die Schüler ihr Gesicht vom Sprecher
abwenden oder umgekehrt der Sprechende den Hörenden den Rücken zukehrt
oder auf irgendeine andere Art seine Sprechbewegungen vor ihren Augen verbirgt.
Aus den Fehlern, die sich hierbei noch einstellen, ist zu ersehen, welche Laute
erneuter Behandlung bedürfen, bis durch immer genauere Artikulation auch
ein immer feiner werdendes Unterscheidungsvermögen des Ohrs für geringe
Klangunterschiede erzielt wird und so die Grenzen der sprachlichen Perzeption
immer enger gezogen werden.
Als ein vorzüglich geeignetes Mittel im Dienste der Artikulation wieder Klang-
wahrnehmung erscheinen uns häufig wiederkehrende Lautdiktate. Sie sind
so lange anzustellen, bis vollendete Sicherheit und Geläufigkeit in der Laut-
darst^llung erreicht worden ist.
Hierbei ist jedoch auch noch dem rein schreibtechnischen Momente die nötige
Beachtung zu schenken nach all den Gesichtspunkten, wie ich sie imter dem
Abschnitte Schreibfehler angeführt habe. Vor allem gilt es, die Aufmerksam-
keit wachzuhalten, damit die Maschine nicht ohne Wächter ihre eigenen Wege
läuft. Sie muß zur rechten Zeit zu Hilfe gerufen werden, um regulierend ein-
greifen zu können, wenn der Schreibbewegung im physischen oder psychischen
Mechanismus begründete Hemmungen sich entgegenstellen oder aber auch aus
demselben Grunde im rechten Augenblicke sich nicht einstellen. Daher macht
es sich notwendig, die Schüler bald an die Ähnlichkeit gewisser Buchstaben oder
Buchstabenteile zu erinnern, bald sie vor Umkehrung der Schreibbewegung
zu warnen, bald der Schreibtätigkeit Halt zu gebieten, damit sie nicht über das
Ziel hinaus fortläuft u. a. m.
Ich zweifle nicht, daß eine so intensive Lautbehandlung, wie sie nach meinen
Ausführungen zum Zwecke einer korrekten Lautdarstellung unerläßlich ist, der
Orthographie ganz wesentliche Dienste leisten wird, natürlich zimächst nur
insoweit, als die lauttreue Schreibung in Frage kommt. Aber auch nach mancher
anderen Beziehung hin dürfte die Betonung des sprechmotorischen Moments
bei der Lautbildung und Lautvorstellung von Nutzen sein, nicht zuletzt auch
566 Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
nach der Richtung hin, die in der Hildebrandschen Forderung niedergelegt ist :
das Hauptgewicht sollte auf die gesprochene und gehörte Sprache gelegt werden,
nicht auf die geschriebene und gesehene. Wenn diese Forderung Rudolf Hilde -
brands ebenso oft erfüllt worden wäre, wie sie in der pädagogischen Literatur
seither wiederholt ausgesprochen worden ist, so würden wir in der Sprachbildung
unserer Schüler im allgemeinen wie auch in den Erfolgen der Rechtschreibung
im besonderen ein gut Stück weiter sein. Darum kann ich nur dringend wünschen,
daß jeder Deutsch- und Elementar lehrer des gründlichen Studiums der Phonetik
sich befleißige, damit endlich mit der Einführung einer intensiven Lautbehandlung
in die Volksschule Ernst gemacht werden kann. — Bevor der Laut als Buchstabe
die Finger passiert, muß er in den Sprechmuskeln sitzen !
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. ^)
Von A. Huth.
I. Einleitung.
Das Problem der folgenden Untersuchung lautet: „Inwieweit sind Kinder vor-
schulpflichtigen Alters selbständig fähig, eine ihnen vorgegebene einfache Strich-
form nachzuzeichnen?" Als Vorlage wurde der „c-Strich" oder „i-Strich"
gewählt, mit dem gewöhnlich der Schreibleseunterricht einsetzt. Die Kinder
hatten die Form aufzufassen, zu analysieren und nachzuzeichnen, wobei voraus-
gesetzt war, daß sie die erforderliche Technik im Bleistiftzeichnen inne hatten.
Diese Voraussetzung traf bei den Kindern der zweiten Klasse des Münchener
Versuchskindergartens, mit denen der Versuch gemacht wurde, in vollem Um-
fange zu. Es waren 37 Kinder im Alter von durchschnittlich 4^ Jahren, 20
Knaben und 17 Mädchen. 1 Kind war ausgezeichnet begabt, 8 waren sehr gut,
13 gut, 8 mittelmäßig, 5 schlecht und 2 ganz schlecht begabt. Die Schüler
stammten aus allen Bevölkerungsschichten, es war mit ihnen nie ein Schreib-
unterricht oder eine mechanische Nachzeichenübung gehalten worden ; sie waren
jedoch geistig reif genug, um die Aufforderung zum Nachzeichnen zu verstehen.
Bis zum Beginn des ersten Versuches hatten sie 12 Bleistiftzeichnungen aus-
geführt, nämlich nach der Natur: Apfel, Zwetschge, Blumentopf und
Schuhsohlen; aus dem Gedächtnis: Straße, Haus, Sterne, Christbaum,
Schneemann, Kommode und Tisch. Ein Ahornblatt war umrandet worden.
Während der Durchführung der ersten beiden Versuche zeichneten die Kinder
aus dem Gedächtnis einen Hund und eine Faschingsmaske {,,Maschkera").
In der Zeit zwischen dem zweiten und dritten Versuch fallen folgende Zeich-
nungen: nach der Natur: Waschschüssel, Wasserkanne, Ostereier, Schlüssel,
Gartengeräte, Schirm und Heckenröschen; aus dem Gedächtnis: Uhr,
Schlafzimmer, Bett, Gartenhaus, Vogelnest, Vogel und Katze.
Bis zum dritten Versuch waren also 29 Zeichnungen gefertigt.
Der Versuch wurde so ausgeführt, daß ich jedes Kind einzeln zu mir rief,
es neben mich sitzen ließ und ihm dann Bleistift und graues Tonpapier gab.
^) Die Arbeit ist aus dem Pädagogisch-psychologischen Institut München hervor-
gegangen.
Formaiiffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 5g7
■ ^
Bei der ersten Versuclisreihe wurde die fertige Vorzeiclinung mit der
Aufforderung zum Nachzeichnen vorgelegt. Das Kind hatte nicht Ge-
legenheit gehabt, zu sehen, wie man den c-Strich macht. Die
geistige Leistung, welche beim ersten Versuch erforderlich war oder richtig ge-
sagt, in ihm enthalten ist, ist sehr komplex. Die Kinder hatten die Vorlage
1. aufzufassen,
2. zu zerlegen, zu analysieren, mindestens die Dreizahl der Striche und ihren
Zusammenhang zu erkennen,
3. auf die technische Aasführbarkeit hin zu prüfen (ob man die drei Striche
in einem einheitlichen Duktus zeichnen kann),
4. war die Richtung der Striche festzustellen und festzuhalten,
5. mußte das Längenverhältnis der Nebenstriche zum Grundstrich abgeschätzt,
festgehalten und in der Zeichnung wiedergegeben werden,
6. waren die Druckverhältnisse zu unterscheiden (der Grundstrich hob sich
auf der Vorlage deutlich von den Nebenstrichen ab; vgl. aber II h),
7. war dann unter Berücksichtigung aller dieser Punkte die Vorlage abzu-
zeichnen.
Ich darf hier gleich bemerken, daß kein einziges Kind imstande war, diesen
sechs Anforderungen zu genügen, nur fünf Kinder brachten etwa annähernd
richtige Zeichnungen.
Bei der zweiten Versuchsreihe zeichnete ich jedem Kind vor seinen
Augen den „c-Strich" vor. Die ideale Lösung verlangt neben den sechs Punkten
der ersten Versuchsreihe die Auffassung des Entstehungsprozesses imd die
Nachahmung desselben, insbesondere Perzeption und Reproduktion
8. des einheitlichen Schriftduktus und
9. der Schreibrichtung von links nach rechts.
Bei der dritten Versuchsreihe wurde das Kind aufgefordert, seine spon-
tane Zeichnung mit der Vorlage zu vergleichen und danach verbessert zu wieder-
holen. Zu den vorherigen Anforderungen tritt neu hinzu :
10. der Vergleich der Zeichnung mit der Vorlage (die wie bei der zweiten
Versuchsreihe vor den Augen des Kindes entstanden war);
11. die Selbstkritik des Kindes und
12. die Verbesserung durch eine neue Zeichnung.
Selbstverständlich sind durch die Nichterfüllung einer oder mehrerer dieser
Forderungen eine Unzahl von Abstufungen möglich, die auch aus den beigegebenen
Typentafeln ersichtlich werden.
Den drei Schrift versuchen ist eine Freizeichnung des betreffenden Kindes
beigegeben, um zu zeigen, ob es in der Führung des Bleistiftes schon eine gewisse
Gewandtheit besitzt und um Vergleiche zwischen den Versuchsergebnissen
einerseits und der graphischen Ausdrucksfähigkeit desselben Kindes überhaupt
zu ermöglichen.
Über jeden Einzelversuch führte ich genau Protokoll.
II. Erste Versuchsreihe.
An der ersten Versuchsreihe beteiligten sich 32 Kinder, die in der Zeit vom
9. — 15. Febr. 1912 untersucht wurden. Jedem einzelnen Kinde wurde ein Blatt
568 Formauffassung und Sclireibversuch im Kindergartenalter.
Tonpapier vorgelegt, auf dem mit Bleistift ein ,,c" geschrieben war, dessen
Entstehung die Kinder nicht gesehen hatten. Dann hieß es: „Zeichne das ganz
genau so da her, aber es muß ganz genau so sein." Die Instruktion war ihrem
Sinne nach genau die gleiche bei allen Kindern; einzelnen mußte sie freilich
variiert gesagt oder wiederholt werden. Die einzelnen Ausdrücke der In-
struktion waren im Interesse der Unmißverständlichkeit von den ent-
sprechenden Gesten begleitet. Die Vorzeichnung hatten die Kinder wäh-
rend der ganzen Dauer des Versuches neben sich liegen. Von den 32 Kindern
erhielt ich 39 Zeichnungen, weil einzelne unaufgefordert mehrere Versuche
fertigten.
Ich habe mich nun zunächst bemüht, diese 39 Zeichnungen auf einige Typen
zurückzuführen, die auf der beigehefteten Tafel I reproduziert sind.
Die einfachste Form ist das an eine unregelmäßige Wellenlinie erinnernde
Gekritzel (Typ A), das sich auf 5 Zeichnungen findet. Ansätze zur
Analyse finden sich bei Typ B: der Grundstrich und ein Nebenstrich sind ge-
zeichnet, dabei sind vier verschiedene Anordnungen denkbar. Bl und B3 sind
von links, B2 \uidB4 von rechts aus analysiert, B3 ist das um 180 Grad gedrehte
Bl, ebenso verhalten sich B2 und B4. Typ Bl findet sich bei 4 Zeich-
nungen, B2 — 4 je bei einer. Typ C, der nur auf einer Zeichnung vor-
kommt, hat die Vorlage bis zur Dreizahl analysiert, stellt aber drei Ab-
striche unverbunden nebeneinander. Typ Dl (durch 2 Zeichnmigen repräsen-
tiert), analysiert von rechts aus und dreht dabei die Zeichnung um 90 Grad.
Typ D2 und D3 (je 2 Zeichnungen) beginnen mit dem Grundstrich, D2 setzt
links unten einen Anstrich und rechts oben einen Wegstrich an; D3 dagegen
setzt den Wegstrich links an den Anstrich. D4, das nur bei einer Zeichnung
vorkommt, ist Spiegelbild zu D3, der kleine Mittelstrich ist durchaus nicht als
Grundstrich aufzufassen. Typ E, der in 5 Zeichnimgen vertreten ist, ist Dl in um-
gekehrter Richtung, die Ansätze sind verfehlt : Der Anstrich ist unten, der Weg-
strich oben an den Grundstrich angesetzt. Typ F, der sich bei 2 Zeichnungen
findet, stellt eine richtige Zeichnung dar, nur haben die Kinder von rechts aus
analysiert und bei Fl um 90 Grad gedreht. Typ Gl mit seinem Spiegelbild G2 (je
eine Zeichnung) haben mit dem Grundstrich begonnen und dann noch die drei
Striche richtig angehängt. Typ H ist die im allgemeinen richtige Zeichnimg,
die aber in Bezug auf Längen- und Druckverhältnisse noch weit hinter der
idealen Lösung zurückbleibt. Nur 8 Kinder brachten Typ H fertig.
Eines sagen diese Typen mit aller Deutlichkeit: nur 8 Kinder konnten die
gestellte Aufgabe im allgemeinen erfüllen, das sind 20,5%. Nur mit diesen
20,5% hätte eventuell ein Schreibleseunterricht beginnen können.
Die Typen lassen bereits erkennen, nach welchen Gesichtspunkten die Zeich-
nungen einer Detailanalyse unterworfen worden sind. Meine Untersuchungen
erstrecken sich darauf, ob die Analyse der Vorlage soweit durchgeführt wurde,
daß das Kind die drei Striche, aus denen sie besteht, richtig erkannte, die
Reihenfolge, in der die Striche beim Schreiben aneinandergesetzt werden
müssen, das Formganze also, auffaßte; ferner ob es die verschiedene Länge
und Dicke der Striche, die Art und Gleichheit der Winkel beobachtete und
ob es dann seine eigene Zeichnung wirklich in einem Zug in der rechts-
läufigen Richtung ausgeführt hat.
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570 Formauffassung und Schreib versuch im Kindergartenalter.
a) In bezug auf die Analyse der Vorlage als eines Strichkomplexes aus drei
Elementen ergaben meine Untersuchungen, soweit aus der Ausführung der
Zeichnung Rückschlüsse auf die Analyse möglich sind :
1. Nicht analysiert haben 5 Zeichnungen 12,82%
(Typ A). Diese ausnahmslos schwach begabten Kinder haben ent-
weder die Aufforderung zum Abzeichnen ausgelegt als eine all-
gemeine Aufforderung, etwas zu ,, schreiben", d. h. zu kritzeln —
oder sie waren eben zur Analyse völlig unfähig und glaubten wirklich,
mit ihrem Gekritzel ein getreues Abbild der Vorlage geliefert zu
haben.
2. Falsch analysiert haben 12 Zeichnungen 30,77%
Unrichtige Analyse findet sich bei 12 Zeichnungen und zwar haben
a) weniger als drei Striche 7 Zeichnungen (Typ B) . . . 17,95%
b) mehr als drei Striche 5 Zeichnungen (Typ G und /). . 12,82%
3. Richtig bis zur Dreizahl analysiert haben 22 Zeichnungen 56,41%
(Typ C, D, E, F und H).
b) Auf die Reihenfolge der Analyse kann man schließen aus der Reihen-
folge, in der die Striche der Nachzeichnung ausgeführt wurden. Demnach hätten
1. von links nach rechts analysiert 23 Zeichnungen 58,97%
(z. B. Typ Bl, 4, E, Gl, H).
2. von rechts nach links analysiert (also wie z. B. die Türken) 20,51%
8 Zeichnungen (z. B. Typ B2, 3, F> G2).
3. Vom Grundstrich aus analysiert 3 Zeichnungen 7,69%
(z. B. Typ D2, 3, Gl, 2). Diesen Kindern ist der durch den Druck her-
vorgehobene Grundstrich auf derVorlage zuerst in die Augen gefallen,
und sie begannen mit ihm ihre Zeichnung.
c) Bei der Untersuchung der einzelnen Striche betrachten wir beim Oriind-
strich zunächst die Lage in der Blattebene, speziell im Verhältnis zum unteren
Blattrand.
1. Rechtsschräg geneigt sind 12 Grundstriche 30,77%
2. Senkrecht stehen ebensoviele Grundstriche 30,77%
3. Schriftlage 17,95%
Die amtlich vorgeschriebene Schriftlage (etwa 60 — 65 Grad
Neigung zur Wagrechten) findet sich bei 7 Zeichnungen.
4. Linksschräg geneigt 12,82%
Noch stärker linksschräg geneigt scheinen 5 Zeichnungen
zu sein. Es ergäben sich also in Summa 12 linksschräg geneigte
Grundstriche ; wenn man aber die durch verkehrte Analyse entstan-
denen 7 Zeichnungen abrechnet, bleiben nur 5 wirklich linksschräge
Grundstriche gegen 24 rechtsschräge (wobei die senkrechten als
rechtsschräg gezählt wurden). 83% der Kinder entscheiden sich
also für die Steilschrift.
5. Grundstrich fehlt ' 12,82%
Bei 5 Z3ichnungen findet sich überhaupt kein Grundstrich, eben
bei den 5 Zeichnungen, die nicht analysiert haben.
6. Aufwärts gerichteter Grundstrich . 23,18%
Formauf faasung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 571
Typ F2 zeigt einen aufwärts gerichteten Grundstrich, der durch
Analyse von rechts aus entstanden ist. Andere Kinder beginnen
richtig von links aus mit dem Anstrich (Typ E), zeichnen aber
dann den Grundstrich statt nach abwärts (rechts umgebogen) nach
aufwärts (links umgebogen). So und ähnlich entstanden im ganzen
9 aufwärts gerichtete Grundstriche.
7. Grundstrich zuerst gezeichnet 30,77%
Außer den 3 Zeichnungen, die ganz ausgesprochen vom Grundstrich
aus analysiert haben, finden sich noch 9, die mit dem Grundstrich
begonnen wurd«n. (Im ganzen also 12 Zeichnungen.)
8. Grundstrich später umgedeutet 23,08%
In den ebengenannten 9 Fällen wurde der Grundstrich später um-
gedeutet, d. h. als Anstrich oder Wegstrich aufgefaßt.
9. Zwei Grundstriche finden sich auf 6 Zeichnungen, z. B. Typ 0 15,38%
d) Beim Anstrich untersuchen wir besonders den Winkel zum Grundstrich,
die Verbindung mit dem Grundstrich und das Längenverhältnis zwischen Anstrich
und Grimdstrich.
1. Spitzer Winkel zwischen Anstrich und Grundstrich . . 53,84%
Der Winkel zwischen Anstrich und Grundstrich ist spitz, also kleiner
als 90 Grad bei 21 Zeichnungen.
2. Stumpfer Winkel zwischen Anstrich und Grundstrich 12,82%
Ein stumpfer Winkel findet sich bei 5 Zeichnungen.
3. Anstrich und Grundstrich unverbunden 7,69%
Anstrich und Grundstrich sind in drei Fällen unverbunden neben-
einander gestellt (siehe Typ C und D3).
4. Verbindungsstrich zwischen Anstrich und Grundstrich 23,08%
Bai 9 Zeichnungen helfen sich die Kinder über die Schwierigkeit des
Richtungs wechseis hinweg, indem sie zwischen Anstrich und Grund-
strich einen Verbindungsstrich einfügen. Entweder umgehen sie den
schwer ausführbaren spitzen Winkel durch einen Bogen oder sie
zeichnen erst einen stumpferen, also leichter ausführbaren Winkel,
bemerken dann, daß sie die Richtung nicht genug verändert haben
und biegen deshalb zum zweiten Male ab.
