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ZEITSCHRIFT FÜR
PÄDAGOGISCHE
PSYCHOLOGIE
UND EXPERIMENTELLE PÄDAGOGIK
HERAUSGEGEBEN VON
O. SCHEIBNER UND W. STERN
UNTER REDAKTIONELLER MITWIRKUNG VON
A. FISCHER UND H. GAUDIG
XIX. JAHRGANG
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1918
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
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Inhaltsverzeichnis.
A. Abhandlungen.
Seite
Zum Problem der Schalklasse. Von Oberschulrat Prof. Dr. H. Gaudig in
Leipzig 1
Über Persönlichkeitsldeale im höheren Jugendalter. Statistische Untersuchung
über die Ideale von Schülern an norwegischen Lehrerschulen. Von
Dr. M. L. Reymert in Christiana 10
Das musikalische Wunderkind. Von Privatdozent Dr. G6za Revecz in
Budapest 29
Ein unterrichtspsychologischer Grundsatz über die Aneignung verwechselbarcr
Begriffe. Von Professor O. Ohmann in Berlin 34
Einheitskindergärten? Von Nelly Wolffheim in Berlin 41
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher. Von Prof. Dr. W. Stern in
Hamburg . . 65
Über die Anwendung zweier psychologischer Methoden bei der Aufnahmeprüfung
in ein Lehrerinnenseminar. Von O. Melchior und A. Penkert in
Hamburg 100
Die psychologischen Schüleruntersuchungen zur Aufnahme in die Berliner Be-
gabtenschulen. Von Dr. W. Moede und Dr. C. Piorkowski in
Berlin 127
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. Von Prof. Dr.
W. Stern 132
Kindergartenfragen nach dem Kriege. Von Universitätsprofessor Dr. A. Fi s c h e r
in München 145
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen. Von Henriette Gold-
schmidt in Leipzig 161
Zur Forderung einer Psychotcchnik der Beobachtung. Von Präparandenlehrer
W. J. Ruttmann in Marktsteft 172
Ergänzung von Stichworten zu einer ganzen Geschichte. Eine Nachprüfung der
Ergebnisse E. Meumanns auf Grund seiner „Kombinationsmethode".
Von Privatdozent Dr. G. Weiß in Jena 176
Probleme und Apparte zu einer experimentellen Pädagogik. Von Privatdozent
Dr. H. Rupp in Berlin 179; 245; 286; 395
Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten. Gut-
achtliche Äußerungen zu der päd. Konferenz im Preuß. Ministerium
der geistl. \ind Unterrichts-Angelegenheiten am 24. u. 25. Mai 1917.
Vorbemerkung. Von der Schriftleitung 209
1. Über Ordinariate für Pädagogik in den philosophischen Fakultäten.
Von Universitätsprofessor Dr. E. Becher in München 210
2. Thesen über pädagogische Professuren. Von Universitätsprofessor
Dr J. Cohn in Freiburg 214
3. Pädagogikprofessuren. Von Dr. R. Lehmann, Prof. an der Akademie
in Posen 219
4. Thesen betr. die Pflege der Erziehungswissenschaft an der Universität.
Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. P. Natorp in Marburg 222
5. Pädagogik als Unterrichtsfach. Von Prof. Dr. W. Stern in Ham-
burg 225
IV
Inhaltsverzeichnis
Seite
6. Leitsätze zur Hochschulvertretung der Pädagogik. Von Universitäts-
professor Dr. E. R. Jaensch in Marburg 273
7. Zur Frage der Lehrstühle für Pädagogilc an den Uniyersitäten. Von
Schulrat K. Muth es ins, Seminardirektor in W^eimar 275
8. Zum Begriff der Hochschulpädagogik nach den Bedürfnissen der Jugend-
und Volkserziehung. Von Geheimrat A. Sickinger, Stadtschulrat
in Mannheim 279
9. Zur Frage der Vertretung der Pädagogik an der Universität. Von
Privatdozent Dr. M. Brahn in Leipzig 417
Anhang. Die Leitsätze der Konferenz. Von Geh. Reg.-Rat Prof. Dr,
E. Troeltsch in Berlin, Prof. Dr. J. Ziehen in Frankfurt,
Universitätsprofessor Dr. E. Spranger in Leipzig 230
Über das Bauen und die Bauspiele von Kindern. Von Prof. Dr. A. Fischer in
München 234
Zur Geschichte der Kinderpsychologie und der experimentellen Pädagogik. Von
Lehrer Dr. H. Götz in Leipzig 257
t]ber Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern. Von K. Köhn in
Tübingen 296
Bemerkungen zur Frage der Begabtenauslese. Von Dr. phil. et med. E. Stern
in Straßburg 332
Von der Denkverfassung der deutschen Seele in der Zeit der großen Krisis. Von
Oberschulrat Prof. Dr. H. Gaudig in Leipzig 353
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften und als
Erziehungsziele. Von Universitätsprofessor Dr. F. E. O. Schult ze in
Frankfurt a. M 360
Über Spielzeug als Erziehungsmittel und die Einrichtung öffentlicher Spielzinmier
und Beobachtungsstätten. Von Seminaroberlehrer Prof. O. Frey in
Leipzig 373
Verzeichnis der Verfasser.
Seite
Becher, Erich 210
Brahn, Max > 417
Cohn, Jonas 214
Fischer, Aloys 145, 234
Frey, Oskar 373
Gaudig, Hugo 1, 353
Goldschmidt, Henriette .... 161
Götz, Hermann 257
Jaensch, E. R 273
Köhn, Karl 296
Lehmann, Rudolf 219
Melchior, 0 100
Moede, Walther 127
Muthesius, Karl 275
Seite
Natorp, Paul 222
Ohmann, 0 34
Penkert, O. 100
Piorkowski, Gurt 127
R6v6sz, G6za 29
Reymert, L 10
Rupp, Hans . .'. .176,245,286,395
Ruttmann, W. J 172
Schnitze, F. E. Otto 360
Sickinger, Anton 279
Stern. Erich 332
Stern, William 65, 132, 225
Weiß, Georg 176
Wolffheim, Nelly 41
B. Kleine Beiträge und Mitteilungen.
(Wegen Raummangels beschränlit worden.) Seite
Die Pädagogik in der neuen preußischen Oberlehrerprüfung 44
Die Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen Hochschulen
im Winterhalbjahr 1917/18 • • . 46
Der zweite Ungarische Landeskongreß für Kinderforschung 49
Breslaucr Begabtenauslese 143
Förderung begabter Kleinstadt- und Landkinder . 143
Inhaltsverzeichnis V
Seite
Entwurf eines psychographischen Beobachtungsbogens für begabte Volksschüler
in Berlin 144
Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen UniTersitäten Im
Sommerhalbjahr 1918 . . . 418
Pädagogische Abteilung im Niederländischen Museum für Bitern und Erzieher . 422
Bajrisches Schulmuseum für Zeichnen 423
Die Ausbildung der weiblichen Jugend in der Säuglings- und Eleinkinderpflege 425
Sammelklassen für schwerschwachsinnigo Kinder 425
Begabungsproblem als Arbeitsthema in der Vereinigung für Einderkunde in
Frankfurt 426
Fragebogen zur Pädagogik des Militärs 426
Nachrichten 50. 428
Inhalt der Nachrichten.
Seite
Seite
Hochschulsonderkurs für Jugend-
görichtsarbeit in Berlin .... 51
Ein Landesschulrat für Bayern . 50
Pädagogische und staatswissen-
schaftliche Fortbildungskurse für
Lehrer in Düsseldorf 51
Zulassung studierender Volksschul-
lehrer zur Promotion an der Uni-
versität Jena 51
Ein Preisausschreiben zum Problem
der Begabtenauslese 272
K. Bühler 428
W. Hellpach 428
G. Kerschensteiner 428
Th. Litt 428
K. Roller 428
Th. Ziegler f 428
C. Literaturbericht. 1)
1. Sammelberichte.
Abhandlungen aus der Zeitschrift für angewandte Psychologie. Bd. 11 u. 12.
Von W. J. Ruttmann 268
Die kindliche Phantasie. Von Ingeborg Schönfeld 236
n. Einzelberichte und Besprechungen.
Balsiger, Einführung in die Seelenkunde. . . 60
Bernfeld, S., Über Schülervereine 269
Blüher, Hans, Die Intellektuellen und die Geistigen 206
Br ohmer, Dr. P., Seminarlehrer in Eilenburg, Sexuelle Erziehung im Lehrer-
seminar 208
Buchberge r, Dr., Die Jugendfürsorge und Fürsorgeerziehung 63
Buchenau, Dr. Arthur, Kurzer Abriß der Psychologie 59
Chotzen, Dr. med. Mart., Die Notwendigkeit einer häuslichen sittlichen
Erziehung 208
Dessoir, Max, u. Me'nzer, Paul, Philosophisches Lesebuch 430
Deuchler,G., Über die Bestimmung von Rangkorrelationen aus Zeugnisnoten 272
Dittrich, Dr. phil. Ottmar, Prof. an der Univ. Leipzig, Individualismus,
Universalismus, Personalismus . 205
Dubois, Paul, Über den Einfluß des Geistes auf den Körper 432
Franken, A., Bilderkombination. Ein Beitrag zum Problem der Intelligenz-
prüfung . . 271
Haas, W., Die Seele des Orients 431
Häb erlin, Paul, Das Ziel der Erziehung 59
1) Der Literaturbericht mußte wegen Raummangels t}eschrankt werden ; er erfährt im folgenden Jahr-
gang seine Ergänzung.
VI Inhaltsverzeichnis
Seite
Hey manns, G., u. Wiersma, E., Verschiedenheiten der Altersentwickelung
bei männlichen und weiblichen Mittelschülern 270
Huth, Albert, Ein Jahr Kindergartenarbeit . 348
Giese, Fritz, Deutsche Psychologie 429
,, „ Neudrucke zur Psychologie 430
Joteyko, J., Jer congres International de Pödologie tenu a Bruxelles . . 52
Jaederholm, A., Untersuchungen über die Methode Binet-Simon .... 269
Kovacs, S., Untersuchung über das musikahsche Gedächtnis 269
Kesseler, Dr. Kurt, Grundlinien einer deutsch-idealistischen Pädagogik 57
L ans c hau, Dr. Thomas, Deutschunterricht als Kulturkunde 351
Lipmann, O., Psychische Geschlechtsunterschiede 60
„ „ Die Entwicklung der grammatisch-logischen Funktionen . .271
Lobsien, Marx, Die Lernweisen der Schüler 61
„ „ Einfluß des Tempos auf die Arbeit der Schulkinder . . 271
Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend 208
Moede, Walther, Die Untersuchung und Übung der Gehirngeschädigten
nach experimentellen Methoden 205
Nagy, Ladislaus, Ergebnisse einer Umfrage über die Auffassung des
Kindes vom Kriege '. . . . 206, 270
Pannenberg, H. J. u. W. A., Die Psychologie des Zeichners und Malers 271
Pestalozza, Dr. phil. August Graf von, Aufgabe der geschichtlichen Dar-
stellung der Pädagogik 352
Pfeifer, Dr. phil. et med. A., Das menschliche Gehirn 205
Poppelreuter, Aufgaben und Organisation der Hirnverletzten-Fürsorge 62
Schäfer, Wilhelm, Lebenstag eines Menschenfreundes . 64
Schmidt, Heinrich, Geschichte der Entwicklungslehre 429
Schultze, F. E. Otto, Eine neue Weise der Auswertung der Intelligenz-
tests (Methode der Intelligenzzensur) 269
Schüßler, H., Das unmusikalische Kind . 269
„ „ Ist die Behauptung Meumanns richtig: Kinder können im
allgemeinen vor dem 14. Lebensjahre nicht logisch schließen? . . 270
Stern, W., Der Intelligenzquotient als Maß der kindlichen Intelligenz, ins-
besondere der unternormalen 269
„ „ Über Alterseichung von Definitionstests 269
Verworn, Max, Prof. an der Universität Bonn, Die Frage nach den Grenzen
der Erkenntnis 205
» „ Die biologischen Grundlagen der Kulturpolitik 428
,. „ Zur Psychologie der primitiven Kunst 432
Warschauer, E., Rechtspsychologische Versuche an SchuUiindern . ... 270
Warstat, Dr. Willi, Oberlehrer in Altona-Ottensen , Die Schulzeitschrift
und ihre Bedeutung für Erziehung, Unterricht und .Jugendkunde 207
Wiese, Anna, Zur Frage nach den Geschlechtsdifferenzen im akademischen
Studium. Ergebnisse einer Studienenquete 270
Zander, R., Vom Nervensystem, seinem Bau und seiner Bedeutung für Leib
und Seele im gesunden und kranken Zustand 432
Zum Problem der Schulklasse.
Von Hugo Gaudi g.
Wer dem Schulleben der Gegenwart weder zu fern noch zu nahe steht,
wird mehr oder weniger deutlich erkennen, daß es sich in der Zukunft
nicht um einzelne Besserungen, sondern um grundlegende Wandlungen
handeln muß. Auf den Kräftedurchhruch, der zur Durchführung der
unbedingt notwendigen Wandlungen des deutschen Schulwesens nötig
ist, hätten wir vielleicht vergebens oder jedenfalls sehr lange warten müssen,
wenn der Krieg uns nicht in eine Lage gebracht hätte, in der wir der For-
derung einer allgemeinen Steigerung der deutschen Volkskultur unbedingt
genügen müssen. Solche allgemeine Steigerung aber ist undenkbar ohne
eine entscheidende Steigerung des mächtigen Kulturwerkzeugs der Schule.
Die Gesamtkräfte, die sich an die Kultursteigerung setzen werden, können
unmöglich an der Schule vorbeiwirken. Die deutsche Lehrerschaft wird
unter die wirkenden Kräfte nur so weit rechnen, als sie die Schule unter
hohen, allgemeinen kulturellen Gesichtspunkten anzusehen vermag. Es
wäre tragisch für den deutschen Lehrerstand, wenn sein Denken, in der
Vergangenheit der deutschen Schule oder in einigen über Gebühr wichtig
genommenen Teilfragen befangen, unter der Linie bliebe, bei der das
Kulturdenken und Kulturschaffen der Zukunft einsetzt.
Unsere Gesamtanschauung von der Schule leidet — das sei hier nur
kurz gesagt — stark unter der Auffassung der Schule als einer ,, Anstalt".
Wir müssen von der Zukunft fordern, daß die Schule als ein kultureller
Lebenskreis erfaßt und daß mit der Entfaltung von Schulleben voller
Ernst gemacht wird. Der deutschen Schule müssen klare Lebensziele
gesteckt werden, und auf diese Lebensziele hin müssen sich starke Lebens-
kräfte auswirken. Alles, was innerhalb der bisherigen Schule der Ver-
lebendigung fähig ist, Menschen und Einrichtungen, muß verlebendigt
werden • — zu einem Höchstmaß inneren Lebens: Menschen und Einrich-
tungen, Einrichtungen und Menschen, eins mit dem anderen. So fordert
die Schule der Zukunft z. B., wenn ich recht sehe, daß wir Lehrer mehr
als bisher mit unserem Personalleben in das Schulleben eingehen, daß
das Schul jenseits unseres Daseins sich verringert zugunsten unseres Schul-
lebens. Oder irre ich mich, wenn ich meine, unser Dasein sei noch im
allgemeinen zu schulfrei, nicht tief genug eingetaucht in das Leben der
Schule ? Nur eine Gewissensfrage an uns : Läßt uns die Schule nicht noch
zu leicht los in ganz schulfremde Gebiete ? Daß ich nicht den Nur-Lehrer
will, davor schützt mich meine Forderung, der Lehrer solle Vollpersönlich-
keit sein. Aber ob wir nicht, namentlich mit unserem Gefühls- und Affekt-
leben, viel tiefer in die Schule eintauchen müßten? Und unsere Schüler ?
Soll uns auf die Dauer das Schulleben namentlich der Schüler der höheren
Schulen genügen? Tauchen sie tief genug in das Schulleben ein? Ist
nicht der Mangel wertvoller Schulgesinnung, wertvoller Schulstimmung,
Zeitschrift f pädagog. Psychologie. 1
2 Hugo Gaudig
wertvollen Schulwillens unerträglich ? Unerträglich vor allem das geringe
Maß persönlichen Wesens, mit dem sie in das Schulleben eingehen? Wie
die Menschen, so sind die Einrichtungen mit einem Bestmaß von Leben
zu erfüllen. Sie müssen dem Gesamtleben der Schule leisten, was sie nur
irgend leisten können.
Eine der ,, Einrichtungen", die m. E. bisher nicht entfernt ihren vollen
Schulwert, also ihren vollen — Kulturwert entfaltet hat, ist die Schul-
klasse. Man kann das bereits an der pädagogischen Literatur erkennen,
die das große Thema Schulklasse nur ganz kümmerlich behandelt. Mehr
noch leider an dem Leben, das die Schulklasse im allgemeinen führt.
Hier liegen schöne Aufgaben für unser zukünftiges pädagogisches Denken ;
vor allem aber für unser pädagogisches Beobachten; was sage ich Be-
obachten? Vor allem für unser pädagogisches Erleben. In Wahrheit:
Es gibt hier viel Unerlebtes zu erleben ! Wenigstens für mich.
Aus der Zukunft winken schöne Möglichkeiten. Wenn es uns deutschen
Lehrern gelänge, das Klassenleben so wachzurufen, wie es mir erreichbar
erscheint, so hätten wir der deutschen Gesamtkultur einen wesentlichen
Dienst getan; nicht nur der intellektuellen Kultur, sondern vor allem
der sozialen Kultur auf allen Gebieten, auf denen das Leben sich sozial
gestaltet; so auf dem Gebiete der Bildung im weiteren Sinne, auch der
körperlichen, auf dem Gebiete des allgemeinen Arbeitslebens, auf dem
Gebiete des politischen und nicht zuletzt des rehgiösen Lebens.
Bei der Schulklasse denkt man gemeinhin an eine Verknüpfung von
einzelnen Schülern, die demselben Bildungsziele zugeführt werden sollen.
Man faßt die Klasse als ein ,, Aggregat", wobei die Bedeutung von grex
manchmal mehr mitschwingen mag, als es für die Verknüpfungseinheit
.gut ist; die Klasse erscheint also im wesentlichen als ein Mittel der Zu-
sammenfassung einzelner Schüler zur Erreichung eines Bildungsziels.
Nun zwingt allerdings die einfache Tatsächlichkeit dazu, das klassen-
mäßige Zusammensein der Schüler in Betracht zu ziehn, da dies Zusammen-
sein die Art des Bildungserwerbs gegenüber dem Einzelunterricht ganz
wesentlich ändert. Die Klasse bleibt aber ledighch no^ch Mittel, noch
,, Vehikel" der Bildungsarbeit. Die Frage geht hierbei dahin, wie die Bildungs-
arbeit der Klasse organisiert werden muß, damit das Bildungsziel erreicht
wird. Dies Ziel kann dann entweder mehr durchschnittsmäßig oder mehr
individualistisch bestimmt werden; im ersteren Falle wiederum entweder
mehr im Sinne des mittleren Durchschnitts oder dahin, daß möghchst
viele auf dieselbe Höhe zu führen sind. Im Falle individualistischer Zweck-
setzung aber kann die Klasse mehr als ein ,, Ordnungssystem", um einen
Ausdruck Euckens zu gebrauchen, als ein System der Anordnung und
Abstufung erscheinen, in dem die Schüler nach ihren Leistungen ge-
ordnet sind, oder sie kommen, ohne daß der Wert der Leistungen als
das einzig Wesenthche betont wird, nach der Gesamtheit ihrer geistigen
Wesenheit, ihres geistigen Eigen wesens in Betracht.
Bislang ist aber die Klasse noch nicht als eine Form sozialen Lebens
gewürdigt worden. Bedarf nun schon die Klasse als Mittel der Bildungs-
arbeit eines nachhaltigen pädagogischen Studiums, so noch viel mehr die
Zum Problem der Schulklasse
Klasse als Form sozialen Lebens. Man überlege nur, daß die Klassen-
genossen nicht selten 8 Jahr und mehr derselben Klasse angehören; also
während so langer Zeit wochentäglich einen namhaften Teil des Tages
in demselben Verbände leben, in einem Verbände, der seine Wirkungen
noch über die tägliche Schulzeit hinaus in das häusliche Leben, namenthch
in das haushohe Arbeitsleben, hinein erstreckt. Gewiß fehlt dem Klassen-
verbande eine starke Naturgrundlage, wie sie die Familie hat, wohl ist
er ein Zwangsverband, bei dem nicht wie bei freundschaftlichem Zusammen-
schluß oder freier Vereinsbildung Wahlverwandtschaft wirksam ist, wohl
grenzt sich der Wirkungskreis der Klasse scharf auf das Schulleben ab,
so daß die Möghchkeit besteht, daß die Klassengenossen im wesentlichen
nur mit ihrem Schul-Ich im Klassenverbande stehen, mit ihrem Haus-Ich
aber, vielleicht mit ihrem wesenthchen Ich, außerhalb ; wohl leidet der
klassenmäßige Zusammenschluß durch den Ausbhck auf seinen Zerfall
nach der Schulzeit usw. usw. Aber immerhin! Welche starken sozialen
Kräfte wirken im Klassenverbande! Wirken oder können doch wirken,
wenn das Klassenleben im Rahmen des Schullebens zu seiner vollen Lebens-
kraft entfaltet ist. Die Klasse bedeutet ja eine Gemeinschaft des Strebens
auf wertvolle Lebensziele, eine Gemeinschaft des Arbeitens an wert-
vollstem Arbeitsstoff, eine Gemeinschaft lebenswichtigen Güterbesitzes;
und weiter eine Gemeinschaft des Ausruhens und der Erholung, des Spiels
und der Feier, z. B. der nationalen und rehgiösen Feier; ferner eine Ge-
meinschaft des Verkehrs und des Wanderns; eine Gemeinschaft in dem
Rahmen desselben Schulganzen, unter derselben Schulordnung; vor
allem eine Gemeinschaft des gleichen Grundverhältnisses zu den Lehrern
als den Leitern der gesamten Lebensvorgänge der Schule ; auch das sei
nicht vergessen : eine Gemeinschaft, in der an dem Leben der gi'oßen Ver-
bände, die das Schulleben umhegen, dem Leben der Gemeinde, des Staates,
der rehgiösen Verbände, der gesamten Kulturgesellschaft, wertvoller
Anteil genommen wird; in alledem eine Gemeinschaft des Erlebens, des
Erlebens der Schicksale der einzelnen Klassengenossen, des Klassen-
verbandes, der Schulgemeinschaft, darüber hinaus der großen Kultur-
verbände; dazu eine Gemeinschaft des Einlebens, des Miterlebens, des
Nacherlebens. Es müßte wunderhch zugehen, wenn ein so stark vergesell-
schaftender Verband nicht starke, für das ganze Leben entscheidende oder
doch bedeutsame Wirkungen ausübte. Immer wieder vorausgesetzt,
daß die sozialen Kräfte von allen Hemmungen befreit und zur vollen
Wirksamkeit entfesselt werden. Dazu bedarf es übrigens nicht zum wenig-
sten eines sorgfältigen psychologischen Studiums — eine schöne Aufgabe
für die pädagogische Psychologie.
Soll aber der soziale Charakter der Klasse recht entfaltet werden,
so sind die leitenden Gesichtspunkte hoch hinauf, in allgemeinen Kultur-
anschauungen, zu suchen. Letzthch wird sie der einzelne Pädagog in
seiner Lebens- und Weltanschauung zu finden haben. Es wird einsehr
wesenthcher Unterschied sein, ob man eine individualistische Lebens-
auffassung vertritt, die vor allem dem einzelnen Individuum zum Rechte
schrankenloser Selbstentfaltung und ungehemmten Auslebens verhelfen
4 Hugo Gaudig
und ihm dazu auch die Kunst vermitteln will, die Gemeinschaft, in der
man steht, zweckentsprechend auszunutzen, oder ob man, von grundsätz-
lichen soziahstischen Anschauungen bestimmt, Menschen erziehen will,
die Gemeinschaftszwecke verwirklichen, ihre Arbeit und ihr Eigenwesen
der Gesellschaft hingeben sollen ; vielleicht scheut man sich sogar nicht, um
des restlosen gesellschaftUchen Zusammenschlusses willen einen Ausgleich
der Geistigkeit, ein ,,egaliser les intelligences", ein Massendenken, -fühlen
und -wollen zu fordern. Wie anders, wenn man — mit der Persönlichkeits-
anschauung — zwar seinen Standort unerschütterlich fest nicht in der
Gesellschaft, sondern im einzelnen nimmt und als die eigentliche Lebens-
aufgabe die Entfaltung des Eigenwesens im Sinne seines Ideals hinstellt,
dabei vor allem betonend, daß ja das Leben des einzelnen, zur Vollreife
entfaltet, Lebensgebiete und Lebensbeziehungen umfaßt, die höchst wert-
voll, aber in ihrem Wesenskern unsozial sind, wie das Berufsleben, das
Bildungsleben, das Katurleben, das religiöse Leben, wenn man aber auf
der anderen Seite der Bedeutung der Gesellschaft für den einzelnen grund-
sätzlich gerecht wird, wenn man also z. B. berücksichtigt, daß die Gemein-
schaft den einzelnen zunächst von seiner Geburt an pflegen und in der
Richtung seines Eigenwesens entwickeln muß, daß ferner die Gemeinschaft
ihm die Möglichkeit gewährt, an der Erreichung großer Menschheits-
ziele, die nur große Verbände sich stecken können, mitzuarbeiten und
zugleich aus dem Leben der Gesamtheit Kräfte für das Eigenleben zu
ziehen, vor allem aber, daß in der sozialethischen Gesinnung der Hingabe
an das Leben einer Gemeinschaft ein an sich für ein wertvolles Personen-
leben unentbehrlicher Wert liegt.
Für die nächste Zukunft steht vor allem im deutschen Volke der ge-
Avaltige Prozeß ,, Gesellschaft — Individuum" an. Dieser Prozeß drängt,
wenn wir aus der Zerfahrenheit unseres Kulturlebens herauskommen
wollen, zur Entscheidung. Die Entscheidung kann nicht so gefunden
werden, daß man mit einem unklaren Teils — teils die berüchtigte ,, mittlere
Linie" sucht; die Entscheidung muß zu einer höheren Synthese führen.
Für uns liegt diese höhere Synthese in der Idee der Persönlichkeit.
Wie gestaltet sich nun das Verhältnis, in dem sich innerhalb des Schul-
lebens das große kulturelle Grundverhältnis ,, Gesellschaft — Individuum"
darstellt? Indem ich auf die Behandlung der Frage in meinem Buche
,,I)ie Schule im Dienste der werdenden Persönlichkeit" verweise, hebe
ich das Wesentliche heraus.
Unser Erziehungsziel ist die Entfaltung des Eigenwesens unserer Zög-
linge in der Richtung idealer Persönlichkeit. Wir fordern somit von der
Schule, daß sie vom ersten Schultage an sich bemüht, das Eigenwesen
ihrer Schüler zu erfassen und zu entfalten, daß sie sich mit dem Eltern-
hause zu planmäßiger Arbeit an der werdenden Persönlichkeit zusammen-
schließt, daß ihre Zöglinge ihr eine höchst persönliche Geschichte haben und
von Tag zu Tage gewinnen. Unsere Forderung bezieht sich nicht nur
auf das geistige, sondern auf das gesamte Eigen wesen; wir wollen nicht
nur geistige Eigenart, sondern auch Eigenart des Gemütslebens und des
Willenslebens, vor allem aber die Gesamteigenart entwickelt haben, wir for-
Zum Problem der Schulklasse
(lern eindringendes Studium der Entwicklungsmotive und Entwicklungsten-
denzen, die sich nur irgendwie in ihnen zu erkennen gehen. Wir sind zwar
weit davon entfernt, das öde Streben nach geistigen Höchstleistungen zu
hilHgen; aber immerhin — ein individuelles Bestmaß der Leistungs-
steigerung ist doch auch für unsere Arbeit Ziel. Vor unserem geistigen Auge
steht der Zögling vor allem als der auf sich gestellte einzelne, der fähig
werden soll, die große Verantwortung des Lebens zu tragen. Und eben
diesen Zögling erziehen wir in der Schule klassenmäßig? Halten wir
acht und mehr Jahre in einer engen Gemeinschaft fest, als sollte er in
und mit dieser Gemeinschaft durchs Leben gehen ? Eigenwesen der ver-
schiedensten Art, die nicht nur ein Mehr oder Minder an Begabung, son-
dern das Innerste und Feinste der seelischen Verfassung unterscheidet,
werden auf das gleiche Ziel mit den gleichen Mitteln erzogen ? Statt eine
höchst individuelle Auswahl des Erziehers, der Mitzöghnge zu treffen,
eine höchstindividuelle Festsetzung des Erziehungsideals und der Er-
ziehungsmittel zu fordern, begnügt man sich mit Durchschnittsmäßigkeit.
Es tut wirklich not, daß man sich an der Schwelle der großen grundsätz-
hchen Schwierigkeit bewußt wird, vor die uns die Klasse stößt. Die Pcück-
zugshnie: ,,Das geht nicht anders; so fordert es ohnehin das Leben" sollte
man nicht vorschnell betreten. Wir müssen uns eindringhch die Gefahr im
Bewußtsein halten, daß unsere Zöglinge unter unserer Hand, indem sie
zu Klassenmenschen werden, zu Klassenmenschen entarten, daß sie auf
der Schule für alles Feine eines eigenwesentlichen Daseins verdorben
werden, daß sich in ihnen ein strammer Korpsgeist entwickelt, nicht aber
Sinn, Verständnis, Gefühl für eigen wesenthche Daseinsgestaltung, nicht
der Wille zu einem Eigenleben, nicht das Bewußtsein und das Gefühl
der Verantwortlichkeit für das eigene Selbst. Die Klasse kann ein äußerst
wirksames Werkzeug der Gleichmacherei werden.
Was muß geschehn, um der Gefahr vorzubeugen? Die Erzieher müssen
die Bäume vor dem Walde zu sehn vermögen, d. h. die Klasse muß sich
ihnen, wenn es not ist, immer wieder in Einzelschüler auflösen; ja, sie
müssen von Anfang an und dauernd ein persönhches Verhältnis zu den ein-
zelnen werdenden Persönlichkeiten als einzelnen haben. Sie haben Stellung
zur Klasse, zu den einzelnen Schülern als Klassengenossen, aber auch zu
den einzelnen Schülern als einzelnen zu nehmen. In den einzelnen Schülern
anderseits sind alle guten Kräfte einer auf Veredlung ihres Eigenwesens
abzielenden Entwicklung wachzurufen ; vor allem ist im einzelnen Zögling
sein eigener guter Wille für seine Selbstverwirkhchung zu gewinnen ; der
Wille der Selbstbehauptung und Selbstentfaltung auf ein höheres Selbst
hin. Vor allem aber sind die Klassen selbst als „Subjekte" höherer Ordnung
so zu erziehen, daß sie die Entfaltung eigenwesenthchen Lebens nicht
hemmen, sondern fördern (s. u.).
_ Die Gefahr der geistigen Gleichmacherei, der Abschleifung des geistigen
Eigenartigen ist um so größer, je einseitiger die Schule mit eigentUchem
,, Klassenunterricht", d. h. mit einem Unterricht arbeitet, bei dem der
Lehrer unterrichtet und so die eigentlich bewegende Kraft ist. Die Gefahr
verringert sich, je mehr die Klassen selbsttätig arbeiten, weil bei selbst-
6 Hugo Gaudig
tätiger Klassenarbeit dem einzelnen Schüler die Möglichkeit freierer
Bewegung gegeben ist. Man wird aber in Zukunft neben den Stunden ge-
meinsamer Tätigkeit grundsätzlich die eigentUche Arbeitsstunde als ein
unentbehrliches Mittel der Persönhchkeitserziehung gelten lassen müssen ;
man wird die Schüler wohl in dem gleichen Räume vereinen, die einzel-
nen aber „für sich" arbeiten lassen. Ein solches Fürsicharbeiten wird sich
als eine wertvolle Stütze des Fürsichseins ausweisen. Man muß also mit
dem Grundsatz der übergroßen Betonung der Mündlichkeit brechen und
der reinen Kopfarbeit, besonders aber der schriftlichen Darstellung viel
mehr Raum als bisher gewähren. Über diesen Arbeitsstunden, in denen
der einzelne Schüler auf sich angewiesen ist, darf natürlich nicht Ex-
temporalien-Stimmung liegen. Sie müssen einem stark gefühlten Bedürf-
nis des Schülers entsprechen, allein zu arbeiten, sich aus der gemeinsamen
Arbeit, dem gemeinsamen ,, Pasein" zur stillen Einzelarbeit, zum Fürsich-
sein zurückzuziehen. Sache sorgfältiger Beobachtung der Klasse und
der Arbeitsvorgänge wird es sein, den Zeitpunkt für den Abbruch der
gemeinsamen Arbeit und für den Übergang zur stillen Arbeit zu bestim-
men. (Nebenher gesagt: So würde endlich auch die Aufsatznot an der
Wurzel angefaßt.) Mit einem solchen, oft auch in schönem Rhythmus ab-
laufenden Wechsel der gemeinsamen und der Einzelarbeit wird man jeden-
falls die geistige Eigenwesenheit stark fördern; nicht allein die der be-
gabten Naturen, die nach der Gebundenheit der Klassenarbeit Gelegen-
heit freier Selbstentfaltung ersehnen, sondern auch die zaghaften, lang-
samen, ,, stillen", beschaulichen, undialektischen, überhaupt die Schüler,
die nun einmal bei gemeinsamem mündlichen Unterricht nicht zum Rechte
ihrer Natur kommen.
Wenn aber klassenmäßig gearbeitet wird, so darf im Interesse allseitiger
Pflege der werdenden Persönlichkeiten die Gestaltung des gesamten Arbeits-
vorgangs nicht ihren natürlichen Gang gehen ; d.h. es darf nicht dahin
kommen, daß sich — wie es leider sehr viel geschieht — eine Art der,, Arbeits-
teilung" herausstellt, bei der eine kleine Gruppe von Schülern die eigent-
liche Trägerin der Bewegung ist, die Mehrzahl aber infolge von geistiger
Trägheit, von Schüchternheit, Verschlossenheit, von schwerflüssiger
Darstellungsweise oder aus irgendwelchen anderen Ursachen in der Rolle
der Geführten verharrt. Es gilt, daß Schülern dieser Art ihre Pflicht
und ihr Recht zu eigenthcher Mitarbeit gegenwärtig bleibt. Der Lehrer,
sie selbst, die Klasse müssen in dieser Richtung wirken. Da, wo man den
Schülern die Regelung des Arbeitsverlaufs überläßt, werden die be-
gabteren Köpfe genug Hemmungsenergie besitzen müssen, um die minder-
begabten nicht von der Arbeit zu verdrängen; die Minderbegabten (viel-
leicht nur Langsameren) aber werden, damit sich in der Arbeit ihr Eigen-
wesen entwickelt, zur Entfaltung positiver Kraftleistung Antrieb und
Raum zu erhalten haben. Wenn jemand 8 Jahre oder mehr sich gewöhnt
hat, ,, führenden Geistern" zu folgen, dann sind in der Regel die Kräfte
geistigen PJigenlebens erstorben; dann ist der ,, subalterne" Kopf fertig;
der Kopf, der nur ,,nach" zu denken versteht.
Gelegenheit zu einer das Eigenwesen berücksichtigenden Arbeitszu-
Zum Problem der Schulklaisse
teilung gewährt das Verfahren, das wir als Arbeitsteilung und Arbeits-
vereinigung bezeichnen; dies Verfahren, das um seiner hohen technischen
Schönheit, seines geistigen Wertes, seiner sozialethischen Bedeutung willen
hoffenthch immer mehr Boden in der deutschen Schule gewinnt.
Für unseren gesamten Zusammenhang ist dies Verfahren ja von ganz
besonderem Wert; denn durch die Arbeitsteilung kann der einzelne zu
einer seinem Eigenwesen gut liegenden Arbeit gelangen, während die
Arbeitsvereinigung die Klasse zu einer vielleicht hohen Form der Arbeit
aufruft, zm* Verbindung reich differenzierter Einzelarbeiten. Hier aber
handelt es sich zunächst ledighch um die Förderung der eigenwesentlichen
Entwicklung durch die Arbeitsteilung. Sie gewährt die Möglichkeit,
den einzelnen Schüler in der Richtung seiner Stärke und seiner Schwäche
zur Betätigung heranzuziehen.
Soll der einzelne Schüler nicht in Gefahr geraten, durch die Klasse in
seiner eigenwesentlichen Entwicklung schweren Schaden zu erleiden,
so muß er nun ferner in der Lage sein, zu der Klasse Stellung zu nehmen.
Es ist von großem Belang, daß er sich des Rechtes und der Verpflichtung
zu dieser Stellungnahme bewußt ist und dies Recht ausübt, diese Pflicht
gegen sich selbst erfüllt. Es gibt Schülernaturen genug, die zu solcher
Stellungnahme schwier zu vermögen sind: z. B. die geborenen Massen-
menschen, die eigenartigen Gesellschaftsnaturen, die sich gern dem ,, Korps-
geist" beugen, gern ,, mittun", die in sich keinen Antrieb haben, sich mit
der allgemeinen Meinung auseinanderzusetzen, oder doch zu feige oder zu
kraftlos sind, diesem Antrieb zu folgen. So gewiß aber zum Werden der
Persönlichkeit die Kunst gehört, sich seiner und seiner Lebensbeziehungen
bewußt zu werden und sich selbst in seinen Lebensbeziehungen zu behaupten,
so gewiß muß die Persönlichkeitserziehung auf die Befähigung, geistige
wie sittliche, zur Stellungnahme dringen.
Doch die Schule muß auch eine Pflegstätte sozialen Lebens sein;
die Schule als ein Lebensganzes, vor allem aber wieder die Klasse. Je
mehr sie unserer Forderung gemäß ihre Lebensmöghchkeiten entfaltet,
je mehr sie eine Gemeinschaft der Arbeit und der Erholung, der Arbeit
und des Spiels, der Arbeit und der Feier, der Arbeit und des Erlebens wird,
je mehr sie geistiges Gemeinschaftsleben führt, in Gefühlen und Stimmun-
gen sich zusammenschheßt, je mehr sie den Willen zur Einheit besitzt,
um so leichter wird sich im Klassenverbande soziales Leben der einzelnen
entfalten, um so leichter wird sich der einzelne in das bewegte Lebensganze
einordnen, ber^t, wo es not ist, dem Ganzen auch sich unterzuordnen;
um so wiUiger wird er die Zwecke der Gesamtheit zu den seinen machen,
die dem Ganzen förderliche Arbeit leisten, am Schicksal der Klasse
Anteil nehmen. Wichtig für die sozial-ethische Entwicklung des ein-
izelnen ist namenthch, daß er sich seiner Klasse verpflichtet weiß; ver-
pflichtet nicht nur zu der üblichen ,, anständigen" Gesinnung der Klasse
und den einzelnen Klassengenossen gegenüber, verpflichtet auch z. B.
zum Fleiß, zur geistigen Energie, zum Wohlverhalten dem Lehrer gegen-
über, zur Achtung vor der Schule, ihren Bildungszielen und Bildungsein
richtungen. Man beachte wohl — der Klasse verpflichtet zu dem allen,
8 Hugo Gaudig ^
denn wenn z. B. die Klassen Trägerinnen wertvoller Schulgesinnung sein
sollen, so handelt der Schüler auch gegen die Klasse pflichtwidrig, der in
seinem Klassenlehen an seinem Teile keine wertvolle Schulgesinnung be-
tätigt. Ich habe schon oft Schüler gegen Tadel, wie z.B.: ,,Sie haben kein
Recht, die Klasse so zu langweilen", ,,Sie haben kein Recht, durch schlechtes
Arbeiten die Klasse am Vorwärtskommen zu hemmen", ,,Sie begehen durch
ihre Saumseligkeit ein Unrecht am Geist der Klasse", empfindlich reagieren
sehen.
Der Verpflichtung gegenüber der Klasse wird um so heber genügt werden,
Je mehr der einzelne Schüler sich seiner Klasse freut und je mehr er Ver-
ständnis für den Wert der Klasse besitzt, besonders für den Wert, den sie
für ihn selbst hat. Hier tuen sich weite Ausblicke auf pädagogisches Neu-
land auf. —
Ein wichtiges Stück sozialethischer Verfassung ist die Fähigkeit,
mit anderen gleich zu denken, zu fühlen, zu wollen; vor allem innerhalb
eines engeren Lebens verbau des. Wollen wir kein Zerfallen des Gesellschafts-
lebens, so müssen die einzelnen sich in großen Grundansichten, in Lebens-
gefühlen, im Streben nach einheithchen Lebenszielen, in Lebensanschauun-
gen zusammenschließen können. Soll uns nicht ein Stück sehr wertvollen
Erlebens verloren gehen, so bedürfen wir der Fähigkeit, in eine Gemeinschaft
aufzugehen, uns von ihrem Gefühl tragen zu lassen. Nur wenn in allen
Verbandsgliedern eine gleichartige Verfassung herrscht, vermag der Ver-
band mit voller Kraft, mit vollem Druck zu wirken. Daß die Menschen
oft nicht Träger solches Gemeinschaftsgeistes sind, ist durchaus nicht
immer eine berechtigte Auswirkung ihres Eigenlebens, sondern bald
ein vorsichtiges Zurückhalten (,, reserviertes" Wesen), bald ein ,,Tic",
bald sonstiges. Die Klasse, in der die geistige Arbeit in den Köpfen den
festen Grundstock gleicher Anschauungen anlegt, in der sich alle auf
wesentlich gleiche Ziele hin bewegen, das Gefühl in allen gleichsinnig
erregt wird, ist eine Schule des Gemeingeistes.
Die Klasse, so sahen wir zunächst, erzieht den einzelnen zur Ein-
ordnung in eine Gemeinschaft, so daß er als einzelner in einem Verbände als
Verbandsgenosse zu leben vermag. Sie gibt dem einzelnen zweitens
Gelegenheit, mit seinem Geist in den Gemeingeist einzugehen, im Gemein-
geist aufzugehen. Sie ermöglicht ihm aber auch drittens sich mit den anderen
Klassengenossen in einem ,,Wir" zusammenzufassen und durch dies Wir-
Bewußtsein der ,, Klasse" zu einem höheren Dasein zu helfen; zu einem
Dasein, das uns berechtigt, von der Klasse als von einem sitthchen Sub-
jekt, einer Persönhchkeit, zu sprechen, die Selbstbewußtsein hat, der
Selbstbestimmung fähig ist, sich selbst zu bejahen und zu verneinen
vermag usw. Indem die einzelnen Klassengenossen sich in einer Gesamt-
Vorstellung („Wir", „unsere Klasse", ,,die Klasse") zusammenfassen und
das Leben der in dieser Gesamtvorstellung erfaßten Wesenheit in sich
erleben, gewinnt die Klasse eine Daseinsform, bei der man von ihr als
einem Subjekt reden darf, das ,, Kraftgefühle" hat, wie das des Gelingens,
des Vorwärtskommens, der Erhobenheit, oder ihr Gegenteil, wie das Gefühl
der Schwäche, des Gehemmtseins, des Nichtemporkönnens, ein Subjekt,
Zum Problem der Sclmlklasse 9
das gespannt erwartet oder enttäuscht ist, dem Ehrgefühl, Bescheidenheit
oder Selbstgefälligkeit eigen sind, das Liebe und Haß, Verehrung und
Abscheu, Neid, Mißgunst, Schadenfreude fühlt.
Wenn sich in dem einzelnen Schüler ein kräftiges Wirbewußtsein ent-
wickelt, so kann sein Seelenleben stark durch die Gemeinschaft in An-
spruch genommen werden ; sein seelisches Erleben ist verwoben mit dem
Leben einer Gesamtheit, das sehr kräftig sein kann, das nicht nur die Denk-
tätigkeit, sondern vor allem das Gefühlsleben der einzelnen in sich hinein-
reißt. Wenn gegenwärtig das ,,Wir-Leben" die einzelnen oft so wenig
bewegt, so kann das nicht bestimmend sein für die Zukunft, wenn man
die Klasse für die soziale Erziehung der werdenden Persönhchkeit in An-
spruch nimmt. Die Pädagogik der Zukunft wird großen Wert darauf
legen, daß in allen einzelnen Schülern die Hemmnisse beseitigt werden,
die einer Entwicklung und Auswirkung des Klassenbewustseins entgegen-
stehen, Sie wird dabei sich bewußt sein, daß es sich bei der Entwicklung
zu einem reifen Klassenleben um einen feinen und schwierigen, in einer
Reihe von Stadien verlaufenden Entwicklungsvorgang handelt.
Der einzelne im Verhältnis zu der Klasse — das ist das für uns vor allem
wichtige Lebensverhältnis. Indes: soll sich dies Verhätnis glücklich
gestalten, so muß sich auch das Gegenverhältnis, das Verhältnis der Klasse
zu den. einzelnen Klassengenossen, gut entwickeln. Je mehr sich die Klasse
zu einem ,, Subjekt höherer Ordnung" entwickelt, um so mehr wird sie in
der Lage sein, sich ein Verhältnis zu ihren Gliedern zu geben. Sie wird
sich so z. B. ihrer Verpfhchtung gegen diese Glieder bewußt sein und
handelnd ihren Verpflichtungen gerecht werden ; ebenso wird sie anderseits
darauf dringen, daß ihre Gheder sich ihrer Verpflichtungen gegen die Klasse
bewußt werden und sie handelnd erfüllen. Sie wird, je mehr sie zum sitt-
lichen Subjekt heranreift, nicht aus Zufallsstimmungen heraus handeln,
sondern aus einer Grundgesinnung, die nicht dem Wandel durch Zufalls-
bewegungen ausgesetzt ist. Anderseits wird es sich bei dieser Regelung des
wechselseitigen Verhältnisses nicht um Gelegentliches handeln, sondern
um Beziehungen dauernder Art. Damit aber das Verhältnis zwischen Klasse
und einzelnen Schülern sich recht gestaltet, muß die Klasse ihre Glieder
kennen und zwar nicht nur obenhin ; eine Forderung, die schwer zu erfüllen
ist und z. B. vom Lehrer ein sehr sorgfältiges, bedachtes Einwirken auf den
Vorgang der Urteilsbildung fordert. Pädagogisches Neuland, aber Neu-
land, das, in rechte Pflege genommen, reiche Ernte verspricht. Pestalozzi
meint einmal gelegentlich : „Die kollektive Existenz unseres Geschlechts
kann dasselbe nur zivilisieren, sie kann es nicht kultivieren". Der schwere
Irrtum P.'s wird in der Schule ersichtlich werden, sobald die Klasse sich
zu einem sittlichen Subjekt emporgebildet hat, das dann bei gereiftem
,, Kollektivgewissen" sein Handeln unter sittliche Normen rückt. Eine
Klasse, wie sie uns vorschwebt und wie ich sie nicht selten sich habe ent-
wickeln sehen, kann den einzelnen Schüler unter die segensreichen Ein-
wirkungen einer sittlich gesinnten, sich sitthch regelnden Gemeinschaft
stellen und ihm so für sein sozial-ethisches Leben sehr wertvolle Erfahrun-
gen, z. B. für sein Werturteil über ethisches Gemeinschaftsleben sichere
10 Hugo Gaudig, Zum Problem der Schulklaase
Unterlagen, gewähren. Zugleich wird er leicht die Wirkungen seines eigenen
auf die Gemeinschaft gerichteten sittlichen Handelns unmittelbar und
aus den Rückwirkungen der Q-emeinschaft erfahren.
Überschauen wir das Ganze unserer Forderungen, so zeigen sie einen
doppelten Zug, den individualen und den sozialen; ich hoffe aber so,
daß die Erwartung auf die Vereinigung der beiden Züge im Personalen
berechtigt erscheint. Allerdings muß sehr viel gearbeitet werden, wenn
durch die Ausgestaltung des Klassenlebens das Ziel, das uns vorschwebt,
erreicht werden soll. Die Fülle der Kräfte muß wachgerufen werden, damit
die Klasse wird, was sie werden soll, ein reich bewegtes, für das gesamte
Erziehungsziel der Schule hochwertiges Stück des Schullebens. Vor allem
müssen in unseren Schülern die Gesinnungen gepflegt, die Kräfte ent-
wickelt, die Bewegungen ausgelöst werden, die zu wertvollem Klassen-
leben führen. Am schwersten ist natürlich die Aufgabe des Lehrers. Feinste
Erziehungskunst verlangt z. B. die Einwirkung auf das Werden eines
Klassenbewußtseins, auf die Entwicklung eines kollektiven sittlichen Be-
wußtseins usw. Es gibt Lehrer, denen fällt es außerordentlich schwer,
Klassenleben zu erkennen und vor allem zu fühlen. Was sie erkennen und
fühlen, ist entweder ein Durcheinander von Einzeleindrücken oder etwas
schablonenhaftes Allgemeines. Sie spüren nichc, wenn die Klasse von
Gemeingeist ergriffen wird und die einzelnen Klassenglieder untertauchen
im Strom eines Allgemeinbewußtseins; sie unterscheiden nicht klar, ob
sie in PJinzelerscheinungen Tatsachen des Lebens der Klasse oder individuelle
Erscheinungen zu sehen haben ; sie erkennen nicht sicher die Einwirkungen,
die bewußten und gewollten Einwirkungen, der Klasse auf den einzelnen
Klassengenossen usw. Wir Lehrer werden jedenfalls um so mehr Helfer
zur Entwicklung wertvollen Klassenlebens sein können, je mehr wir selbst
in einem wertvollen Verhältnis zu unseren Klassen zu stehen vermögen.
Einzelschüler und Klasse, Klasse und Einzelschüler, ist das eine Lebens-
verhältnis, das in Zukunft ungleich reicher und feiner als bisher ausge-
staltet werden muß, wenn unsere Schulen nicht ,, Anstalten", sondern
Lebenskreise, sein sollen. In Wechselwirkung zu diesem Lebensverhältnis
steht das andere : Lehrer und Schüler, Schüler und Lehrer ; Schüler einmal
im Sinne der Einzelschüler, dann aber im Sinn von Klasse. —
Ein großes Ziel winkt der Schule der Zukunft: die Mitwirkung an der
Lösung des großen Problems Individuum — Gesellschaft. Zu wertvoller
Mitwirkung aber wird nicht der ,,Iiehrer" fähig sein, der an einer ,, Anstalt"
unterrichtet, sondern der Erzieher, der in seinem Eigenleben das Leben
des Lebenskreises des Schule mitlebt und mit seinen liebenskräften am Leben
der Schule mitschafft.
Über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter.
StatistischeUntersuchung über die Ideale von Schülern norwegischer Lekrerschulen.
Von Martin Luther Reymert.
Die Untersuchungen, die bisher über die Ideale bei verschiedenen Gruppen von
Personen angestellt worden sind, haben sich wesentlich auf das 7 — 14jährige Alter
Reymert, Über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter H
bescliränkt, und die Experimente haben zum überwiegenden Teil Volksschul-
kinder zum Objekt gehabt. Nur Goddard hat sich auch mit Kindern der Mittel-
schule beschäftigt^), und Barnes mit 4 — 6jährigen Kindern der Kindergärten
New-Yorks^).
Mit Bezug aber auf die höhere Jugendzeit hat man sich bis jetzt im wesent-
lichen mit Vermutungen begnügen müssen. Allerdings hat Barnes eine Probe*)
an 38 männlichen und 52 weiblichen Schülern amerikanischer Lehrerschulen —
doch natürlich ohne eine Spezialisierung der verschiedenen Altersstufen - —
angestellt, und Goddard hat 710, zwei ganz verschiedenen Schulformen ent-
stammende junge Leute im Alter von 15 — ^28 Jahren einer Untersuchung be-
züglich ihrer „Negativen Ideale" unterzogen*). Betreffs der Versuchsanordnungen
der bisherigen Idealuntersuchungen liegt oft nur der Bescheid vor, so und so viele
Papiere „seien gesammelt". Soll man jedoch in psychologischer wie pädagogischer
Beziehung zu zuverlässigen Ergebnissen gelangen, muß man bestrebt sein,
die Aufgabe möglichst individuell zu fassen und gerade die differenzierenden
Momente zu beachten^).
Mit Bezug auf die von Goddard untersuchten Altersstufen (15 — 20 Jahre)
meldet sich neben den sonstigen Schwierigkeiten auch noch eine besondere,
auf die Richter aufmerksam gemacht hat, und die darin liegt, daß man nicht
ganz ernstgemeinte Antworten erhält. Demgemäß verzichtete Richter darauf,
seine Idealuntersuchimgen auch auf die Fortbildungsschulen Sachsens zu er-
strecken, weil die Lehrer dieser Schulen den Ernst der Schüler in dieser Beziehung
stark in Zweifel zogen. Ich habe mich nun bemüht, um ein zuverlässiges Ergebnis
zu erlangen, möglichst günstige Bedingungen zuwege zu bringen. Ich wandte
mich an die Lehrerschulen, da ich mich in bezug auf den Ernst dieser Schüler sicher
fühlte, und durch freundliches Entgegenkommen der zuständigen Rektoren
gelang es mir, die Aufgabe unter ähnlichen zuverlässigen Bedingungen wie früher
bei den Volksschulkindem") — in sämtlichen Klassen am nämlichen Tage in der
nämlichen Schulstunde — durchzuführen. Beeinflussungen oder Erläuterungen
jedweder Art wurden vermieden ; den Schülern wurde im voraus bekannt gegeben,
daß die Beantwortung der Frage ihrerseits durchaus freiwillig sei, woraufhin
11 von Hundert der männlichen und 14 v. H. der weiblichen Schüler es unter-
ließen, eine Antwort niederzuschreiben. Der Wortlaut der Frage für diese
Altersstufen war folgender:
Welcher Person möchtest du am liebsten ähnlich sein und warum?
Eine Änderung gegen frühere Versuche trat insofern ein, als man den Schülern
aus verschiedenen Gründen mitteilte, Gott und Jesus seien bei der Beantwortung
außer Betracht zu lassen. Um das Vertrauen der Versuchspersonen auf
1) Zeitschr. f. exp. Pädagogik 1907, S. 166 ff. (Die Kurve der „öffentlichen Cha-
raktere" ließ in der Mittelschule eine unverkennbare Steigerung erkennen.)
*) „Ideals of New- York Kindergarten Children", Earl Barnes, Kindergarten
Magazine, Oktober 1903.
») Studies in Education II, S. 359.
•) Ebenda, S. 392, H. H. Goddard: „Negative Ideals".
') Vgl. William Stern: Die differentielle Psychologie in ihren methodischen
Grundlagen, Kap. VIII, Verl. J. Ambr. Barth, Leipzig 1911.
•) Siehe meinen Artikel in dieser Zeitschrift Bd. XVII, S. 226: „Zur Frage nach
den Idealen des Kindes".
12
Martin Luther Reymert
die Bewahrung strengster Anonymität zu festigen, wurde die wich-
tige Maßnahme getroffen, daß die Rektoren und Versuchsleiter
im voraus gelobten, die Antworten nicht zu lesen, sondern die-
selben zwecks sofortiger Weiterbeförderung nur einzusammeln.
Im ganzen wurden mir nun 838 Beantwortungen von männlichen (399) und weib-
lichen (439) Seminaristen im Alter von 18 — ^25 Jahren zugestellt^). Die Eltern
der Untersuchten waren zu 61 v. H. Landwirte, die übrigen zum größten Teil
Lehrer und sonstige Angestellte, sowie einige wenige Beamte, wesentlich Geistliche.
Alle abgelieferten Beantwortungen tragen ohne Ausnahme das Gepräge der
Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit, wie dies auch, meine ich, aus den unten wieder-
gegebenen Beispielen hervorgehen muß, die, den niedergeschriebenen Antworten
aufs Geratewohl entnommen, ein richtiges Durchschnittsbild darbieten sollten.
Einige Beantwortungen
männlicher Versuchspersonen.
17 Jahre:
Abraham Lincoln,
weil er denken, reden, wollen, und vor
allen Dingen tun konnte, was sein Ge-
wissen von ihm forderte,
(unverkennbar Ibsensche Sprache)
weiblicher Versuchspersonen.
17 Jahre:
1. Meinem Vater,
weil er so gut ist.
2. Meiner Mutter,
weil sie seit dem Tode meines Vaters
das Geschäft geführt hat, trotzdem sie
keine Vorkenntnisse besaß und viel Miß-
geschick hatte und doch den Mut nicht
verloi.
18 Jahre:
Wergeland,
weil ,,er für Freiheit kämpfte und der
Kern ihm mehr als die Form galt".
(Die Anführungsstriche besagen, daß
die Wendung einem Verfasser entlehnt
ist.)
18 Jahre:
1. Wergeland,
weil er so unerschrocken und klar war
und so gut gegen alle, denen es schlecht
ging.
2. Florence Nightingale,
weil sie voller Güte und Aufopferung
gegen die Kranken war.
19 Jahre: _
I.V. Müller, dem Anführer der ,, Em-
den",
weil er mit kleinen Mitteln Großes aus-
richtete.
2. Der biblischen Ruth,
ihrer aufopfernden Liebe wegen.
3. A. L. (Bekannte),
weil sie alle entschuldigt und zu allen
gut ist; obwohl alt und arm, ist sie zu-
frieden und dankbar. (Neunorwegisch.)
4. Napoleon,
weil er begabt, rasch im Handeln
und mutig war.
^) Sämtliche Lehrerschulen des Landes waren im Jahre dieser Untersuchung von
609 männlichen und 631 weiblichen Schülern besucht, die sich auf die sechs
staatlichen Seminare und die sechs Privatschulen des Landes verteilten; drei dieser
letzteren kommen bei meiner Untersuchung nicht mit in Betracht.
19 Jahre:
Alle jungen Leute, die im Leben vorwärts
streben, haben ihr Ideal und befleißigen
sich, ihm nachzueifern. So habe auch ich
das meinige, nämlich meinen alten
Lehrer A. M. Was er hier im Leben aus-
gerichtet hat, dünkt mir etwas vom
Größten zu sein, was Menschen tun
können. Sein ganzes Leben lang hat er
seine Kraft in den Dienst der Schule
gestellt.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter
13
männliche Versuchspersonen.
20 Jahre:
Es ist schwierig, von einem Mann, dem
man in jeder Beziehung gleichen möchte,
zu lesen, zu hören, oder ihn im Leben an-
zutreffen. Jeder Mensch hat ja seine
Fehler, jegliche historische Persönlich-
keit ihre scharfen Kanten, die der Ab-
schleifung bedürfen. Unter den großen
Männern der Geschichte hebt sich mir
leuchtend Olav Haraldsön (der Hei-
lige) ab. Ihm möchte ich wohl ähnlich
sein, gerade in dem einen, daß er für eine
solche Sache kämpfte und für sie in den
Tod ging. In seinem großen Gebet vor
der Schlacht bei Stiklestad bittet er,
selbst im Feuer brennen zu müssen,
,,wenn die Geschlechter dadurch erlöst
würden". Wie sehr gleicht er hierin dem
Erlöser selbst! Seine Arbeit wurde von
der Liebe zu Gott und Volk getragen.
Ihm ähnlich zu werden, könnte sich der
Mühe verlohnen.
weibliche Versuchspersonen.
20 Jahre:
1. Gunnar paa Lidarende*),
weil er in Wahrheit ein Mann war,
der das Tapfere, Edle und Gute ganz und
voll in sich vereinte.
2. Rousseau,
seiner göttlichen Gedanken halber.
3. N. N. (Bekannte),
weil sie gut, ehrlich und wahrheitsliebend
ist.
4. Meiner Mutter,
weil sie stark und liebevoll ist. Ich
brauche ihr nichts zu verheimlichen,
und wie schlimm es auch stehen naag, so
steht sie treu zur Seite.
5. Meinem Vater,
weil er im Besitz so vieler guter Eigen-
schaften ist, die mir fehlen.
^) Aus der norwegischen Sage.
21 Jahre:
L Gladstone (der große alte Mann),
weil er ehrlich, wie aus einem Guße war.
2. Demosthenes,
weil er ein großer Redner war.
3. Roald Amundsen,
weil er unserm Land größere Ehre ge-
macht hat als die meisten. (Neunorweg.)
4. Dem Mathematiker Nils Hen-
rik Abel,
weil er so berühmt war.
5. Luther,
er hat die Sache, die den höchsten
Wert für uns hat, am meisten gefördert.
(Neunorwegisch. )
21 Jahre:
1. Ole Bull,
er besiegte die Herzen.
2. Ich möchte enn liebsten meiner
alten Großmutter ähnlich kein. Bei
ihr fand ich, was mir den tiefsten Lebens-
wert zu haben scheint. Sie war dem
Besten in sich selbst getreu und treu
gegen ihre Mitmenschen. Sie ging frisch
drauf los, wenn es jemand not tat, die
Wahrheit zu hören, aber ihre Rede war
nicht kalt vmd scharf , Schonung und Liebe
verrieten sich in ihrer Stimme. Sie fand
bei allen Menschen etwas Gutes und
knüpfte hieran ihren starken Glauben
an das Lichte im Leben; darum lebte
sie, obgleich oft von Schwerem betroffen,
so froh und sicher iind richtete so viel
im Hause aus. Sie gab den Kindern ein
reiches Erbe heller Lebenszuversicht
und Wahrheitsliebe. (Neunorwegisch.)
22 Jahre:
Garborg,
weil er nach der Wahrheit im Leben
forschte. „Zum Lebensmarkte trug der
Fragen ich zu Ha\if, doch Antwort ward
mir nie — Zweifel nur in Kauf."
(Zitat des Dichters. Neunorwegisch.)
22 Jahre:
Es gibt einen Mann in der Geschichte,
dessen Name mir stets leuchtend vor-
geschwebt hat — Arnold Winkelried.
Ich kenne niemand in der Geschichte,
dem ich, obgleich eine Frau, lieber
gleichen möchte. Ich möchte ihm ähnlich
sein, weil er sich für andre opfern wollte
und konnte, sich opfern für Volk und
Vaterland ; weil er nicht das Seine suchte,
sondern alles für andre dahingab.
14
Martin Luther Reymert
männliche Versuchspersonen.
23 Jahre:
Henrik Ibsen,
weil er der Dichter ist, der Wortkünstler.
Weil er der mächtige Geist ist, der mit
des Gedankens Messer Vorurteile und
Engherzigkeit durchschneidet, weil er
die mächtigen Schwingen hat und hoch
über des Tages Grau dahinsegelt. Möchte
wohl seinen Willen besitzen, denselben
Willen, der sich von „Catilina" bis zu
,,Wenn wir Toten erwachen" hindurch-
arbeitete.
weibliche Versuchspersonen.
23 Jahre:
Camilla Collet,
Sie besaß nicht allein die äußere Schönheit,
nach der wir Frauen im Grunde so oft
trachten; sie besaß auch die Schönheit
der Seele. Sie war klug, geistreich und.
durch und durch feinfühlend. Sie war
eine echt weibliche und feine Natur,
obgleich sie unter den ersten war, die
dafür eintraten, der Frau ihren Platz
neben dem Manne in der Gesellschaft an-
zuweisen. Sie war mutig, sie bot alten
Sitten und Vorurteilen Trotz.
24 Jahre:
Ich habe niemand gefunden, dem ich
ganz und gar ähnlich sein möchte —
kein reines Ideal. Den Menschen, von
denen ich höre und lese oder die ich kenne,
entnehme ich die Züge, die mit meiner
Lebensanschauung übereinstimmen.
24 Jahre:
1. Meiner Großmutter,
Aveil sie ganz Frau ist.
2. Bertha v. Suttner,
weil sie für den Frieden gearbeitet hat,
und dies erscheint mir etwas vom Größten
zu sein, wofür man arbeiten kann.
25 Jahre:
1. Leo Tolstoi,
weil er offne Augen besaß für alles, was
gerecht, edel und schön ist unter den
Menschen und gleichei'weise allesSchlechte
haßte, was sich ebenfalls unter ihnen,
sowohl im privaten wie im öffentlichen
Leben findet. Doch vielleicht haupt-
sächlich darum, weil er selbst lebte, wie
er lehrte.
2. Björnstjerne Björnsson,
Kampflust, Begabtheit, Rednerkunst und
Humor.
3. Professor Birkeland,
weil er eine für die Menschheit sehr
nutzbringende wissenschaftliche Erfin-
dung gemacht hat. Er hat ein Verfahren
erfunden, wonach man den in der Luft
befindlichen Stickstoff so verwenden
kann, daß er den Pflanzen zugute kommt.
Wenn die Bauern das nach seinem Ver-
fahren hergestellte Dungmittel gebrau-
chen, gedeihen ihre Felder besser. Dies
bedeutet einen Gewinn für das ganze
Land. Auch ist daraus eine neue In-
dustrie erwachsen, die viele Arbeiter
beschäftigt. Und die Erzeugnisse dieser
Industrie sind ein wichtiger Ausfuhr-
artikel geworden, der dem Lande viel
Geld einbringt. Er ist einer der Männer,
von denen Norwegen den größten Nutzen
gehabt hat.
4. Meinem Vater,
1. er tat das Seine,
2. tu ich das Meine ?
(Neunorwegisch. )
25 Jahre:
1. Ganz und gar möchte ich niemand
ähnlich sein. Ich möchte wohl einem
der großen Männer der Geschichte darin
gleichen, daß sie nicht nervös waren.
2. Tora (Bekannte),
sie will, kann aber trotzdem sagen:
Nicht wie ich will, sondern wie du willst.
3. Meiner Mutter,
sie war selbstlos, gab sich ganz für andre
und verrichtete ilire Arbeit für ihren
Gott. Sie konnte alles erreichen, denn sie
hatte beten gelernt. Sie war treu im
Kleinen wie im Großen. (Neunorwegisch.)