5. Anstrich fehlt 17,95%
Außer bei den 5 nicht analysierten Zeichnungen ist noch zweimal
kein Anstrich zu finden, im ganzen also 7 Zeichnungen ohne Anstrich.
6. Anstrich so lang wie Grundstrich 17,95%
Bei 7 Z?ichnungen sind Anstrich und Grundstrich ungefähr gleich-
lang.
7. Anstrich kürzer als Grundstrich 28,20%
Der Anstrich ist bei 11 Z3ichnungen kürzer als der Grundstrich.
8. Anstrich länger als. Grundstrich 28,20%
Bei 11 Zeichnungen ist das Längenverhältnis richtig, der Anstrich
also länger als der Grundstrich,
9. Anstrich zuletzt gezeichnet 7,69%
Drei Kinder, die ihre Analyse beim Grundstrich begannen, zeichneten
den Anstrich zuletzt.
672 Fornifliiffassnng und Schreibversuch im Kindergartenalter.
e) Beim Wegstrich ist außer den zum Anstrich analogen Punkten noch Paralle-
lismus und Längenverhältnis zwischen Anstrich und Wegstrich zu berück-
sichtigen.
1. Spitzer Winkel zwischen Grundstrich und Wegstrich. . 48,72%
Einen spitzen Winkel zwischen Grundstrich und Wegstrich weisen
19 Zeichnungen auf.
2. Stumpfer Winkel zwischen Grundstrich und Wegstrich 10,25%
Stumpfen Winkel zwischen Grundstrich und Wegstrich zeichneten
4 Kinder.
3. Wegstrich und Grundstrich unverbunden 2,56%
Nur bei einem Kind stehen Grundstrich und Wegstrich unverbunden
nebeneinander (Typ C).
4. Verbindungsstrich zwischen Grundstrich undWegstrich 7,69%
Zum Wegstrich brauchten nur 3 Kinder einen Verbindungsstrich —
wenn ihnen der zweite spitze Winkel zu schwer wurde, ließen nämlich
die weniger gewissenhaften den Wegstrich überhaupt weg.
5. Wegstrich fehlt 30,77%
12 Zeichnungen haben gar keinen Wegstrich. In dieser Zahl sind die
3 nicht analysierten Zeichnungen inbegriffen.
6. Wegstrich so lang als Grundstrich 23,08%
Bei 9 Zeichnungen sind Grundstrich und Wegstrich ungefähr gleich-
lang.
7. Wegstrich kürzer als Grundstrich 7,69%
3 Kinder zeichneten den Wegstrich kürzer als den Grundstrich.
8. Wegstrich länger als Grundstrich 28,20%
11 Kinder trafen das Längen Verhältnis zwischen Grundstrich imd
Wegstrich richtig : das ist ihnen aber nicht als besonderes Verdienst
anzurechnen, denn sie hatten ja keine Hemmimg der Bleistift-
bewegung vorzunehmen.
9. Anstrich und Wegstrich parallel 25,64%
Anstrich undWegstrich sind nur bei 10 Zeichnungen ungefähr parallel.
10. Anstrich so lang als Wegstrich 15,38%
Anstrich undWegstrich sind ungefähr gleichlang bei 6 Zeichnungen.
11. Anstrich kürzer als Wegstrich 15,38%
Nur bei 6 Zeichnungen ist der Anstrich kürzer als der Wegstrich.
12. Anstrich länger als Wegstrich 17,95%
Bei 7 Zeichnungen ist der Anstrich länger als der Wegstrich. — Die
letzten drei Zahlen setzen mich in Erstaunen; bei weniger zeichen-
gewandten Kindern wäre sicher die Schreibbewegung nicht so leicht
gehemmt worden, der Wegstrich wäre weit öfter länger geworden als
der Anstrich.
f) Nach der Untersuchung der einzelnen Striche betrachten wir den Schrift-
duktus, insbesondere die Stellen, an denen beim Zeichnen abgesetzt wurde, die
Strichrichtung und den Ansatz der Nebenstriche an den Grundstrich.
1. In einem Zuge 56,41%
22 Zeichnungen sind in einem Zuge entstanden. Mit diesen 22 Kin-
dern, die die Einheit des vorgelegten Schriftduktus erkannt haben,
I
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 573
wäre eventuell schon ein Schreibimterriclit möglicli, soweit sie nicht
durch andere Kennzeichen ihre Unreife bewiesen haben. Beispiels-
weise haben die 5 Zeichnungen des Types A den einheitlichen Schrift-
duktus, ohne zur Analyse fähig zu sein.
2. Einmal abgesetzt und dann im gleichen Punkte fort-
gefahren 8 Kinder. Diese Unterbrechung hatte wahrscheinlich nur
den Zweck, Zeit zur Überlegung zu gewinnen 20,51%
3. Einmal abgesetzt und dann an einem anderen Punkte
fortgefahren haben 6 Kinder. Vgl. Typ C, D2, 3, 4. Bei den
hierher gehörigen Zeichnungen wurde die Analyse wahrscheinlich
beim Grundstrich begonnen 15,38%
4. Mehrmals abgesetzt haben 4 Kinder 10,25%
Außer Typ C sind es Zeichnungen, die einmal absetzten,
um zu überlegen, und später wegen unrichtiger Analyse an
einem anderen Punkte neu begannen.
5. Anstrich vom Grundstrich weg 23,08%
In 9 Fällen ist der Anstrich vom Grundstrich weg gezeichnet (z. B.
Typ C und D3).
6. Wegstrich zum Grundstrich hin 2,56%
Nur einmal ist der Wegstrich deutlich erkennbar zum Grundstrich
hingezogen.
7. Alle Striche abwärts 2,56%
Typ C zieht alle drei Striche abwärts.
Mit Ausnahme der unter 5, 6 und 7 angeführten 11 Zeichnungen ist
also die Richtung der Nebenstriche richtig gemacht worden. . . 84,62%
8. Anstrich unten angesetzt 25,64%
Der Anstrich wurde wie bei Typ E (Erläuterung vgl. oben c6) unten
an den Grundstrich angesetzt in 10 Fällen.
9. Wegstrich oben angesetzt 23,08%
In 9 von diesen Zeichnungen wurde auch konsequenterweise der Weg-
strich oben angesetzt, bei der 10. Zeichnung fehlt der Wegstrich ganz.
g) Sehen wir nun zu, inwiefern sich an den Zeichnungen die Zeichenfertigkeit
der Kinder erkennen läßt, insbesondere ob die einzelnen Striche gerade, ab-
gebogen oder zittrig sind. (Strichart.)
1. Grundstrich gerade 41,03%
Der Grundstrich ist bei 16 Zeichnungen eine gerade Linie. Von ge-
ringfügigen Abweichungen (die z. B. davon herrühren, daß manche
Kinder vom Handgelenk aus zeichnen, ohne die Fingerglieder selbst
zu beugen oder zu strecken) ist hier wie in den nachfolgenden Punkten
abgesehen worden.
2. Grundstrich einmal abgebogen 15,38%
Der Grundstrich weist bei 6 Zeichnungen einmal eine deutliche Bie-
gung auf.
3. Grundstrich zweimal abgebogen 7,69%
Bei 3 Zeichnungen ist der Grundstrich deutlich zweimal abgebogen.
4. Grundstrich zittrig 20,51%
574 Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
In 8 Fällen ist der Grundstrich zittrig, diese Kinder haben noch keine
Sicherheit in der Bleistiftführung erreicht.
5. Anstrich gerade 43,59%
Ein gerader Anstrich findet sich bei 17 Zeichnungen.
6. Anstrich abgebogen 20,21%
Abgebogen ist der Anstrich bei 8 Kindern.
7. Anstrich ist zittrig in 7 Fällen 17,95%
8. Wegstrich gerade 41,03%
16 Zeichnungen weisen auch einen geraden Wegstrich auf.
9. Wegstrich abgebogen 7,69%
Nur in drei Fällen ist der Wegstrich abgebogen.
10. Wegstrich zittrig 15,38%
Einen zittrigen Wegstrich haben 6 Zeichnungen.
11. Mehrfachen Strich 17,95%
7 Zeichnungen zeigen einen mehrfachen Strich. Während die Un-
vollkommenheiten der Punkte 2, 3, 4, 6, 7, 9 und 10 aus technischem
Unvermögen entstanden sind, hat der mehrfache Strich in einzelnen
Fällen sicher seine Ursache in einer nachträglichen genauen Analyse.
Das zeichnende Kind verglich seine noch unfertige Zeichnung mit der
Vorlage und bemerkte nun erst die Druckverhältnisse, die es dann
durch mehrfachen Strich auszudrücken bestrebt war . (Vgl. die unter
/, 1 — 3 der Typentafel beigefügten Zeichnungen.)
12. Im Strich abgesetzt 5,14%
Im Strich abgesetzt — und zwar im Grundstrich — haben zwei Kin-
der ; sichtlich aus dem Bestreben heraus, das Längenverhältnis richtig
zu treffen : der zuerstgezeichnete Grundstrich erschien ihnen zu kurz,
wurde darum später verlängert,
h) Bei Betrachtung der Druckverhältnisse dürfen wir nicht vergessen,
daß die Bleistifttechnik, wie sie beim vorliegenden Versuch notwendig war,
die Verstärkung ungemein erschwerte, obwohl die Vorlage die Verstärkung
aufwies und dadurch den nachzeichnenden Kindern nahelegte.
1. Gar kein Druck 69,24%
Bei 27 Zeichnungen findet sich gar kein Druck.
2. Druck durch mehrfachen Strich 12,82%
5 Kinder halfen sich durch mehrfachen Strich aus der Verlegenheit.
3. Wirklicher Druck 5,14%
Nur bei 2 Kindern ist ein wirklicher Druck deutlich erkennbar,
4. Druck in Punktform 2,56%
Ganz originell ist die Lösimg des Druckproblems durch ein Mädchen,
das am Grundstrich unten einen kräftigen Punkt ansetzte.
i) Sonstiges.
1. Rechte Hand 81,25%
Die rechte Hand gebrauchten 26 Kinder.
2. Linke Hand 18,75%
Linkshänder sind nur 6 Kinder, diese 6 zeichnen auch sonst mit der
Linken, verrichten überhaupt alle Arbeiten links.
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 575
■ ^
3. Bleistift in Kreidehaltung 2,56%
Den Bleistift faßte ein Kind in Kreidehaltung (wie in Amerika üb-
lich). Das scheint mir rein zufällig zu sein, der Bleistift wurde eben
schnell vom Tisch aufgenommen und die paar Striche gezogen, das
Kind ließ sich nicht Zeit, erst mühsam die Bleistifthaltung ein-
zunehmen, die ihm beim Zeichnen gezeigt worden war. Das zeigt sich
schon daran, daß derselbe Knabe beim zweiten und dritten Versuch
den Bleistift wie gewöhnlich handhabt.
4. Zeichnung im Eck 12,82%
5 Kinder setzten ihre Zeichnung in die Ecke des Zeichenpapieres,
trotzdem ihnen doch das ganze Blatt zur Verfügung steht. Soweit
hier nicht Zufälligkeiten der Lage des Blattes bzw. der Haltung des
Kjndes vorliegen, ist diese vielfach beobachtete Erscheinung trotz
mancher Hypothese noch dunkeL
5. Haken beim Absetzen 10,25%
Bei 4 Zeichnungen findet sich ein Haken beim Absetzen, ein Zeichen
dafür, daß das schnell arbeitende Kind bemerkt, daß es den Weg-
strich eigentlich schon zu lang gezeichnet hat ; nun möchte es schnell
aufhören, es vermag aber nicht schnell genug die Schreibbewegung
zu hemmen ; als Resultante zwischen der nach dem Trägheitsgesetz
fortdauernden Schreibbewegung und dem vom Willen geforderten
Aufheben des Bleistiftes entsteht der Haken.
k) Einer besonderen Untersuchung unterzog ich noch die Verbindungs-
striche zwischen Anstrich und Grundstrich einerseits und zwischen Grundstrich
und Wegstrich andrerseits. Entweder kann dieser Verbindungsstrich gerade
sein, so daß sich zwei Ecken an den beiden Enden des Verbindungsstriches er-
geben — oder der Verbindungsstrich ist rund, so daß nirgends Ecken entstehen —
oder endlich der Verbindungsstrich ähnelt einem Viertelkreis, so daß an einem
Ende des Verbindungsstriches eine scharfe Ecke zustande kommt, während
das andere Ende mit dem Grundstrich verschmilzt. Der gerade Verbindungs-
strich kommt dreimal vor, der gebogene im ganzen achtmal, nämlich sechsmal
zwischen Anstrich imd Grundstrich und zweimal zwischen Grundstrich und Weg-
strich, die dritte Art findet sich nur auf einer Zeichnung. Auf der Typentafel
sind diese verschiedenen Möglichkeiten unter den Buchstaben L, M und N auf-
geführt.
Einer Spezialuntersuchung unterwarf ich auch die verschiedenen Striche hin-
sichtlich ihrer Abweichung von der Geraden. Nachdem ich schon unter g die
verschiedenen Stricharten nach den drei Strichen ausgeschieden hatte, kann
ich jetzt die Unterscheidung zwischen Anstrich, Grundstrich, Wegstrich und
Verbindungsstrich fallen lassen. Bei der Betrachtung der Striche an sich erhielt
ich die Typen O — W.
Typ O: Der gerade Strich in senkrechter, wagrechter oder schräger
Lage fand sich in 38 Fällen 34,23%
Typ P: TypP — /S stellen die einmal abgebogenen Formen dar und zwar
Typ P der nach links offene Bogen, der sich auf 14 Zeichnungen findet 12,61 %
Typ Q: Einen nach rechts offenen Bogen stellen 9 Striche dar . . . 8,10%
576 Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
Typ R: 4 Kinder zeichneten einen nach oben geöffneten Bogen . . 3,60%
Typ S: Den nach unten geöffneten Bogen konnte ich auf 5 Zeichnungen
feststellen 4j50%
Typ T: Die Typen T, U und F sind die vorgekommenen Fälle von zwei-
mal abgebogenen Strichen, Typ T stellt eine Wagrechte dar, die zum
ersten Male nach oben abgebogen wird und dann eine zweite Biegung
erleidet, so daß der dritte Teil des Striches dem ersten parallel er-
scheint 4,50%
Typ U: Typ U kann man sich aus Typ T entstanden denken, indem T
um seinen Mittelpunkt um 90 Grad entgegengesetzt dem Uhrzeiger-
sinn gedreht wird. U erscheint also als eine Senkrechte, die nach rechts
oben gebogen ist und dann zum zweiten Male nach links umbiegt, so
daß erster und dritter Teil parallel sind. U findet sich in 9 Fällen . 9,01 %
Typ F: F entsteht aus T, wenn T um seinen Mittelpunkt um 90 Grad
im Uhrzeigersinn gedreht wird. F ist die Form, die im Schreibunter-
richt als Flammenstrich bezeichnet wird und beispielsweise in den
deutschen Kurrentbuchstaben F, I, L, B und K, in den lateinischen
Kurrentbuchstaben L, S, I, T, F, P, B, R und D vorkommt . . 8,10%
Typ W: 17mal brachten die Kinder nur ein Gekritzel fertig, das in 12
dieser Fälle wenigstens noch eine ungefähre Richtung aufzuweisen hat 15,31 %
Wenn wir nur die Hauptgruppen herausgreifen, ergibt sich folgendes Bild:
Strich gerade 38 Fälle = 34,23%
Strich einmal abgebogen 32 „ = 28,83%
Strich zweimal „ 24 „ = 21,62%
Strich zittrig 17 „ = 15,32%
Zu diesen Zahlen bemerke ich, daß ich bei der Einordnung der Striche als gerade,
abgebogen oder zittrig äußerst weitherzig war, geringfügige Abweichungen von
der Geraden zählte ich noch als gerade. Trotzdem genügte nur ein Drittel der
Kinder den Anforderungen der Vorzeichnung. Und das sind Kinder, die schon
eine Menge gezeichnet haben!
k) Unter Typ /, 1 — 3 bringe ich noch drei besonders merkwürdige Zeichnungen :
1 1, zu Typ H gehörig, beginnt die Analyse mit dem Grundstrich, versucht
durch eine Parallele zum Grundstrich den Druck anzugeben und setzt dann
erst Wegstrich und Anstrich an.
/ 2 imd I 3 sind vom gleichen Kind. Bei / 2 betrachte ich den vierten Strich
als die eigentliche Zeichnung (zu Typ H gehörig), alles andere sind tastende Vor-
versuche. Die Verstärkung ist durch mehrfachen Strich ausgedrückt, der Junge
hat also gesehen, daß ein Strich dicker war als die anderen, später erst begann
er die Form zu analysieren. (Strich 4.) / 3 ist ähnlich zu erklären. Als Beweis
dafür, daß ich bei der Beurteilung der Kinderzeichnungen sehr milde verfuhr,
führe ich an, daß ich die beiden Zeichnungen / 3 und / 4 mit zu Typ H rechnete,
weil der Junge ja doch endlich noch die rechte Form erkannte — obgleich von
einer Ähnlichkeit der Typen H und / 2 und 3 nicht mehr gesprochen werden
kann. Trotz dieser milden Beurteilung ergibt sich das im ganzen ungenügende
Resultat für die Nachzeichenfähigkeit unserer Kinder.
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 577
_ . _ _ ■
Zu den eben entwickelten Zaklen gestatte man einige Bemerkungen. Wenn
von 39 Zeichnungen 17, also 43% nicht imstande sind, den einfachen c-Strich
bis zur Dreizahl zu analysieren, so ist das allein schon ein Beweis dafür, daß
alle Versuche, den Schreibunterricht zu verfrühen, vollständig verfehlt sind.
Dabei sind die Kinder, mit denen der Versuch gemacht wurde, insofern vor-
gebildet, als sie schon viel gezeichnet haben. In die erste Schulklasse kommt
aber ein großer Prozentsatz Kinder, der noch nie den Bleistift gehandhabt hat,
dem also noch die elementare technische Vorbelehrung mangelt. Es ist sogar
zweifelhaft, ob ein „Vorkursus" von einigen Wochen (in München z. B. nur in
den drei Schulwochen im September) unter diesen Umständen sein Ziel erreichen
kann. — Nur 59% der Zeichnungen sind von links nach rechts analysiert: auch
diese Zahl dürfte schon etwas beeinflußt sein, ursprünglich analysieren Kinder
wahllos bald von rechts, bald von links aus. — 77% haben einen rechtsschrägen
oder wenigstens senkrechten Grundstrich, trotzdem die Vorlage deutlich die
amtlich vorgeschriebene Schriftlage aufwies. Wenn man die scheinbar links-
schrägen Grundstriche, die durch falsche Analyse entstanden sind, nicht mitzählt,
bleiben 24 rechtsgeneigte Grundstriche gegen 5 wirklich linksgeneigte, 83%
der Kinder entscheiden sich also für Steilschrift. Das ist deutlich genug. — Wenn
49% der doch immerhin zeichengewandten Kinder keinen spitzen Winkel fertig
bringen, so zeigt das klar, welch unerfüllbar schwere Forderungen unser Schreib-
unterricht stellt. Nur rund ein Viertel der Kinder hat Anstrich und Wegstrich
parallel, wenig mehr haben beobachtet, daß Anstrich und Wegstrich länger sind
als der Grundstrich. Nur 34% bringen einen geraden Strich fertig. — Daß nur
19% der Kinder Linkshänder sind, hängt in erster Linie von angeborenen Fak-
toren der Konstitution, teilweise auch von häuslichen Beeinflussungen ab: die
meisten Eltern befürchten eine spätere Schädigung ihrer Kinder und verbieten
ihnen darum den Gebrauch der Linken.