4. Meinem Vater,
weil er ehrlich und gut und natürlich war.
5. Paulus,
er erachtete alles für Tand außer dem
einen — Christus gleich zu sein. — Chri-
stus war ihm das Leben und Sterben ein
Gewinn.
6. Henrik Ibsen,
Weil er sich selbst treu war.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter
16
Die Wahl des Ideals.
Ganz natürlich wird die reife Jugend bei der Wahl ihrer Vorbilder eine weitere
Ausschau halten können als das Kindesalter mit seinem engeren Erfahrungskreis.
Die Gesichtspunkte mehren sich nicht unbeträchtlich. Ich habe die Klassifi-
zierung nach sorgfältiger Prüfung auf die in der untenstehenden Tabelle ange-
gebenen Gruppen beschränkt, die allgemeines Interesse beanspruchen dürften.
Tabelle.
Die Zahlen geben den Prozentsatz der verschiedenen Altersstufen an.
Alter
18
19
20
21
22
23
24—25
Zusammen
Anzahl der Beant-
wortungen . .
M.
Fr.
60
55
72
78
90
95
55
65
44
45
34
45
44
56
439 { «3«
I. Bekanntenkreis
M.
Fr.
5
29
7
36
4
26
6
29
8
31
30
7
40
5
32
ft) Eltern ....
M.
Fr.
10
4
13
2
13
4
12
2
12
16
3
19
2
14
b) Verwandte . .
M.
Fr.
6
1
2
1
1
5
3
4
2
4
3
1
3
c) Bekannte . . .
M.
Fr.
5
13
3
22
12
1
12
3
15
12
18
2
15
II. Öffentliche Per-
sonen ....
M.
Fr.
95
71
93
64
96
74
94
71
92
69
100
70
93
60
95
68
a) Geschichte des
eignen Landes
M.
Fr.
5
9
12
3
11
4
11
3
6
3
10
8
9
3
b) Fremde Ge-
schichte . . .
M.
Fr.
23
20
14
15
17
18
24
8
22
15
25
18
17
14
21
15
c) Dichter des eig-
nen Landes . .
M.
Fr.
34
20
30
26
31
28
38
40
30
23
32
38
38
21
33
28
d) Fremde Dichter
M.
Fr.
—
4
1
1
1
4
2
5
5
8
4
5
4
2
e) Sonstiger Art .
M.
Fr.
28
22
33
19
36
23
17
18
29
23
25
10
24
25
28
20
Entnehmen wir der Tabelle zunächst das uns hier besonders interessierende
Verhältnis — wie sich in der Jugendzeit der Übergang vom örtlichen zum weiteren
Ideale vollzieht — so werden wir aus der Tafel 1 Seite 16 über die „Wahl
aus dem Bekanntenkreis" einige Anhaltspunkte gewinnen.
Zunächst fällt uns ins Auge, daß die Kurve der weiblichen Versuchspersonen
beträchtlich höher als die der männlichen liegt und daß somit das im Kindes-
alter so typische Verhältnis der weit stärkeren Inanspruchnahme des persönlichen
Bekanntenkreises durch die weiblichen als durch die männlichen Personen,
bei ihrem Suchen nach Idealen — unverkennbar im höheren Alter fortgesetzt
IQ Martin Luther Reymert
wird (wir finden hier die Ziffern Fr. 29 v. H., M. 5 v. H. — bei Goddard in „Ne-
gative Ideals" Fr. 42 v. H., M. 23 v. H. und bei Barnes Fr. 23 v. H., M. 8 v. H.).
Ferner bemerken wir, daß die Kurven der beiden Geschlechter dieses Alters keinen
größeren Schwankungen unterworfen sind und daß dabei das erwähnte Verhältnis
gleichmäßig besteht.
Beide Kurven erreichen den Gipfelpunkt im 24 — 25jährigen Alter. Barnes
nimmt an, daß man bei etwaigen Untersuchungen erwachsener Altersstufen einmal
zu dem Punkt gelangen würde, wo die Bekanntschaftskurve wiederum einen deut-
lichen Anstieg zeigt^). Bei den vorgeschritteneren Altersstufen macht sich ja
erfahrungsgemäß die Neigimg bemerkbar, wieder zu den örtlichen Idealen im
allgemeinen zurückzukehren. Ein wichtiges Moment kommt meines Erachtens
bei der Idealuntersuchung des erwachsenen Alters noch hinzu, die Rolle nämlich,
die während der Wahl der Wert des gewählten Ideals für das Individuum spielen
kann. Je nachdem eine Persönlichkeit heranwächst und ein immer schärferes
Unterscheidimgsvermögen erwirbt, scheint es
für sie angemessen, sich in ihrem idealen
Streben nachdrücklich an eine handgreif-
liche, lebende Persönlichkeit der Familie oder
des Umgangskreises zu halten, was sodann
natürlich die Wahl eines örtlichen Vorbildes
fördern muß. Bei der Durchsicht der Beant-
-vH wortungen des 24 — 25jährigen Alters habe
ich in der Bekanntschaftsgruppe den be-
Tafel 1 stimmten Eindruck erhalten, als bezeichneten
eben die steigenden Kurven dieses Alters eine
Entwicklung — und zwar eine Entwicklung in gesunder Richtung, da nun der
kritische Sinn in wertvoller Weise mit zum Ausdruck kommt. Vielleicht könnte
dieser Umstand geeignet sein, schulpädagogische Konsequenzen für die sittliche
Erziehung nach sich zu ziehen. Auch dürften fortgesetzte Untersuchungen mit
verschiedenartigem Material und unter verschiedenen Bedingungen in bezug auf
das Eintreten des hier besprochenen Vorgangs in der reiferen Jugendzeit wert-
vollen Vergleichungsstoff zuwege schaffen. ^
Da die überwiegende Anzahl der hier untersuchten Schüler der Volksschule
entstammt, mag es Interesse haben, die norwegische Kurve des Mittelprozent-
satzes der Bekanntschaftswahlen beider Geschlechter vom 7. — 25. Jahre dar-
gestellt zu sehen, wobei noch besonders zu bemerken ist, daß die Versuchsper-
sonen mit nur wenig Ausnahmen den nämlichen Schulgang hinter sich haben^).
Da man ja davon ausgehen kann, daß man in den Lehrerschulen die besseren
oder besten Schüler der Volksschule wiederfindet, scheint hier eine Normalkurve
unsrer Verhältnisse vorzuliegen, wie sie dem allgemeinen als natürlich angenomme-
nen Verhalten entspricht, daß nämlich die nordische Jugend auf psychischem
Gebiet eine langsamere Entwicklung zeigt als die Jugend der südlicheren Breiten-
grade.
^) Studies in Education, S. 360.
*) Nur etwa 12 v. H. der Schüler machen zwischen Volksschule und Seminar ihr
Mittelschulexamen; einzelne besuchen in der Zwischenzeit eine Volkshochschule.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter 17
Was die Wahl eines Vorbildes boim andern Geschlecht betrifft, so wählten in
dieser Studie 56 v. H. aller weiblichen Versuchspersonen (bei Barnes 50 v. H.)
ein männliches Ideal^), während nur ein einziger Mann eine Frau (seine Schwester)
erwählte (bei Barnes 0 v. H.). In der Kurve des weiblichen Geschlechts macht
sich hier keine merkbare Tendenz geltend.
?0
7 8
9
70
7/
7^
13
rif
15
16
17
18
IS
20
27
22
23
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60
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10
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Tafel 2. Kurve des Bekanntenkreises
Eine Kurve, deren größerer Teil einen ziemlich ebenmäßigen Lauf darbietet, was
vielleicht mit der Tatsache versöhnen könnte, daß diese Kurve im Kind es alt er
höher als die irgendeines andern Landes liegt.
Die Wahl der Eltern.
Diese scheint in Ansehung der hier untersuchten Altersklassen eine weit größere
Rolle bei den Frauen (14 v. H.) als bai den Männern (2 v. H.) zu spielen; Töchter
hängen ja viel inniger an Vater und Mutter als Söhne, eine Tatsache, die wohl ihre
Erklärung in dem allgemein bekannten Umstand findet, daß der Knabe sich
früher von der Häuslichkeit emanzipiert als das Mädchen. Mit dem Einfluß der
Mutter auf den Knaben ist es ja baim Eintritt ins Puber täts alter nahezu vorbei,
von nun an sucht der Knabe instinktmäßig den Vater ; aber der Vater muß Zeit
und die glückliche Gabe des Verständnisses haben, um auf den Sohn in kamerad-
schaftlich vorbildlicher Weise einwirken zu können. Ist vielleicht hierin der Grund
für den niedrigen Prozentsatz der jungen Männer in dieser Gruppe zu suchen?
1) Indem Stanley Hall in „Adolescence" (Vol. II, S. 391) die Ergebnisse der Ideal-
untersuchungen und der sich daran schließenden Studien aufzählt, spricht er unter
anderm aus: „Die traurigste Tatsache, die aus diesen Studien hervortritt, ist, daß
beinahe die Hälfte unsrer amerikanischen Mädchen im Übergangsalter ein männliches
Ideal wählt oder einem Manne gleich sein will". Und ferner: , .Während immer mehr
Frauen niedrigere und höhere Schulstufen durchmachen, sind die Ideale des Ge-
schlechts noch viel zu sehr männlicher Art. Die Lehrbücher erzählen viel zu wenig
über Frauen. Wenn eine Biblische Geschichte der Frau, eine Geschichte für Frauen,
vorgeschlagen worden ist, fürchtet die Frau stets, dies müsse zu einem Zurückver-
setzen ihrerseits in den alten Sklavenstand führen."
Daß 56 v. H. unsrer weiblichen Versuchspersonen ein männliches Ideal wählen,
sollte die Aufmerksamkeit auch bei uns in hohem Maße wachrufen. Die strenge For-
derung einer Differenzierung der Geschlechter — auf die Medizin und Psychologie
immer wieder zurückkommen — sollten selbst die Frauenrechtlerinnen — in ihrem
eignen Interesse — nicht außer acht lassen.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 2
13 Martin Luther Reymert
Bai den mannigfaltigen „Gruppierungen" in statistisch-pädagogisclien Arbeiten
läuft man Gefahr, die Beurteilung viel zu einseitig zu vollziehen. Wahl und Be-
gründung hängen innig zusammen in den Idealstudien, und in dieser Gruppe halte
ich es zur Erläuterung der Wahlen für angezeigt, gleich an dieser Stelle auf einen
auffallenden Zug der Begründung aufmerksam zu machen. Die Eigenschaft
nämlich, die — ganz besonders von Frauen — als die höchste, für die Wahl von
Vater und Mutter entscheidende geschätzt wird, ist das unbedingte Vertrauenhaben
zu ihnen: ,,an sie oder an ihn kann ich mich stets wenden, wie schlimm es auch
stehen mag".
In der Gruppe ,, Verwandte" machen sich frühere Generationen (Großväter
und Großmütter) in hervorragender Weise bemerkbar, so daß mir der Eindruck
verblieb, als suchten die jungen Leute aus einer Zeit wie der unsrigen, die mehr
oder weniger voller Bewegung ist und ein ruhiges Überblicken so schwer macht,
in eine andre Zeit absoluteren Gepräges hinüber. Dieser Eindruck wird
durch die angeführten Gründe noch in hohem Maße verstärkt.
Bekannte.
Auch hier ist die Ziffer der weiblichen Versuchspersonen (12 v. H.) höher als
die der männlichen (2. v. H.) — ein Verhältnis, das zum Nachdenken auffordert.
„Alles was Jugend heißt, verhält sich in erstaunlichem Maße plastisch und sugge-
stiv zu seiner Umgebung", sagt Stanley Hall. Diese Studie scheint anzudeuten,
daß junge Mädchen von 18 — 25 Jahren erheblich mehr als junge Männer (in
diesem Fall um das Sechsfache) von Freunden und Freundinnen sogar in wirk-
lichen Lebensfragen beeinflußt werden. Die von den weiblichen Versuchspersonen
angegebenen Begründungen für die Wahl ihres Vorbildes im Bekanntenkreis
verraten eine Sympathie für den Erwählten so stark, daß meines Er achtens nicht
angezweifelt werden kann, wie ihnen die Beantwortung der Frage : Was würde
sie oder er wohl hierzu sagen ? — geradezu eine Lebensnorm zu sein scheint.
Wir befinden uns ja hier im Alter der Busenfreundschaften.
Ein seitens der zuständigen Angehörigen oder wenn möglich seitens der Schule
bewußtes Überwachen, ein Kultivieren der ,, Bekanntschaftsideale" junger Mäd-
chen in diesem Alter, dürfte vielleicht eine große pädagogische Aufgabe dar-
stellen.
Auch in dieser Gruppe (wie in derjenigen der ,, Eltern") spielt das weibliche
Bedürfnis nach ,, Verständnis" und vertrauender Hingabe eine große Rolle. Meist
fällt die Wahl auf gleichalterige oder etwas ältere Freundinnen, seltener auf
Männer, die dann lieber einer etwas höheren Altersstufe angehören. Die Lehrer
der Schule waren von 1 v. H. der männlichen und 2,5 v. H. der weiblicher» Ver-
suchspersonen gewählt.
Geschichte des eignen Landes^),
Dieser Studie zufolge wenden sich 9 v. H. der männlichen und 3. v. H. der weih-
lichen jungen Leute dieses Alters bei ihrem Suchen nach einem Vorbilde in un-
mittelbarer Weise der vaterländischen Geschichte zu. Die Wahlen fallen sehr
*) Vgl. meine Studie über norwegische Volksschulkinder.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter 19
zerstreut aus; von beiden Greschlechtern am höchsten geschätzt sind: 1. Tordens-
kjold, 2. Olav der Heilige, 3. Olav Trygvason. Von Männern allein erhielt die
höchste Stimmenanzahl Haakon Haakonson^), sodann mehrere (meist radikale)
Politiker. Von norwegischen historischen Persönlichkeiten der Jetztzeit nimmt
Roald Amundsen den ersten Platz ein, während auf Chr. Michelsen und Lövland
(das Ministerium der ünionsauflösung 1905) je eine Stimme entfiel.
Das höherstehende weibliche Ideal norwegischer Geschichte ist auch für diese
Altersstufe Anna Kolbjörnsdatter, sie, die sich hauptsächlich durch typisch
männliche Tugenden auszeichnete ! Wie beredt wiederum ! Abermals drängt sich
uns die Frage auf: Müßte man nicht in die Schulen (zumal in die Lehrers chulen)
vaterländisch historische Biographien in vertiefter Behandlung einführen und
zwar derart, daß in ihnen die historische Persönlichkeit sowie ihr national-sozialer
Hintergrund gleich bewertet werden?
Fremde Geschichte.
Die Geschichte fremder Länder zeigt sich hier reicher an vorbildlichem Stoff
als unsre eigne, denn 20 v. H. der Männer und 14 v. H. der Frauen finden hier
ihr Ideal. Die auf diesem Gebiete gewählten Personen dürften vielleicht für
spätere Vergleichszwecke allgemeines Interesse haben.
Der Reihenfolge nach erhielten die meisten Stimmen beider Geschlechter
folgende Persönlichkeiten: 1. Sokrates, 2. Washington, 3. Napoleon, 4. Cäsar,
5. Gladstone, 6. Livingstone^).
Nur von Männern wurden gewählt :
1. Lincoln, 2. Demosthenes, 3. Bismarck.
Je eine Stimme erhielten hier: Kaiser Wilhelm, Friedrich der Große, Epa-
minondas, Aristides, Aristoteles, Diogenes, Alexander der Große, Karl XII.,
Gustaf Adolf, Lloyd George, Nobel, H. Dunnant, Lavas6, Karl Marx. Jean Jaurös.
Nur Frauen wählten:
1. Florence Nightingale (die weitaus größte Stimmenanzahl), 2. Jeanne D'arc,
3. Königin Elisabeth.
Je eine Stimme entfiel auf: Königin Luise, Königin Margreta, Königin Victoria,
Arnold Winkelried, Benjamin Franklin, William Pitt (der Ältere), Cornelia (die
Mutter der Gracchen), Eleonora Ulfeldt^).
^) Der König, welcher in Henrik Ibsens „Die I^onprätendenten" den Königs-
gedanken hat: alle einander widerstrebenden Strömungen in einem geeinten
Norwegen zu sammeln.
*) Am eingehendsten beschäftigt man sich mit Sokrates im Fach „Pädagogik mit
Seelenlehre". Den für diese Wahl angegebenen Gründen aber läßt sich entnehmen,
daß er den Schülern geschichtlich der glänzendste Vertreter moralischen Mutes
und Wahrheitsforschens ist. Als Pädagog mit der „sokratischen Methode" kommt er
nicht zur Erwähnung.
') Die auf Florence Nightingale entfallende große Stimmenanzahl der Frauen
läßt sich zvmi Teil daraas erklären, daß in einer der Schulen über sie Vorträge gehalten
worden waren. Sollte denn aber nicht die Begierde, mit der die Frauen dies weib-
liche Ideal ergriffen, uns eine Weisung sein, Frauenideale zu finden tmd auszunutzen ?
Gerade für das plastische Alter von 18 — 25 Jahren dürfte dies tiefgehendste Bedeutung
haben.
20
Martin Luther Reymert
Ein Zusammenfassen der Gruppen „Vaterländische Geschichte" und ,, Fremde
Geschichte" gibt für diese Altersstufen folgende Kurven,
Alter
l-ä 9 10 77 72 73 7» /S 16 17 18 1.9 20 27 22 23 Z-t. aS
6eschic/)te überhdupf
" des eignen Ldndes
Nicht untensuc/it
Tafel 3. Die Wahl geschichtlicher Ideale
die darzutun scheinen, daß sich der typische Unterschied zwischen den Geschlech-
tern im Kindesalter auch in diesen Jahren wiederfindet, in dem historisches In-
teresse bei jungen Männern weit stärker vertreten zu sein scheint als bei jungen
Mädchen. Es mag wohl sein, daß wir es hier mit einer fundamentalen Verschieden-
artigkeit zu tun haben, die seinerzeit pädagogische Konsequenzen zeitigen dürfte.
Dichter des eignen Landes.
Dieser Gruppe läßt sich die weitaus größte Zahl der erwählten Vorbilder (M.
31 V. H., Fr. 24 v. H.) einordnen, und diesen Vorzug mag sie zum Teil dem Um-
stand verdanken, daß mehrere unsrer großen Dichter sich neben einem Weltruf
große nationale und soziale Verdienste erworben haben. Stanley Hall
sagt in ,,Adolescence" über das reifere Jünglingsalter i) : ,,He is bemastered by the
style of great authors he has read and is an adept at dialect and the personation
of national types". Wort für Wort kann ich dies Urteil gemäß der von mir ge-
machten Erfahrungen in dieser Gruppe miterschreiben. Wa^die Liebe zum Dia-
lekt betrifft, so tritt dieselbe in dieser Studie in der recht ansehnlichen Wahl von
Dichtern zutage, die sich der ,, neunorwegischen", auf verschiedenen Dialekten
aufgebauten Sprache") bedienen.
Die von beiden Geschlechtern bevorzugtesten Dichter sind :
Henrik Wergeland (M. 66, Fr. 50 v. H.), Björnstjerne Björnson (M. 15, Fr. 5 v. H.),
Ivar Aasen (neunorwegischer Dichter) M. 11, Fr. 6 v. H.), Arne Garborg (neunor-
wegisch) (M. 11, Fr. 2 V. H.), Henrik Ibsen (M. 9, Fr. 3 v. H.), Aasmund Vinje
(neunorwegisch) (M. 7, Fr. 4 v. H.), Per Sivle (M. 3, Fr. 1 v. H.), je eine Stimme
haben Welhaven, Ivar Mortensen, Sven Moren.
Von Männern allein entfielen die meisten Stimmen auf Ludwig Holberg, von
Frauen allein die meisten auf Camilla Collet, demnächst auf Hulda Garborg und
Barbra Ring. Jörgen Moe und Sigrid Unseth erhielten je eine Stimme.
^) Vol. II, S. 316.
*) Mit Bezug hierauf herrscht hier im Lande ein scharfer Sprachkampf.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter
21
Fremde Dichter,
wurden hinsichtlich der Stimmenzahl in folgender Reihenfolge gewählt:
Von beiden Geschlechtern : Oehlenschläger.
Von Männern allein: Leo Tolstoi, Goethe, Fröding^) (schwedisch), Homer.
Von Frauen allein: Bertha v. Suttner.
Fassen wir die Gruppen eigne und fremde Dichter für das Alter 18 — 25 Jahre
zusammen, so entstehen folgende Kurven der Tafel 4.
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30
ZO
78
13
Alter
ZO ZI zz
Z3 Z''.Z5
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30
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10
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ZO
zr zz Z3 z'f.zs
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Tafel 4
Tafel 5
umfaßt :
Die männliche Kurve verrät steigende Tendenzen. Der starke Fall der weib-
lichen Kurve im 24 — 25jährigen Alter läßt sich durch die reiche Wahl persön-
licher Bekannter in diesen Jahren (40 v. H.) erklären.
Das nebenstehende Diagramm (Tafel 5) stellt dar, wie sich das Interesse für
nationale Dichter zum Interesse für nationale Geschichte und für Geschichte
überhaupt verhält. Da meine beiden, an dieser Stelle bekanntgegebenen Studien
zu bestätigen scheinen, daß die Schule (besonders offenkundig bei den Schülern
des Jugendalters) in hohem Maße verantwortlich ist für den den Schülern darge-
botenen „vorbildlichen" Stoff, so könnte vielleicht das Diagramm einen Einblick
in die Rolle gewähren, die die obengenannten Gruppen in der norwegischen
Schule spielen.
Eine Gruppe sonstiger Art
M.
v. H.
Die Wahl von Künstlern 2
,, ,, ,, Männern der Realwissenschaft • • • 2
,, Personen der Dichtung 1
vom Gesichtspunkt aus : Niemand, da alle Fehler haben 'i
öffentlicher, rein religiöser Charaktere 8
öffentlicher, rein pädagogischer Charaktere 6
andrer Persönlichkeiten (Vorkämpfern der Enthalt-
samkeit u. ä.) 6 —
Von Künstlern wurden von beiden Geschlechtern gewählt: 1. Ole Bull (der
Meister Norwegens auf dem nationalen Instrument, der Geige), 2. Edvard Grieg
(der berühmte norwegische Komponist).
Von Männern der Realwissenschaften : 1. Darwin, 2. Nils Henrik Abel.
Von öffentlichen, rein religiösen Charakteren: 1. Luther^), 2. H. Nielsen Hange.
Aus der Biblischen Geschichte (M. 3 v. H., Fr. 3 v. H.) : von beiden Geschlechtern
Paulus, Johannes der Täufer,
Fr.
v.H.
3
1
1
2
9
5
*) Fröding war kürzlich Vortragsweise behandelt worden.
") Den von allen betreffenden Personen angegebenen Gründen zufolge gehört
Luther dieser Gruppe an, als Pädagog findet er nicht Erwähnung.
22
Martin Luther Reymert
Von Männern allein : Joseph, Abraham, Moses.
Von Frauen allein: Maria (die Mutter Jesu), Ruth.
Von öffentlichen, rein pädagogischen Charakteren:
Gewählt von bsiden Geschlechtern: 1. Bekannte, um die Schule verdiente
Norweger, 2. Kr. Kold, dänischer Volkshochschullehrer, Pestalozzi 3 (2),
Rousseau 2 (2), Grundtvig 2 (2).
Gewählt von Frauen allein : Ole Vik, Henrik Rytter.
Die Gründe.
Betrachtet man die Gründe, die die Wahl des Vorbildes bestimmen, so gewinnt
man in mancher Beziehung einen wertvollen Einblick in das innere Leben der
jugendlichen Personen. Den Stoff genau zu klassifizieren, ist allerdings nicht
leicht, da hier gleichzeitig mehrere Gesichtspunkte zur Geltung kommen; jedoch
habe ich nach mehrmaliger sorgfältiger Prüfung einige Prozentzahlen heraus-
gefunden, die alle Glieder mit in Betracht kommen lassen. Hierbei trat mir
klar vor Augen, daß die rein individuell ethischen Eigenschaften sowohl von
Männern wie Frauen am höchsten geschätzt werden.
Rein ethisch
betonte G
runde
Alter
18
19
20
21
22
23
21—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
44
66
58
63
51
68
63
73
66
63
40
52
54
68
54
65
> 60
In dieser Gruppe sind die für die Wahl einer Person abgegebenen ethischen
Gründe religiöser Art nicht mit einbegriffen. ^
Ausgesprochen religiöse Gründe wurden ziffernmäßig wie folgt angegeben:
Alter
18
19
20
21
22
23
24—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
15
9
18
15
25
16
20
16
16
22
23
28
13
30
19
20
l 16 V. H.
Wir sehen, daß auf dieser Altersstufe ethische Eigenschaften von Frauen
höher als von Männern eingeschätzt werden, während ein Wesensunterschied der
Geschlechter in bezug auf die religiöse Bewertung — wenn man nicht etwa den
mit den Jahren raschen und gleichmäßigen Anstieg der weiblichen Kurve in
Betracht ziehen will — nicht nachweisbar ist. Goddards Annahme, daß die
Frau von Natur aus religiöser veranlagt sei als der Mann, ließe sich vielleicht
dahin begrenzen, daß bei der. Frau religiöser Sinn und religiöses Gefühl oft mit
den Jahren wächst, während dem Manne seine praktische Tätigkeit, die stärker
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter 23
differenzierten weltlichen Interessen oft Hemmnisse für das Zustandekommen
eines allgemein religiösen Verhältnisses sind.
Die Mittel der ethischen Eigenschaften beziffern sich auf 60, die der religiösen
aber nur auf 16: Das Verhältnis der beiden Werte gibt zu mancherlei Erwägungen
Anlaß. Daß bei den ethischen Gründen oft der religiöse Hintergrund durchschim-
mert, ist nicht in Abrede zu stellen; aber im ganzen wirkte das Ergebnis nach mei-
nen in der Volksschule gemachten Erfahrungen etwas überraschend.
Die Schüler treten im 18. Lebensjahre mit verhältnismäßig geringen Kennt-
nissen und mit einem recht beschränkten Gesichtskreis in die Lehrerschule ein,
welche nun diesen jungen Gemütern im Laufe von drei Jahren durch viele
„Fächer" hindurch die Welt der Vergangenheit und Gegenwart so vollständig
wie nur möglich erschließen, aber auch zugleich Erzieher und Lehrer aus ihnen
machen soll^).
Das eine Wunder nach dem andern sehen die jungen Leute nun leuchtend vor
sich stehen — sie sehen Sokrates im neuen Licht, Darwin und alle die andern,
die menschliches Denken in neue Bahnen leiteten. Es wird gerüttelt an den
bisher in Heim und Schule erworbenen Dogmen und Anschauungen. Ein beun-
ruhigendes Gefühl von der Mannigfaltigkeit des Lebens, von der Unzahl der Pro-
bleme ergreift sie. Mit erwachender Kritik und neu entstehendem Forscherdrang
suchen sie nach Anhaltpunkten — suchen dieselben bei den großen Geistern aller
Zeiten, forschen in Religion xmd Literatur — und finden meist scharf voneinander
abweichende Standpunkte. Eine allgemeine Unsicherheit des Gemütes, ein
Schwanken des Urteils wird die Folge dieser inneren Erfahrungen. In dieser
Weise erkläre ich mir, daß die jungen Leute vorläufig auf einer allgemeinmensch-
lichen Grundlage der Ethik Ruhe suchen, in einem Streben nach und einem Fest-
haltenwollen an den besten Eigenschaften, die den meisten großen Geistern imd
den besten, ihnen im Leben entgegentretenden Menschen gemein zu sein scheinen.
Hier bewegen sie sich auf neutralem Boden, ohne in ein gegensätzliches Verhältnis
zur — Religion zu geraten, die in diesen Jaliren wohl der Anlaß so mancher inne-
rer Kämpfe ist. Die hohe Prozentzahl der „ethischen Gründe" scheint darum
anzudeuten, daß das ethische Streben in praktischer Beziehimg stärkeren Beschlag
auf die reifere Jugend legt als das religiöse, und daß bei uns ein abgeklärter Stand-
punkt auf diesem letzteren Gebiete einem noch reiferen Alter angehört. Hiermit
sei aber nichts gesagt über die Rolle, welche die Religion, religiöser Sinn und reli-
giöses Fühlen als Hintergrund alles ethischen Strebens spielt. Daß die Gruppe
,,rein religiöse Gründe" keine höhere Prozentzahl aufweist, dürfte teilweise in
der oben dargelegten Entwicklung eine Erklärung finden, auch mag dem durch
die physische Entwicklung dieser Jahre stark geförderten ,, Ich "-Gefühl eine ge-
wisse Bedeutung beigelegt werden. Man vergesse auch nicht, daß die Gottheit
bei dieser Studie außer Betracht gesetzt wurde, und ferner, daß wir uns beim Be-
treten des religiösen Gebiets auf einem Grund befinden, wo viele eine natürliche
Scheu haben, auch sich selbst Rechenschaft zu geben.
^) Man kann sich nicht genug wundern, daß der Schule diese Aufgabe so weit wie
bisher geglückt ist. Es ist schwer begreiflich, wo in unsern Tagen die Zeit dazu
herkommt — man hat auch eben jetzt in Erwägung gezogen, die Schulen zu vier-
jährigen zu machen.
24
Martin Luther Reymert
Unter den ethis chen Ei genschaften sehen wir Opferwilligkeit und das Ver-
langen, andern zu helfen, vor allen andern geschätzt^). Die Zahlen hierfür
lauten wie folgt:
Alter
18
19
20
21
22
23
24—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
12
42
12
39
14
43
20
47
25
40
17
32
13
48
16
42
J 29 V. H
„Edel", ,, selbstlos", „opfert sich für andre", „denkt mehr an andre als an sich
selbst", sind die Gründe, die wir am häufigsten antreffen. Frauen scheinen in
diesem Alter altruistischer als Männer veranlagt zu sein. Moralischer Mut
scheint für dieses Alter eine begehrenswerte Eigenschaft zu sein. ,, Hielt an seiner
Sache fest, was auch die andern darüber meinten", ,,wich nicht von dem, was
er als Recht erachtete", ,,ging für seine tJberzeugung sogar in den Tod" sind oft
wiederkehrende Gründe. Vergleichshalber seien hier auch die Prozentzahlen derer
angegeben, die dem physischen Mut, der Tapferkeit huldigen:
Alter
18
19
20
21 22
23
24—25
Zusammen
Mittel
Physischer Mut . .
Moralischer Mut .
M.
Fr.
M.
Fr.
2
2
22
2
3
4
18
10
G
3
12
2
7 3
8 —
23 24
12 13
7
4
25
4
12
13
5
6
3
20
7
1 „
l 13.3
Wie wir sehen, scheint der Mut in beiderlei Gestalt (vgl. Lehmann) viel höher
von den jungen Männern als von den jungen Mädchen geschätzt zu werden.
Pädagogisches Interesse dürfte es vielleicht haben — als Hintergrund jeder Moral-
erziehung in diesen Jahren — den ,,Mut" zu betonen. Stehen wir hier nicht vor
Eigenschaften, deren unsre Zeit mit ihren vielen verschwommenen Tendenzen
besonders bedürftig wäre?
^) In der Übersicht über ,,Det Kgl. Danske Videnskabernes Selskabs Forhand-
linger" 1916, Nr. 2, hat der bekannte Kopenhagener Professor Alfr. Lehmann
soeben eine Studie über mehrere tausend dänische Kinder („Om Borns Idealer")
veröffentlicht. Eine besondere Bedeutung kommt der Arbeit dadurch zu, daß sie
meines Wissens die erste ist, die Vergleiche einerseits z^\dschen Stadt- und Landkin-
dern, und anderseits zwischen Schulen für beide Geschlechter zusammen und Knaben-
und Mädchenschulen zu ziehen versucht.
Professor Lehmann äußert sich in seiner Studie (S. 92) in folgender Weise: , .Zärt-
lichkeit ist meines Brach tens das typisch weibliche Gefühl, das in seiner höchsten Aus-
drucksform gewöhnlich Mutterliebe genannt wird und im Beschützungsinstinkt
wvirzelt. Da dieser Instinkt bei allen höheren Tieren, zumal bei den Weibchen und
nur ausnahmesweise bei den Männchen vorhanden ist, wäre anzunehmen, etwas
Ähnliches mit Bezug auf das demselben entspringende Zärtlichkeitsgefühl des Men-
schen zu finden. Und da dieses gerade das kennzeichnende Gefühl der Frau sein soll,
müßte es um so stärker werden, je mehr die Entwicklung des Kindes sich dem ,, Weib-
werden" nähert."
Die Vermutung, die durch den Befund Lehmanns für das 8 — 16jährige Alter
erhärtet wird, findet, wie man sieht, eine CNÜdent« Bestätigung durch die von mir
untersuchten Alterstufen 18 — 25 Jahre.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter
26
In welchem Umfang Jugendschulen berechtigt sind, ,, Überzeugungen" zu
schaffen, wozu sie mir sehr wohl fähig zu sein scheinen, darüber könnte gestritten
werden. Das berührt aber nicht die Frage von der pädagogischen Heranleitung
zu p'-inzipiellen, ethischen Grundsätzen. Und gibt man dies zu, so wird in erster
Linie der moralische Mut sich als Ideal aufdrängen ; diese Eigenschaft ist in keiner
dogmatischen Überzeugung verkapselt. Die starke Opferwilligkeit der
Frauen, die, recht oft etwas verschwommen, als das Bedürfnis „den Menschen
zu helfen"^) empfunden wird, sowie auch die von den jungen Männern vorge-
zogenen mehr energisch ausgeprägten Ideale, scheinen mir in den Jugendschulen
im hohen Maße aufmerksamer Beachtung zu bedürfen. Ich erinnere hierbei an
den Ausspruch Stanley Halls: Youth is peculiarly prone to enthuse for great
and distant causes and grow myopic for homely every day social duties", und:
„The social instincts of girls are perhaps still more in danger of to wide irradiation,
for their normal sphere of influence is more personal". (Adolescence, Vol. II,
S. 431.) Es scheint mir klar zu sein, daß die pädagogische Richtmig, deren
hauptsächlichste Verfechter auf deutschem Boden wohl R. Lehmann und
Fr. W. Förster^) sind, \md welche die Erörterung ethischen Stoffs in der Schule
fordert, im Recht ist — wenigstens insofern man diese Altersstufen berück-
sichtigt. Allerdings muß das Ziel hierbei nicht das sein, eine allumfassende Lebens-
anschauung zu bilden, sondern nur den jungen Menschen möglichst gute
Bedingungen zu schaffen, um ihren selbstgewählten Weg zu finden.
Intellektuelle Gründe.
Diese kommen ziffernmäßig in folgender Weise zum Ausdruck ;
Alter
18
19
20
21
22 23
24—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
25
25
34
17
35
25
21
20
40 17
22 20
12
13
23
20
1 23 v. H.
„Dem klaren Gedanken" scheinen beide Geschlechter in überwiegender Weise
zu huldigen, ebenso behauptet der ,,zähe Wille" einen ansehnlichen Platz, während
die Phantasie in klar ausgesprochener Weise nur eine unbedeutende Rolle spielt.
^) Die meisten werden wohl die bittre Tragödie erleben: Erst die hohen Ziele der
Jugendzeit gepaart mit dem Verlangen, der Welt einen neuen Lauf zu geben — und
dann die lähmenden Forderungen der Selbsterkenntnis und des praktischen Lebens.
Gar mancher mag hierbei den „Willen zum Leben" eingebüßt haben. Um nun wenig-
stens die pessimistische Reaktion dieser Tragödie kürzer und leichter ertragbar zu
machen — und um die Sturm- und Drangperiode möglichst in ein frohgesinntes,
handlungsfähiges ,, Mannesalter" auslaufen zu sehen, dürfte es ratsam sein, der Jugend
in den Schulen Beispiele aus Geschichte und Literatur vorzuführen. Diese müßten
in der Weise zugänglich gemacht werden, daß sie ohne jegliches ,, Moralisieren" und
ohne den Schülern ihre jugendliche Lebensfreude zu benehmen, kraft ihres eignen
Wertes wirkten. Ihre Herzen dürften sich nicht abgestoßen fühlen bei dem Bestreben
der Erzieher, ihrer Intelligenz — auch auf ethischem Gebiete — habhaft zu werden.
Man könnte ihnen z. B. Goethes Weg vom „Jungen Werther" bis zu den großen Wer-
ken seiner Mannesreife vorzeichnen.
*) R. Lehmann: „Erzieher und Eriiehung". Fr. W. Förster: ,, Schule und Cha-
rakter", sowie „Jugendlehre".
26
Martin Luther Reymert
Ein nennenswerter Unterschied in bezug auf die intellektuelle Idealität läßt
sich den hier vorliegenden Aussagen nicht entnehmen.
Ehre und Ruhm
als eigens hervorgehobene Werte erschienen bei 6 v. H, der Männer und 1 v. H.
der Frauen, ein Verhältnis, das wohl zum großen Teil auf den Einfluß der Schule
zurückzuführen ist.
Künstlerische Eigenschaften.
Unter diesen ist vor allem die Lust zum Schriftstellern ausgeprägt, sodann zur
Beredsamkeit und zur Musik.
Dies der Kunst gewidmete Interesse kommt, wie die untenstehenden Ziffern
zeigen, bei beiden Geschlechtern in gleicher Weise zum Ausdruck:
Alter
18
19
20 21
22 23
1
24—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
4
8
14
19
9
4
17
20
10
13
17
12
10
8
12
12
l 12v. H.
Daß 12 V. H. b3i der Wahl ihres Vorbildes unmittelbar die künstlerische Be-
gabung mit in B?tracht ziehen, scheint mir ein Zeichen dafür zu sein, daß die
unter den intellektuellen Gründen nicht klar als begehrenswert aufgeführte
Phantasie hier zu ihrem Rechte gelangt und daß sich die Jugend dieser Jahre
stark zur Kunst hingezogen fühlt.
Klar zum Ausdruck kommende nationale Gründe
bestimmen die Wahl von Vorbildern in folgender Weise:
Alter
18
19
20
21 22
23
24—25
Zusammen
Mittel
M.
Fr.
42
8
30
19
36
21
50 40
13 13
40
8
33 "
18
39
14
]. 27 V. H.
Diese Zahlen lassen deutlich erkennen, wie viel früher und wieviel stärker die
jungen Männer die nationale Idee ergreifen. Während sie bei den Frauen mehr
die Gestalt allgemeiner Vaterlandsliebe annimmt, ist sie den jungen Männern
in viel stärkerer Weise politisch differenziert^). Der Sinn für national-politische
Fragen ist bei den jungen Männern sehr ausgeprägt, und zwar scheint die un-
mittelbare Begeisterung für politische Vorbilder in diesen Jahren ent-
scheidender zu wirken als logische Gründe. Wie die Begeisterimg in diesen
Jahren gepflegt und ermuntert wird, dürfte daher vielleicht sehr entscheidende
Bedeutung gewinnen. Der Radikalismus tritt — wie es in diesen Jahren begreif-
lich ist — stark hervor. Das nationale Sinn scheint größtenteils von nationalen
Dichtern eingehaucht und genährt zu werden.
^) Staatsbürgerliches und kommunales Stimmrecht genießen beide Geschlechter
vom vollendeten 25. Jahre an.
über Persönlichkeitsideale im höheren Jugendalter 27
In pädagogischer Bsziehimg ist es wolil nur freudig zu begrüßen, wenn das
Nationalitätsgefühl beiden angehenden Volkserziehern eine so große Rolle spielt;
doch dürfte ein Hinweis von den weiteren Zielen auf die engeren hin, ein
Fingerzeig, daß diese jungen Menschen dem Vaterland besonders in der Schul -
Stube dienen sollen, wohl am Platze sein, und zwar umsomehr, wenn man berück-
sichtigt, welch niedrige Prozentzahl beider Geschlechter hier bei der Wahl von
Vorbildern ihren künftigen Beruf praktisch ins Auge faßt.
Das internationale Interesse
findet seine Betonung in den großen Programmen : international soziale Samm-
lung, Friedenssache u. ä., für die 7 v. H. der Männer und 4 v. H. der Frauen ihre
Stimme abgeben. Auch hier wie sonst in dieser Studie scheint das Jugendalter
die Zeit der hohen idealen Ziele zu sein.
Für 8 V. H. aller Frauen, die ihre Stimmen abgaben, war das ,, Frauenrecht*'
höchste Richtschnur bei der Wahl ihres Vorbildes, ein Umstand, der in einem Land
der Frauenemanzipation wie dem unsrigen wohl begreiflich ist^).
Hier tritt mir die Bedeutung des Vorbildes recht klar ins Licht, denn in
jeder einzelnen dieser Beantwortungen spürt man den Einfluß der Dichterin
Camilla Collet — dieser selten feinen Persönlichkeit, für die das „Frauenrecht"
nicht wesentlich politische Bedeutung hatte.
Zusammenfassung.
Zur Übersicht folgt hier schließlich eine Zusammenfassung der wichtigsten
Ergebnisse, die sich meines Er achtens der vorliegenden Studie entnehmen lassen.
1. Die Schule scheint als Quelle des vorbildlichen Stoffes für
die imtersuchten Altersstufen (18 — ^25 Jahre) eine beherrschende Rolle zu
spielen, denn 95 v. H. der Männer und 68 v. H. der Frauen suchen ihr Ideal
unter den lehrplanmäßig in der Schule behandelten öffentlichen Charakteren.
Vonden verschiedenen Fächern scheint der Unterricht in derMuttersprache
in dieser Beziehung am fruchtbringendsten zu sein, danach der Geschichts-
unterricht. Die Biblische Geschichte liefert sehr wenige Vorbilder.
2. Mehr Frauen als Männer wählen ihr Vorbild unter persön-
lichen Bekannten (Männer 5 v. H., Frauen 32 v. H.). Das Verhältnis zwischen
der Wahl „persönlicher Bekannter*' und „öffentlicher Charaktere" kann — bei
diesen Schülern nur bedingungsweise — als ein Maßstab persönlicher Ent-
wicklung gelten.
3. Eltern scheinen ein weit höheren Platz bei den weiblichen, als bei
den männlichen Schülern des Jugendalters einzunehmen : die weibliche Kurve
zeigt hier einen mit zunehmenden Jahren erfolgenden Anstieg.
Die bei Eltern am höchsten geschätzte Eigenschaft ist Vertrauens- und
verständnisvolle Kameradschaftlichkeit.
*) Die norwegischen Frauen genießen nunmehr allgemeines staatsbürgerliches und
kommunales Stimmrecht. Bei der letzten Wahl (1915) zum Storting (der norwegi-
schen Reichs Versammlung) machten die Frauen 58,09 v. H. der gesamten Wähler-
masse aus. — In den Städten stimmten 65 v. H. aller Frauen, auf dem Lande 43. v. H.
Keine Frau wvirde in das Storting gewählt.
28 Martin Luther Reymert
4. Freundscliaft scheint in diesen Jahren weit größere Bedeutung für
Frauen als für Männer zu haben. Das Bedürfnis nach Verständnis und
Vertraulichkeit dürfte hier den Hauptpunkt bilden. Das 19jährige Alter bezeichnet
für Frauen den Gipfel.
5. Unt^r Verwandten stehen die Großeltern am höchsten.
6. Die Lehrerpersönlichkeiten der Schule werden von 1 v. H. der Männer
und 3 V. H. der Frauen hoch eingeschätzt ; sie sind demnach nicht sonder-
lich bevorzugt als Vorbilder.
7. Große Schriftsteller und Dichter scheinen in charakterbilden-
der Beziehung den größten Einfluß auf das Jugendalter zu haben.
8. Die von Schülern norwegischer Lehrerschulen bevorzugtesten öffentlichen
Charaktere sind: 1. Henrik Wergeland (norwegischer Dichter), 2. Sokrates,
3. Luther, 4. Björnstjerne Björnson.
9. Der Sinn für Geschichte scheint für Männer und Frauen dieser Alters-
stufen im Verhältnis *5 : 3 zu stehen.
10. Aus den Gründen für die Wahl der Vorbilder sieht man, daß sowohl von
Männern wie Frauen die rein ethischen Eigenschaften am höchsten ge-
schätzt werden (betont von 54 v. H. der Männer und 65 v. H. der Frauen).
Opferwille und Hilfsbereitschaft sind stark hervortretende ethische Eigen-
schaften, doch in viel stärkerem Maße bei Frauen als bei Männern (Männer 16 v. H.,
Frauen 42 v. H.). Ein bevorzugter Platz kommt dem ,, moralischen Mut" zu, der
aber von Männern viel höher als von Frauen geschätzt wird (Männer 20 v. H.,
Frauen 7 v. H.).
IL Die Kurve der rein religiösen Gründe zeigt bei den Frauen einen
gleichmäßigen Anstieg. Es scheint, als griffe das ethische Streben in diesen
Jahren stärker in die praktische Wirklichkeit ein als das rein religiöse. Das
rein religiöse Streben wird von 19 v. H. der Männer und 20 v. H. der Frauen
betont.
12. Reinen Geisteseigeuschaften wird der höhere Tribut von Männern ge-
zollt (Männer 26 v. H., Frauen 20 v. H.). ^
13. Ehre und Ruhm werden wenig genannt, aber sechsmal so oft von Männern
als von Frauen.
14. Hohen Wert besitzen künstlerische Eigenschaften und zwar gleicherweise
für Männer wie für Frauen (Männer 12 v. H., Frauen 12 v. H.); obenan steht die
Lust zum Schriftstellern.
15. Ein starker Sinn für das Nationale offenbarte sich durchweg bei
den Untersuchten, mehr bei Männern als bei Frauen. Dabei macht sich ein
starker Radikalismus geltend. Der nationale Geist scheint meist
durch nationale Dichter, sehr wenig durch die nationale Geschichte ange-
regt und gestärkt zu werden.
16. Was die Wahl von Vorbildern des andern Geschlechts betrifft, so
wählen 56 v. H. der Frauen männliche Ideale; die Kurve der Jahre 18 — ^25
für das weibliche Geschlecht verrät keine merkbare Tendenz.
Nur ein Mann wählte ein weibliches Ideal.
Geza R^vösz, Das musikalische Wunderkind 29
Das musikalische Wunderkind.
Von Geza Revesz.
Heute, wo in Deutschland eine Anzahl von begeisterten Psychologen und
Pädagogen das Ziel ihrer wissenschaftlichen Bestrebungen in der Aus-
arbeitung von Methoden und Regeln und in der Vorbereitung neuer Ein-
richtungen erblickt, die eine systematische, auf wissenschaftlichen Prinzipien
gegründete, und nicht vom Zufall abhängige Entfaltung der geistigen Kräfte
der deutschen Nation ermöglichen soll, wird es von Interesse sein, wenn
ich hier ein besonderes Thema behandle, dem derselbe Gedanke zugrunde
liegt, wie dieser sozial-pädagogischen Strömung.
Es ist endlich zur Überzeugung geworden, daß man sich von höherem
kulturellen und sozialen Standpunkte aus nicht damit zufrieden geben darf,
nur einfach zuzusehen, wo die Begabten zufällig einen der Betätigung ihrer
Fähigkeiten angemessenen Platz finden möchten; es ist klar geworden, daß
man Auslese, Auswahl, Richtung und Entfaltung der Begabten des Volkes
nicht dem Spiel der launischen Willkür und des blinden Zufalls überlassen
darf, was zur Vergeudung der unersetzlichen Kräfte der Nation führt,
sondern am Ausbau einer Organisation mitwirken soll, deren Aufgabe es
ist, das Begabungsproblem in seinem ganzen Umfang zu untersuchen, die
Prinzipien und Methoden dieses Unternehmens festzustellen und über die
Auswahl und geregelte Entfaltung der Begabten konkrete Vorschläge zu
machen. ^)
Zum Problem des Aufstiegs der Begabten gehört selbstverständlich auch
das Problem der höchstbegabten, das der genial veranlagten Kinder. Daß
solche Kinder in der Tat, und nicht einmal so selten, vorkommen, lehrt
vor allem die Musikgeschichte. Der eigentliche Grund, warum hochbegabte
Kinder eben besonders auf dem Gebiete der Musik auftauchen, wie es
kommt, daß ein Kind zu so früher Zeit, da seine Kräfte noch der geistigen
und körperlichen Entwicklung dienen müssen, trotz ungenügender Schulung
in der Musik, durch seine schöpferische oder reproduktiv -interpretative
Fähigkeit uns in Erstaunen setzen kann, ist noch nicht erforscht worden.
In einer vor kurzem von mir veröffentlichten Arbeit, die der syste-
matischen Untersuchung des kleinen ungarischen Komponisten und Pianisten
Erwin Nyiregyhäzi gewidmet ist, habe ich die Frage etwas eingehender
besprochen und ihre Lösung in der Natur der Musik selbst gesucht. 2)
Wenn auch diese Frage noch nicht endgültig beantwortet ist, steht doch
die Tatsache fest, daß wir in unserem ungarischen Volke eine niemals versiegende
Quelle besitzen, aus der immerfort hervorragende künstlerische Talente
hervorgehen. Aber wir dürfen den Reichtum, der uns so zufällt, nicht
einfach hinnehmen und genießen, sondern er verpflichtet uns zugleich, diese
Hoffnungskinder zu pflegen, zu bilden und uneigennützig der großen Welt
zu schenken. Von diesem Schatz, der es uns möglich macht, mit eigenen
^) über dieses Problem siehe besonders die Abhandlung von W. Stern: Die
Jugendkunde als Kulturforderung. Diese Zeitschrift, Bd. 17, S. 273.
2) G. Rövesz: Erwin Nyiregyhäzi: Psychologische Analyse eines musikalisch
hervorragenden Kindes. Leipzig. Veit u. Co. 1916. S. 14 ff.
30 G6za Rövesz
Augen zu schauen und selbst zu sammeln, habe ich den Antrieb empfangen,
mich mit der Frage des musikalischen Talentes wissenschaftlich seit längerer
Zeit zu beschäftigen, und so komme ich dazu, meine Ansichten über das
musikalische Talent im allgemeinen, über sein Vorkommen im jugendlichen
Alter, über die Prinzipien seiner Vorausbestimmung und endlich über das
erwünschte Verhalten der Gesellschaft den großen Talenten gegenüber schon
an diesem Ort kurz auszusprechen, bevor ich Gelegenheit nehme, meine An-
sichten über diese Fragen in weiterem Rahmen ausführlicher zu entwickeln.
Das erste, was uns bei dieser Frage auffällt, ist das Merkwürdige, daß
nur Kinder mit außerordentlich musikalischer Begabung Wunderkinder
genannt werden. Wird man aber diesen, nur auf das musikalische Gebiet
bezogenen Begriff des Wunderkindes auch wissenschaftlich rechtfertigen
können oder wird es sich nicht vielmehr ergeben, daß dieser Begriff sich
nur aus oberflächlichen Betrachtungen herausgebildet hat und daher für
eine wissenschaftliche Begriffsbestimmung unbrauchbar ist?
Leicht wird es nun zu zeigen sein, daß in der vorwissenschaftlichen Form
des Begriffes Wunderkind doch schon der Kern der Wahrheit liegt, wie
ja so oft im Sprachgebrauch sich der eigentliche Sinn eines Wortes findet.
Es muß nämlich als eine fast ohne Ausnahme geltende Regel angesehen
werden, daß Kinder im frühesten Alter mit bemerkenswerten künstlerischen
Leistungen ausschließlich auf musikalischem Gebiete hervortreten, während
es uns nicht bekannt ist, daß Kinder auf anderen Kunstgebieten schon
vor der Zeit der körperlichen Reife etwas Hervorragendes zu leisten
imstande gewesen wären. Raffael, dessen künstlerische Begabung — wie
die zeitgenössischen Quellen berichten — ganz ungewöhnlich früh erwacht
ist, entwirft seine ersten bedeutenderen Bilder erst im 15. und 16. Lebens-
jahre. Ahnliches kann von anderen Künstlern gesagt werden, die durch
ihr frühzeitig entwickeltes Talent die Aufmerksamkeit ihrer Zeitgenossen
erregten, wie z. B. Michelangelo, Rembrandt, Van Dyck, Dürer, Holbein der
jüngere, Velasquez u. a. m., die aber alle erst in ihrem 17. bis 19. Lebens-
jahre ihr echtes Talent zum Ausdruck brachten. — In der Geschichte der
Wissenschaft kommt es noch viel seltener vor, daß die Begabung in
unverkennbarer Weise schon zu einer Zeit, wo die geistige Entwicklung
eigentlich noch recht weit von ihrer vollen Entfaltung steht, ihr Leben an-
gekündigt hätte. Nur die Mathematik macht hiervon eine Ausnahme, da
in den Jugendarbeiten der meisten berühmten Mathematiker nicht nur der
mathematische Sinn, sondern schon reifes Talent sich kundgibt (Gauß, Abel,
Galois, Bolyai).
Die Richtigkeit der aufgestellten These, daß unter allen Künsten die
Musik es ist, die ihre Talente so früh offenbart, kann durch eine große
Anzahl von Beispielen aus der Musikgeschichte belegt werden. Hält man
das vor Augen, so ist es nicht verwunderlich, daß man von musikalischen
Wunderkindern zu sprechen pflegt. Man hat diesem entsprechend ein Kind
dann als Wunderkind bezeichnet, wenn es auf irgendeinem Gebiete der
musikalischen Betätigung, sei es auf künstlerisch-reproduktivem oder auf
dem schöpferischen für seine jungen Jahre Außergewöhnliches leistete. Ganz
Das musikalische Wunderkind 31-
unberechtigerweise pflegen manche unter sie auch solche Kinder einzumischen,
die nur mit einem seltenen musikalischen Gedächtnis oder musikalischen
Gehör ausgestattet sind.
Dennoch ist das Wort Wunderkind auch in der ersten Bedeutung ge-
nommen nicht untadelig. Denn was man beim Beurteilen der Begabung
eines Kindes festzustellen sucht, ist ja seine Leistung im Verhältnis zum
Alter. Überragt sie die durchschnittliche ihres Alters wesentlich, so hat
man ein solches Kind wohl ein Wunderkind genannt. Allein was sich in
einer solchen relativ-großen Leistung äußert, ist zunächst nur ein Vorsprung,
und begründet als solcher jene Bezeichnung noch nicht. Denn daß ein Kind
nach gewissen musikalischen Fähigkeiten den Anforderungen entspricht, die
an ältere musikalisch veranlagte Kinder gestellt werden, hat mit über-
normaler Begabung nichts zu tun. Und sogar wenn ein Kind in seinea
musikalischen Leistungen nicht nur seinen Altersgenossen, sondern auch
den normal begabten Erwachsenen gegenüber Überlegenheit beweist, weist
noch nicht auf eine besonders ausgeprägte, nur hochpotenzierte Be-
gabung. Es kann aber weder die Vorentwicklung noch die relative Über-
normalität das bedeutende Attribut Wunderkind rechtfertigen.
Das Wunderbare liegt weder darin, daß sich die musikalische Begabung
in der zarten Jugend äußert, noch in dem raschen Tempo ihrer Entwick-
lung; das Wunderbare liegt allein in der schöpferischen Entfaltung
des Geistes; wir bewundern an Gott und an Menschen nur die
Schöpfung. — Die Grundvoraussetzung ist also stets die schöpferische
Gestaltungskraft, gleichviel ob diese sich in künstlerisch-reproduktiver
oder in kompositorischer Richtung äußert. Da aber das Wunderbare der
Leistung nicht darin liegt, daß ein Kind sie vollführt, sondern darin, daß
sie überhaupt erscheint, so muß das Wunderbare in der Ursprünglichkeit
des Talentes, in der Empfindung, im künstlerischen Willen und Schaffeilis-
trieb gesucht werden. Ob ein musikalischer Gedanke von einem Kinde
oder von einem Erwachsenen genial ausgeführt wird, bleibt sich vom rein
künstlerischen Standpunkte aus gleich. Ein künstlerisch begabtes Kind am
Klavier kann auf uns wohl einen Zauber ausüben, wir können an ihm
seine Virtuosität, seinen Ernst, seine Hingebung, seine reiche Anlage be-
wundern, aber das eigentlich Wunderbare bleibt doch allein seine künst-
lerische Leistung, wozu ihm alle die Qualitäten dienen. Also von einem
Wunderkind sprechen wir da, wo wir das Wunderbare in einem Kinde
finden. Damit ist zugleich gesagt, daß ein Kind mit besonderen technischen
Fertigkeiten ebensowenig Wunderkind genannt werden darf, wie jemand
mit großem Zahlengedächtnis und mit hervorragender Leistungsfähigkeit
in arithmetischen Operationen den Titel eines bedeutenden Mathematikers
verdient.
Es erhebt sich nun die wichtige Frage, wie ein musikalisch anscheinend
besonders begabtes Kind nach der Bedeutung seines Talentes zu be-
urteilen sei.
Kann man die Leistungen eines Kindes ohne jegliche Rücksicht auf das
Alter mit den Kunstleistungen der großen Künstler vergleichen, wie man
das bei dem kleinen Mozart und Liszt konnte, — so hat man zur Bestim-
32 Geza Revesz
mung des Talentes keine besondere Methode nötig, man mißt es mit dem
Maßstabe, nach dem man Meister beurteilt.
Ganz anders müssen wir jedoch vorgehen, wenn es sich um Jugend-
leistungen handelt, die den Forderungen, die wir an eine Arbeit von echtem
künstlerischen Wert zu stellen haben, noch nicht in vollem Maße ent-
sprechen. Bei solchen Fällen kommt der musikverständige Psychologe
zuerst zu Wort, hier muß der Musiker die Beurteilung des Talentes dem
Psychologen überlassen. Denn der Kunstkritiker wird bei Beurteilung
künstlerischer Betätigungen ausschließlich durch ästhetische Prinzipien ge-
leitet, die zum größten Teil auf Anschauung und Studium von Meister-
werken gegründet sind. Bei dieser Wertung ästhetischer Gegenstände
können oder vielmehr dürfen psychologische oder gar psychogenetische
Motive nicht mitreden. Sollen aber Jugendwerke und durch Kinder aus-
geführte musikalische Interpretationen nicht nach dem absoluten Werte,
sondern nach der Größe und Bedeutung der darin zum Ausdruck kommenden
Keime beurteilt werden, dann rücken mannigfache andere Gesichtspunkte
in den Vordergrund.
Bei Beurteilung kompositorischer Fähigkeit müssen Umstände berück-
sichtigt werden, auf welche bei einem erwachsenen Komponisten niemals
zu achten nötig ist. Man wird sich zu einem Kinde ganz anders stellen
müssen, als zu einem Fertigen, wenn es aus einer fremden Quelle schöpft,
wenn es in der Auswahl und Umformung bekannter Elemente nicht immer
selbständig verfährt, wenn es gegen die konventionellen Regeln der Schule
verstößt. Denn die Fehler, die aus Mangel an Kenntnissen entstehen,
haben mit dem Talent eines Kindes nichts zu tun. Wir müssen die Ge-
dankenfülle, die Erfindung, den Schaffensdrang würdigen. Denn reine
Harmonie, durchsichtige Form, korrekter Satz, kontrapunktische Sicherheit
können erlernt werden; ein reiches musikalisches Gemüt aber, Erfindungs-
gabe, Kunstgeschraack, poetischer Schwung sind Vorzüge des großen Talentes,
die nicht angeeignet werden können. Daraus ergibt sich, daß Jugendwerke
stets im ganzen behandelt und beurteilt werden müssen, und besonderes
Gewicht auf den Vergleich von Werken verschiedener Epochen zu legen
ist, um auch den Fortschritt erkennen zu können.
Ähnlich müssen wir bei einem Kind als Virtuosen vorgehen. Nur darf
man sich hier niemals von der technischen Fertigkeit, von der oft unglaub-
lichen Beherrschung instrumentaler Schwierigkeiten bestimmen lassen. Die
Hauptsache ist auch hier der Stil, die Ruhe, die Überlegtheit, das
Schöpferische in der Interpretation, die Musikalität und die Be-
ziehung zu der Musik und zu den Meisterwerken, die das Kind bei der
Auffassung und Darstellung von Tonwerken zum Ausdruck bringt. Nicht
die Virtuosität, sondern die allumfassende Musikalität muß bei der Be-
urteilung des ausübenden Künstlers den Ausschlag geben.
In einer Zeit jedoch, wo die kompositorische und reproduktive Fähigkeit
eines Kindes noch auf der Stufe der beginnenden Blüte steht, und in Fällen,
wo die gegenwärtigen künstlerischen Leistungen weder eine zureichende
Grundlage für die Begabungsbestimmung, noch genügende Bürgschaft für
die Prognose bieten können, müssen noch andere musikalische Eigenschaften
Das musikalische Wunderkind 33
und soweit es möglich auch diese in ihrer Entwicklung zur Untersuchung
herangezogen werden. — Vor allem ist es notwendig, das musikalische
Gehör in allen seinen Äußerungen, das musikalische Gedächtnis, die Fähig-
keit in Transponieren, Improvisieren, Modulieren, und Vom -Blatt-
Spielen genau zu studieren. Wenn man nun zu diesen großenteils exakt
durchführbaren Untersuchungen noch die Beobachtung des psychischen Ver-
haltens bei musikalischer Betätigung hinzufügt, ferner des Kindes Beziehung
zu den großen Meistern der Musik zu erkennen sucht, dann erst kann man
aus all diesen Qualitäten das Bild der musikalischen Persönlichkeit
des Kindes entwerfen. — Ob nun gleich für die Bestimmung der musi-
kalischen Begabung dadurch das meiste schon gewonnen ist, sollen wir
doch nicht, bevor wir einen Blick auf die Persönlichkeit im allgemeinen
geworfen haben, ein endgültiges Urteil über das Wunderkind abgeben.
Dazu müssen Beobachtungen gesammelt werden über Intelligenz, Lernbe-
dürfnis, Auffassung und Bildungsfähigkeit, Interesse, und vor allem über
die Künstlernatur des Kindes, die doch den am meisten charakteristischen
Zug der Persönlichkeit bildet.
Nun zuletzt noch einige Worte darüber, wie sich die Gesellschaft den
Wunderkindern gegenüber zu verhalten hätte.
In jeder beobachtenswerten Begabung, die ein Mensch mit auf die
Welt bringt, liegt — wie Stern es betont — ein Anspruch, daß ihm zur
Entwicklung und zur Verwertung der Begabung alle angemessenen Mög-
lichkeiten gewährt werden. Bei einem ganz hervorragenden Talent gilt das
noch in ganz besonderem Maße. Die Verpflichtung der Gesellschaft soll
aber auf Grund ethischer und pädagogischer Prinzipien erfaßt werden.
Die Gesellschaft ist keineswegs nur dazu verpflichtet, die materielle Lage
des Kindes zu sichern, auch hat sie keineswegs die Aufgabe, mit einer
nervösen Peinlichkeit immer darauf zu achten, daß das Kind mit der harten
Seite des Lebens niemals in Berührung komme: sie ist vor allem dafür
verantwortlich, ob dem Kinde die moralische und menschliche Er-
ziehung zuteil wird, die von der höheren Kulturgemeinschaft gefordert
und von einer dahin zielenden Erziehung erreicht werden kann.
Wenn man die Entwicklung der musikalischen Wunderkinder und sogar
die der Musiker überhaupt verfolgt, so enthüllen sich die richtigen Er-
ziehungsmaßnahmen für genial veranlagte Kinder von selbst. Vor allem
darf die geistige Entwicklung des Kindes nicht zu rascherem Tempo an-
getrieben werden, damit daraus kein Kückschlag auf das körperliche Wachs-
tum erfolge, was wieder eine unheilvolle Rückwirkung auf die psychischen
Funktionen ausüben müßte. Ferner darf man nicht dazu beitragen, daß
das ursprünglich einseitige Interesse für die Musik noch absichlich einge-
engt werde; vielmehr ist es im Interesse der gleichmäßigen Entfaltung aller
geistigen Qualitäten sogar vorteilhaft, das musikalische Interesse bisweilen
zurückzudrängen.
Ein Kind muß sich normal entwickeln. Jede Periode der Kindheit hat
ihre eigene Aufgabe, ihr eigenes Ziel, ihre eigenen Anforderungen. Alle
Abschnitte des kindlichen Lebens normal, unbeschleunigt zu durchlaufen
und in jeder Früchte zu ernten, ist deshalb die wesentliche Bedingung für die
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 3
34 G6za Rövösz, Das musikalische Wunderkind
harmonische Entfaltung der geistigen Kräfte des Menschen. Dazu gehört
aber, daß die eigentliche künstlerische Erziehung nicht allzufrüh ihren An-
fang nehme und auf die Aneignung nichtmusikalischer Kenntnisse keinen
hemmenden Einfluß ausübe. Denn Geist und Gemüt des Künstlers müssen
behutsam und sorgfältig gebildet werden, und die Bildung eines Künstlers
muß von mannigfacher Art sein. Darum muß neben der ernsten, strengen
künstlerischen Erziehung auch für* Aneignung spezieller und allgemeiner
sonstiger Bildung Sorge getragen werden; denn der Künstler ist nur eine
Offenbarungsweise des Menschen. Darum ist es der Mensch, der in ihm
gebildet werden muß.
Ein unterrichtspsychologischer Grundsatz über
die Aneignung verwechselbarer Begriffe.
Von Otto Ohmann.