Schon aus der ersten Versuchsreihe folgt, daß wir gewöhnlich die Fähig-
keit der Kinder zum Nachzeichnen auf dieser Altersstufe beträchtlich
überschätzen.
in. Zweite Versuchsreihe.
Bei der zweiten Versuchsreihe schrieb ich jedem einzelnen Kinde langsam
ein „c" vor, nachdem ich es zur Aufmerksamkeit aufgefordert hatte. Dann hieß
es wieder: , »Zeichne das genau nach, aber ganz genau." Die Kinderzeich-
nung hätte also unter meine Vorzeichnung kommen sollen. Der Versuch wurde
mit 28 Kindern in der Zeit vom 15. — 24. Februar 1912 ausgeführt.
Von den 16 Typen der ersten Versuchsreihe kehrten nur 7 wieder. Typ Ä
fand sich dreimal, Bl zweimal, B2 und B3 fehlten, B4 kam zweimal vor, G
und D fehlten, E wurde dagegegen achtmal gezeichnet. Die Kinder hatten
gesehen, daß ich links anfange, bei ihrem Versuch, von links aus nachzuzeichnen,
setzten sie dann den Grundstrich in verkehrter Richtung an und kamen so zu
Typ E. Typ Fl fehlt, F 2 findet sich zweimal, O 1 einmal, O 2 fehlt, Typ H,
die im allgemeinen richtige Zeichnung, kam nur siebenmal vor. Neu geschaffen
wurde Typ K, die öftere Wiederholung des Typs H oder E derart, daß ein Weg-
strich gleich als Anstrich der nächsten Zeichnung aufgefaßt wird. Kl entsteht
so aus H, K 2 aus E.
Zeitschrift f, padagog. Psycholog!«». 87
578
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
Bei der Untersuchung der zweiten Versuchsreihe hielt ich mich im allgemeinen
an die bei der ersten Versuchsreihe berücksichtigten Punkte, um leichter ver-
gleichen zu können.
a) Die Analyse zur Dreizahl.
Zahl der In
Zeich- Prozenten
nungen
1. Nicht analysiert . 3 10,71%
2. Falsch analysiert 6 21,42%
a) weniger als 3 Striche 2 7,14%
b) mehr als 3 Striche 4 14,28%
3. Richtig analysiert 19 67,83%
Die Analyse ist also um rund 10% besser
ausgeführt worden als bei der ersten Ver-
suchsreihe.
b) Die Reihenfolge der Analyse.
1. Von links nach rechts analysiert . .
2. Von rechts nach links analysiert . .
3. Vom Grundstrich aus analysiert . .
Die Reihenfolge der einzelnen Striche war
also um 16% richtiger als bei der ersten
Versuchsreihe.
Vergleich
m. d. ersten
Versuchsr.
- 2,11%
- 9,35%
-10,81%
+ 1,46%
+ 11,42%
I
21
74,97%
+ 16,00%
4
14,28%
- 6,23%
2
7,14%
- 0,55%
c) Der Grundstrich.
1. Grundstrich senkrecht 2
2. Grundstrich rechtsschräg 19
3. Grundstrich Schriftlage 4
4. Grundstrich linksschräg —
5. Grundstrich fehlt 3
Die drei Kinder, die nicht analysiert haben,
(Typ A) haben natürlich auch keinen Grund-
strich.
Im ganzen entscheiden sich bei der zweiten
Versuchsreihe 21 Kinder (84%) für, 4 Kinder
(16%) gegen die Steilschrift, das sind gegen-
über der ersten Versuchsreihe noch einige
Prozent mehr Steilschriftfreunde.
6. Grundstrich aufwärts gezeichnet. . 12
Ursache ist das häufigere Vorkommen des
Typs E.
7. Grundstrich zuerst gezeichnet ... 3
8. Grundstrich später umgedeutet . . 1
Der Grundstrich wurde als Anstrich auf-
gefaßt.
7,14% -23,63%
67,83% +37,06%
14,28% -3,67%
- -12,82%
10,71% -2,11%
42,84% +19,67%
10,71% —20.06%
3,57% -19,51%
Formauffassung und Schreib versuch im Kindergartenalter. 579
9. Mehrere Grundstriche 4 14,28% — 1,10%
Auch aus den Punkten 7 — 9 ist ersichtlich,
daß bei der zweiten Versuchsreihe die Vor-
Zeichnung genauer nachgezeichnet wurde als
bei der ersten, weil die Kinder die Entstehung
der Vorlage verfolgen konnten.
d) Der Anstrich. Zahl der In Vergleich
Zeich- Prozenten m. d. ersten
1. Spitzer Winkel zwischen Anstrich nungen Versuchsr.
und Grundstrich 24 85,68% +31,84%
2. Stumpfer Winkel zwischen Anstrich
und Grundstrich 1 3,57% — 9,25%
3. Anstrich und Grundstrich unver-
bunden 1 3,57% — 4,12%
4. Verbindungsstrich zum Grundstrich 5 17,85% — 5,23%
5. Anstrich fehlt 3 10,71% — 7,24%
Der Anstrich fehlt nur bei den 3 nicht analy-
sierten Zeichnungen (Typ A).
(). Anstrich so lang als Grundstrich . . 11 39,27% +11,32%
7. Anstrich kürzer als Grundstrich . . 5 17,85% —10,35%
8. Anstrich länger als Grundstrich . . 9 32,13% + 3,93%
9. Anstrich zuletzt gezeichnet .... 1 3,57% — 4,12%
Festzuhalten ist, daß ca. 30% der Kinder
mehr den spitzenWinkel fertig brachten, daß
ca. 15% mehr das Längen Verhältnis richtiger
darstellten als bei der ersten Versuchsreihe.
e) Der Wegstrich.
1. Spitzer Winkel zwischen Grund-
strich und Wegstrich 21 74,97% +26,25%
2. Stumpfer Winkel zwischen Grund-
strich und Wegstrich 2 7,14% —3,11%
3. Wegstrich und Grundstrich unver-
bunden — — — 2,56%
4. Verbindungsstrich zum Grundstrich 6 21,42% +13,73%
Eben die Kinder, die erst bei der zweiten Ver-
suchsreihe auch den Wegstrich zeichneten,
fügten einen Verbindungsstrich ein. Das ist
immerhin ein Fortschritt: besser Wegstrich
mit Verbindungsstrich als überhaupt kein
Wegstrich.
5. Wegstrich fehlt 5 17,85% —12,92%
Also außer bei den 3 nicht analysierten Zeich-
nungen noch in 2 Fällen.
Verglichen mit der ersten Versuchsreihe
haben 26% Kinder mehr den schweren
spitzenWinkel, rund 13% mehr Wegstriche
sind gezeichnet worden.
37*
580
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
Zahl der
Zeich-
nungen
6. Wegstricli so lang als Grundstricli 8
7. Wegstricli kürzer als Grundstricli 5
8. Wegstricli länger als Grundstricli 11
Das Längen Verhältnis zwischen Wegstrich
und Grundstrich, ist also nur um 6%
(5+11 — 10) richtiger geworden. Die geringe
Besserung ist darauf zurückzuführen, daß
13 % der Kinder eben jetzt erst einen Weg-
strich zeichneten, also noch nicht auf die
Längenverhältnisse achten konnten.
9. Anstrich und Wegstrich parallel . . 14
10. Anstrich so lang als Wegstrich ... 13
11. Anstrich kürzer als Wegstrich ... 6
12. Anstrich länger als Wegstrich ... 5
Bezüglich des Parallelismus von Anstrich
und Wegstrich ist also eine Besserung um
24%, bezüglich des Längenverhältnisses eine
Besserung um über 30% festzustellen.
f) Schriftduktiis.
1. In einem Zuge 23
36% der Kinder haben also den einheitlichen
Schriftduktus richtig, die ihn bei der ersten
Versuchsreihe noch nicht erkannt hatten.
2. Einmal abgesetzt, dann im gleichen
Punkte fortgefahren 3
3. Einmal abgesetzt, dann in einem an-
deren Punkte fortgefahren 3
4. Mehrmals abgesetzt 1
Nachdem die Kinder die Entstehung der Vor-
lage sahen, setzten sie weniger ab (ungefähr
um 22% weniger).
5. Anstrich vom Grundstrich weg ... 2
6. Anstrich unten angesetzt 10
7. Wegstrich oben angesetzt 10
Die Zunahme unter 6 imd 7 erklärt sich aus
dem häufigeren Vorkommen des Typs E.
g) Strichart.
1. Grundstrich gerade ......... 14
2. Grundstrich einmal abgebogen . . .
3. Grundstrich zweimal abgebogen . .
4. Grundstrich zittrig
Es ist ein Fortschritt ersichtlich, von zittrigen
Grundstrichen kommen die Kinder zu ge-
bogenen, von gebogenen zu geraden. Fort-
schritt ca. 9%.
In Vergleich
Prozenten m. d. ersten
Versuchsr.
28,56% -f 5,48%
17,85% +10,16%
39,27% +11,07%
50,00% +24,36%
46,41% +31,03%
21,42% + 6,04%
17,85% -0.10%
82,11% +35,70%
10,71% -9,80%
10,71% -4,67%
3,57% -6,68%
7,14% -15,94%
35,70% +10,06%
35,70% +12,62%
50,00% + 8,97%
24,99% + 9,61%
17,85% +10,16%
7,14% -13,37%
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 681
\
Ztihl der In Vergleich
22eioh- Prozenten m. d. ersten
nungen Versuchst.
5. Anstrich gerade 13 46,41% + 2,82%
6. Anstrich abgebogen 10 35,70% +15,19%
7. Anstrich zittrig 2 4,14% —10,81%
Auch beim Anstrich ist eine Besserung vom
zittrigen zum gebogenen zum geraden fest-
zustellen, der Fortschritt vom ersten zum
zweiten Versuch beträgt etwa 9% (nämlich
3+15
8. Wegstrich gerade 14 50,00% + 8,97%
9. Wegstrich abgebogen 8 28,56% +20,87%
10. Wegstrich zittrig 1 3,57% —11,81%
Beim Wegstrich zeigt sich dieselbe Erschei-
nung wie beim Grimdstrich und Anstrich:
der Fortschritt beträgt hier aber etwa 14%.
Eigentlich sollte die Zunahme der geraden und
abgebogenen Striche gleich sein der Ab-
nahme der zittrigen, also8,97+20,87= 11,81 ;
daß das hier nicht stimmt, kommt davon
her, daß wir um 13% mehr Wegstriche
haben als bei der ersten Versuchsreihe.
11. Im Strich abgesetzt 1 3,57% — 1,57%
h) Druckverhältnisse.
1. Gar kein Druck 21 75,00% + 5,73%
2. Wirklicher Druck 7 25,00% +19,86%
Der Druck durch mehrfachen Strich kam
nicht mehr vor — die Kinder hatten gesehen,
daß ich bei der Vorzeichnung keinen mehr-
fachen Strich anwandte. Die Besserung be-
trägt 20 %.
i) Sonstiges.
1. Zeichnung im Eck 2 7,14% — 5,68%
Dieses Ergebnis ist wohl mehr zufällig, denn
bei der dritten Versuchsreihe finden sich
wieder mehr verlagerte Raumformen.
2. Haken beim Absetzen 6 21,42% +11,17%
Dadurch, daß die Kinder die Vorlage ent-
stehen sahen, wurden sie sicherer, arbeiteten
daher schneller und bekamen dann öfter den
Haken beim Absetzen.
582 Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
Die Detailanalyse der zweiten Versuchsreihe ergibt also, daß die Kinder in
sämtlichen Punkten vorlagerichtiger gearbeitet haben als bei der ersten Versuchs-
reihe. Dieses Ergebnis wird nur zum kleineren Teile Übungseffekt sein, wesent-
lich wird es davon herrühren, daß die Kinder die Entstehung der Vorlage be-
obachten konnten. Nur bei der Lage des Grundstriches zum untersten Blatt-
rande wichen noch mehr Kinder als beim ersten Male von der Vorlage ab und
wählten die naturgemäßere Steilschrift.
Im einzelnen betrug die Besserung bei der Analyse 13%, beim Längen Verhältnis
der einzelnen Striche zueinander 17%, beim spitzen Winkel 28%, beim Parallelis-
mus zwischen Anstrich und Wegstrich 24%, beim einheitlichen Schriftduktus
36%, bei der Geradheit der Striche 11%, bei den Druckverhältnissen 20%,
daraus ergibt sich ein Gesamtfortschritt um 21%.
Die Tatsache, daß die Kinder um rund ein Fünftel besser arbeiten, wenn sie
die Vorlage entstehen sahen, als wenn sie vor die fertige Vorlage gestellt werden,
ist eine Bestätigung der alten pädagogischen Regel, den Kindern nichts Fertiges
zu geben, sondern alles vor ihren Augen entstehen zu lassen, eine Forderung,
gegen die heutzutage wohl nirgends mehr gefehlt wird.
IV. Dritte Versuchsreihe.
Der dritte Versuch zerfällt bei jedem Kinde in zwei zeitlich unmittelbar auf-
einanderfolgende Teile. Der erste ist eine genaue Wiederholung der zweiten Ver-
suchsreihe, der zweite dagegen bringt den Vergleich der Zeichnung mit der
Vorlage, die Selbstkritik des Kindes und eventuell die Verbesserung durch eine
neue Zeichnung. Nach der ersten Zeichnung des Kindes hieß es also: ,, Jetzt
schau dir 's amal an; ist des ganz genau so wie des?" Bei bejahender Antwort
wurde das Kind entlassen, im anderen Falle wurde gefragt : ,, Was ist denn anders ?*'
Zum Schluß hieß es dann: ,, Jetzt mach 's noch amal, aber ganz genauso!" —
An der dritten Versuchsreihe beteiligten sich 31 Kinder in der Zeit vom 24. Mai
bis 14. Juni 1912.
Neue Typen wurden nicht geschaffen. Unter den ersten Zeichnungen fand sich
Typ A einmal, Typ Bl einmal, Typ E fünfmal, F2 viermal. Gl zweimal,
H siebzehnmal und K einmal. Gegenüber den ersten beiden Versuchsreihen fällt
sofort das gewaltige Überwiegen des Types H ins Auge, sicher eine Folge der zu-
nehmenden Zeichenfertigkeit (inzwischen waren ja 14 Zeichnungen gemacht
worden), wohl auch Übungseffekt, obwohl zwischen zweitem und drittem Ver-
such drei Monate lagen.
Bei den zweiten Zeichnungen der dritten Versuchsreihe — also bei den ,, Ver-
besserungen" — kamen vor Typ D 4 einmal, E dreimal, F 1, F 2 und ö i je
einmal, und H neunmal. In den anderen 15 Fällen erfolgte keine zweite Zeich-
nung. Wieder sind Typ E und Typ H die bevorzugtesten. —
In folgender Tabelle ist die Häufigkeit der einzelnen Typen bei den drei Ver-
suchsreihen zusammengestellt:
Formauffassung und
Schreibversuch
im Kindergartenalter. 583
Typ
\
I. Versuchs-
2. Versuchs-
3. Versuchsreihe
reihe
reihe
1. Zeichnung
2. Zeichniuig
Ä
13%
11%
3%
—
Bl
10%
7%
3%
—
B2
3%
—
—
—
B3
3%
—
—
—
B4
3%
7%
—
—
C
3%
—
—
—
Dl
5%
—
—
—
D2
5%
—
—
—
D3
5%
—
—
—
D4
3%
—
—
öTo
E
13%
29%
17%
19%
Fl
3%
—
—
6%
F2
3%
7%
13%
6%
Gl
3%
4%
7%
6%
G2
3%
—
—
—
H
20%
25%
57%
56%
K
—
11%
3%
—
Die bei der ersten Versuchsreihe auftretende Differenzierung macht einer
fortschreitenden Vereinheitlichung Platz, Immey klarer heben sich die im all-
gemeinen richtige Form {H) und die Form mit den verfehlten Ansätzen {E)
heraus.
Bei der Detailanalyse der Kinderzeichnungen interessiert uns zunächst,
wie sich die Kinder auf die Aufforderung zur Selbstkritik verhielten.
Da fällt vor allem auf, daß 15 Kinder behaupten, ihre Zeichnung sei
ganz genau so wie die Vorlage. Ich möchte ausdrücklich betonen, daß
die Kinder nicht den Gedanken hatten, möglichst schnell fertig zu werden und
deshalb etwa den Versuch abkürzten. Die Zeichnung eines Mädchens, bei dem
ich diese Gleichgültigkeit beobachtete, wurde bei der Untersuchung weggelassen.
Unter den 15 Kindern, die keinen Unterschied feststellen konnten, ist der Stand-
punkt der 9 Kinder verständlich, die Typ H zeichneten, deren Zeichnung also
tatsächlich annähernd vorlagerichtig war. Sie waren nicht fähig, die für den
Erwachsene sofort sichtbaren Unterschiede zu erkennen, die zwischen der Vor-
lage und ihrer Zeichnung hinsichtlich des Längen Verhältnisses der einzelnen
Striche, der Strichrichtung usw. bestanden, oder, wenn sie dieselben erkannten,
sie als wesentlich und wichtig einzuschätzen.
Verblüffen muß es aber, wenn ein Kind des Types A, das also überhaupt nicht
analysiert hat, sein Grekritzel als genau der Vorlage entsprechend bezeichnet,
wenn Typ B 1, bei dem nur zwei Striche gezeichnet sind, oder Typ K, bei dem
gar fünf Striche vorliegen, meiner Zeichnung gleichgewertet werden. Nicht gar
so sonderbar sind die Fälle, wo zwischen Typ E oder F 1 und der Vorlage kein
Unterschied festgestellt werden konnte. — Wir stehen also vor der Tatsache,
daß 30% der Kinder eine ungefähr richtige, 20% aber eine unbedingt falsche
Zeichnung als vollständig richtig ansprechen. Daraus folgt, daß die Hälfte der
Kinder nicht fähig ist, zu erkennen, ob ihre Zeichnung der Vorlage entspricht
584 Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
oder nicht; diese 50% sind nicht imstande, das Wesen des „c"~
Striches, dieses einfachsten Bestandteiles unserer Schrift, klar zu
erfassen. Dabei war ihnen die Vorlage nicht wie bei der ersten Versuchsreihe
fertig vorgelegt worden, sondern sie hatten die Entstehung der Vorlage verfolgt,
waren auf sie ausdrücklich hingewiesen worden.
Man darf freilich nicht glauben, daß diese Hälfte der Kinder nicht schreiben
lernen würde, wenn man nun einen systematischen Unterricht begänne, mit
Übungen und Drill. Aber es ist billig zu bedenken, ob eine solch pädagogische
Möglichkeit etwas Wünschenswertes darstellt, und es nicht klüger, zweckmäßiger
ist, mit dem Schreibunterricht zu warten, bis die einfachsten Schriftformen wenig-
stens von acht Zehntel der Kinder spontan analysiert und im wesentlichen richtig
nachgeahmt werden.