In verschiedenen Unterrichtsfächern, besonders in der Mathematik und den
naturwissenschaftlichen Lehrfächern, bringe ich seit mehr als zwei Jahrzehnten
ein Prinzip zur Anwendung, das sich in mnemotechnischer Hinsicht als sehr
nützlich erwies. Ursprünglich war es meine Absicht, dieses didaktische Prinzip
im Zusammenhang mit einer physiologisch gearteten Theorie der für den Unter-
richt wichtigsten psychischen Erscheinungen zu geben und es so als einen Unter-
fall eines allgemeinen Gesetzes darzustellen, — der Umstand jedoch, daß diese
Arbeit unter den Händen bedenklich anwuchs und sich von dem geplanten
Abschluß eher entfernt als sich ihm nähert, sowie der weitere Umstand, daß
inzwischen von anderer Seite Untersuchungen veröffentlicht wurden, die mit
jener geplanten Theorie gewisse Berührungspunkte haben — wir denken ins-
besondere an die Arbeiten von R. Semon und M. Verworn — , veranlassen mich,
das Prinzip einstweilen abzutrennen und es ohne jene physiologische Begründung
oder nur unter kurzer Andeutung einzelner Punkte derselben zu bringen.
Bei dem heutigen Stande der Gehirnforschung kann man sich nicht mehr dem
Verdachte einer mechanistischen Weltauffassung aussetzen, wenn man aner-
kennt, daß mit jedem geistigen Vorgang ein bestimmter physischer, der Haupt-
sache nach chemisch gearteter Vorgang verknüpft ist. Die Grundanschauung
des sog. ,,psycho-physischen Parallelismus" wird jetzt wohl kaum noch in Zweifel
gezogen. Dementsprechend ist auch bei der Aneignung eines neuen Begriffes
— denken wir der Einfachheit halber nur an eine fremdsprachliche Vokabel —
eine bestimmt umschriebene Neubildung im Gehirn anzunehmen. Der Sitz
solcher Neubildungen ist unzweifelhaft die Großhirnrinde. Das Resultat des
abgeschlossenen Vorganges, bei dem ein neuer Begriff in unserm Gedächtnis
zur Aneignung und dementsprechend zur Ausbildung in unserem Gehirn gelangt,
nenne ich eine Akkreszenz. Es ist für die Sache selbst nicht von Belang,
ob man annimmt, daß es sich bei dem Vorgange um eine Neubildung im Sinne
einer bloßen Umformung der dafür prädestinierten Nervenelemente im Ge-
hirn handelt oder ob man eine Neubildung im Sinne einer Umformung nebst
Vermehrung — also etwa umgeformte Nervenelemente plus festgehaltenen
Otto Ohmann, Ein unterrichtspsychologischer Grundsatz usw. 35
und mitverarbeiteten Blutbestandteilen — als vorliegend erachtet. Im ersteren
Falle — den ich für den unwahrscheinlicheren halte, der aber dem üblichen
Bilde des „Einprägens" oder des „Eindrucks" mehr entsprechen würde — wäre
der Ausdruck „Inkreszenz" geeigneter. Ohne Zweifel dürfen wir den erwähnten
Vorgang, besonders in Anbetracht der dazu erforderlichen Energie, den Wachs-
tumsvorgängen zurechnen; denn es findet, zumal wenn wir die ontogenetische
wie auch die phylogenetische Entwicklung des Gehirns bedenken, ein wirkliches
crescere statt. Und da es sich bei dem Vorgange um ein Hinzukommen von
etwas Neuem zu bereits Vorhandenem handelt, so ist sprachlich auch das ad
wohl auf alle Fälle gerechtfertigt. Wir haben es also bei einer solchen Akkreszenz
mit einer spezifischen Neubildung in dem betreffenden Gehirnteile zu tun,
die wir trotz des unlösbaren Zusammenhanges mit dem übrigen doch in ilirer
Isolation auffassen können. Des weiteren ist sicherzustellen, daß eine solche
Aklo-eszenz nach ihrem Entstehen beliebig oft erregt werden kann, um da-
mit, je nach dem Grade der Erregung ins Unterbewußtsein oder. als Vorstellung
ins eigentliche Bewußtsein zu treten. Schließlich ist aus der erwähnten Theorie
vorwegzunehmen, daß zeitlich ziemlich weit auseinanderliegende Einwirkungen
der geschilderten Art auch räumlich getrennt sind, d. h. zu verschiedenen,
räumlich mehr oder weniger getrennten Akkreszenzen führen.
Es sei noch einmal betont, daß wir mit diesen Anschauungen und Vergleichungen
nicht den Boden der Erfahrung verlassen, sofern wir uns bewußt bleiben, daß wir
damit nur nach einem Hilfsmittel zum besseren Verständnis der psychischen Er-
scheinungen ausschauen und nur das bestimmte Korrelat eines geistigen Vor-
ganges zu erfassen suchen, und sofern wir uns von der materialistischen Ansicht,
das Gedankliche aus dem Materiellen ableiten zu können, entschieden fernhalten.
Vielfach habe ich nun — sowohl durch Erfahrungen an der eignen Psyche,
aber noch in viel höherem Maße durch Erfahrungen an anderen, zumal im Unter-
richt an den Schülern — die Beobachtung gemacht, daß eine solche Akkreszenz
sicherer entsteht, vor allem später sicherer wiedererregt wird, wenn sie in mög-
lichster Einfachheit und Klarheit für sich allein bewirkt wird, d. h. also,
wenn ein sonst naheliegender Begriff, sei es ein gleichartiger oder gegensätzlicher,
nicht gleichzeitig oder, genauer, nicht unmittelbar danach zur Ausbildung
gebracht wird. Es möge dies an einigen Beispielen, zunächst aus dem mathemati-
schen und naturwissenschaftlichen Unterricht, näher erläutert werden.
Handelt es sich im ersten geometrischen Unterricht um die Einprägung
der Namen für die Seiten des rechtwinkligen Dreiecks, so werde einstweilen nur
festgesetzt: ,,Die den rechten Winkel einschließenden Seiten werden Katheten
genannt." Allein von diesem Namen läßt man also die Akkreszenz sich bilden,
den Namen der Hypotenuse schaltet man ganz aus; bedarf man seiner, etwa
bei einer Konstruktionsaufgabe, so heißt sie einfach „die Seite c" oder „die dem
rechten Winkel gegenüberliegende Seite". Erst nach Wochen, gegebenenfalls
erst nach Monaten, nachdem mit dem Begriff Kathete wiederholt operiert
worden ist, wird die Akkreszenz für den Begriff Hypotenus e gebildet. Auf
diese Weise habe ich es bei mehr als einer Generation erreicht, daß diese sonst von
den Schülern so häufig verwechselten Namen niemals einer Unsicherheit bei
der Reproduktion unterlagen. — Ein mehr beiläufiger, aber immerhin schätzens-
werter Vorteil dieses Verfahrens besteht in diesem besonderen Falle noch darin,
36 Otto Ohmann
daß man so die Orthographie des Namens Kathete fest zur Einprägung bringt;
die leidigen Verwechslungen hinsichtlich des ,,t" und ,,th" kommen gar nicht
in Frage, da der Name der Hypotenuse noch gar nicht berührt worden ist. —
Etwas Ähnliches ist es mit den Begriffen Supplementwinkel und Komple-
mentwinkel. Werden beide zugleich im Zusammenhange erörtert, so gibt es
ewige Verwechselungen. Wird dagegen erst nur der im Lehrgange zunächst
gelegene Begriff des Supplementwinkels — als des Winkels, der einen gegebenen
Winkel zu 2 Rechten ergänzt — erörtert, imd der andere Begriff peinlich vermie-
den, so wächst sich die zugehörige Akkreszenz mit umso größerer Sicherheit aus,
je länger man mit diesem Begriff allein arbeitet. Wird später der Begriff Komple-
mentwinkel gelegentlich hinzugenommen, so bildet der zuerst eingelernte Begriff
immer eine sichere Stütze, und Verwechslungen sind so gut wie ausgeschlossen.
— - Beiläufig sei bemerkt, daß man über die Berechtigung, diese Fremdwörter
überhaupt beizubehalten, natürlich verschiedener Meinung sein kann. Es ist
aber mißlich und schleppend, das Wort Supplementwinkel durch ,, Ergänzungs-
winkel zu zwei Rechten" oder „E. zu einem Gestreckten" oder „E. zu 180°*'
zu ersetzen; das Wort ,, Ergänzungswinkel" allein reicht auf keinen Fall aus.
Das Substantiv „Supplement" halte ich daher, besonders auch wegen des Ad-
jektivs „supplementär" für entschieden nützlich, z. B. auch, wenn in Kopfrechen-
aufgaben zu einem nach Winkelgraden gegebenen Winkel die erwähnte Ergänzung
aufgesucht werden soll, die dann zuletzt zu dem allgemeinen Ausdruck ,,2 R — a'*
führt. Wir wollen überhaupt in der Mathematik und auch in den Fachwissen-
schaften mit dem Ausmerzen der oft so inhaltreichen imd ins Schwarze treffenden
Fremdwörter recht vorsichtig sein. Es wäre falsch, sie einem Prinzip zuliebe,
das hinsichtlich der allgemeinen Umgangssprache seine volle Berechtigung hat
und in dem gegenwärtigen Weltkriege mit Recht bei uns wieder neu belebt wird,
auch dort ausmerzen zu wollen, wo sie wegen ihrer Kürze oder wegen ihres Inhalts
zu größerer Klarheit und zu erwünschter Einfachheit im Ausdruck und damit
auch zu größerer Leichtigkeit bei der Reproduktion führen.
In der Physik geben die Begriffe konvex und konkav, bzvV. plankonvex, bi-
konkav usw. häufig zu Verwechselungen Anlaß. Hier lasse man zuerst nur von
der konvexen bzw. bikonvexen Linse die Akkreszenz sich bilden und vermeide
peinlich die Erwähnung des gegensätzlichen Begriffes. Erst wenn lange Zeit
nur mit dieser Akkreszenz gearbeitet ist, gehe man zur Ausbildung der Akkreszenz
,, konkav" über. Nunmehr prägt sich diese als Gegensatz gleichsam von selbst
ein. Und wenn jetzt gelegentlich einer von beiden Begiiffen auftritt, so bietet
jene zeitlich zuerst gebildete Akkreszenz einen ganz sicheren Anhalt. Auf diese
Weise sind Verwechselungen leicht auszuschließen, zumal wenn man die Bildung
der Akkreszenz konkav durch Einlernen der Vokabel cavus = hohl noch zweck-
mäßig verstärkt. Nicht selten glaubt man aber recht anschaulich mid systematisch
zu verfahren, wenn bei der Behandlung der Linsen im Anfang der Satz aufgestellt
wird „man unterscheidet zwei Hauptarten von Linsen, konvexe und konkave"
und wenn nun durch Zeichnungen beide Arten nebeneinander gestellt imd weiter
erläutert werden. Durch solches Verfahren wird den Verwechslungen Tür und
Tor geöffnet.
In der Chemie werden anfänglich oft die Umfärbungen, die man mit den
Ausdrücken „saure" und „basische" Reaktion bezeichnet, miteinander ver-
Ein unterrichtspsychol. Grundsatz über die Aneignung verwechselb. Begriffe 37
wechselt. Auch hier erweist es sich als sehr nützlich, möglichst lange nur die
methodisch zimächst gelegene „saure" Reaktion, die Umfärbung des käuflichen
blauen Lackmusfarbstoffes in Rot, als Versuch vorzimehmen, bzw. in Schüler-
übungen vornehmen zu lassen. Ist diese Reaktion durch wiederholte Versuche
genügend anschaulich erfaßt, so führt die Hinzunahme der entgegengesetzten,
der alkalischen Reaktion, zu keinerlei Schwierigkeiten, zumal wenn man sie nur
als eine restitutio in integrum, also als bloße Rückfärbung, oder als Aufhebung
der sauren Reaktion hinstellt^). Dieses Verfahren fühlt selbst dann nicht zu Ver-
wechselungen, wenn man alsbald eine zweite charakteristische alkalischeReaktion,
die Umfärbung der farblosen Phenolphthalein] ösung in Rot dazunimmt.
In den Sprachen spielen die Verwechselungen zwischen ähnlich klingenden
Wörtern eine ziemlich große Rolle, und mancher stille Seufzer entsteht dabei
sowohl bei den Extemporale- Schreibenden wie auch beim Korrigierenden. Metior
undmentior, cado und caedo, Tpe7rwundTp£90), ou und oüsind ein paar Beispiele.
Auch hier ist es immer nützlich, einstweilen nur von der einen der beiden irgendwie
zusammengehörigen Vokabeln die Akkreszenz zu erzeugen — man wird dazu
die wichtigere, die häufiger gebrauchte wählen — und längere Zeit nur sie in den
Übungen zu verwenden. Tritt dann nach einem angemessenen Zeitraum der
andere Teil des Wortepaares hinzu, so bietet wiederum die zeitlich zuerst gebildete
Akkreszenz den sicheren Anhalt und schützt vor der Verwechselung. Dieses
Verfahren empfiehlt sich auch dann noch, wenn es zu dem einen Teil des Worte-
paares eine mnemotechnische Hilfe gibt, in ähnlicher Weise wie oben bei den Be-
griffen konkav und konvex. Bei dem ersterwähnten Wortepaar z. B. ist solche
Hilfe darin gegeben, daß man beim Einlernen des Wortes metior an das beim
Messen verwendete Meter erinnert (oder auch noch an Dimension, falls dieser Be-
griff in der Mathematik bereits aufgetreten ist) ; bei cado und caedo liegt die Hilfe
in dem Gleichklang mit den Worten „ich falle" und „ich fälle". Bei vielen Woite-
paaren existiert aber eine solche Hilfe nicht, bei diesen wird dann das empfohlene
Verfahren besonders wichtig. Von vornherein das Wortepaar aufzustellen, ist
jedenfalls durchaus zu widerraten.
Diese Beispiele genügen wohl, um das dem Verfahren zugrundeliegende didakti-
sche Psinzip genauer zu formulieren. Es möge in zwei Fassungen aufgestellt
werden :
„Prinzip der zeitlichen Trennung zweier verwechselbarer Begriffe.
„Zwei Begriffe, die in einem derartigen Zusammenhange zueinander stehen,
daß bei der Reproduktion des einen eine Verwechselung mit dem anderen naheliegt,
dürfen nicht gleichzeitig, d. h. nicht in unmittelbarem Zusammenhang mitgeteilt
werden, sondern müssen einzeln und zeitlich ziemlich weit voneinander getrennt
zur Ausbildung gelangen.
Oder:
Prinzip der primären Akkreszenz.
Bei der Übermittelung zweier ähnlich klingender oder sonstwie zusammen-
gehöriger und verwechselbarer Begriffe ist zunächst immer nur die Akkreszenz
^) Diese Art der Behandlung ist durchgeführt in des Verf. „Leitfaden der Chemie
und Mineralogie" (Berlin, Verlag von Winckelmann u. Söhne, 6. Aufl., 1916), der auch
im übrigen nach einem streng aufbauenden Lehrverfahren angelegt ist.
38 Otto Ohmann
des einen — und zwar des dazu am meisten geeigneten — Begriffes und erst
nach längerer Zeit die des anderen zu bewirken.
Nun glaubs ich — zumal hinsichtlicli der gleichklingenden Wörter — ver-
schiedene Stimmen zu vernehmen: ,,Wie bringen die verwechselbaren Dinge
absichtlich gleichzeitig; dadurch daß wir die Schüler zwingen, sie nun doch aus-
einanderzuhalten, üben wir ihr Gedächtnis mid schärfen wir ihren Verstand."
Diesen Stimmen halten wir entgegen: Den Verstand der Schüler schärfen wir
hauptsächlich durch Übungen in der Wiedergabe klar umgrenzter Begriffe und
durch Auf suchen logischer Beziehungen, aber nicht durch mühsameUnterscheidung
von Begriffen und Worten, die durch Gleichklang nur eine Beziehung vortäuschen,
und bei deren Aufstellung der Zufall eine mehr oder minder große Rolle spielte ;
das gleichzeitige Einprägen und dann folgende mühsame Unterscheiden bedeutet
ferner nur eine Belastung des Gedächtnisses, keine Übung. Bei der heutigen,
so unermeßlich angewachsenen Fülle des wirklich Wertvollen müssen wir aber
möglichst auf Entlastung bedacht sein.
Id einem neueren Lehrbuch der französischen Sprache findet sich z.B. folgende
Zusammenstellung :
le memoire, die Denkschrift la memoire, das Gedächtnis
le voile, der Schleier la voile, das Segel
le manche, der Stiel la manche, der Ärmel
le tour, der Umgang, der Streich la tour, der Turm
h page, der Edelknabe la page, die Seite.
Diese kleine Tabelle wurde natürlich den Schülern (der Untertertia) mit einem
Male zur Einprägung aufgegeben — gewiß ganz in Übereinstimmung mit den Ab-
sichten des Lehr buch Verfassers. Es ist aber klar, daß bei diesem Verfahren
allen Verwechselungen Vorschub geleistet wird, daß bei der Reproduktion Un-
sicherheit die Regel bildet, wenigstens daß wirkliche Sicherheit nur mit erhöhtem,
der ziemlich belanglosen Sache nicht entsprechendem Energieaufwand erreicht
wird.
Soll nun das doch immerhin Zusammengehörige ganz getrennt werden? —
Durchaus, wenigstens sofern es sich um die erste Einprägung handelt. Da sind
zunächst die wenigen wirklich wichtigen Vokabeln für sich mit ihrem
Genus zu lernen, wie irgendwelche anderen Teile des Vokabelschatzes. Da-
nach, aber ziemlich viel später, mögen sie mit der zweiten Bedeutung imd dem
anderen Genus ruhig tabellarisch nebeneinander gestellt werden. Wie das im
einzelnen und in ähnlichen Fällen auf sprachlichem Gebiet durchzuführen ist,
dürfen wir getrost den philologischen Verfassern überlassen. Wer von der Richtig-
keit des Prinzips überzeugt ist, wird unschwer Mittel und Wege finden, es in der
Grammatik und anderen Lehrbüchern angemessen zur Geltung zu bringen. Einst-
weilen wird es genügen — im Vertrauen darauf, daß der Schüler von seinem an-
geborenen Rechte, nicht mehr zu lernen als verlangt ist, schon ausreichenden Ge-
brauch machen wird — von solchen Wortepaaren nur die einzelnen wichtigeren
Vokabeln mit ihrem Genus unterstreichen und lernen zu lassen. *
Man wende nicht ein, daß in diesen und ähnlichen Fällen die Schüler sich
doch so viel mit den Dingen beschäftigen müssen, daß sie schließlich die genügende
Sicherheit von selbst erwerben. Für viele Schüler, nicht einmal immer für die
Mehrzahl, soll das zugegeben werden. Das Prinzip soll aber gerade über die ersten.
Ein unterrichtspsychol. Grundsatz über die Aneignung verwechselb. Begriffe 39
sich so häufig einstellenden Unsicherheiten hinweghelfen, es soll hier einer Energie-
verschwendung vorbeugen, es soll den Zeitraum des Schwankens abkürzen oder
überhaupt auf Null reduzieren. — Es sei hier eine Reminiszenz eingeflochten,
die vielleicht besser als manches andere den Wert des Prinzips zu illustrieren
vermag. Es war in der Untertertia eines Gymnasiums; ich unterrichtete Geo-
metrie und hatte die Jungen in das rechtwinklige Dreieck mit seinen Benennun-
gen dem Prinzip entsprechend so eingeführt, wie es oben bereits näher dargelegt
wurde— als eines Tages der Direktor (ein klassischer Philologe) unerwartet eintrat.
Nach längerem Zuhören ergriff er selbst das Wort. Wie schreibst du das Wort
Kathete ? Der gefragte Junge buchstabierte es richtig. Schreibe du es mal an
die Tafel, befahl er einem anderen Schüler. Der Junge schrieb es richtig. Wie
schreibst du das Wort, fragte er einen anderen Schüler, gleichsam als ob es sein
Vorgänger falsch geschrieben hätte. Auch dieser Schüler schrieb es richtig. Das-
selbe Manöver wurde mit der Hypotenuse durchgeführt. Immer machten es
die JungeD richtig, und der Direktor schien keineswegs darüber erfreut zu sein.
Da ich mit den Jungen aber auch noch die Regel repetiert hatte, daß die mit
der gesprochenen Silbe „lieh" endigenden Adjektiva mit ,,ig" geschrieben
werden, sobald das ,,1" dem Stammwort angehört — eine Regel, die den meisten
gänzlich entfallen war — und nun der Direktor einen Schüler aufforderte, das
Wort ,, gleichschenklig" an die Tafel zu schreiben, was ohne Fehler geschah,
richtet3 er nur noch die Frage an den Schüler, ob er ,,es auch genau wüßte",
daß das Wort so geschrieben werde, und verließ, als der Schüler auch dies be-
jahte, statt mit Befriedigung, mit einem deutlichen, mir ganz unerklärlichen
Unmut, um nicht zu sagen, mit Enttäuschung, das Zimmer. Erst viel später
wurde mir klar, daß ich bei ihm ein Dogma zerstört hatte; nämlich, als er mir
gelegentlich mitteilte, daß er wiederholt bei Mathsmatikern dieselbe Probe
im Unterricht vorgenommen hätte und niemals eine durchgängig richtige
Schreibweise dieser Worte erlebt hätte.
Wer sich mit dem oben formulierten didaktischen Prinzip vertraut macht,
wird eine erhebliche Zahl von Anwendungen in allen Unterrichtsfächern auffinden.
Wir wählten hier absichtlicl» recht elementare aus, weil sich an ihnen die An-
wendbarkeit am einfachsten darlegen läßt. Auch weiterhin beim wissenschaftlichen
Lehren, auch baim Abfaisen jedweden Lehrbuches-, nicht zuletzt hinsichtlich
der Ausbildung der eigenen Psyche, kann es zam nützlichen Wegweiser werden.
Insbesondere, so hoffen wir, wird es dazu beitragen, dem Faktor Zeit im Unter-
richt mehr zu seiner Bedeutung zu verhelfen. Bei allem Lehren handelt es sich
um den richtig vollführten Anbau der jugendlichen Psyche, die wie ein aufnahme-
bereites Feld vor uns liegt. Bei diesem Anbau handelt sich es aber nicht nur
um ein bloßes Ausstreuen von Samenkörnern. Das Bild des Säemanns — so
sympathisch es uns Unterrichtenden auch sein mag — paßt melir für den Vortrags-
redner und den Pfarrer, weit weniger für den Unterrichtenden. Auf ihn paßt
mehr das Bild des Forstmannes oder Gärtners, der nicht schnell Samen in die
Furchen einstreut, sondern junge^ bereits angekeimte Pflanzen einzeln, langsam
und mit Bedacht einpflanzt. Denn jedweder Begriff, der für wertvoll genug
befunden wird, um im Unterricht übermittelt zu werden, ist schon etwas derartig
Zasammengesetztes. Der Unterrichtende hat, um im Bilde zu bleiben, genau
auszulesen, was er pflanzt, und hat genau zu bedenken, wann und wo er es
40 Otto Ohmann, Ein unterrichtspsychologischer Grundsatz usw.
pflanzt. Gerade auf den richtigen Zeitpunkt kommt es zuweilen entscheidend
an. Besonders beim Beginn eines neuen Unterrichtsgebietes ist die Ausbildung
der ersten Akkreszenzen mit peinlicher Sorgfalt vorzunehmen. Denken wir
etwa, hinsichtlich des mathematischen Unterrichts, an die Trigonometrie, vor-
erst an die goniometrischen Formeln, so entspricht es dem Sinn c'es aufgestellten
Prinzips, nicht gleich die vier gewöhnlichen Winkelfunktionen, sinus, cosinus,
tangens imd cotangens, aufzustellen — häufig genug findet man in Lehrbü-
chern gleich im Anfang diese Zusammenstellung — auch nicht einmal zwei,
den sinus und cosinus, sondern sich längere Zeit nur mit der Sinusfunktion eines
Winkels zu beschäftigen. Der damit verknüpfte kleine Zeitverlust wird durch
die damit gewonnene größere Sicherheit reichlich aufgewogen. Es entspricht
weiter dem Sinn des Prinzips, diese ersten Akkreszenzen — sobald nämlich noch
die Cosinusfunktion hinzugenommen ist — auch nach der historischen Seite hin
zu vervollständigen und damit lebensvoller zu gestalten, was durch die Durch-
nahme der großartigen Aufgabe des Aristarch von Samos — die im Unterricht
bei weitem nicht genügend ausgewertet wird — fruchtbringend geschehen kann.
Dieser geniale Kopf konzij)ierte bekanntlich das bei Vollendung der ersten Mond-
phase bestehende rechtwinklige Dreieck Erde — Mond — Sonne, mit dem
rechten Winkel beim Monde und dem von dem Erdstandpunkt aus meßbaren
Winkel, dessen Schenkel nach Mond und Sonne weisen ; und Aristarch vermochte
durch Messung dieses Winkels nicht nur die relativen Entfernungen Erde — Mond
und Erde — Sonne festzustellen, sondern auch — da Sonnen- und Mondscheibe
bei gewöhnlicher Betrachtung ungefähr gleichgroß erscheinen — bereits einen
Schluß über das relative Größenverhältnis von Sonne und Mond zu ziehen.
Bin glänzendes Beispiel der Leistungsfähigkeit Antiken griechischen Geistes.
So wird man bei weitergehender praktischer Anwendung des aufgestellten
didaktischen Prinzips erkennen, daß dasselbe oder vielmehr die damit zusammen-
hängenden, hier nur im vollkommen angedeuteten physiologischen Anschauungen
allmählich die gesamte didaktische Tätigkeit zu beeinflussen vermögen. Mich
begleiten wenigstens diese Anschauungen mit ihren weiteren Folgerungen un-
aufhörlich beim Unterricht, und sie geben mir in allen auftretenden Fragen fast
regelmäßig den richtigen Fingerzeig. Der Zweck dieser Zeilen ist erreicht, wenn
sie dazu beitragen, daß diese Anschauungen auch in anderen beim Unterricht zur
lebendigen Wirkung gelangen.
Noch eine kurze Bemerkung sei zum Schluß gestattet. Der Titel der vorliegen-
den Arbeit sollte eigentlich lauten ,,Uber ein vernachlässigtes didaktisches Prin-
zip usw.", indem ich von der Meinung ausging, daß dieses Prinzip irgendwo
— bei Herbart, Jean Paul oder anderen — schon einmal ausgesprochen
sein müßte ; ich habe aber bis jetzt darüber nichts auffinden können. Vielleicht
wird ein anderer durch die vorliegenden Zeilen angeregt, danach zu spüren.
Verfasser will gern auf denRuhm der Priorität verzichten und sich damit begnügen,
das Prinzip unabhängig wieder aufgestellt und dadurch in Erinnerung gebracht
zu haben.
Nelly Wolffheim, Einheitskindergärten? 41
Einheitskindergärten ?
Von Nelly Wolffheim.
Der Kindergarten ist in den letzten Jahren nicht nur als soziale Einrichtung
mehr zur Anerkennung gekommen, sondern auch seine pädagogische Würdigung
ist gewachsen. Wohl als Folge dieser Erscheinung werden (wenigstens meinen
Beobachtimgen nach) aus den Kreisen der gebildeten und besser gestellten
Familien häufiger als früher die Kinder einem Kindergarten anvertraut; viel-
fach sprechen naturgemäß auch äußere Gründe, besonders die zunehmende be-
rufliche oder soziale Tätigkeit der Mütter, hierbei mit. Es fragt sich nun, in welche
Art der Kindergärten diese Kinder geschickt werden sollen. Neben den Volks-
kindergärten hat man für die sozial gehobeneren Stände vielfach Mittelstands-
kindergärten eingerichtet und kleine private Kindergärten und Familienzirkel
begründet; häufig finden sich auch — besonders seit der Mädchenschulreform
— den höheren Mädchenschulen Kindergärten angegliedert. An manchen Plätzen
scheint mir ein Mangel an derartigen Einrichtungen zu bestehen, und ihre Ver-
mehrung wäre zu befürworten. Man muß bei der Behandlung dieser Frage aber
auch der Richtung Aufmerksamkeit schenken, die es für wünschenswert hält,
die Kinder aller Stände dem Volkskindergarten zuzuführen. Von äußerst
schätzenswerter, auf diesem Gebiet autoritativer Seite wurde erst kürzlich
öffentlich hervorgehoben, wie sehr es zu begrüßen sei, wenn gebildete Familien
dadurch, daß sie ihre Kinder in den allgemeinen Kindergarten schicken, den
breiteren Volksmassen zeigen, für wie wertvoll sie die Institution an sich ein-
schätzen. Man muß anerkennen, daß es, besonders auf dem Lande, unbedingt
für den Kindergarten wirkt, wenn der Pastor, der Lehrer oder eine als wohl-
habend bekannte Familie ein Kind in den öffentlichen Kindergarten schickt.
Es wird auch damit zu rechnen sein, daß diese Kreise, wenn sie durch die per-
sönlichen Beziehungen an dem Kindergarten interessiert sind, die Einrichtung
durch ihre Fürsorge fördern werden. Dies wäre im titeresse der Kindergarten-
idee, vor allem aber im Hinblick auf die kleinen Zöglinge erfreulich, und wenn
man die Sache vom sozialen Standpunkt aus betrachtet, wird man noch manche
andere Vorteile, vor allem solche, die dem Gerechtigkeitsgedanken entspre-
chen, herausfinden. Wer in der sozialen Arbeit steht, hat meist die Neigung,
alles in erster Linie vom volkserzieherischen Gesichtspunkt aus und im Sinne
der unteren Volksschichten zu beurteilen, und von hier ausgehend, kann man
den Einheitskindergarten in vielfacher Hinsicht gutheißen. Wer aber die
pädagogische Arbeit in verschiedenen Bevölkerungskreisen ausgeübt hat, weiß,
daß man auch die Kehrseite solcher Anschauungen nicht außer acht lassen darf;
man läuft sonst Gefahr, einen Teil der Kinder ohne durchaus zwingenden
Grund zu benachteiligen. Daß die Mehrzahl der Familien, die es nicht aus
äußeren Gründen tun müssen, sich auch schwer dazu entschließen würden, ihre
Kinder in einen Volkskindergarten zu schicken, ist sicher.
In erster Linie sind da Gesichtspunkte der Gesundheitspflege von Bedeutung.
Volkskindergärten sind fast immer Massenanstalten, die eine Anzahl von vierzig
(in sehr günstigen Fällen!) bis zu hundert und mehr Zöglingen aufnehmen.
Die wenigen Einrichtungen, die in der glücklichen Lage sind, die Kinder
42 Nelly Wolffheim
innerhalb dieser größeren Gemeinschaft in kleinere Gruppen zu teilen, die
sich in familienhaften Zimmern für sich aufhalten, sind Ausnahmen, Daß
es an sich nicht wünschenswert ist, ein kleines Kind der Unruhe und der
bei der Masse notwendigen schulmäßigeren Disziplin auszusetzen, daß es nicht
günstig sein kann, wenn die Kleinen, die bei einem Zusammensein vieler
naturgemäß wenig gute Luft einatmen, muß jeder zugeben; man sieht daher
auch von Seiten der Kindergartenvertreter die Massenanstalten immer nur
als einen durch äußere Umstände bedingten Notbshelf an und strebt mehr
und mehr einem Kindergarten zu, der den Charakter einer Familienkinder-
stuba trägt. Warum will man es dann aber aus einseitig sozial-ethischen Prin-
zipien befürworten, daß wir Kinder, die nicht darauf angewiesen sind, einen
Kindergarten zu besuchen, den zugegebenen und so allgemein bekämpften
Nachteilen aussetzen ? Aber rechnen wir hier einmal mit einem Idealkinder^
garten, in dem nach Möglichkeit alle die hervorgehobenen Schädlichkeiten be-
seitigt sind : Im Kindergarten selbst ist alles schön und gut, die Käume sind
hygienisch einwandfrei, das Zusammensein der Kleinen wird in bester familien-
hafter Art ausgestaltet, die pädagogische Leitung ist eine rechte, kurz, der Kin
dergarten ist so, wie er uns allen als wünschenswert vorschwebt und wie er an
manchen Plätzen annähernd zu finden ist. Und trotzdem halte ich es nicht für
empfehlenswert, Kinder aus einer sorgfältigen Kinderstube der oberen Schich-
ten dorthin zu schicken ! Wie dies im Zusammenhang mit den Wohnverhältnis-
sen, mit den Arbeitsanforderungen, die an die Mütter gestellt werden, ganz
natürlich ist, kann die Körperpflege bei den Kindern des einfachen Volkes nur
eine primitive sein ; der Kleidung der Kleinen hängt, selbst wenn sie sauber ge-
halten wird, die Atmosphäre der engen, oft ungesunden Wohnungen an, und
die Ausdünstungen sind häufig recht unangenehm bemerkbar. Die besten hygieni-
schen Einrichtungen des Kindergartens (Kinderbäder) können dies nicht aus-
schalten. Die obhutgewährende Aufgaba des Volkskindergartens macht es außer-
dem unmöglich, mit starken Erkältungen oder leichten Ausschlägen behaftete
Kinder vom Kindergarten fern zu halten, und Isolierzimmer sind bisher an den
wenigsten Plätzen eingerichtet. Daß dies alles der Ausbreitung von Krankheits-
keimen günstig ist, liegt auf der Hand. Man rechne hierzu die Unkenntnis und
Unbedachtsamkeit ungebildeter Leute, denen ärztliche Beratimg nicht immer
zur Seite steht, imd bringe hiermit die vermehrte Möglichkeit einer Krankheits-
übsrtragung in Zusammenhang. Mögen die Verordnungen der Anstalten noch
so strenge sein und der Einschleppung von Kinderkrankheiten entgegenzuwirken
suchen; wer bürgt dafür, daß die Erkrankungen bei der Arztscheu jener Kreise
rechtzeitig erkannt werden ? Wer will es einer Mutter, die mit Heimarbeit über-
lastet ist, verdenken, wenn sie einen Krankheitsfall innerhalb der Familie ver-
heimlicht, um wenigstens die gesunden Kinder tagsüber in den Kindergarten
schicken zu können ? Warum, so ist auch hier zu fragen, Kinder, die in päda-
gogischer Hinsicht die Vorteile des Kindergartens auf eine andere Art genießen
können, dem aussetzen ?
Man nehme dazu die nach meiner Erfahrung durchschnittlich größere Sensibili-
tät und nervöse Disposition der oberen Schichten, die bsreits in der frühen Kind-
heit bemerkbar wird. Wozu diese Kleinen dem großen Betriebe einreihen und
sie dort tädich für viele Stunden festhalten ?
Einheitskindergärten? 43
Neben den Fragen der Gesundheitspflege muß in diesem Zusammenhange der
geistige Standpankt der Kinder bei der Beurteilung herangezogen werden. Es
ist kein Zweifel, daß die Kinder verschiedener Bildungs- und Lebenskreise auch
durch den Kindergarten verschiedenes zu empfangen haben. Ich kann an dieser
Stelle auf die Unterschiede nur andeutend eingehen. Es sei hervorgehoben, daß
ich bei Beginn meiner Tätigkeit an Kindern der oberen Schichten, vom Volks-
kindergarten kommend, wesentlich umlernen mußte. Es soll hiermit in keiner
Weise ein Werturteil nach irgendeiner Seite hin abgegeben werden, nur liegt
mir daran, das Vorhandensein bestimmter Unterscheidungen, die von manchen
geleugnet werden, zu betonen. Manches, was man bei Kindern, die viel allein
sind, oder deren baide Eltern weder die Zeit noch das Wissen haben, um den
Kleinen geistige Anregungen und Belehrungen zu bieten, bewußt fördern muß,
bedarf im Kindergarten für die basser gestellten Kreise nicht der Pflege. Man täte
unrecht, diesen Kindern die gleichen Anregungen zu bieten wie jenen; während
bei den Volkskindern gerade der Denkanregung besondere Aufmerksamkeit
zu schenken ist, wird man die Kleinen aus der modernen gebildeten Großstadt-
familie meist geistig zu schonen haben und ihnen statt vielem Denkinhalt, der
ihnen anderweitig mehr als wünschenswert ist, zugeführt wird, nur Gelegenheit
zur ruhigen konzentrierten Beschäftigung geben. Die Tätigkeit dieser Kinder muß
der Verarbeitung der vielen, allzuvielen Eindrücke und der Klärung des erstaun-
lich größenWort Wissens dienen. Im Volkskindergarten ist der Pflege der Sprache
besondere Aufmerksamkeit zu schenken ; die Kinder müssen häufig erst lernen,
ihre Gedanken wiederzugeben oder sie in eine möglichst gute Form zu kleiden;
dieses der Schule vorarbeitende Bemühen wird in den meisten Fällen bei Kindern
aus gebildeten Familien fortfallen. Hier wird es sich hingegen mehr darum han-
deln, die Kleinen zu gewöhnen, von einer ihnen durch stete Unterhaltung mit
Erwachsenen (besonders bsi Einzigen!) und durch die zu eingehende Frage-
beantwortung anerzogenen Vielgeschwätzigkeit abzulassen. Die Kinder des
einfachen Volkes sind von Hause aus selbständiger; die oft recht verwöhnten
Kinder begüterter Kreise müssen in vielen Fällen im Kindergarten zu Eigen -
handlungen geführt werden, die ihnen die häusliche Kinderstube nur zu willig
abzunehmen geneigt ist. Oft gilt es, zuerst das Selbstvertrauen nach dieser
Richtung hin zu wecken imd dem Kinde zu zeigen, was es zu leisten vermag.
In allen praktischen Lebensfragen sind die Kinder der unteren Schichten meist
denen der oberen Klassen überlegen ; die Anleitung zu den im modernen Kinder-
garten gern gepflegten hauswirtschaftlichen Beschäftigungen wird je nach
der Art der kleinen Zöglinge eine andere sein müssen, ebenso wie sie meines
Erachtens von verschiedenen Gesichtspunkten ausgehen wird.
Man kann natürlich diese hier hervorgehobenen Unterschiede nicht als allge-
meingültige hinstellen; sie sollen nur einzelne Hinweise auf das geben, was mir
im Laufe meiner Praxis als bemerkenswert und unterscheidenswert aufgefallen
ist. Es sei hierbei bemerkt, daß in einem Mittelstandskindergarten der inneren
Stadt die Kontraite zum Volkskindergarten weniger schroff fühlbar sein werden,
als ich sie bei der Beschäftigung mit Kindern aus vermögenden Kreisen des Berliner
Westens empfinde. — Die Eigenart des einzelnen Kindes wird sich naturgemäß
in jedem Kindergarten bemerkbar zu machen suchen, und Unterschiede werden
innerhalb der jeweiligen Volksschichten unbedingt hervortreten. Aber in der Masse
44 Nelly Wolffheim, Eihheitskindergärten ?
wird ein Generalisieren nie zu vermeiden sein, und wir, die wir — unter Aus-
schluß der zu Zeiten befürworteten Übertreibungen auf diesem Gebiet — für
ein rechtes Individualisieren bei der Erziehung eintreten, müßten es schon
aus diesem Grunde vermeiden, Kinder ohne äußere Notwendigkeit einer
allzu großen Allgemeinheit einzuordnen. Die pädagogische Bedeutung des
Zusammenlebens der Kinder in einem vergrößerten Kinderkreise soll deshalb
nicht etwa in Abrede gestellt werden.
Für die erziehlichen Aufgaben, die der Kindergarten an den Kindern aus
gebildeten Familien zu erfüllen hat, genügen auch weniger Tagesstunden, als
sie für eine obhutgewährende Anstalt als zweckmäßig zu erachten sind. Ich per-
sönlich bin sogar der Ansicht, daß ein täglicher Besuch des Kindergartens, wenn
nicht äußere Gründe es erforderlich machen, für diese Kinder nicht nötig, ja nicht
einmal unbedingt wünschenswert ist. Als nicht sehr wesentlich schätze ich die
von manchen Seiten ausgesprochenen Bedenken gegen eine Gemeinschafts-
erziehung ein, die sich auf die Befürchtung gegenseitiger ungünstiger Beeinflussung
stützen. Der Einfluß der Kinder auf einander ist, soweit ich meinen Erfahrungen
trauen kann, auf der frühen Altersstufe nicht sehr groß, was ich in dieser Zeit-
schrift bereits einmal nachzuweisen suchte. Die Befürchtung, daß die Kinder
unbemittelter Familien durch ein Zusammensein mit den verwöhnteren Kindern
zu Neid und Eifersucht kommen würden, ist nicht allzu schwer zu nehmen, da
doch dieser Neid bei entsprechender Veranlagung oder häuslicher Beeinflussung
der Kinder überall auf Schritt und Tritt Nahrung findet.
Nicht ganz unbedenklich scheint mir die ästhetische Seite der Frage zu sein.
Wie der Körperpflege wird den gesamten äußeren Formen der Kinder in gebil-
deten Kreisen viel Aufmerksamkeit geschenkt, und wenn man auch den Übertrei-
bungen auf diesem Gebiet nicht das Wort zu reden braucht, so ist doch eine
gewisse Lebenskultar als Wertfaktor einzuschätzen, und ich weiß nicht, ob es
wünschenswert ist, diese Kinder in eine dauernde und enge Berührung mit
Kindern zu bringen, die auf einem weitabliegenden Boden aufwachsen.
Wenn es auch als das Ideal zu gelten hat, allen Volksschichten Gleichwertiges
zu bieten, so sehe ich doch keine Veranlassung, solchen Kindern, die es besser
haben können, das ihnen weniger Zuträgliche zu geben. Solange wir eine ver-
schiedene Lebensführung der einzelnen Volksschichten haben, werden wir auch
den Kindern eine verschiedene Lebensbildung übermitteln müssen. Jedenfalls
aber ist es zu vermeiden, aus sozialer Gleichmachungsidee heraus Kinder in
hygienischer und erziehlicher Hinsicht zu schädigen.
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Pädagogik in der neuen preußischen Oberlehrerprüfung. Am 1. April
1918 tritt eine neue Prüfungsordnung für das Lehramt an den höheren Schulen
Preußens in Kraft. Sie enthält sehr wichtige Bestimmungen hinsichtUch der
Pädagogik und ist in dieser Hinsicht auch von allgemeinem Interesse. Das
grundsätzlich Wichtigste an ihr ist die Trennung der theoretisch-päda-
gogischen Ausbildung und Prüfung von der fach wissen schaftlichen
Kleine Beiträge und Mitteilungen 45
Ausbildungund Prüfung. Die preußische Oberlehrerprüfung ist in Zu-
kunft eine zweifache; sie zerfällt in die wissenschaftliche (fach wissen-
schaftliche) und pädagogische Prüfung. Die fachwissenschaftUche Prüfung
wird nach Ablauf eines mindestens vierjährigen Studiums vor einem Wissen-
schaftlichen Prüfungsamte abgelegt, das aus Universitätsdozenten und Schul-
männern zusammengesetzt ist. Die pädagogische Prüfung wird am Schlüsse
einer an das Universitätsstudium sich anschließenden zweijährigen praktischen
Ausbildung vor einem Pädagogischen Prüfungsamte abgelegt, dem der zustän-
dige Provinzialschulrat, der Direktor und die mit der Vorbereitung des Kan-
didaten beauftragten Lehrer angehören. Die Pädagogik kommt als Prüfungs-
gegenstand für die fachwissenschaftliche Prüfung in Wegfall; an ihre
Stelle tritt Philosophie, insbesondere Psychologie, Ethik, Logik und Erkennt-
nislehre. In der pädagogischen Prüfung können Geschichte des Erziehungs-
und Unterrichtswesens und Didaktik einzelner Unterrichtsfächer auftreten ; ob
sie geprüft werden, hängt von der Entscheidung des Provinzialschulrates ab.
Wie die Prüfung, so wird auch die Ausbildung in der theoretischen Päda-
gogik von der Universität losgelöst. Vor der Zulassung zur Prüfung muß
der Kandidat nachweisen, daß er die notwendigen Fachvorlesungen besucht
und an wissenschaftlichen Übungen mit Erfolg teilgenommen hat; hinsichtlich
der Pädagogik wird nur allgemein gefordert, daß er überhaupt Vorlesungen
gehört hat. Die Einführung in einzelne Gebiete der theoretischen Pädagogik
erfolgt erst während der praktischen Ausbildung; zu den zahlreichen Verhand-
lungsgegenständen der wöchentlich mindestens zwei Stunden umfassenden
Sitzungen gehören neben Psychologie und Ethik, die bereits in der wissen-
schaftlichen Prüfung berührt worden sind, auch die Geschichte des Erziehungs-
und Unterrichtswesens und die Unterrichtslehre der einzelnen Lehrfächer.
Was nun die Trennung der beiden Prüfungen anbelangt, so ist diese zwei-
fellos gut und richtig und insbesondere für die bisher sehr »tiefmütterhch be-
handelte Pädagogik von großem Vorteil. Die preußische Unterrichtsverwaltung
hat damit einen wichtigen Schritt nach vorwärts getan. Mit schwerem Herzen
aber und mit ernsten Befürchtungen wird man der Loslösung der theoretisch-
pädagogischen Ausbildung von der Universität gegenüberstehen. Zwar
ist der Gedanke ganz richtig, daß ein tieferes Verständnis für die Pädagogik
nur möghch ist in engster Fühlung mit der Unterrichtstätigkeit, und mit Recht
legt die pädagogische Prüfungsordnung großen Wert auf die Feststellung, ob
der Kandidat durch die praktische Vorbereitung einen klaren Einblick in die
Aufgaben der Erziehung und des Unterrichts gewonnen hat. Aber darüber
kann kein Zweifel bestehen, daß die wissenschaftliche Voraussetzung
für das verständnisvolle Erfassen der Erziehungsprobleme nur auf der Uni-
versität gewonnen werden kann und zwar nicht bloß durch die Einführung
in Psychologie und Ethik, sondern in erster Linie durch die planmäßige Ein-
führung in die pädagogische Systematik und die historische Pädagogik. Die
Aufgabe der praktischen Vorbereitung kann in bezug auf die theoretische
Pädagogik lediglich darin bestehen, die erlangten Kenntnisse und Erkenntnisse
anzuwenden, zu prüfen, zu erweitern und zu vertiefen. In der Ansicht, daß
die Universität nur die fachwissenschaftUche, nicht aber die erziehungswissen-
schaftliche Ausbildung zu übernehmen habe, liegt eine Mißachtung der
Pädagogik als Wissenschaft ausgesprochen, wie man sie kaum schärfer
erwarten kann. Mit der neuen Prüfungsordnung ist für die Pädago-
46 Kleine Beiträge und Mitteilungen
gik als Lehrfach der Universität die letzte Stunde gekommen.
Zwar kann die Prüfung in Philosophie auch Problemkreise der philosophischen
Erziehungslehre in sich schließen, und der Kandidat hat das Recht, die Lehr-
befähigung in Pädagogik zu erwerben ; aber durch diese Bestimmungen wird
das drohende Unheil kaum aufgehalten werden. Sollen Erziehung und Unter-
richt in Zukunft nicht zum bloßen Handwerk herabsinken, so wird man hin-
sichtlich der Handhabung der neuen Prüfungsordnung folgende dringenden
Wünsche äußern müssen : § 5 (Zulassung zur wissenschaftlichen Prüfung) ist
dahin zu ergänzen, daß der Kandidat in jedem Semester mindestens eine
pädagogische Vorlesung gehört haben und an Übungen der pädagogischen
Seminarien und psychologischen Institute mit Erfolg teilgenommen haben muß ;
in § 9 (Prüfung in Philosophie) ist die philosophische Erziehungslehre, die in
die pädagogische Prüfung gehört, in Wegfall zu bringen und dafür die Psy-
chologie zum Hauptgegenstand der Prüfung zu machen; in § 50 (Pädago-
gisches Prüfungsamt) ist zu verfügen, daß jedem Prüfungsamt auch mindestens
ein Vertreter der Pädagogik oder Psychologie an der Universität angehören
muß; in § 54 (mündliche Prüfung) ist anzuordnen, daß Systematik, Geschichte
und Psychologie mindestens eines Faches, für das der Kandidat die Lehrbe-
fähigung besitzt, sowie Systematik, Geschichte und Psychologie der ethischen
Erziehung (die wegen der Schulzucht und der Handhabung der Zensuren in
Betragen und Fleiß für jeden Lehrer in Betracht kommt) geprüft werden
müssen; auch muß der Kandidat zeigen, daß er befähigt ist, die einzelnen
Schüler nach einfacheren psychologischen Methoden richtig zu beurteilen
und im Einzelfalle die den Anforderungen des Unterrichts und der sittlichen
Bildung gegenüberstehende Begabung zu erkennen.
Leipzig. Johannes Kretzschmar.
Die Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen
Hochschulen im Winterhalbjahr 1917/18. Berlin. Lüttge (theoL F.):
Religionspsychologie (2). — Forster (med. F.): Psychiatrie des Kindes-
alters (1). — Ludwig Jacobsohn (med. F.): Das geistig normale, das
schwachsinnige und das psychopath. Kind (1). — Karl Schaefer (med. F.):
Mediz. Psychologie (2). — Stier (med. F.): Psychopathologie des Kindes-
alters (1). — Stumpf: Psychologie mit Demonstr. (4), Übungen im psycho-
log. Institut (1). — Dessoir: Allg. Psychologie (2). — Vierkandt: Entwick-
lungspsychologie (2). — Wertheimer: Experim.-psycholog. Übungen (2). —
Mahling (theoL F.): Katechet. Sem. (2). — Fabricius (theolog. F.): Päda-
gogik (2). — Adolf Baginsky (med. F.): Einfluß des modernen Schul-
unterrichts auf den kindL Organismus (1). — Ferd. Jacob Schmidt:
Geschichte der Pädagogik (4). Pädagog. Sem.: Übungen über die pädagog.
Theorien des 19. Jahrh. (IV2). Bonn. Dyroff: Psychologie (4). — Eris-
mann: Einführungskurs in die experim. Psychologie (2). — Störring:
Selbständige Arbeiten im psychologischen Laboratorium täglich. — Pfennigs -
dorf (ev.-theoL F): Katechetisches Seminar (2). — Hübner (med.-F.): Geistig
abnorme Kinder (1). — Dyroff: Geschichte der Pädagogik (2). —
Kutzner: Einführung in die experimentelle Pädagogik (1). Breslau. Hönigs-
wald: Im psycholog. Seminar: Übungen zur Denkpsychologie und Phä-
nomenologie. — Steinbeck (ev.-theoL F.): Katholisches Seminar (2).
Keine Beiträge und Mitteilungen 47
Pädagogik und Volksschulkunde (2). — Gercke: Bildungsziele, für Hörer
aller Fakultäten (1). — Hönigswald: Die theoretischen Grundlagen der
Pädagogik (2). Kolloquium der philosophischen Pädagogik (2). — Müller;
Das höhere Schulwesen in seiner geschichtlichen Entwicklung (2). Übungen
zur Geschichte des höheren Schulwesens, privatissime (1). Erlangen. Cas-
pari (theol. F.): Allgem. Pädagogik, mit besonderer Berücksichtigung der-
Volksschule (4). Katechet. Seminar (2). Pädagog. Praktikum, mit Schulrat
Hedenus (2). — Weichardt (med. F.): Schulhygiene (1). — Leser: Die
Lebensanschauungen der großen Pädagogen der Neuzeit (2). Frankfurt, a. M.
Schumann (naturw. F.): Psychologie (mit Demonstr.) 3. — Hennig (naturw.
F.): Gedächtnis und Denken (mit Demonstr.) (2). — Schumann (naturw.
F.): Einführungskursus in die experim. Psychologie (2). Wissenschaf tl. Ar-
beiten Fortgeschr. (täglich n. Bedarf). — Schumann (naturw. F.): Philo-
sophisches Seminar: Bespr. psycholog. Arbeiten (1). — Hahn (med. F.):
Psychopathologie des Kindes mit Krankenvorstellungen (1). — Ziehen:
Literaturpädagogik (2) ; Bilder aus der Geschichte der Monarchie vom Stand-
punkt der Volkserziehung (1). — Schnitze: Charakterpsychologie und Er-
ziehung (3); Katechet. Übungen im Anschluß an die Vorlesungen über
Charakterpsychologie und Erziehung (2). — Ziehen: Übungen zur Ein-
führung in die Kartographie des Bildungswesens (1). — Pape (Wirtschafts-
u. sozialwissenschaftl. F.): Geschichte und Organisation des kaufm. Bildungs-
wesens in Deutschland (1). — Seminar für Handelsschulpädagogik: Lehr-
übungen und Besprechungen (3). — Lühr (Wirtschafts- und sozialwissen-
schaftl. F.): Einführung in die Handelsschulpraxis, Hospitierübungen und
Besprechungen (2). Freiburg i. B. Kehr er (med. F.): Kriminalpsychologie
und Psychologie der Aussage. — Cohn: Psychologische Arbeiten. — Cohn:
Geschichte der Pädagogik. Gießen. Sommer (med. F.): Experimentelle
Psychologie und Psychopathologie (für Studierende aller Fakultäten) (1). —
Koffka: Psycholog. Kolloquium (1). — Siebeck: Geschichte der Bildung
und der Pädagogik seit Ausgang des Mittelalters (3). Göttingen. G. E. Müller:
Psychologie (4); Psychophysische Methodik und Korrelationslehre (1); Ex-
periment.-psychol. Arbeiten (36). — Baade: Deskriptive Psychologie und
Psychographie (2); Übungen zur Psychologie des Denkens (1). — J. Meyer
(theol. F.): System der evang. Pädagogik (2). — Rosenthal (med. F.):
Schulhygiene (1). Greifswald. Schwarz: Philosophisches Seminar: Über
die Lehre vom Willen. — Schmecket: Experimentelle Psychologie (2). —
V. d. Goltz (theol. F.): Katechet. Seminar (1). Halle. Kauf f mann (med.
F.): Psychologie des Verbrechens, mit Lichtbildern (1). — Menzer: Psycho-
logie (4). — Eger (theol. F.): Katechetik (2). — von Drigalski (med. F.):
Gesundheitspflege, für Mitgheder des pädagog. Seminars und für Hörer aller
Fakultäten (1). — Fries: Pädagogische Übungen über Comenius (2); Ge-
schichte der Pädagogik seit dem Beginn des Mittelalters (2); Besichtigungen
und Probestunden, an noch zu bestimmenden Tagen und Stunden. — Frisch-
eisen-Köhler: Das Bildungsideal der Klassiker (1); Die psychologischen
und ethischen Grundlagen der Erziehung (2); Übungen zur Begabungs-
forschung (2). Heidelberg. Nißl (med. F.): Psych. Klinik (3); Forens.
Psychiatrie (2). — Homburger (med. F.): Allgemeine Psychopathologie des
Kindesalters (1). — Jaspers: Allgemeine Psychologie (2); Psychologische
Übungen (2). — Niebergall (theol. F.): Unterricht und Erziehung (2). —
48 Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Rohr hurst (theol. F.): Kat. Übung (IV2); Geschichte der bad. Volksschule
(1). — Nieb ergall (nat.-math. F.): Pädagogik in ihrer Anwendung auf die
körperliche Erziehung (1). Jena. Schultz (med. F.): Med. Psychologie (1).
— Thümmel (theol. F.): Katechet. Seminar (2). — Rein: System der Päda-
gogik (2); Pädag. Seminar mit praktischen Übungen. — Weiß: Die Grund-
lagen des Unterrichtsverfahrens (2); J. Fr. Herbarts pädagogische Lebens-
jahre mit Erklärung seiner pädagogischen Jugendschriften. Kiel. Martins:
Psychologie (4); Psycholog. Seminar (2). — Baron von Brockdorf f: Ge-
schichte der Pädagogik seit Luther (2); Entwicklung des Schulwesens unter
Kaiser Wilhelm II. (1); Übung im Anschluß an Herbarts Schriften (1). Königs-
berg. Ach: Experimentell-psychologische Übungen (1); Psychologie (4). —
Uckeley (theol. F.): Katechetisches Seminar (1). — Kowalewski: Kollo-
quium über experimentelle Pädagogik il^J2). Leipzig. Frenz el (theol. F.):
Psychologie des Religionsunterrichts. — Gregor (med. F.): Med. Psycho-
logie. — Krueger: Einführung in die Psychologie. Einführungskursus zur
experimentellen Psychologie. Leit. selbständ. Arb. — Wirth: Übungen zu
den psychophys. Maßmethoden. Selbständ. experiment. Arbeiten. — Brahn:
Psychologie des Aberglaubens und der Zauberei. Didaktik des Lesens,
Schreibens, Zeichnens und Rechnens. Wiss. Arb. über experiment. Päda-
gogik und angew. Psychologie. — Frenzel (theoL F.): Seminar für Päda-
gogik: Prakt.-pädagog. Übungen und Besuche von Lehr- und Erziehungs-
anstalten. — Spranger: Pädagogik I. — Jungmann: Geschichte der
Pädagogik seit der Reform. Praktisch-pädag. Seminar. — Barth: Erziehungs-
und Unterrichtslehre. — Wagner: Chem. Übungen für Lehrer. Didakt.
Besprechungen zu den chem. Übungen für Lehrer. — John: Unterrichts-
lehre für Landwirtschaftslehrer. Theoretische Seminarübungen. Experiment.
Vorbereitung für den Unterricht. Unterrichtserteilung in der Übungsschule.
Marburg. Bornhausen (theoL F.): Religionspsychologie. — Jaensch:
Psychologie (4). Philosophisches Seminar: Aufbau des Bewußtseins (IV2).
Experimentell - psychologische Untersuchungen. Psychologische Versuche.
— Natorp: Geschichte der Pädagogik (3). München. Goett (med. F.):
Nervenkrankheiten und Psychopathologie des Kindesalters mit Demonstr. (2).
Die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes (für Hörer aller Fak.)
(1). — Becher: Einführungskurs zu experiment. Psychologie (mit Pauli)
(2). Experimentell-psychol. Arbeiten für Fortgeschrittene (mit Prof. Bühler),
täglich. — Bühl er: Psychologie (4); Experimentell-psycholog. Arbeiten für
Fortgeschrittene (mit Prof. Becher), täglich. — Pauli: Psychologie der
Empfindung (1). Einführungskurs in die experiment. Psychologie (mit Prof.
Becher) (2). — Gallinger: Psychologie der Verleumdung (1). Übungen
über das Wesen des Mutes und der Freiheit (1). — Heinrich Meyer
(theol. F.) : Religionspsychologie als Grundlage der religiösen Entwicklung und
Erziehung. Katechet. Praktikum. — Göttler (theol. F.): System der Päda-
gogik I. (4). Didakt. Praktikum (2). Katechet. Praktikum (mit Mayer)
(1). — Uffenheimer (med. F.): Soziale Jugendfürsorge mit Besichtigung
der einschlägigen Institutionen (für Hörer aller Fak.) (1). — Rehm: Die
pädagog. Theorien der Aufklärung und der Romantik. — Joachimsen:
Übungen zur Didaktik des Geschichtsunterrichts (IV2). — AI. Fischer:
Grundzüge der Erziehungs- und Unterrichtslehre. Münster. Brunswig
(philos. und nat. F.): Psychologie (4). — Ettlinger (philos. und nat. F.):
Kleine Beiträge und Mitteilungen 49
Psychologie (4). — Goldschmidt (philos. und nat. F.): Philosophisches und
Seelenkundliches vom Gemütsleben und dessen Äußerungen in Sprache und
Pantomimik. Kursus der experimental-psychol. Methoden (2). Psychologische
Übungen und Anleitung zum selbständigen psychologischen Arbeiten, nach
Vereinbarung. — Smend (ev.-theol. F.): Katechetisches Seminar (1). —
Hüls (kath.-theol. F.): Katechetische Pädagogik (2). — Lauer (philos.
und nat. F.): Über pädagogische Zeit- u. Streitfragen (1). Rostock. Walter
(med. Wissenschaft) : Einführung in die allgemeine und pathologische Psycho-
logie. — Utitz und Walter: Einführung in die allgemeine und patho-
logische Psychologie. — Hubert (theol. Wissenschaft): Praktisches Seminar,
Katechet. (2). Straßburg. Schneider: Psychologie. — Naumann (ev.-
theol. F.): katechet. Seminar. — Simmel: Pädagogik. — Messer-
schmidt (med. F.): Hygiene d. Schule. Tübingen. Spitta: Untersuchung
zur vergleichenden Psychologie. — Groos: Psychologie. — v. Wurster
(ev.-theol.): Katechet. Sem. mit Übungen in der Volksschule. — Sägmüller
(kath. Theol.): Theoret. Pädagogik. — Schilling (kath. Theol.) : Katechetik.
— Deuchler: Die pädagogischen Ideen und das Bildungswesen der Neu-
zeit. Pädag. Sem. : Erziehungswissenschaftliche Übungen über die Unterschiede
der beiden Geschlechter. Würzburg. Marbe (philos.-hist. Abt.): Experi-
mentelle Übungen zur Einführung in die Psychologie, Pädagogik und
Ästhetik (3). — Peters (philos.-hist. Abt): Psychologie des Kindes (2).
Experiment. Übungen zur Einführung in die Psychologie, Pädagogik und
Ästhetik. — Stölzl e (philos. Abt.): Allgemeine Unterrichtslehre 1. Seminar A,
Philosoph, u. päd. Übungen (1). Anleitung zu wissenschaftlichen Arbeiten
auf dem Gebiete der Philosophie und Pädagogik.
Der zweite Ungarische Landeskongreß für Kinderforschung fand zu
Anfang November 1917 in Budapest statt. Veranstaltet hatte ihn die rührige
Ungarische Gesellschaft für Kinderforschung. In der vorangestellten
Jahresversammlung dieser großen Arbeitsgemeinschaft wurde hervorgehoben,
daß nunmehr die Zeitschrift der Gesellschaft („Das Kind*) bereits ein Jahrzehnt
hinter sich habe und in ihrer deutschen Sonderausgabe durch die ganze Welt
bekannt sei. Eine Festnummer überreichte man dem Grafen Alexander
Teleki, der in begeisterter, selbstloser Hingabe seit dem Bestehen der Gesell-
schaft — es sind 15 Jahre — den Vorsitz führt und es erzielt hat, daß die
Gemeinschaft jetzt über 2000 Mitglieder umfaßt und bei allen wichtigeren
Unterrichts- und Erziehungsangelegenheiten des Landes mitwirkt.
Die Verhandlungen des Kongresses beschäftigten sich in Vorträgen und an-
schließenden lebhaften Aussprachen mit sechs bedeutsamen Gegenständen.
1. Sehr ergiebige Darlegungen bot Dozent Geza Revesz, der aus seinem
besonderen Forschungsgebiete das Thema „Die frühzeitige Erkennung
der Begabung" behandelte. Noch ehe besondere schöpferische Leistungen
eine ausgesprochene Begabung einwandfrei erweisen, bekundet sie sich schon
frühe im Denken wie im Handeln, im intellektuellen wie im willenhaften Ver-
halten des Kindes. Ein bestimmter Interessenzug ist ein sicheres Begabungs-
symptom, wenn er ausschließlich, besonders stark, ausdauernd und spontan
auftritt. Die Forschung muß drei Fragen nachgehen: Welche Begabungen
äußern sich frühzeitig (es sind dies vor allem die künstlerischen und tech-
nischen) ; in welchem Lebensalter geschieht dies ; welche Methoden der Fest-
zeitschrift f. pädageg. Psychologie. 4
50 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Stellung sind brauchbar? Der Vortragende gab zu jedem dieser Punkte viele
wertvolle und neue Aufschlüsse.
2. Der Vortrag von Professor Bela Plichta, Szeged, über „Die Erziehung,
den Unterricht, die gesellschaftliche und behördliche Fürsorge
der begabten Kinder" führte zu folgenden Anträgen: a)Die Gesellschaf t möge
zur Förderung einer Ermittlung und Erziehung der Begabten einen Entwurf
ausarbeiten und an zuständiger Stelle ein Gesetz zur Fürsorge für begabte
Kinder anregen, b) Die Gesellschaft möge einen Zusammenschluß aller Ver-
eine veranlassen, die am Aufstiege der Begabten ein Interesse haben.
3. Auch der bekannte Seminardirektor LadislausNagy, der einen theoretisch
weit ausgeführten, mit reichem praktischen Material ausgestatteten Vortrag über
„Gesichtspunkte bei der Abfassung von Individualitätsbogen" bot,
verdichtete seine Darbietungen zu Anträgen- Sie lauteten : a) In allen Schulen
ist für jeden Schüler die Führung von Individualbogen höchst wünschenswert,
b) Bei ihrer Abfassung müssen psychologische, pädagogische, hygienische und
soziologische Gesichtspunkte zur Geltung kommen, c) Die Gesellschaft stelle
einen möglichst für alle Schulen verwendbaren Individualbogen her. d) Sie
rege die Schulbehörden zur amtlichen Einführung an,
4. Dr. Margarete Revesz befaßte sich mit „Leitsätzen zur Fürsorge
und heilpädagogischen Behandlung sittlich gefährdeter Kinder."
Eingehend wurden von ihr die sozialen und naturwissenschaftlichen Grund-
lagen der Verwahrlosung behandelt, ferner das Verhältnis der Degeneration
und Variation, das Ausscheiden neuer Elemente aus der entwicklungsfähigen
variablen Schicht, die Typen verwahrloster Kinder — psychographisch ge-
kennzeichnet — , die allgemeinen pädagogischen Grundsätze, die Einübung des
Guten durch Gewöhnung, die Ableitung der antisozialen Gefühle.
5. Der praktischen Seite des gleichen Themas wandte sich Josef Sändor,
Richter am Gerichtshof in Brassö zu. Er sprach über „Gesellschaftliche
und behördliche Einrichtungen zur Rettung und Erziehung der
sittlichgefährdetenJugend." Schon bei den vorschulpf hchtigen Kindern ,
so fordert er, hat die Öffentlichkeit einzugreifen. Dabei bedarf es aber gründ-
licherer Studien über die Soziologie des Kindes. Im fortgeschrittenen Grade
sind die Verwahrlosten der Zwangserziehung zu überweisen („Stigmatische
Schulen"). Ältere gefährdete Jugendliche müssen, ohne daß aber die persön-
liche Freiheit beschränkt werde, unter behördUcher Aufsicht bleiben. Für
abenteuerlustige Knaben könnte in Fiume eine besondere Anstalt errichtet
werden, die im Rahmen der allgemeinen Erziehungsschulen für den Marine-
beruf ausbildet.