Wie haben die anderen 50% zu erkennen gegeben, daß ihnen ein Unterschied
bewußt geworden ist? — Ein Kind antwortet auf meine Frage, das sei nicht
genau so, macht aber trotz alles Bittens keine zweite Zeichnung. Es war fähig,
den Unterschied wahrzunehmen, nicht aber eine Verbesserung zu machen. Der
sehr gut begabte Knabe hat ohnedies schon Typ H gezeichnet, wir müssen also
annehmen, daß es ihm tatsächlich nicht mehr möglich war, etwas Besseres zu
leisten. Richtige Feststellung der Längen- und Druckverhältnisse, Geradheit
des Striches sind auch für ihn unerfüllbare Forderungen.
Ein Kind zeigt auf den Fehler, behauptet, es sei nichts falsch, macht aber
dann tatsächlich eine Verbesserung (erst Typ 0 1, dann Typ E), Ein anderes
zeigt auf meine Zeichnung, behauptet auch, es sei nichts falsch und macht dann
eine Verbesserung (erst Typ O 1, dann Typ H). In zwei Fällen wird der eben-
gemachten Zeichnung noch ein Strich angefügt, einmal in dem sichtlichen Be-
streben, das Längenverhältnis zwischen Grundstrich und Wegstrich zu ver-
bessern. Die zweite Zeichnung unterscheidet sich in beiden Fällen nicht wesentlich
von der ersten. Ein Knabe beantwortet meine Frage, ob das genau so ist, mit
nein, macht aber doch eine Verbesserung. Fünf Kinder endlich antworten über-
haupt nicht, machen aber eine zweite Zeichnung, die in allen fünf Fällen besser
ist als die erste. — Die ebengenannten zehn Kinder haben ihren Fehler erkannt,
wenn sie dies auch noch nicht sprachlich auszudrücken vermögen. Ihre zweite
Zeichnung ist ebensogut oder besser als die erste.
Es bleiben noch fünf Kinder, die auf meine Frage, ob das genau so sei, mit
nein antworteten, auf den Fehler (einmal auf meine Zeichnung) zeigten und
dann verbesserten. Drei davon haben Typ H, aber nicht einmal den einheit-
lichen Schriftduktus. Zweimal wurde das Blatt vor der Verbesserung gedreht —
ein Versuch, eine leichter nachzeichenbare Ansicht der Vorlage zu erhalten.
Das Ergebnis ist also : 15 Kinder (49 %) sind unfähig, einen Unterschied zwischen
ihrer Zeichnung und der Vorlage zu erkennen, ein Knabe (3%) erkennt den Unter-
schied, kann aber nicht verbessern, und 15 Kinder (48%) verbessern, 10 davon,
ohne meine Frage richtig beantworten zu können. Nur 5 dieser 15 verbesserten
Zeichnungen sind richtig, und auch bei diesen 5 muß man Lage des Grundstriches,
Längen- und Druckverhältnisse und Geradheit der Striche sehr weitherzig
beurteilen. Nur diese 16% haben das Wesen der gestellten Aufgabe
erfaßt, nur diese 16% waren fähig, die Aufgabe im allgemeinen
zu erfüllen.
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter. 585-
Um im einzelnen Vergleiche zu ermöglichen, sei in folgender Tabelle das Er-
gebnis der Detailanalyse der drei Versuchsreihen zusammengestellt. Die beiden
Teile des dritten Versuchs sind gesondert angegeben.
A.Analyse. 1. Ver- 2. Ver- S.Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Nicht analysiert 12,82% 10,71% 3,33% — ,— %
2. Falsch analysiert 30,77% 21,42% 20,—% 18,75%
a) Weniger als drei Striche . . . 17,95% 7,14% 3,33% — — %
b) Mehr als drei Striche .... 12,82% 14,28% 16,67% 18,75%
3. Bis zur Dreizahl analysiert . . . 56,41% 67,83% 80,00% 81,25%
Die Analyse wird von Versuch zu Versuch genauer. Beim dritten Versuch
sind etwa ein Fünftel der Kinder unfähig, bis zur Dreizahl zu analysieren.
B. Reihenfolge der Analyse. j ^^^. 2 y^^_ 3 Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Von links nach rechts analysiert. 58,97% 74,97% 76,67% 62,50%
2. Von rechts nach links analysiert. 20,51% 14,28% 13,33% 12,50%
3. Vom Grundstrich aus analysiert . 7,69% 7,14% 10,—% 25,—%
Zweite imd dritte Versuchsreihe sind in der Reihenfolge der Analyse ziemlich
gleich, die zweiten Zeichnungen der dritten Versuchsreihe haben die Reihenfolge
schlechter als die ersten, weil die Erinnerung an meine Vorzeichnung nicht mehr
so frisch war und weil infolge meiner Fragen eine gewisse vorsichtige Unsicherheit
über die Kinder gekommen war.
C. Der Grundstrich. ^ ^^^_ 2. Ver- 3. Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Grundstrich senkrecht 30,77% 7,14% 6,67% 25,00%
2. Grundstrich rechtsschräg .... 30,77% 67,83% 70,00% 50,00%
• 3. Grundstrich Schriftlage 17,95% 14,28% 23,33% 18,75%
4. Grundstrich linksschräg 12,82% — ,— % — ,— % — ,— %
5. Grundstrich fehlt 12,82% 10,71% 3,33% — — %
6. Grundstrich aufwärts gezeichnet. 23,08% 42,84% 30,—% 25,—%
7. Grundstrich zuerst gezeichnet . . 30,77% 10,71% 6,67% 12,50%
8. Grundstrich später umgedeutet . 23,08% 3,57% 6,67% 12,50%
9. Mehrere Grundstriche 15,38% 14,28% 16,67% 18,75%»
Von der zweiten zur dritten Versuchsreihe ist ein Fortschritt bezüglich der
Vorlagerichtigkeit der Lage des Grundstriches festzustellen, immerhin halten
noch etwa drei Viertel der Kinder an der Steilschrift fest.
D. Der Anstrich. , ._ „ .,. . „ u -u
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
1. Spitzer Winkel zwischen Anstrich suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
und Grundstrich. , 53,84% 85,68% 83,33% 93,75%
2. StumpferWinkel zwischen Anstrich
und Grundstrich 12,82% 3,57% 16,67% 6,25%
3. Anstrich und Grundstrich unver-
bunden 7,69% 3,57% -,-% 12,50%
586 Formauffassung und Schreib versuch im Kindergartenalter.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
Suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2.Zeichn.
4. Verbindungsstrich zum Grundstrich 23,08% 17,85% 13,33% 18,75%
5. Anstrich fehlt 17,95% 10,71% 3,33% — ,— %
6. Anstrich so lang als Grundstrich . 17,95% 39,27% 43,33% 25,—%
7. Anstrich länger als Grundstrich . 28,20% 32,13% 43,33% 50,—%
8. Anstrich kürzer als Grundstrich . 28,20% 17,85% 16,67% 25,—%
9. Anstrich zuletzt gezeichnet . . . 7,69% 3,57% — ,— % 6,25%
10. Zwei Anstriche — ,— % — ,— % 10,—% 12,50%
Nach der Aufforderung zur verbesserten Zeichnung wurde der spitze Winkel
zwischen Anstrich und- Grundstrich um etwa 10% besser gezeichnet, auch das
Längen Verhältnis zwischen diesen beiden Strichen besserte sich um einige Prozent.
E. Der Wegstrich.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
Suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Spitzer Winkel zwischen Grund-
strich und Wegstrich 48,72% 74,97% 80,—% 100,—%
2. Stumpfer Winkel zwischen Grund-
strich und Wegstrich 10,25% 7,14% 16,67%
0/
/o
3. Wegstrich und Grundstrich un-
verbunden 2,56% — ,— % 3,33% — ,— %
4. Verbindungsstrich zum Grundstrich 7,69% 21,42% 3,33% 18,75%
5. Wegstrich fehlt 30,77% 17,85% 6,67% — — %
6. Wegstrich so lang als Grundstrich 23,08% 28,56% 26,67% 12,50%
7. Wegstrich kürzer als Grundstrich 7,69% 17,85% 16,67% 25,—%
8. Wegstrich länger als Grundstrich . 28,20% 39,27% 53,53% 62,50%
9. Anstrich und Wegstrich parallel. 25,64% 50,—% 53,53% 56,25%
10. Anstrich so lang als Wegstrich . 15,38% 46,41% 50,—% 37,50%
11. Anstrich kürzer als Wegstrich . . 15,38% 21,42% 33,33% 43,75%
12. Anstrich länger als Wegstrich . . 17,95% 17,85% 16,67% 18,75%
Infolge der gesteigerten Zeichenfertigkeit wird der spitze Winkel beim dritten
Versuch von 80%, bei der Wiederholung sogar von 100% fertig gebracht. Längen-
verhältnis zwischen Grundstrich und Wegstrich und Parallelismus zwischen
Anstrich und Wegstrich weisen fortschreitende Besserung auf, bseonders auch
nach meiner Aufforderung zur genauen Nachbildung. Dagegen ist beim zweiten
Versuch der dritten Reihe das Längenverhältnis zwischen Anstrich und Weg-
strich schlechter getroffen als beim ersten — wohl eine Folge der durch meine
Fragen hervorgerufenen Unsicherheit.
F. Schriftduktus.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. In einem Zuge 56,41% 82,11% 90,—% 68,75%
2. Einmal abgesetzt, dann im gleichen
Punkte fortgefahren 20,51% 10,71% 6,67% 12,50%
3. Einmal abgesetzt, dann i n einem an-
deren Punkte fortgefahren . . . 15,38% 10,71% 10,—% 25,—%
Formauffassung und Schreibversueh im Kindergartenalter. 587
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
Suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
4. Mehrmals abgesetzt 10,25% 3,57% 3,33% 6,25%
5. Anstrich vom Grundstrich weg-
gezogen 23,08% 7,14% 10,-% 25,-
0/
■ /o
6. Wegstrich zum Grundstrich hin-
gezogen 2,56% -,-% -,-% -,-%
7. Alle Striche abwärts 2,56% — ,— % — ,— % — — %
8. Anstrich unten angesetzt .... 25,64% 35,70% 30,—% 18,75%
9. Wegstrich oben angesetzt . . . . 23,08% 35,70% 30,—% 18,75%
Von Versuch zu Versuch wächst die Zahl der Kinder, die den einheitlichen
Schriftduktus erkennen. Beim zweiten Versuch der dritten Reihe macht sich
wieder die schon öfters erwähnte Unsicherheit geltend und beeinflußt das Er-
gebnis in ungünstigem Sinne.
G. Strichart.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Grundstrich gerade 41,03% 50,—% 50,—% 50,—%
2. Grundstrich einmal abgebogen. . 15,38% 24,99% 43,33% 25,—%
3. Grundstrich zweimal abgebogen . 7,69% 17,85% 6,67% 18,75%
4. Grundstrich zittrig 20,51% 7,14% — ,— % 6,25%
5. Anstrich gerade 43,59% 46,41% 53,33% 31,25%
6. Anstrich abgebogen 20,51% 35,70% 33,33% 50,—%
7. Anstrich zittrig 17,05% 7,14% 16,67% 18,75%
8. Wegstrich gerade 41,03% 50,—% 46,67% 37,50%
9. Wegstrich abgebogen 7,69% 28,56% 26,67% 50,—%
10. Wegstrich zittrig 15,38% 3,57% 26,67% 18,75%
11. Mehrfacher Strich 17,95% — ,— % — ,— % — ,— %
12. Im Strich abgesetzt 5,14% 3,57% — ,— % — ,— %
Zweite Versuchsreihe und erster Versuch der dritten Reihe sind ziemlich gleich,
der zweite Versuch der dritten Reihe steht hinter dem ersten zurück.
H. Druckverhältnisse.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Gar kein Druck 69,24% 74,97% 97,67% 93,75%
2. Druck durch mehrfachen Strich . 12,82% — ,— % —,—% — ,— %
3. Wirklicher Druck 5,14% 24,99% 6,67% 6,25%
Die Verschlechterung der Druckverhältnisse von der zweiten zur dritten Ver-
suchsreihe scheint mir mehr zufällig zu sein. Es ist nicht anzunehmen, daß die
Kinder erkannten, daß die Bleistifttechnik sich nicht zur Darstellung der
Druckverhältnisse eignet und deshalb auf jeden Versuch der Darstellung ver-
zichteten.
® * 1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2. Zeichn.
1. Zeichnung im Eck 12,82% 7,14% 13,33% 12,50%
588 Forniauffassung und Sehreibversuch im Kindergartenalter,
Diesem Ergebnis ist meiner Ansicht nach kein Wert beizumessen.
1. Ver- 2. Ver- 3. Versuchsreihe
Suchsreihe suchsreihe 1. Zeichn. 2.Zeichn.
2. Haken beim Absetzen 10,25% 21,42% 16,67% 18,75%
Auch hier ist die Differenz zu gering, als daß daraus Schlüsse gezogen werden
könnten.
Die Detailanalyse der dritten Versuchsreihe ergibt, daß die ersten Versuche
der dritten Reihe den Versuchen der zweiten Reihe gleichgewertet werden
müssen, wenn nicht durch die inzwischen gesteigerte Zeichenfertigkeit der
Kinder günstigere Voraussetzungen geschaffen worden sind. Dies ist z. B. der
Fall bei der Analyse zur Dreizahl, beim Längenverhältnis zwischen den einzelnen
Strichen, beim Parallelismus zwischen Anstrich und Wegstrich, besonders auch
bei den spitzen Winkehi. — Die zweiten Versuche der dritten Reihe stehen
hinsichtlich der Ausführung hinter den ersten zum Teil ziemlich bedeutend
zurück, wenn auch die Gesamtform besser geworden ist. Grund ist eine durch
meine Frage verursachte Zaghaftigkeit, die Kinder sind dadurch unsicher und
ängstlich gemacht worden.
Aus der dritten Versuchsreihe folgt:
1. Die Fähigkeit der Kinder, eine gegebene Vorlage nachzuzeichnen, wird
durch fleißige Übung im Gedächtniszeichnen und im Zeichnen nach der Natur
wesentlich gefördert. Damit ist die Pestalozzianische Forderung, daß der Schreib-
unterricht aus dem Zeichenunterricht hervorwachsen muß, experimentell nahe-
gelegt, andererseits ist gezeigt, daß auch das Zeichnen von Lebensformen für den
ersten Schreibunterricht von Bedeutung ist, nicht nur das den Kindern oft
iminteressante Zeichnen geometrischer Gebilde.
2. Eine Aufforderung der Kinder zur Selbstkritik raubt ihnen die unmittel-
bare Sicherheit im Schaffen, hat also auf das Ergebnis der Zeichnung im all-
gemeinen keinen günstigen Einfluß, wenn auch die Gesamtform der verbesserten
Zeichnung tatsächlich einenFortschritt aufzuweisen hat. Darüber, ob auf höherer
Altersstufe, vielleicht schon auf der Mittelstufe der Volksschule, die Aufforderung
und Erziehung zur Selbstkritik nicht bessere Früchte trägt, können diese
Untersuchungen an Kindergartenzöglingen nichts ausmachen.
3. Wenn 50% der Kinder unfähig sind, das Wesen des „c"-Striches klar zu er-
fassen, wenn nur 16% imstande sind, die Aufgabe, den„c"-Strichnachzuzeichnen,
nachdem er ihnen vorgezeichnet worden ist, im allgemeinen richtig zu erfüllen,
so bedeutet das eine geradezu vernichtende Kritik aller Bestrebungen, den Schreib-
unterricht zu verfrühen. Wir überschätzen gewöhnlich ganz ungemein die Fähig-
keit der Bander, eine gegebene einfachste Vorlage nachzuzeichnen,
V. Gesamtergebnisse.
Nachdem wir die drei Versuchsreihen im einzelnen gewürdigt haben, müssen
wir die psychologischen und pädagogischen Gresamtergebnisse zusammenfassen.
1. Von einer Versuchsreihe zur nächsten ist ein Fortschritt zu verzeichnen,
der bei der zweiten Versuchsreihe ein Ergebnis der Versuchsabänderung ist (es
wurde nicht mehr die fertige Vorlage gezeigt, sondern die Kinder konnten die
Zu Huth, Formauffassung und Schreibversuch (15. Jalirg. 11/12. Heft)
Tafel II.
Formauffassung un^^ Schreibversuch im Kindergartenalter. 589
Entstellung verfolgen), bei der dritten Versuchsreihe wirkt die inzwischen
gesteigerte Zeichenfertigkeit günstig auf das Ergebnis ein.
2. Die Kinder analysieren einfache Umrisse und Linienzusammenhänge ur-
sprünglich wahllos bald von links, bald von rechts.
3. Die Kinder sind im allgemeinen nicht fähig, eine ihnen gegebene einfache
Strichform nachzuzeichnen, auch nicht, wenn sie die Entstehung der Vorlage sehen.
4. Wie schon oben bemerkt, ließ ich von jedem Kinde eine Freizeichnung fer-
tigen, die dann den drei Schriftversuchen beigefügt wurde. Ein Vergleich zwischen
Schreib- und Zeichenleistung ergibt folgendes : In 7 Fällen ist die Schreibleistung
der Zeichenleistung gleichwertig, in 18 Fällen ist die Schreibleistimg der Zeichen-
leistung überlegen und nur in 3 Fällen ist die Schreibleistung schlechter als die
Zeichenleistung. Bei Beurteilung der Zeichnungen wurde auf die gegenständ-
liche Deutlichkeit das Hauptgewicht gelegt.
Bei der Schreibleistung wurde die dritte Versuchsreihe, also die mit den besten
Ergebnissen ge wertet. Der Vergleich ist insofern nicht einwandfrei, als die Frei-
zeichnungen eine Klassenarbeit sind. Ich ließ alle Kinder gleichzeitig zeichnen,
was sie wollten und mir dann nur von jedem einzelnen erklären, was die Zeich-
nung bedeuten solle. Angenommen aber, es hätte diese anfechtbare Versuchs-
anordnung keinen Fehler zur Folge gehabt, so ergäbe der Vergleich, daß die
Schreibleistung besser sei als die Zeichenleistung. Die Kinder strengen sich bei
dem Nachzeichenversuch mehr an als bei der Aufforderung, nach Belieben etwas
zu produzieren, die geistige Gesamtleistung, der Energieaufwand ist beim Schreib-
versuch größer. Freilich das Ergebnis des Schreibens ist überaus kläglich,,
während die Zeichnungen als originelle selbständige Kinderleistungen an-
zusprechen sind. — Zur Ergänzung hätte auch noch eine bestimmte Aufgabe
fürs Zeichnen gegeben werden sollen, irgendeine Lebensform, die allen Kindern
vertraut gewesen wäre. An dieser Stelle bedürfen meine Untersuchungen viel-
leicht am meisten der Nachprüfung.