6. Im letzten Vortrag, den Richter Dr. K arm an bot und der über „Päda-
gogische Gesichtspunkte in der Erziehung der Kriegswaisen" han-
delte, wurde eine Pädagogik gefordert, die ihre Grundsätze durch Anwendung
der Beobachtung und des Experiments gewinnt und für die besondere Pfleger
und Lehrer auszubilden seien.
Nachrichten. 1. Ein Landesschulrat für Bayern ist durch königliche
Verordnung vom 29. Juli v. J. ins Leben getreten. Er setzt sich zusammen
aus Beamten des Ministeriums für Kirchen- und Schulangelegenheiten und einer
Anzahl vom König auf die Dauer von fünf Jahren ernannter Mitglieder, als
welche Personen, die sich imUnterrichts- und Erziehungswesen besondere Kennt-
Kleine Beiträge und Mitteilungen 61
nisse und Erfahrungen erworben haben, in Betracht kommen. Zweck des Landes-
schulbeirates ist die Beratung wichtiger Angelegenheiten der höheren Lehr-
anstalten, der Lehrer- und Lehrerinnenbildungsanstalten, der höheren weiblichen
Unterrichtsanstalten, der Volkshauptschulen und Volksfortbildungsschulen und
der Berufsfortbildungsschulen. Nach diesen Schulgebieten gliedert sich der Lan-
desschulrat in vier Abteilungen, die gemeinsam oder einzeln beraten können
und die nach Erfordernis vom Ministerium einberufen werden.
2. An der Universitätjena ist von der philosophischen Fakultät beschlossen
worden, studierende Volksschullehrer, die in der höheren pädagogischen
Prüfung mit I bestanden haben, zur Promotion zuzulassen.
3. Vom Winterhalbjahr 1917 an haben die akademischen Kurse für allge-
meine Fortbildung und Wirtschaftswissenschaften (Leiter: Prof. Dr. Kumpmann)
an der Akademie für kommunale Verwaltung in Düsseldorf eine weitere Aus-
gestaltung durch pädagogische und staatswissenschaftliche Fort-
bildungskurse für Lehrer erfahren. Im Einvernehmen mit den Fach-
verbänden der Lehrerkreise und den entsprechenden Fachvertretern ist bis
jetzt für etwa vier Halbjahre ein Plan aufgestellt worden, von dem im laufen-
den Halbjahre folgende Vorlesungen gehalten wurden : 1. Grundlegung der
Pädagogik und Gegenwartsprobleme in Erziehung und Unterricht. (Gymnasial-
direktor Erythropel, Düsseldorf.) 2. Allgemeine Psychologie auf experi-
menteller Grundlage. (Privatdozent Dr. Kutzn er, Bonn.) 3. Verfassung und
Verwaltung des Deutschen Reiches und des preußischen Staates. (Dr. Her ring,
Düsseldorf). 4. Die Auswahl der Begabten. (Stadtschulrat Co nradi, Düsseldorf).
4.EinHochschulsonderkursfür Jugend gerichtsarbeit wird vom 31.
Januar bis 10. Februar 1918 in Berlin durch das Kriminalistische Institut der
Kgl. Friedrich- Wilhelms-Universität und die deutsche Zentrale für Jugendfür-
sorge veranstaltet. Leitend ist der Gedanke, daß die Bekämpfung der Krimi-
nalität der Jugend eine Aufgabe sei, die von der Gesamtheit des deutschen
Volkes zu leisten ist. Alle Kreise sind verantwortlich und zur Mitarbeit berufen.
Um aber diese Arbeit erfolgreich leisten zu können, ist es notwendig, daß
der einzelne Helfer die gesetzlichen Grundlagen der Jugendgerichtsarbeit kennt.
D er H ochse hui sonderkurs solldiese Kennt nisse vermitteln, zugleich
auch Gelegenheit bieten, einen Einbhck in die praktische Arbeit der Berliner
Jugendgerichtshilfe zu gewinnen und einige der wichtigsten Anstalten kennen
zu lernen. Er ist bestimmt für Leiter und Mitglieder von Jugendfürsorge-
vereinen und Jugendgerichtshilfen, für Studierende aller Fakultäten, für Geist-
liche, Lehrer, Vertreter der freiwilhgen Liebestätigkeit, der Frauenvereine, der
Arbeiter- und Berufsorganisationen, kurz für alle sozial interessierten Kreise.
Geplant sind folgende Vorlesungen und Führungen : Strafrecht (Professor Dr.
von Liszt). — Psyciiiatrie in der Jugendgerichtsarbeit (Professor Dr. Kramer). —
Gerichtsverfassung und Strafprozeß (Professor Dr. Goldschmidt). — Jugend-
gerichtswesen (Amtsgerichtsrat Dr. Friedeberg). — Fürsorge - Erziehung
(Geheimer Justizrat Dr. A s c h r o 1 1). — Gefängniswesen (Direktor H ö 1 s b e r g). —
Besichtigung der Anstalt Struveshof mit anschließendem Vortrag : Ausführung
der Fürsorge- Erziehung. (Erziehungsdirektor Knaut). — Besichtigung des
Wilhelmsstifts in Potsdam und der Strafanstalt Plötzensee. — An den Vor-
mittagen findet eine Einführung in die Arbeit der Deutschen Zentrale für
Jugendfürsorge, insbesondere in die Tätigkeit der Berliner Jugendgerichtshilfe,
statt; außerdem sind Besuche der Verhandlungen des Jugendgerichts und der
52 Literaturbericht
Jugendstrafkammern vorgesehen. Anmeldungen sind an die Deutsche
Zentrale für Jugendfürsorge, Ausschuß für Jugendgerichte und
Jugendgerichtshilfen, Monbijouplatz 3, erbeten.
Literaturbericht.
J. Joteyko, I®'' congres International de P^dologie tenu ä Bruxelles,
du 12. au IS. Aoüt 1911. Volume I: Comptes rendus des Seances 480 p, Vo-
lume II: Rapports 600 p. Brüssel 1912. Librairie Misch et Thron.
Der Bericht über den ersten internationalen Kongreß für Jugendkunde — so
möchte ich das französische pödologie des offiziellen I'rogramms übersetzen — ist seit
Anfang 1913 erschienen. Der Kongreß selbst und die Gegenstände wie die Artseiner
Verhandlungen bieten gegenwärtig vielfach ein beinahe geschichtliches Interesse;
zeugte er doch von einer Arbeitsgemeinschaft und sachlichen Interessengleichheit
der europäischen Völker, auf die wir fast wie auf eine Tatsache fernster Vergangenheit
zurückschauen. Und doch wird er als Erlebnis allen Teilnehmern unvergeßlich ge-
blieben sein, und doch verdient der europäische Gedankenaustausch, von dem er
erfüllt war, wärmste Beachtung, kann der jugendkundliche Forscher an dieser
ersten Zusammenfassung der über die Kulturländer der Erde zerstreuten Arbeit
auf seinem Gebiete unmöglich vorübergehen. In welchem Maß die Arbeit an der
Jugend der Völker der Annäherung dieser selbst zugute kommt, wage ich augen-
blicklich nicht zu entscheiden, aber daß unmittelbar vor der jetzigen Krisis der
Welt die friedliche Durchdringung der Völker auf dem Marsche war, ist mir ge-
rade unter dem Eindruck der Brüsseler Tage deutlich geworden; und daß ihre
künftige Wiederkehr zum glorreichen Erfolg niir werden kann, wenn die jungen
Generationen aus gleichheitlicherer Erziehung heraus die Fremdheit, Mißverständ-
nisse, Haß- und Rachegefühle überwinden lernen, ist eine Überzeugung, die in mir
durch das pädagogische Denken gerade in der Kriegszeit bestärkt wird.
So mag es erlaubt sein und richtig verstanden werden, wenn ich unter Hin-
weis auf die von J. Joteyko redigierten Kongreßverhandlvmgen und gestützt auf
eigene Erinnerungen und Aufzeichnungen hier einen kurzen Bericht gebe; für die
jugendk\indliche Arbeit bleibt er doch eine erste Selbstbesinnimg auf den Stand
der Fragestellvingen und Methoden; und wer sonst nichts aus ihm lernen kann
oder will, mag wenigstens ermessen und prüfen, ob die wissenschaftliche Erforschung
der Kinder und Jugendlichen seitdem wesentlich weiter gekommen ist.
Die Vorgeschichte des Kongresses reicht bis auf das Jahr 1909 zvoräck,^) in
welchem bei Gelegenheit des VI. internationalen Kongresses für Psychologie in
Genf sich ein Komitee konstituierte mit der Absicht, auch die Sache der exakten
Jugendkunde durch internationalen Gedankenaustausch und Zusammenschluß der
Interessenten zu fördern. Die Vorbereitung und Durchführvmg lag in den Händen
eines Arbeitsausschusses, der aus Decroly, Joteyko, Menzerath in Brüssel, Schuyten
und Günzburg in Antwerpen gebildet war und von einzelnen Vertretern der
Wissenschaft vom Kinde sowie von pädologischen Gesellschaften unterstützt wurde.
Eine größere Anzahl nationaler Ausschüsse haben sich in ihren Ländern für die
Sache des Kongresses bemüht, so besonders in England, Ungarn, Polen, Italien,
Spanien. Avis Deutschland, Österreich und der Schweiz war die Beteiligung eine
verschwindend geringe. Es lag das zum Teil sicher daran, daß für Deutschland
ein Kongreß mit ähnlicher Tendenz in Aussicht stand : der erste deutsche Kongreß
für Jugendkunde und Jugendbildung, der inzwischen vom Bund für Schulreform
in Dresden abgehalten worden ist; allein man wird auch tief erliegende Ursachen
nicht verkennen dürfen, und dazu rechne ich zu allererst das noch weitverbreitete
Mißtrauen gegen die Sammeldisziplin, wenn ich mich so ausdrücken darf, die in
den Publikationen der romanischen und amerikanischen Wissenschaft vinter dem
') Vergl. dazu: E. Claparede. Kinderpsycholcgie und experimentelle Pädagogik.
35.
Literaturbericht 53
Namen Pädologie ging und noch geht. Ich sage nicht, daß dieses Mißtrauen in
seinem ganzen Umfang begründet ist, ich meine sogar, daß eine aufmerksame Teil-
nahme an der Literatur des Auslandes und eine stärkere Beteiligung an inter-
nationalen Verhandlimgen als Gegenmittel gegen wissenschaftlichen Chauvinismtis
notwendig sind; ich weise lediglich auf das noch bestehende Mißtrauen hin, um
die geringe Teilnahme gewisser Länder, in denen die Kinderforschung sehr ernsthaft
betrieben wird, an dem Kongreß in Brüssel aus einer größeren Tiefe zu erklären,
als es manche, zweifellos auch wirksame äußere Umstände und Verhältnisse tun
können.
Der äußere Verlauf des Kongresses war recht gelvmgen, dank der Gastfreund-
schaft der Städte Brüssel, Antwerpen, Charleroi, der Teilnahme der Behörden und
der vielen Anregvmgen, welche die Städte neben dem Kongreß geboten haben.
Die Kongreß Verhandlungen selbst geben jedoch kein vollständiges Bild des gegen-
wärtigen Standes der Wissenschaft vom Kinde und ihrer Anwendxmg auf die
Praxis des Unterrichts und der Erziehung; eine Reihe wichtiger Vorträge, um
deretwillen vielleicht mancher überhaupt zur Tagung gekommen war, mußte unter-
bleiben, weil die Autoren nicht erschienen waren, — es felilten z. B.^) Bechterew,
Bertier, Claparede, Stern, Meiunann, Griesbach, Ranschburg, Spearman, G. della
Valle. Die große Hitze, imter welcher die Verhandlungsfreudigkeit anfänglich ge-
litten hat, mag manchen abgehalten haben; aber ich kann doch die Bemerkung
nicht vmterdrücken , daß die Verantwortvmg für die Höhe eines Kongresses auch
diejenigen mitzutragen haben, die durch ihre vielleicht doch vermeidliche Ab-
wesenheit weniger bedeutenden Kräften ein Übermaß von Raum gelassen haben.
Weiter beeinträchtigten die überladenen Tagesordnungen die Ergiebigkeit der
Verhandlungen, teilweise sogar in den Sektionssitzungen. Und schließlich muß
auch dies" ausgesprochen werden, daß die tolerante Kongreßleitvmg manches zu-
gelassen hat, was mehr als Entartungserscheinung der damals hochflutenden Schul-
reformbewegung Interesse verdiente. Ich kann die Absicht der Kongreßleitung
wohl vei stehen; es gibt in jeder großen Zeitbewegung Unterströmungen, die aus
unzufriedenem Dilettantismus gespeist werden und sich gerne als zu Unrecht
übersehen fühlen, wenn man sie nicht zu Worte kommen läßt. Trotzdem glaube
ich, der Kongreß hätte an Erfolg gewonnen, wenn weniger Rücksicht genommen
worden wäre. Ein Verdienst darf ihm nicht bestritten werden: er hat die inter-
nationale Ausbreitung der Schulreformbewegung dokumentiert, die internationale
Gleichförmigkeit der pädologischen Forschimg gezeigt, ein Bild von ihrer Flächen-
entfaltung gegeben, kein vollständiges freilich von ihrer dritten Dimension. Ob
diesem ersten Versuch weitere folgen werden, ist heute ungewiß; sollte es der
Fall werden, so dürften diese nachfolgenden Kongresse der organisatorischen
Schwierigkeiten des erfahrungslosen ersten Anfangs überhoben sein und nach
größerer Konzentration und Vertiefung streben können; wenn es ihnen besser ge-
lingt, sollen sie jedoch des Dankes nicht vergessen, der denen gebührt, die Mut
und Mühe des ersten Schrittes auf dem Wege zu einer zeitweisen Arbeitsgemein-
ßchaft der pädagogisch interessierten Welt gehabt haben.
Mit dem Kongreß war eine kleine Ausstellung verbimden in der Halle und in
vier Parterreräumen der 13. städtischen Schule in Brüssel. Das Verdienst ihrer
Anordnung gebührt in erster Linie Paul Menzerath, dann der Firma für Präzisions-
mechanik E. Drosten in Brüssel tmd der Opferwilligkeit der Aussteller selbst. Die
Ausstellung umfaßte eine schulhygienische, psychologische vmd pädagogische Ab-
teilung und wurde ergänzt durch eine Kollektion technischer Hilfsmittel für das
pädologische Experiment und eine freilich ungleichmäßige pädologische Bibliothek.
In der Abteilimg für Schulhygiene sah man Modelle und Abbildungen der
Sinnesorgane, die herrlichen Demonstrationspräparate der Gesellschaft Natura docet
(Naiinhof bei Leipzig), Abbildungen über richtige tmd falsche Haltung und Ver-
teilung der Kinder im Schulraum, Tabellen über die Gesundheitsverhältnisse der
*) Man vergleiche dazu das in Ntunmer 7/8 des Jahrgangs 1911 dieser Zeit-
schrift S. 429 — 431 veröffentlichte Programm des Kongresses, um die Bedeutvmg
dieser Ausfälle richtig zu bevirteilen!
64 Literaturbericht
belgischen Schuljugend — hervorheben möchte ich eine instruktive Tafel über die
Verteilung der Ursachen des Schwachsinns und der Zurückgebliebenheit — und
schliefilich das gesamte Untersuchungsbesteck eines modernen Schularztes: anthro-
pologische Zirkel und Meßbänder, Linsensatz, Schriftproben und Augenspiegel,
Dynamometer, Spirometer, Hygrometer usw. Beachtung verdiente ein nach An-
gaben Dufestels gearbeiteter Apparat zur graphischen Registrierung der Verände-
rungen des Brustumfangs durch die Atmung.
Den Hauptstock der psychologischen Abteilung bildeten die bekannten Apparate
zu physiologischen und psychologischen Untersuchungen und Experimenten, wie
sie von den Firmen G. Boulitte (Paris), W. Petzold (Leipzig), Spindler und Hoyer
(Göttingen), M. Sendtner (München), E. Tainturier (Paris) und E. Zimmermann
(Leipzig) hergestellt und in Handel gebracht werden. Eine spezielle Auslese der
für kinderpsychologische und pädagogische Zwecke brauchbaren Instrumente und
Apparate wäre zweckmäßiger gewesen als diese allgemeine Heerschau über lang
bekannte und der Praxis des Laboratoriums geläufige Hilfsmittel ; ich halte es für
überflüssig, sie aufzuzählen; ein Blick in die Verlagskataloge der betreffenden
Firmen orientiert klarer und gründlicher als es meine Beschreibung könnte. Neu
waren lediglich das von Menzerath ausgestellte Modell eines Wahlreaktionstasters
mit doppelter Bezeichnung der Taster und ein nach seinen Angaben kombiniertes
tragbares Reiselaboratorium mit den wesentlichen Vorrichtungen für Gedächtnis-,
Assoziations- und Reaktionsversuche, einem Chronoskop nach d'Aisonval, Karten-
wechsler, Schalltrichter, Relais und einem ergiebigen Akkumulator. Es waren noch
mehrfache Verbesserungen in Aussicht genommen, insbesondere der Ersatz des
Lippenschlüssels durch einen Kinnschlüssel; solange der Apparat nicht seine de-
finitive Gestalt besitzt und ich mit ihm gearbeitet habe, möchte ich mein End-
urteil zurückhalten. So verdienstlich und begrüßenswert eine bequeme Zusammen-
stellung der wichtigsten Apparate wäre, die kleinen Dimensionen und Steck-
konstruktionen lassen mich glauben, daß das Modell Menzerath noch nicht die
vollständige Erfüllung dieses Bedürfnisses ist, vielleicht es werden kann.
In der pädagogischen Abteilung fanden, wie verdient, die Stichproben aus dem
pädologischen Museum in Budapest die meiste Beachtung; es handelte sich um
eine große Serie von Zeichnungen von Kindern und Analphabeten, um ornamentale
farbige Entwürfe, um Spielzeuge und Musikinstrumente aus Stroh und Rohr, um
Schriftproben imd ähnliche meist spontan geschaffene Zeugen des geistigen Besitzes
und der Ausdrucksfähigkeit. Ich möchte es besonders betonen, daß L. Nagy, der
verdienstvolle Urheber dieser Sammlungen, nach einem weitschauenden Plane
verfuhr. Seine Absicht war: die faktische Bedeutung des Schulunterrichts für
den Stand von Kenntnissen, Fähigkeiten und Ausdrucksmöglichkeiten zu zeigen;
sein Weg bestand darin, die Geistesprodukte solcher Erwachsener zu sammeln,
die entweder keine Schulbildung genossen haben, oder in denen die kümmerlichen
Anfänge derselben vollständig verwittert und verfallen sind. Er wandte sich des-
halb an die Militärverwaltung, um diesbezügliche Erhebungen an einer größeren
Anzahl von Analphabetea durchzuführen. Mit ihren Leistungen vergleicht, kon-
frontiert er dann themagleiche Erzeugnisse von Kindern der verschiedenen Schul-
stufen und bereitet so die Möglichkeit vor, einmal genauer bestimmen zu können,
auf welcher Stufe des unterrichteten Kindes dieser oder jener ununterrichtet ge-
bliebene Erwachsene stehen geblieben ist. Das in Brüssel gebotene Material war
in dieser Hinsicht sehr lelirreich, freilich nicht ausgiebig genug, um einen Ent-
scheid darüber zu gestatten, ob die theoretischen Endabsichten Nagys damit be-
wiesen werden können. Das Material bot aber auch unabhängig von dieser Frage-
stellung einen hohen Wert für die Kenntnis des ungarischen Schulkindes und des
Kindes überhaupt. Ich möchte die herrlichen farbigen Entwürfe von „Braut-
kleidern" nicht unerwähnt lassen, die — wie die ungarische Keramik, Tracht,
Leinwandstickerei, Lederarbeiten und andere Zweige des Kunstgewerbes — einen
hohen eingeborenen dekorativen Farbengeschmack dieser Nation beweisen. Es
scheint überhaupt, als ob der dekorative Farbensinn zunehme, je mehr man sich
dem Osten nähert.
Literaturbericht 55
Die größte Kollektion nach der ungarischen waren Kipianis Belege für den
Einfluß der Rechtshändigkeit und Rechtsseitigkeit auf Raumorientierung und
Gegenstandsauffassung überhaupt, zur Veranschaulichung des Einflusses der Beid-
händigkeit und eine größere Anzahl von Proben sowohl linkshändiger wie beid-
händiger Ausdruckserzeugnisse. Die Würdigung dieses Materials ist in dem Bericht
über die größere Reihe von Vorträgen vmd Mitteilungen enthalten, welche sich mit
den Grundlagen, der Bedeutung und der Erziehung der Ambidextrie beschäftigt
haben — ein Thema, das seitdem jeden Reiz verloren zu haben scheint.
In der pädagogischen Abteilung befanden sich dann noch kleinere Kollektionen
von Slöjdarbeiten aus polnischen Schulen, von Veranschaulichungsmitteln für
Kindergarten- und Elementarunterricht, einige Tafeln mit statistischen Erhebungen
über die Privatlektüre der Kinder in Moskauer Schulen. Die Tafeln zur Erleichte-
rung der unbewußten Einprägung einer Buchstabenform durch schematische Zeich-
nung eines Gegenstandes, der mit dem betreffenden Buchstaben anfängt und
dessen Grundgestalt soweit als möglich der Buchstabenform angeglichen wird,
waren sehr anfechtbar; das Problem ist seither in gründlicher Weise behandelt
durch F. E. Otto Schultz in seiner Untersuchung über Gedächtnishilfen bei der
Satzlesemethode (Frankfurt a. M. 1914. M. Diesterweg). Aus den Tabellen über
Privatlektüre ergeben sich die Prozentsätze der Kinder, die selber lesen, derer,
die sich lieber vorlesen lassen, die Prozentsätze der auf den verschiedenen Alters-
stufen bevorzugten Stoffe usw. ; zu tiefer dringender Analyse der Wirkung der
Privatlektüre ist die statistische Erhebung kein Weg. Auch in Antwerpen und
Charleroi, wohin der Kongreß je eine Exkiirsion unternahm, wurden kleine A\is-
stellungen gezeigt; ich habe nur diejenige in Antwerpen gesehen; sie umfaßte
Lehrmittel und Lehrergebnisse der Knaben- und Mädchenschulen und einige
Hilfsmittel für schulärztliche und schulpsychologische Untersuchvmgen aus dem
Laboratorivun des Schularztes Dr. Günzburg. Unter den Dokumenten der kind-
lichen Entwickelung befand sich wenig, was nicht bei den vielen Schulausstel-
lungen, die wir in Deutschland infolge des Kampfes um die Arbeitsschule all-
jährlich haben, auch oder noch besser gesehen werden kann. Am Ausflug nach
Charleroi habe ich nicht teilgenommen; wie mir berichtet wvirde, erhielten die
Kongreßmitglieder dort einen sehr instrviktiven Einblick in die Organisation,
Unterrichtsmethodik und Lehrerfolge der Universit6 du travail und der Fürsorge-
anstalt für Elrüppel der Provinz Hennegau.
Nach diesem Überblick über den äußeren Verlauf und die besonderen Veran-
staltungen wende ich mich zvu* Darstellung der Kongreßverhandlungen selbst.
Es sind hauptsächlich die Fragen der Jugendkunde (speziell der Psychologie xxnd
Physiologie des Kindes) und der Reform des Unterrichts und der Erziehung
(namentlich durch die Schule), die heute im Vordergrund des pädagogischen
Interesses stehen; es war nur der Ausdruck der Zeitlage, wenn diese beiden
Themata auch in den Verhandlungen des Brüsseler Kongresses den breitesten
Raum einnahmen. Das Streben nach exakter Kenntnis der Kindesnatur und
nach feinfühliger Anpassung der Unterrichtsmethodik an ihre Entwickelung ist
jedenfalls eines der wesentlichen Momente in dem Unterschied zwischen ,, alter"
und , .neuer" Richtung in der Pädagogik. Ich habe früher ausführlich begründet, ^)
inwiefern diese gegenwärtige Konstellation die Gefahr der Verengung und Ver-
flachung pädagogischer Fragestelltmg einschließt; keine Erziehung kann aufhören,
den wertvollen Inhalt unserer Kultur als Norm vorauszusetzen, die Entwicklung
zu beeinflussen, zu dirigieren, dabei außer den psychologischen Tatsachen in Kind
und Lehrer die Logik der Sachen und die Berechtigvmg der Ziele zu prüfen und
zu berücksichtigen. Ein Kongreß für Pädologie ist ja freilich dxirch seinen Titel
berechtigt, solchen Problemen aus dem Wege zu gehen; ich hätte auch kein Recht,
auf sie zu verweisen, wenn nicht immer wieder die Tendenz zutage getreten
wäre, von jugendkundlichen Feststellungen aus ohne weiteres zu pädagogischer
Nutzanwendung und Reformfordervmg überzugehen, ohne an die Fülle berechtigter ;
^) Vergleiche meine Ausführungen in dieser Zeitschrift XII, 2, S. 81 f.
56 Literaturbericht
anderer Faktoren auch nur zu denken. In diesem Punkt läßt sich die Verschie-
bung der pädagogischen Lage seit dem Jahr 1911 sozusagen mit Händen greifen.
Auf kvirze Titel gebracht lassen sich die psychologischen Themata des Kongresses
in zwei Gruppen zusammenfassen: Wie entwickeln sich die einzelnen
geistigen Fähigkeiten beim Kinde? und: Wie hängen die einzelnen
geistigen Fähigkeiten miteinander zusammen ? In der ersten Gruppe
wiu*den ausführlicher behandelt — auf Grund von Umfragen, Laboratoriums-
versuchen imd Schulbeobachtungen — die Entwicklimg der Sprache (von Gheorgov)
mit Einschluß der kindlichen Definitionen (von Frl. Szyc), bei denen auch die
Kenntnisse, Erkenntnisse und logischen Fähigkeiten neben den sprachlichen eine
Rolle spielen, die Entwicklxmg der Merkfähigkeit und des Gedächtnisses (F. Raalten)
mit Einschluß der Aussage und Zeugnisfähigkeit des Kindes (von W. H. Winch,
Margit Il6v6sz und M. Fiore), die Entwicklung der motorischen Funktionen, unter
Berücksichtigtmg der Fragen einer rhythmischen Gymnastik, der Rechts- und
Linkshändigkeit (von R. Guilliaume, Joteyko, Kipiani, Nayrac, A. Ley) die Ent-
wicklung des Farbensinnes (von J. Degand), die Entwicklung der Mengen- und
Zahlvorstellungen und Zahlbegriffe (von Decroly, Degand, Monchamps), der
Phantasie (von Persigout), der ästhetischen Empfänglichkeit (von Hösch-Ernst), der
moralischen imd religiösen Gefühle ( Ghidionescu, Klootsema, Ugerto de Ercilla
S. J.), der Typen des Denkens (Schuyten, Nogrädy, verlesen durch Braimshausen),
der sozialen Gefühle (A. Fischer, Varendonck), des Schlafes und Traumlebens
(Deutsch, mitgeteilt von Nagy).
Aus dem Problemkreis der im engeren Sinn pädagogischen Psychologie, speziell
der seelischen Entwicklung, soweit sie mit dem Unterricht in Zusammenhang
steht, verdienen Hervorhebung die Mitteilungen über Zerstreutheit, Ablenkbarkeit,
Aufmerksamkeit (Lipska-Lirbach), über Intelligenzentwicklung vmd Intelligenztests
(Saffioti).
In diesen Vorträgen, Mitteilimgen imd der Aussprache über sie kam die for-
schende Arbeit in ihrer Vielgestaltigkeit zum Ausdruck, in den großen Sammel-
referaten die Zusammenfassung des Standes unserer Methoden und Kenntnisse.
Von diesen allgemeinen Vorträgen verdienen Hervorhebung und Beachtung auch
heute noch der von Joteyko über die Terminologie in der Kinderforschung, von
S. dei Sanctis über abnorme Kinder, von J. C. Jung über die Bedeutung der
Psychanalyse. Von den sehr zahlreichen anthropometrischen und sinnesphysio-
logischen Mitteilungen und Vorträgen sehe ich hier ab, obgleich ihr Interesse für
den Erzieher wie für den Kinderforscher ein hohes ist.
Von der zweiten Kardinalfrage nach den Korrelationen kamen ausführlicher zxir
Behandlung die Zusammenhänge zwischen Intelligenz und Gedächtnis (Ransch-
burg, verlesen durch die Kongreßleitung, F. van Raalten), zwischen Intelligenz
und Sinnesschärfe (Ferreri), zwischen Intelligenz, Aufmerksamkeit und Gedächtnis,
zwischen Körpermaßen und geistigen Fähigkeiten (Manouvrier, Gray), zwischen
technischer und geistiger Entwicklung des Kindes, mit Rücksicht auf die Grund-
lagen des Schulunterrichts (Lorent, Schreuder). Die von Spearman versprochene
prinzipielle Behandlimg des Korrelationsproblems und der Methoden zur Fest-
stellung A on Korrelationen ist leider ausgefallen (im gedruckt vorliegenden Bericht
ist ein klares Referat desselben über den damaligen Stand der Frage enthalten);
ich habe das um so mehr bedauert, als Spearman mit F. Krüger große Verdienste in
der Korrelationsforschung besitzt und die Literatur dieses Gebietes zweifellos
beherrscht; ich bin auch der Moinxing, daß die Klärung der grundlegenden Be-
griffe avif dem Gebiete der Begabungsforschung nicht länger mehr umgangen oder
aufgeschoben werden kann.
Relativ einheitliche Problemgruppen in der psychologischen und anthropologischen
Sektion bildeten dann noch die Test- und Ermüdungsfrage, mit Einschluß
der in der romanischen Pädologie ja noch immer blühenden Ästhesiometrie.
Auf pädagogischem Gebiete waren es alle wichtigen und viele imwichtigen
Vorschläge, Reformen und Versuche, die den Gegenstand der Verhandlung tmd
meist auch des Streites gebildet haben: die Frage der Koedukation wurde prin-
Literaturbericht 57
zipiell und an der Hand von Erfahrungen ventihert (Badley, Rouma); die unter-
richtliche und erzieherische Wirkung der Handarbeit, das Problem der Schul-
gemeinden und das Seif governement, die ganze über die Handarbeit hinaus-
drängende Bewegung der Arbeitsschule bildeten einen Hauptinhalt der Education
nouvelle, zu deutsch Reformpädagogik. Eine Vereinheitlichung auf gewisse Grund-
fragen ist hier weniger leicht, doch heben sich als solche heraus: 1) das Problem
der Ermüdung, an der Grenze zwischen Physiologie, Psychologie und Pädagogik,
und von allen Seiten behandelt (individuelle und kollektive Ermüdung von Wayen-
burg, Schreibermüdung, Maß der Ermüdung, Mittel zu ihrer Verhütung (G. Rouma),
2) das Problem der Koedukation (Badley), 3) das Problem der modernen Methodik;
Arbeitsschule und Selbsttätigkeit (A. Ferriere), 4) die Frage der Handarbeit im
engeren Sinn (Lorent), 5) die modernen Schwierigkeiten, Ziele und Methoden der
Charakterbildung im engeren Sinn. Die Zurückführung der Verhandlungen auf
diese großen Linien gibt freilich kein Bild mehr von der Fülle der Einzelanregvmgen ;
es gehörte zu den größten geistigen Reizen der Tagung, von geistreichen Beobach-
tungen, z. B. über den Wert der Stimme im Unterricht oder von der Muskel-
trägheit des zurückgebliebenen Schülers oder von einer anderen Einzelheit aus immer
wieder Perspektiven auf die entscheidenden Fragen sich öffnen zu sehen, in der
Diskussion zugleich das Gemeinsame und das Verschiedene der Nationalitäten,
ihrer Denkweise und demgemäß auch ihrer pädagogischen Ideen, Einrichttmgen
und Persönlichkeiten zu beobachten.
Wirft man jetzt einen Bick auf diese Tagung zurück, so erstaunt man vor allem
über die Weite des Abstandes, die uns von der Buntheit und Zersplitterxing, der
Unsicherheit und teilweise Ziellosigkeit der Fragestellung und Methodik trennt.
Durch den Ausbau des Schularztwesens ist in Deutschland die anthropologische,
medizinische und hygierüsche Seite der Kindesfor schling wie der Erziehung und
Kinderfürsorge außerordentlich gefestigt und gefördert worden; manche Fragen
wie die nach Beidhändigkeit, nach der ästhesiometrischen Methode, auf dem
Kongreß 1911 lebhaftest erörtert, muten uns wie überholte und kaum verständ-
liche Sonderbarkeiten an. Auch die psychologische Kinderforschung hat an
Sicherheit der Methode erheblich gewonnen. Am größten ist aber der Abstand
zwischen Einst vmd Jetzt auf dem Gebiet des pädagogischen Denkens im engeren
Sinn. Der Dilettantismus und der Doktrinarismus (namentlich der neueren Denk-
weisen) haben einer gesunden Selbstkritik Platz gemacht, die Grundfragen der
Erziehvmg werden immer reiner und einheitlicher gesehen; der Fortschritt der
Arbeit und das große Erlebnis haben gleichmäßig dazu beigetragen, den Blick von
Nebensachen abzuziehen und die Problematik der menschlichen Dinge auf ihre
großen Grundlinien zu vereinfachen. Ein internationaler Jugendkunde- und Er-
ziehungskongreß der Zukunft wird, wenn er einmal kommt, größere Schwere be-
sitzen. Dem, der die Brüsseler Tage 1911 miterlebt hat, wird der gedruckte
Bericht die farbige Erinnerung an eine Versammlung sachlich verbundener
Menschen und an strahlend schöne Tage lebendig werden lassen.
München. Aloys Fischer.
Dr. Kurt Kesseler, „Grundlinien einer deutsch-idealistischen Päda-
gogik." Larfgensalza 1916. J. Beltz, 41 S. 1 M.
Um einen festen Standpunkt inmitten der Strömungen der Gegenwart zu
gewinnen, gründet K. seine Pädagogik auf die Philosophie des deutschen Idealis-
mus, als dessen Wesen er das Bekenntnis zum Geist hinstellt. Das Bildungsideal
ist: „Erhebung des Menschen in die geistige Welt durch humane und national©
Bildung, durch Persönlichkeitsbildung und Nationalerziehung (S. 7). Bei der Ver-
standesbildung sucht K. über die Einseitigkeit des Intellektualismus hinauszukommen
und fordert Rückkehr zu Pestalozzi. Die formale Bildung hat Aufmerksamkeit,
Gedächtnis, Phantasie, Denken und Sprechen zu schulen; für die materiale Bildung
gilt als oberster Gesichtspunkt, „daß die Kenntnisse der Begründung und dem
Ausbau einer deutsch-idealistischen Weltanschauung dienen" (10). Daher stehen
im Mittelpunkt des Unterrichts Deutsch, Geschichte und Religion bei allen Schul-
58 Literaturbericht
gattungen; bei den höheren tritt mit zwei Wochenstunden ab OII, spätestens UI
der philosophische Unterricht hinzu, umfassend Logik, Pädagogik, Geschichte der
Philosophie und Philosophie des deutschen Idealismus. Latein soll Grundlage
des Sprachunterrichts werden, Griechisch wahlfrei; von modernen Sprachen wird
besonders Englisch gefordert, das zur Einführung in einen fremden Kulturkreis
dienen soll. Dazu treten dann Mathematik und die Realien. Die technischen
Fächer stehen im Dienste der Kunsterziehung. Als wichtigste Grundgesetze der
Methode gelten ihm Induktion und Selbsttätigkeit. Jede Unterrichtsstunde muß
methodisch den Dreischritt Anschauen, Denken, Handeln erkennen lassen. Hinter
der Bildung des Verstandes darf die Willensbildung nicht zurücktreten. Ihr Ziel
ist Bildung zur sittlichen Persönlichkeit und Eingliederung dieser in die sozialen
Verbände. Diesem doppelten Ziele entsprechen zwei Gruppen von Tugenden:
a) Besonnenheit, Tapferkeit, Einsichtigkeit, b) Gerechtigkeit, Treue, Liebe. Die
Methode der Willensbildung hat die rechte Mitte zwischen zu großer Freiheit und
Drill zu wahren, sie ist lockend durch Beispiel, anregend durch Betätigung
{Selbstregierung) und Unterricht, bestimmend durch Aufsicht, Gebot, Ermahnung,
Lohn und Strafe. — Die Kunst führt uns aus der kühlen Welt des Verstandes
und der oft herben Welt der Pflicht in die Sphären der Harmonie und des
Friedens; sie führt zur Humanitäts- Aufgabe der Kunsterziehung, ist Pflege des
aesthetischen Sinnes, des Sinnes für die Form, des Interesses an der Idee. Besonders
interessant sind Ks, Ausführungen über die religiöse Pflege. Das Kind hat ein
Recht darauf, daß man in ihm den Sinn für die Welt der Religion nicht ver-
kümmern läßt; darum wird die Verschiebung der religiösen Bildung auf spätere
Zeit (Rousseau) verworfen, ebenso aber auch die dogmatisch-kirchliche Erziehung.
Als Mittel der religiösen Pflege werden Vorbild, Übung und Lehre bezeichnet,
gewarnt wird vor Häufung der Schulandachten, die Teilnahme daran soll ganz
freiwillig sein. „Der Religionslehrer kann (und darf!) den Kindern nur den Weg
zu Gott zeigen, die Entscheidung darüber, ob sie ihn gehen wollen, müssen sie
selber treffen, denn religiöser Glaube ist stets Freiheitstat" (25). (Es erhebt sich
die Frage, ob eine solche Entscheidung, nämlich im positiven Sinne, überhaupt
noch möglich ist, wenn der Religionsunterricht so früh beginnt. Der Ref.). Der
Katechismusunterricht gehört in den historischen Teil des Religionsunterrichts,
der auch nichtchristliche Religionen zu berücksichtigen hat. Auf den höheren
Schulen soll der Religionsunterricht mit der philosophischen Propädeutik zu-
sammenarbeiten. Die kirchliche Beaufsichtigung des Religionsunterrichts verträgt
sich nicht mit dem protestantischen Gedanken des allgemeinen Priestertums der
Gläubigen, weshalb völlige Trennung von Schulreligionsunterricht und Kirche ge-
fordert wird. — Bei der Nationalerziehung kommt es weniger auf staatsbürger-
liches Wissen als auf staatsbürgerliche Gesinnung an. Die beste Grundlage dafür
bietet die Mutterstube. Hieran hat die Schule anzuknüpfen, die Jugendpflege
fortzusetzen und die militärische Dienstzeit den Abschluß zu geben. Für die
Frau wird ein weibliches Dienstjahr gefordert. Es ist daher selbstverständlich,
daß K. die Familienerziehung ganz besonders hervorhebt. Die Familie ist die
Grundlage aller Menschenbildung und übertrifft alle anderen Erziehungsorgani-
sationen an Unmittelbarkeit und Lebensfrische. Daher Förderung des päda-
gogischen Sinnes. In den Oberklassen der höheren Schule und in den Fortbildungs-
schulen sollen pädagogische Fragen zur Erörterung kommen, für die Erwachsenen
Vorträge über Erziehung gehalten werden. Die soziale Lage der Eltern muß
verbessert werden. Schaffung staatlicher Kinderhorte, deren Besuch in den
letzten zwei vorschulpflichtigen Jahren für jedes Kind obligatorisch ist. Planmäßig
durchgeführte Säuglingspflege und Fürsorgeerziehung. — K. verwirft die Einheits-
schule mit gemeinsamer Grundstufe mit Rücksicht auf die bessere Vorbildung
der Kinder sozial besser gestellter Kreise. Er fordert eine vier- und eine drei-
klassige Grundstufe. An die vierklassige schließt sich die Volksschulbildung
an, die bis zum 15. Jahre zu verlängern ist, daran vom 15. — 18. Jahre die Pflicht-
fortbildungsschule, an die dreiklassige Grundstufe schließt sich das Real -Gymna-
sium, die höhere Einheitsschule der Zukunft an. Volksschülern, die sich als ge-
Literaturbericht 69
eignet für die höhere Schule erweisen, soll nach Kieler Muster ein späterer
Übergang in die höhere Schule ermöglicht werden. Da durch die Schule die
Bildung nicht abgeschlossen werden kann, hat der Staat für die Möglichkeit der
Weiterbildung zu sorgen. (Volksbildungsvereine, Bibliotheken, Lesehallen, Volks-
hochschulen).
Bonn Oskar Kutzner.
Häberlin, Paul, Das Ziel der Erziehung. Kober. Basel 1917. 171 S. 4,80 M.
H. stellt sich zur Aufgabe die Besinnung auf das Ziel der Erziehung. Zu
diesem Zwecke erörtert er zuerst die Frage, ob es objektiven oder nur subjektiven
Wert gibt und kommt zu dem Ergebnis, daß „wer je Wahrheit schlechthin ge-
sucht hat .... auch objektiven Wert anerkannt hat" (24). Der objektive Wert
gründet sich auf den Überzeugungscharakter. Die Erziehung hat nun objektiven
Sinn, wenn sie von objektiv Geltendem aus gefordert ist. Nun gibt es nicht
mehrere objektive Werte, sondern nur einen, den H. die Idee nennt; sie muß
zur Darstellung gebracht werden und fordert darum grundsätzliche Hingabe an
sich, d. i. Frömmigkeit. Die Darstellung der Idee ist zugleich unsere einzige
objektive Aufgabe, der Sinn unseres Daseins. Die Realisierung der Idee in der
Menschheit ist die Kultur. Unter Kultur versteht H. aber auch richtiges Ver-
halten des Menschen, wobei er wieder zwei Richtungen und zwei Formen unter-
scheidet: a) Verhalten gegenüber der Idee und gegenüber der Wirklichkeit,
b) das theoretische und praktische Verhalten. Daraus ergeben sich vier Grund-
formen der Kultur: Norm - Einsicht, fromme Hingabe, Wirklichkeits-Einsicht,
rechtes Handeln gegenüber der Wirklichkeit (74). Der Einzelne hat gemäß seiner
individuellen Besonderheit die Aufgabe, die Idee zur Darstellung zu bringen.
Das kann er immer nur selber tun, aber ich kann ihm dabei helfen in indirekter
oder direkter Form, indem ich entweder auf seine Umwelt oder auf ihn selbst
einwirke. Diese innere Förderung des andern auf dem Wege zur Erfüllung seiner
Bestimmung nennt H. Erziehung (90, 99). Da es in Wirklichkeit keine allgemein
menschlichen Pflichten gibt, sondern nur Verwandtschaften und Ähnlichkeiten
größeren und geringeren Grades, muß eine inhaltliche Bestimmung dessen, wofür
Erziehung den Einzelnen vorbereiten soll, im Erziehungsziel — soll dieses all-
gemein gelten — unterbleiben. Entsprechend den vier Grundformen der Kultur
läßt sich das Erziehungsziel näher charakterisieren. Das erste Teilziel besteht
in der Fähigkeit des Zöglings, sich der Idee gegenüber praktisch richtig zu ver-
halten: der rechte Wille (113 ff.), das zweite in der richtigen Norm-Einsicht (126 ff.),
das dritte in der rechten Urteilsfähigkeit (143 ff.) und das letzte in der Berufs-
tüchtigkeit (158 ff.). H. erinnert in seinen Anschauungen und Ausführungen sehr
an Fichte.
Bonn. Oskar Kutzner.
Dr. Artur Buchenau, Kurzer Abriß der Psychologie. Für den Unterricht an höheren
Schulen, an Lehrer- und Lehrerinnen-Bildungsanstalten, sowie für das eigene Studium. Berlin
1917. Reimer. 64 S. 0,80 M.
Die kleine Schrift verdankt unterrichtlicher Tätigkeit ihres Verfassers die Entstehung und
bietet auch weiterhin dem Schulfache „Psychologie" ihre Dienste an. Sie verzichtet mit Recht auf
eine didaktische Formung des Stoffes — eine solche muß gerade in der schwierigen psychologischen
Unterweisung immer persönliche Leistung des Lehrers bleiben — und reicht nur in knapper,
u. E, allzu knapper Bemessung das wissenschaftlich einwandfreie, nach dem gegenwärtigen
Stande der Forschung ausgewählte und formulierte Lehrgut dar. Dabei ist mit Geschick viel-
fach der Blick auf die großen Fragen der Weltanschauung eingestellt, die in die Psychologie
80 reich hereinspielen. Durchweg wird erkenntlich, wie Buchenau, dessen reiche schriftstel-
lerische und lehrende Tätigkeit früher eine einseitige erkenntnis- theoretische, von Natorp be-
einflußte Orientierung zeigte, neuerdings der empirisch forschenden Psychologie ihr Recht werden
läßt und wie er so — was er im Vorworte auch selbst bekennt — zu einer Synthese von Kant
und Wundt kommt.
Hervorgehoben sei, daß Buchenau in solcher Bahn in entschiedener Weise einen Stoff-
wechsel in der Seminarpsychologie, die vielfach immer noch auf die überholte Lehre Herbarts
60 Literaturbericht
die neuen Anschauungen aufpfropft, entschlossen wagt. Eine zweite Auflage wird nicht umbin
können, sich mit Bildern und graphischen Darstellungen auszustatten.
Leipzig. Otto Scheibner.
Ed. Balsiger, Einführung in die Seelenkunde. Psychologie auf physiologischer Grund-
lage für den Unterricht am Seminare und die Selbstbelehrung. Beml913. A.Franke. 101 S. 2,20 M.
Als Schullehrbuch muß dieser Versuch einer kurzen Darstellung des seelischen Lebens außer
seiner Beurteilung des Inhaltes (gegen den mancherlei einzuwenden wäre, vergl. z. B. die Er-
klärung des Gedächtnisbegriffes) eine Prüfiuig auf die Formung des Stoffes erfahren. Sie ent-
spricht in manchem nicht den Forderungen der in jüngerer Zeit wesentlich geförderten Methodik
des psychologischen Unterrichts. (Vergl. z. B. 0. Scheibner, Zur Gestaltung des psychologischen
Unterrichts in der Lehrerbildung. Diese Zeitschrift Jahrg. 1917). Ganz verfehlt erscheint die
Gliederung in „Erster Teil: Physiologische Grundlegung" und „Zweiter Teil: Seelenleben*. Der
psychologische Unterricht wird so auf langer Strecke eingeleitet mit Betrachtungen rein natur-
wissenschaftlicher Art, die übrigens der Seminarunterricht in der Anthropologie, Zoologie und
Biologie viel ausführlicher ohnedies behandelt, so daß sie bei der psychologischen Unterweisung
vorauszusetzen und dann nur so weit heranzuziehen sind, als es die Vertiefung der psychologischen
Einsicht durchaus erfordert. Auszugehen ist dabei immer von den seelenkundlichen Erlebnissen
und nicht, wie dies ein verbreiteter Fehler in den gebräuchlichen psychologischen Lehrbüchern
ist, von physikalischen und physiologischen Tatsachen. Ein seltsamer Teil des Buches ist auch
der Schlußabschnitt, der „Ergebnisse der experimentellen Forschung" in recht zufälliger Auswahl
und ungenügender Ausbreitung zusammenstellt. Es mußte dieser Stoff in die verschiedenen Kapitel
des Buches organisch hineingearbeitet werden, wie dies tatsächlich vom Verfasser auch in einigen
Fällen vorgenommen worden ist, wenn auch zumeist nicht in der Art, wie wir uns die Ein-
gliederung des psychologischen Versuchs ausgiebiger und methodisch herzhafter angefaßt denken
und selbst betreiben. Dagegen empfehlen wir eine Herausnahme des kinderpsychologischen
Stoffes aus den einzelnen Abschnitten und seinen Zusammenschluß zu einer, den Entwicklungs-
zug deutlich herausarbeitenden eigenen Darstellung. Daß wiederholt pädagogische Gedanken-
gänge sich in die psychologischen Ausführungen einschleichen, nimmt in einem Seminarlehrbuch
nicht Wunder. Geschieht es nur bei dazu drängender Gelegenheit, so mag wenig dagegen ein-
zuwenden sein. Im allgemeinen aber sollte der psychologische Unterricht im Seminare, der bei
der Fülle und Bedeutung des sich anbietenden Stoffes seine Zeit für seinen Stoff ausnützen muß,
der Pädagogik, der er allerdings in letzter Absicht dienen soll, nicht vorgreifen : es entwickelt
sich in den Schülern sonst nur allzu leicht der gefährliche pädagogische Psychologismus, der die
Normierung des unterrichtlichen und erziehlichen Tuns einzig und allein aus seelischen Erkennt-
nissen gewinnt.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Lipmann, O., Psychische Geschlechtsunterschiede. Ergebnisse der diffe-
rentiellen Psychologie statistisch bearbeitet. 2 Teile. IV, 108 und 172 S,; 9 Kurven.
Leipzig 1917. Beiheft 14 zur Zeitschr. f. angew. Psychol. Barth. 1916. 12.— M.
Die Problemstellung — Koedukationsfrage — war für L. durch jenen bekannten
Breslauer Kongreß des Bundes für Schulreform 1913 gegeben, und bereits damals
haben L.s umfassenden, mühevollen und exakten Forschungen gebührende Anerken-
nung gefunden. Umso wertvoller, daß die Ergebnisse seiner statistischen Zusammen-
fassung in Buchform auch weiteren Kreisen zugänglich werden, daß sie sich nach-
prüfbar stabilisierten. Die Enge der zeitlich bedingten Problemstellung kann
dabei wissenschaftlich nur von Vorteil sein. Der erste Teil gibt den zusammen-
hängenden Text; der zweite die Tabellen und die Bibliographie. Fünf Hauptkapitel
gliedern den Textteil: Methodik, die Einzelergebnisse, systematische Übersicht
über die Einzelergebnisse, Vergleich des Geschlechts Verhältnisses auf den ver-
schiedenen Altersklassen, Gesamtstatistik. Wertvoll sind schon die methodischen
Erörterungen, deren reiche mathematische Grundgebung den Exaktheitsgrad
anlegen soll, der bei der experimentellen komplexen Psychologie denkbar und
wünschenswert ist. Im ganzen kommt L. zur Aufteilung der Versuchsergebnisse
nach der Alternativ- und der Klassifikationsmethode. Die eine gilt für Resultate
mit bipolarem Ergebnis (richtig, falsch; Voll- oder Fehlleistung usw.); die andere
dehnt ihr Geltungsbereich über solche Ergebnisse aus, deren variables Leistungs-
moment mannigfach gestreut und wesentlich nach drei Klassen, den mittleren.
Literaturbericht Q1
den oberen und den minderen Leistungen, gestaffelt werden kann. L. hat über
diese Dinge bereits vordem sich verschiedentlich geäußert; hier findet sich der
Gesamtgesichtspunkt in guter Synthese. Die Kapitel über die Einzelergebnisse
umfassen eine reiche Fülle der Arbeiten anderer, die L. auf Grund seiner strengen,
methodischen Auswahl für verwendbar erachtete und deren Resultate er statistisch
zusammenstellt, vergleicht, auswertet. Die Sinnespsychologie, die Vorstellungen,
sämtliche experimentell greifbaren Bewegungsvorgänge, Rechnen und mathema-
tische Anlage, Begabungserscheinungen auf bestimmten Kulturgebieten (z. B.
Zeichnen, Technik, Geschichte usw.), sprachliche Veranlagung, alle emotionalen und
voluntativen Faktoren, die so prekäre Intelligenz- und Schulleistung, die Aufmerk-
samkeit, Suggestibilität : alle, soweit bisher experimentell fruchtbar untersucht,
werden statistisch verglichen und auf Endergebnisse hinsichtlich der Geschlechts-
unterschiede formuliert. Eine Gesamtübersicht gibt hinsichtlich der Verteilung
dieser Einzeleigenschaften im Rahmen der Geschlechterleistung Aufschluß; ein
Annexus bezieht sich — übrigens eine fruchtbare Ausbaumöglichkeit — auf paar-
weise Eigenschafts- bezw. Leistungsvergleichung in ihrer Beziehung zur psychischen
Geschlechterdifferenz. Ein neuer Aufriß im vierten Kapitel; Vergleich der Ge-
schlechtsverhältnisse nach den Altersstufen (3 - 17jährige wurden berücksichtigt).
Er ergibt im allgemeinen: Zunahme der Divergenz mit Anstieg des Alters;
Entwicklungsbeschleunigung in der Präpubertät beim Manne; größere Konstanz der
Mädchen, Frühjahrsanstieg der Knaben im Jahresablauf. Endlich im zusammenfas-
senden Schlußkapitel als allerwichtigstes das klare Überwiegen der männlichen
Vpp. im oberen und unteren Leistungsviertel, die Angleichung der weiblichen
Leistung, die größere Konstanz derselben um sämtliche Mittelwerte, Durchschnitts-
maße. Die Frau arbeitet konstanter, der Mann extremer, M. hat eine größere
Intervariabilität, andererseits hatte M. eine höhere mittlere Variation beim selben
Versuch. (L. hätte dieses Paradoxon noch mehr betonen können, er ging auf die
m. V. nur ganz nebenher, S. 70, ein). Hierin liegt zweifellos das fruchtbarste
aller seiner Ergebnisse und die größte Anregung zum Weiteren. Denn alles andere
sonst — einschließlich der Anwendung auf eine Koinstruktion — ist trotzdem
letzten Endes ein Ignorabimus. Die experimentelle Psychologie hat (außer obigem)
kaum etwas erbracht, was man nicht gewußt hat, andererseits meist da versagt, wo
man Aufschluß erwartete. L. kommt zum Endergebnis, daß, nach dem bisherigen
Stande der Wissenschaft, empirisch eine Nivellierung der Geschlechterdifferenzen
eigentlich herauskommt. Praktisch (und das ist leider etwas anderes) dürften
dagegen die Differenzen viel erheblicher sein, weil da Strukturzusammenhänge
mitsprechen, komplexe Bindungen, die kein Versuch mehr fassen wird. Es gehört
mit zu den anerkennenswertesten Leistungen L.s, daß er vor dieser Resignation
— die übrigens keinem aufrichtigen Forscher unerwartet sein konnte — nicht
zurückschreckt, und die experimentellen Gewohnheitspädagogen mögen sich dieses
Ergebnis besonders notieren. — Der zweite Teil ist zum eigentlichen Studium
bestimmt. Die Tabellen sind vortrefflich und in dieser Form in keiner ähnlichen
Zusammenstellung auffindbar. Daß die umfängliche Bibliographie erstklassig ist,
versteht sich bei L. von selbst. Im ganzen methodisch, des Resultats und der
Nachwirkung wegen eine vorzügliche Studie, ganz abgerechnet den bewunderungs-
würdigen Fleiß bis zum Ziel.
z. Zt. Mülheim (Ruhr) Fritz Giese.
Marx Lobsien, Die Lernweisen der Schüler. Psychologische Beiträge zur geistigen Öko-
nomie des Unterrichts. Mit zwei Figuren und einer Tafel im Text. Leipzig 1917. Wimderlich.
89 S. 1,60 M.
In den Forderungen und Anweisungen, die auf Grund der experimentellen Analyse der Ge-
dächtnisleistungen aufgestellt worden sind, findet sich zumeist die persönliche Eigenart des Ler-
nenden in ihrer Bedeutung für die Wirtschaftlichkeit des Lernens nicht berücksichtigt oder
unterschätzt. Man übersieht, wie die letzthin unveränderliche Wesenheit des Lernenden in die
scheinbar so mechanische Leistung des Einprägens eingeht und wie von hier aus ein durchaus
individueller Lernvorgang bedingt ist, mit dem die Hinleitung auf ein ökonomisches Verfahren
zu rechnen hat. Hierzu nuji bieten die Untersuchungen Lobsiens, dem die experimentelle Pädagogik
62 Literaturbericht
schon manche schöne Gabe dankt, ein doppeltes: sie erweisen einmal die große Mannigfaltigkeit,
in der die naturgemäß gegebenen Lernweisen tatsächlich auftreten, und sie geben dem Lehrer
zwei Wege an, zur Kenntnis des persönlichen Lernens seiner Schüler zu gelangen.
In einer ersten Untersuchung, die sich auf eine Klasse des vierten Schuljahres erstreckte, be-
diente sich Lobsien des einfachen Verfahrens der Umfrage. Die ihr anhaftenden Unzulänglich-
keiten versuchte er nach Kräften einzuschränken. Er ließ verschiedene Texte, die im Unterricht
zuvor erläutert worden waren, als' Hausaufgabe einprägen und stellte dann die Schüler vor eine
Reihe von Fragen. So gewann er in der Verarbeitung eine Übersichtstafel, die Auskunft gibt
über Art, Anzalü und Umfang der Lesungen, über den Ursprung des Lemverfahrens (Einfluß der
Schule, des Hauses), über Ort und Art der Überprüfung, über die Beurteilung der Schwierigkeit
des Textes durch den Schüler. In den Psychogrammen der Klassen, um die sich heute schon
viele Schulen bemühen, darf eine solche Tabelle, wie sie Lobsien bietet, wegen ihrer Bedeutung
und auch wegen des verhältnismäßig leichten und sicheren Weges der Gewinnung, nicht fehlen.
Neben ihrem selbständigen Werte sollte die Umfrage auch die Bedeutung einer Vorunter-
suchung haben für eine methodisch gründlich ausgeführte Hauptuntersuchung. In ihr wurden
für den Einzelversuch die Prüflinge von einer anderen, doch gleichaltrigen SchuMasse gestellt.
Die Lernaufgaben umfaßten sehr mannigfaltige Texte ; sinnvolle und sinnlose, solche gebundener
und ungebundener Form, längere und kürzere, gegliederte und ungegliederte, Zahlen- und Wörter-
reihen. Dargeboten wurden sie an einem verstellbaren Lesepult, das zur Beobachtung der
Augenbewegungen mit einem Spiegel ausgestattet war. Die Prüflinge waren angewiesen, die vor-
liegenden Texte in Gegenwart des Lehrers nach ihrer Gewohnheit laut oder leise, schnell oder
langsam, im Ganzen oder in Teilen zu lernen. Alles irgend Beobachtbare und besonders Zähl-
bare ist von Lobsien in ausführlichen Protokollen niedergelegt woi'den, von denen dreizehn, die
typisch für besondere Lernweisen erscheinen, in seiner Schrift abgedruckt sind. Bei dem Mangel
ähnlichen Untersuchungsmaterials und bei der offenbar sehr geschickten und gewissenhaften
Beobachtung Lobsiens wäre die Veröffentlichung der gesamten Niederschrift von wisssenschaft-
lichem Interesse gewesen. Leider ist auch auf eine tabellarische Zusammenstellung aller Lei-
stungen, wie dies schätzenswert beim Vorversuche geschah, verzichtet worden. Dafür geht Lobsien
aber in ausführlichen Erörterungen und Berichten den einzelnen Seiten des Lernvorganges nach.
Insbesondere bringt er dabei über die Art des Einlesens reichlich Beobachtungen, die das in
Laboratoriumsversuchen reich ausgebaute Gebiet der Psychologie und Technik des Lernens sehr
willkommen ergänzen und zu neuen Problemstellungen anregen.
Die pädagogischen Praktiker haben wiederholt zu übereilt und übereifrig die Untersuchungen
der experimentellen Pädagogik in das unterrichtliche Tun hinübergeleitet und mit solcher Ver-
frühung der Bewegung einer empirisch forschenden Erziehungswissenschaft wider Willen ge-
schadet. Lobsien selbst, dessen Verdienste wir keineswegs unterschätzen, haben wir bei der Be-
sprechung seines Buches ^ „Experimentelle Schülerkunde" den Vorwurf nicht ersparen können,
daß er im unterrichtlichen Betriebe zu einer reicheren Anwendung des Experiments auffordert und
anleitet, als es die Technisierung der Methoden heute schon erlaubt und als es zum Teil die näch-
sten Aufgaben der Schule überhaupt zulassen. Seine neue Schrift aber, die übrigens erweist, daß
eine auf wissenschaftlicher Höhe stehende psychologische Untersuchung auch annähernd fremd-
wortfrei geschrieben sein kann, verdient die weiteste Verbreitung und die nachdrücklichste Wir-
kung unter der Lehrerschaft.
Leipzig. Otto Scheibner.
Poppelreuter, Aufgaben und Organisation der Hirnverletzten-
Fürsorge. Heft 2 der Deutschen Krüppelhilfe. Ergänzungshefte der Zeit-
schrift für Krüppelfürsorge, herausgegeben von Prof. Dr. Konrad Biesalski
und Erziehungsdirektor Hans Würtz. Leipzig 1916. Leopold Voß. 40 Seiten.
1,50 M.
Untersuchung mit speziellen Methoden, Behandlung in Übungsschulen und
Werkstätten, sowie soziale Versorgung: das sind die Grundgedanken, denen die
Hirngeschädigtenfürsorge nach P. nachzugehen hat. Er selbst hatte das große
Glück, für seine Ideen die Unterstützung maßgebender Zivil- und Militärbehörden
zu erlangen und wurde durch das Wohlwollen seiner Vorgesetzten zum Leiter
einer militärischen Nervenstation für Kopfschüsse im Festungslazarett Köln be-
rufen, wo er reiche Erfahrung auf dem neuen Gebiete erwerben und segens-
reiche Tätigkeit entfalten konnte.
>) Diese Zeitschr. XH Jahrg. 1916. S. 399/400.
Literaturbericht 55
Der Unterricht wird teils in Gruppen oder Klassen erteilt, in schweren
Fällen aber auch als Einzelunterweisung gepflogen. An Lehrkräften sind Gym-
nasial- und Volksschullehrer vorhanden, sowie auch einige Laien. Lesen, Schreiben,
Rechnen, Sprechen, Aufsatzschreiben nach dem Film sind die Hauptgebiete
der Übungen, die durchgeführt werden.
Die körperliche Übung kommt gegenüber der Übung der psychischen Funk-
tionen keineswegs zu kurz weg. Hier sind mittelschwere Fälle das eigentliche
Feld der Übungsbehandlung, während bei schweren Defekten vor Optimismus
gewarnt wird. An Stelle der Übung mit orthopädischen Apparaten wird Werk-
stattbetätigung vorgezogen, wo komplexere Ziel- und Gebrauchshandlungen zu-
grunde gelegt werden. P. hält eine Hand für berufsbrauchbar, wenn der dyna-
mometrische Druck 8 — 10 Kilogramm beträgt.
Als bewährte Untersuchungsmethoden werden bekannte Verfahren der ex-
perimentellen Psychologie und Psychiatrie angeführt: Fortlaufendes Addieren
nach Kräpelin, Kombinationstexte nach Ebbinghaus, Merkfähigkeitsprüfungen,
tachistoskopische Aufmerksamkeitsuntersuchungen. Besonders empfiehlt P. als
neue Proben das Eimerheben nach vorgeschriebenen Zeiten bei bestimmter
Schwere des Eimers, Stanzen nach aufgegebenem Programm und Knöpf esortieren.
Die Feststellung der körperlichen Arbeitsfähigkeit ist wichtig, da Bücken,,
schwere körperliche Arbeit usw. meistens vom Hirnverletzten gar nicht oder nur
schlecht vertragen werden können. Die Webersche pletysmographische Ab-
nahme wird in Köln leider nicht angewandt, trotzdem sie große Aufhellung
bringt über die körperliche Arbeitsfähigkeit eines Patienten.
Sonderbarerweise werden hysterische Propferscheinungen nur nebensächlich
von P. berührt. Die Ärmlichkeit dieser angewandten Untersuchungsmethodik
dürfte sehr bald beseitigt werden, falls es P. gelingt, einen erfahrenen
Experimental-Psychologen für seine Kopfschußstation zu gewinnen, der
Arbeitsfähigkeits- und Eignungsprüfungen neben eingehenden speziellen Unter-
suchungen ausführt.
Die Leistungen der Kopfschüßler sind im Gebiete des früheren Wissens und
der gelernten Fertigkeiten immer noch am besten, die Übungserfolge sind aber
auch beträchtlich, zumal vernünftige Grundsätze die Übungstherapie beherrschen,
so daß die soziale Prognose nach P. nicht ungünstig ist. Die Frage der allmäh-
lichen intellektuellen Verkümmerung durch die Verletzung kann bei der Kürze
der Zeit noch nicht erörtert werden, wohl aber die Bedeutung der Rinden-
epilepsie für die Berufstüchtigkeit. P. rät auf Grund seiner Erfahrung von einer
Überweisung in Epileptikeranstalten ab; er spricht sich für eine besonders
sorgfältige Berufsberatung und pflegliche Unterbringung in geeigneten Betrieben
aus, zumal die Anfälle selten sind und die Epilepsie der Hirnverletzten nicht
erblich ist.
In einem Nachwort ruft Dr. Preysing zur Gründung neuer Zentralinstitute
auf, wo Chirurg und Nervenarzt, Psycholog und Lehrer einträchtig zusammen-
arbeiten zum Wohle der Hirnverletzten. Möge seine Mahnung nicht ungehört
verklingen, sondern von reichen Erfolgen gekrönt sein, da hier noch unsäglich
viel nützliche und wertvolle Arbeit zu leisten ist, wie das treffliclie Beispiel
der Kölner Station beweist.
Berlin. Walther Moede.
Dr. Buchberger, Die Jugendfürsorge und Fürsorgeerziehung. 2. Heft
Verlag Jos. Kösel. Kempten -München 1916. 60 S. 1 M.
Die Schrift enthält vier Aufsätze, die ein Bild geben von der gut organisierten
Münchner Jugendfürsorgearbeit. Amtsgerichtsrat Riss- München spricht zunächst
über die Bedeutung der Vormundschaft in der Jugendfürsorge und hebt mit
Recht hervor, daß es, zumal im Kriege, das eigenste Interesse des Staates sei,
auf eine gute Erziehung der Jugend mit allem Eifer bedacht zu sein. Die Ge-
winnung guter Vormünder war schon im Frieden nicht so leicht; ihre Auffindung
und Ausbildung ist jetzt mehr als je allerwichtigste Aufgabe jeder Jugendfür-
■ß4 Literaturbericht
Sorgevereinigung. Landgerichtsrat K. Rupprecht gibt eine Darstellung der
Fürsorgeerziehung in Bayern, die durch Gesetz vom 21. August 1914 neu
geregelt ist. Das Gesetz ist am 1. Januar 1916 in Kraft getreten und bringt in
manchen Punkten beachtenswerte Fortschritte. Der Erfolg der Fürsorgeerziehung
wird sich noch steigern lassen dadurch, daß sie, immer mehr als Vorbeugungs-
maßnahme angewendet, den individuellen Verhältnissen der Zöglinge angepaßt
und lange genug ausgedehnt wird, und daß nach ihrer Aufhebung für genügende
Beaufsichtigung gesorgt wird. Jugendrichter Botzong -München behandelt die
Arbeit des Fürsorgers vor und während der Fürsorgeerziehung, neben und nach
der Anstaltserziehung. Wie notwendig eine eingehende Beaufsichtigung durch
beamtete Personen und deren inniges Zusammenarbeiten mit den Jugendfürsorge-
organisationen gerade während des Krieges ist, zeigt Verfasser an der Statistik des
Münchner Jugendgerichts; die Kriminalität nahm ganz erheblich zu: es wurden
verurteilt 1914: 370, 1915: 734 Jugendliche. Frau Landgerichtsdirektor Pfeil-
schifter berichtet ausführlich und mit besonderer Wärme über die praktische
Tätigkeit des Fürsorgers und der Fürsorgerin in Ausübung der „Schutzaufsicht"
über straffällig gewordene und verwahrloste Jugendliche, über einen Teil der aus der
Anstalt entlassenen Zöglinge, über Jugendliche, deren Verwahrlosung vorgebeugt
werden soll. Amtsrichter J. Marschall-München hat ein Merkblatt für den
Vormund, Pfleger und Beistand beigefügt.
Kleinmeusdorf bei Leipzig. Fritz Knauthe.
Wilhelm Schäfer, Lebehstag eines Menschenfreundes. München 1916. G. Müller.
410 Seiten. 4 M.
Wenn ich hier das Werk eines Dichters anzeige, so geschieht es nicht wegen
neuer wissenschaftlicher Ergebnisse der Pestalozziforschung, sondern weil ich
glaube, daß jeder Erzieher ein lebhaftes Interesse haben soll, die inneren Schick-
sale und Wandlungen eines Mannes einheitlich nachzuerleben, der zu den
wenigen pädagogischen Genien des Menschengeschlechts gehört, und weil die
dichterische Gestaltung allein wie das Recht so auch die Kraft hat, ein solches
Einheitsbild zu schaffen. Mit verhaltener Leidenschaftlichkeit erzählt W. Schäfer
die Lebensgeschichte des Landwirts, Armennarren, Schriftstellers, Waisenvaters,
Winkelschulmeisters und Schloßherrn Heinrich Pestalozzi und läßt aus ihm das
Bild des Ehrenbürgers der französischen Nation, Sozialreformers, Denkers, Pro-
pheten der Menschenerziehung erblühen. Der Glanz, der seine franziskanische
Gestalt umleuchtet, ist in dieser Dichtung aufgefangen, darum mögen ihre tiefen
Worte und überlegt geformten Deutungen äußerer und innerer Schicksale ein-
dringlicher lehren, welch ein Geist es war, der sich sein Leben lang mühte, „in
das Haus des Unrechts die Treppe der Menschenbildung zu bauen." Wie Person
und Erlebnis, Erlebnis und Werk zusammenhängen, das aufzuhellen, ist die Auf-
gabe aller Biographie; in W.»Schäfers Pestalozzibuch wird diese Aufgabe verständlich
gelöst: wir sehen, wie sich die Folge der Begebenheiten und Personen, die „Un-
brauchbarkeit" für das Leben und die höchste Leistung dafür, der Konflikt
zwischen Gewissen und Geschäft, Mittel und Zweck zu der sinnvollen Lebens-
einheit eines Führers der Welt webt. Und wir werden von neuem überzeugt
von der leicht vergessenen Wahrheit, daß der pädagogische Genius in der Liebe
liegt, nicht in der Erkenntnis. In vieler Hinsicht ist ein solches Lebensbild erst
wegeweisend für die Erarbeitung auch der wissenschaftlichen Erkenntnis.
München. Aloys Fischer.
Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries) in Leipzig.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher.
(Aus dem psychologischen Laboratorium in Hamburg)
Von ■William Stern.
Mit 3 Figuren im Text.
Einleitung.
1. Sprachliche Intelligenztests.
I. Bindewortergänzung. IL Bilderbogenbeschreibung. III. Tests zur Prüfung
der Kritikfähigkeit. IV. Begriffserklärungen. V. Der Fabeltest. VI. Satz-
bildung aus Stichwörtern.
2. Sprachlose Tests.
I. Einreihige Ordnungen. II. Mehrdimensionale Ordnungen. III. Logische
Ordnungen. IV. Zuordnungstests.
Einleitung.
Als die Methoden der Intelligenzprüfung von Bin et und anderen aus-
gebildet wurden, stand im Vordergrund des Interesses die Feststellung
intellektueller Schwäche auf frühen Stufen der Kindheit, um die recht-
zeitige Erkennung und angemessene Unterbringung unternormaler Kinder
zu ermöglichen. Zwar wurden die Intelligenzprüfungen auch zu anderen
Zwecken verwendet; aber es überwog doch die Rücksicht auf die besonders
Schwachen und auf die ersten Schuljahre. Die Folge war, daß die Tests
für die niederen Entwicklungsstufen der Intelligenz besonders gründlich
ausgearbeitet und durchgeprobt wurden, während die Aufgaben, die eine
höhere Denkbetätigung verlangten, stark in den Hintergrund traten. So
sind auch die Staffelserien Binets und seiner Nachfolger eigentlich
brauchbar nur für die Intelligenzjahre 4 — 10, während die für 11-, 12-
und 15 jährige bestimmten Tests zum Teil den Eindruck nachträglich
angefügten Plickwerkes machen und den Benutzer recht unbefriedigt lassen.
Eine Beseitigung dieses Mangels ist nun um so nötiger, als die neueren
praktischen Bedürfnisse immer mehr neben der Erkennung der früh-
kindlichen und der zurückgebliebenen Intelligenzen auch die Intelligenz-
diagnose der höheren Jugendjahre und der besonders Befähigten
fordern. Im gegenwärtigen Augenblick, da vielfach Klassen und Schulen
für besonders Begabte gegründet werden, tritt an den Psychologen die
Aufgabe heran, mitzuwirken an der so schwierigen und so verantwortungs-
vollen Auslese der dazu geeigneten Schüler. Die Beteiligung der Psychologie
an der Berufsberatung, bei Aufnahmeprüfungen, am Jugendgericht, an der
Jugendpflege macht brauchbare psychodiagnostische Hilfsmittel für die
höheren Jugendjahre erwünscht. So sah sich z. B. das hamburgische
Zeitschrift f. pUdagog. Psychologie. 5
6ß William Stern
psychologische Institut in jüngster Zeit zweimal vor solche Anforderungen
gestellt: einmal wurde von der Leitung eines Lehrerinnenseminars der
Wunsch geäußert, die Aufnahmeprüfung (die aus 200 Bewerberinnen nur
die 25 geeignetsten auswählen sollte) durch eine psychologische Intelligenz-
prüfung zu ergänzen — hierüber wird an anderer Stelle dieser Zeitschrift
berichtet werden. Sodann ist in Hamburg die Schaffung verschiedener
Übergangsklassen beabsichtigt, durch welche gutbegabte Volksschüler nach
abgeschlossenem 4. Schuljahr sowie auch Absolventen des 8. Schul-
jahres von der Volksschule zu höheren Ausbildungsgängen übergeführt
werden sollen; zur Unterstützung der Auslese sind psychologische Test-
prüfungen dringend erwünscht, die aber genau vorbereitet sein müssen.
Das Laboratorium ist zur Zeit mit der Ausarbeitung und Eichung der
Tests beschäftigt.
Im Folgenden seien nun einige neue Prüfungsmethoden kurz geschildert,
die sich auf schwerere Aufgaben beziehen als die meisten bisher angewandten
und daher in der einen oder anderen Form für die oben genannten ver-
schiedenen Aufgaben verwendet werden könnten. Größtenteils handelt es
sich um Testmethoden, die während der letzten Jahre unter meiner Leitung
in den psychologischen Seminaren in Breslau und Hamburg ausgearbeitet
worden sind; daneben werden auch einige soeben von anderen Seiten ver-
öffentlichte Methoden erwähnt werden, i)
Bezüglich der in Breslau ausgebildeten Methoden liegen die Anfänge
zum Teil schon weit zurück; der Krieg, der die hoffnungsvoll begonnenen
Arbeiten jählings unterbrach, und der frühe Tod eines eifrigen und be-
gabten Schülers, des Breslauer Kandidaten W. Minkus, der einen groß
angelegten Massenversuch mit neuen Tests durchgeführt und seine Ver-
arbeitung begonnen hatte, haben bisher eine Veröffentlichung unmöglich
gemacht. Nun aber, da die praktischen Kulturaufgaben gebieterisch die
Anwendung neuer Methoden fordern, entschließe ich mich, einen kurzen
vorläufigen Bericht über jene Verfahrungsweisen zu veröffentlichen; die
ausführliche Darstellung bleibt Berichten in der Ztschr. f. angew. Psycho-
logie vorbehalten.
Am Hamburger psychologischen Laboratorium habe ich im Winter
1916/17 und Sommer 1917 seminaristische Übungen über Intelligenzprüfung
abgehalten. Hierbei bildete sich erfreulicherweise ein fester Stamm von Mit-
arbeitern und Mitarbeiterinnen aus, welche die Ausarbeitung und Erprobung
bestimmter Tests an den ihnen zur Verfügung stehenden Schulen über-
nahmen. Es ist später aus deren Feder eine Reihe von monographischen
Darstellungen zu erwarten; auch hier kann der gegenwärtige Aufsatz nur
eine vorläufige Übersicht über die leitenden Gesichtspunkte gewähren.
Die Tests werden hier noch unabhängig von den speziellen praktischen
Aufgaben geschildert, denen sie dienstbar gemacht werden. Jede solche
praktische Aufgabe zeigt ihr besonderes Gesicht und wird deshalb in der
^) Die in meinem Buch „Die Intelligenzprüfung an Bändern und Jugendlichen"
(2. Auflage 1916) ausführlich geschilderten Methoden werden hier natürlich nicht
wiederholt. Es kann also der folgende Bericht als Fortführung und Ergänzung
der dort gegebenen Methodendarstellung gelten.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 67
Zusammenstellung der Tests zu Serien, in den Versuchsbedingungen, in
der Bewertung der Testergebnisse, in der Verbindung der experimentellen
mit der beobachtenden Methode usw. ihre speziellen Wege gehen müssen.
Eine derartige besondere Nutzanwendung zeigt die schon erwähnte Auf-
nahmeprüfung am Lehrerinnenseminar, über die in diesem Heft berichtet
wird. Die Schaffung von Serien für die Begabtenauslese wie für die Be-
rufsberatung wird demnächst in Angriff zu nehmen sein; der heutige Be-
richt dient vor allem dazu, einiges Material hierfür bereit zu stellen.
Allen Mitarbeitern an den Arbeitsgemeinschaften der Seminare in Breslau
und Hamburg, die — zum Teil mit hingebendem Interesse und großem
Zeitaufwand — an der Ausbildung und Verarbeitung der Methoden mit-
gewirkt haben, sei an dieser Stelle herzlich gedankt.
Gegen die von Binet und seinen Nachfolgern aufgestellten Tests wird
mit Recht der Vorwurf erhoben, daß sie nur zum Teil die eigentliche
Intelligenz treffen, zum Teil aber noch vom Schulwissen, von Gedächtnis-
funktionen, von der Geschicklichkeit, von der Sprachfähigkeit abhängig
sind. Die höheren Intelligenztests müssen nun, soweit irgend möglich,
gegen solche Einwände geschützt sein; ihre Lösung muß im wesentlichen
eine echte Denkleistung sein, bei der — entsprechend der Definition der
Intelligenz — der Prüfling sich mit neuartigen geistigen Anforderungen
in sinnvoller Weise abzufinden hat. Man muß also versuchen, die Tests
so zu gestalten, daß sie keiner in der Schule ausgeübten Aufgabe ähnlich
sind und auch nicht positive, von Unterricht oder Umwelt bestimmte
Kenntnisse fordern (soweit solche nicht — wie Lesen, Schreiben, Verständnis
des Wortlautes der Aufgabe — als völlig selbstverständlich zu gelten haben).
Diese methodische Forderung ist nie ganz vollkommen zu erfüllen, und
wir müssen uns damit begnügen, wenigstens eine möglichst große An-
näherung an das Ziel zu erreichen. Besonders schwer ist es hierbei, den
Anteil des sprachlichen Faktors zu bestimmen. Denn überall da, wo
die Aufgabe vom Prüfling eine sprachliche Formulierung seiner Denkarbeit
verlangt, kann eine Unstimmigkeit eintreten, indem bald sprachliche Un-
beholfenheit oder mangelnde Sprachkultur die eigentliche Intelligenzleistung
nicht recht zur Äußerung kommen lassen, bald eine mehr äußerliche Sprach-
gewandtheit eine zu hohe Denkleistung vortäuscht. Immerhin wird gerade
da, wo nicht geläufige Redewendungen verwendet werden dürfen, sondern
eine Anpassung des Ausdrucks an die besondere Aufgabe nötig ist, eine
ziemlich hohe Korrelation zwischen Denken und Sprechen zu erwarten sein,
wenigstens dann, wenn es sich um Individuen einer in sich einigermaßen
homogenen Bevölkerungsschicht handelt. Außerdem ist ja die sich sprach-
lich äußernde Intelligenz eine im Leben so wichtige Eigenschaft, daß deren
Prüfung unbedingt erforderlich ist. Andererseits freilich ergibt sich aus
solchen Betrachtungen, daß die sprachlichen Intelligenztests ergänzt
werden müssen durch Tests für stumme Intelligenzleistungen, also
solche, bei denen die Lösung nicht durch mündlichen oder schriftlichen
Ausdruck, sondern durch Vollziehung einer überlegten Handlung zu er-
folgen hat. Diese Gruppe von Prüfungsmitteln ist bisher recht stief-
68 William Stern
mütterlich behandelt worden; wir werden mehrere solcher stummen Tests
besprechen.
Es darf freilich nicht unerwähnt bleiben, daß der praktischen An-
wendung sprachloser Tests gewisse Grenzen gesetzt sind, die für Sprach-
tests nicht in gleichem Maße bestehen. Letztere sind nämlich fast
immer durch schriftliches Verfahren zu lösen und dadurch im Massen-
oder Gruppenversuch anwendbar, während bei den stummen Tests meist
nur der Einzelversuch in Frage kommt. Denn hier ist nicht nur das
Endergebnis, sondern auch das individuelle Verhalten während der
Durchführung der geforderten Handlung von Wichtigkeit, und dies Ver-
halten kann im Massenversuch nicht beobachtet und festgehalten wer-
den; außerdem würden sich die Prüflinge hierbei aufs stärkste gegen-
seitig beeinflussen. Diese Grenze ist sehr bedauerlich. Denn da man
sich oft aus Gründen der Zeitersparnis und Bequemlichkeit auf schrift-
liche Massenprüfungen beschränken wird, so werden sprachlose Tests
nicht in wünschenswertem Maße zur Geltung kommen. Ich erblicke
darin eine gewisse Gefahr; denn die Auslese der Begabten oder die
Aufnahmeprüfung mit Hilfe psychologischer Methoden ist eine so ver-
antwortungsvolle Aufgabe, daß man sich nicht mit einer relativ ein-
seitigen — nämlich mit Sprachfertigkeit unlöslich verbundenen — Fähig-
keitsprüfung begnügen sollte. Die stummen Tests geben zum Teil über
so ganz andersartige Seiten geistiger Fähigkeit Rechenschaft, daß für
die hierzu erforderlichen Einzelprüfungen so weit als irgend möglich Zeit
und Gelegenheit geschaffen werden müßte.
1. Sprachliche Intelligenztests.
I. Die Bindewortergänzung.
Eine der ältesten Methoden der IP ist die Ergänzung von Textlücken
nach Ebbinghaus. Früher wurden wahllos beliebige Stellen des Textes
ausgelassen; doch war dadurch die Denkschwierigkeit für die einzelnen
Lücken so verschieden groß, daß eine exakte Bemessung der Leistung
nicht möglich war. Man ging deshalb dazu über, die Ergänzung be-
stimmter Wortkategorien zu fordern. A. Mayer ließ stets die Verben fort
und verlangte somit, daß innerhalb der Gedankeneinheit des einzelnen
Satzes die tragende Handlung richtig erkannt werde; aber diese Aufgabe
ist für das höhere Jugendalter zu leicht. Weit schwerer ist es, das lo-
gische Verhältnis zweier Gedankeneinheiten zueinander richtig
zu erfassen; und da dies Verhältnis durch die nebenordnenden und unter-
ordnenden Konjunktionen ausgedrückt ist, so kam Otto Lipmann auf
den Gedanken, in einem zusammenhängenden Text nur diese Wörter weg
zulassen und vom Prüfling die Ergänzung zu fordern. Die von L. ge-
leitete Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik im Berliner Lehrerverein
hat einen solchen Text 1912 benutzt; soeben ist eine vorläufige Mitteilung
von L. darüber erschienen.^)
*) Otto Lipmann, Die Entwicklung der grammatisch -logischen Funktionen.
Zeitschrift f. angew. Psychol. XII, S. 347—371.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 69
Eine Durchprüfung des mir schon früh bekannt gewordenen Lipmannschen
Textes am Breslauer psychologischen Seminar führte hier zu einem syste-
matischen Ausbau der Methode, die hauptsächlich durch W. Minkus ge-
leistet wurde. Hierbei war folgender Gedankengang maßgebend. Durch
die Bindewörter können alle Hauptgruppen logischer Denkbeziehungen
überhaupt dargestellt werden; sie drücken temporale, kausale, finale,
steigernde, kontrastierende und andere Beziehungen aus. Um nun fest-
zustellen, wie die Denkfähigkeit des Jugendlichen sich zu den verschiedenen
Beziehungskategorien verhält, galt es, den Text so zu gestalten, daß alle
Kategorien darin enthalten sind und zwar jede mehr als einmal, damit
die Lösung nicht nur von der zufälligen Konstellation des Wortes im Satz-
zusammenhang abhinge. M. schuf nun einen Text, der Jede Kategorie je
zweimal in nebenordnenden (Hauptsatz-) Verbindungen und, wo es an-
ging, auch in zwei unterordnenden (Nebensatz-) Verbindungen vorkommen
ließ. So wird z. B. für die „folgernde" Satzverbindung zweimal die Er-
gänzung „so daß", zweimal die Ergänzung „daher" gefordert usw. Welche
Schwierigkeiten bei der Herstellung eines solchen Textes vorliegen, kann
man sich vorstellen; doch hat M. die Aufgabe ohne allzu große Künstlich-
keit gelöst. M. hat mit seinem Text einen Massen versuch veranstaltet
an den vier oberen Jahrgängen von Volksschulen und an Fortbildungs-
schulen und zwar bei beiden Geschlechtern und innerhalb jedes Geschlechts
an Schulen aus besseren und aus schlechteren sozialen Schichten. Somit
ist sein Material zu vergleichenden Untersuchungen über die Alters-, Ge-
schlechts- und soziale Differenzierung der Denkleistung vorzüglich geeignet.
Besonders verdienstlich ist die Heranziehung der Fortbildungsschulen; ist
doch hierdurch — meines Wissens zum erstenmal — die psychologische
Prüfung der Volksjugend über das Volksschul alter hinaus fortgesetzt worden.
Minkus hatte die Verarbeitung dieses Versuchs in ständiger Aussprache
mit mir eingeleitet; als besonders schwierig erwies sich die Bewertung
der Ausfüllungen, weil hier zwischen der ausgesprochen zutreffenden und
der zweifellos falschen Ausfüllung eine ganze Stufenleiter von Möglichkeiten
besteht. Eine Gruppe von Breslauer Seminarteilnehmerinnen war unter
seiner Leitung mit der Auswertung beschäftigt, als Minkus selbst durch
einen unerwarteten Tod dahingerafft wurde. Aber die wertvolle Arbeit
des so früh Verstorbenen sollte nicht umsonst getan sein; seine Helferinnen
führten die Auswertung der Lücken in pietätvoller Treue zu Ende, und
ich habe nunmehr das ganze Material übernonamen, um es statistisch und
psychologisch zu verarbeiten. 2)
Aus den zurzeit vorliegenden Teilergebnissen der Lipmann'schen wie der
Minkus'schen Versuche kann bereits so viel mit Sicherheit festgestellt werden,
daß die Fähigkeit, den Test zu lösen, sich erst gegen das Ende der Volks-
schulzeit zu bemerkenswerter Höhe entwickelt, daß er demnach gerade
für die Prüfung von 12 — 16jährigen in Betracht kommt. Entsprechendes
ergab sich auch, als der Test bei der Aufnahmeprüfung an einem Lehre-
') Der Bericht wird hoffentlich in nicht allzu ferner Zeit in der Zeitschrift für
angew. Psychologie erscheinen können.
70 William Stern
rinnenseminar benutzt wurde, wo sogar noch manche viel ältere Bewerbe-
rinnen eine größere Anzahl von Fehlern begingen. i)
Der Minkus'sche Text ist beträchtlich schwerer als der Lipmann'sche und
daher für höhere Altersstufen geeignet.
Die in der Einleitung gemachten Bemerkungen über die Verbindung
von Denk- und Sprachfertigkeit gelten ganz besonders für diesen Test.
Größere oder geringere Sprachgewandtheit und vor allem Umfang des
Wortschatzes spielen zweifellos bei dem Ausfall eine Rolle — was be-
sonders bei Vergleichung von Prüflingen verschiedener sprachlicher Kultur,
z. B. von Schülern der Volks- und der höheren Schule, hervortritt. Man
wird ihn zu eigentlichen Intelligenzprüfungen daher nur dort benutzen
können, wo die Prüflinge aus einer einigermaßen gleichartigen sozialen
und sprachlichen Umwelt stammen.
Wir geben im folgenden den Wortlaut beider Texte und die geforderten
Ausfüllungen wieder.
Der Lipmann'sche Text lautet:
,^ls wir am Sonntag morgen aufwachten, fragte ich gleich meinen Vater, ob
die Sonne scheint (1) ob es regnet. (2) das Wetter sehr schön war, und es (3)
regnete (4) schneite, so wollten wir einen Ausflug machen. Ich sprang (5) schnell
aus dem Bett und zog mir Schuhe (6) Strümpfe an. Wir mußten uns sehr be-
eilen, (7) wir den Zug noch erreichten. Beinahe wären wir zu spät gekommen.
(8) wir den ganzen Weg bis zum Bahnhof rannten. (9) der Zug abgegangen war,
fingen wir, (10) wir fuhren, zu singen an. Dann stiegen wir aus und marschierten
ab. Die Mutter hatte einen Schirm, (11) nicht der Vater. Nun fing es an zu
regnen. Die Mutter machte ihren Schirm auf; (12) sie wollte nicht naß werden;
(13) hatte sie ihn ja auch mitgenommen. Aber ich und mein Vater, die wir keine
Schirme hatten, wurden naß; (14) waren wir sehr vergnügt. Als wir angekommen
waren, durfte ich mit meinem Bruder spielen; (15) unterhielten sich der Vater
und die Mutter und bestellten etwas zu essen. Als das Essen kam, sagte die
Mutter zu mir: „ (16) du etwas essen willst, so mußt du dir (17) noch die Hände
waschen." Ich wusch mich also; (18) die Hände waren (19) schmutzig, (20) sie
nicht ganz sauber wurden. Dann aßen wir und gingen wieder zum Bahnhof.
Wir waren so müde, daß wir (21) einschliefen, (22) wir wieder zu Hause waren.
(23) die Eltern schliefen nicht, obwohl sie (24) müde waren; (25) ich am nächsten
Morgen aufwachte, hatte ich (26) nicht ausgeschlafen; (27) konnte ich in der
Schule nicht gut aufpassen; (28) (29) in der Pause hatte ich Lust, zu spielen;
am liebsten hätte ich geschlafen; (30) das Turnen, das ich sonst so gern habe,
machte mir diesmal keine Fr^de. Ich war froh, als die Schule zu Ende war,
und ging schnell nach Hause, (31) Mittagsbrot (32) essen; (33) schlief ich noch
ein Stündchen; (34) hätte ich die Kaffeezeit verschlafen."
Die Ziffern waren im eigentlichen Versuchstext nicht enthalten; sie ver-
treten die Lücken im Text und sollen dem Leser nur die Feststellung der
Ausfüllungen erleichtern. Diese lauten: 1 oder, 2 da, 3 weder, 4 noch, 5 daher
6 und, 7 damit, 8 obgleich, 9 als, 10 während, 11 aber, 12 denn, 13 deshalb
(darum), 14 trotzdem, i5 inzwischen (unterdessen), 16 wenn, 17 vorher, 18 aber,
19 so, 20 daß, 21 schon, 22 bevor, 23 aber, 24 auch, 25 als, 26 noch, 27 deshalb,
28 29 nicht einmal, 30 auch,- 31 um, 32 zu, 33 vorher, 34 beinahe (fast).
Natürlich müssen auch andere Wörter, wenn sie die gleiche Bedeutung haben,
als richtig gelten.
*) Vgl. den Bericht von Melchior in diesem Heft.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 71
Der Minkus'sche Text lautet:
Der Freund aus der Unterwelt.
(Ein chinesisches Märchen).')
In einer größeren Stadt Chinas lebte einst ein strebsamer Beamter, namens Tien. ')
sein Gehalt für ihn und seine junge Frau kaum ausreichte, hätte er sich gern eine besser be-
soldete Stellung erworben. ') er hatte wenig Hoffnung, die hierzu nötige Prüfung
zu bestehen, ^) ihm nicht geradezu ein Wunder zu Hilfe kam. Oft war er nahe
daran, zu verzweifeln, *) er sich alle erdenkliche Mühe gab, wollte in seinem
armen Kopfe nichts haften bleiben: stets vergaß er das mühsam Gelernte *) über-
haupt wieder völlig, er behielt es nur unklar und verworren im Gedächtnis.
*) glaubten seine Freunde, die sich '') für diese Prüfung vorbereiteten,
er werde nichts erreichen, und redeten oft lange auf ihn ein, *) ihn endlich ein-
mal von der Aussichtslosigkeit seiner Anstrengungen überzeugen. Aber ^)
ihn seinem Vorhaben abspenstig ...#.... machen, spornten ihn solche Reden, weit entfernt,
ihren Zweck zu erreichen, gerade an, und gegen aller Erwarten erreichte er trotz seines
schlechten Gedächtnisses auch wirklich sein Ziel. Er bestand schließlich die Prüfung
*°) . . . . als Bester von allen und mit großer Auszeichnung. Das ist eine wunderliche Ge-
schichte. ").... ihr mir zuhören wollt, erzähle ich euch, wie es sich zugetragen hat. Aber
glauben werdet ihr mir wohl kaum, so seltsam klingt alles. Und doch ist '^)
irgend etwas übertrieben hinzugedichtet. Also so war es: In einer schönen
Sommernacht kehrten Tien und seine Freunde einst zu später Stunde in die Stadt zurück,
*^ sie einen herrlichen Abend in der freien Natur verlebt hatten. **)
sie ihres Weges zogen, erfüllten sie die stillen Straßen mit fröhlichem Lachen und Gesang,
**) sie waren draußen bei einem Glase Wein in eine recht ausgelassene Stimmung
geraten. '*) jeder Nachtwächter, dem sie begegneten, sie zur Ruhe ermahnte, ließen sie sich
in ihrem lärmenden Übermut durch sie nicht im geringsten hindern. Plötzlich aber verstummte
einer nach dem andern und blickte scheu nach dem verrufenen düsteren Tempel des soge-
nannten „unterweltlichen Gerichts", an dessen finster drohendem Riesenbau sie eben vorüber
mußten. In seinen Kellern wurden die Todesurteile vollzogen, und zum Überfluß erzählte man
von dem Gebäude auch noch die unheimlichsten Gespenstergeschichten, *^) schon
deshalb jeder gern einen großen Bogen um diesen Ort des Grauens machte.
**) am hellen Tage sollte es hier so ganz geheuer sein, und jetzt war es stock-
dunkle Nacht. Tien aber war ein unerschrockener Mensch, den niemals etwas in Furcht jagen
konnte: Jetzt fürchtete er sich daher '^) , und plötzlich, ^°) ihn einer
hindern konnte, stand er auf den Stufen zum Eingang des Tempels. Alle redeten ihm zu,
lieber mit ihnen ins Gasthaus „zur trauten Teetasse" zu gehen, statt hier Unfug zu treiben.
Er solle vernünftig sein und herunterkommen, ^i) stieg er währenddem auch
noch die letzten Stufen hinan und, weit entfernt zu hören, rief er ihnen lachend zu, er komme
auchhin^^^) aber wolle er sich da drinnen ein bißchen umsehen. ^^) sollten sie
daher ruhig dorthin vorausgehen und einstweilen Wein bestellen. Und als einer meinte, er
werde sich ja schön hüten, hineinzugehen, setzte er noch hinzu: „^*) ihr seht,
daß ich wirklich drin gewesen bin, werde ich euch den ,, Schreiber Lu" mitbringen!" Mit dem
Schreiber Lu meinte er ein lebensgroßes Götzenbild, das allen wegen seiner furchtbaren Häß-
lichkeit bekannt war. Bei seinen Worten winkte Tien seinen Freunden noch einmal lustig zu,
**) verschwand er in dem Dunkel des hohen Tores. Die übrigen gingen in die
„traute Teetasse" und saßen bald fröhlich beim Weine. Nach einer Weile erhob sich der reiche
Li und bat bedeutungsvoll um Ruhe. In freudiger Erwartung wandte sich alles ihm zu,
**) Li so umständlich tat, gab er gewöhnlich etwas zum Besten. Und richtig:
*') er sich mehrmals wichtig geräuspert hatte, verkündete er feierlich, er wolle
die ganze Zeche bezahlen, ^^) Tien sein Wort wirklich halte. Habe er aber bloß
geprahlt, dann solle er zur Strafe dafür ^^) ihren ganzen Wein bezahlen
wenigstens aus seinem eigenen Keller ein paar Flaschen herausrücken. In diesem Augenblicke
flog plötzlich die Tür auf, und herein keuchte Tien, mit der großen schweren Tempelfigur auf
dem Rücken. Jählings, ^'') die Gläser wie aufgescheuchte Frösche durcheinander-
hüpften, stieß er zunächst seine Last mit lautem Krach mitten auf den Tisch nieder.
') Nach einem Stücke der Sammlung chinesischer Märchen von Gustav Gast: „So war es!"
(Pien pa!) Verlag: Herm. J. Meidinger-Berlin.
72 William Stern
^') schenkte er sich zuerst rasch ein Glas Wein ein, das er hastig hinunterstürzte,
^^) er von der Anstrengung heftigen Durst bekommen hatte. ^^)
starrten die andern zunächst lange, wie gelähmt vor Schreck und Entsetzen, ununterbrochen
auf den giftgrün bemalten, unheimlichen Gast in ihrer Mitte, der sie mit seinen roten Glotz-
augen tückisch anfunkelte. 3*) ihnen Mut machen, stieg Tien zu
ihm hinauf und bot ihm übermütig auch einen Weinbecher an. Da aber durch die Erschütterung
der bewegliche Kopf ins Wackeln kam, war die Wirkung eine ganz unerwartete. Die ganze
Gesellschaft schrie entsetzt auf, ^') das von ihm erhoffte Gelächter erheben, und
stob in wilder Flucht zur Tür hinaus, weit entfernt, auf Tiens beruhigende Worte zu hören.
^^) soviel Zeit nahmen sie sich, ihre Hüte und Stöcke aufzuraffen, sondern ließen
alles hängen und stürzten so davon. Über ihre Furcht lachend, verließ nun auch Tien das
Gasthaus, ^') aber stellte er vorsichtigerweise die Figur hinter einen Vorhang,
^*) sie nicht noch anderen einen ebensolchen Schrecken einjagte. Zu Haus an-
gelangt, trat er, noch immer lächelnd, in sein Arbeitszimmer, als ihn jählings ein eisiger
Schreck durchfuhr: Mitten in der Stube stand da im fahlen Mondlicht: der „Schreiber Lu".
Und plötzlich fing die Figur an, sich langsam zu bewegen, gerade auf ihn zu. Da vermochte
er vor Grauen sich ^'^) von der Stelle zu rühren ein Wort hervorzu-
bringen. Glaubte er doch bestimmt, Lu werde ihn nun beim Kragen nehmen und ihm kurzer-
hand den Hals umdrehen. **') begann da dieser, mit einem Male, weit entfernt
von solcher Gewalttat, wider Erwarten ganz gutmütig zu lachen, sprach ihm *')
mit freundlichen Worten Mut zu. ^^) konnte der sonst so mutige Tien nur sehr
langsam seine Furcht überwinden. ^^) auch für den Mutigsten ist es schließlich eine heikle
Geschichte, sich in tiefer Nacht mit lebendig gewordenen Tempelfiguren zu unterhalten. Er
mußte nun Wein holen und mit Lu anstoßen. „Deine unerschrockene Tat", sagte dieser zu
ihm, „hat mir gefallen, imd ich möchte sie gern belohnen. ''") . du irgend einen
Wunsch auf dem Herzen hast, will ich ihn dir gern erfüllen, soweit es in meiner Macht steht !"
Da dachte Tien an die bevorstehende Prüfung und klagte dem neuen Freund sein Leid. Frei-
lich, fügte er hinzu, helfen könne ihm da kein Mensch, und Lu werde es wohl *^)
können. Der meinte, er werde sich die Sache beschlafen und ließ sich auf das Ruhebett
nieder, und an seiner Seite befahl erdarauf Tien, sich ''^) hinzulegen. Der schlief auch bald
ein, *^) ihm alle Müdigkeit vergangen war. Nach einer Weile erwachte er von einem leisen
Stich im Kopfe und sah Lu mit einem blutigen, spitzen Messer in der Hand neben sich sitzen.
Er glaubte zuerst, Lu habe es sich anders überlegt, und es solle ihm nun doch noch an den
Kragen gehen. ^^) begann er nun sofort aus Leibeskräften und voller Entsetzen
zu schreien, worüber Lu jedoch herzlich lachen mußte. „Sei doch nur still", sagte er zu ihm,
ich habe dir ja bloß ein besseres Gehirn eingesetzt, '*^) du in friedlichem
Schlummer lagst. Nun wirst du dir alles ganz mühelos merken und infolgedessen eine vor-
zügliche Prüfung machen. Jetzt aber lebe wohl! Ich muß rasch in meinen Tempel zurück,
^°) die Sonne völlig aufgeht!'' Weg war er, und Tien glaubte zu träumen. Aber
schon am nächsten Tage merkte er, wie ausgezeichnet das neue Gehirn arbeitete. Er behielt
sich alles spielend, und so kam es, daß er die gefürchtete Prüfung als Bester bestand.
Bei diesem Text waren die Lückennummem auch im Original mitgedruckt.
Die geforderten Ausfüllungen lauten :
1 da, 2 aber, 3 wenn, 4 denn obgleich, 5 entweder — oder, 6 daher, 7 gleichfalls, 8 um
— zu, 9 anstatt — zu, 10 sogar, 11 wenn, 12 weder — noch, 13 nachdem, 14 während, 15 denn,
16 obgleich, 17 sodaß, 18 nicht einmal, 19 ebensowenig, 20 ehe, 21 statt dessen, 22 vorher,
23 währenddessen, 24 damit, 25 dann, 26 denn wenn, 27 nachdem, 28 wenn, 29 entweder —
oder, 30 sodaß, 31 dann (hierauf), 32 da (weil), 33 währenddessen, 34 um — zu, 35 anstatt
zu, 36 nicht einmal, 37 vorher, 38 damit, 39 weder — noch, 40 statt dessen, 41 sogar,
42 trotzdem, 43 denn, 44 wenn, 45 ebensowenig fauch nicht), 46 auch (ebenfalls), 47 obgleich,
48 daher, 49 während, 50 ehe.
Nach dem gegenwärtigen Stand unserer Berechnungen aus dem Min-
kus'schen Versuch läßt sich wenigstens die folgende Tabelle aufstellen.
In ihr sind die Ergebnisse von 4 Klassenstufen enthalten (die beiden
oberen Klassen der Volksschule und die Unter- und Mittelstufe der Fort-
bildungsschule) und zwar getrennt einerseits nach den Geschlechtern,
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher
73
andererseits nach den Schulleistungen. Jede Ziffer ist aus den Leistungen
von je 8 Prüflingen abgezogen. Die Ziffern drücken aus: wieviel Prozent
der Lücken richtig ausgefüllt sind („Treffer"), und bei wievielen die Aus-
füllung gänzlich unterblieben ist („Auslassungen"). Die übrigen hier fort-
gelassenen Kategorien (halb richtige, fragliche, falsche Ausfüllungen) sind
nur mit relativ kleinen Prozentsätzen vertreten und zeigen auch keine
eindeutigen Unterschiede nach Altersstufen und Schulleistungen.
Volksschule
Fortbildungsschule
Klasse 11
gute schlechte
Klasse I
gute schlechte
Unterstufe
gute schlechte
Mittelstufe
gute schlechte
Weiblich
Treffer
Auslassungen . .
4972%
17%
29%
42%
6572%
10%
3873%
2172%
70%
9V2%
513/4%
20 7»%
62%
15%
56 72%
19 72%,
Männlich
Treffer
Auslassungen . .
47%
18%
34%
40%
68%
7%
46%
18 74 %
55%
123/4%
45%
28%
6372%
1572%
5172%
22%
Die Tabelle zeigt: 1. Eine besonders starke Zunahme der Leistungen
(Vermehrung der Treffer, Verringerung der Auslassungen) findet von der
TL. zur L Volksschulklasse statt, während bei den Fortbildungsschülern
keine eindeutige Steigerung der Leistungen zu bemerken ist (zum Teil
sogar eine Abnahme!). 2. Der Unterschied der „guten" und „schlechten"
Schüler ist sehr bedeutend. Er fehlt auf keiner Jahresstufe, ist aber am
weitaus stärksten auf den beiden oberen Volksschulstufen. So haben in
Klasse II die guten Schülerinnen fast doppelt soviel Treffer wie die
schlechten Schülerinnen, dagegen nicht einmal halb soviel Auslassungen
wie diese. Zwischen guten und schlechten Knaben ist der Unterschied
der Treffer nicht ganz so groß, aber noch bedeutend genug, der der Aus-
lassungen ebenso groß wie bei den Mädchen. Die schlechten Schüler der
I. Klasse stehen den guten der 11. Klasse bei den Knaben gleich, bei den
Mädchen sind sie noch weiter hinter diesen zurück. Nach diesen Er-
gebnissen liefert also der Minkus'sche Lückentext für Schüler
des 14. Lebensjahres besonders charakteristische Ausschläge.
n. Bilderbogenbeschreibung.
Die Inhaltsangabe eines vorgelegten Einzelbildes gehört zu den wichtigsten
Bestandteilen der Binetschen Serie, da hier das Verhalten verschiedener
Intelligenzstufen gegenüber dem gleichen Reizkomplex besonders deutlich
74 William Stern
in die Erscheinung tritt. Erhöht wurde die Brauchbarkeit dieses Tests
durch Bobertag, der an die Stelle der ziemlich nichtssagenden Binetschen
Bilder solche mit einer scharfen Pointe setzte; die Auffassung dieses poin-
tierten Bildzusammenhanges soll vom 9jährigen auf äußeren Anstoß (pro-
vozierte Bilderklärung), vom 11jährigen ganz aus eigenem Antrieb geleistet
werden (spontane Bilderklärung), während die bloße Aufzählung von
Gegenständen für den 3jährigen, die Nennung der Handlungen einzelner
Bildpersonen für den 6jährigen charakteristisch ist.
Die Fortbildung dieses Tests zu noch höheren Intelligenzanforderungen
erschien nun dadurch möglich, daß man an die Stelle des einen Bildes
eine Bilderreihe setzte, die eine in sich zusammenhängende pointierte
Handlung darstellt. Wie bei der Bindewortergänzung soll also auch hier
nunmehr von der Auffassung einer einzelnen Gedankeneinheit zur Ver-
knüpfung mehrerer Einheiten übergegangen werden.
Als geeignetes Prüfungsmaterial bieten sich manche Münchner Bilder-
bogen dar, in denen eine fortlaufende Geschichte illustriert ist; denn diese
sind der jugendlichen Auffassungsfähigkeit angepaßt, setzen meist kein be-
sonderes positives Wissen voraus und besitzen eine Pointe. Von solchen
Bilderbogen wird der gedruckte Text fortgeschnitten; der Prüfling hat
nun selbst Inhalt und Bedeutung der dargestellten Handlung mündlich
oder schriftlich wiederzugeben.
Vorversuche mit Bilderbogen wurden bereits seit ungefähr 1910 im
Breslauer Seminar von Bobertag und Moskiewicz gemacht, die aber nicht
veröffentlicht worden sind. Im Winter 1911/12 veranstaltete die von mir
beratene psychologische Arbeitsgemeinschaft des Breslauer Lehrervereins
einen Massenversuch, bei dem u. a. auch ein Bilderbogenexperiment an-
gewandt wurde. Die Lehrergruppe kam selbst nicht zur Ausarbeitung
der Ergebnisse, doch wurde ein Teil des Materials für die im Jahre 1913
in Breslau stattfindende Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der
Geschlechter von Studenten meines Seminars provisorisch bearbeitet,
worüber ganz kurz in dem Ausstellungskatalog berichtet ist.i) Erneut
wurde dann der Test benutzt von W. Minkus, der ihn in seinem Massen-
versuch an denselben Volks- und Fortbildungsschülern prüfte, die er auch
dem Bindeworttest unterworfen hatte. M, kam nur noch dazu, ein Schema
der Wertung für die erzielten Niederschriften aufzustellen; jetzt ist das
Material dem Hamburger Seminar überwiesen worden und wird von einem
Seminarteilnehmer bearbeitet.
Im Herbst 1916 ist dann der Bilderbogentest bei der mehrfach erwähnten
Aufnahmeprüfung zum Lehrerinnenseminar mit verwandt worden, worüber
Herr Penkert in diesem Heft berichten wird. Ferner fand ein Massen-
versuch an sieben Klassen einer höheren Mädchenschule in Hamburg statt.
Bei näherer Prüfung der Münchner Bilderbogen stellte es sich doch heraus,
daß die Auswahl der für unseren Zweck geeigneten Blätter nicht leicht ist;
bald bot der Inhalt, bald die Zeichnung allerlei Bedenken. Das Idealste
') Die Ausstellung zur vergleichenden Jugendkunde der Geschlechter auf dem
3. Kongreß für Jugendbildung und Jugendkunde in Breslau im Oktober 1913.
Arbeiten des Bundes für Schulreform Nr. 7. Teubner 1913. S. 7—10.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher
76
76 William Stern
wäre zweifellos, von einem geschickten Zeichner eigens Bilderserien her-
stellen zu lassen, die von vornherein den psychologischen Absichten an-
gepaßt sind; dann sind auch exakte Abstufungen der Schwierigkeit möglich.
Zunächst aber müssen wir uns mit dem vorhandenen Material begnügen,
und da stellten sich doch einige als ganz brauchbar heraus. Bei sämt-
lichen oben erwähnten Versuchen wurde der Bilderbogen „Das Wieder-
sehen"!) angewandt, den wir in verkleinerten Massen wiedergeben; außer-
dem verwandte W. Minkus den Bilderbogen „Der sparsame Hausvater".
„Das Wiedersehen" ist für die höheren Volksschuljahrgänge eigentlich
etwas zu leicht, wenigstens was die entscheidende Leistung, das Verständnis
des Zusammenhangs angeht 2); feinere Intelligenzbekundungen allerdings
— wie Reflexionen über die „Moral" der Geschichte, über das Verhältnis
von Schuld und Strafe, ferner Deutungen von den dargestellten Ausdrucks-
bewegungen auf die seelischen Eigenschaften und Verhaltungsweisen der
handelnden Personen, ja auch der Pferde — zeigen gerade innerhalb der
Altersstufen von 10 — 14 Jahren so deutliche Fortschritte, daß hieraus sehr
wohl Schlüsse auf die geistige Entwicklungsstufe gezogen werden können.
Neben der eigentlichen Intelligenz aber sind gerade bei diesem Test
noch außerordentlich viel andere, den Pädagogen und Psychologen inter-
essierende Funktionen feststellbar: die Beobachtungsfähigkeit, die Phantasie,
die sprachliche Ausdrucksfähigkeit; auf diese Vielseitigkeit weist besonders
der Bericht des Herrn Penkert über die Aufnahmeprüfung im Lehrerinnen-
seminar hin.
Durch verschiedene methodische Mittel ist es möglich, den Test schwerer
zu gestalten, so daß er für die eigentliche Intelligenzprüfung höherer Jugend-
jahrgänge noch geeigneter wird. Dies kann geschehen durch folgende
Mittel: 1. Auswahl von Bilderbogen schwierigeren Inhalts; 2. Auslassung
einzelner Zwischenbilder, so daß der Beschauer wichtige Phasen der zu-
sammenhängenden Handlung ergänzen muß (Anklang an den Textlücken-
versuch); 3. Portlassung nicht nur des Textes, sondern auch der Über-
schrift; Aufforderung, diese selbst kurz und treffend zu formulieren (so
wurde bei der Aufnahmeprüfung verfahren); 4. Aufforderung, die all-
gemeine „Moral" der Geschichte zu finden (Anklang an den unten zu
besprechenden Fabeltest).
Eine ganz andersartige Benutzung des Bilderbogens zu einer „stummen"
Intelligenzprüfung findet später Besprechung.
Nebenbei sei bemerkt, daß der Test der Bilderbogenbeschreibung, ab-
gesehen von seiner Bedeutung zu Zwecken der Intelligenzprüfung, in der
Lehrerschaft auch pädagogisches Interesse erweckt hat. Es scheint,
daß hier eine neue Art des Aufsatzthemas gefunden ist, die so
manche bei anderen Themenformen weniger beanspruchten seelischen Funk-
tionen des Schülers in Bewegung setzt und zugleich dem Lehrer neue
Einblicke in die Schülerindividualitäten gewährt.
*) Münchner Bilderbogen Nr. 915.
2) Dies geht schon aus der vorläufigen Tabelle im Ausstellungskatalog S. 9
hervor.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 77
Das Versuchsverfahren ist das folgende:
DerBilderbogen wird zerschnitten und die Bilder werden ohne Text in richtiger
Abfolge in zwei bis drei Reihen auf Pappe geklebt. Jeder Prüfling erhält
(auch im Massenversuch) ein Blatt für sich. Er hat es mit der Bildseite nach
unten vor sich hinzulegen, bis die Anweisung seitens des Versuchsleiters
erfolgt ist. Im Minkus'schen Massenversuch wurden die Schüler darauf hin-
gewiesen, daß es sich nicht um einen „Schulaufsatz" im gewöhnlichen
Sinn handle, daß der Klassenlehrer die Niederschrift nicht zu sehen be-
komme und daß es nichts schade, wenn Fehler begangen würden. Der
Wortlaut der Aufforderung lautete: „Seht Euch den Bilderbogen erst
ordentlich an und dann schreibt die ganze Geschichte, die darauf dar-
gestellt ist, einmal auf — alles, was Ihr davon zu erzählen wißt und so,
wie Ihr es am schönsten findet." Über die etwas anders lautende In-
struktion bei der Hamburger Aufnahmeprüfung berichtet Herr Penkert.
Als Dauer des Versuchs werden wohl 40—45 Minuten stets genügen.
Beim Massenversuch muß dafür gesorgt werden, daß keine Verbindung
zwischen den Schülern besteht. Minkus fand hierfür den — auch für
andersartige Versuche sehr zu empfehlenden — Ausweg, daß er zwei
verschiedene Bilderbogen benutzte; diese werden so verteilt, daß die
nebeneinander sitzenden Schüler stets verschiedene Themen zu bearbeiten
hatten.
m. Tests zur Prüfung der Kritikfähigkeit.
Daß das Kritisieren eine ausgesprochene Intelligenzleistung darstellt, ist
schon stets bemerkt worden. So unsympathisch derjenige Mensch sein
mag, dessen Intelligenz sich vorwiegend im Herausfinden von Mängeln
und Schwächen bekundet, so ist es doch zweifellos, daß innerhalb der
Gesamtheit geistiger Fähigkeiten auch diese ihren Platz haben und
deshalb, wenn möglich, auch in einer Intelligenzprüfung festgestellt werden
muß. Das Kritisieren ist eine höhere Stufe des Verstehens; denn jetzt
genügt es nicht, das Gegebene in seinem positiven Inhalt aufzufassen;
man muß es auch messen an einer im Bewußtsein bereit liegenden Norm,
die sich in dem dargebotenen Stoff nicht befriedigt findet.
Bei Intelligenzprüfungen kann die Kritikfähigkeit in drei verschiedenen
Entwicklungsstufen festgestellt werden.
Ihre einfachste Leistung liegt dort vor, wo die Kritik als Reaktion
auf einen einfachen Reiz verlangt wird; es ist das Bemerken einer
einzelnen Absurdität. Der Reiz kann in einer sprachlichen Formulierung
oder einer bildlichen Darstellung bestehen, die einen Widersinn enthält; der
Prüfling wird befragt: kann man so sagen? bzw.: ist an dem Bilde etwas
nicht richtig?
Höher steht die geforderte Leistung schon dort, wo die zu kritisierenden
Reize eingestreut sind in einen größeren textlichen oder bildlichen Zu-
sammenhang; es wird dann nur die allgemeine Aufgabe gegeben, die zu
bemängelnden Widersinnigkeiten herauszufinden. War im ersten Falle
durch den Reiz schon die eindeutige Einstellung der Aufmerksamkeit auf
die darin enthaltene Absurdität gegeben, so muß im zweiten Fall bei
78 William Stern
jedem Gliede des größeren Reizzusammenhangs erst die Entscheidungs-
frage gelöst werden: liegt hier eine Absurdität vor oder nicht? Erst nach
deren Entscheidung kann _ zur näheren Feststellung ihres Inhalts über-
gegangen werden. Es ist also ein Verhalten ähnlich dem des Lehrers,
der eine schriftliche Arbeit zu korrigieren hat.
Die höchste Stufe erreicht die Kritikfähigkeit dort, wo sie gar nicht
mehr als Reaktion auf eine dahingehende Anforderung, sondern ganz
spontan bei andersartigen Aufgaben arbeitet. Es sei z. B. die Aufgabe
gegeben, irgendeine Darstellung (über ein gesehenes Bild, ein Erlebnis,
ein gelesenes Werk) zu liefern; der kritische Geist wird sich dann nicht
mit bloßer Berichterstattung begnügen; er wird von selbst darauf kommen,
Mängel und Unstimmigkeiten anzumerken oder auch seine subjektive
Mißfälligkeit über diese oder jene Einzelheit auszudrücken.
Die bisher bei Intelligenzprüfungen geforderten Kritikleistungen waren
fast ausschließlich solche der ersten Stufe. Beispiele hierfür sind die
bekannten Sätze von Binet: „Ich habe drei Brüder: Paul, Ernst und ich."
— „In einem Walde fand man eine Leiche, die in 18 Teile geteilt war;
man nimmt an, daß Selbstmord vorliegt." Beispiele widersinniger Bilder:
Darstellung einer Baumallee, in der ein Baum vom Sturm ganz zur
Seite gebogen erscheint, während die anderen Bäume gerade stehen. Dar-
stellung einer Bäuerin, die an einem über die Schulter gelegten Querholz
auf der einen Seite einen Eimer trägt, während an der anderen Seite
nichts hängt; dennoch steht das Querholz wagerecht. Derartige eindeutige
Absurditätenreize sind für unsere Zwecke zu leicht, i)
Kritikleistungen der dritten Stufe, also ganz spontane Äußerungen
kritischen Sinnes, sind zuweilen mit überraschender Deutlichkeit bei Auf-
satztests hervorgetreten, so z. B. bei der oben besprochenen schriftlichen
„Bilderbogenbeschreibung". Hier fanden gewisse Versuchspersonen an der
Handlung, an den dargestellten Menschen, auch an der Technik oder
Ästhetik der Zeichnungen allerlei auszusetzen, wobei es sich bald um
objektiv berechtigte Einwände, bald um subjektive Geschmacksäußerungen,
zuweilen um bloße Nörgelsucht handelte. Aber eben diese Willkür ganz
spontaner Kritikleistungen macht es schwer, sie als Bekundungen der
Intelligenzhöhe aufzufassen. Sie sind mehr Kennzeichen einer kritischen
Neigung — und als solche differentiellrpsychologisch gewiß interessant
— als einer Kritikfähigkeit; auf diese aber kommt es uns bei der In-
telligenzprüfung in erster Reihe an.
Wir werden deshalb versuchen müssen, Kritikleistungen der zweiten
Stufe herbeizuführen: also das Herausfinden von Stellen, die objektive
Kritik erfordern, aus einem größeren Ganzen. Es darf hierbei nicht dem
subjektiven Belieben überlassen bleiben, ob man kritisiert oder nicht;
») Mit Recht ist den Binetschen Absurditäten der Vorwurf gemacht
-worden, daß sie zum Teil geschmacklos und blutrünstig sind — wofür auch
oben ein Beispiel gegeben ist. Soeben ist eine ganze Reihe anderer widersinniger
Sätze, auf welche dieser Vorwurf nicht zutrifft, von Karstadt durchgeprüft
und für verschiedene Altersstufen geeicht worden. Ein Bericht hierüber wird
demnächst in der Zeitschr. f. angew. Psychol. erfolgen.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 79
vielmehr müssen die zu findenden Stellen aus offenkundigen Widersinnig-
keiten bestehen, die jeder ablehnen muß, der ihren Inhalt versteht. Hier-
durch ist es ferner möglich, die Kritikfähigkeit der Prüflinge exakt zu
vergleichen, da eine bestimmte Zahl von sinnwidrigen Stellen gefunden
werden soll und da außerdem diese Stellen in der Schwierigkeit der
Lösung abgestuft sein können.
Ich habe zwei solcher Texte hergestellt, die gegenwärtig von uns an
Schülern verschiedenen Alters durchgeprüft werden. Ihr Wortlaut, der
aber vielleicht noch auf Grund der Vorprüfungen hier und da verändert
werden wird, folgt weiter unten.
Text 1 enthält 10 Absurditäten, Text 2 deren 12. Der Schwierigkeit
nach sind die Absurditäten sehr verschieden.
Text 1 hat sich bei den Vorprüfungen als der bedeutend leichtere
erwiesen; er dürfte für 10 — 12 jährige geeignet sein. Text 2, der eine
Reihe schwieriger Beziehungsbegriffe (z. B. Verwandtschaftsverhältnisse)
enthält, scheint für 14— 16 jährige brauchbar.
Text 1.
An einem schönen Märztage machte vmjsere Klasse einen Tagesausflug. Obgleich
es die ganze Nacht geregnet hatte, waren die Wege morgens recht naß und schmutzig ;
doch störte das nicht unsere Wanderlust. Wir kamen durch einen Wald, der aus lauter
Tannen vind Kiefern bestand. Leider waren die Bäume wegen der frühen Jahreszeit
noch ganz kahl ; wie herrlich muß es im Sommer sein, wenn die Bäume erst durch
dichten Schatten gegen den Sonnenbrand schützen! Einmal sahen wir in der Feme ein
wildes Kaninchen vor uns herlaufen. Ich jagte ihm nach, aber da es ständig schneller
lief als ich, konnte ich ihm nur langsam näher kommen und fing es schließlich.
Aber ich quälte es gar nicht, sondern ließ es bald wieder laufen, da ich an den Spruch
dachte: „Die Freuden, die man übertreibt, verwandeln sich in Schmerzen." Dann
führte uns der Weg an Feldern vorbei, auf denen die Bauern die Getreideernte ein-
brachten. Mittags trafen wir in dem Dorf ein, wo wir bleiben wollten. Das Dörfchen
hatte vor einem Jahr dxu*ch ein Brandunglück schwer gelitten; der Kirch tvirn war
völlig niedergebrannt; zur Erinnerung war an der Stelle, wo die Turmspitze gewesen
war, eine Gedenktafel angebracht worden. Bei einer Meierei fragten wir an, ob wir
Milch und Käse bekommen könnten, es war aber nichts mehr vorhanden. Doch
sagte man uns, in einer halben Stunde werde gemolken, dann könnten wir sofort
beides bekommen, soviel wir wollten. Wir warteten gern und ließen es uns trefflich
schmecken. Die meisten blieben nun im Dorf; ich aber machte mit einem Freund
einen Abstecher auf einen hochgelegenen Aussichtspunkt. Wir stiegen eine halbe
Stunde bergauf, freuten uns an dem schönen Rundblick und kehrten dann auf einem
noch steileren, ebenfalls ständig ansteigenden Weg ins Dorf zurück.
Mit vielerlei Spielen verging uns der Nachmittag schnell; wir bemerkten kaum,
Kiaß die Schatten der Bäume kürzer und kürzer wurden, und waren überrascht, als
die Sonne unterging. Wir lagerten uns noch etwas am Ufer eines Sees, von dem
plötzlich dichter Nebel aufstieg. Aber dieser Nebel breitete sich nicht sehr weit aus.
Nur wir selbst waren ganz von ihm eingehüllt, und alle nahen Gegenstände verschwanden
ringsherum, dagegen waren ferner liegende Dörfer und Wälder deutlich für uns sichtbar.
Müde, aber sehr befriedigt kamen wir bei völliger Dtinkelheit zu Hause an.
Text 2.
Neulich machte unser Verein eine Landpartie; mittags kehrten wir in einer
Wirtschaft ein. Nach dem Essen teilte sich die Gesellschaft in drei Gruppen: die
eine Hälfte blieb plaudernd im Speisesaal, die zweite machte einen Spaziergang
durchs Dorf, die dritte sucht« den schönen Garten avif, der im Norden durch eine
80 William Stern
hohe Mauer gegen die stechenden Strahlen der Mittagssonne geschützt war. Ich
ging auch in den Garten und kam mit einem alten Herrn ins Gespräch. „Ich hörte
erzählen", so sagte dieser, ,,daß Sie von einem Rittergeschlecht aus der Zeit der
Kreuzzüge herstammen sollen, ist das wahr?" Ich antwortete: ,,Nein, das stimmt
nicht, es liegt eine Verwechslung mit meinem Vater vor, die mir schon öfter begegnet
ist." Auf seine Frage nach meinen Geschwistern erwiderte ich: ,,Ich habe drei
Brüder, Fritz, Hans und ich. Fritz hat die Gärtnerei erlernt und ist kürzlich, um
seinen Beruf aviszuüben, nach Spitzbergen im nördlichen Eismeer übergesiedelt;
Hans ist Buchhalter in einem Handl\ingshause und ich bin angestellt in einer großen
Kabelfabrik, wo wir die ungeheuren Kabellängen herstellen, die uns zum Zweck
der drahtlosen Telegraphie mit Ostafrika verbinden."
Nun erzählte der alte Herr von seinem Vater, Dieser war zweimal verheiratet
gewesen, das erste Mal mit einem adligen Fräulein, das zweite Mal mit einer armen
Lehrerin. Er selbst stammt aus der ersten Ehe des Vaters; er hatte nur eine Stief-
schwester, die, obgleich sie älter war als er, sich ihm doch in allem imterordnete
und fügte. Die Stiefschwester ist als jtmge Frau schon vor 18 Jahren gestorben.
Nun hat er die Sorge für ihre Kinder übernommen und ihr jüngstes Söhnchen erst
vor einem Jahre eingeschult.
Während wir so sprachen, begegneten uns zwei Herren, die sich außerordentlich
ähnlich sahen, namentlich bei dem einen war die Ähnlichkeit besonders auffallend.
Ich erfuhr, daß es Zwillinge waren. Der eine Zwillingsbruder ist ein berühmter
Arzt; als Zeichen für seine großen ärztlichen Erfolge wird berichtet, daß jährlich
etwa 50 Patienten in seiner Behandlung sterben. Der andere, zwei Jahre jüngere,
ist ein Rechtsanwalt, der als Verteidiger von Verbrechern einen Namen hat. Neulich
gelang es ihm, für einen Mörder ein milderes Urteil zu erwirken; er konnte nämlich
nachweisen, daß dieser den Mord nicht aus Leidenschaft oder aus Notwehr, sondern
mit Vorbedacht begangen hatte.
Die Texte sind zu mündlichem oder zu schriftlichem Versuch zu ver-
wenden (in letzterer Form auch für Klassenversuche). Die Instruktion
für die Prüflinge müßte etwa folgendermaßen lauten:
„Jetzt sollt Ihr einmal etwas Ähnliches machen, wie wenn ein Lehrer
einen Aufsatz korrigiert. Diese Geschichte lest Euch genau und langsam
durch. Es sind einige Stellen darin, die einen Unsinn enthalten; diese
sollt Ihr herausfinden und daneben schreiben, warum sie falsch sind. Es
kommt nicht darauf an, Fehler der Rechtschreibung und der Interpunktion
zu finden; nur auf Unsinnigkeiten des Inhalts soll geachtet werden."
Bei mündlicher Prüfung muß der Prüfling den Text langsam und laut
vorlesen und bei jeder bemerkten Absurdität sofort angeben, was wider-
sinnig ist. Ein Protokollant muß, wenn möglich stenographisch, die
kritischen Äußerungen mitschreiben. Der Versuchsleiter darf auf fragende
Blicke in keiner Weise reagieren. Sind bei der erstmaligen Lesung nicht
alle Stellen gefunden, so läßt man noch einmal lesen, und ruft bei Jeder
etwa übergangenen Stelle: „Halt!" Es wird also nun die Kritikfähigkeit
der ersten Stufe ins Spiel gesetzt.
Bei schriftlichen Prüfungen darf das vorgelegte Textblatt nur zum Teil
bedruckt oder beschrieben sein; mindestens die Hälfte des Blattes muß für.
die schriftliche Kritik frei bleiben.
Die Ergebnisse können zahlenmäßig in 4 Gruppen geteilt werden
1. Überhaupt nicht bemerkte Unsinnigkeiten („Auslassungen"), 2. Richtig
bemerkte und richtig kritisierte Absurditäten („Treffer"); dazwischen stehen:
3. Kritiken an falscher Stelle, wo gar keine wirkliche Absurdität vorliegt
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher gj
(„falsche Reaktionen")- 4. Richtig bemerkte, aber nicht zutreffend kriti-
sierte Widersinnigkeiten („Fehlkritiken").
Neben den rein zahlenmäßigen Angaben ist aber gerade bei diesem Test
die qualitative Bewertung wichtig, denn die richtige Kritik einer Ab-
surdität kann in sehr verschiedenem Grade sprachlicher und logischer Voll-
kommenheit ausgeübt worden sein.
Eine Erweiterung dieses Tests wird soeben für die erneute Aufnahmeprüfung
zum Lehrerinnenseminar vorbereitet. Es werden in den Text 2 noch eine Reihe
weiterer Fehler hineingearbeitet, die nicht logischer Natiir sind, sondern sich auf
Grammatik, Syntax und Interpunktion beziehen. So kann geprüft werden, ob
eine Weite der Aufmerksamkeit besteht, die außer der Hauptaufgabe zugleich
gewisse Nebenaufgaben zu bewältigen vermag. Natürlich muß dann die In-
struktion für die Versuchspersonen entsprechend geändert werden.
Das gleiche Prüfungsprinzip läßt sich ohne Schwierigkeit auch auf bildliche
Darstellungen anwenden. Man kann entweder eine ganze Serie von Einzel-
bildern der Reihe nach vorlegen, von denen die meisten sinnvoll sind,
nur einige mit Absurditäten wie in unseren obigen Beispielen (s. S. 15) durch-
setzt sind. Oder man kann Bilderbogen ohne Text herstellen, die an manchen
Stellen Sinnwidrigkeiten der Handlung enthalten. Endlich kann man solche
zusammenhängenden Handlungen mit eingestreuten Absurditäten auch im
Film vorführen. Eine Herstellung derartiger Tests hat meines Wissens
noch nicht stattgefunden.
IV. Begriffserklärungen.
Die Anwendung von Begriffsdefinitionen zum Zweck der Intelligen z-
prtifung begegnet uns im Binet-System und anderwärts. Das Definieren
ganz" leichter konkreter Begriffe, wie ,,Stuhr*, ,, Puppe" usw. kommt für
unsere Aufgabe nicht in Frage (Bobertag verlangt sie in seinem deutschen
Binet-System von Fünfjährigen in elementarer, von Neunjährigen in voll-
kommenerer Form); dagegen treten bei dem Versuch, schwerere Begriffe
zu erklären, sehr charakteristische Intelligenzunterschiede älterer Schüler
hervor. Bobertag legt den Elf- und Zwölfjährigen die drei Begriffe „Neid",
,, Mitleid", „Gerechtigkeit" vor und betrachtet den Test als gelöst, wenn
mindestens zwei in der Form von Anschauungsbeispielen erläutert werden
(„Mitleid ist, wenn . . .").