5. Die Untersuchung der Korrelation zwischen allgemeiner Begabung und
Schriftleistung ergibt, daß in 20 Fällen Begabung und Schriftleistung über-
einstimmen, bei 10 Kindern bleibt die Schriftleistung hinter der Begabung zurück
und in 7 Fällen fällt der Schrift versuch besser aus, als man es nach der allgemeinen
Begabung erwarten sollte. Die schlechtere Schreibleistung erklärt sich aus der
Schwierigkeit der gestellten Anforderungen, bessere Schriften mögen auf zu-
fällige Dispositionen der Kinder oder auf Spezialbegabungen zurückzuführen sein.
6. Endlich untersuchte ich die Differenzierung der Geschlechter bei den Schreib-
leistungen. 35% der Knaben und nur 29% der Mädchen schreiben relativ „gut",
55% der Knaben und 53% der Mädchen „mittel", 10% der Knaben und 18%
der Mädchen ,, schlecht". Es ergäbe sich also, daß die Knaben mehr gute und
weniger schlechte Leistungen als die Mädchen aufzuweisen haben, ein Resultat,
das auch mit anderen Beobachtungen übereinstimmt. Zu bedenken ist aber,
daß die Zahl der Knaben größer war als die der Mädchen und daß auch die
Begabungen nicht völlig vergleichbar sind. Ich möchte also diesem Ergebnis
nur bedingten Wert beimessen.
7. Über drei Viertel der Kinder wählen, wenn sie unbeeinflußt bleiben, die
Steilschrift -r- es wäre zu bedenken, ob man den Kindern nicht auch beim ersten
Schreibunterricht gestatten sollte, steil zu schreiben.
Tafel III
Y.
X/\
3,
¥.
•
6.
?•
V
yW
^0,
-f/.
^
-11
(V
4^.
yy
Formauffassung und Schreibversuch im Kindergartenalter.
591
8. Die spitzen Winkel unserer Buchstaben bieten den Schülern ungemein viel
Schwierigkeit beim Nachzeichnen. Die im allgemeinen runderen Formen der
Lateinschrift würden ihnen leichter fallen.
9. Die Kinder arbeiten besser, wenn sie die Vorlage entstehen sehen, als wenn
ihnen dieselbe fertig vorgelegt wird.
10. Zeichnen von Lebensformen unterstützt das Nachzeichnen gegebener
Schriftformen wesentlich.
11. Eine Aufforderung der Kinder zur Selbstkritik scheint nicht empfehlens-
wert zu sein.
12. Wir stellen an die Kleinen unerfüllbar schwere Anforderungen, wenn wir
ihnen schon im vorschulpflichtigen Alter Buchstabenformen zum Nachzeichnen
vorlegen.
Ich bin vollständig davon überzeugt, daß meine Untersuchungen noch in
vielen Punkten der Nachprüfung bedürfen.^) Besonders erscheint mir anfechtbar,
^) Eine solche, mit genau den gleichen Resultaten, ist inzwischen im Juni 1913
von Frl. Stindt am Kindergarten der Hohenzollernschule in München erfolgt. Dabei
waren die Buchstaben e u o gewählt worden. Es beteiligten sich 23 Kinder, und
zwar 4 vier-, .3 viereinhalb-, vier fünf-, 2 fünfeinhalb-, 4 sechs- und 6 sechsein-
halbjährige. Tafel III bringt die Typen, die sich beim Buchstaben ,,e" ergaben.
Dazu folgende Übersicht:
rn
1, Versuchs-
2. Versuchs-
3. Versuchsseihe
Typ
reihe
reihe
1 . Zeichnung
2. Zeichnung
Typ 1
4,35''.',
4,35%
4,35%
8,70"o
30,44%
26,09%
26,09%
26,09",,
3
13,05%
4,35%
13,05%
4,35%
4
13,05%
4,35%
4,35%
4.35%,
., 5
4,35%
—
—
13,05%
6
—
4,35%
8,70%
8,70%
7
—
8.70%
8,70%
—
» 8
—
—
—
4,35%
9
8.70%
4,35%
4,35%
—
., 10
4,35%
—
—
—
„ 11
—
4,35%
—
—
„ 12
—
—
4,35%
„ 13
4,35%
4,35%
—
—
„ 14
4,35%,
—
—
—
„ 15
4,35%
—
—
—
M 16
—
—
—
4,35%
„ 17
—
—
—
4,35%
„ 18
21,74%
43,48 "^>
34,79%
niM4";,
Typ 1 der Tafel III kam bei meinen Untersuchungen nicht vor, weil meine Ver-
suchspersonen dui'chweg 47» Jahre zählten, während Frl. Stindt auch Kinder mit
4 Jahren heranzog. Typ 2 (T. III) entspricht genau dem Typ A (Tafel I), Typ 3
(T. III) dem Typ B (T. I). Typ 4 und 5 (T. III) fassen die beiden dicht nebeneinander
liegenden Grundstriche des ,,e" als einen auf; Typ 5 hat die verfehlten Ansätze
(vgl. Typ E, T. I). Bei den Typen 6, 7, 9, 10 und 11 (T. III) wurde nicht er-
kannt, daß zum 2. Aufstrich des ,,e" abgesetzt werden muß, das ,,e" wurde als
,,n" aufgefaßt (siehe besonders Typ 9). 6 und 7 stellen (ebenso wie 3 — 5) Ana-
loga zu Typ B der Tafel I dar, weil sie nicht bis zur Fünfzahl der Vorlage analy-
592 Die echte Idee des Kindergartens nach Fröbel.
daß die Zahl der untersucliten Zeidmungen bei den drei Versuchsreihen nicht
übereinstimmte. Das hatte zur Folge, daß eine Zeichnung bei der ersten Versuchs-
reihe 2,56% galt, bei der zweiten Reihe dagegen 3,57%, beim ersten Versuch der
dritten Reihe 3,33% und beim letzten Versuch gar 6,25%. Auch ist das unter-
suchte Material (rund 120 Zeichnungen von 37 Kindern) viel zu gering, als daß
daraus allgemeingültige Schlüsse gezogen werden könnten. Andererseits war das
Kindermaterial beidgeschlechtig, von gemischter Begabung und aus allen Be-
völkerungsschichten. Das ermutigt mich zu glauben, daß wenigstens das Haupt-
ergebnis allgemeine Geltung beanspruchen darf: daß es ein pädagogisches
Unding ist, Kinder im vorschulpflichtigen Alter mit Schrift-
zeichen zu belästigen.
Die echte Idee des Kindergartens nach Fröbel.
Von Johannes Prüfer.
Vielfach begegnet man der Meinung, daß die Bezeichnung „Kindergärten"
für die von Fröbel gegründeten Anstalten unnatürlich und gesucht sei und
daher keine weitere Verbreitung verdiene. Dem muß entschieden entgegen
getreten werden; denn es ist wohl selten ein Name so organisch, so mit
Naturnotwendigkeit aus der Sache herausgewachsen, die er bezeichnet, als
dies hier bei dem Worte „Kindergarten" geschehen ist. Die ganze Eigen-
art der Fröbelschen Weltanschauung spiegelt sich in diesem einen Wort
wieder. Es hat daher für den Kenner mehr Farbe und [Charakter, als
jede andere künstlich gemachte Bezeichnung.
sierten. Typ 10 hat bis zur Fünf zahl analysiert, aber mit dem Grundstrich be-
gonnen und den 1. Aufstrich am Schliiß (als Abstrich) angefügt (vgl. Typ E, T. I).
Typ 11 hat beobachtet, daß am Schluß kein Abstrich stehen darf und daher den
6. Strich angefügt. Typ 12 und 14, auch 13 kommen der Vorlage näher; bei
12 und 14 fehlt der Wegstrich, bei 13 der kleine Aufstrich. Zu Typ 12 vgl. das
oben über die Schwierigkeit des spitzen Winkels Gesagte. Typ 15 — 17 sind Spiegel-
bilder, wahrscheinlich von Linkshändern gezeichnet (das Material des Frl. Stindt
läßt nicht erkennen, ob rechts oder links gezeichnet wurde). Bei 15 und 16 sind
Ansätze verfehlt; 17 stellt die Vorlage genau auf den Kopf. (Vgl. hierzu Tafel I,
Typ F2, 0 2 und K2). Zu 18 wurden die im allgemeinen vorlagerichtigen
ZeichnTingen gezählt; daß verhältnismäßig viele Kinder (bei der 2. Versuchsreihe
43%) Typ 18 fertig brachten, liegt daran, daß 4 sechs- und 6 sechseinhalb jährige
Kinder den Versuch mitmachten, während meine ältesten 5V2 Jahre zählten. Von
der 1. zur 2. Versuchsreihe ist auch bei Frl. Stindt ein gewaltiger Fortschritt er-
kennbar (etwa 20%), er ist darin begründet, daß die Kinder die Vorlage entstehen
sahen. 2. Versuchsreihe und 1. Zeichnung der 3. Reihe sind ziemlich gleichwertig,
weil die Zeichenfertigkeit der Kinder Frl. Stindts sich gleichblieb, während meine
Schüler zwischen 2. und 3. Versuch 14 Lebensformen zeichneten. Bei der 2. Zeich-
nung der 3. Reihe ist genau wie bei meiner Untersuchving einerseits eine gewisse
Unsicherheit (Zunahme der Typen 1 und 5), andererseits eine tatsächliche Ver-
besserung (Zunahme der Typen 16 — 18) festzustellen. — Vor allen Dingen ist mein
Hauptergebnis, daß vorschulpflichtige Kinder zum Schreibunterricht unfähig sind,
dtirch Frl. Stindts Nachprüfung vollkommen bestätigt: trotz des größeren Alters
ihrer Kinder vermochten im besten Falle nur 43% der Vorlage einigermaßen gerecht
zu werden.
Die echte Idee des Kindergartens nach Fröbel. 593
_
Fröbels Weltanschauung war durchtränkt von dem starken idealistischen
Zuge seiner Zeit. „Es existiert keine Macht als die des Gedankens", das
war Fröbels tiefste Überzeugung. Das Geistige ist das Treibende, das ewig
Gestaltende in der Welt. Die sichtbaren Dinge sind nur Produkte, sind
nur Niederschläge des Geistes. Durch rastloses Gestalten, gleichsam durch
ständiges Ringen mit der Materie entwickelt sich der Weltgeist höher und
höher. Also nicht die einzelnen Geschöpfe entwickeln sich auseinander, wie
die neuere Abstammungstheorie lehrt, sondern das hinter den Erscheinungen
liegende Intelligible, das entwickelt und entfaltet sich und bringt die immer
neuen und höheren Erscheinungsformen hervor.
In allen Geschöpfen pulsiert also der eine Weltgeist, die gewaltige eine
Urkraft, die das ganze All durchdringt. Vom unscheinbaren Kristall bis
hinauf zum Menschen, alles ist erfüllt und getragen, geschaffen und durch-
drungen von der einen gewaltigen Kraft, von dem einen unendlichen Geist.
Hinter der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen Hegt eine Einheit, eine
Kraft. „Diese Einheit ist Gott." — „Alles ist hervorgegangen aus dem
Göttlichen, aus Gott — und durch das Göttliche, durch Gott einzig bedingt.
In Gott ist der .einzige Grund aller Dinge." ^)
Im Lichte dieser gewaltigen „Lebenseinigung" muß nun auch das Leben
des Menschen, das Leben jedes Einzelnen betrachtet werden. Es ist nichts
anderes als ein Tropfen aus der unerschöpflichen Quelle, ein Strahl des
ewigen Lichts, „ein Funke aus Gott". Es gibt nur darum so zahllos Ver-
schiedenes in der Welt, weil das Göttliche strebt, sich in aller Mannig-
faltigkeit — Unendlichkeit auch hier — kund zu tun und darzustellen.
Jedes Einzelleben ist seinem innersten Wesen nach der einen Urkraft ver-
wandt, es ist Geist von einem Geist. Hier wie dort findet sich daher der-
selbe unermüdliche Drang nach Selbstdarstellung und Höherentwicklung,
der unerschöpfliche Drang nach Tätigkeit. Darum ist kein Trieb im
Menschen stärker als der Tätigkeits- und Gestaltungstrieb, darum ist auch
schöpferisches Gestalten und Schaffen das höchste Glück des Menschen.
Der Mensch, der die in ihm wirkende Urkraft ungehemmt zur Entfaltung
bringen kann, lebt „naturgemäß" und glücklich. Dagegen: jede Hemmung
dieser auf Selbstentwicklung hindrängenden Urkraft ruft Unbehagen und
Enttäuschung hervor, macht also unzufrieden und unglücklich. Glücklich
ist also nur der Mensch, der seiner Bestimmung gemäß leben, d. h. der in
Übereinstimmung mit dem in ihm wirkenden Geist leben kann. Also nur,
wer in diesem Sinn tätig sein kann, wird glücklich sein. Nur der kommt
dem Ziele der Menschheit näher, welches besteht in der „Darstellung des
Ewigen im Zeitlichen, des Bleibenden im und am Vergänglichen, des
Himmlischen im Irdischen, des Seins im Leben, des Göttlichen im
Menschlichen".
Aufgabe der Erziehung ist es nun, Sorge dafür zu tragen, daß der Mensch
.schon von klein auf die in ihm wirkende Kraft, also sein Wesen, ungehemmt
und freitätig entfalten kann. Das geschieht, wenn das Kind von Anfang
an in seiner Weise tätig sein kann und wenn die Erziehung alle Hinder-
nisse und alle schädlichen Einflüsse fernhält. Behütend und nachgehend
') Fr. 'Fröbel „Menschenerziehung". Keilhau 1826, S. 1 u. 2.
Zeitschrift r. pfidagog. Psychologie. 38
594 Die echte Idoe des Kindergartens nach Fröbel.
muß die Erziehung sein, nicht vorschreibend und fordernd. Was nicht
bereits keimartig im Menschen vorhanden ist, läßt sich nicht aus ihm
herausholen. Der junge Mensch wächst heran wie die Blume auf dem
Felde oder wie der Baum des Waldes. Das Beste und Stärkste steckt
bereits von Natur aus in ihm. Es wird sich in vielen Fällen auch ohne
menschliches Zutun und ohne menschliche Kunst, sagen wir, ohne absicht-
liche Erziehung entfalten. Wie aus dem Eichkern ein stolzer, schöner Eich-
baum werden kann, so, meint Fröbel, kann auch aus jedem Kinde ein Voll-
mensch werden. Das Meiste und Wichtigste tut ja doch die Natur selbst.
Freilich nicht jeder Keim entfaltet sich so günstig, mancher verkümmert.
Und warum? Weil seine Entwicklung durch schädliche Einflüsse gestört
wurde. Der Mensch verpflanzt daher die Gewächse, an deren ungestörter
Entfaltung ihm liegt, in seinen Garten. Hier kann er fast alles beseitigen
und fernhalten, was schädlich auf die Pflanzen einwirkt, andernteils kann
er durch seine Kunst manches Fehlende herbeischaffen. Im Garten gedeihen
daher die meisten Pflanzen besser als draußen in der Wildnis. Ebenso ist
es mit den jungen Menschenkeimen. Auch sie brauchen manches, was ihnen
fehlt, wenn sie „wild" aufwachsen, auch sie bedürfen des Schutzes gegen
schädliche Einflüsse, auch sie bedürfen der Sorgfalt und Pflege erfahrener
Gärtner und Gärtnerinnen. Sie sollten daher ebenso in einem Garten
heranwachsen wie zahllose unserer Pflanzen — in einem Garten, nicht in
einem Treibhaus. Wie die Gewächse sollten sie sich entfalten können,
organisch, naturgemäß, von innen heraus, nur pflegend behütet von treuen
Menschen. Als bescheidene Gärtner sollten sich die Erzieher und Er-
zieherinnen fühlen, als Gärtner, die sich dessen stets bewußt sind, daß sie
nichts aus ihren Pfleglingen machen können, was nicht bereits von Natur
aus in ihnen lebt, die daher auch gar nichts anderes wollen, als Hüter und
Förderer dessen zu sein, was Gott in ihre Pfleglinge hineingelegt hat.
Diesen Idealzustand herbeizuführen, einen solchen Garten der Kindheit zu
schaffen, einen solchen „Kindergarten", dahin zielte Fröbels Streben. —
Also nicht ein Haus mit seinen engen Wänden, nicht eine Anstalt für
kleine Kinder war es, was Fröbel zunächst vorschwebte, sondern dieser
Idealzustand echtester, tiefster Erzieher-Gesinnung und treuester behütender
Kinderpflege. Wenigstens über das deutsche Land sollte sich dieser Zu-
stand erstrecken. Das war es, was Fröbel am 28. Juni 1840 als „all-
gemeinen deutschen Kindergarten" begründen wollte.
Er schrieb damals: „Je ungeteilter ich mich der ersten Kinderpflege hin-
gebe, desto mehr sehe ich ein, daß dasjenige, was notwendig für die erste
Erziehung des Menschengeschlechts, für die Kindheit geschehen muß, am
wenigsten durch den Mann und besonders nicht durch ihn vereinzelt
geschehen kann, sondern daß ihm vor allem der weiblich mütterliche Sinn
der Frauen, die weiblich mütterliche Liebe zur Seite stehen muß." In
jedem Frauenherzen, meint er, wohnt ein kinderliebender Sinn. Dieser
führt nicht nur zu inniger Einigung mit Gott, Natur und Menschheit, sondern
auch ganz besonders zur Einigung untereinander. Es ist ja ein gemeinsames
Werk, an dem alle Frauen und Mütter arbeiten: die Auferziehung eines
neuen Geschlechtes. Und wenn sie das Kind nicht nur als Einzelwesen
Die echte Idee des Kindergartens nach Fröbel. 595
betrachten, sondern als Glied des gesamten Menschengeschlechtes und als
„Fortbildner" desselben, dann werden sie die Höhe ihres Berufes, die „Würde
der Frauenbestimmung als Kindheitspflegerinnen" erkennen. „In der gott-
einigen Klarheit, Tiefe und Fülle wie Wirksamkeit des weiblichen Gemütes
als Pflegerin der Kindheit ruht das ganze Wohl der aufkeimenden Mensch-
heit." „Frauenleben und Kinderliebe, Kinderleben und Frauensinn, überhaupt
Kindheitspflege und weibliches Gemüt trennt nur der Verstand. Sie sind
ihrem Wesen nach eins. Denn Gott hat das leibliche wie das geistige
Fortbestehen des Menschengeschlechts durch die Kindheit in das Frauenherz
und Gemüt, in den echten Frauensinn gelegt . . . Allein das Leben hat
in seinen mannigfachen Entwicklungen und in seiner vielseitigen Ausbildung
oft gegen das Gefühl der Mutter, überhaupt gegen das weibliche Gemüt
und gegen die Bedürfnisse des Kindes durch die Riesengewalt äußerer Ver-
hältnisse eine unnatürliche Trennung zwischen Kindheit und Frauenleben,
zwischen Weiblichkeit und Kinderleben gestellt." Vor allem der ersten
Kindheitspflege muß das Frauenleben wieder ganz zugewandt werden, „Frauen -
leben und Kindheitspflege muß allgemein wieder geeint, weibliches Gemüt
und sinnige Kinderbeachtung muß wieder ein Einiges werden".^) Wenn
das einst überall im deutschen Vaterlande der Fall ist, dann ist der all-
gemeine deutsche Kindergarten erstanden, dann ist diese große Idee
Fröbels verwirklicht.
Daß dies nicht mit einem Schlage geschehen konnte, das wußte Friedrich
Fröbel so gut wie jeder andere. Aber allmählich hoffte er doch diesem
schönen Ziele näher zu kommen. Zunächst wollte er in Blankenburg eine
große Anstalt gründen, aus der gleichsam der Sauerteig hervorgehen sollte,
der die gesamte deutsche Frauenwelt nach und nach durchdringen konnte.
An der geplanten Anstalt sollten die einsichtigsten und kenntnisreichsten,
den Grundgedanken des Ganzen als ihren eigenen Lebensgedanken erkennen-
den und ausführenden Männer als erziehende Lehrer angestellt werden; und
sie sollte die belehrendsten Sammlungen und Bildungsmittel in sich zu
einigen suchen. Es war also eine Art Seminar für Kindergärtnerinnen, was
Fröbel in Blankenburg gründen wollte. Die hier ausgebildeten Kindheits-
pflegerinnen sollten den Gedanken wahrer Kindererziehung allmählich über
ganz Deutschland verbreiten. Zur Errichtung dieser Anstalt aber brauchte Fröbel
sehr viel Geld, „nach einem allgemeinen Überschlag" ungefähr ein Grund-
kapital von 100000 Talern. Fröbel hoffte diese große Summe durch Aktien
aufzubringen, und zwar rechnete er dabei vor allem auf das Interesse der
deutschen Frauen und Jungfrauen. Aktien zu 10 Talern sollten ausgegeben
werden, sie waren nicht zu groß und nicht zu klein, und bei 10000 Teil-
nehmerinnen war das Geld geschafft. 10000 Teilnehmerinnen aber, meinte
Fröbel, müßten sich leicht finden, kämen doch in diesem Falle nur zwei
bis drei auf jeden namhaften Ort Deutschlands. — Aber der Plan ließ sich
nicht verwirklichen, es wurden nur 155 Aktien gezeichnet; die dadurch
eingehende Summe war zu klein, um die Anstalt ins Leben zu rufen.^)
') Fr. Fröbel „Aufruf« vom 1. Mai 1840.
'^) Ausführlicheres siehe „Aus Natur und Geisteswelt" Bd. 82 „Friedrich Fröbel".
Verl. B. ('■. 'r<nbnor Leipzig 1914. S. 75 ff.
38*
596 I^i^ echte Idee des Kindergartens nach Fröbel.
Gleichzeitig mit dieser großen Blankenburger Anstalt sollten überall im
deutschen Lande Spielanstalten gegründet werden, wo die Kleinen nach
Fröbelschen Grundsätzen gepflegt und beschäftigt werden sollten. Diese
Anstalten sollten gleichsam Keimpunkte des allgemeinen deutschen Kinder-
gartens werden. Für diese Anstalten wurde etwa seit dem Jahre 1843
ganz allgemein die Bezeichnung „Kindergärten" üblich. Hier sollten die
Kleinen alles das finden, was für ihre günstige Weiterentwicklung notwendig
ist: Gelegenheit, ihre Kräfte zu entfalten, Schutz vor schädlichen Einflüssen,
Pflege erfahrener Frauen. Aber sie sollten noch mehr sein. Von ihnen
aus sollte sich allmählich die rechte Erziehergesinnung verbreiten. Sie sollten
Stätten der Anschauung und Belehrung sein in bezug auf früheste Kinder-
pflege und Kinderbeschäftigung, ein Mittelpunkt für alle kinderliebenden
Frauen und Mädchen des betreffenden Ortes. Darin liegt vor allem das
große kulturfördernde Moment der Kindergärten, ein Moment, das auch in
der Gegenwart noch längst nicht genügend gewürdigt wird. Nicht Selbst-
zweck waren unserm Fröbel die Kindergärten — er wußte, daß sie das
Familienleben niemals ganz ersetzen können und daß der beste Kinder-
garten der Wirkungskreis einer ganz ihren Kindern lebenden echten Mutter
ist — sondern sie waren ihm vor allem Mittel zum Zweck: sie sollten
den „allgemeinen deutschen Kindergarten" herbeiführen helfen, jenen Ideal-
zustand, in dem echter Frauensinn und naturgemäße Kinderpflege ein innig
geeintes Ganzes bilden. „Kindergarten" konnte er eine jede dieser Anstalten
nennen; denn sie waren Teile des erträumten „allgemeinen deutschen
Kindergartens". Nur aus tausend und abertausend solcher Stätten für
wahrhafte Kinderpflege konnte allmählich der ersehnte Idealzustand er-
blühen. 1)
In einem noch ungedruckten Manuskript vom Jahre 1842' verbreitet sich
Fröbel „Über die Bedeutung und das Wesen der Kindergärten überhaupt
und das Wesen und die Bedeutung des deutschen Kindergartens insbesondere."
Es ist das Klarste und Schönste, was Fröbel über die Kindergärten geschrieben
hat. Gleichsam auf hoher Warte stand Fröbel bei Abfassung dieses Schrift-
stückes. Zukunftsfroh schaute er hinaus über das weite deutsche Vaterland,
und überall sah er neben Kirchen und Schulen seine Kindergärten erstehen,
in jeder Stadt, in jeder Gemeinde, vom Strande der Ostsee bis hinauf an
den Rand der Alpen. Freilich bescheiden sind manche eingerichtet, sehr
bescheiden. Nur aus einem freien Platz bestehen sie zuweilen und aus
einem bedeckten Raum für schlechtes Wetter, der nicht einmal immer eine
Stube ist, sondern oft „bloß eine Scheune oder ein Schuppen". Aber was
schadet das? Der Mensch bedarf ja dort, „wo er mit seiner ganzen Seele,
mit seinem ganzen Sein und Leben heimisch ist, wenig". In der Mitte
der Gemeinde liegt der Kindergarten, und Fröbel sieht im Geiste die Mütter,
mit dem Kleinsten auf dem Arme, hinwallen nach dieser Stätte, nach diesem
Heiligtume wahrer Kindheitspflege. „Die Kindermädchen, die Kinder-
wärterinnen, die älteren Geschwister und wem sonst die Pflege der Kinder
übertragen ist", sie alle kommen, um hier im Kindergarten zu hören und
*) Vergl. dazu meine „Kleinkinderpädagogik" Verlag von Otto Nemnich, Leipzig,
1913 S. 236 ff.
Kleine Beiträge und Mitteiliingen. 597
zu sehen, wie man die Kleinen richtig behandeln und pflegen soll. Eine
solche Stunde lebendiger Anschauung nützt ja viel mehr als das Durch-
lesen eines bogenreichen Erziehungswerkes. Erfahrungen werden ausgetauscht,
täglich neue Beobachtungen gemacht und so das Interesse für die erste
Menschenerziehung allgemeines Gut der deutschen Frauenwelt. — Das waren
die Kindergärten, die Fröbel ins Leben rufen wollte, für die er unermüdlich
kämpfte bis zum Ende seines Lebens: Quellpunkte für die gesamte früheste
Erziehung, das sollten seine Kindergärten, sein — wir sind auch heute noch
weit entfernt von diesem Ideal.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Das Wesen und die Prinzipien der Elementarbildung behandelte
in der „Freien Vereinigung für philosophische Pädagogik" auf der Kieler
Lehrerversammlung Dr. Herm. Walsemann aus Schleswig nach folgenden
Leitsätzen: I. Die Elementarbildung ist die grundlegende Bildung, aber
gleichwohl nicht die erste Bildung des Kindes; ihr geht die Wohnstuben-
und Kindergartenbildung vorher. Diese muß die Vorbedingungen jener
beschaffen. II. Vorbedingungen einer grundlegenden Bildung sind: Die
Einübung der sinnlichen und gefühlsmäßigen Produktivität, Wahrnehmungs-
und Beobachtungsfähigkeit, die Gewinnung eines heimatlichen Anschauungs-
kreises, das Werden einer Persönlichkeit im Kinde, Verständnis und Gebrauch
der Sprache, Einübung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. III. Die
Bildung im vorschulpflichtigen Alter wird beherrscht von drei Prinzipien:
1. Das Kind bildet sich an und in den konkreten Erzeugnissen der Sinne
und des Gefühlsvermögens (Totalitätsprinzip). 2. Das Kind stattet die sinn-
lichen und gefühlsmäßigen Erzeugnisse allmählich mit mehr und mit genaueren
Bestimmungen aus (Prinzip der zunehmenden Bestimmtheit). 3. Das Kind
dringt von sich aus erkennend in die Außenwelt vor und zieht zu den be-
kannten Gegenständen neue in Betracht; ebenso macht es sich nach und
nach mit einer Mannigfaltigkeit von Innenerlebnissen bekannt (Prinzip der
allmählichen Erweiterung). IV. Unter der Elementarbildung im genauen
Sinne versteht man eine Schulung in den Grundteilen oder Elementen der
Anschauungserzeugnisse; sie muß sich erstrecken: L auf die äußeren Be-
standteile der Erscheinungen und Vorgänge; 2. auf das innere Wesen der
Gegenstände und Vorgänge: 3. auf die einfachen körperlichen Betätigungen;
4. auf die Bestandteile der Innenerlebnisse (Gefühle und deren Motivations-
kräfte). V. Die Elementarbildung wird beherscht von vier Prinzipien:
1. Der Schüler analysiert die Totalitäten, sondert die generellen Bestandteile
aus, verselbständigt diese und befestigt sie zu geistigen Typen, die mittels
hinzukommender Bezeichnungen beliebig verwandt werden können (Prinzip
der Ausscheidung). 2. Die Entwicklung drängt nach qualitativer Verbesserung
der Bestimmungen, nach genauer Untersuchung komplexer Begriffe mittels
künstlicher Versinnlichungen, ferner nach einer Schulung in einfachen körper-
lichen Betätigungen und einer Darstellung des Innenlebens in einzelnen
Handlungen mit erkennbaren Antrieben (Prinzip der absoluten Bestimmtheit).
598 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
3. Die Kunstführung zu einer auf das Ganze der Anschauungswelt sich er-
streckenden und doch dem Umfang [nach beschränkten Bildung erfordert:
Gliederung des Ganzen in Fächer, Gliederung der Gesamtstoffe jeden Faches
in Stoffabschnitte, Bildung zweckmäßiger Lehrstücke, den Stoffreihen ent-
sprechende Reihenbildung und Anfänge des Systematisierens (Prinzip der
begrifflichen Umfassung). 4. Die Elementarbildung ist in allen ihren
Zweigen auf Steigerung und Schulung der Anwendungskräfte im Kinde
einzustellen. In Pflege zu nehmen sind die Ausdrucksbewegungen sowie
die sprachlichen und sachlichen Darstellungskräfte, ferner die Kräfte der
Nacherzeugung früherer Anschauungen und des Zustandebringens neuer
Anschauungen mittels der geistigen Erwerbungen, endlich die Schaffenskräfte
durch körperliche Gestaltungen und die Überwindungskräfte durch die
Lösung geeigneter Aufgaben (Prinzip der Anwendung). VI. Die Entwicklung
des Kindes zeigt keine scharfe Trennung in Abschnitte; deshalb muß auch
der Naturgang der Bildung im vorschulpflichtigen Alter beim Eintritt in
die Schule nicht „abgebrochen" werden, sondern die Kunstführung des Ele-
mentarunterrichts in sich aufnehmen. Diese selbst reicht hinüber in den
wissenschaftlichen Jugendunterricht.
Über die Unterschiede der Abstraktionsfähigkeit bei Knaben und
Mädchen hat eine gute Untersuchung, die Johannes Habrich angestellt und
in der Zeitschrift für angew. Psych. (Band 9, Heft 3) veröffentlicht hat, zu
folgenden Hauptergebnissen geführt:
1. Die Entwicklung der Abstraktionsfähigkeit von Schülern und Schüle-
rinnen der Volksschule zeigt bei mannigfachen Übereinstimmungen charak-
teristische psychische Geschlechtsunterschiede.
2. Die Fähigkeit zur Abstraktion gleicher Bewußtseinselemente nimmt
innerhalb angemessener Grenzen objektiver Schwierigkeit bei beiden Ge-
schlechtern mit dem Alter zu,
3. Das Wachstum verläuft bei Knaben und Mädchen in zwei deutlich
erkennbaren Stadien: einer Periode anfänglichen raschen Fortschritts folgt,
zwischen dem 10. und 11. Lebensjahre beginnend, ein Zeitraum langsamer
Zunahme.
4. In der Abstraktionsfähigkeit bleiben schwächer begabte Schüler und
Schülerinnen mehr hinter den mittel begabten zurück, wie diese hinter den
besser begabten. Das arithmetische Mittel der Klassenleistungen liegt unter
dem der mittel begabten Kinder.
5. Das vollständige Gelingen der Hauptaufgabe beeinflußt qualitativ die
Nebenleistung, insofern sich innerhalb der Grenzen normaler Anforderung
mit der vollständig gelungenen Hauptleistung mehr vollständige Neben-
leistungen verbinden, als mit der vollständig mißlungenen.
6. Die Abstraktionsfähigkeit läßt sich durch Übung steigern. Der posi-
tiven Abstraktion (Hervorhebung der gleichen Elemente) geht eine negative
(Vernachlässigung der ungleichen) parallel.
7. Die Zuverlässigkeit beider Geschlechter offenbart eine gewisse Ab-
hängigkeit von der Intelligenz, dem Alter und dem Umfange des zu be-
urteilenden Tatbestandes.
Kleine Beiträge und Mitteiliingen. 599
,_
8. Die Repetenten beider Geschlechter erreichen trotz höheren Alters und
wiederholter Durchnahme des Klassenpensums meist nicht die Durchschnitts-
leistung der Klasse.
9. Die Lösung leichter Abstraktionsaufgaben gelingt den
Mädchen häufiger als den Knaben. Mit wachsender objektiver
Schwierigkeit bleiben die Mädchen immer weiter hinter den
Knaben zurück.
10. Für die Mädchen bildet die Wiedererkennung der Figuren
das zuverlässige Kriterium des geistigen Fortschritts, für die
Knaben dagegen die Lokalisation.
IL Alters- und Intelligenzstufen der Mädchen verhalten sich zu den
Nebenleistungen ähnlich wie zu den Hauptleistungen, während die Ergebnisse
der Knaben in der Nebenleistung die Gesetzmäßigkeit vermissen lassen.
Nimmt man ihre bedeutende Mehrleistung in der Hauptaufgabe hinzu, so
muß man schließen, daß die Konzentrationsfähigkeit der Knaben größer ist
als die der Mädchen.
12. In der vollständigen und in der partiellen Nebenleistung
übertreffen die Knaben ihre weiblichen Altersgenossen ganz
bedeutend, trotz ihrer Überlegenheit in der Hauptleistung; die
Bewußtseinsenge der Mädchen ist größer als die der Knaben.
13. Im ganzen sind die Leistungen der Knaben qualitativ besser
als diejenigen der Mädchen, wie die nahezu doppelte Zahl voll-
ständiger Nebenleistungen beweist.
14. Das Tempo der geistigen Entwicklung der Mädchen ist nach den
Stufenwerten des Leistungsumfangs langsamer als das der Knaben.
15. Die Angaben der Knaben sind weit zuverlässiger als die der Mädchen.
16. In den Leistungen der Mädchen prägt sich gleiche Familienzugehörig-
keit deutlich aus.
Über die praktische „pädagogische Ausbildung von Studenten au
einer Volksschule" in Dresden wird von Emil Laube in der Sächsischen
Schulzeitung berichtet. Eine solche Veranstaltung, die doch offenbar von
der Annahme ausgeht, daß der Unterricht der Volksschule auch den Kan-
didaten des höheren Schulamts — es handelte sich um Studierende der Mathe-
matik und Naturwissenschaften — Wertvolles zu bieten vermag, ist wieder ein
erfreuliches Anzeichen dafür, wie sich mit der Einsicht in die Notwendigkeit
einer wirklichen Berufsbildung der höheren Lehrerschaft deren bewußte
und oftmals hochmütige Abschließung von der Arbeit der Volksschule
mindert. Daß beide Lehrerstände sich zu gemeinsamem Wirken, wie es
heute schon in zahlreichen psychologisch -pädagogischen Arbeitsgemein-
schaften gelungen ist, nähern und verbinden, ist von wahrhaftig nicht
geringer nationaler Bedeutung. Emil Laube gibt über die Einrichtung
dieses eigenartigen pädagogischen Seminars das folgende an.
In den Osterferien 1913 richtete der Inhaber der Professur für Philosophie
und Pädagogik an der Dresdner technischen Hochschule, Herr Professor
Dr. Elsenhans, an den Direktor der 17. Bezirksschule das Ersuchen, ihm
an seiner Anstalt die praktisch-pädagogische Ausbildung der Studenten und
600 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Studentinnen zu gestatten und sie zu fördern. Es sollte den Studierenden
erlaubt werden, in der Schule zu hospitieren und auch selbst zu unter-
richten. Der Anregung wurde gern gefolgt. Die Vorverhandlungen mit
den Behörden wurden rasch erledigt. Überall begegnete das Vorhaben
dem größten Wohlwollen. Da anzunehmen war, daß zukünftige Lehrer
der Mathematik und Naturwissenschaften ihr Interesse dem Rechnen, der
Formenlehre, der Naturlehre, der Chemie und der Naturgeschichte zuwenden
würden, war eine Oberklasse und zwar praktischerweise eine Knabenklasse
als Versuchsklasse auszuwählen. Ein Kollege stellte sich bereitwillig in
den Dienst der neuen Sache. So zog bald nach Ostern der Professor mit
seinen Studenten in die Volksschule ein. Jeden Sonnabend kehrte er wieder.
Zunächst wurde den Gästen ein kurzer Vortrag über die Organisation der
Volksschule im allgemeinen und der von Dresden im besonderen geboten.
Es wurde auch auf die anders gearteten Verhältnisse der Volksschule
gegenüber den höheren Schulen hingewiesen. (Keine Auswahl des Schüler-
materiales, unsere Kraft gilt den Schwachen, Stunden- und Schülerzahl,
Klassenlehrersystem und die damit verbundenen vielseitigen Ansprüche an
die Weiterbildung u. a.) Das erschien nötig, weil manche Studenten die
Volksschule aus eigener Anschauung nicht kannten. Dann ging's in die
Klasse, um dort eine Lektion des Klassenlehrers zu hören. Am Schlüsse
des L Tages wurde eine Arbeitsverteilung in der Weise vorgenommen,
daß mehrere Personen sich über ein Fach einigten, in dem jede eine
halbstündige Lektion zu halten hatte. Der Klassenlehrer verteilte die
Themen, wie sie sich in den Lehrgang einordneten, denn es war Vorschrift,
daß eine Abweichung von den Bestimmungen des Lehrplanes durch die
Lektionen der Studenten nicht eintreten durfte. Die Vorbereitungen seitens
derer, „die dran kamen", wurde mit großem Eifer und meist unter mehr-
maliger Inanspruchnahme des allzeit willfährigen Kollegen betrieben. Die
Lektionen wurden in Gegenwart der Studenten, des Professors, des Klassen-
lehrers und des Direktors gehalten. Der Übung folgten eingehende Be-
sprechungen im Direktorzimmer. Bei aller Freundlichkeit ließen sie an
Offenheit, besonders seitens der Kommilitonen, nichts zu wünschen übrig.