Umfassenderes Material bot die Massenuntersuchung von A. Gregor^),
der an Erwachsenen (Krankenpflegern und -pflegerinnen) und an Schülern
beiderlei Geschlechts aus acht Schulstufen 37 Begriffe definieren ließ,
derart, daß jeder Begriff jeder Altersstufe vorgelegt wurde. Die statisti-
schen Ergebnisse habe ich selbst für die speziellen Zwecke der Eichung
umgerechnet 2) und hierbei gefunden, daß sich im wesentlichen drei Gruppen
von Begriffen unterscheiden lassen:
1) Untersuchvmgen über die Entwicklung einfacher logischer Leistungen (Be-
griffserklärungen). Zeitschrift für angewandte Psychologie 10, 339 — 451, 1915.
*) Über Alterseichung von Definitionstests, eine methodologische Untersuchung
auf Grund der Massenversuche von A. Gregor. Zeitschrift für angewandte Psycho-
logie 11, S. 90 ff.. 1916.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 6
82 William Stern
Konkrete Begriffe (z. B.: „Laube", „Tür", „Stuhl", „Zelt"), deren
richtige Definition vom 4. Schuljahr zu verlangen ist;
,,halb abstrakte" Begriffe, die auf politische und soziale Einrichtungen
gehen und im 7. Schuljahr gefordert werden können (z. B.: ,, Obrigkeit",
,, Bündnis", „Kolonie", ,, Gesetz");
ganz abstrakte Begriffe aus dem Gebiet der Ethik und Logik (z. B.:
„Gerechtigkeit", „Sitte", „Mut", „Irrtum", „Urteil"); sie sind dem
8. Schuljahr zuzuschreiben.
Aber auch diese Verrechnung konnte nicht als befriedigendes End-
ergebnis gelten. Gregor hatte seine Versuchspersonen lediglich nach Schul-
stufen gegliedert, nicht nach Altersstufen, die für uns weit wichtiger
sind ; er hatte sich auf schriftliche Massenversuche beschränkt, ohne fest-
zustellen, ob sich deren Ergebnisse ohne weiteres mit den bei mündlicher
Einzelprüfung zu erzielenden Resultaten decken. Endlich ist seine Wertungs-
weise ( in „Nullfälle", „falsche Fälle", „primitive", ,, richtige" und „kor-
rekte" Definitionen) nicht durchsichtig genug, um bei weiteren psycho-
logischen Begriffsprüfungen übernommen werden zu können.
Deshalb schienen neue Erprobungen dieser Testform erforderlich,
und solche sind inzwischen einerseits von Karstadt, andererseits von
unserem Laboratorium vorgenommen worden. Karstadt wandte neben
vielen anderen Tests auch Definitionen an, um für die Binetschen Tests
teils brauchbare Ersatzserien, teils die sehr wünschenswerten Parallelserien
zu schaffen^). Unsere eigenen Versuche gelten der speziellen Aufgabe, solche
Begriffe zu finden, die zur Feststellung höherer Begabung von Zehnjährigen
geeignet sind. Deshalb mußten zehn-, elf- und Zwölfjährige Kinder geprüft
werden.
Herr Oberlehrer Roloff, der diese Prüfung übernommen hatte, war in
der Lage, sämtliche Knaben dieses Alters, die in der Stadt Bergedorf
bei Hamburg eine Volks- oder eine höhere Schule besuchen (über 1200)
zu prüfen. Es geschah im schriftlichen Massenversuch; aber daneben ging
bei einer kleineren Zahl auch eine mündliche Prüfung einher, um die
Ergebnisse beider Verhaltungsweisen zu vergleichen. Sowohl bei den
Vorbereitungen des Versuchs, wie bei der Verarbeitung und statistischen
Verwertung war die Lehrerin Fräulein Friedag als Mitarbeiterin des
Herrn Roloff tätig. *
Mit Absicht wurden Begriffe sehr verschiedener Beschaffenheit und
Schwierigkeit gewählt, wobei wir im voraus damit rechneten, daß sich
einige von diesen als weniger geeignet erweisen würden.
Es waren teils abstrakte, teils halb abstrakte, teils konkrete Begriffe.
Einige setzten gewisse positive Kenntnisse oder Lektüre bestimmter
Art („Skalp"!) voraus. Die meisten waren so beschaffen, daß eine wenn
auch unbestimmte Bekanntschaft mit dem Begriff bei jedem normalen
Knaben ohne weiteres angenommen werden konnte; das Problem war
nur, wie weit die Prüflinge imstande waren, sich über den Inhalt ihrer
Vorstellung Rechenschaft zu geben und sie klar und logisch zu formulieren.
^) Er wird darüber demnächst in der Zeitschrift für angewandte Psychologie
berichten.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 83
Die Liste, welche absichtlich die Begriffe verschiedener Form und
Schwierigkeit ungeordnet vermischt darbietet, war die folgende:
„Briefträger", „Insel", „U-Boot", „Geiz", „Mut", „Manöver", „Vetter",
„Lüge", „Skalp", „Neid", „Beute", „Miete", „Onkel", „Wehrpflicht".
Den Lehrern, die bei dem Versuch beteiligt waren, wurde die folgende
Anweisung gegeben:
I. Vorbereitung.
Um den Bändern klar zu machen, was von ihnen verlangt wird» entwickelt man
gemeinsam mit ihnen die Definitionen von
1. Hammer, 2. Mitleid.
Die Definition von „Hammer" ist zu bringen auf die Form":
Hammer ist ein Werkzeug, mit dem man schlägt.
Üie Definition von „Mitleid" ist zu bringen auf die Form:
Mitleidig ist man, wenn einem die Not eines andern leid tut.
Aufforderung an die Kinder: Denkt nach, wie ihr jemandem möglichst genaa
erklären könnt, was die folgenden Wörter bedeuten.
II. Der Versuch.
Den Kindern wird der erste Begriff der obigen Reihe genannt und an die Tafel
geschrieben. Es wird eine Besinnzeit von etwa ^/g Minute gewährt; während dieser
Zeit darf kein Kind schreiben. Die schriftliche Beantwortung beginnt nach einem
verabredeten Zeichen «Äer Wort. (Schreibt!) Sie beansprucht erfahrungsgemäß
eine Zeit von etwa 1 Minute; diese Zeit ist nicht wesentlich zu überschreiten; wer
fertig ist, hat die Feder hinzulegen.
Hierauf wird der zweite Begriff der obigen Reihe genannt ixnd angeschrieben
(sofortiges Anschreiben der ganzen Reihe ist zu vermeiden) und in gleicher Weise
erledigt wie der erste usw.
Fragen der Kinder sind nicht zu beantworten, gegenseitige Hilfen (Absehen, Vor-
sprechen und dgl.) möglichst zu verhindern.
Auf jeder Arbeit Name und Klasse von den Bändern vermerken lassen. Es wird
gebeten, das Lebensalter der Kinder in Jahren und vollendeten Monaten hinzuzufügen.
(12 Jahr 7 Monate ist z. B. zu schreiben: 12; 7.)
Die Bearbeitung des Materials ist gegenwärtig im Gange ; es zeigt sich
schon jetzt, daß gewisse Begriffe für unsere Testzwecke sehr geeignet sind.
Bei manchen von ihnen tritt ein starker Altersfortschritt gerade in den
geprüften Jahrgängen von 10 — 12 auf; diese Definitionsaufgaben würden
sich also dazu eignen, die besonders intelligenten Zehnjährigen festzustellen.
^Andere Begriffe haben' selbst bei den Zwölfjährigen nur eine verhältnis-
mäßig kleine Zahl richtiger Lösungen gefunden ; sie werden also für Prüfun-
gen älterer Jahrgänge verwendbar sein.
Aus den statistischen Berechnungen von Herrn Roloff und Frl. Friedag kann
bereits ein Befund von bemerkenswertem Interesse verzeichnet werden: Die
gleichalterigen Knaben der drei Schultypen Gymnasium, Realschule, Volksschule
zeigen bedeutende Unterschiede in den Definitionsleistungen; und zwar ist die
Rückständigkeit der Realschüler gegen die Gymnasiasten merkwürdiger Weise größer,
als die der Volksschüler gegen die Realschüler. Wieweit die Verschiedenheiten
der sozialen Umwelt, der Wissens-, der Ausdrucksfähigkeit und der eigentlichen
Intelligenz an dieser Differenzierung der Leistungen beteiligt sind, ist jetzt noch
nicht festzustellen.
6*
84 William Stern
V. Der Fabel-Test.
Eine der Hauptaufgaben des Denkens besteht darin, aus einem kon-
kreten, umfangreicheren Vorstellungsinhalt den wesentlichen Kern-
gedanken herauszuholen und ihn in seiner über den Einzelfall heraus-
gehenden allgemeineren Bedeutung zu erfassen. Hierbei genügt es
eben nicht, den dargebotenen Inhalt einfach hinzunehmen und in seiner
konkreten Beschaffenheit aufzufassen; er muß umgeformt werden, indem
einerseits die verschiedenen Teile als verschieden wichtig beurteilt, die
unwesentlichen fortgelassen und die wesentlichen isoliert werden, und
indem andererseits an diesem G-rundinhalt selber die konkrete Gestaltung
zu einem allgemeinen Gedanken verallgemeinert wird.
Hierher würde die Aufgabe gehören, die Pointe eines Witzes zu erfassen ;
aber das Witzverständnis ist vermutlich eine verwickeitere Fähigkeit,
zu der nicht nur eine gewisse allgemeine Intelligenzhöhe, sondern auch eine
spezifische, bisher noch nicht näher untersuchte Begabung für Humor,
Paradoxie und Überraschung gehört. Daher kommt es, daß viele zweifel-
los intelligente Menschen Witzen gegenüber überraschend hilflos sind^).
Für unsere Zwecke ist es daher besser, den Paradoxiefaktor auszuschalten
und bei einem ernsthaften Stoff die Herausarbeitung des Grundgedankens
zu fordern. So manche Wege sind hier denkbar ; die Benutzung von Bildern
oder Bilderserien, von technischen Apparaten, von sprachlichen Texten.
Unter den letzteren sind solche besonders geeignet, (üe von vornherein die
Bestimmung haben, einen abstrakten Kerngedanken in konkreter Form
darzustellen: das sind die Fabeln. Diese dienen allein dem Zweck,
daß der Leser die ,, Moral von der Geschieht'" erfasse. Wann sind Kinder
zu dieser gedanklichen Leistung fähig, und in welcher Weise äußert sich
bei Fabelaufgaben der Unterschied der Intelligenzgrade ?
Wir sind augenblicklich nicht zu einer Beantwortung dieser Fragen
fähig, sondern können nur den Weg angeben, auf dem wir das Problem
bearbeiten. Der Fabel-Test ist von den Amerikanern Terman und Childs
vorgeschlagen; später hatte Meumann die Absicht, ihn zu verwenden.
Fräulein Leonora Heitsch, welche die Bearbeitung dieses Tests über-
nommen hatte, benutzte sieben der von Terman und Childs vorgeschlage-
nen Fabeln und drei, die Meumann in einem nur handschriftlich vorhandenen
Testentwurf zusammengestellt hattet). Es sind die folgenden:
/. Fabeln nach Terman und Childs^
1. Das Milchmädchen und seine Pläne.
Ein Milchmädchen trug einen Krug mit Milch auf dem Kopfe und überlegte
folgendes: Mit dem Gelde, welches ich für diese Milch erhalte, kann ich 300 Eier
kaufen. Aus diesen Eiern werde ich mindestens 200 Küchlein bekommen. Mit dem
Gelde, welches die Küchlein einbringen werden, kann ich mir ein neues Kleid kaufen.
Mit diesem Kleide werde ich mit den jungen Burschen zum Tanze gehen, die werden
mich alle heiraten wollen, aber dann werfe ich meinen Kopf in den Nacken und ver-
1) Eine ähnliche Kombination allgemeiner Intelligenz mit einer noch wenig bekann-
ten Spezialfähigkeit liegt auch bei der Begabimg zum Rätselraten vor.
») Wir machen mit frdl. Zustimmung von Frl. Meta Meumann davon Gebrauch.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 85
schmähe sie alle. Im selben Augenblick warf sie in Gedanken den Kopf zurück,
der Krug mit Milch fiel zerschmettert zu Boden, und alle ihre Luftschlösser wurden
in einem Augenblick zertrümmert.
2. Merkur*) und der Holzfäller.
Ein Holzfäller ließ einmal eine Axt in einen tiefen Teich fallen. Er setzte sich
auf eine Bank und bejammerte seinen Verlust. Da erschien Merkur, sprang in den
Teich, brachte eine goldene Axt zum Vorschein und fragte, ob das die verlorene sei ?
Als der Mann dies verneinte, tauchte Merkur ein zweites Mal unter und brachte eine
silberne Axt heravif . Als der Mann nun sagte, dies sei immer noch nicht die seinige,
tauchte der Gott ein drittes Mal und holte die richtige Axt herauf. Der Mann nahm
sein Eigentum mit Freuden in Empfang, und Merkur hatte solche Freude über ihn,
daß er ihm die goldene und die silberne noch dazu schenkte.
3. Die Ameise und die Grille.
Eine Grille, die den ganzen Sommer fröhlich gesungen hatte, starb im Winter
fast vor Hiinger. Da ging sie zu einigen Ameisen, die in der Nähe wohnten, und bat
sie, ihr etwas von iliren aufgespeicherten Vorräten zu leihen. „Was hast du im Sommer
getan?" fragten sie. ,,Tch habe Tag und Nacht gesvmgen," antwortete die Grille.
,,So, gesungen hast du," sagten die Ameisen, ,,ntm dann kannst du jetzt ja tanzen."
4. Der Storch und die Kraniche.
Ein Bauer stellte einige Fallen auf, um Kraniche zu fangen, die seine Saaten fraßen.
Mit den KJranichen zusammen fing er einen Storch. Der Storch bat den Bauern, sein
Leben zu schonen, er müsse Mitleid mit seinem gebrochenen Bein haben, er sei ein
Vogel von ausgezeichnetem Charakter und durchaus nicht wie die Kraniche. Der
Bauer lachte und sagte: „Ich fing dich mit diesen Räubern, den lüanichen, zusammen
und du mußt mit ihnen sterben."
5. Herkules') und der Fuhrmann.
Ein Fuhrmann fuhr die Landstraße entlang, als die Räder auf einmal in einen
tiefen Graben versanken. Er tat nichts, schaute mar auf seinen Wagen und rief
Herkules laut um Hilfe an. Herkules kam und sagte zu ihm: ,, Drücke mit deiner
Schulter das Rad aus der Furche und sporne deine Ochsen an, mein lieber Mann,"
dann ging er weiter und ließ den Fuhrmann stehen.
6. Der Knabe und die Nüsse.
Ein Knabe langte mit seiner Hand in ein Gefäß mit Nüssen und ergriff so viele,
als er nur halten konnte, aber es war ihm nicht möglich, die Hand mit den Nüssen
aus dem Hals des Gefässes wieder herauszuziehen. Die Nüsse wollte er aber auch
nicht preisgeben, so fing er an zu weinen, die Nüsse aber hielt er fest.
7. Der Adler und die Schildkröte.
Eine Schildlcröte beschwerte sich bei den Vögeln darüber, daß keiner sie fliegen
lehren wollte. „Nun denn," sagte.der Adler, „ich will dich fliegen lehren," und nahm
«sie hoch mit, bis fast in die Wolken. Dann ließ er sie plötzlich fallen und sie zerschmet-
terte auf den Felsen.
//. Ans der Meutnann' sehen Sammlung.
1. Ein Rabe saß auf einem Baum und hatte einen Käse im Schnabel. Da kam
ein Fuchs und sagte zu dem Raben: ,,Wie schön kannst du singen!" Der Rabe fühlte
^) „Merkur" wäre für deutsche Kinder besser durch ,, Rübezahl" oder den
, .Berggeist" zu ersetzen.
*) Vgl. die vorige Anm.
86 William Stern
sich geschmeichelt und wollte gleich seine Stimme hören lassen. Als er den Schnabel
öffnete, entfiel ihm der Käse, im^d der Fuchs schnappte ihn auf.
2. Zwei Ziegen begegneten sich auf einem schmalen Stege, der über einen tiefen
und breiten Graben führte. Da keine zurückweichen wollte, wuurden sie so zornig,
daß sie mit ihren Hörnern gegeneinander rannten. Bei dem heftigen Stoß aber stürzten
beide und fielen in das Wasser. Niu* mit großer Mühe konnten sich die beiden
Ziegen an das Ufer retten.
3. Ein Hxm.d lief mit einem Stück Fleisch durch einen Wasserstrom. Als er das
Fleisch im Wasser sich spiegeln sah, meinte er, es wäre auch Fleisch und schnappte
daher gierig danach. Als er das Maul auf tat, entfiel ihm das Stück Fleisch, imd
das Wasser führte es weg.
4. Eine Henne fand ein Nest voll junger Schlangen, die waren von der Kälte
ganz erstarrt und schon halb tot. Die gute Henne setzte sich voll Mitleid darauf,
tma sie zu erwärmen. Allein sobald die jungen Schlangen wieder zum Leben kamen,
bissen sie die Henne tot.
Die Fabeln sind bisher bauptsäcblich bei Mädchen der Altersstufen
10 bis 12 Jahre durchgeprüft worden; es zeigte sich — bei sehr ver-
schiedenen Lösungsprozenten der einzelnen Fabeln — im ganzen ein be-
deutender Alterszuwachs vom 10. bis zum 12. Jahre. Als leichtere Fabeln,
die für gut begabte Kinder dieser Jahrgänge brauchbar sein dürften, er-
wiesen sich Nr. 1, 2, 5, 6, 7 der ersten Serie, Nr. 3 der zweiten Serie.
Schwerer und daher nur für höhere Jahrgänge verwendbar waren :
Nr. 3, 4 der ersten, Nr. 2, 4 der zweiten Reihe. Das Prüfungsverfahren
schildert Fräulein Heitsch in folgender für ihre Mitarbeiter bestimmten
Anweisung :
Anweisung.
I. Aufgabe.
Es handelt sich darum, in einem schriftlichen Klassen versuch niederzulegen, welches
Verständnis der Moral gewisser Fabeln bei den Versuchspersonen vorhanden ist.
II. Versuchsanordnung:
1. Vorversuch.
Bemerkung: Um die richtige Einstellung der Versuchsperson zu erreichen,
erfolgt ein mündlicher Vor versuch. Benutzt wird zin* Demonstration die Fabel: ,,Der
Rabe und der Fuchs".
Versuchsgang: Ich werde euch eine Fabel vorlesen. Ihr wißt, was eine Fabel ist ?
(Zu verlangen, daß den Kindern bewußt wird, daß die Fabel eine Lehre vermittelt.)
Nachdem ich euch die Fabel vorgelesen habe, werde ich euch fragen: ,,Was lernen
wir aus dieser Fabel T" (Dtxrch Kontrollfragen ist festzustellen, daß die Aufgabe
erfaßt ist. Etwa: „Worauf habt ihr also zu achten ?" Auf die Lehre. — ,,Was nicht
angeben ?" Den Inhalt; die Eigenschaften.) Nach der Ankündigung: ,,Ich lese jetzt
die Fabel vor!" erfolgt die Lektüre.
Man läßt allen Kindern eine Minute Besinnzeit imd nimmt dann erst Antworten
entgegen. Antworten, die reine Inhaltsangaben oder Beiirteilung der Handelnden
erkennen lassen, dienen dazu, den Kindern möglichst durch Selbstkritik die falsche
Einstellvmg aiifzuweisen und sie nachdrücklich zvir richtigen zu führen. — Es ist
auf Kürze der Fassung Wert zu legen. Nachdem die Überzeugung gewonnen ist,
daß die Klasse die richtige Einstellung hat, schreitet man zum eigentlichen Versuche,
bei dem die Antwort schriftlich niedergelegt wird.
2. Hauptversuch.
a) Ankündigung: Ich lese eine andere Fabel vor. Diesmal wird die Lehre auf-
geschrieben!
b) Äußere Vorbereitung: Verteilen der Blätter. — Aufschreiben des Namens
und Geburtsdatums (Tag, Monat, Jahr) rechts oben. — Hinweis, daß es nicht aiif
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 87
Schreibrichtigkeit ankommt. — Neue Reihe. — Fortlaufende Nummerierung. —
Versagen durch wagerechten Strich andeuten.
c) Vorlesen (s. oben).
d) Niederschreiben der Antwort:
Es ist streng darauf zu achten, daß das Niederschreiben erst nach dem völligen
Vorlesen und dem Ablauf der gewährten Besinnzeit auf das Kommajido: „Schreibt
nun!" erfolgt. Zwischenfragen sind ausgeschlossen.
Es empfiehlt sich aber, vor dem Kommando zum Niederschreiben die Kinder kurz
aufzufordern, durch Fingerheben anzuzeigen, ob sie ein nochmaliges Vorlesen wünschen,
und diesem Wunsche in weitgehendem Maß (etwa schon bei einem Sechstel der Zahl)
Rechnving zu tragen.
Der Versuchsleiter merkt auf einem Begleitblatt die Wiederholungszahl jeder
Fabel an.
Nach dem Niederschreiben ist zu fragen, wem die Fabel bekannt war, und von
diesen ist in Klammer das Wort „bekannt" imter der Antwort zu vermerken.
e) Nach Fertigstellvmg der letzten Antwort werden die Blätter eingesammelt
und ohne jede Korrektur gelassen, damit sie als psychologisches Material verwend-
bar sind.
VI. Satzbildung aus Stichwörtern.
Nur kurz sei der Vollständigkeit halber erwähnt, daß auch eine Er-
probung des „Dreiwörter-Tests" (Bildung eines sinnvollen Zusammen-
hangs aus drei Stichwörtern) bei uns im Gange ist. Diese, früher ,, Masseion-
Test" genannte, Prüfungsform spielt bekanntlich auch im Binet-System
eine Rolle und zwar mit den nicht gerade glücklich gewählten Wörtern
,, Paris — Fluß — Geld". Systematisch ausgebaut wurde der Test von Pior-
kowski^), dessen Wortmaterial auch unsern Versuchen zugrunde gelegt
wird. Einen kurzen Auszug der Hauptergebnisse Piorkowskis gab ich
an anderer Stelle ^). Der Test prüft bald mehr die Fähigkeit zu sachlich-
logischer Gedankenverknüpfung, bald mehr die kombinatorische Phan-
tasie; welche dieser beiden Funktionen mehr getroffen wird, hängt teils
von dem Typus der Prüflinge, teils von der Instruktion ab. Die Schwierig-
keit des Tests ist natürlich bei den verschiedenen Wortgruppen sehr ver-
schieden groß; außerdem sind durch die Art der Aufgabestellung zwei
Hauptabstufungen der Schwierigkeit möglich. Es wird entweder eine
sinnvolle Lösung verlangt — in dieser Form wird der Test von uns bei
Zehn- bis Zwölfjährigen durchgeprüft. Oder die Aufgabe lautet, mehrere
(oder: möglichst viele) recht verschiedene Lösungen für jede Wortgruppe
zu finden; hier wird die Beweglichkeit und der Reichtum der Denk-
beziehungen geprüft. Die letztere Methodik haben Moede und Piorkowski
neuerdings für die Auslese übernormaler Vierzehnjähriger verwandt.
Die Liste der von Piorkowski gebildeten Wortgruppen, die auch unserer
'Nachprüfung zugrunde gelegt sind, lautet 3):
^) C. Piorkowski. Untersuchungen über die Kombinationsfähigkeit bei Schul-
kindern. Pädagogisch-psychologische Arbeiten des Leipziger Lehrervereins i, S. 55 ff.,
1913.
") Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendl. 2. Auflage. 1916. S. 150 ff,
') Wir geben sie hier wieder, da sie bisher nur an einer etwas versteckten Stelle
abgedruckt war. In der Original arbeit gibt P., was sehr dankenswert ist, eine Über-
sicht über die für jede Wortgruppe vorgekommenen Lösungen, nebst deren Bewertung
durch den Versuchsleiter.
88 William Stern
1. Pferd — Biene — heruntergefallener Reiter.
2. Jäger — Sonne — vorbeigeschossen.
3. Dieb — Fenster — Wunde.
4. Neugieriger Junge — Türe — Nasenbluten.
5. Seiltänzer — böser Mensch — Schrei.
6. Wolkenbruch — fortgeschwemmtes Haus — treuer Hund.
7. Bäckerjunge — hoch vorbeifliegender Luftballon — Prügel.
8. Fast verdursteter Hund — mitleidiger Mensch — verhinderter ÜberfalL
9. Katze — Baum — herausgerissene Federn.
10. Spaziergänger — Sturm — Loch im Kopf.
11. Einbrecher — Bibel — umkehren.
12. Verfolgter Reiter — Mauseloch — Gefangennahme.
13. Wohltäter — undankbarer Mensch — Polizei.
14. Regen — ■ Kälte — zerbrochener Krug.
15. Landmann — große Hitze — Diebstahl.
16. Soldaten im Lager — sternlose Nacht — große Verwirrung und Geschrei.
17. Elektrische Bahn — Lärm — Blut.
18. Dieb — Feuer anlegen — einbrechen.
19. Sturm — verhütetes Eisenbahnunglück — Belohnung.
20. Stehengebliebene Uhr — geschehenes Eisenbahnunglück — Freude.
21. Guter Getreidestand — fauler Bauer — Verzweiflung.
22. Spiegel — heranschleichender Mörder — Rottung.
23. Betrügerischer Fleischer — Kühe — Salz.
24. Wasserhahn — Festzug — Stube voll Wasser.
Die von unserm Seminarmitglied Dr. Angelstein vorgenommene Erprobung
des Tests erstreckte sich auf die Wortgruppe 11, 13, 15, 16, 18, 20, 21, 22;
dazu auf die weitere Wortgruppe: Reise — treuer Hund — Freude. Die
Niederschriften wurden als Versager, halbrichtige und ganzrichtige gewertet.
Bei den drei Jahrgängen von Schülern einer höheren Schule ergab sich
folgender Prozentsatz richtiger Lösungen:
Reise
Wortgruppe 11 13 15 16 18 20 21 22 tr. Hund
Freude
Richtige Lösungen ^ 10— 11 J. 36 29 14 20 18 18 20 36 41
in o/o bei Kindern J 11— 12 J. 45 60 40 20 27 12 25 50 44
im Alter von ) 12—13 J. 69 34 59 44 37 56 15 56 66
Man erkennt den bedeutenden Unterschied in der Schwierigkeit. Einige
Gruppen (z. B. 18, 21) sind für die geprüften Altersstufen zu schwer. Bei
anderen ist ein deutlicher Leistungsaufstieg von den 10 jährigen zu den
12 jährigen zu bemerken (z. B. bei 11, 15, 20 und der neuen Wortgruppe).
Diese würden also für normale 12 jährige — und demnach auch wohl zur
Feststellung besonders befähigter 10 jähriger — brauchbar sein.
2. Sprachlose Tests.
Wir behandeln hier vornehmlich eine Reihe von „Ordnungstests", die in
unserem Seminar ausgearbeitet worden sind; mehr anhangsweise wird auf
„Zuordnungstests" hingewiesen.
Im Binetschen Staffelsystem gibt es nur wenige Tests, die nicht sprach-
liche Äußerungen beanspruchen; unter diesen ist jene Aufgabe. die weitaus
beste, welche das Ordnen von 5 Gewichten verlangt. 5 kleine völlig gleich
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 89
aussehende Kästchen, die aber durch verschiedene Füllung an Gewicht
merklich verschieden sind, werden dem Prüfling vorgelegt. Der Prüfer
sagt, daß diese Kästchen nach der Schwere zu ordnen seien, und macht
es einmal vor; der Prüfling hat es dreimal nachzumachen. Natürlich darf
der Gewichtsunterschied nicht so gering sein, daß der Ausfall von der
peripheren Unterschiedsempfindlichkeit des Prüflings abhängen könnte;
für die Intelligenzprüfung kommt es ja nur darauf an, daß der Prüf-
ling die Aufgabe versteht, daß er das Merkmal der Schwere aus allen an
den Kästchen wahrnehmbaren Merkmalen isolierend heraushebt, und daß
er imstande ist, den Gedanken der aufsteigenden Schwere dauernd dem
Vergleich der einzelnen Elemente zugrundezulegen. Er muß ferner von
selbst darauf kommen, daß es nicht genügt, je zwei Kästchen zu ver-
gleichen und nebeneinander zu legen, sondern daß jedes neu einzu-
ordnende Kästchen mit allen schon vorher geordneten verglichen werden
muß. All dies sind ausgesprochene Denkanforderungen; und in der Tat
bietet bei diesem Test nicht nur die schließliche richtige oder falsche
Lösung, sondern auch das Verhalten des Prüflings während des Versuchs
Anhaltspunkte zur Einschätzung seiner Intelligenz.
Dieser Test ist für das Alter 9 Jahr angesetzt. Mir schien nun das
hier zum Ausdruck kommende Prinzip des „Ordnens nach einem lei-
tenden Gesichtspunkt" so wertvoll, daß ich seine Erweiterung auf
andere Ordnungsgesichtspunkte und zugleich seine Übertragung auf ältere
Jahrgänge anstrebte. Die Ausbildung und Erprobung solcher Ordnungs-
tests wurde ebenfalls bereits mit Breslauer Seminarteilnehmern begonnen;
sie wird jetzt mit Hamburger Seminarteilnehmern fortgesetzt, insbesondere
hat hier die Lehrerin Frl. Martha Muchow die Durchprüfung übernommen.
Wie schon angedeutet, verlangt der Test vor allem eine gewisse Ab-
straktionsleistung: der Prüfling muß fähig sein, an den Objekten ein
vergleichbares Merkmal zu beachten und von allen anderen Eigenschaften
dabei abzusehen. Sodann wird verlangt, daß er dieses Merkmal zur
Grundlage einer Stufenordnung macht. Nun drängt sich als erste Ände-
rung gegenüber dem Binet-Test die Möglichkeit auf, daß man den Ge-
sichtspunkt, nach welchem geordnet werden soll, nicht darbietet, sondern
selbst finden läßt. Dadurch werden beträchtlich erweiterte Anforde-
rungen an die Abstraktionsfähigkeit gestellt. In unseren Versuchen wird
also bei der Vorlegung der durcheinander gemischten Reize lediglich die
allgemeine Aufforderung ausgesprochen: „Bringe sie in eine geordnete
Reihe!" oder: „Ordne sie der Reihe nach!"
' Zweitens läßt sich der Test ausbauen durch verschiedene Schwierigkeit
der verlangten Ordnung. Unsere Aufzählung beginnt mit einfachen, ein-
reihigen Ordnungen, die für das höhere Jugendalter zum größeren Teil
zu leicht sind, aber das Material für die Schaffung der anderen Ordnungen
(der erschwerten Einreihigkeit und der mehrdimensionalen Ordnungen) bieten.
Drittens sind Variationen möglich durch die Wahl der zu ordnenden
Gegenstände. Hier ist zu unterscheiden zwischen sensoriellen und logischen
Ordnungen. Die sensoriellen können den verschiedensten Sinnesgebieten
entlehnt werden; wir beschränken uns auf die am leichtesten herstellbaren
90 William Stern
und vielseitig verwendbaren optischen Reize, nämlich Figuren verschiedener
Größe, Helligkeit, Farbe und Form. Die logischen Ordnungen beziehen
sich auf Begriffsreihen und auf bedeutungsvolle Handlungszusammenhänge.
Bei sämtlichen Ordnungstests ist vom Versuchsleiter Folgendes fest-
zustellen:
1. Das Ergebnis der Legung. Bei falschen Lösungen genügt es nicht,
bloß den Vermerk „falsch" zu protokollieren; es müssen auch die Arten
der Fehler festgestellt werden. Zu diesem Zweck sind die Elemente jeder
Reihe in einer dem Prüfling unsichtbaren Weise zu nummerieren; die
Nummernfolge der gelegten Elemente wird dann protokolliert.
2. Die Zeitdauer der Arbeit, mit Stoppuhr zu messen.
3. Der Verlauf der Arbeit. Hier sind oft qualitative Beobachtungen zu
machen, die unter Umständen für die psychische Besonderheit des Prüflings
mehr besagen, als das schließliche Endergebnis. Vermutlich werden hier-
bei nicht nur Grade, sondern auch Typen der Intelligenzleistung
hervortreten: ob mehr systematisch oder sprunghaft gearbeitet wird, ob
erst viele Möglichkeiten durchgeprüft werden oder sofort mit intuitiver
Sicherheit das rechte Ordnungsprinzip gewonnen wird, ob Selbstkorrekturen
im größeren Umfang vorkommen, ob die Aufmerksamkeit immer nur auf
wenige Glieder der Reihe konzentriert wird oder möglichst viele Elemente
zu überschauen sucht usw.
4. Die gegebenen Hilfen. Art und Wortlaut dieser Hilfen sollten fest-
gelegt sein und während aller Versuche möglichst streng innegehalten
werden.
L Einreihige Ordnungen.
Bei der Herstellung jeder Reihe ist darauf zu achten, daß sich die
Einzelelemente nur bezüglich des Ordnungsgesichtspunktes deutlich unter-
scheiden, im übrigen aber gleich sind.
1. Größen unterschiede. Eine Reihe von Quadraten gleicher Farbe
und Helligkeit, aber zunehmender Größe. Statt der Quadrate können auch
andere Figuren (Kreise, Dreiecke, Sechsecke) gewählt werden.
2. Helligkeitsunterschiede. 5 gleich große Kreise: schwarz, dunkel-
grau, mittelgrau, hellgrau, weiß. Die Reihe kann natürlich durch Ein-
schiebung von Zwischenstufen vermehrt werden.
3. Zahlenunterschiede. Regelmäßige Vielecke gleicher Farbe und
gleichen Umkreises, aber steigender Seitenzahl. Wir benutzen die Figuren
vom Viereck bis zum Zehneck. Desgleichen Sternfiguren mit verschiedener
Strahlenzahl vom Vierstrahl bis zum Zehnstrahl. Je höhere Seiten-
bzw. Strahlenzahlen man hinzunimmt, umso schwerer wird der Test.
Denn bei den einfacheren Figuren können die Prüflinge dem anschaulichen
Eindruck folgen. Verlassen sie sich aber auch bei den schwereren Figuren
darauf, so treten häufig Verwechslungen ein, so z. B. zwischen Sieben-
und Achteck. Es ist daher darauf zu achten, ob der Prüfling bei den
schwerer erkennbaren Figuren von selbst darauf kommt, die Ecken
(Strahlen) zu zählen, ob er sich hierbei spontan gegen Verzählung sichert
(z. B. durch Festhalten einer Ecke) usw.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 91
Vorversuche ergaben, daß die Beachtung der Seiten- bzw. Strahlenzahlen
gar nicht so nahe liegt, wie man von vornherein annehmen möchte. Noch
manche zehnjährigen Kinder versuchen die Figuren nach der Größe zu
ordnen (obgleich hier kein eindeutiger Unterschied bestand) oder nach
ästhetischem Eindruck zusammenzulegen, unter Nichtachtung der steigen-
den Eckenziffer.
Eine Erschwerung erfährt die einreihige Ordnung in den
4. Lückenhaften Reihen. Man läßt beim Vorlegen ein Element (oder
auch mehrere Elemente) fort und stellt fest, ob das Fehlen des Gliedes be-
merkt wird. Eindeutig ist dies nur möglich bei der Reihe 3; wenn die
Vorlagen bestehen aus Dreieck, Viereck, Sechseck, Siebeneck, Achteck, so
muß bei einer gewissen Intelligenzstufe gefordert werden, daß der Prüfling
beim Ordnen das Fünfeck vermißt. Zeigt er dies nicht spontan durch
Freilassen des Platzes oder sprachliche Äußerung, so sind Hilfen zu geben.
Zunächst: „Gefällt dir die Reihe so oder könntest du sie dir besser
denken?" Wenn dies nicht ausreicht: „Fehlt eine Figur in der Reihe?"
Die Schwierigkeit ist leicht abzustufen, da das Fehlen des Fünfecks viel
leichter bemerkt wird als das des Siebenecks.
Bei Größen und Helligkeiten sind lückenhafte Reihen nur sehr schwer
herzustellen, da die einzelnen Glieder nicht eindeutig bestimmt sind. Hier
muß der Sprung so groß sein, daß er im auffälligen Gegensatz zu der
mäßigen Abstufung der anderen Glieder steht.
n. Mehrdimensionale Ordnungen.
Die Denkarbeit wird sofort ganz gewaltig erschwert, wenn nicht die
bloße Beachtung eines reihenbildenden Gesichtspunktes verlangt wird,
sondern deren mehrere vorhanden sind. Es sind dann unter Umständen
drei Aufgaben zu lösen: aus der vorgelegten Menge von Elementen die
zu jedem Gesichtspunkt gehörenden herauszusondern (analytische Aufgabe),
innerhalb jedes Gesichtspunkts die Reihen zu bilden (Synthese erster
Ordnung) und die gebildeten Reihen, wenn möglich zueinander in Be-
ziehung bringen (Synthese zweiter Ordnung).
5. Getrennte Reihen. Nur die erste der drei genannten Aufgaben, die
analytische, tritt als neue Forderung auf, wenn man die Elemente zweier
(oder mehrerer) von einander unabhängiger Reihen dem Prüfling
durcheinander gemischt vorgelegt. Nach der Deutlichkeit der Verschieden-
heit zwischen den Reihen sind hier die Schwierigkeiten stufenweise zu
variieren: wenn gleichgroße Kreise verschiedener Helligkeit und gleich-
• getönte Vierecke verschiedener Größe durcheinander gemischt vorgelegt
werden, so ist die Scheidung leichter, als wenn man die Kreise mit Zehn-
ecken mischt, die schon viel kreisähnlicher sind. Eine stärkere Erschwerung
wird durch Benutzung gleicher Formen herbeigeführt: gleichgroße Kreise
verschiedener Helligkeit in Mischung mit gleichhellen Kreisen verschiedener
Größe. Hierbei darf aber kein Glied so beschaffen sein, daß es beiden
Reihen angehören könnte (das wäre schon Aufgabe 6). Weitere Beispiele
solcher Mischungen lassen sich aus den unter 1, 2, 3 genannten Tests
in beliebiger Anzahl bilden.
92
William Stern
6. Gekreuzte Reihen. Ein ganz neuer und besonders schwerer Typus
von Aufgaben scheint darin zu bestehen, zwei Reihen auf Grund eines
gemeinsamen Gliedes mit einander zu kreuzen. Wenigstens ergab sich bei
Vorversuchen, daß selbst gebildete Erwachsene einen solchen Test oft nur
mit mehrfachen Hilfen zu lösen vermochten.
Ob etwa bei der Herstellung eines solchen „Achsenkreuzes" oder „Koor-
dinatensystems" mathematische Kenntnisse oder Fähigkeiten stark mit-
sprechen, bedarf noch der Nachprüfung i) ; ich möchte allerdings glauben,
daß die allgemeine Intelligenzleistung hierbei durchaus überwiegt. Es
seien in der Vorlage durcheinander gemischt dargeboten (s. d. Fig. 2) 5 Qua-
drate mit gleichen Seitenlangen aa und den Helligkeiten hi, h2, ha, h4, hs
und noch weitere 4 Quadrate von gleicher Helligkeit ha, aber verschiedenen
Seitenlängen ai, a2, a4, as — so besteht der erste Schritt zur Lösung
darin, daß der Prüfling bemerkt: einige der Quadrate fügen sich bei
gleicher Größe der Helligkeitsordnung, andere bei gleicher Helligkeit der
Fig. 2.
Größenordnung. Er wird also zwei getrennte Reihen schaffen. Der zweite
Schritt muß nun darin bestehen, daß er bemerkt: das Quadrat mit der
Seitenlänge aa und der Helligkeit ha paßt in beide Reihen. Da es nur
einmal vorhanden ist, bleibt seine Zuordnung so lange willkürlich, als die
Reihen unabhängig voneinander gelegt sind. Es folgt der dritte und ent-
scheidende Schritt: daß diese Willkür als störend empfunden und der
Versuch zu ihrer Beseitigung gemacht wird. Ist nun die Einsicht, daß es
nur eine Möglichkeit gibt, das Quadrat (aa ha) beiden Reihen zuzuordnen,
nämlich durch Herstellung des Achsenkreuzes (s. d. Fig.) wirklich eine
mathematische? Handelt es sich nicht vielmehr um eine Kreuzung be-
grifflicher Merkmale, also um eine logische Leistung? Vielleicht werden
wir einer Lösung dieser interessanten Frage näher gebracht werden, wenn
wir das Prinzip der Kreuzung auf rein begriffliche Reihen anwenden (vergl.
unter HI).
*) Wenn ja, so wäre der Test bei solchen Prüflingen, welche im mathematischen
Unterricht noch nichts von diesen Dingen gehört haben, als mathematische
Fähigkeitsprüfung anzuwenden.
*) In der Wiedergabe sind leider die Helligkeits-Unterschiede bezw. Überein-
Btimmungen nicht überall ganz deutlich geworden.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 93
Es ist selbstverständlich, daß durch die Wahl der zur Kreuzung zu
bringenden Einzelreihen die Schwierigkeit der Aufgabe wiederum mannig-
fach abgestuft werden kann. Eine besondere Erschwerung bietet die An-
wendung von Doppelkreuzungen, wenn z. B. durcheinander gemischt vor-
gelegt werden: Vielecke gleicher Helligkeit und ungefähr gleicher Größe
vom Dreieck bis zum Zehneck (Hauptachse), Fünfecke derselben Helligkeit
aber verschiedener Größe, Achtecke von der Größe des Achtecks, das der
Hauptachse angehört, aber von abgestufter Helligkeit.
Die Anweisung bei dem Versuch mit gekreuzten Reihen muß etwa so
lauten: „Bringen Sie in alle diese Figuren eine Ordnung, die Sie möglichst
befriedigt; es handelt sich aber diesmal nicht um eine einzige Reihe."
Bildet der Prüfling dann zwei Reihen, ohne von selbst deren Kombination
zu versuchen, so wird die Hilfe gegeben: „Gibt es ein Glied, das ebenso
gut der anderen Reihe angehören könnte?" Ist dies gefunden, so wird
gefragt: „Läßt sich die Ordnung nicht so herstellen, daß diese Willkür
vermieden wird?"
7. Geschlossene Reihen. Wenn man die Farben des Spektrums Rot,,
Ziegelrot, Orange, Gelb, Gelbgrün, Grün, Grünblau, Blau, Violett in
einer Reihe von farbigen Papieren durcheinander gemischt vorlegt, dazu
ein Papier, welches die Zwischenfarbe zwischen den beiden Grenzfarben,
also Purpur, zeigt, dann ist eine voll befriedigende Ordnung nur in der
Form des geschlossenen Kreises möglich. Wir benutzen dazu 10 Scheiben
aus farbigen Papieren von Zimmermann. (Bei der Auswahl der Farben
ist darauf zu achten, daß der Unterschied zwischen je zwei benach-
barten Scheiben ungefähr gleichgroß erscheint). Legt man diese Farben
durcheinander gemischt vor mit der bloßen Anweisung: „Ordnen Sie diese
Farben", so wird gewöhnlich eine eindimensionale Reihe hergestellt. Diese
ist aber immer willkürlich; denn jede Einzelfarbe kann als Anfangsglied
benutzt werden. Es handelt sich also für den Prüfling ähnlich wie bei
Test 7 darum, eine solche Willkürlichkeit erstens zu bemerken und
zweitens zu überwinden durch Umbiegung der Reihe, bis sie sich zum
Kreise schließt.
Bei diesem Test erlebten wir eine große Überraschung: schon die bloße
Herstellung einer Reihe (die ja noch nicht die volle Lösung enthält)
erwies sich als unerwartet schwer. Voraussetzung war, daß die Prüflinge
nicht das Spektrum und seine Gesetze kannten, auch nicht durch be-
sonders eingehende Beschäftigung mit der Malerei an Farbenvergleichung
gewöhnt waren. Aber ich hatte gemeint, daß der Gesichtspunkt der
Ähnlichkeit aufdringlich genug sein müßte, um auch ohne jede theo-
retische Kenntnis die Ordnung leicht zu machen. Es zeigte sich aber,
daß 10jährigen Kindern die richtige Reihenbildung fast nie gelang; erst
bei 12jährigen glückte der Test häufiger. Auf die Idee aber, daß die
geradlinige Reihenordnung willkürlich sei, da ja jede Farbe als Anfangs-
glied dienen könne, kamen nur wenige; und gar die Lösung dieser
Schwierigkeit: die Umbiegung der Reihe zum geschlossenen Kreise kam
nur ganz ausnahmsweise, sogar bei Erwachsenen, vor, — wofern nicht eben
94
William Stern
physikalische, psychologische oder maltechnische Kenntnisse mitwirken
konnten. 1)
m. Logische Ordnungen.
9. Begriffsreihen. Die Reihen unterscheiden sich von den Figuren-
reihen dadurch, daß die Merkmale, die der Abstraktion und der Ordnung
zugrunde liegen, nicht unmittelbar sinnlich gegeben sind, sondern gedacht
werden müssen. Natürlich darf das hierbei vorauszusetzende Wissen nicht
von den individuell variierenden Bedingungen des Schulunterrichts abhängig
sein. Die Schwierigkeit der Reihen ist abstufbar durch die Wahl der
Merkmale. Man kann solche wählen, die an sich anschaulicher Natur
(wenn auch im Augenblick nicht anschaulich gegeben) sind, oder man
kann abstrakte Merkmale, z. B. den Grad der Allgemeinheit, wählen. Wir
geben einige Beispiele, die sich beliebig vermehren lassen (der Ordnunga-
gesichtspunkt ist jeder Reihe in Klammern beigefügt).
Dieser Test kann im Einzelversuch oder im Massenversuch angewandt
werden. Im ersten Falle geschieht die Darbietung auf Kärtchen, deren
jedes den Namen eines Begriffs (unter Umständen auch dessen bildliche
Darstellung) enthält. Die Kärtchen werden durcheinandergemischt vor-
gelegt. Beim Massenversuch erhält jeder Prüfling einen Vordruck der un-
geordnet nebeneinander stehenden Begriffe; er hat sie dann in richtiger
Ordnung darunter zu schreiben.
Begriffsreihen.
Gesichtspunkte
der Ordnung
1. Maus, Pudel, Schaf, Esel, Kuh, Elefant
2. Blaubeere, Kirsche, Pflaume, Birne, Melone, Kürbis
3. Säugling, Schulkind, Jüngling, Mann, Greis ....
4. Neujahr, Ostern, Pfingsten, Große Ferien, Herbstferien,
Weihnachten
5. Vorgestern, gestern, heute, morgen, übermorgen . . .
6. Zimmer, Haus, Straße, Stadtteil, Stadt, Provinz, Staat
7. Buchstabe, Silbe, Wort, Satz, Märchen, Märchenbuch .
8. Sekunde, Minute, Stunde, Tag, Woche, Monat, Jahr .
9. Blattrippe, Blatt, Zweig, Baum, Wald
10. Wolkenbruch, Hochwasser, zerstörte Brücken, abgeschnit-
tenes Dorf, Hungersnot
11. Kriegserklärung, Vormarsch, Schlacht, Sieg, Waffenstill-
stand, Friedensschluß
12. Pflügen, Säen, Düngen, Mähen, Dreschen, Mahlen, Backen
13. Geldbriefträger, Briefträger, Postbeamter, Beamter, Mann,
Mensch
14. Baum, Laubbaum, Obstbaum, Kirschbaum, Sauerkirsch-
baum
Größe
Alter
Zeit
»»
Teil u. Ganzes
Ursache U.Wirkung
^ Logische Folge
von Handlungen
»> >» >»
Grad der
Allgemeinheit
>» j» »»
*) Der Test scheint übrigens recht geeignet, in der Psychologievorlesung beim
Kapitel Farbenwahrnehmung angewendet zu werden. Denn an ihm kann sich
der Student oder Seminarist selber ein Prinzip des psychologischen Farben-
systems, den geschlossenen Ring der bunten Farben, erarbeiten.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher 95
Wählt man die bei manchen Reihen möglichen bildlichen Darstellungen
statt der Worte, so ist darauf zu achten, daß das Ordnungsmerkmal nicht
zugleich anschaulich gegeben ist. Es müßten z. B. bei Reihe 1 die Tiere
alle gleichgroß abgebildet sein (wodurch voraussichtlich die Aufgabe gegen-
über der Vorlage in Worten erschwert werden würde; denn nun muß die
Anschauung der gleichgroßen Figuren überwunden werden durch den
Gedanken der in Wirklichkeit verschiedenen Größen).
Das Hinausgehen über die bloße Einreihigkeit ist bei den Begriffsord-
nungen ebenso möglich wie bei den Figurenordnungen: mehrere Reihen
können durcheinander gemischt werden mit der Aufgabe, sie zu trennen
und isoliert zu ordnen. Auch Kreuzungen sind herstellbar, z. B. zwischen
Reihe 9 und 14 (Schnittpunkt: Baum), zwischen 13 und 3 (Schnittpunkt:
Mann); doch sind diese Aufgaben sehr schwer.
Bei älteren Schülern kann man nach vollzogener Ordnung die Angabe
des dabei angewandten „Gesichtspunktes" verlangen.
9. Bilderbogenordnung. Diese Aufgabe unterscheidet sich von allen
anderen Ordnungstests dadurch, daß es sich nicht mehr um eine Reihe
handelt, die nach irgendeinem Merkmal abgestuft ist, sondern um die
Phasen eines sinnvollen Zusammenhangs, die in die richtige Reihenfolge
gebracht werden sollen. Die Bilderbogen, die wir oben (bei der „Bilder-
bogenerklärung") in ihrer richtigen Abfolge dargeboten hatten, werden
jetzt zerschnitten vorgelegt, und der Prüfling hat selbst die richtige
Anordnung der durcheinander gemischten Einzelbilder zu finden.
Die Bilderbogen müssen auf ihre Eignung zu diesem Versuch besonders
geprüft werden; finden sich doch oft in ihnen Darstellungen von Phasen,
die nicht eindeutig an eine bestimmte Stelle der Reihe passen; solche
Tdibilder sind fortzulassen. Jedes der vorgelegten Bilder muß sich
zweifellos in eine zeitliche Handlungsabfolge einfügen. Andererseits kann
man durch Fortlassung weiterer Phasen die Aufgabe erschweren, indem
nun wichtige Abschnitte der Handlung kombinatorisch ergänzt werden
können. Hierdurch sowohl wie durch die Auswahl verschieden schwerer
Bilderbogen ist die Schwierigkeit mannigfach abstufbar.
Einige solcher Ordnungsversuche mit Bilderbogen sind bereits vor Jahren
im Breslauer Seminar angestellt, aber nicht veröffentlicht worden; sie
werden jetzt im Hamburger Seminar durch Fräulein Heitsch wieder auf-
genommen. Unabhängig davon ist der belgische Forscher Decroly auf
den gleichen Gedanken gekommen, worüber er in einer vorläufigen Mit-
teilung berichtet. 1) Er benutzte 11 Bilderbogen aufsteigender Schwierigkeit,
deren Inhalt er mit wenigen Worten andeutet. Die vergleichende Prüfung
in Normal- und Schwachsinnigenschulen zeigte sehr starke Unterschiede,
sowohl in der Fähigkeit, die richtige Reihenfolge herzustellen, wie auch in
dem Zeitaufwand. Die Schwierigkeit der Bilderbogen war so abgestuft,
daß die leichtesten schon von der Mehrheit der 7- und 8jährigen normalen
*) Epreuve nouvelle pour l'examen mental et son application aux enfants
anormaux. Bull, de la Soc. d'Anthropologie de Bruxelles Bd. 32, Der. 1913. —
Ob die angekündigte ausführlichere Darstellung erschienen ist, entzieht sich
meiner Kenntnis.
96
William Stern
Kinder, die schwersten dagegen erst von den 12 jährigen richtig geordnet
werden konnten. Der Test würde also auch für höhere Altersstufen ein-
zurichten sein.
Die Versuche im Hamburger Seminar werden zunächst mit dem oben
genannten „Wiedersehen" (Münchener Bilderbogen Nr. 915; s. d. Abb. S. 11)
angestellt. Außerdem erwiesen sich die folgenden Bilderbogen noch als
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Fig. 3 a,
brauchbar, zum Teil freilich erst nach Beseitigung einiger Teilbilder, deren
Platz in der Reihe nicht eindeutig war: Apfeldiebe (Nr. 942); Der nasch-
hafte Moppel (Nr. 1057); Diogenes und die bösen Buben (Nr. 360) i).
») Die Bilderbogen sind vom Verlag Braun & Schneider in München zu be-
ziehen. Auskünfte über die nötigen Abänderungen erteilt gern das Hamburger
Seminar, Domstr. 8. — Der Bilderbogen „Diogenes" stammt von Wilhelm Busch;
es ist zweckmäßig, sich hier vor Beginn des Versuches zu vergewissern, ob er
nicht bekannt ist.
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher
97
IV. Zuordnungstests.
Zui' Vervollständigung der Übersicht sei hier nur kurz ein neuer Test
von A. Franken, Rektor zu Bielefeld, geschildert^), zu dessen Nachprüfung
wir noch keine Grelegenheit hatten, der aber nach den von Franken veröffent-
lichten, sehr eingehenden Resultaten für die uns angehenden Altersstufen
geeignet zu sein scheint. Der Test stellt die Aufgabe,- zu je einem darge-
botenen Begriff aus einer Reihe anderer den sinnvoll dazu gehörigen Begriff
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Fig. 3 b.
zu finden. Aber während man bisher für solche und ähnliche Aufgaben
stets die Begriffe in sprachlicher Form vorlegte, arbeitete F. mit Bildern
und erzielte dadurch den Vorteil, daß die Sprachfähigkeit des Prüflings
keine Rolle spielt. Es ist also wiederum ein ,, stummer" Test, Geprüft
wird diejenige Form kombinatorischer Gedankenarbeit, die wir am besten
als ,,Zuordnung" bezeichnen könnten. Verbunden ist damit ein kritisch
^) A. Franken, Bilderkombinationen. Ein Beitrag zum Problem der Intelligenz-
prüfungen. Zeitschrift für angewandte Psychologie 12, S. 173 — 230, 1917.
Zeitschrift f. p&dagog. Psychologie. 7
98 William Stern
wählendes Verhalten, da aus einer großen Menge von Kombinatlons-
mögliclikeiten die richtige gefunden werden soll.
Das Reizmaterial besteht in zwei Tafeln, deren jede 52 Bildchen ent-
hält (siehe die verkleinerten Abbildungen S. 32/33). Mit Jedem Bildchen der
Tafel I steht ein Bildchen der Tafel II in sinnvollem Zusammenhang, so
Spinne, Spinnennetz; Stiefel, Stiefelknecht; Gewicht, Wage; rauchender
Schornstein, Schornsteinfeger; Schmetterling, Raupe usw.
Zur Verwendung im Einzelversuch wird die Tafel I durchschnitten;
jedes einzelne Bildchen muß dann auf das zu ihm "gehörige Bildchen von
Tafel II gelegt werden, bis möglichst viele Deckungen erfolgt sind. Im
Massenversuch werden beide Tafeln in starker Vergrößerung an die
Wandtafel gehängt. Die Bildchen von Tafel I sind mit Buchstaben, die
von Tafel II mit Ziffern versehen. Jedes Kind erhält ein Blatt mit Ziffern-
vordruck und hat zu jeder Ziffer (die eine Bildchennummer von Tafel II
bedeutet) den Buchstaben des dazu gehörigen Bildchens von Tafel I zu fügen.
Diese beiden Versuchsanordnungen scheinen mir in ihren psychologischen
Anforderungen sehr verschieden zu sein, und zwar ist der Massen versuch
sehr viel schwerer. Beim Einzelversuch wird die Arbeit um so leichter,
je weiter der Versuch fortschreitet ; denn es sind bereits immer mehr Bild-
chen verdeckt, und es bleiben daher immer weniger für die weitere Wahl
übrig. Diese fortschreitende Erleichterung fehlt im Massen versuch. Außer-
dem hat bei diesem das Kind nicht nur die Bilderzuordnung zu vollziehen,
sondern auch die sehr viel abstraktere Zuordnung von Ziffern zu Buch-
staben zu verstehen und durchzuführen.
Ein Fehler der Versuchsanordnung, der dringend der Beseitigung bedarf,
ist die Mehrdeutigkeit der möglichen Kombinationen. Dem Zirkel vor
Tafel II soll das Winkelmaß von Tafel I zugeordnet sein; aber könnte
man ihm nicht mit gleichem Recht die Kreisscheibe (die als G-egenstück zur
Armbrust gedacht ist) zuordnen ? Ebenso soll die Nixe mit dem Zwerg
(nicht etwa mit dem Fisch), die Gabel mit dem Löffel (nicht etwa mit
dem Messer) kombiniert werden. Von den vielen ,, sinnvollen Fehlern",
die Franken feststellte, wird ein beträchtlicher Teil auf dieser Vieldeutig-
keit beruhen ; für künftige Zwecke müßten für die Bildertafeln nur solche
Begriffspaare ausgesucht werden, bei denen die Gefahr des Ineinander-
übergreifens möglichst gering ist.
Natürlich bieten die einzelnen Paare für die Lösungen sehr verschiedene
Schwierigkeit; darin ist aber kein Mangel zu sehen, im Gegenteil: es ist
ein gutes diagnostisches Moment für die Intelligenz, ob die Leistungen eines
Prüflings sich vorwiegend auf die leichteren oder auch in größerem Umfang
auf die schwereren Zuordnungen erstrecken.
Aus den zahlreichen und gründlichen tabellarischen Berechnungen, die
F. bringt, ziehen wir hier nur die für unseren Zweck wichtigen Ergeb-
nisse in vereinfachter Form heraus; sie stammen aus den Massenver-
suchen, bei denen aus jeder Altersstufe ungefähr 100 Kinder geprüft wurden.
Die Prozentzahl der , »Treffer" ist berechnet als das Verhältnis der richtigen
Lösungen zu den geforderten Kombinationen, die ,, Urteilstreue" dagegen
als das Verhältnis der richtigen Lösungen zu den vom Kinde versuchten
Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher
99
Kombinationen. Der letztere Wert drückt also aus, wie weit das Kind selbst
Kritik übt und die Herstellung beliebiger sinnloser Kombinationen vermied.
Alter:
7
8
9
10
11
12
13
14
Prozentzahl ( Knaben
der Treffer \ Mädchen
5,2
3,8
7,2
7
9,2
9,2
18,4
14,6
33
22
43,2
34
40,6
32,8
52
42,2
Urteilstreue { ^^nab^^^^^
12,7
10,6
24,3
22,7
24
25,3
47,7
37,2
57,4
45
62,7
53,6
58,6
56,1
66,2
60,6
Die Tabelle^) zeigt eine durchgehende, wenn auch nicht bedeutende
Rückständigkeit der Mädchen, vor allem aber einen raschen Anstieg
der Werte in den Altersstufen 10 bis 12. Namentlich geht aus der
Zunahme der Urteilstreue hervor, daß erst hier das Kind beginnt, bei der
Auswahl der Zuordnungen eine gewisse Kritik zu entfalten. Für die sieben-
bis neunjährigen Kinder ist der Test augenscheinlich zu schwer, bei den
dreizehn- und vierzehnjährigen ist keine bedeutende Steigerung der Leistun-
gen mehr ersichtlich. Allerdings wird auch hier der Trefferprozentsatz
60% noch nicht oder kaum erreicht; es ist daher möglich, daß jenseits
des vierzehnten Jahres noch einmal ein Aufstieg zu weit höheren Lösungs-
prozenten stattfindet. Vermutlich werden dann gerade die schwereren
Kombinationen, die bei den Jüngeren meist ungelöst bleiben, in größerer
Anzahl bewältigt werden. Daß der Test geeignet sein dürfte, zur Er-
mittlung besonders intelligenter Kinder der Mittelstufe zu dienen, zeigt
nicht nur der allgemeine schnelle Altersfortschritt zwischen zehn und zwölf
Jahren, sondern auch eine andere Berechnung. F. teilte die Kinder jedes
Jahrgangs nach der Anzahl der Trefferprozente in drei Gruppen, eine
schwache, mittlere und gute. Wurde nun für jede dieser Gruppen der Alters-
fortschritt gesondert berechnet, so ergab sich^) :ein einigermaßen bemerkens-
werter Altersfortschritt für Treffe.rzahl und Urteilstreue war bei den
Schwachbegabten erst im 12. Lebensjahr zu finden. Kinder von normaler
Kombinationsfähigkeit entwickeln diese Eigenschaft zwischen dem elften
und zwölften Lebensjahr. Begabte Schüler erreichen dagegen
schon im zehnten Lebensjahr mit großer Schnelligkeit einen
bedeutenden Grad sowohl in der Findung richtiger, wie
in der Vermeidung falscher Kombinationen. Die drei Begabungs-
gruppen zeigen gerade bei den Zehnjährigen folgende starke Unterschiede :
10 jährige Schüler mit
schwacher | mittlerer | guter
Kombinationsfähigkeit
Prozentzahl
der Treffer
{
Knaben
Mädchen
1,7
2,1
8.6
7,1
17,9
12,5
Urteilstreue
{
Knaben
Mädchen
13,5
11,2
44,4
39,4
66,7
50
1) Ausgezogen aus Frankens Tabelle 11, S. 204.
*) Nach Frankens Tabelle 12, S. 207.
100 William Stern, Höhere Intelligenztests zur Prüfung Jugendlicher
Somit darf man einem guten Ausfall dieses Tests gerade bei zehnjährigen
Prüflingen diagnostischen Wert beimessen.
Die Fähigkeit der „Zuordnung" läßt sich übrigens auch an ganz anders-
artigem Material prüfen, und zwar mit Methoden, bei denen manche
Schwächen des Franken'schen Verfahrens vermieden werden könnten. Die
Aufgabe wird stets so zu stellen sein, daß aus einer größeren Anzahl von
Reizen jeweilig derjenige herausgefunden werden muß, der zu einem andern
Reiz in sinnvoller Beziehung steht.
Für sprachliches Material hatte Minkus bereits seinem Bindeworttest
(s. S. 5) einen Zuordnungsversuch hinzugefügt. Nachdem die Prüflinge
die Textlücken, so weit sie konnten, ausgefüllt hatten, erhielten sie alpha-
betische Listen der einzutragenden Wörter mit der Aufforderung, auf Grund
dieser Verzeichnisse die noch etwa verbliebenen Lücken zu ergänzen; hier
mußten die Prüflinge „zuordnen", indem sie entweder zu einer unverständ-
lichen Lücke das passende Wort, oder zu einem Wort der Liste den
passenden Platz im Text suchten. Es ist eine ähnliche geistige Leistung,
wie das Aufsuchen einer Vokabel im Wörterbuch, namentlich dann, wenn
die Vokabel verschiedene Bedeutungen hat, von denen nur eine in die zu
übersetzende Stelle paßt. Das Verfahren verdient wohl, als selbständiger
Test ausgebaut zu werden.
Auch die Zuordnung von Bild zu Text wäre verwendbar. Es gibt
Münchener Bilderbogen, welche Illustrationen zu Sprichwörtern enthalten.
Werden von diesen Bildern die Unterschriften entfernt, andererseits die
Sprichwörter in einer alphabetisch geordneten Liste vorgelegt, so kann nun-
mehr die Zuordnung verlangt werden.
Das psychologische Laboratorium zu Hamburg (Domstrasse 8) ist gern
bereit, über die oben beschriebenen Prüfungsmethoden und die dazu nötigen
Materialien nähere Auskunft zu erteilen.
Über die Anwendung zweier psychologischer Methoden bei der
Aufnahmeprüfung in ein Lehrerinnenseminar.
(Aus dem psychologischen Laboratorium in Hamburg.)
Von 0. Melchior und A. Penkert.
Inhalt: I. Zur Einführung (O. Melchior). — II. Die Methode der Bindewort-
Ergänziing (O. Melchior). — III. Der Bilderbogentest (A. Penkert).
L Zur Einführung.
Von O. Melchior.
Bei der großen Zahl von Bewerberinnen, die sich alljährlich zum Ein-
tritt in das Hamburger Lehrerinnenseminar melden, wird der sorgfältige
Ausbau der Aufnahmeprüfung zu einer notwendigen Forderung. Seit
Jahren schon haben wir das alte Prüf ungs verfahren, das im wesentlichen
O. Melchior und A. Penkert, Über die Anwendung zweier psych. Methoden usw, 101
nur die erworbenen Kenntnisse feststellt und den fleißigen Schüler heraus-
findet, durch neue Bestimmungen ergänzt, wodurch hauptsächlich die
allgemeine oder besondere Begabung und die geistige Reife der Auf-
zunehmenden ermittelt werden soll. Alle die hier in Frage kommenden
Maßnahmen einzeln aufzuzählen, würde zu weit führen. Nur darauf sei
hingewiesen, daß wir in der schrifthchen Prüfung für Klasse V (die unterste
Klasse) die beliebten Fragen aus den Wissensfächern ganz ausschließen
und während der drei Tage, die für diesen Teil der Prüfung festgesetzt
sind, nur Aufsätze und Rechenarbeiten fordern. Die Themen für die drei
Aufsätze werden so gewählt, daß die verschiedensten Anlagen sich zeigen
können. Während die eine Arbeit den Charakter des freien Aufsatzes
trägt, soll die andere mehr den Nachweis der sprachlich-logischen Fähigkeit,
der klaren und geordneten Gedankenfolge, erbringen. Endlich wird im
sogenannten ,, dritten Aufsatz" von den Prüflingen verlangt, daß sie den
Hauptinhalt einer Abhandlung, die ihnen ohne irgendwelche Überschrift
vorgelegt wird, in kurzen Sätzen wiedergeben und mit einer Überschrift
versehen.