Nicht selten wurden allgemeine Gesichtspunkte mit erörtert, da die Übungen
auch als Veranschaulichung der theoretischen Belehrungen in der Praxis
angesehen werden sollten.
Zu den Uerufserkrankiingen des Lehrers gibt der Hamburger Neurologe
Dr. Sänger im „Deutschen Philologenblatte" bemerkenswerte Ausführungen.
Er legt dar, wie die eindringliche Geistesarbeit der unterrichtlichen
Tätigkeit mit ihrer Doppelrichtung der Stoffentwicklung und der Schüler-
beobachtung die Form der langsam gezüchteten Neurasthenie ver-
schulde, und er räumt mit dem verbreiteten Vorurteil auf, daß der Lehrer-
beruf leicht sei. Auf Grund seiner reichen Beobachtungen glaubt Sänger
die Behauptung wagen zu dürfen, es komme auf eine normale Lehrstunde
der Ermüdungswert von zwei Bureau- oder Kontorstunden.
Ferien-Sprachheilkurse für unbemittelte Schulkinder hat seit zehn
Jahren N. von Nadolczny in München abgehalten. Von der Stadt ist
Literaturbericht. ßOl
ihm dazu ein größeres Schulzimmer überwiesen worden. Durch Vermittlung
der Behörde werden die Leiter sämtlicher Schulen jeweils von dem Kurse
in Kenntnis gesetzt. Der Zudrang ist so stark, daß in dem letzten Jahre
die Zahl der Zurückgewiesenen die der möglichen Teilnehmerzahl von
30 — 40 erreichte. Seit 1910 ist Gelegenheit gegeben, daß die Schüler, bei
denen der Kurs wegen der kurzen Dauer (vom 15. Juli bis Anfang Sep-
tember) nicht genügte, in den Sprechstunden für Sprachgestörte an der
Kgl. Universitäts-Ohrenklinik eine weitere Behandlung erfahren können.
Ein deutsches Schulmuseuni in Leipzig wird aus der Abteilung
„Kind und Schule" auf der Weltausstellung für Buchgewerbe und Graphik
hervorgehen. Der starke Eindruck, den diese größte pädagogische Schau,
die jemals geboten wurde, in Fachkreisen wie auch bei Laien hervorrief,
legte den Gedanken nahe, ihre Bestände zu einem großen Schulmuseum zu
vereinigen. Leipzig schien für diesen Zweck besonders geeignet, da es der
Mittelpunkt des deutschen Lehrmittelhandels und des pädagogischen Buch-
handels ist. Den gemeinsamen Bemühungen der Leipziger Stadtverwaltung,
der Buchhändler-, Gelehrten- und Lehrerkreise gelang es, kurz vor Ausbruch
des Krieges eine Vereinigung zustande zu bringen, die sich die Gründung
eines großen modernen Schulmuseums zur Aufgabe machte. Trotz des
hereingebrochenen Krieges haben die städtischen Behörden Leipzigs, zunächst
einmal, um die Bestände der Schulausstellung zu retten, 5000 Mark sowie
die Räume einer Leipziger Schule bewilligt, in der vorerst vorübergehend
ein kleines Museum untergebracht wird. Man hofft aber, daß nach dem
Frieden ein großes neues Museumsgebäude errichtet werden wird. Die
Leitung der Kommission für die Errichtung des Schulmuseums liegt in den
Händen des Leipziger Privatdozenten Dr. Max Brahn, des Leiters des
Instituts für experimentelle Pädagogik.
Literaturbericht.
Joseph Geyser: Die Seele. Ihr Verhältnis zum Bewußtsein und zum Leibe.
Wissen und Forschen, Bd. 6. FeHx Meiner, Leipzig 1914, VI und 117 S., br. 2,50 M.,
geb. 3 M.
Sichedich sind manche von den Lehren, die in diesem Buche vorgetragen
werden, nach dem gegenwärtigen Stande der psychologischen Forschung berechtigt
und begründbar, ich kann aber nicht umhin zu sagen, daß die Begründungszu-
sammenhänge, in denen wir sie in diesem Buche finden, ungenügende sind. Die
Widerlegung der Gegner läßt durchweg zu wünschen übrig. Geyser beruft sich
zu häufig auf Sätze, die er nicht beweist, denen er eine Art von Evidenz zuschreibt,
die ihnen durchaus nicht zukommt. Ich leugne nicht, daß gewisse Erkenntnisse
evident sind, aber das sogenannte „Selbstverständliche" ist nicht das „Evidente",
So folgt z. B. daraus, daß wir uns jetzt bewußt sind, eines augenblicklich gegen-
wärtigen Bewußtseinsinhaltes uns schon einmal bewußt gewesen zu sein, durchaus
nicht, wie Geyser anzunehmen scheint, daß wir uns auch wirklich seiner schon
einmal bewußt gewesen sind. (S.34.) Wir können uns darüber in Täuschung befinden.
Daß Veränderung an einem Substrat stattfinden müßte, wird zwar allgemein
angenommen; nimmt man diese Bestimmung aber in seine Definition auf, so darf
man den Begriff der Veränderung auf bestimmte Abfolgen eben nur mehr anwenden,
wenn man sich vom Vorhandensein eines Substrates überzeugt hat. Will man
602 Literaturbericht.
aber aus der Veränderung auf das Vorhandensein eines Substrates schHeßen, so
hätte man vorher nachzuweisen, daß jede Abfolge (denn das wird hier wieder
unter Veränderung verstanden) an einem Substrat erfolgt, was Geyser nicht
bewiesen hat. (S. 39.) Ich kann diese Punkte nur beispielsweise heranziehen. Um
auf alle Unebenheiten des Buches einzugehen, ist hier nicht der Ort. Für besonders
verfehlt halte ich aber — um noch auf einen anderen Fehlertypus einzugehen —
die Behauptung, daß wir vom Subjekt unmittelbar wüßten, weil wir unmittelbar
von der Bewußtheit wissen und das Erkennen der Relation die Erkenntnis
der Relate einschließt, denn wie auch immer unser unmittelbares Wissen beschaffen
sein mag, ganz bestimmt wissen wir nicht von der Bewußtheit als einer Relation.
Das ist vielmehr eine begriffliche Bestimmung der Bewußtheit, und somit würden
wir auch von ihren Relaten nur durch einen Schluß etwas wissen. Wenig befrie-
digend sind auch die verschiedenen Begriffsbestimmungen, die der Verfasser gibt,
sowohl die vorläufige des Seelischen als auch die endgültige der Seele. Im Ganzen
glaube ich weder, daß das Buch zur Einführung in die Psychologie sich eignet,
noch daß es den Ansichten des Verfassers Anhänger zu erwerben geeignet ist.
Welches letzten Endes übrigens der Standpunkt des Verfassers über das Verhältnis
von Leib und Seele ist, habe ich nicht finden können. Er bezeichnet ihn zwar
als Theorie von der Seinsverbindung von Leib und Seele und führt ihn auf
Aristoteles zurück, ohne ihn indessen näher zu kennzeichnen.
Berlin. Werner Bloch.
Ranschburg, Paul Dr., Psychologische Studien. Budapest 1913, Buchverlag
der Ung. Gesellsch. für Kinderforschung. 1914.
Der Umfang dieses bedeutenden Werkes ist auf drei Bände berechnet, von
denen der vorliegenden erste sich wieder in vier Hauptteile gliedert.
Im Eingangsteile beschäftigt sich Ranschburg eingehend mit der pädagogischen
Psychologie der Unaufmerksamkeit. Er schildert ihre Hauptformen, ihre Ver-
breitung, Symptome und die Behandlung. Einiges über die Ursachen der Unauf-
merksamkeit sei hervorgehoben. Der Verfasser beschreibt deren drei: physio-
logische, psychologische und pädagogische. Unter den körperlichen Bedingungen
der Unaufmerksamkeit werden genannt: die allgemeine Blutarmut, die Unreife
und die kleineren Grade des Infantilismus, die Mangelhaftigkeit und Unzuläng-
lichkeit der Sinnesorgane. Entwicklungsstörungen fördern gleichfalls die Unauf-
merksamkeit, sie vermögen auch ein schwaches Gedächtnis hervorzurufen. Bei
der aus psychologischen Ursachen entspringenden Unaufmerksamkeit ist an erster
Stelle der geistigen Ermüdung zu gedenken, dann aber auch der persönlichen
Unterschiede, die mit den motorischen, visuellen und auditiven Typen gegeben
sind. Bedeutung kommt auch der Erscheinung der Perseveration zu. Desgleichen
spielt außergewöhnliche Assoziabilität bei der Unaufmerksamkeit eine erhebliche
Rolle. Als pädagogische Ursachen der Unaufmerksamkeit sind zu betrachten:
übermäßige Arbeitsanforderungen samt deren Folgen, dann die relative oder
absolute Schwierigkeit manches Lehrgegenstandes, ferner das Tempo des Unter-
richts, die Einheitlichkeit der Maßnahmen und schließlich das Verhalten des
Lehrers.
Ranschburg versucht nun weiter eine ausführliche Antwort darauf zu erteilen,
warum den Schülern so oft Namen, Daten und anderes bereits innegehabte
Wissen nur schwer wieder in den Sinn kommen. Hierbei werden Arbeiten von
Ribot, Kowalewsky, Gordon, Müller und Pilzecker berührt und wird länger bei
Freuds „Psychopathologie des alltäglichen Lebens" verweilt. Die Auffassung des
Wiener Psychoanalytikers, wonach in jedem Falle das Vergessen durch ein unan-
genehmes Moment verursacht wurde, bekämpft Rauschburg mit seinen eigenen
experimentellen Prüfungen und Erfahrungen, die bezeugen, daß Eigennamen,
Fremdwörter, Entschließungen, Eindrücke usw. wegen der Hemmungen beim
Erfassen schwer zurückgerufen werden. Hierbei veröffentlicht Ranschburg die
Ergebnisse eines interessanten Experiments, das er bei Prüfungen des Gesichts-
und Namengedächtnisses veranstaltete und wobei er zielbewußt mittels Anwendung
Literaturbericht. 603
der Prinzipien von Hemmungen bestimmte Feliler des Gedächtnisses künstlich er-
langte. Er bediente sich mehrerer Photographien, die beiläufig gleich groß und äußer-
lich ähnlich waren. Jedes Bild wurde einzeln 10 Sekunden lang vorgezeigt, sein
Name genannt, man mußte Gesicht und Namen mit voller Aufmerksamkeit er-
fassen. Die Darbietung fand dreimal in derselben Ordnung hintereinander statt.
Die Prüfung der Zuverlässigkeit beim Reproduzieren zeigte klar die hemmende
Wirkung der Gesichts- und Namenähnlichkeiten auf die Reproduktion und spricht
deutlich für die praktische Bedeutung der aus dem assoziativen Zusammen-
klingen entspringenden assoziativen und reproduktiven Hemmungen. Eine
verwandte Lage finden wir bei Melodien, die durch andere gestört werden.
Ranschburg widerspricht Freud weiter .darin, daß das Unbewußte vom Unan-
genehmen vernichtet werde oder daß irgendwelcher sexuelle Hintergrund vor-
handen wäre ; aus seinen an 150 normalen Kindern und Erwachsenen veranstalteten
experimentellen Prüfungen stellt er mit entscheidender Sicherheit folgenden
Satz fest: Die Wahrscheinlichkeit, daß jemand auch bei unmittelbarer Reproduk-
tion, bei Hindernissen eher mit irriger Assoziation reagiert, ist größer als daß
das Individuum gar nicht reagiere, also entweder schweige oder aber sage: ich
erinnere mich nicht.
Beschlossen wird das interessante Kapitel mit hygienischen und pädagogischen
Ausführungen.
Im zweiten Hauptteile des Buches folgen die biologischen Grundlagen für
experimentelle Prüfungen des Gedächtnisses. Ranschburg befaßt sich hier mit
Semons Lehre und begrüßt die von Netschajeff, Lobsien, Ebbinghaus, Kraepelin,
Müller und Schumann ausgebildeten Verfahren. Er veröffentlicht dabei Unter-
suchungen aus seinem Budapester Institute, die mit Mädchen angestellt worden
.sind. Schließlich kommen die mannigfachen Apparate an die Reihe, unter denen
auch das Mnemometer von Ranschburg, das bereits vor mehr als einem Jahr-
zehnt in den Dienst der Wissenschaft gestellt wurde, Erwähnung findet.
Den dritten Teil des Werkes bildet eine Abhandlung, in der der Verfasser bereits
vor 5 Jahren seine Ansichten über eine Mittelschulreform zusammenfaßt. Der
Unterricht in der Mittelschule, so legt Ranschburg dar, ist berufen, die harmo-
nische Ausbildung des Geistes zu bieten. Es kann vor dem Eintritt in die Mittel-
schule eine Elementar-Reifeprüfung gefordert werden, die ausschließlich über die
Denkreife und die elementarsten Grundkenntnisse Auskunft geben, aber keinerlei
besondere Vorbereitung fordern soll. Das Ideal der Mittelschule ist die einheitliche
Mittelschule, welche aber zurzeit in L'ngarn nicht verwirklicht werden kann, weshalb
also die verschiedenen Typen in angängiger Form vertreten sein müssen. Immer
sei das Hauptgewicht darauf gelegt, daß die aus der Vielgestaltigkeit stammenden
gegenseitigen Hemmungen beseitigt werden. .Die Zöglinge müssen mit den Lehr-
gegenständen nicht nur bekannt gemacht werden, sondern einerseits den Zweck
des Lernens und anderseits selbstbewußt d«us Ziel des Lehrfaches und dessen
Wert vom Gesichtspunkte der Ausbildung des Geistes begreifen lernen ; weshalb
sie Ziele und Wege des Wissenserwerbes schon früh erfahren müssen. Dazu ist
erforderlich eine gründliche Ausbildung des Oberlehrerstandes auf psychologischer
Grundlage.
Budapest. K. G. Szidon.
Prof. Dr. Sigm. Freud, Die Traumdeutung. Vierte, vermehrte Aufl. Mit
Beiträgen von Dr. Otto Rank. Leipzig und Wien 1914. Franz Deutike. 498 S.
Die Freudschen Lehren sind — besonders durch die Gegnerschaft, die sie
erfahren haben — so bekannt, daß die neue Auflage der „Traumdeutung", die
in kurzem Abstände auf ihre Vorgängerin gefolgt ist, nur der Ankündigung und
nicht der Besprechung bedarf. Daß das Buch, wie sein Verfasser selbst bemerkt,
schwer lesbar sei, trifft keineswegs zu. Auch wer im neuropathologischen Gebiete
liicht Fachmann ist, vermag es bei der steten Orientierung an konkreten Beispielen
zu meistern und zu ihm Stellung zu nehmen. Aus den jüngsten Forschungen,
die zu anderen Anschauungen, als sie Freud vertritt, geführt haben, sei verwiesen
604 Literaturbericht.
auf die Untersuchungen von dem Assistenten am psychologischen Institute der
Akademie zu Frankfurt, Dr. H. Henning (Der Traum, ein assoziativer Kurz-
schluß, Wiesbaden 1914).
Stollberg i. Sa. Paul F icke r.
K. Brandenberger, Die Zahlenauffassung beim Schulkinde. 1. Heft der Bei-
träge zur pädag. Forschung (Beihefte zum Archiv für Pädagogik); Leipzig 1914;
87 Seiten; Preis 2.50 M.
Die Abhandlung berichtet über drei Versuchsgruppen: 1) Die Vpn. hatten
das eine Mal 4, das andere Mal 7 beliebige Zahlen so rasch als möglich in ent-
sprechend viele Felder einzuschreiben, also eine freie, fortlaufende Repro-
duktion auf dem Gebiet der Zahlwörter auszuführen. 2) Die Vpn. mußten unter
8, 9 oder 10 Aufgaben die schwerste auswählen. Es waren Additionen oder
Subtraktionen oder Multiplikationen oder Divisionen mit einstelligen Zahlen.
Die Aufgaben hatte man auf einer Tabelle so zusammengestellt, daß immer ein
Glied (a) konstant war (a-j-x = y; x-|-a = y; x-|-y = a; a — x = y; x — a = y;
a.x = y; x.a = y; y:a = x; und y : x = a). 3) Es wurde die Reaktionszeit für die
einzelnen Operationen dadurch bestimmt, daß man die Zeit maß, die nötig war,
um die Resultate von 10 Aufgaben anzugeben. Für die Additionen und Sub-
traktionen waren jeweils zehn zweistellige Zahlen derart gewählt, daß auf der
Einerstelle sämtliche zehn Ziffern vertreten waren; die konstante einstellige Zahl
war zu addieren bezw. zu subtrahieren. Bei der Multiplikation mußte die kon-
stante einstellige Zahl mit einer der Zahlen von I — 10 vervielfacht, bei der Di-
vision die ohne Rest teilbare zweistellige Zahl durch eine einstellige geteilt werden.
Die Versuche unter 1) und 2) waren Massenversuche, die unter 3) Einzelversuche.
Die Reproduktions-, Additions- und Subtraktionsversuche erstreckten sich auf
Knaben und Mädchen vom 8. — 15. Lebensjahr (2. — 6. Klasse der Primär- und 1.— 3.
Klasse der Sekundärschule in Zürich), die Multiplikationsaufgaben bloß auf das
10. — 15. Lebensjahr. Die Reaktionszeiten für die Subtraktion, Multiplikation und
Division wurden außerdem nur von den Schülern der drei obersten Jahrgänge
bestimmt. Die 8 Jahrgänge wurden in drei Entwicklungsstufen eingeteilt : I == 8.
und 9., 11 = 10.— 12., in = 13.— 15. Lebensjahr.
Die reproduzierten Zahlzeichen der ersten Versuchsgruppe wurden
mittels des Plus-Minusverfahrens (vgl. diese Zeitschr. S. 146 d. 1. Jg.) daraufhin
untersucht, ob die dadurch bezeichneten Anzahlen eine mehr steigende oder
mehr fallende Reihe bilden und wie groß die Zahlschritte sind. Es ergibt sich,
daß die aufsteigenden Zahlfolgen häufiger sind als die absteigenden; für I ergibt
sich etwa das Verhältnis von 3 : 1, für III das von 2:1; dabei ist dies Verhältnis
auf I für die Mädchen etwas kleiner, auf III etwas größer als bei den Knaben.
Am häufigsten, von I nach III abnehmend, tritt das nächstfolgende, am
nächsthäufigsten von I nach III zunehmend, das übernächste Zahlzeichen auf.
Die meisten Schwierigkeitsurteile fallen in den Additionsversuchen bei
gerader Ausgangszahl auf 9 und 7, bei ungerader Ausgangszahl auf 8 und 9; dabei
tritt bei den Knaben der III. Stufe 7 bzw. 8 häufiger auf als 9; im zweiten Fall
ist sogar 9 weniger häufig als 7. Bei den ersten Subtraktionsversuchen (a — x = y)
kommt kein wesentlicher Unterschied zwischen geraden und ungeraden Zahlen
zum Ausdruck; am häufigsten tritt auch hier 9 und 7 als schwierig auf. Die
zweite Subtraktionsreihe (x — a = y), worin x eine der Zahlen zwischen 10 und 19
war, zeigt im allgemeinen die meisten Schwierigkeitsurteile auf den ungeraden
Zahlen und war ziemlich gleichmäßig verteilt bei gerader Abzugszahl, besonders auf
der III. Stufe, weniger bei ungerader Abzugszahl, namentlich auf den beiden unteren
Stufen. Bei der Multiplikation und Division erhalten die 7er, 9er und 8er Aufgaben
noch eindeutiger als bei der Addition die meisten Schwierigkeitsurteile. Die Ergeb-
nisse sind jeweils in Häufigkeitstabellen und -kurven dargestellt; auch sind noch
die Mittelwerte berechnet — zum Überfluß, denn sie bringen in diesem Fall keines-
wegs das „Wesentliche" zur Darstellung, wie Br. (S. 31) meint; das tun hier viel
besser die Kurven. Das Resultat läßt sich, glaube ich, allgemein dahin zusammen-
Literaturbericht, 605
fassen: Die in diesen Operationen hervortretenden Zahlauffassungen
enthalten ein Schwierigkeitsmoment, das von der Größe der Zahl
direkt, von ihrer Teilbarkeit und von ihrer Beziehungzum dekadischen
System reziprok abhängt; im Laufe der Entwicklung machen sich die
an zweiter und wohl auch an dritter Stelle genannten Bedingungen
mehr und mehr geltend, bei den Mädchen weniger als bei den Knaben.
Die Reaktionsversuche bilden bloß eine Art Kontrollversuche; sind aber
auch als solche, wie Br. selbst hervorhebt (S. 78), unvollständig. Die Reaktions-
zeit nimmt, insbesondere bei den Additionen, beträchtlich ab mit dem Alter; sie
wächst jeweils mit der Größe der Operationszahl (x); die 7er Aufgaben treten
entsprechend der Schwierigkeitsbeurteilung zuweilen als die längsten auf, doch
nicht immer und nicht beträchtlich. Ein strenger Zusammenhang zwischen
Schwierigkeitsbeurteilung und der Ausführungszeit besteht nicht. Zwischen
Knaben und Mädchen zeigen sich hier, wie auch sonst in diesen Untersuchungen,
interessante Struktur- und Entwicklungsunterschiede. Daß die Leistungs ver-
suche, wie z. B. auch die Reaktionsversuche, weniger geeignet sein sollen zur
Untersuchung der Denkvorgänge als die Auffassungs- und Beurteilungsversuche,
weil bei jenen „Gedächtnis" und „Übung" eine große Rolle spielen, bei diesen
nicht, dürfte ein Irrtum sein. Den Versuchsergebnissen einer in Aussicht ge-
stellten, mehr praktisch gerichteten Untersuchung wird man mit Interesse ent-
gegensehen.
Ich habe den wesentlichen Inhalt der Br.'schen Untersuchungen so zu geben
versucht, wie er sich unabhängig von der Theorie lediglich auf Grund der Ver-
suchsergebnisse darbietet. Br. gibt nun seinen Resultaten immer eine bestimmte
Deutung. Dies ist an sich kein Vorwurf, nur muß man die Berechtigung der
Deutung darlegen. Das hat Br. unterlassen. Die Reproduktionen der 1, Versuchs-
gruppe sind doch nicht so selbstverständlich als solche von Zahlbeziehungen aufzu-
fassen, wie dies Br. tut; es ist erst zu untersuchen, ob diese Reproduktionen Zahl-
beziehungen enthalten oder als Folge früher erlebter verständlich gemacht
Nverden können. Das setzt aber eine reinliche phänomenologische Analyse dieses
' '.eproduktionserlebnisses voraus. Daß dies umfangreiche psychologische Selbst-
'. . ahrnehmungen der Schüler nötig macht, glaube ich nicht; nur weitergehende An-
gaben, als Br. sich über den zum Resultat führenden Weg machen ließ (S. 81 f.).
Analoges gilt von den weiteren Versuchen; doch liegt es im Wesen des Versuchs-
erlebnisses, daß hier eine Zahlbeziehung eher aktuell wird. Es dürfte indessen
kaum einem Zweifel begegnen, daß man alle diese Resultate gewinnen könnte
flurch eine entsprechend durchgeführte mechanische .Einübung der Zahlwörter,
Wäre Br, in der angedeuteten Richtung vorgegangen, so hätte auch die Deutung
seiner Ergebnisse einen weniger unkritischen und dogmatischen Charakter be-
kommen. Da er die sicherlich wertvollen, aber wie ich glaube nicht ausreichenden
theoretischen Feststellungen über das Wesen der Zahl von G, F, Lipps seinen
Interpretationen ohne weiteres zugrunde legt, so sieht er in seinen Ergebnissen
zugleich eine Widerlegung der „Anschauungsmethodiker", Übrigens schickt es
sich nicht, von dem „borniertesten" Anschauungsmethodiker zu sprechen (S. 12),
und einige von ihnen werden es vermutlich auch gegenüber manchen Deutungen
Br,8 „wunderbar" finden, „daß man eine solche Ansicht in unserem Jahrhundert
als wissenschaftlich aufstellen kann" (S. 17); z. B. die Abhängigkeit der Schwierig-
keit von der Größe des Intervalls als Beweis dafür, daß die Zahlen ursprünglich
als Glieder einer Reihe aufgefaßt werden. Hoffentlich zeigt die nächste Arbeit
'.i-.seine echte psychologische Betrachtung und Interpretation, nämlich eine
solche, die von der Achtung vor den vorliegenden psychischen Tatbeständen ^-
leitet ist; denn in dieser Arbeit ist davon noch nicht viel zu verspüren.
G, F, Lipps, unter dessen Einfluß die Br.sche Arbeit zustande gekommen
ist, hat zu diesem Heft eine kurze P^inführung geschrieben. Er kündigt da noch
mehrere mit dieser zusammenhängende Untersuchungen an, die die Unterlage
für den Aufbau einer wissenschaftlichen Pädagogik gewinnen lassen sollen; dabei
•i die Ansicht bestimmend, „daß die Pädagogik zunächst durch die Psychologie
606 Literaturbericht.
aber weiterhin zugleich mit der Psychologie durch die Philosophie ihre Begrün-
dung finde". Die Pädagogik sei „derjenige Zweig der angewandten Psychologie ,
der die Entwicklung des (seelischen und geistigen, als Bewußtsein sich kundge-
benden) Lebens in der heranwachsenden Generation der Gesellschaft erforscht";
dabei beruhe das seelische Leben auf dem Organismus des Leibes, das geistige
auf dem Zusammenhang mit anderen Wesen. Da es nun die Psychologie und
Pädagogik mit dem im Bewußtsein sich kundgebenden Leben zu tviu habe, so
werde damit zugleich ihre Loslösung von der Physiologie und Biologie, Hygiene
und Gesundheitspflege vollzogen. Die für die psychologischen und pädagogischen
Untersuchungen wesentliche Auffassung alles Lebens bleibe stets von philoso-
phischen Gesichtspunkten beherrscht. Da es nicht gut durchführbar sei, ein
Individuum in geeignet gewählten Zeitabschnitten zur Äußerung zu veranlassen, so
seien wir genötigt, eine Vielheit von gleichartigen Individuen, wie sie in der Schul-
klasse gegeben sind, für jede Entwicklungsstufe heranzuziehen, wenn wir den Gang
der Entwicklung kennen lernen wollen. Zur Verdeutlichung weist dann Lipps
auf die Br.'schen Untersuchungen hin und sieht in ihnen den „Nachweis, daß
eine Entmcklung stattfindet, die von der ursprünglich vorhandenen und anfäng-
lich allein maßgebenden Auffassung des einfachen reihenförmigen Fortschreitens
zu einer, durch die Ausführung der Zahloperationen bedingten Auffassung der
mannigfaltig sich verwebenden, die reihenförmige Anordnung durchbrechenden
Zahlbeziehungen hinführe. Schon das bloße Hinschreiben von Zahlen zeige klar
und deutlich (vom Ref. gesp.), daß „die ursprüngliche Auffassung an die Form
der Reihe gebunden ist", sie habe „somit auch für den Rechenunterricht den
Ausgangspunkt zu bilden". Diese Verdeutlichung dürfte den allgemeinen pro-
grammatischen Ausführungen keine große Werbekraft verleihen; denn so bringt
man höchstens wertvolle theoretische Untersuchungen und philosophische Er-
örterungen nur in Misskredit.
Tübingen. Gustav Deuchler.
Richard Hönigswald, Studien zur Theorie pädagogischer Grundbe-
griffe. Eine kritische Untersuchung. Stuttgart 1913. Verlag W. Spemann.
111 Seiten. 3,00 M.
In dieser schwer lesbaren Schrift wird unter logischen und erkenntnis-
theoretischen, phänomenologischen und psychologischen Gesichtspunkten der
Begriff der Anschauung — dieser arg mißhandelte didaktische Grundbegriff —
scharfsinnig analysiert und wird zwischendurch und anschließend eine ebenso
geartete Zergliederung anderer unterrichtswissenschaftlicher Begriffe — u. a. des
Begriffs des Wissens und Wissenserwerbes, des Erlebens und der Erlebbarkeit
— versucht. Da hierbei die Methode und die Ergebnisse der Denkpsychologie
Verwendung finden, ist es ohne ein Verständnis für die Terminologie dieses jüngsten
Teilgebietes der psychologischen Forschung kaum möglich, den in letzte Tiefen
vordringenden Gedankengängen des Verfassers zu folgen, weshalb empfohlen sei,
vorerst des gleichen Verfassers Arbeit über die „Prinzipien der Denkpsycho-
logie" (Berlin 1913) zu studieren. Greifbare Ergebnisse für das pädagogische
Tun ergeben sich aus den kritischen Untersuchungen Hönigswalds nicht. Diese
Unfruchtbarkeit hat ihren Grund nicht etwa darin, daß die philosophischen Per-
spektiven, auf die Hönigswald seine Erörterungen eingestellt hat, überhaupt für die
Pädagogik wertlos seien, sondern darin, daß von dem Verfasser die Selbständigkeit
der pädagogischen Begriffswelt, in der „Anschauung", „Erleben" u. s. f. ihre eigene
Bedeutung haben, verkannt wird und daß er dort, wo er auf didaktische Folge-
rungen zukommt — vergl. z. B. die Abschnitte über die „Frage" — im Gebiete der
modernen Unterrichtslehre offenbar nicht zu Hause ist.
Leipzig. Otto Scheibner.
Karl Brandi, Unsere Schrift, Drei Abhandlungen zur Einführung in die Ge-
schichte der Schrift und des Buchdrucks, 80 S., Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen. Geb. 3.20 M., brosch. 2.60 M.
\
Literaturbericht. 607
Gegenüber den zahlreichen Schriften der Vereine für Deutsch- und Lateinschrift,
die sich bitter befehden, versucht dieses Buch des Göttinger Kunsthistorikers in rein
sachlicher, historisch objektiv würdigender Weise den Werdegang unserer heutigen
Druck- und Schreibschrift darzustellen. Die erste der drei Abhandlungen, die das
Buch umfaßt: „Schrift und Kultiu-" gibt einen Längsschnitt dtirch die ganze Ent-
wicklung. Danach muß als Ausgangsform sämtlicher abendländischer Schriften
das alt-lateinische Alphabet gelten, wie es innerhalb des weströmischen Reiches ver-
breitet war und von dort seitens der Germanen übernommen wurde. Aus ihm leitet
sich auch die sog. karolingische Minuskel des 8. und 9. Jahrhunderts ab, die jene
alt-lateinische Schrift verdrängte. Dm'ch einen fortgesetzten Prozeß der Brechmig
wandeln sich bis zum 12. Jahrhtmdert die runden Formen der Minuskel zu den be-
kannten eckigen, sog. ,, gotischen" Schriftzeichen, die also schon vor dem Aufkommen
und der Blüte des gotischen Stils fertig sind und erst sekundär von demselben beein-
flußt werden, so daß dann die mannigfachsten Formen entstehen. Der beginnende
Buchdruck übernahm diese zunächst ohne wesentliche Änderungen. Mit dem Auf-
blühen des Humanismus werden dann die alten Handschriften wieder bekannt. Nun
waren aber die antiken Autoren durch Manuskripte überliefert, die in karolingischer
Minuskel geschrieben waren; irrtümlicherweise hielten die Humanisten diese für die
echt antike Schrift, erneuerten ihren Gebrauch und belegten sie mit dem Ehrennamen :
„Antiqua" im Gegensatz zu der ,, Gotischen". Von der Buchschrift abweichend hatte
sich parallel laufend in immer flüssiger werdenden Formen eine Geschäftsschrift
entwickelt, die nach Erfindimg des Buchdruckes nun ohne die Wechselwirkung zur
Buchschrift noch freier wurde. Durch die Einführung der ,, Antiqua" bildete sich
hier nun eine neue Kursivform der Antiqua heraus. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts
ist die Ausbildung der vier Schriften abgeschlossen. Das ist das wesentlichste.
Im zweiten Aufsatze wird dann die ,, Geschichte der Buchstabenformen" im
einzelnen näher behandelt. Gerade dieser Abschnitt ist besonders interessant, doch
können wir keine Einzelheiten mitteilen. Hier wie auch sonst illustrieren treffliche
Abbildungen den Text, so daß man im ganzen eine Anschauung von den frühesten
Schriften bis zu den modernsten Typen unserer führenden Gießereien bekonunt. In
der letzten Abhandlung: ,, Schriftzwecke und Stilgesetze" nimmt der Verfasser
auch zu dem Deutsch-Latein- Schrift- Streit Stellung und kennzeichnet die modernste
Entwicklung, indem er für die Druck- wie für die Schreibschrift eine fruchtbare
Wechselwirkung der Formen jener beiden Alphabete konstatiert. „Die historische
Erkenntnis vermag hier wie überall ebenso von äußeren Abhängig-
keiten zu befreien, wie die höhere Gebundenheit zu lehren." Und die
unbefangene Betrachtung zeigt, daß die kleinen deutschen Druckleltern den kleinen
lateinischen Schreibbuchstaben vielfach näher stehen als den deutschen; der Haupt-
unterschied der Alphabete liegt in den Versalien. In der sog. ,,Schwabacher" aber
haben wir eine Schrift, die zwischen beiden gut vermittelt. Es wäre nun schon rein
künstlerisch barbarisch gedacht, wollte man den wunderbaren Reichtum an Formen,
wie ihn die ,, deutsche" Fraktur in sich birgt, durch eine Verordnung vernichten und
damit auch die äußerst fruchtbare Wechselwirkung zwischen Antiqua und Kursiv,
die immer mehr hervortritt, hemmen. Es muß eine möglichst große Ausdrucksmannig-
faltigkeit für die Druckschrift unbedingt gefordert werden, damit sie sich in feinster
Weise den jeweiligen Zwecken der Drucksache anpassen kann. Anders liegt es für
die Schreibschrift. Hier sind keine künstlerischen Werte zu schützen, rmd die Er-
lernung nur eines Alphabetes wäre pädagogisch vorteilhaft.
Buenos-Aires. Carl Jesinghaus.
Robert Bloch, Die Grundlagen der Rechtschreibung. Eine Darstellung
des Verhältnisses von Sprache und Schrift. Mit 4 Abbildungen. R. Voigt-
länders Verlag. Leipzig 1914, 80 S., ungeb. 1,20 M.
Eine gediegene und in mustergültigem Deutsch verfaßte Arbeit, in der aus
guter Sachkennerschaft heraus die Rechtschreibung als fachwissenschaftliches
Gebiet dargestellt wird und die dabei besonders der geschichtlichen Entwicklung
ihres Gegenstandes nachgeht. Die Psychologie und Didaktik der Rechtschreibung
ß08 Literaturbericht.
finden keine Berücksichtigung, so daß sich im Rahmen dieser Zeitschrift ein
näheres Eingehen auf den Inhalt der gut ausgestatteten Schrift erübrigt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Gesamtunterricht im ersten und zweiten Schuljahr. Zugleich ein Be-
richt über die Leipziger Reformklassen. Herausgegeben von Mitgliedern der
Methodischen Abteilung des Leipziger Lehrervereins. Leipzig 1914. 169 Seiten.
Geh. 2,50 M., geb. 3,00 M.
Unter Gesamtunterricht verstehen die Leipziger Reformer des ersten Unter-
richts eine wesentlich andere Veranstaltung als Berthold Otto in seiner „Er-
ziehungsschule", in der die gesanitunterrichtlichen Gesprächsstunden neben plan-
mäßigem Fachunterricht stehen, während die Leipziger so weit als nur möglich die
Spaltung der Schularbeit in „Fächer" aufheben wollen und statt dessen lebendige
,,Sacheinheiten" fordern, die zur Tätigkeit des Lesens, Schreibens, Rechnens,
Singens, Malens und Formens anreizen und sie verbinden. Die theoretische Be-
gründung für dieses didaktische Unternehmen ist seinerzeit in der vom Leipziger
Lehrerverein herausgegebenen Schrift „Die Arbeitsschule" gegeben worden, worauf •
nun die vorliegende Veröffentlichung einen Einblick in die praktische Verwirklichung,
wie sie in Leipziger Versuchsklassen geschah, ermöglichen will. Auch wem von vorn-
herein der Gesamtunterricht dieser Art als gefährliche Verirrung eines pädago-
gischen Psychologismus erscheint, dem mag dieser Bericht für die Überprüfung
seines Urteils willkommen sein. Schade, daß von den Leipzigern nicht auch aus-
führliche Niederschriften — stenographische Unterrichts-Protokolle — charak-
teristischer Szenen aus dem Gesamtunterricht im Arbeitsleben gegeben sind; sie
werden heute von den wissenschaftlichen wie auch praktischen Pädagogen
(Deuchler, Henseling, Fischer) als Ersatz für den meist nicht möglichen Gastbesuch
in der Schulklasse immer dringlicher verlangt.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
E. H. Wohlrab, Lebensvoller Unterricht auf der Unterstufe unserer
deutschen Lern- und Arbeitsschule. Langensalza 1913. Julius Beltz. 151 S.
2,50 M., geb. 3,20 M.
E. H. Wohlrab, Zum dritten Schuljahre. Mit 36 Abb. Leipzig 1913. Wun-
derlich. 198 S. 2,40 M., geb. 3,00 M.
Wohlrab hat die Arbeitsschulidee besser verstanden, als so mancher, der erst
alle möglichen Kurse mitmachen zu müssen glaubt, ehe er den Mut zum Anfangen gewinnt.
Auch diese beiden Schriften zeigen wieder, wie bei allem Manualismus oder vielmehr
über allem manuellen Tun die Idee der Erziehung, der geistigen, sittlichen, ästhetischen
und religiösen Bildung, steht und wie eben die Arbeitsschule diesen Ideen leichter
zur Verwirklichung verhilft als die alte Hörschule. Das zweite der beiden Bücher
schließt sich an des Verfassers „Jahresarbeit einer Elementar klasse" und „Zweites
Schuljahr" an. In prächtigen, lebensvollen Ausschnitten werden die einzelnen Fächer
vorgeführt. Das erste der beiden Bücher ist mehr eine Gesamteinführung in die
Praxis der Arbeitsschule — nebenbei bemerkt: bei alten Plänen — und ist zunächst
für den bestimmt, der sich mit den neuen Gedanken allgemeiner bekannt machen will.
Leipzig. Johannes Kühnel.
Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries) in Leipzig.
üniversity of Toronto
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