Es war deshalb nur ein Schritt weiter auf dem Wege, auf dem wir bereits
standen, als wir auf Anregung unseres damaligen Direktors, des jetzigen
Schulrats Herrn Prof. Dr. Umlauf, bei der letzten Aufnahmeprüfung uns
entschlossen, auch das psychologische Experiment, und zwar in Form der
sogenannten Intelligenzprüfung, mit zu Rate zu ziehen. Von vornherein
erkannten wir die Grenzen für dieses neue Prüfungsmittel. Nach dem
jetzigen Stande der Forschung konnten die Ergebnisse solcher Prüfungen
nicht entscheidend bei der Aufnahme mitsprechen. Und selbst wenn
die fortschreitende junge Wissenschaft ihre Methoden verfeinert und die
noch vorhandenen Fehlerquellen weiterhin ausscheidet, wird die experi-
mentelle Prüfung immer nur ergänzen und unterstützen, nicht aber eine
methodisch geleitete Beobachtung ersetzen können. Das Tiefste der Persön-
lichkeit jedoch erschließt sich niemals einem rein technischen Ermitte-
lungsverfahren. Der Weltkrieg vor allem hat gezeigt, wie die Anpassung
des Menschen an neue und ungeahnte Lebensbedingungen außerhalb
jeder Berechnung steht; wie sich Entwicklungen vollziehen, die unerwartet
einsetzen und deren Verlauf unfaßbar und unmeßbar ist.
Nach Klärung des grundsätzlichen Standpunktes gingen wir zur prak-
tischen Arbeit über. Der Leiter des hiesigen psychologischen Laboratoriums,
Herr Prof. Dr. W. Stern, unterstützte uns hierbei in entgegenkommendster
Weise. Freilich stand die Vorbereitung unter dem Druck des sehr nahen
Prüfungstermins ; der Entschluß zur Hinzuziehung psychologischer Metho-
den war erst wenige Wochen vor Beginn der Prüfung gefaßt worden.
Infolgedessen konnten nur kurze gemeinsame Beratungen stattfinden;
auch mußte die Ausarbeitung neuer, dem besonderen Zweck eigens anzu-
passender Tests unterbleiben. Wir hatten lediglich die Möglichkeit, aus
den im psychologischen Laboratorium gerade verfügbaren Tests einige
auszuwählen.
Es ist bestimmt zu erwarten, daß in Wiederholungsfällen eine früher
einsetzende Vorbereitung in Verbindung mit den nun vorliegenden Er-
102 O« Melchior und H. Penkert
fahrungen dazu führen whd, die Verwendung von Tests zu Aufnahme-
prüfungen noch fruchtbringender zu gestalten. Solche Wiederholungen
sind in Hamburg geplant; natürlich muß dann jedesmal mit den Tests
gewechselt werden. — Es wurden folgende drei Prüfungsformen ausgewählt:
1. eine Textlückenergänzung (Lückentext nach Minkus), 2. ein Bilderbogen-
test und 3. ein Definitionstest. Die beiden ersten Tests hatten die Prüflinge
nach Beendigung der schriftlichen Aufnahmeprüfung zu bearbeiten. Der
Definitionstest wurde an den Schluß der mündhchen Prüfung verlegt.
Die Auswahl dieser Tests, die mit Rücksicht auf Alter und Vorbildung der
Prüflinge getroffen wurde, erwies sich als zweckmäßig. Ihr G-ebrauch
ist unter ähnlichen Voraussetzungen zu empfehlen. Und doch scheint
mir hier noch ein Problem vorzuliegen, dem wir damals nicht näher getreten
sind: ich meine das Problem der Lebensbahnberatung ^). Das Lehrerin-
nenseminar ist eine Schulanstalt, die nicht nur höhere Lehrziele verfolgt,
sondern in ihren oberen Klassen zugleich auf einen bestimmten Beruf vor-
bereitet. Da erhebt sich die heute so viel erörterte Frage, die — auf den
Lehrerberuf bezogen — lautet: Sind bei Ausübung dieses Berufs außer
einem bestimmtenMaße von Intelhgenznoch gewisse eigenartige (spezifische)
seelische Leistungen erforderhch? Eine Bearbeitung dieser Frage würde
der weiteren Ausgestaltung der Seminar-Aufnahmeprüfungen wertvolle
Gesichtspunkte zuführen^).
Über die Anwendung und die praktischen Ergebnisse des Minkusschen
Lückentextes unterrichtet die nachstehende Abhandlung. Herr Seminar-
lehrer Penkert wird über den zweiten Test berichten. Der Definitions-
test konnte noch nicht bearbeitet werden. Die wissenschaftliche Ver-
wertung des reichen Materials erfolgt in Arbeitsgemeinschaften, die dem
psychologischen Laboratorium angegliedert sind.
1) Vgl. hierzu: W. Stern, Beratende Psychologie (Sonntagsbeilage der "Vossischen
Zeitxing Nr. 242 und Nr. 254. Jahrgang 1917). — Ausführlicheres findet sich in der
Programm Schrift: W. Stern, Jugendkunde als Kulturforderung. Leipzig 1916. —
Siehe auch: E. Spranger, Begabung und Studium (hieraus besonders Abschnitt 5:
Maßregeln zur Erkenntnis und Förderung hervorragend Begabter).
*) Erfreulicherweise sind solche Untersuchungen, wie sie oben von Melchior
gefordert werden, bereits im Gange. Verwiesen sei auf die Abhandlung von Else
Voigtländer: „Zur Psychologie der Erzieherpersönlichkeit" (diese Ztschr.. 18 (9/10),
Sept./Okt. 1917, S. 385) und auf die aus der Robert Rißmann- Stiftimg mit einem
Preise bedachte Schrift von E. Hylla: „Über die psychische Eignung zum Lehrer-
beruf". (Sie wird in der Deutschen Schule veröffentlicht werden.) Auch der xun-
fassende Fragebogen über die psychische Eignung für höhere Berufe, den Dr. Martha
Ulrich entworfen hat, wird mit Vorteil für diesen Zweck herangezogen werden können.
(„Die psychologische Analyse der höheren Berufe als Grundlage einer künftigen
Beruf sberatvmg." Zeitschrift für angewandte Psychologie 13, S. 1 ff. Auch gesondert
als Nr. 4 der ,, Schriften zur Psychologie der Berufseignung" hrsg. von Lipmann
und Stern.) Ferner ist hierzu die obengenannte Schrift Sprangers zu beachten.
— Der Beitrag, den die Psychologie von der Seite der Eignimgsforschung her zur
Ausgestaltvmg der Aufnahmeprüfungen beizusteuern vermag, scheint mir eben so
wichtig zu sein wie die Hilfe, die sie mit iliren Testmethoden gewähren kann.
W. Stern.
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 103
II. Die Methode der Bindewort-Ergänzung^).
Von O. Melchior.
Auf die Mannigfaltigkeit der Fragestellung, die bei theoretischen Unter-
suchungen so wichtig ist, durften wir bei unserer Prüfung und bei der Be-
wertung ihrer Ergebnisse nur wenig Rücksicht nehmen. Uns mußte der
praktisch-pädagogische Gesichtspunkt leiten. Nicht weniger als
196 Prüflinge standen zur Auswahl; von diesen konnte nui' eine sehr be-
schränkte Zahl — ungefähr 14% — Aufnahme finden. In bezug auf Alter
und Vorbildung bestanden die geringsten Differenzierungen für Klasse V,
während diese Unterschiede bei den Anmeldungen für die IV. und
III. Klasse deutlicher hervortraten. Aus dieser großen und bunten
Masse sollten die intelligentesten Teile fürs Seminar gewonnen werden.
— Zur Bewältigung der Korrektur blieb verhältnismäßig wenig Zeit.
Außerdem ist die Arbeit ja immer neben einer vollwertigen Berufs-
tätigkeit zu leisten. So oder ähnlich aber liegen die Verhältnisse bei allen
derartigen Prüfungen ! Der Zeitraum zwischen dem schrifthchen und münd-
lichen Teile der Prüfung ist oft noch viel kürzer bemessen als bei uns.
Deshalb wird man genötigt sein, bei der praktischen Anwendung der
Tests eine Vereinfachung des Gesamtverfahrens durchzuführen.
Ein Test für Versuchszwecke muß einen andern Charakter
haben als ein Prüfungstest. Mit allem Nachdruck möchte ich auf
diesen Unterschied hinweisen. Aus diesem Grunde hatten wir nicht drei
Phasen der Textausfüllung vorgesehen, sondern nur deren zwei, unter
Wegfall der ersten. Die Prüfung selbst nahm folgenden Verlauf:
Die Schülerinnen waren auf verschiedene Prüfungsräume verteilt. Um
die Prüfung einheitlich zu gestalten, erhielten die aufsichtführenden Lehr-
personen schriftliche Anweisungen eingehändigt. Nach Verteilung der
Lückentexte^) wurde die Anweisung vorgelesen. Sie hatte folgenden Wort-
laut: ,,Hier ist eine Geschichte erzählt, in der an jeder leer gelassenen
Stelle ein Wort ausgelassen ist. Ihr sollt jedesmal das passende Wort
einfügen. Wenn Ihr eine Lücke nicht gleich ausfüllen könnt, so laßt sie
einstweilen frei und geht weiter. Glaubt aber nicht, daß das einzufügende
Wort immer so lang wie die Lücke sein muß." — Nach einer Stunde:
,, Jetzt legt die Federhalter beiseite und nehmt den Bleistift zur Hand.
Ihr bekommt von mir einen Zettel, auf dem alle fehlenden Worte drauf-
stehen, natürlich nicht in der richtigen Reihenfolge. Nun prüft Eure Arbeit
mit Hilfe dieses Zettels. Ihr dürft mit Bleistift Eure Arbeit verbessern
und ergänzen. Die auf dem Zettel stehenden Worte müssen übrigens
zum Teil mehrfach angewendet werden." — Die Dauer der Prüfung war
auf 1^ Stunden — ohne Unterbrechung — festgesetzt.
^) Vgl. die voranstehende Abhandlimg: W. Stern, Höhere Intelligenztests zur
Prüfung Jugendlicher. S. 4 ff.
*) Lückentext und Wortliste, auf die ich des öfteren verweisen muß, sind
ebenfalls in der Arbeit von Stern, S. 7/8 abgedruckt.
104
O. Melchior und H. Penkert
Die während dieser Zeit gesammelten Beobachtungen wurden schrift-
lich festgelegt. Sie ergaben manche praktische Fingerzeige. Die ange-
setzte Zeit war hiernach zu reichlich bemessen. Für reifere Prüflinge genügen
46 Minuten für die erste und 20 Minuten für die zweite Phase. Die An-
weisung war von allen verstanden worden. "Wenn trotzdem noch Fragen
über die Ausführung der Arbeit gestellt wurden, so lag dies mehr an gewissen
Mängeln der Textvorlage, wovon später noch die Rede sein wird. Bei der
Bearbeitung dieses Tests ist besonders scharfe Aufsicht nötig. Ein flüch-
tiger Blick zur Nachbarin kann recht lohnend ausfallen ; er genügt, um das
fehlende oder bessere Wort zu erhaschen.
Die Korrektur ließ den Unterschied zwischen einem wissenschaft-
lichen Versuch und unserer Prüfung besonders deutlich erkennen. Dort
wird das gewonnene Material nach bestimmten Grundsätzen verarbeitet;
von der Vielseitigkeit und Klarheit der Fragestellung ist nicht zuletzt
der Gewinn für die Wissenschaft abhängig. Ein solch gründlich durch-
dachtes und reich gegliedertes System kann theoretisch ungemein fesseln,
ist aber für Prüfungszwecke nicht durchführbar. Soll sich ein Test als
praktisch brauchbar erweisen, so muß das durch ihn vereinigte Mate-
rial auch korrekturfähig sein, d. h. es muß ein möglichst einfaches
Korrekturschema zugrunde gelegt werden können, das aber trotzdem die
Stoffe schnell und sicher abstuft und bewertet. So traten denn alle die sich
herandrängenden Fragen aus dem Gebiete der differentiellen und der Denk-
psychologie schließlich zurück zugunsten der praktisch -nüchternen Über-
legung: Ist die Lücke richtig, zulässig oder falsch ausgefüllt? Eine vierte
Spalte sollte die Arbeitsweise des Prüflings erkennen lassen; sie trug die
Überschrift: Korrigiert (d. h. wie oft selbst korrigiert?). Nach diesem
Schema wurden beide Arbeiten, die mit Tinte geschriebene I. und die mit
Bleistift angefertigte II. Arbeit, durchgesehen. Eine ,, Zusammenfassung"
bot die erforderliche schnelle Übersicht. Das ,, Zeugnis" mit den Graden
1 bis 5 und einfachen Zwischenzensuren gestattete Vergleich und Rang-
ordnung. Das Korrekturschema — nebst einem ausgeführten Beispiele —
hatte demnach folgendes Aussehen:
I. Arbeit
IL Arbeit
Zusammenfassung
Zeugnis
(Bern.)
Name
u
Ü
o
-§.«'
•a-*"
..SP
3 CO
Xi
o
tß
o
ä 'm
«1
ü
CO
o
1 1
1 1
1 1
'
1
1
1
1 1
1
40
(30+10)
5
(2+3)
5
(5+0)
6
(6+0)
2—3
Sorgfalt?
Die praktischen Ergebnisse.
1. Ein Vergleich zwischen den Ergebnissen der Intelligenzprüfung mit
den Zeugnissen für die alten Prüfungsfächer ergab bei einer größeren
Zahl von Einzelfällen auffallende Widersprüche. In bezug auf die
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 105
Gesamtergebnisse dagegen ist eine weitgehende Übereinstimmung
zwischen beiden Prüfungsformen festzustellen.
Belege: Für die fünf Prüflinge, die in Klasse IV aufgenommen wur-
den^), lauten die Zeugnisse für Intelligenzprüfung: 2 — 3; 2; 1 — 2; 2; 2,
Zusammenstellung für Klasse V: Nach der schriftlichen Prüfung schieden
aus: 124; davon hatten
weniger als genügend (darunter siebenmal die 5): 73 =58,87 %
gut 5 = 4,03 %
mehr als gut — —
Nach der mündlichen Prüfung schieden aus: 21; davon hatten
weniger als genügend (darunter keine 5): 3 =14,28 %
gut 10 =47,61 %
mehr als gut . — —
Aufgenommen wurden: 23; davon hatten
weniger als genügend (darunter keine 5): 4 = 17,39 %
gut 9 =39,13 %
mehr als gut 2 = 8,69 %
Ergebnis: Nach dieser Zusammenstellung bestehen im allgemeinen
günstige Beziehungen zwischen den Ergebnissen der Intelligenzprüfung
und der bisher bei uns bewährten Prüfungsform.
2. Auffallend ist, daß weder die besten noch die schlechtesten Leistungen
unter den für die Klassen III und IV geprüften Schülerinnen vertreten
sind. Die größten Schwankungen finden sich in Klasse V.
Belege: für Klasse III liegen die Zeugnisse zwischen 4 und 2;
IV „ „ „ . „ 4 und 1—2;
,, ,, V vgl. die Belege unter ll
Ergebnis: Der Test eignet sich im besonderen Maße für eine bestimmte
Alterstufe (14. bis 15. Lebensjahr).
3. Die Abhängigkeit der Leistung von der sprachlichen Umgebung,
besonders aber von der systematischen sprachlichen (fremdsprachlichen!)
Schulung scheint sicher zu sein.
Belege: Zahl der Anmeldungen für Klasse III: 6;
aus höheren Schulen : 4 ; Zeugnisse der Intelligenzprüfung :•
2—3; 2—3; 2; 2;
aus Volksschulen: 2; Zeugnisse der Intelligenzprüfung:
3; 4;
Zahl der Anmeldungen für Klasse IV : 22 ;
aus höheren Schulen : 12; Zeugnisse der Intelligenzprüfung :
3—4; 3; 2—3; 2—3; 2; 2; 2; 2; 2; 2; 1—2; 1—2;
aus Volksschulen: 10; Zeugnisse der Intelligenzprüfung: 4;
4; 3—4; 3; 2—3; 2—3; 2; 2; 2; 2.
Ergebnis: Wenn man mit Stern unter Intelligenz ,,die allgemeine
geistige Anpassungsfähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des
^) In Klasse III fand keine der Bewerberinnen Aufnahme.
X06 O- Melchior und H. Penkert
Lebens" verstellt, so ist unser Test zur Intelligenzprüfung im eigentlichen
Sinne nicht zu empfehlen. Er ist vielmehr ein Prüfungsmittel zur Fest-
stellung sprachlich-logischer Funktionen. Schüler mit guter fremdsprach-
licher Schulung sind von vornherein günstiger eingestellt.
Zusammenfassung: Somit eischeint der Ergänzungstest (Methode
der Bindewort-Ergänzung) als ein Mittel zur Feststellung sprachlich-
logischer Funktionen. Er ist am besten geeignet für das 14. bis 15. Lebens-
jahr, und zwar für solche Prüflinge, die ohne besondere fremdsprachliche
Vorbildung sind.
Zur Methodologie ist folgendes zu bemerken:
Die Bearbeitung des Textes ist nach sprachlich-logischen Gesichts-
punkten erfolgt. Der Verfasser hat eine erstaunliche Gedankenschärfe
aufgeboten und einen systematischen Ausbau geschaffen, der kaum noch
übertroffen werden kann. Aus der ,, Verteilungsübersicht der Lücken
nach logischen Kategorien"^) ist deutlich zu ersehen, wie alle Gruppen
der Konjunktionen vertreten und umsichtig verteilt sind. Für jede der-
selben ist eine gleiche Zahl von Lücken bestimmt. Innerhalb jeder Gruppe
sind die Schwierigkeiten gleichartig gedacht. Um zu verhüten, daß statt
der erforderhchen Konjunktionen Flickwörter (da, oder) gesetzt werden,
sind solche bereits in den gedruckten Text aufgenommen (z. B. bei Lücke
40!). Kurz, mit allen Mitteln -logischer und spi achlicher Kunst soll ein
gleichartiges und eindeutiges Material gewonnen werden.
Trotzdem sind Einwände in methodischer Hinsicht zu erheben ; sie
richten sich zunächst gegen die schon erwähnte Textveränderung. Dadurch
aber werden verschiedene Stellen der Vorlage sprachlich mangelhaft.
Einige Prüflinge haben denn auch Korrekturen des Textes vorgenommen
oder diesbezüghche Fragen bei der Bearbeitung gestellt. Daß derartige
Mängel die Leistung beeinträchtigen, ist ohne weiteres anzunehmen. —
Schwerer wiegen die Bedenken, die das Wesen der Methode selbst treffen.
In der Anweisung wird gefordert, daß bei jeder Lücke das ,, passende Wort"
einzufügen ist. Nun zeigen sich Leistungen, die als gelungen gelten müssen,
die jedoch Worte aufweisen, welche nicht immer die gewünschten Kon-
junktionen sind. Sogar Vertreter anderer Wortklassen (z. B. der Adverbien)
finden eine sinngemäße Anwendung. Recht bemerkenswert hierbei ist
die Verschiedenheit der Worthsten, die von Minkus-Stern und vom Seminar
Freiligrathstraße zusammengestellt wurden. Die Denkmöglichkeiten sind
eben mannigfaltiger und lassen sich nicht in eine bestimmte grammatische
Kategorie einzwängen. Deshalb ist das Material nicht so ,, einheitlich und
in sich vergleichbar", wie es erwartet wurde.
Nach alledem scheint es mir, als ob die Textlücken-Ergänzungen —
selbst in der meisterhaften Form, wie sie Minkus aufgestellt hat — nicht
einwandfreie Ergebnisse zu bieten vermögen. Ob unsre Wissenschaft in
Zukunft sich mehr den ,, stummen Tests" widmen wird?
*) Wird erst später in der Ztschr. f. angew. Psychol. veröffentlicht werden. (W. St.)
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 107
III. Der Bilderbogentest.
Von A. Penkert.
1. Äußere Anordnung des Versuchs.
Der benutzte Münchner Bilderbogen „Das Wiedersehen", war zerschnit-
ten und die einzehien sieben Bilder, die etwa nahezu Postkartengröße
hatten, ohne Überschrift und Text auf einen Karton geklebt in der ursprüng-
lichen, dem Gang der Handlung entsprechenden Reihenfolge.^) Die Bilder-
bogenexemplare wurden verteilt unter Hinzufügung folgender Worte:
,,Ihr habt jetzt alle einen Bilderbogen bekommen. Erzählt recht anschaulich
die Geschichte, so, wie sie auf den sieben Bildern dargestellt ist. Findet
selbst eine passende Überschrift. Ihr habt 1^ Stunden Zeit und dürft
den Bilderbogen während der ganzen Zeit vor Augen behalten."
2. Allgemeiner Befund.
Die Arbeiten umfassen durchschnittlich vier Seiten Reinschrift, zu-
meist ebenso viel Seiten Kladde, selten eine vorangestellte Skizze oder
Gedanken, die der Wichtigkeit oder der Schwierigkeit der Formung wegen
neben Kladde oder Reinschrift besonders verzeichnet oder ausgearbeitet
sind. Die Arbeiten, die fast ausnahmslos die Form eines Aufsatzes, einer
Erzählung haben, sind zu allermeist leicht und fheßend zustandegekommen.
Darauf weist die geringe Zahl der Verbesserungen ebenso deutlich hin, wie
die sich gleich bleibende Schrift und die fast stets erreichte Beendung der
Erzählung. Und das, trotzdem von den meisten erst das Ganze in Kladde
und dann — meist mit wenigen oder gar keinen Änderungen — in ,, Rein-
schrift" geschrieben wurde in der dafür doch relativ kurzen Zeit von
1^4 Stunden, die von einer kleinen Zahl nicht einmal ganz beansprucht
wurde. Wenn hie und da Hemmungen erkennbar sind, so stammen sie
sicherlich nicht von einer im allgemeinen als unerwartet schwer befundenen
Aufgabestellung. Es wurde überhaupt die Forderung mit dem angenehmen
Bewußtsein, der Aufgabe gewachsen zu sein, ja der offenen Freude be-
grüßt. Das bekundeten Gesichtsausdruck und leise Ausrufe.
Was den Prüflingen so leicht erschien, war die Forderung, aus der Bilder-
folge eine Handlung zu erkennen und diese zu erzählen. Tatsächlich waren
ihnen diese beiden Arbeitsrichtungen seit dem größten Teil der Schulzeit
bekannt. Bildbetrachtungen und -deutungen treten schon im ersten
Schuljahr auf, werden schon im vorschulpflichtigen Alter geübt, und die
Erzählung einer kleinen Geschichte gehört zu den frühesten Forderungen
des Aufsatzunterrichts; dazu war die Geschichte, die der Bilderbogen
erkennen ließ, einfach und überdies drollig. Der Gang der Handlung ist
denn auch in allen Arbeiten richtig erkannt und fast ausnahmslos in der
Form einer Erzählung dargestellt. Die Forderung ging aber höher. Man
wollte eine anschauliche und doch eng an die Bilder angeschlossene Er-
zählung, eine lebendige, interessierte Wiedergabe, die aber erkennen ließ,
(iaß die Erzählerin ihrer Phantasie nicht zügellos ohne Rücksicht auf die
Bilder folgte, oder gar im Widerspruch zu ihnen. Gerade auf Grund dieser
*) S. d. verkleinerte Abbildung in diesem Heft S. 11.
108 O- Melchior und H. Penkert
doppelten Einstellung auf die Bezeugung einer feineren, detaillierten Bild-
betrachtung einerseits und eine trotz des Beobachtungsreiclitums nicht
schwerfällige und den Gang der Handlung nicht außer Acht lassende,
lebendig fortschreitende Darstellung andererseits sollten aus der großen
Zahl der Prüflinge die würdigsten erkannt werden. Beidem sind nur wenige
Arbeiten gerecht geworden. Im allgemeinen ist lebendig erzählt, auch im
Anschluß an die Bilder, aber ohne eine feinere Betrachtung der einzelnen
Bilder erkennen zu lassen. Weitaus die meisten halten sich an die Hand-
lung im ganzen und flechten nur so viel Beobachtungen ein, als ihnen zur
Darstellung des Ganzen erforderlich erscheinen, und bringen außer diesen
nur hie und da Einzelheiten, die ihnen als besonders treffend, scherzhaft
oder bedeutend aufgefallen sind. Hierbei spielte mehr der Zufall als eine
durchdachte Auswahl die Hauptrolle. Eine bei weitem kleinere Zahl
legt das Hauptaugenmerk auf die Angabe möglichst vieler und bald für
den Gang der Handlung, bald für die Art der Darstellung charakteristischer
Beobachtungseinzelheiten, geht Bild für Bild vor und reiht die Angaben
mehr oder weniger geschickt verknüpft aneinander. So kommt es, daß
der Blick für Beobachtungsfeinheiten, aber auch der Blick für die Ein-
schätzung der Wichtigkeit der einzelnen Beobachtungen lange nicht so
entwickelt erscheint, wie man nach dem Alter und der Vorbildung der
Prüflinge wohl erwarten konnte. Von den beiden, den Gang der Handlung
wesentlich bestimmenden Hauptangaben (Sicherung der Backwaren
durch Schließen der Karre; Sicherung der Milchkannen und des Wagens
durch Absträngen oder Festbinden der Pferde) wird zu allermeist nur das
erste angegeben, und nicht immer so, daß man das Verständnis der Erzäh-
lerin für die Bedeutung dieser Einzelheiten mit Sicherheit erkennen könnte.
Von unwichtigeren Einzelheiten wird eine große Anzahl getroffen, immerhin
aber weniger der Zahl, der Güte und der Richtung nach, als der Referent
erwartete und nach dem Vergleich mit Arbeiten weit jüngerer Schülerinnen
erwarten konnte. Die Prüflinge hatten sich ersichtlich auf eine ,, Stille istung"
in erster Linie eingestellt. Wurden aber einzelne Beobachtungen ausge-
führt, so wurden sie, wo es möglich war, häufig und gern seelisch vertieft
mit erkennbarem Einfühlungsvermögen. Beispielsweise wird nicht nur
Haltung und Bewegung der beiden Geschäftsleute auf Bild 1 bezeichnet,
sondern die Begrüßung als solche, als eine nach längerer Trennung, als
unverhoffte, als besonders herzliche erkannt. Ähnlich wird die Haltung
der Pferde auf den Bildern 2, 3, 5, 6, 7 seelisch gedeutet. Die Pferde sind
der Erzählerin aufmerksam lauschende, die den günstigen Augenbhck
erkennen, sich leise und vorsichtig der Bäckerkarre nähern, sich beschämt
abwenden, als sie die Folgen ihres Tuns erkennen und schließlich aus Furcht
vor Strafe davonrennen. Vieles wird richtig aus den Bildern erschlossen
und das einzelne Bild mit den benachbarten richtig verknüpft. Die drollige
Art der Handlungsführung und -darstellung wird vielfach erkannt und
gern verwertet.
Als größere hinzugeschaute oder hinzugedachte Phantasieeinheiten
kommen fast nur Gespräche in Betracht. Gespräche werden meist mit
besonderer Vorliebe zu den Bildern 2 und 6 ausgeführt, seltener zu Bild 4,
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 109
häufig im Hamburger Plattdeutsch, meist wortreich und realistisch beurteilt
nicht unrichtig, aber inhaltlich ärmlich. Den Mittelpunkt des Gesprächs
zu Bild 6 bildet meist die Schuldfrage, bei der die Erzählerinnen sich be-
sonders gern auf die Seite des Bäckers stellen.
An Reflexionen über die Handlung und ihre Darteilung im ganzen sind
nur ethisch gerichtete häufiger vertreten. Kritische Beurteilungen der
Handlungsführung und der zeichnerischen Darstellung fehlen fast ganz.
Die erdachten Überschriften sind durchweg richtig, wenn auch nicht
immer besonders charakteristisch gewählt.
3. Gang der Korrektur.
Die große Rolle, die der Aufsatz bei allen Prüfungen im niederen wie
im höheren Schulwesen spielt, erklärt sich aus der großen Zahl der Betäti-
gungsweisen der seelischen Natur, die in ihm zum Ausdruck kommen.
Die relativ lange Zeitspanne, die bei längeren Arbeiten immer eintretende
Erscheinung, daß der Autor sich bald früher bald später ungezwungen
den Gedankengängen überläßt und somit nach Richtung, Kraft und For-
mung seiner Gedanken ein deutliches Abbild seiner seelischen Art gibt, die
mit der längeren Dauer steigende Möglichkeit, aus allen Richtungen her
das Thema zu beleuchten, bald aus dem Schatze getreu bewahrten Wissens
und klarer Beobachtungen, bald durch selbständig gefügte Kombinationen
und phantasievoll geschaute Möglichkeiten den zentralen Gedanken in
reicher Fülle auszubauen, alles dies gibt dem Aufsatz den Vorzug, die
Persönlichkeit reicher als in anderen Aufgaben zu sehen. Alles dies erhöht
aber auch die Schwierigkeiten der gerechten Zensierung ins Unmeßbare.
Das gilt dem Umfange nach in gleichem, der Präzision nach aber in erhöhtem
Maße für den Aufsatz als Test. Um dem nicht einseitig eingeschränk-
ten, durch die einführenden Sätze eher allseitig zu erhöhter Tätigkeit
anregenden Test nach allen in Betracht kommenden Richtungen in der
Zensierung gerecht zu werden, wurden vom Referenten folgende Abteilun-
gen eingesetzt: Beobachtungsleistung, intellektuelle Leistung, Phantasie-
leistung, allgemeine Richtung und Energie des Gedankenverlaufs, stilistische
Leistung, Orthographie und Grammatik, Interpunktion und pädagogische
Beanlagung. Aus diesen Abteilungen und ihren unten angefügten, zum
guten Teil mehr im Anschluß an die Arbeiten als rein deduktiv gefundenen
Unterabteilungen ergibt sich ohne weiteres, daß der Test in der bearbeiteten
Form ein Kollektivtest umfänglichster Art ist. Bildbeschreibung, Erzäh-
lung einer in wenigen Momenten fixierten Handlung, Auffindung einer
passenden Überschrift sind an sich schon mehr oder weniger komplexe Auf-
gaben. Zu ihnen kommt die gesamte sprachtechnische Seite. Das folgende
Schema, das der Analyse zugrunde lag, läßt die reiche Verästelung der
Aufgabe deutlich erkennen,
1. Beobachtungsleistung:
a) Sachliche Einzelheiten,
b) Sinn für Scherz und Humor in der zeichnerischen Darstellung.
2. Intellektuale Leistung (logische, kritische Seite der Arbeit):
a) Deutung der Beobachtungseinzelheiten nach Art und Grad,
b) Wahl der Überschrift,
210 O. Melchior und H. Penkert
c) Ethische Beurteilung der Handlung und der Handelnden,
d) Beurteilung der zeichnerischen Darstellung,
e) Verhältnis von Plan, Skizze, Kladde und Reinschrift zueinander.
3. Phantasieleistung:
a) Vertiefung und Ergänzung des einzelnen Bildes,
b) Gedanken über das Vorher,
c) über das Nachher der Handlung.
4. Allgemeine Richtung und Energie des Gedankenverlaufs.
5. Stilistische Leistung:
a) Wortwahl nach Schärfe und Geschmaci:,
b) Tropen, Metaphern usw.,
c) Satzbau,
d) Satz- und Gedankengruppen und deren Verbindung,
e) Angabe der Richtungen, nach denen die Arbeit besonders aus-
gebaut ist,
f) Länge.
6. Orthographie, Grammatik.
7. Interpunktion.
8. Ist eine pädagogische Beanlagung erkennbar? (Lust und Geschick
im Erzählen.)
Für jede dieser Abteilungen und Unterabteilungen wurde vom Refe-
renten charakteristisches Material zusammengestellt und darauf die spezielle
Leistung teils durch eine Zensur abgeschätzt, teils als Plus-, bzw. als Minus-
wert ohne Zeugnis eingesetzt. Zensiert wurden die Abteilungen la, 2a,
2b, 3a, 4, 5a bis e; als Plus- bzw. Minuswerte wurden angemerkt Ib, 2c,
2d, 2e, 3b, 3c, 5f, 6 bis 8. Alle Zensuren mit Ausnahme der Gesamtzensur
sind Schätzungen und können im praktischen Betrieb auch wohl kaum
anders gefunden werden. Selbst bei diesen zensierten Gebieten, den relativ
sicherer und gleichmäßiger zu wertenden Abteilungen, fehlen arithmetisch
verrechenbare Unterlagen. Wie sollte beispielsweise eine derartig bestimmte
Basis für la, die sachlichen Einzelheiten, gefunden werden? Sie müßte
in einer genauen Summe von Beobachtungsdaten für jedes der sieben
Bilder bestehen, und für jedes der Daten müßte eine Zahl (oder mehrere)
aus einer nicht zu umfangreichen Skala angegeben sein, die die Güte,
den Wert der Beobachtung für die Entwicklung der Handlung, den Schwie-
rigkeitsgrad ihrer Auffindung und schließlich den Grad ihrer rein sachlichen
Entwicklung berücksichtigte. Letzterer würde sich wieder eng mit der
stilistischen Form berühren. Würde die Wertung der einzelnen Beobach-
tung bei verschiedenen Versuchsleitern oder Examinatoren nicht ausnahms-
los eine verschiedene werden und damit eine objektive, zwingende Skala-
der Beobachtungen nach Richtigkeit, Entwicklungsgrad, Wert für die
Handlung und Wert für die Schätzung der Beobachtungsschärfe des Prüf-
hngs ganz außerhalb des Bereichs der Möglichkeit bleiben, ganz abgesehen
von der Schwierigkeit der praktischen Benutzung ? Die in den Ausführun-
gen über den „Allgemeinen Befund" als ,,die beiden, den Gang der Hand-
lung wesentlich bestimmenden Hauptangaben" angegebenen Einzelheiten,
4as Offenlassen der Karre und das Nichtabsträngen der Pferde, bieten
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. \11
hierfür schlagende Beweise. Sind diese beiden Angaben die einzigen?
Sind sie gleich wichtig? Sind sie gleich schwer bzw. leicht aufzufinden
und dementsprechend in der Wertungsskala gleich anzusetzen? Ebenso
leicht wäre nachzuweisen, wie auch 2a, die Deutung der Beobachtungs-
einzelheiten nach Art und Grad, kaum zu einer von allen Versuchsleitern
gleich anerkannten Grundlage führen kann. Und dann erst die noch ver-
wickeiteren Erscheinungen im Bereich der Phantasie! Daß Orthographie,
Grammatik und Interpunktion nicht zensiert wurden, sondern nur als
Plus- bzw. Minuswerte (in der Praxis fast nur als charakteristische Minus-
werte) auftraten, hat seinen Grund darin, daß man von den relativ äußerhch-
ßten, überdies in zwei anderen eigenthchen Aufsätzen zensierten sprach-
technischen Seiten möglichst absehen wollte. Daß bei Ib, 2a, 2e, 3a und 5f
eine andere Einordnung der bezeichneten kritischen Einstellung möghch
war, sei nur angemerkt. Auch eine Einteilung nach reproduktiven, produk-
tiven und technischen Tätigkeitsrichtungen hätte sich wohl durchführen
lassen. Im Phantasieleben spielen Vorstellungskraft und intellektuelle
Leistungen bei der Entstehung, Wahl und Entwicklung der geschauten
und erdachten Phantasieeinheiten eine ähnlich umfängliche Rolle, wie
bei allen Beobachtungsleistungen. Unter 4 ,, allgemeine Richtung und
Energie des Gedanken Verlaufs" sollten die bei dem Gesamtverlauf der
Arbeit erkennbaren menschlichen Typen, ihre Gefühlsäußerungen, Energie-
erscheinungen und bevorzugten Stihichtungen, gekennzeichnet und ge-
wertet werden. Dies erschien um so wichtiger, als es sich bei dieser Prüfung
nicht nur um eine einfache Arbeitszensur handelte, sondern um die eventuelle
Zuführung zu einem schwere und hohe Anforderungen während und nach
der Ausbildungszeit stellenden Lebensberuf. Zu den Energieerscheinungen
gehören beispielsweise die Art und Zähigkeit der Durchführung einer als
richtig erkannten Einstellung, viele Einzelheiten des Stils, die Grund-
rhythmen der ganzen Arbeit oder größerer Teile, rhythmische Wechsel
bei ruhig erzählenden Partien und dramatisch erregten Szenen. In diesem
Zusammenhang wäre auch einer Bewertung der Schrift zu gedenken,
nicht als ästhetischer, sondern als Energieerscheinung unter Benutzung
graphologischer Wegweisungen. Gruppe 8 ist ein Versuch, die Arbeiten
unter berufspsychologischer Einstellung zu betrachten, und die angeführte
Einstellung auf eine erkennbare Lust am Erzählen und Erzählgeschick
nur eine von vielen.
4. Allgemeines Ergebnis.
Im Hinblick auf die geringe Zahl derer, die von den nahezu 200 Prüf-
lingen aufgenommen werden konnten, empfahl sich im ganzen eine scharfe
Zensierung. Es entfielen auf die Zensur:
1 : 0 2—3 : 32 3—4 : 45 4—5 : 5
1—2 : 0 3 : 47 4 : 42 5:0
2:26
25 Arbeiten 79 Arbeiten 87 Arbeiten 5 Arbeiten
Von den 196 Arbeiten wurden also 25 als gut, 79 als genügend, 87 als mäßig
und 5 als schlecht bezeichnet.
112 O* Melchior und H. Penkert
Von den Prüflingen hatten sich 6 für Klasse 3, 22 für Klasse 4, 168 für
die unterste Klasse, Klasse 5, gemeldet. Als schriftliches Gesamtzeugnis
für diesen Test haben „genügend" oder „gut" erhalten 66% % der ersten
Gruppe (4 Arbeiten), 55 % der zweiten Gruppe (12 Arbeiten) und 25 %
der dritten Gruppe (44 Arbeiten). Trotzdem das Zeugnis besser als 2 war,
wurden drei der ersten Gruppe, eine der zweiten Gruppe und vier der
dritten Gruppe nicht aufgenommen, dagegen eine der dritten Gruppe,
trotzdem das Zeugnis für den Test 4 — 5 war. Das erklärt sich leicht daraus,
daß eine ganze Reihe von anderen Zeugnissen zunächst eingesetzt wurde.
Die Testzeugnisse wurden als bemerkenswerte Angaben gern gehört, fielen
aber nur in Zweifelsfällen und bei besonders markanten, besonders guten
oder schlechten Leistungen schwerer ins Gewicht. In Klasse 5 waren
unter 23 Aufgenommenen 10 mit einer 2 im Testzeugnis, 12 mit 2 — 3
oder 3 und 1 mit 4 — 5 im Test. Wenn man die einzelnen Teilzensuren
mit der Gesamtzensur vergleicht, so finden sich die geringsten Differenzen
zwischen Stilzeugnis und Gesamtzeugnis, die größten zwischen dem Zeugnis
für die Beobachtungsleistung und der Schlußzensur, oft ein deutlicher Be-
weis dafür, daß die Verfasserinnen fast ausnahmslos mehr „literarisch"
als „beobachtend", mehr auf sprachhche Formung als auf sachlichen
Reichtum, sachliche Genauigkeit und Freude am Bild eingestellt waren.
5. Kritische Anmerkungen.
1. Zu diesem Münchner Bilderbogen als Test überhaupt.
Da die Betrachtung von Bildern wie die Verfolgung von Handlungen
das Kind wie den Erwachsenen ganz allgemein und immer wieder interes-
sieren, so ist der Bilderbogen sehr wohl geeignet, auf Grund des starken,
doppelten Interesses, das er erweckt, die Versuchspersonen nach vielen
Richtungen ihrer Begabung und ihrer Bildung zu reicher und offener und
deshalb beobachtbarer Tätigkeit zu bringen. Dazu kommt, daß in der
vorliegenden Form durch das Weglassen der Überschrift und des Textes
ein dem Rätselraten verwandter Vorgang eintritt und so reproduktive
und produktive Neigungen aufs angenehmste miteinander geweckt und
verknüpft werden. Deshalb erscheint dieser Test zunächst dort aufs beste
geeignet, die Intelligenz und persönliche Art der Versuchsperson erkennen
zu lassen, wo:
a) die Handlung als rein -reizvoll empfunden wird, ohne kritische Bedenken
zu wecken, also bei schhchter, naiver Auffassung;
b) wo das Erkennen dieser Handlung aus der Bilderfolge bei der Versuchs-
person nicht erst einer von außen kommenden Anregung und Förderung
bedarf, sondern einer eigenen Fragestellung unmittelbar entspringt.
c) wo die sprachhch-technische Seite dem Erkannten keine äußeren
Hindernisse in den Weg legt, handele es sich um eine mündhche oder
schriftliche, zusammenhängende oder stückweis erfolgende Wiedergabe.
d) wo die Bilder an sich dem Betrachter eine Quelle reiner Freude sind.
Die Einfachheit der Handlung in ihrer drolhg übertriebenen Steigerung
und Katastrophe, die ebenso einfache und gleichfalls drollige Gegensätze
und Übertreibungen wählende Art der zeichnerischen Darstellung und
die sprachlich leichte Erzählbarkeit weisen, sicher auf ein früheres Alter
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 113
als das der Prüflinge hin, eher auf 6 — 9jährige Kinder als auf 15 — ^ISjährige
junge Mädchen. Diese stehen gerade in der ersten Kulmination ihrei*
Bildung, am Abschluß ihrer Elementarschulbildung. Ganz andere Bilder
aus Natur und Kultur drängen sich an solchen Examensmorgen unter der
Schwelle ihres Bewußtseinsfeldes, und solch einfaches, heiteres Geschicht-
chen und Bilderbesehen ist ihnen wohl einer der komischen und unerwar-
teten Momente im Prüfungsbetrieb gewesen. Trotzdem war ja denkbar,
daß gerade infolge der Einfachheit der Handlung desto sicherer und
erfolgreicher sich die Versuchsperson einstellen würde auf erhöhte Ele-
ganz und Prägnanz des Stils, überlegen-humoristische Stellung zur Hand-
lung, vertiefte, feine Beobachtungsdetails der Bilder und auf bewußt-kri-
tische Stellung zu Handlung und Zeichnung. So hatte die Wahl dieses Tests'
wohl Grund und Recht. Die Aufsätze zeigen auch tatsächlich diese Richtung,
wenngleich — wohl zum Teil infolge Zeitmangels und unscharfer Einstellung —
gerade die dem Erwachsenen so besonders nahehegende Freude an den
vielen kleinen humorvollen, witzigen Feinheiten der mit wenigen Strichen
skizzierten Zeichnungen nicht recht zum Ausdruck gekommen ist, ebenso
wenig wie alle bewußt-kritischen Gedankenrichtungen. So war der Test
für eine schlichte, naive Behandlung zu leicht und für eine kritische, zeich-
nerisch-ästhetisch geschulte noch zu schwer. Von hier aus beurteilt, wäre
eine Bilderfolge richtiger gewesen, die eine ernster zu nehmende, be-
deutendere Handlung geboten hätte, vielleicht in einer geringeren und-
dadurch die Enträtselung erschwerenden Zahl von technisch nicht skizzen-
haft, genial - humorvoll hingeworfenen, sondern im ganzen mehr aus-
gearbeiteten Bildern. Immerhin zeigt dieses Beispiel, welchen Reiz es hat,
einen Test einmal nicht für die ursprünghch gedachte Altersstufe zu ver-
wenden und nun zu verfolgen, welchen Einfluß diese Verschiebung des
eigentlichen Testzentrums auf die Bearbeitung hat. Wohin wendet sich das
auf diese Weise sozusagen wider Erwarten frei gewordene Plus an seelischer
Energie ? Hat auch die ursprünghch zentral stehende Lösung erkennbare
Förderung erfahren infolge der höheren Reife der Versuchsperson? Nur
erscheint dafür nicht eine Prüfung als der rechte Ort.
2. Zu der besonderen Einstellung, in der der Test geboten wurde.
Die besondere Einstellung hegt in den einführenden Worten 1. „recht
anschaulich", 2. ,,so wie die Geschichte auf den sieben Bildern dargestellt
ist", zu erzählen. Die Forderung geht also über die ursprünghche einer
Erkennung und Wiedergabe der dargestellten Handlung hinaus. An
Stelle einer schhchten, vielleicht eher nüchternen, kahlen Darstellung soll
eine anschauhche treten, also eine zu deuthcher eingehender Vorstellung
zwingende. Diese erheischt sachlich manche aus den Bildern ersehene
Einzelheit, hie und da eine Vertiefung des gegebenen Moments hinsichtlich
des Rhythmus der Handlung, wie hinsichtlich aller solcher Einzelheiten,
die der Zeichner nicht hat geben können: die Hinzufügung von Farben,
Vorgeschichte, Gedanken, Motiven der Einzelnen, Gesprächen. Außerdem
bedarf eine anschauliche, zu deutUchem Vorstellen anregende Darstellung
einer Reihe stilistischer Momente, wie eines lebendigen, das Miterleben
bekundenden Rhythmus, der in der Wahl der Worte und Wortfolgen, wie
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 8
114 O. Melchior und H. Penkert
in der Bildung der Sätze und der geschickten Gegenüberstellung epischer
Ruhe und dramatischer Bewegung zum Ausdruck kommt. Die zweite
Bestimmung, dem einzelnen Bilde gemäß zu erzählen, will anhalten zu
einer steten Betrachtung der Bilder und zur Vertiefung in ihre Fein-
heiten, die Beobachtungsgabe stärken und eine bei lebendiger Erzählung
gar leicht üppig wuchernde Phantasie tätigkeit in Zaum und Zügel halten.
So wollen die einführenden Sätze allseitig anregen und aufreizen, die Lust
am Beobachten, am Erzählen, am Vertiefen des Gesehenen steigern und
nur eine rücksichtslose Außerachtlassung der Vorstellungen des Zeichners
verhüten. Da Intelligenz nach W. Stern ,, allgemeine geistige Anpassungs-
fähigkeit an neue Aufgaben und Bedingungen des Lebens" ist, die Auf-
gabe fraglos unerwartet und neu war, die Einstellung allseitig anregend
und anspornend wirkt, so muß dieser Test ein allseitig bezeichnendes Bild
der Intelligenzstufe der Versuchsperson ergeben. Aber ist nicht die Zahl
der geistigen Tätigkeitsrichtungen eine so große und der Gegenstand ein
so relativ kleiner, unbedeutender und die Zeit von 1^ Stunden (die Zeit
für die ,, Reinschrift" eingerechnet!) eine so kurze, daß das Bild wohl viel-
seitig und interessant, aber nicht vielseitig zuverlässig sein muß ? Wurde
oben darauf hingewiesen, daß bei dem ersten Feld der kritischen Analyse,
der Beobachtungsleistung, kaum eine Einigung zu erzielen sein dürfte über
die Wertung und Gruppierung der einzelnen Beobachtungsdaten, so muß
hier abermals erschwerend hinzugefügt werden: entscheiden nicht oft
Zeitmangel und Zufall mehr über die Aufnahme und eine der Wichtigkeit
entsprechende stiHstische Form der einzelnen Beobachtungen als Unver-
mögen und Mangel an Einsicht? Beispielsweise fehlen die beiden oben
wiederholt genannten für den Gang der Handlung wesentlichen Beobach-
tungen über die Vernachlässigung der Sicherung von Backwerk und
Wagen in den guten Arbeiten fraglos intelligenter Prüflinge. Anderseits
sind sie vorhanden in mäßigen Arbeiten. In einer verschwindend kleinen
Anzahl von Arbeiten sind beide angegeben; unter ihnen ist keine einzige
gute und eine nicht genügende. Überhaupt scheint die Zahl der angegebenen
Einzelheiten — immer solcher Einzelheiten, die über einen ganz groben
Auffassungs- und Deutungsgrad hinausgehen — in keinem sicheren Ver-
hältnis zur Entwicklungshöhe zu stehen, auch im Vergleich mit Arbeiten
von weit jüngeren Schülerinnen. Und doch muß sich an der Art des Bild-
betrachtens, an der Zahl beobachteter Feinheiten, an der Wertung der
Beobachtungen, zeichnerisch und im Hinblick auf die Entwicklung der
Handlung, der InteUigenzgrad, die Tiefe und Nachdrückhchkeit der An-
passung aussprechen und also auch nachweisen lassen. Wie kommt es,
daß oft bei offenbar intelligenten Prüflingen hie und da unbegreifliche
Lücken in der Anpassung aufzufinden sind?
Ähnliche Rätsel gibt nach derselben Seite hin die im engeren Sinne intel-
lektuale Leistung auf. Auch hier nur ein Einzelproblem zur Beleuchtung
der Unsicherheit des Zeugnisses, das sich oft genug dem Zensor mehr
intuitiv als Niederschlag einstellt, dessen Berechtigung sich aber nicht
zwingend beweisen läßt bis ins Einzelne hinein. Unter den Arbeiten sind
Typen vertreten, die scheinbar bewußt vorgehen auf ihrem Wege. Sie
über dio Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. I">X5
sind durchaus sachlich eingestellt im G-egensatz zu den am Stilistisclien
in erster und letzter Linie interessierten Schreiberinnen. Sie unterscheiden
sich dagegen in ihrer Stellung zum G-esehenen. Die einen beschränken
sich vorsichtig und peinlich genau auf das mit Sicherheit Richtige, die andern
äußern sich leicht und reich ohne viele Hemmungen und Skrupel, sind aber
weit leichter stilistischen und inhaltlichen Fehlerhaftigkeiten ausgesetzt.
Sind diese Arbeiten echte und in ihren Grundzügen richtige, die Natur der
Verfasserin charakteristisch wiedergebende Abbilder oder sind es Zufalls-
gebilde, die nur einer unsicher und unrichtig gefaßten Einstellung ihre:
Gestalt verdanken? Würden sie etwa von einem anderen Rezensenten,
der sie individuell faßt, sie also in ihrer Einseitigkeit gelten läßt, — und
vielleicht mit einigem Recht — viel günstiger beurteilt werden, als bei
dem vom Referenten als maßgebend angesehenen. Allseitigkeit erwarten-
den Standpunkt?
Ebenso geht es auch den voll Interesse und Schwung phantasievoll dem
Zuge ihrer Gedanken folgenden Schreiberinnen, die zu Anfang wohl die'
Bilder angesehen haben, um den Gang der Geschichte zu erfassen, dann
aber, ohne gerade den Bildern zu widersprechen, aber auch ohne sich weiter
in sie zu vertiefen, die Handlung voller Lebendigkeit und mit einer ange-
nehmen Leichtigkeit und Überlegenheit wie eine kleine Tragikomödie
vor dem interessiert folgenden Leser aufsteigen und zergehen lassen.
So sieht die Beobachtungsleistung der meisten eigentümlich mangelhaft aus,
die der Vorsichtigen, der Spekulierenden, der Literarischen und der Phan-
tasievollen. Und manche, die sich bewußt einseitig eingestellt hat, schnitt
schlechter ab, als sie zu verdienen schien, wenn man von der gewollten
einseitigen Helle und Güte der Arbeit auf ihre allgemeine Intelligenz schloß.
Und für alle diese das gleiche Schema ? Hätten sie sich nicht vielleicht
anders verhalten, wenn sie es gekannt hätten, dies alle vor denselben unbe-
kannten Richterstuhl fordernde, kalte, unpersönliche, halb theoretisch
gewonnene Gebilde ? Ja, wenn sie es genau gekannt hätten, und sich in
allem hätten nach ihm richten können ! Beides ist nicht absurd. Wer geprüft
wird, kann verlangen, daß er die Forderungen, an denen sein Wissen und
Können gemessen wird, genau kennt, um sich ihnen eben, 30 sehr es seine
Natur zuläßt, anpassen zu können. Weil aber die Einstellung nur eine
allgemein anspornende war, nur übermäßige Phantasie dämpfte, so
mußte überhaupt bei der Kürze der Zeit und der verführerischen Leichtig-
keit der Kernaufgabe (Erkennen der Handlung) bald diese, bald jene Rich-
tung der wohl vorhandenen Begabung, bald des Schauens, bald des ver-
tiefenden Bedenkens, bald der stilistischen Qualität in trügender Weise
unausgebaut bleiben. Auch bei Kenntnis des Schemas hätten die Prüf-
linge ihm nicht allseitig genügen können. Zeit und allgemeinmenschliehe
geistige Begrenztheit hinderten es. So interessant deshalb die Leistung
als eine der unerwarteten Prüfungsarbeiten sein mag, so unsicher erscheint
ihre Bewertung als Test.
Deshalb scheinen dem Ref. für einen Test uM dazu Prüfungstest, außer
dem sicher immer ein oder mehrere eigentliche Aufsätze geschrieben werden;
spezielle Einstellungen zweckdienlicher und gerechter, Einstellungen,
116 O. Melchior und H. Penkert
die bald die Fülle und Einheit der Beobachtung, bald eine logisch einwand-
freie, lückenlose, wenngleich nüchterne und kahle Entstehung der Handlung,
bald eine phantasievoll bereicherte, endlich eine stilistisch schöne Leistung
allein oder in erster Linie fordern und die andern Qualitäten nach Möglich-
keit ausschließen oder außer Beurteilung lassen. Sache des Versuchs-
leiters ist es, durch präzise Formulierung des Themas und einige geschickte
Einführungssätze die Einstellung dem Prüfling deuthch zu machen. Ref.
hat als einen ersten Versuch auf diesem Gebiet die Ostern 1917 auf-
genommenen 23 Zöglinge folgende neun Einstellungen ausführen
lassen :
1. Kurze, kühle Erzählung der Handlung;
2. lebendige Darstellung der Handlung im engen Anschluß an die
Bilder;
3. kühle, sachUche Beschreibung eines Bildes;
4. lebendige Darstellung des Handlungsmomentes eines Bildes ohne
engen Anschluß an das Bild;
5. mehrere Überschriften;
6. Beurteilung der Handlung;
7. Beurteilung der zeichnerischen Darstellung;
8. ein gut geformter „Aufsatz" nach eigener Wahl;
9. die G-eschichte des Bilderbogens als Erzählung für eine Fünfjährige.
Es ist leicht zu ersehen, daß beispielsweise bei 1 und 3 Phantasie und stili-
stische Fülle und Feinheit ausgeschaltet sein sollen, bei 8 die Beobachtungs-
fülle, bei 2 und 4 die Phantasie eingeschaltet wird, aber bei 2 vertiefend und
ergänzend, bei 4 ergänzend und darüber hinaus gegebenenfalls neue umfang-
reiche Gedankeneinheiten schaffend. Bei 6 und 7 könnte man auf die Satz-
bildung verzichten und sich mit EUipsen begnügen. Solche Einstellungen
werden jene intelligenten Naturen leichter aufdecken und richtiger werten
helfen, die stilistisch unbegabt, unentwickelt oder uninteressiert sind. Die
neunte Einstellung ist eine pädagogisch bedeutungsvolle. Die Bearbeitung
dieser neun Themen ist nicht nur ein interessanter psychologischer Versuch,
sondern zugleich eine methodisch leicht zu rechtfertigende, wertvolle
Maßnahme. Mag sich auch später eine als der Natur entsprechende Stilart
festlegen, dem sich Entwickelnden und Abhängigen wird eine stilistische
Elastizität häufig von Vorteil sein, oft schon innerhalb einer und derselben
Anstalt, die von verschiedenen Fach Vertretern auch verschiedene Stihdeale
gefördert und gefordert sieht. Bezeichnenderweise wurden die verschie-
denen Einstellungen und Umstellungen im allgemeinen gern, wenn auch
von Fall zu Fall verschieden gern ausgeführt. Die einzelnen Formungen
differieren nach Inhalt und Stil bei elastischen und komplexen Naturen
in auffallendem Maße. Immerhin ist die in diesen neun — die Zahl heße
sich leicht vergrößern — Einstellungen bewiesene Schmiegsamkeit sicherlich
nur eine Seite der Intelligenz. Es handelt sich für den intelligenten Menschen
nicht nur um die Benutzung der Wegweiser und um die Auffindung der
richtigen Straßen, sondern auch um die Zahl und den sachlichen Wert der
Güter, die er die Wege führt und auf den mannigfachen Wegen zu fördern
weiß. Da mag denn sogar die geschickte Ein- und Umstellung als ein not-
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 117
wendiges, aber im Vergleich mit der Gresamtleistung fast m^hr äußerliches
Moment erscheinen. Sonst möchten die schnellen, geistig gewandten,
geistesgegenwärtigen Naturen über Gebühr als Ideal des intelligenten
Menschen erscheinen, und die schweren, langsameren, aber auf alle Fälle
gründlichen Naturen, die anfänglich eher Unsicheren und erst im Verlauf
Zuversichtlichen gar zu tief unter jenen zunächst glücklicheren und erfolg-
reicheren Naturen stehenbleiben,
3. Zur Korrektur des Tests.
Käme es nur auf die schlichte Wiedergabe der Handlung an, so wäre
die Korrektur eine einfache. Man würde die Entwicklung der Handlung in
etwa 10 Momenten festlegen und die Zensur nach der Zahl der in der Arbeit
aufgefundenen Momente bestimmen. Die besonderen Einführungssätze,
die durch die Einfachheit der Handlung und ihrer Wiedergabe veranlaßt
wurden, verlangen aber Beobachtungsfeinheiten und eine lebendige Wieder-
gabe, die sich in stilistischer Hinsicht, im Rhythmus wie in der Wortwahl
und Satzformung, einem gewissen Einfühlungsgrad und einer erkennbaren,
phantasievollen Belebtheit aussprechen muß. Daneben verlangt die Auf-
findung einer Überschrift und die reifere, alles untereinander verknüpfende
Art der Darstellung, die man bei dem Alter der Prüflinge voraussetzen
muß, ein deutliches Maß logischer Schulung. Gerade die auf diese Weise
hinzukommenden Analysengebiete entfernen sich aber von einem ein-
fachen, als Norm festgelegten mit einer bestimmten Zahl konkreter Daten
ausgefüllten Schema sehr weit. Daß auf diese Weise schon auf dem kon-
kretesten Gebiet, der Beobachtungsleistung, an die Stelle einer arith-
metischgenauen, unbedingt gleichmäßigen und gerechten Verrechnung
eine Schätzung eintreten mußte, wurde oben schon dargelegt. Noch
viel schwieriger gestaltet sich aber die Auffindung eines solchen zu-
verlässigen, gerechten und brauchbaren Schemas auf dem Gebiete der
logischen Leistungen, der Phantasie und des Stils. Wie undeutlich ist und
bleibt die Vorstellung einer mittleren, ,, normalen" Arbeit, einer „3" in
der Zensur, von der aus doch erst die übrigen über die Norm sich erheben-
den und unter die Norm sich senkenden Werte aufgefunden werden können .
Wie viel undeutlicher müssen sie sein, so sicher auch der , »kritische In-
stinkt" die 2 und 4 wählen mag; insbesondere gilt dies für die wohl an-
sprechenden, aber doch nicht guten und für die wohl nicht mehr ganz
genügenden, aber doch nicht schlechten Arbeiten. Und doch muß zum Test
die Auffindung eines sicher funktionierenden Schemas und einer aus ihm
sich ergebenden Skala gehören, die ihr Leben nicht nur in dem durch die
Praxis geschärften Instinkt eines einzelnen führen darf. Als Ref. erkannte,
daß schon auf dem Gebiet der Beobachtungsleistung die Auffindung einer
brauchbaren Skala zur Unmöglichkeit wurde — die Ausführung eines
Bild für Bild und Person für Person usw. Felder schaffenden Schemas
führte ins Unendliche und erst recht die Bewertung der Einzelheit — ,
versuchte er einen Längsschnitt zu ziehen durch ein einziges Moment aus
dem Gebiete der Phantasieleistung, um hier wenigstens auf einem schmalen
Ausschnitt eines noch komplizierteren Gebiets die Auffindbarkeit eines
Schemas zu versuchen und seine Brauchbarkeit für die Zensierung aus-
118 O. Melchior und H. Penkert
zuprobiereii. Er wählte die Wirtshausszene aus Bild 4, also ein Gebiet,
das wegen der Skizzenhaftigkeit der Zeichnung der Phantasietätig-
keit ein eben so offenes und weites, wie gegen alles übrige abgeschlossenes
Feld bot, und hat nach Durchsicht sämtlicher Arbeiten als mittleres,
stilistisch neutrales Schema einige Sätze zusammengestellt. Diese Sätze
bieten sachlich etwa das, was sich an nicht sonderlich auffallenden Einzel-
heiten an den Arbeiten findet, denen die Wirtshausszene zu einer als selb-
ständiges Motiv gefaßten Phantasieeinheit wurde. Er nahm die Gedanken
heraus, von denen er annahm, daß wohl auch alle andern, wenn sie dasselbe
Motiv bearbeitet hätten, auf diese Gedanken gekommen wären. Die Sätze
waren folgende:
„Die beiden treten in die kleine (kühle) Wirtsstube, begi'üßen einige
Bekannte, setzen sich am Fenster nieder und tauschen beim Glase Bier
manche Erinnerung an die Jugend aus und manchen Gedanken über
Bekannte und Ereignisse des Tages (Staat und Regierung). In froher
Stimmung stoßen sie mehrmals auf ihr gegenseitiges Wohl an."
Von dieser mittleren Leistung aus wäre zu werten. Aber auch schon
in dieses vorsichtig und fast tastend gefundene Schema mischen sich sub-
jektive Momente, wie das Ganze schon mehr eine Konstruktion ist, als daß
es gerade in dieser Form gefunden wäre. Stellt nun dies nicht ohne einige
'Mühe gefundene Schema wirklich das unanfechtbare ,, Mittlere" an Leistung
dar? Und dürfte man aus der Jeweiligen Gestalt dieses Motivs in den
Arbeiten einen sicheren Rückschluß auf Maß und Art der Phantasie eines
Prüflings tun, aus einem Plus in diesem Falle auf ein Plus von Phantasie
im allgemeinen und aus einer in diesem Falle erkennbaren Richtung auf
konkret Hinzuerschautes oder abstrakt Hinzuerdachtes, auf eine gleiche
Richtung überhaupt?
So erscheint dem Ref. überhaupt ein solcher Test, aus Bildbetrachtung, Er-
zählung einer Handlung und rein stilistisch zu bewertenden Elementen mit
vielen möglichen Bereicherungen bzw. Lücken aus Gründen der kritischen
Bearbeitung zu komphziert, um als experimentell-psychologisches Quellen-
material für massenpsychologische Theoreme leicht gebraucht werden zu
können. Es sei denn, daß man Je nach den Umständen abstrahierte vom
Stil, von der Beobachtungstreue und -fülle oder von der Wiedergabe der
Handlung usw. und dadurch einseitiger, aber genauer zu werten imstande
wäre.
Besser wäre aber in solchem Falle, man hätte von vornherein die Ein-
stellung eingeengt. Der Prüfling hätte den Vorteil erhöhter Konzentrations-
möglichkeit und der Kritiker den eines weniger umfangreichen und einheit-
licheren Untersuchungsgebiets.
Schließhch handelt es sich noch um die Bewertung der einzelnen Abteilun-
gen untereinander. Wie manches erscheint unter allen Umständen verblaßt
und verwischt im Gesamtzeugnis ! Auf welche verschiedene Weise kommt
es schließhch doch oft genug zu der häufigen, gutmütigen 2 — 3! In der
vorliegenden Versuchsanordnung wurden alle Teilzeugnisse gleich gerechnet.
Verschöbe sich die Zensierung von diesem neutralen Standpunkt zugunsten
einer höheren Bewertung des beobachteten sachlichen Materials, so müßte
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 119
als engstes Gebiet ein Zeugnis für die genau festzulegenden Entwicklungs-
stufen der Handlung gegeben werden, als nächstes eins für die diese Ent-
wicklung ermöglichenden Hauptbeobachtungen, ein drittes für die nach
Möglichkeit zu bewertenden nebensächlichen, aber als Beobachtung
interessanten Einzelheiten und ein viertes für die Qualität der zwischen
den einzelnen Bildern hergestellten logischen Verknüpfungen, so daß die
Beobachtung vierfach gewertet würde. Ähnliche Varianten ließen sich
finden für den Fall einer höheren Bewertung aller spezifisch logischen
Qualitäten, der Phantasieleistung usw. In der vorliegenden Form tritt
die Stilleistung, was immerhin eine etwas grobe Einschätzung ist, als
Ganzes in eine Linie mit Beobachtungsfülle und -gute, Deutungsgrad und
-gute und Bewertung der gefundenen Überschrift, und damit treten einzelne
Denkakte, wenngleich besonderer Konzentration, als gleichwertig neben die
dauernd geübte Wahl und Formung von Wort und Satz. Die sachliche
Fülle und Güte der Phantasiedaten tritt zurück gegen die der Beobachtungs-
daten, also gerade das, was sicher in höherem Grade Eigentum der Persön-
lichkeit ist, das im engeren Sinne produktive Element gegen das objektiv
vorhegende, vom Zeichner persönlich geformte. Als deutliches subjektives
Unbehagen, ja als sachliche Ungerechtigkeit empfand der Ref. häufig
genug diese einfache und theoretisch berechtigte ungefähre Gleichstellung
von Beobachtung, Phantasie und Stil. Der praktische, pädagogisch tausend-
fach geübte Instinkt zensierte in manchem Einzelfall anders, als die er-
rechnete und nie modifizierte Endziffer angab. Zum guten Teil lag dies
darin, daß die stilistische Leistung als die in der Arbeit dauernd vorhandene,
von der Verfasserin jahrelang geübte, in tausend Einzelfällen sich bekun-
dende Fähigkeit des sprachlichen Ausdrucks nach Schärfe und Geschmack,
nach Wahl und Konstruktion vorlag, wogegen beispielsweise die Beobach-
tungstreue und -fülle als eine nur relativ sporadisch verlangte und geübte
und deshalb mehr vom Zufall, vom Moment abhängige Leistung erschien,
die nur zeitweise von Bedeutung wurde und sicher nicht in allem Wort-
gestalt annahm. So erschien ihre Zensierung im Vergleich mit der Stil-
zensur bald anormal hoch, bald als voreilig und ungerecht. Dazu trat
noch folgende Beobachtung. Es erschien häufig dies und jenes der angege-
benen Phantasiedaten an sich als bedeutend, persönlich besonders charak-
teristisch, und doch stand es verglichen mit der Erzählung der Handlung
gleichsam am Rande, als Mitläufer auf einem äußern, wenngleich konzen-
trischen Kreise. Sicherlich müßten größere, von innerem Schauen, logischer
Begabung und Reflexion zeugende Phantasieeinheiten ebenso hoch, ja
vielleicht höher eingeschätzt werden als so manche Beobachtungseinzelheit,
die eher besser ge wertet wird, weil sie besser zu fassen ist, im Schema von
vornherein angegeben war und der im Bilde dargebotenen Handlung näher
verknüpft zu sein schien. Zu allem kommt, daß bei weitem nicht sämtHche
kritischen Daten entweder ganz richtig oder ganz falsch sind. Beobach-
tungen sind oft ungenau, nur angedeutet, unsicher, unvollständig, nicht
in ihrer Wichtigkeit erfaßt; die Deutungen ärmlich, ohne persönliche
Einfühlung, gewagt; Phantasie zutaten unbedeutend, albern, nichtssagend,
allgemein, unglaubhaft, störend, widerspruchsvoll. Hierzu gesellen sich
120 O. Melchior und H. Penkert
die stilistischen Vorzüge und Mängel, die den sachlichen Kern durch gün-
stige Formulierung über Gebühr wertvoll oder durch Ungeschick unberech-
tigt falsch erscheinen lassen, so daß die Wertung leicht sachlich zu gering
und stilistisch zu hoch sein kann und umgekehrt.
So bietet auch die Abschätzung der einzelnen Teilleistungen gegen ein-
ander eine Fülle von Schwierigkeiten und Problemen, die der Einzelne für
sich löst als absoluter Monarch seiner kleinen pädagogischen Provinz, indem
er die gordischen Knoten nur unbefriedigend oder gar nicht lösbarer Pro-
bleme zerhaut, um zum Schlüsse zu kommen. Aber wer findet die eine,
allgemeingültige, jeden Experimentator zum gleichen Resultat führende
Lösung ? Oder bleibt es bei allen höhere seelische Leistungen experimen-
tell angreifenden Fragen bei der Gleichberechtigung vieler Lösungen, da
die Psyche des Versuchsleiters den ersten und letzten Entscheid gibt, und
wird häufig nur die genaue Analyse des Weges zu den Einzellösungen die
einzige reife Frucht sein bei der Einbeziehung höherer, komplexer Geistes-
tätigkeiten und Arbeitsformen in die Kreise experimentell psychologischer
Forschung ? Das Eine scheint Ref. das für die Vp. wie für den Versuchs-
leiter Vorteilhaftere zu sein : handelt es sich um Massenuntersuchungen und
-bewertungen reiferer Vp. durch komphzierte Arbeiten wie Aufsätze, so
empfiehlt es sich, die Aufgaben so eng und genau umschrieben wie nur
möglich zu stellen, eher dieselbe Aufgabe mehrfach mit wechselnder Ein-
stellung lösen zu lassen, als einmal mit vielseitig anregender Einstellung .
6. Einzelmaterial zu den vorstehenden Ausführungen.
Aufsatztext 1.
Die verhängnisvollen Brote.
4 Herr Müller, ein kleiner, dicker Bäcker, ist unterwegs, um seinen Kunden die
knxisprigen, frischen Brote in das Haus zu bringen. Leicht wird es ihm bei seiner
Behäbigkeit nicht, den kleinen Wagen mit dem Brot zu schieben. Da bemerkt er an
der Ecke, an der eine gemütliche Gastwirtschaft steht, seinen Freund Schmidt,
den Milchhändler, der vergnügt auf dem Bock sitzt und seinen Milch wagen fährt.
Schon von weitem begrüßen sich die beiden Bekannten durch laute Zurufe. Ihre
Gesichter strahlen. Sie haben sich ja so viel zu erzählen und sich so lange nicht gesehen !
Der Wagen hält. Die Fremide schütteln sich freudig die Hände. ,,Wie geht's, Herr
Müller ? Immer noch auf den Beinen ?" ,,0h, Herr Schmidt, ich hab' Ihnen furchtbar
viel zu sagen. Denken Sie mal, ich habe — ", und damit hält der kleine, dicke Bäcker
seinen Daumen in die Höhe und will eifrig weiter erzählen. ,, Lassen Sie uns in die
Wirtschaft gehn, da is es gemütlicher", unterbricht ihn der lange, dünne Milchhändler.
Sofort willigt Müller ein. Er hat schon den ganzen Morgen die Karre geschoben
und ist müde und recht durstig geworden. Ein Küminel und ein Glas Bier tut gut,
und was hat er nicht alles zu sagen! Einträchtig gehen die beiden Freunde in die
Gastwirtschaft. Eine Viertelstunde können sie ja wohl klönen, die Pferde werden
schon ruhig bleiben. Es wird sich wohl auch niemand an den Broten vergreifen.
Kaum aber haben die beiden den Rücken gekehrt, als die Pferde anfajigen, begierig
in der Lvift herum zu schnuppern. Wie riecht das gut! Woher kommt wohl nur dieser
Duft ? Sie strecken ihre Hälse aus und bemerken die knusprigen Brote in dem Bäcker-
wagen. Neugierig kommen sie näher. Oh, wie duftet das. Es wäre ein guter Bissen
für sie. Schon reckt das eine Pferd seinen Hals und fängt an zu futtern, während
Herr Schmidt und Herr Müller gerade fröhlich mit ihrem halben Liter anstoßen und
auf ihr gegenseitiges Wohl trinken. — Doch jetzt wird es Zeit aufzubrechen. Die
Kunden warten auf sie. Großmütig bezahlt Herr Müller noch die kleine Zeche. Als
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 121
er aber — immer noch in rosiger Stimmung — die Tür öffnet, stürzt er voller Schrek-
ken die Stufen hinunter. Er fliegt förmlich. Aber er kommt zu spät. Die Brote sind
verschwunden. Bestürzt steht Herr Schmidt noch immer an der Tür und faßt sich
verlegen an den Kopf. Endlich steigt er langsam die Stufen hinab. Da wird er aber
liebenswürdig angeschrien: „Geben Sie mir meine Brote wieder, oder ich zeige Sie
an!" Scheu stehen die Pferde ziu* Seite. ,,Ich, ich soll Ihnen das Brot wieder geben ? !
Ich ?! Tu ich mein Lebtag nich," fällt ihm jetzt der lange Milchhändler ins Wort.
„Warum gehen Se denn kneipen! Passen Se doch auf!" Heftig streitend stehen sich
die beiden eben noch so innig Befreundeten gegenüber. Ihr Lärm hat die anderen Gäste
an das Fenster gelockt. Sie ziehen ihre Glossen über die Zankenden. Bei denen
bleibt es aber nicht allein bei einem Wortwechsel. Sie werden handgreiflich und ver-
prügeln sich tüchtig. Da nehmen die schon scheu gewordenen Pferde Reißaus ! Die
Kannen stürzen von dem Wagen hinunter auf die Erde, und die schöne Milch fließt
in Bächen die Straße entlang! Die Zuschauer brechen in ein schallendes Gelächter
aus und amüsieren sich über die nun beide angeführten Streitenden.
Der scherzhaften Überschrift entsprechend, erzählt V. innerlich amüsiert
in angeregtem, rhythmisch angenehm bewegtem Stil. In den ruhigeren
Teilen meist längere, vielfach geschmückte und gut geformte Sätze. In
den mehr dramatisch gefaßten Teilen wechselt der Rhythmus. Die Sätze
werden kurz und schmucklos, aber stark gefühlt und lebhaft interpunktiert.
Einige absichtlich gewählte gewöhnliche, scherzhaft unterstreichende
Ausdrücke und einige Witze. Mehrfach Beweise einer über eine ruhige,
rein-sachliche Deutung hinausgehenden Einfühlung und phantasie vollen
Belebung, so bei Bild 3 und 6. Die Gespräche sind lebendig erfunden,
inhaltlich allgemein und arm, aber in Wortwahl und Tonfall charakteristisch.
Logische Verknüpfung der Handlungsmomente vorhanden, wenngleich
nicht gerade tief. Die beiden wichtigsten Einzelbeobachtungen (Offen-
bleiben der Karre, Nichtabsträngen der Pferde)* fehlen! Auch sonst
wenige feinere Beobachtungseinzelheiten. Sogar eine deutliche Abweichung :
der Zeichner gibt dem Bäcker, nicht dem Milchmann, den Einfall, ins Wirt-
haus zu gehen. V. hat ohne Skizze und Kladde gleich die Reinschrift
gearbeitet.
Auf Bewegung und Leben, nicht auf ruhige Betrachtung, ,, literarisch"
eingestellter, rhythmisch elastischer Typ.
Aufsatztext II.
Durch Unachtsamkeit können gute Freunde zu Feinden werden.
An einer Straßenecke vor einem Wirtshause begegnen sich ein Bäckermeister imd
ein Milchhändler. Der Bäcker ist klein und außergewöhnlich dick; er schiebt eine
offen stehende Karre, so daß man das Brot sehen kann. Der Milchhändler sitzt auf
dem Kutscherbock; er hält die Peitsche in der Hand und zieht die Zügel stramm.
An den Beinen der beiden Pferde kann man sehen, daß sie den Wagen zum plötzlichen
Halten bringen. Der Milchhändler ist lang und dünn. Beide Männer freuen sich,
einander begegnet zu sein; sie haben ein heiteres Gesicht und heben einen Arm hoch.
Jetzt stehen beide zwischen der Karre und den Pferden ; sie reichen sich die Hände
zum Gruß. Nach den Gesichtsausdrücken zu urteilen, will der Kutscher den andern
zu einem Trünke überreden.
Beide haben sich geeinigt ; umschlungen stehen sie in der Tür. Im selben Augen-
blick haben die Pferde angezogen. Mit weit vorgestreckten, aufgeblähten Nüstern
tmd großen Augen gehen sie auf das Brot zu.
Durchs Fenster erblickt man die Herren, sie haben die Seidel erhoben und stoßen
an. Draußen machen sich die Pferde über den gefundenen Bissen her.
122 O- Melchior und H. Penkert
Mit erhobenen Armen stürzt der Bäcker schon die Treppe herunter. Das Pferd,
welches ihm am nächsten ist, hat den Kopf wild zurückgeworfen; das andere frißt
ruhig weiter. In der Tür steht der sprachlose Kutscher. Verlegenlieit malt sich auf
seinem Gesicht, eine Hand hält er hinter den Kopf.
Der Beraubte lehnt sich mit gespreizten Beinen gegen die Karre. Mit wütendem
Gesicht scheint er den inzwischen Nähergetretenen zu beschuldigen; denn letzterer
zeigt auf sich, und seine ganze Haltung ist angstvoll. Am Fenster der Wirtsstube
schauen die Gäste lachend auf das Bild. Die Übeltäter drücken sich scheu zur Seite.
Der kleine Bäcker hat sich wütend auf seinen Gegner gestürzt und ihn zu Fall
gebracht. Die Zuschauer im Wirtshause belustigen sich über den Vorfall. Unter-
dessen haben die Pferde den Wagen gewendet; sie galoppieren um die Ecke. Die
Milchkannen fallen dabei um oder fliegen in hohem Bogen vom Wagen.
V. reiM ohne erkennbare Teilnahme in ruhigen, kurzen, stilistisch
reizlosen Sätzen Beobachtung an Beobachtung, ohne die einzelnen Bilder
zu verknüpfen. Vorsichtig in der Deutung (vgl. Bild 2 und 6) und meist
ohne jede über das Bild hinausgehende Deutung und Motivation (vgl.
Bild 1, Schlußsatz). Beobachtet sicher, aber fast ganz ohne erkennbaren
Sinn für Feinheiten, und doch fraglos intelligent und energisch.
Beispiel einer zäh durchgeführten, einseitig auf vorsichtige Beobachtung
ausgehenden Einstellung.
Aufsatztext III.
Erst Freund, dann Feind.
Der Bäckergeselle vor seiner geöffneten Karre, aus der viele Brötchen einladend
hervorsehen, und der Milchmann auf seinem hohen Kutscherbock begrüßen einander
freudig vor einer Wirtschaft. Sie scheinen sich gegenseitig ein lautes ,, Hallo, guten
Tag, Freund" zuzurufen. Nur mit Mühe bändigt der Milchmann seine feurigen
Pferde.
Beide Männer haben jetzt ihr Gefährt verlassen und drücken sich fest, kamerad-
schaftlich die Hand. Mit nicht mißzuverstehender Gebärde weist der kurze dicke
Bäcker auf die Wirtschaft. Der lange dünne Milchmann scheint sehr einverstanden
mit dem Vorschlag zu sein. Es ist doch auch zu schön, sich von der Wagenfahrt durch
einen kühlen Trunk zu erholen. Innig umschlungen verschwinden Bruder Bäcker
und Bruder Milchmann in der Wirtschaft. Verlassen stehen die Karre und der Milch-
wagen da. Die Pferde scheinen das Alleinsein gut ausnutzen zu Vv^ollen, denn sie recken
lüstern ihre Hälse nach den gewiß lieblich duftenden Brötchen, die locken doch auch
gar zu sehr! '
So, endlich haben die Tiere die Brotkarre erreicht. Das eine Pferd taucht noch
seinen langen Hals in die Karre, während das andere schon munter schmaust. Keine
Störung aus ihrem herrlichen Mahle scheint ihnen beschieden zu sein, denn hinter
den Scheiben der Wirtschaft sieht man die Umrisse der beiden Freunde, die sich
gerade andachtsvoll zuprosten und gewiß an kein Unheil denken. Aber ach, kein
Glück ist ungetrübt auf Erden!
Endlich scheinen die Männer das Unheil doch bemerkt zu haben, welch ein Anblick
bietet sich jetzt unsern Blicken dar! Trotz seiner Dicke scheint der Bäcker auf seine
bedrohte Karre und die beiden bösen Pferde zu fliegen. Ganz entsetzt breitet er
seine kurzen dicken Ärmchen aus. Eine drohende Falte liegt auf seiner Stirn. Der
lange Milchmann kratzt sich in großer Verlegenheit den Kopf. Trübselig hängt sein
Bart über seine Lippen. Er steht noch an der Wirtschaftstür und sieht mit Entsetzen
auf die augenblicklich noch munter schmausenden Pferde.
Jetzt wird's aber Ernst ! Mit finsteren Blicken zeigt der geschädigte Bäcker auf
den Milchmann und bedeutet ihm so, daß er die Mahlzeit der Tiere bezahlen soll.
Ganz verdutzt macht der Kutscher mit der Hand so, als wollte er sagen: ,,Was,
ich soll bezahlen, das kann doch nicht wahr sein ?" Die beiden Pferde stehen eng
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 123
aneinander gedrückt, wie Kinder nach einem bösen Streich. Sie wagen nar verstohlen
auf die beiden Erzürnten zu sehen, bei denen es jetzt nicht niir bei Worten bleibt,
nein, was ist denn das ?
Wirklich, da liegen ja die beiden sonst so guten Freunde und prügeln sich weidlich.
Der dicke Bäcker hat natürlich die Oberhand, er erdrückt den spindeldürren Kutscher
fast. Die Pferde scheinen keinen Zwist zu lieben, denn sie geben Fersengeld, sie sausen
wild um die Ecke des Wirtshauses. Die Milchkannen poltern lustig durcheinander
imd springen teilweise auf die Erde, aus einer Kanne ergießt sich ein breiter Strom.
An dem Fenster der Wirtschaft stehen die Gäste, die mit lachenden Gesichtern auf
die sich vor der leeren Karre balgenden Männer blicken. Ja, ja, Schadenfreude ist
die reinste Freude.
Beispiel einer guten doppelten Einstellung auf lebendige Erzählung und
engen Anschluß an die Bilder. Im Gegensatz zu den Beispielen I, IV, V und
Via — d schließen sich Beginn und Schluß der einzelnen Abschnitte innerhalb
der Arbeit an die einzelnen Bilder an. Bei den andern Arbeiten sind die
Abschnitte gebildet nach inneren Momenten des Handlungsfortgangs oder
der Erzählung. Manche Beobachtungsfeinheit (vgl. Bild 5). Gute wech-
selnde Übergänge von Bild zu Bild. Trotz guter Beobachtungsgabe fehlen
beide Haupteinzelheiten ! Phantasiebegabung nach dem Aufsatz geringer,
ob aber überhaupt?
Aufsatztext IV.
,, Tages Arbeit, abends Gäste ..."
Vor einem Wirtshaus steht Bäckermeister Müller mit seiner Brotkarre; er hat
den Deckel der Karre aufgeklappt und wir sehen die schönen frischen Brote darin,
die er seinen Kunden bringen will. Da kommt um die Straßenecke ein Wagen gefahren,
der mit zwei schönen Pferden bespannt ist. Auf dem Wagen stehen viele Milchkannen,
und auf dem Bock sitzt der Milchwagenkutscher Hagen, Bäcker Müllers Freund.
Hagen erkennt Müller, steigt schnell vom Bock herimter, und die beiden Freunde
begrüßen einander herzlich. ,,Wie schön", sagen sie, ,,daß wir uns gerade hier vorm
Gasthaus begegnen, nun wollen wir doch auch einen Schluck Bier miteinander trinken
und etwas plaudern." Sie liebten beide einen guten Trunk. Beim Bäckermeister
verriet das schon die kleine, fast kugelrunde Gestalt. So gingen sie also recht ver-
gnügt und innig umschlungen wie rechte Freunde ins Wirtshaus, xxnd etwas später
sehen wir sie drinnen mit gefüllten Bierseideln anstoßen. Was draußen vorgeht,
kümmert sie jetzt nicht.
Den beiden Pferden steigt imterdessen der schöne Duft der frischen Brote recht
verlockend in die Nase, und da sie schon recht hungrig geworden sind auf dem weiten
Weg vom Dorf in die Stadt — Milchwagenpferde müssen schon so früh an die Arbeit
— ist es kein Wtmder, daß sie versuchten, die Brotkarre zu erreichen, die nur zwei
Schritte weit vor ihnen stand. Und siehe da! Es ging besser als sie gedacht hatten;
denn Hagen hatte diesmal in der Eile sogar vergessen abzusträngen. So gut hatte
es den beiden Braunen lange nicht geschmeckt, und so reichlich hatte ihr Herr ihnen
die Mahlzeit lange nicht bemessen. Sie fraßen die Karre ganz leer. Das rechte Pferd
verzehrte gerade das letzte Brot, und das linke hatte den Kopf tief in die Karre
gesteckt, um zu sehen, ob das köstliche Mahl wirklich zu Ende sei, da kam Bäcker-
meister Müller aus dem Gasthaus heraus und hinter ihm Freund Hagen. Müller sieht
die Pferde an seiner Karre, begreift die ganze Sache, stürzt hinaus, van zu retten, was
noch zu retten ist. Aber — welch ein Schreck — die Karre ist leer. Und Hagens
Pferde hatten ihm das angetan. Seine freundschaftlichen Gefühle verwandelten sich
im Augenblick in blinden, wilden Haß gegen den Besitzer der Pferde, und er machte
dem Kutscher die bittersten Vorwürfe, gab ihm allein die Schuld an dem Unglück
und verlangte das Geld von ihm, das er von seinen Kunden für die Brote bekommen
hätte. Natürlich verweigerte Kutscher Hagen das Geld und wies die Schuld auf
124 O- Melchior und H. Penkert
den Ankläger zurück. So stritten sie hin und her. Die Wirkung des Bieres machte
sie noch heftiger. Statt einer Einigung über den Schaden endigte der Streit in einer
Prügelei. Aber das war nicht das schlimmste Ende. Außer den lachenden Wirts-
leuten waren noch zwei Zuschauer da, die beiden Braimen vor dem Milchwagen. Ob
ihnen der Anblick ihres geschlagenen Herrn so schrecklich war, oder ob sie gern schnell
nach Hause wollten, weiß ich nicht. Jedenfalls machten sie plötzlich kehrt und
liefen eilig davon. Bei der schnellen Wendung polterten die gefüllten Milchkannen
herunter, und der wertvolle Inhalt floß auf die Straße. Die Pferde fühlten ihre
Freiheit und schössen wild dahin. Die beiden Betrunkenen, die einander schlagend
auf der Straße lagen, sahen nicht, welch größeres Unheil sie dtirch ihre blinde, un-
besonnene Wut anrichteten.
Ruhige, tüclitige Arbeit. Nacli keiner Seite hin irgendwie auffallend
begabt oder eingestellt, weder reich an Beobachtungen (es fehlt z. B.
jeder Hinweis auf das Offenbleiben der Bäckerkarre), noch an Phantasie-
zutaten, noch an Motivierung der einzelnen Momente und Handlungs-
weisen, auch nicht stilistisch prägnant, und doch als G-anzes wohltuend
durch die stilistisch abgerundete, in der Gedankenfolge lückenlos geschlossene
Art der Erzählung, die dazu mehr den Anschein einer pfhchtmäßigen
Lösung hat als den einer elementaren Freude an der Sache selbst.
Gute Lösung auf Grund einer natürhchen, glücklichen in sich ,, harmo-
nischen" Geistesverfassung, keiner besonderen Einstellung.
Aufsatztext V.
Skizze: 1. Mit dem Ort der Handlung und den beiden handelnden Personen
bekannt machen.
2. Der Entschluß, aus alter Kameradschaft miteinander und voneinander zu
sprechen, führt sie in die Wirtschaft.
3. Das Pflichtvergessene veranschaulichen: der Bäcker läßt seine Karre offen
stehen, der Kutscher vergißt den Wagen zu riegeln.
4. Als Höhepunkt: die Bestürzung beim Gewahrwerden des Geschehenen.
5. Die Streitfrage und der Zank.
6. Als Ausgang: die Strafe, die dem Kutscher wurde, durch das Davonrennen der
Pferde mit dem Wagen.
Text: Eine kleine Geschichte für meine Hortjungen, wenn sie wieder einmal
„Kutscher" spielen und in ihrem Spiel nie vergessen, in eine Wirtschaft einzukehren!
„Bitte, bitte, eine Geschichte, eine lustige heute!" „Nun gut, wir wollen sehen,
ob es heute recht lustig wird. Aber eine „wirkliche" Geschichte erzähle ich euch!
Kennt ihr die Wirtschaft von Kjuse ? Habt ihr auch einmal auf dem Schild am Haus
das große Bierseidel gemalt gesehen ? Es war einmal am Vormittag. Herr Müller,
der Bäcker, hielt mit seiner zweirädrigen Handkarre, in der er seine Rtmdstücke zu
den Kunden fuhr, vor dieser Wirtschaft. Er hatte noch seinen Anzug an, als käme
er grad aus der Backstube mit seiner mehligen Schürze und der Bäckermütze. Eben
hatte er den Deckel seiner Karre gehoben, die bis oben mit Rundstücken angefüllt
war, als sein Freund aus der Schulzeit, Hans, auf seinem Milchwagen sitzend, und,
wie es schien, auch den Gedanken hatte, bei Kruse einzukehren. ,,He, Corl!", rief er,
da er den Bäcker auch gleich erkannte, ,,das trifft sich ja ganz famos!" Dann verfiel
er wieder in seine plattdeutsche Sprache: „Ick gew ok enen ut! Kummst du mit rin?
Wi besökt uns'n ollen Frund, Hein Krus'." Inzwischen war er vom Bock herunter-
gestiegen und hatte bei seinen Worten den Bäcker mit seiner festen Hand auf die
Schulter geklopft, der neben diesem langen Milchmann aussah, wie ein Riindstück
neben einem Feinbrot.
Der Bäcker hebt seinen runden Daumen: ,,Enen giv's du ut," ein Gl?is Bier meinte
er damit, „ja, \in denn lat ick noch eenmal inschenken! Mehr Tid hew ick abers nich.'
„Is good", erAviderte der Milchmann, und einmütig gehen sie die drei Stufen hinauf.
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 125
Skizziert gut (Beobachtungen gut und gut bewertet; Sinn für Steigerung
im Erzählen). Beispiel einer gut durchgeführten pädagogischen Einstellung,
leider nur an Bild 1 und 2.
Die folgenden unter Via — ^Vld aufgeführten Arbeiten stammen von ein
und derselben Verfasserin, nämlich von einer der 27 Aufgenommenen,
die die auf S. 125 angegebenen neun Einstellungen im Laufe von etwa
acht Wochen ausgeführt hat,
Aufsatztext Via.
Während Bäcker und Milchmann ein Wiedersehen bei einer Flasche Wein feiern,
fressen die Pferde des Milchmanns, die vor dem I^uge stehen, die Semmel des Bäckers
auf. Hierüber entspinnt sich zwischen den zurückkehrenden Freunden ein Streit,
der schließlich zu Tätlichkeiten übergeht. Der Milchhändler wird von dem Bäcker zu
Boden geworfen. Durch den lauten Wortwechsel der beiden scheu gemacht, galoppieren
die Pferde des Milchhändlers davon; die Kannen werden vom Wagen geschleudert,
imd die Milch ergießt sich über das Pflaster.
Aufsatztext VIb.
„He", denkt Bäcker Müller, der eben die schönsten Weißbrötchen zur Wirtin
gebracht hat, „he, ist das nicht der lange Miller, der dort um die Ecke biegt ?" Richtig,
er ist's ! Mit lautem Peitschenknall kommt der Milchmann auf seinem Wagen daher-
gefahren. Da hat er auch schon den Bäcker erkannt. Voller Freude springt er eilends
herab vom Wagen, und dann gibt's ein herzliches und anhaltendes Händeschütteln
zwischen den beiden alten Freiuiden. Hei, wie lacht ihnen die Freude aus dem Ge-
sicht! Nach einer so langen Trennung gibt es unendlich viel zu erzählen. Das geht
aber schlecht mit einem trockenen Hals. Auch haben beide schon ein gut Teil ihrer
Morgenarbeit geschafft. Da sie sich gerade vor dem Kruge des kleinen Städtchens
getroffen haben, kann der Bäcker nicht länger widerstehen, imd er lädt seinen langen
Freimd zu einem gemütlichen Frühschoppen ein. Arm in Arm, wie es sich für zwei
gute Freunde geziemt, sehen wir sie in der Tür des Kruges verschwinden, und bald
sind sie im eifrigen Gespräch über die „welterschütternden" Ereignisse ihres Städtchens.
Der Herr läßt sich's wohl sein, aber seine armen Tiere hat er gänzlich vergessen.
Auch sie sind doch gewiß von der Fahrt zur Stadt ermattet. Mit einem vorwurfs-
vollen Blick sehen sie ihrem fröhlich davon gehenden Herrn nach. Aber was ist denn
daß ? Groß reißen sie ihre Augen auf. Wirklich, der Bäcker hat vergessen, den Deckel
seiner Karre wieder zuzuklappen, und nun liegen die schönsten Semmeln tmd Weiß-
brote vor den Blicken der Pferde. Hungriger Magen — und ein paar Schritte vor ihnen
steht die noch ziemlich gefüllte Karre des Bäckers ! Ist's da zu verwundern, daß ihre
Augen immer begehrlicher blicken, daß ihre Hälse sich immer weiter vorstrecken ?
Noch ein langer Blick gleitet zum Fenster des Wirtshauses, hinter dem die beiden
Freunde sitzen. Die laben sich aber noch immer an dem köstlichen Apfelwein der
Krugwirtin. Ihr fröhliches Lachen und Gläserklingen klingt hinaus bis auf den
Marktplatz, und sie achten nicht der Pferde. Da ziehen diese an, und gleich darauf
sehen wir sie heißhungrig die Semmel verzehren, ohne die Frage, wie es ihnen nachher
ergehen mag, wenn die beiden Freim.de zurückkommen.
Aufsatztext VIc.
,,Wa8 herrscht denn auf dem Markte für ein Lärm ?" „Ist Feuer 7" „Nein, aber 's
raufen sich zwei !" So klingt's durch die noch eben so morgenstillen Straßen des kleinen
Städtchens, und allerlei Neugierige kommen aixf den Marktplatz. Was für ein Bild
bietet sich ihnen ! Vor dem Kruge liegt der hagere Miller und auf ihm kniet der Müller
und bearbeitet seinen „lieben Freund", wie er ihn vor einer Viertelstunde noch selbst
nannte, mit seinen Fäusten und Füßen. Verzweifelt versucht Miller sich von den
unbarmherzigen Püffen zu befreien. Umsonst. Immer eifriger wird der Bäcker.
Seine Mütze hat er schon verloren. Immer wütender wird er aussehen; seine kleinen
126 O. Melchior und H. Penkert
Äuglein, die in seinem runden dicken Gesicht fast versch-nönden, funkeln immei
feindseliger. „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über", und so fliegen auch
grobe Scheltworte zwischen den Streitenden hin und her. Bis jetzt haben die Pferde,
die vor Milchmann Millers Wagen gespannt sind, rtihig gestanden, die Köpfe tief
zu Boden gesenkt, denn sie fühlen, daß sie hier die Hauptschuldigen sind. Hätten
sie nicht, wie sie es leider getan haben, die Brote in der Bäckerkarre aufgefressen,
so hätten die beiden Freunde, die sich nach langer Zeit wiedersahen, eine ungestörte
Wiedersehensfreude gehabt. Als nun aber die Stimmen der beiden Erregten immer
lauter werden, da halten sie's nicht mehr aus. In saiisendem Galopp jagen sie auf
dem Markte herum, den Wagen hinter sich her ziehend, der bald hier, bald dort gegen
einen Stein stößt. Mit lautem lirach stürzen die Milchkannen vom Wagen, \ind ihr
Inhalt ergießt sich über die Straße. Keiner wagt sich ihnen entgegen zu stellen.
Sie jagen in eine Nebengasse hinein. Wie der Wirt und die Neugierigen sehen, daß
sich zu dem ersten Unglück noch ein zweites gesellt, fühlen sie doch Mitleid mit
dem armen Kerl, dem Miller. Viele Hände versuchen nun die Streitenden auseinander
zu bringen. Miller hat bald mit Bitten, bald mit immer ärgerem Schelten versucht
sich zu befreien. Der Müller aber hat dagegen geschrien: „Mein Geld gibst mir für
die Brötchen, du! oder ich schlag' dir die Knochen im Leib zusammen. Anzeigen tu
ich dich, du • . ., du!" Wut und Zorn erstickten seine Stimme. Endlich gelingt es
dem Schmied, die beiden voneinander los zu bringen. Am ganzen Leibe zitternd,
keuchend und stöhnend vor Schmerz, erhebt sich der Miller. Unter dem begütigenden
Zureden seiner Freunde geht der Bäcker mit seiner leeren Karre in sein am Markte
gelegenes Haus. Noch oft, ehe er hinter der Haustür verschwindet, blickt er sich um
und hebt drohend die Faust: ,,Aber zahlen sollst mir, du!" Hinkend sucht der Milch-
mann seine umherliegenden Kannen zusammen und geht dann auf die Suche nach
seinen Pferden, von ein paar Freunden begleitet, denen er immer wieder versichert:
„Ich zahl's nicht, ich nicht." Bald liegt der Marktplatz wieder ruhig wie zuvor,
nur die Sonne ist höher gestiegen und lacht und lacht über die kleinen dummen
Menschen mit ihren Kleinlichkeiten, und freut sich über das nun wieder ruhige Bild,
das sich ihr darbietet. Doch das soll nicht mehr lange dauern. Nach einer kurzen Weile
trifft die ganze Katzengesellschaft des Städtchens auf dem Markte zusammen, und
es wird ein Fest abgehalten mit dem schönsten Konzert. Ein jeder kann so viel
Milch trinken, wie er mag; 's ist wie im Schlaraffenland. — So geht's! Wenn zwei
sich streiten, freut sich der dritte!
A.ufsatztext VId.
Wenn du mit der Eisenbahn ganz, ganz weit fort fährst von hier, so kommst du
in eine kleine Stadt, An dem Markte dieser kleinen Stadt wohnt der dicke Bäcker -
m^eister Müller. Jeden Morgen geht er mit seiner Karre fort, in der er seine Ware
hat. Dann geht er zu seinen Kunden und bringt ihnen zu ihrem Kaffee die schönsten
knusprigen Semmeln. Das ist immer eine Freude, wenn der Bäcker Müller kommt!
Aber du mußt nicht denken, daß sich die Leute nur freuten, weil er ihnen so etwas
Feines zu essen brachte, nein, über ihn selbst freuten sie sich auch. Immer hat er
eine wunderhübsche, weiße Schürze vor, und auf dem Kopfe trägt er eine große
Mütze, die so rund ist wie ein Teller. Weil er aber auch selber so gerne die schönen
frischen Semmeln ißt, sind seine Backen so dick geworden, daß man seine Augen gar
nicht melir sieht. Die meisten Semmeln brachte er immer der Krugwirtin, und darum
ging er dort auch immer sehr gerne hin, denn er verdiente dabei ja viel Geld. Er
ging n\in auch wieder an dem Morgen zu ihr, von dem ich dir erzählen will, denn
da passierte ihm eine schlimme Geschichte. Wie er aus dem Wirtshause heraus-
kommt, hört er laute Rufe: „He, Freund Müller, guten Tag, wie geht's ?" Da hat er
auch schon den Rufer bemerkt und erkannt. Es ist sein lieber guter Freund Schmidt,
den er nun nach langer Zeit einmal wiedersieht. Lustig knallt Milchmann Schmidt
mit der Peitsche, um die Liese und den Hans, so heißen seine beiden Pferde, zu
schnellerem Lauf zu ermutigen. Lustig klappern die Kannen auf seinem Wagen, die
alle blitzen, so blank hat Frau Schmidt sie gescheuert. Ein „Prrr!", vmd die Pferde
stehen vor der Karre des Bäckers still. Der Milchmann legt Peitsche und Zügel aus
über die Anwendung zweier psychologischer Methoden usw. 127
der Hand und springt herab vom Wagen und nun schütteln sie sich die Hände und
erzählen und lachen und staunen sich dann wieder an: „Ach Müller, du bist ja wohl
noch 'n bischen dicker geworden. Bald muß dir der Schneider wohl besonders weite
Schürzen anfertigen!" ,,Na Schmidt", sagt da der Bäcker, ,,und du bist ja wohl noch
dünner geworden." Ja, so lang wie der Schmidt war, das kannst du dir gar nicht
vorstellen! Wenn er dem Bäcker die Hand auf die Schulter legen wollte, so mußte
er sich ganz tief herunter beugen. Sie erkiuidigten sich nun beide, wo sie her kämen
und wo sie hin wollten, was das Geschäft mache, wie's im Haiise stände und anderes
mehr. Schließlich meinte der Bäcker, ein Wiedersehen düiften sie doch nicht so trocken
feiern. Darum fragte er den Milchmann: ,,Sag mal, Freund Schmidt, hast du schon
jemals den Apfelwein unseres Städtchens probiert ? Nicht ? ! Na, dann komm
nur mit. Wir stehen ja doch gerade vor dem Wirtshaus. Bei einem Glas Wein erzählt
es sich noch mal so gut." Der Milchmann ging gerne mit dem Bäcker hinein, denn
er trank auch gerne mal ein Gläschen. Der dicke Bäcker reckte sich ein wenig. Der
lange Milchmann bückte sich ein wenig, und dann konnten sie Arm in Arm ins Wirts-
haus gehen.
Die erste ",,kurze, kühle Erzählung der Handlung" übergeht Bild 1 — 3,
offenbar in dem Bestreben, nichts als die eigentliche Handlung zu bringen.
Die zweite, als ,, lebendige Darstellung der Handlung im engen Anschluß
an die Bilder 1 bis 4" geschriebene Arbeit zeigt eine deutliche Umstellung
in bezug auf den Rhythmus, die Sprachbehandlung und die mit guter
Einfühlung und unverkennbarer Teilnahme ausgeführte Vertiefung in
die einzelnen Momente der Handlung, die außerdem eine Reihe phantasie-
voller Ergänzungen erfahren, bald konkreter, bald abstrakter Art. Ähnlich
ist die dritte, auf die Bilder 6 und 7 bezügliche Arbeit, die eine ,, lebendige
Darstellung der Handlung ohne engen Anschluß an die Bilder" sein will;
gegen die zweite deuthch gesteigert durch Einfügung größerer Phantasie-
einheiten zu Beginn und in der zweiten Hälfte. Die vierte Einstellung ist
eine pädagogische, ,,die Geschichte als Erzählung für eine Fünfjährige".
Sie ist im ganzen, nicht in allen Einzelheiten geglückt. Die dem Märchenstil
abgesehene Einführung nach Art und Ort ist ebenso erfreulich wie die
sprachliche Form. Die meist kürzeren, immer übersichtlichen Sätze der
Erzählung selbst, die niedriger gehaltene Zahl schmückender Beiworte,
mehrere mit Geschick gefundene Ergänzungen, die eingefügten Namen für
Leute und Pferde, die auf das kleine Kind bezugnehmenden, erklärenden
Einfügungen, die ihre eigene Anteilnahme mehrfach unmittelbar bekun-
dende Erzählerin : alles deutliche Beweise einer dazu willkürlich bezeugten
pädagogischen Beanlagung. Interessant ist, daß die fraglos intelligente
Versuchsperson auch nach längerer Beschäftigung mit dem Bilderbogen
von den beiden wichtigen Beobachtungseinzelheiten in keiner der vier
Einstellungen beide nennt und das Offenbleiben der Bäckerkarre nur ein-
mal (in VI b).
Die psyehologisehen Schüler Untersuchungen zur Aufnahme
in die Berliner Begabtenschulen.
Von Walther Moede und Gurt Piorkowski.
Vom Berliner Stadtschulrat, Herrn Dr. Reimann, erging die Anfrage
an uns, ob wir in der Lage wären, auf Grund wissenschaftlicher Prüfungs-
methoden eine Auslese unter den von den einzelnen Schulen Berlins
128 Walther Moede und Curt Piorkowski
gemeldeten Zöglingen durchzuführen, damit für deren endgültige Über-
weisung auf eine höhere Schule eine exakte Grundlage vorhanden wäre.
Ihm waren die guten Erfahrungen nicht unbekannt, die das Militär mit
der Einführung der von uns ausgearbeiteten Prüfungsmethoden für Militär-
kraftfahrer gemacht hatte, deren einheitliche Durchführung bei allen
Kraftfahr-Ersatzabteilungen in mannigfachster Weise wesentliche Vorteile
mit sich brachte. Wir erklärten uns sofort bereit, und unser Untersuchungs-
programm sowie dessen leitende Grundsätze erhielten auch die volle
Zustimmung der hohen Schulbehörde.
Das Untersuchungsverfahren war durch die Art des vorliegenden
Problemes fest vorgeschiieben. Da zunächst die volle Verantwortung des
Psychologen für seine Auslese als selbstverständlich vorausgesetzt wurde
und diese Verantwortung eine recht erhebliche ist, entscheidet doch der
Befund über das Lebensschicksal der Kinder, so konnte nur eine ein-
gehende, systematische Untersuchung der geistigen Fähigkeiten der Kinder
nach einheitlichen Gesichtspunkten in Frage kommen.
Nur die systematische Funktionsprüfung nach wissenschaftlichen Prin-
zipien konnte als einheitlicher Maßstab in Betracht kommen, der es
gestattet, unter den Kindern eine sachliche Auslese zu treffen, derart,
daß wirklich nur die bestbeanlagten Schüler und Schülerinnen einer
gehobenen Ausbildung überwiesen werden können. Da die Kinder von den
mannigfachsten Schulen kamen, so konnte man eine Begabungsschätzung
eines oder mehrerer Lehrer nicht zugrunde legen, ganz abgesehen von den
imaginären Grundsätzen solcher Rangierung. Auch eine Statistik der
Schulleistungen war nicht zu verwerten, da die Zensuren so ziemlich alle
gleich gut waren. Eine Probelektion endlich durch eine bewährte Lehr-
kraft würde ebenfalls vorwiegend auf die Leistungen und Kenntnisse Acht
haben und konnte unmöglich eine hinreichend scharf abgestufte Rang-
reihe der Kinder exakt ableiten lassen, für die auch der bewährteste Prak-
tiker kaum eine Verantwortung zu übernehmen geneigt sein dürfte. Bliebe
nur noch als farbloses und ganz neutrales Verfahren die Auswahl nach
dem Los oder Alphabet. Solche Zufallsauslese aber wäre denn doch zu hart,
wo gute andere Wege gangbar sind.
Lediglich die wissenschaftliche Auslese kann sachlich einwandfrei genannt
werden, sofern sie analytisch systematisch und exakt vorgeht. Dann
lautet das Problem sehr einfach: Es sind eingehende Untersuchungen
vorzunehmen, die das Bewußtsein und seine Funktionen gründlich prüfen
und die es erlauben, die systematisch und einheitlich abgeleiteten Unter-
suchungsbefunde zu einer Rangordnung zu verarbeiten. Wir mußten also
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Urteilsfähigkeit und andere Funktionen
systematisch nach experimentellen, Maß und Zahl verwendenden Methoden
untersuchen und nun auf Grund der Leistungsmaßzahlen eine mittlere
Rangordnung berechnen, die dann besagt: In allen untersuchten Leistungen
schnitt im Mittel Schüler A am besten, B am zweitbesten usw. und schließ-
lich N am schlechtesten ab. Sind nun eine begrenzte Anzahl von Plätzen
verfügbar, so ist es nicht schwer, sie an diejenigen Prüflinge zu verteilen,
die laut Untersuchung die besten geistigen Fähigkeiten aufweisen.
Psychol. Schüleruntersuchungen z. Aufnahme in die Berliner Begabtenschulen 129
Wir haben also die einzelnen Funktionen möglichst rein für sich zu
prüfen, auf Grund der Prüfung Rangreihen aufzustellen und nun aus
allen Rangordnungen mittlere Rangplätze für alle Schüler zu berechnen,
wie dies nach dem anerkannten Prinzip der Auswertung nach dem arith-
metischen Mittel allgemein üblich ist.
Die analytische Auswertung der Anlage hat in großzügiger Weise
zuerst Alfred Binet beschritten, wie leider viele seiner Nachahmer und
Nachfahren ganz vergessen zu haben scheinen. Wir gehen bewußt über
seine willkürliche Vierheit der intellektuellen Funktionen, der compröhen-
sion, invention, direction, censure, die nach ihm das Wesen der Intelligenz
ausmachen sollen, durchaus hinaus und streben eine möglichst umfassende
Untersuchung des Bewußtseins an. Wir stützen uns dabei nicht auf eine
willkürliche Theorie der Intelligenz oder Ansicht von dem Wesen der Be-
gabung überhaupt, geschweige denn eine Meinung von dem Wesen der
Höchstbegabung, — und wir können dies mit gutem Grunde, da wir nicht
das Problem der Höchstbegabung lösen wollen —, sondern legen den Schwer-
punkt auf intellektuelle Hauptleistungen des Bewußtseins und ihre exakte
Auswertung.
Zur Ergänzung der experimentellen Untersuchung der intellektuellen
Fähigkeiten, die einzeln und der Reihe nach angeführt werden, so daß
ein Irrtum nicht unterlaufen kann, wird die Beurteilung der moralischen
Qualitäten der Schüler durch den Lehrer mit herbeizuziehen sein. Außer-
dem konnten wir durch systematische Beobachtung der Kinder in dem
von Herrn Direktor Dr. Hildebrand geleiteten Schülerheim in Wandt-
litzsee bei Berlin selbst ein Urteil über das Gesamtverhalten des Schülers
bilden, das in aller Muße gewonnen wurde.
Unser Untersuchungsprogramm umfaßt im wesentlichen folgende Seiten:
üntersnchungsschema analytischer und synthetischer, einfacher und
zusammengesetzter Hauptfunktionen des Bewußtseins.
I. Aufmerksamkeit und Konzentrationsfähigkeit bei
unmittelbarem und reproduktivem Material.
Dauerspannung.
Ablenkbarkeit und Mehrfachhandlung.
Ermüdbarkeit.
II. Gedächtnis.
Ä. Zuführung neuen Gedächtnismaterials.
a) Gedächtnis für sinnlose Stoffe bei verseil iedener Art der
Darbietung und verschiedenen Abnahmezeiten.
b) Gedächtnis für sinnvolles Material bei gleichen Gesichts-
punkten.
B. Bestand der vorhandenen Dispositionen, seine Bereitschaft und
Abwicklung.
III. Kombination.
A. Anschauliche Kombination.
Zeitschrift f. pädugog. Psychologie. 9
130 Walther Moede und Gurt Piorkowski
B. Intellektuelle Komtination.
a) gebundene K.: Ergänzen von Textlücken.
b) freie K. : Finden aller möglichen sinnvollen Beziehungen
zwischen drei gegebenen Begriffen.
IV. Begriffsbereich.
A. Bestand an vorhandenen Begriffen und seine Flüssigkeit.
B. Stiftung neuer begrifflicher Beziehungen.
a) Heraussuchen "des Wesentlichen unter gegebenen Elementen.
b) Finden des Gemeinsamen zwischen mehreren Gegebenheiten.
c) Erfassen funktionaler Beziehungen zwischen mehreren Merk-
malsreihen.
V. Urteilsfähigkeit.
A. Allgemeine Beurteilungen auf Grund
a) sachlicher Wertung der Umstände,
b) seelischer Einfühlung,
c) sachlich -psychologischer Wertung des Tatbestandes.
B. Beurteilung von Sonderfällen.
a) Erfassen des Wahrscheinlichsten bei gegebenen Umständen.
b) Auffinden des Zweckmäßigsten in einer gegebenen Situation.
VI. Anschauung und Beobachtungsfähigkeit.
A. Anschauungsfähigkeit im Wirklichkeits versuch und bei sprach-
licher Darbietung.
B. Beobachtungsschärfe und Ergiebigkeit bei kategorischer Ein-
. Stellung.
a) Aussagen über Dinge und Merkmale im Bildversuch.
b) Erfassen von Relationen in der Wahrnehmung bei Analysen
und Synthesen.
Die Durchführung des Programms erforderte erhebliche Zeit, verhieß
aber sehr bald, zu einem befriedigenden Ziele zu führen. Die Sitzungen
wurden an Je drei Nachmittagen von 4 bis 7%, durchgefülirt, wobei nui'
kleine Pausen eingestreut wurden. Den Vorsitz bei den Prüfungen führten
Herr Stadtschulrat Dr. Reimann und Gymnasialdirektor Gihlow vom KöU-
nischen Gymnasium, in dessen Räumen auch die Untersuchung stattfand.
Es hatten sich erfreulicherweise, aber auch leider, eine recht ansehnliche
Anzahl von Zuschauern bei der ersten Sitzung eingestellt, die aber, wie be-
sondere Kontrollversuche ergaben, die Abnahme wenig beeinträchtigt haben.
Die Auswertung der einzelnen Leistungen zum Zwecke der Ableitung
von Rangordnungen mußte hinreichend scharf sein, um die teilweise
recht einschneidende Auslese objektiv durchführen zu können; galt es
doch z. B. von den gemeldeten 180 Mädchen nur 60 für die vorhandenen
Plätze auszuwählen.
Die Bewertung selbst war quantitativ und qualitativ. Ihre Gesichts-
punkte wurden unmittelbar aus dem erhaltenen Material heraus gewonnen.
Die einzelnen auf Grund der quantitativen Bestimmung erhaltenen Rang-
Psychol. Schüleruntersuchungen z. Aufnahme in die Berliner Begabtenschulen 131
reihen in den einzelnen Leistungen wurden zu einer mittleren Rang-
ordnung verarbeitet und danach die Scheidung durchgeführt. Eine Gewichts-
skala für die einzelnen Funktionen wurde nicht eingeführt, etwa um
die Ergebnisse einer schon vorher gebildeten Intelligenztheorie anzupassen,
sondern an dem Grundgedanken der gesamten Untersuchung festgehalten,
mittlere Leistungsmaßzahlen auf den angeführten Seiten des Bewußt-
seins zu erhalten, die der endgültigen Rangreihe zugrunde gelegt wurden.
Nur so kann bei dem heutigen Stande des experimentellen Wissens eine
gerechte und objektive Untersuchung durchgeführt werden.
Die Eichung der Untersuchungsmethoden erübrigte sich daher von
selbst. Nur insofern waren Vorversuche nötig, als man sich darüber ver-
gewissern mußte, daß hinreichend abgestufte Lösungen erhalten werden
konnten, daß also mit anderen Worten die geforderten Leistungen nicht
zu leicht und nicht zu schwer waren. Diese Hauptprobe haben unsere
Methoden, auch die sogenannten stummen Prüf ungs verfahren, trefflich
bestanden. Den beliebten Zirkel einer transzendenten, nicht immanenten
Eichung der Methoden ebenfalls zu begehen, lag für uns gar kein Anlaß
vor. Mit welchem Rechtsgrunde sollten wir erst eine imaginäre Rangierung
der Begabung durch Schätzung einführen, da der Erfahrung nach angeb-
bare und aufzählbare, einheitliche und vergleichbare Maßstäbe für die
Schätzung des Praktikers nicht gegeben sind, wo unser Problem dies gar
nicht erforderte, und warum sollten wir erst auf eine unsichere Reihe
hin Methodenauswahl und Gewichtsskala der Auswertung zum Zwecke
einer erstrebten Übereinstimmung vornehmen? Da die geprüften Leistun-
gen des Bewußtseins angegeben sind und diese Seiten für die Beurteilung
der intellektuellen Fähigkeiten allein in Betracht gezogen wurden, kann
ein Irrtum in der Rechnung nicht enthalten sein.
Der analytische Grundgedanke bei gleicher Wertigkeit der untersuchten
Funktionen wurde somit rein durchgeführt.
Eine Nachkontrolle des Untersuchungssystems durch Rektor Schmidt von
der 55. Gemeindeschule ergab den Korrelationskoeffizienten q = -\- 0,91
zwischen Lehrerschätzung der Oberklasse und experimentellem Befunde
nach unserem System. Der wahrscheinliche Fehler betrug w F^ = + 0,021
und kann vernachlässigt werden.
Die Untersuchung wurde in Gruppenprüfung durchgeführt. Diese ist
zwar nicht das Ideal einer Untersuchung überhaupt, war aber durch die
gegebenen Umstände durchaus gefordert. Gewiß wird, wie uns eingehende
Erfahrungen und experimentelle Studien über Gruppenpsychologie gelehrt
haben, durch die Gruppe auch bei den an Klassenarbeit gewöhnten Schülern
neben Anregung auch Hemmung der intellektuellen Betätigung bewirkt,
aber diese Umstände mußten hingenommen werden und werden hingenom-
men werden müssen, solange es keine hauptamtlichen Schulpsychologen
gibt, die hinreichend Zeit haben, die gründlichen Untersuchungen und
Berechnungen, ganz abgesehen von der Aufstellung neuer Methoden, haupt-
amtlich durchzuführen. Irgendeine Aufteilung des Programmes an eine
größere Anzahl von psychologisch interessierten Versuchsleitern, die zu
diesem Zwecke besonders zu instruieren wären, schien uns vor der Hand
132 W. Moede u. C. Piorkowski. Psychol. Schüleruntersuchungen usw.
keinesfalls ratsam, da dann die Vergleichbarkeit der Befunde sowie die
Frage der Verantwortung für das Ergebnis erheblichen Schwierigkeiten
begegnet. Schon die Berechnung an eine Kommission aufzuteilen, schien
uns nicht ratsam.
Zum andern aber bot die Gruppenuntersuchung auch erhebliche sacli-
liche Vorteile. Wir konnten bei einiger Vorsicht erreichen, daß die einzelnen
Schüler nicht miteinander in Verbindung traten und die Lösungen der Auf-
gaben kannten, noch ehe sie gestellt waren. Dies aber wäre bei Einzel-
untersuchung bei den gegenwärtig gegebenen Umständen nicht zu ver-
meiden gewesen. Preihch kann der Schulpsychologe, der jahrelange Er-
fahrung hinter sich hat, auch dann noch Rat schaffen, falls der Sachverhalt
es erfordert und er zu einem reinlichen Ziele kommen will.
Unsere Ergebnisse lehren, daß der von uns eingeschlagene Weg durchaus
fruchtbar ist. Im allgemeinen fanden wir treffliche intellektuelle Leistun-
gen, konnten aber trotzdem den beträchtlichen Abstand feststellen, der
den entwickelten normalen vom jugendlichen, gut beanlagten Intellekt
trennt. Überschauen wir den eingehenden Befund der analytischen und
systematischen Untersuchung, so kann es dem Fachpsychologen nicht
schwer fallen, die Verantwortung für sein Urteil zu übernehmen, das auf
guter wissenschaftlicher Grundlage abgeleitet wird^).
^) Inzwischen ist eine ausführliche Darstellung in Buchform erschienen: Moede-
Piorkowski-Wolff : Die Berliner Begabtenschulen, ihre Organisation und die experi-
mentellen Methoden der Schülerauswahl. Herrn. Beyern. Söhne. Langensalza 1918.
Literatur.
Binet: Les idöes modernes sur les enfants. Paris 1913,
Meumann: Abriß der experimentellen Pädagogik. Leipzig 1913.
Moede: Untersuchung und Übung der Gehirngeschädigten nach experimentellen
Methoden. Langensalza 1917, Beyer \xnd Söhne.
— Die Massen- vmd Sozialpsychologie im kritischen Überblick. Zeitschrift für päda-
gogische Psychologie.
— Der Wetteifer, seine Struktiur und sein Avismaß. Zeitschrift für pädagogische
Psychologie.
Piorkowski: Beiträge zur Methodologie der wirtschaftlichen Berufseignung.
Leipzig 191Ö, Barth.
— Untersuchungen über die Kombinationsfähigkeit bei Schulkindern. Leipzig,
Pädagogisch-psychologische Arbeiten des Lehrervereins, Bd. 4.
Stern: Die Intelligenzprüfung. 2. Aviflage. Leipzig 1916, Barth.
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg.
Von William Stern.
I. Grundsätze der Auslese. II. Der Beobachtungsbogen. UI. Liste der Tests.
I. Grundsätze der Auslese.
Der Hamburgische Staat hat soeben eine Ausgestaltung seines Schul-
wesens beschlossen, die auf die pädagogische Reformbewegurig in Gesamt-
deutschland eine starke Rückwirkung ausüben dürfte: Die Einführung
William Stern, Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg 133
von Volksschulen mit neun Schuljahren. Diese sind für Kinder
bestimmt, die eine über die Ziele der achtstufigen Volksschule hinaus-
führende Bildung erwerben sollen und für ihren späteren Beruf die
Kenntnis fremder Verkehrssprachen nötig haben. Sie sollen zwar
keineswegs alle begabten Kinder den achtstufigen Schulen entziehen,
doch muß ein Kind, um in den neunstufigen Zug übergehen zu können,
sich bis dahin in der Schule bewährt haben und in sprachlich-logischer
Hinsicht gut befähigt sein.
Ostern 1918 sollen bereits die Anfänge dieser Reform ins Leben treten.
Sowohl diese pädagogischen Maßnahmen selbst wie das zu ihrer Ver-
wirklichung eingeleitete Verfahren der Auslese, mit dem wir soeben be-
schäftigt sind, unterscheiden sich in wesentlichen Punkten von der
Berliner Veranstaltung.
In Hamburg verbleibt die ganze Förderung der Begabten zunächst
noch ganz innerhalb des Rahmens der Volksschule, gewinnt aber hier
ein weit größeres Ausmaß als irgend wo anders. Nach dem vierten Schul-
jahr wird die Volksschule gegabelt in einen deutschen Zug (D-Zug), der
weitere vier Jahre umfaßt, und einen für die oben bezeichneten Schüler
bestimmten Zug, der zwei Fremdsprachen treibt, fünf Jahre umfaßt und
in seinen Lehrzielen ungefähr der preußischen Mittelschule entsprechen
soll (Fremdsprach-Zug oder F-Zug). Für das hier hinzukommende neunte
Schuljahr sind im Bedürfnisfalle Unterrichtsbeihilfen vorgesehen. Die
Möglichkeit eines Überganges von dem F-Zug zur Realschule, eventuell
auch zur Oberrealschule und zum Studium, ist durch Übergangsklassen
gegeben. Durch diese Maßnahme ist die Gefahr einer durchgängigen
Akademisierung der Begabten vermieden i); denn die weitaus meisten
von ihnen werden nach Absolvierung des F-Zuges in den Beruf ein-
treten; für diesen sind sie gründlicher vorgebildet als die Schüler des
Normalzuges.
Es sollen nun zu Ostern dieses Jahres 22 Anfangsklassen des F-Zuges
geschaffen werden, vierzehn Knaben- und acht Mädchenklassen. Da
die Klasse 45 Schüler enthalten soll, gilt es, aus den Kindern des
vierten Schuljahres, also den zehnjährigen — es gibt deren in Ham-
burg ungefähr 20000 — 990 gut befähigte auszulesen. Erfreulicher-
weise war der Leiter des Hamburgischen Volksschulwesens Schulrat
Umlauf (bekannt als Vorsitzender des Deutschen Bundes für Erziehung
und Unterricht) sofort davon überzeugt, daß eine so umfassende päda-
gogische Aufgabe der Mitwirkung der Psychologie bedürfe; und gern
hat das Psychologische Seminar in Hamburg die Aufgabe übernommen,
die Grundsätze dieser Mitwirkung auszuarbeiten und ihre Anwendung vor-
zubereiten. Schneller als ich es zu hoffen wagte, konnte so eine wich-
tige Forderung meiner vor I1/2 Jahren erschienenen Programmschrift 2)
verwirklicht werden. Dabei ergibt sich von selbst eine organisatorische
Verbindung zwischen der Schule und dem psychologischen Institut,
sodaß sich auch hier die Kulturnotwendigkeiten des Tages als stärker
1) Vgl. hierzu meine Programmschrift: Jugendkunde als Kulturlorderung. Zeitschrift f. päd.
Psychol. XVIl. S. 289. Sonderausgabe S. 39/40.
2) A. a. 0. S. 293. Sonderausgabe S. 48. ff.
134 William Stern
erweisen denn alle theoretischen Prinzipienstreitereien.i) Während
in Berlin vorläufig noch Psychologen, die außerhalb des Schul-
dienstes stehen, von Fall zu Fall für die Begabtenauslese zugezogen
werden — ein Verfahren, das nur als Provisorium haltbar ist — wurde
in Hamburg ein psychologisch gründlich geschulter Volksschullehrer, Herr
R. Peter, der ein langjähriger Mitarbeiter des Psychologischen Seminars
ist, von der Schulbehörde an das Seminar bis auf weiteres beurlaubt,
um seine Zeit und Kraft ganz in den Dienst der neuen schulpsycholo-
gischen Aufgaben, insbesondere der Begabtenauslese, zu stellen. Natürlich
wirken auch noch andere Lehrer und Lehrerinnen, welche Mitglieder
des psychologischen Seminars sind, an der umfassenden und so schnell
zu erledigenden Arbeit mit. Die ganze Organisation des Auslese- und
Aufnahmeverfahrens liegt in der Hand eines Ausschusses, dem der Schul-
rat, Schulinspektoren, einige Rektoren, Lehrer und Lehrerinnen sowie
Psychologen angehören.
Die psychologische Mitarbeit an der Begabtenauslese hatte ich schon
früher folgendermaßen abzustecken versucht: „Sie hat die psychogra-
phische Beobachtung des einzelnen Zöglings zu regeln durch Beob-
achtungsanweisungen ; sie muß eine von der Beobachtung unabhängige
exakte Fähigkeitsprüfung durch experimentelle Hilfsmittel („Tests")
schaffen". 2) Diesem Plane gemäß wird in Hamburg (ebenso auch in
Breslau) verfahren, während man in Berlin allein die Testprüfung aus-
schlaggebend sein ließ.
Ich sehe in dieser Beschränkung auf die Experimentaluntersuchung
den Hauptmangel des Berliner Ausleseverfahrens (das im übrigen —
namentlich mit Rücksicht darauf, daß es den ersten Schritt auf ganz
neuen Wegen darstellt — viel Gutes enthält und allen Nachfolgern wert-
volle Anregungen gibt).3) Die Schwere der Verantwortung bei der Begabten-
auslese ist eine außerordentlich große, sowohl den Individuen gegen-
über, deren ganzes Lebensschicksal durch die Zuweisung zu einer
Begabtenklasse eine neue, in ihren Folgen nicht zu übersehende Wendung
erhält, wie der Gesamtheit gegenüber, deren zukünftige Wohlfahrt davon
abhängt, daß die wirklich Tüchtigen zu einer möglichsten Entfaltung
ihrer Anlagen gelangen. Diese Schwere der Verantwortung hat gewiß
zur Folge, daß man dem Lehrer allein nicht die endgültige Bestimmung
anheim stellen kann, welcher Schüler seiner Klasse in die Begabten-
klasse gehöre; aber ebensowenig sollte der Psychologe allein seiner
Prüfungsmethode, mag sie noch so exakt sein, die schwere Entscheidung
aufbürden. Prüfungen sind niemals ganz frei zu machen von den
Imponderabilien des Augenblicks, von Indisposition, Examensangst und
Ähnlichem; und wie deshalb auch anderwärts, z. B. beim Abiturium,
neben dem bloßen Prüfungsausfall die sonst bekannte Leistungsfähig-
keit des Prüflings mit in Betracht gezogen werden soll, so auch hier.
Eine weitere Schwäche des nur- experimentellen Verfahrens scheint
mir der Berliner Bericht zu verraten: es ist zu einseitig rechnerisch-
1) A. a. 0. S. 303. Sonderausgabe S. 69.
2) A. a. 0. S. 294. Sonderausgabe S. 50.
3) In Zukunft sollen nun auch in Berlin außer den Testpriifimgen Beobachtungsbogen ver-
wandt werden. Vgl. die Mitteilung von Rebhuhn am Schluß des Heftes.
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg 135
mechanisch. Jeder Schüler erhielt dort für jeden von ihm erledigten
Test eine Wertziffer; aus der Gesamtheit dieser Wertziffern wurde ein
Total wert für den Schüler errechnet, und nach diesen Totalwerten wurden
sie in eine Rangordnung gebracht. Die 60 ersten dieser Rangordnung
wurden dem Gymnasium überwiesen, die übrigen waren von der Begabten-
förderung ausgeschlossen. Der Zifferunterschied zwischen dem 60. und
61. der Reihe mag vielleicht ein ganz unbedeutender sein, aber das
starre Prinzip der Rechnung verlangte, daß ihre Lebenswege eine ganz
verschiedene Richtung erhielten. Man wird also wohl verlangen müssen,
daß zum mindesten an der unteren Grenze der Auszuwählenden ein
breiteres Gebiet der zweifelhaften Fälle anerkannt werde und
daß bei diesen zweifelhaften die Entscheidung erst unter Hinzuziehung
aller zugänglichen Hilfsmittel, vor allem der Lehrerbeobachtung
gefällt wird. Es ist die wahrere Exaktheit, wenn man sich hier nicht
allein auf den mathematischen Ziffernwert verläßt, sondern individua-
lisiert und qualitative Analyse treibt.
Ein weiterer Gesichtspunkt kommt hinzu. Die Lehrerschaft hat das
Recht, zu verlangen, daß ihre langjährige und vielseitige Kenntnis der
Kinder mit verwertet werde. Dies geschieht ja freilich schon in hohem
Maße dadurch, daß sie die Vorauslese zu treffen hat; sie muß die Kinder
präsentieren, unter denen dann die endgültige Auswahl zu treffen ist;
Kinder, die sie nicht vorschlägt, kommen erst gar nicht in die engere Wahl.
Aber bei dem Argwohn, mit dem die Praktiker unsere Tätigkeit als Ein-
griff in ihre Gerechtsame zu betrachten geneigt sind, muß auch der Schein
vermieden werden, als ob der Psychologe sich an die Stelle des Päda-
gogen setzen wolle. Und deshalb soll auch bei jener engeren Wahl
neben dem Testausfall die Fülle der Beobachtungen mitsprechen, die
der Lehrer früher über den Schüler hat sammeln können.
Unter Berücksichtigung dieser methodischen Gesichtspunkte und zu-
gleich der praktischen Schwierigkeiten, die durch die große Zahl der
Auszulesenden (fast 1000) bedingt sind, sind wir zu dem folgenden
Ausleseverfahren gekommen, das in eine Vorauslese durch die
Lehrerschaft und eine Nach aus lese durch eine Aufnahmekommission
zerfällt.
Die Auslese hat aus den Kindern der vierten Volksschulklasse (viertes
Schuljahr) zu geschehen. Um die neu zu schaffenden Klassen des F-
Zuges genau zu füllen, würden aus jeder vierten Knabenklasse vier,
aus jeder Mädchenklasse zwei auszuwählen sein. Da aber die Begabungen
auf die Schulen nicht gleichmäßig verteilt sind, und damit zugleich für
die endgültige Auslese ein Spielraum gegeben ist, wurden die Lehrer
aufgefordert, aus einer Knabenklasse „bis zu sechs", aus einer Mädchen-
klasse „bis zu drei Kindern" vorzuschlagen („Vorauslese"). Die Schüler,
welche in erster Linie empfohlen werden, sind durch Unterstreichung
zu kennzeichnen. Natürlich muß die Zustimmung der Eltern zu dem
Übergang in den F-Zug mit seiner um ein Jahr verlängerten Schulzeit
eingeholt werden.
Zum Vorschlag kamen ungefähr 1400 Schüler und Schülerinnen, aus
denen die Nachauslese die schwächsten 30 0/0 auszuscheiden hat. Die
136 William Stern
Lehrer erhielten für jedes der von ihnen vorzuschlagenden Kinder
einen psychologischen Beobachtungsbogen. Der Bogen ist
in unserem Seminar unter meiner Leitung und mit Berücksichtigung
früherer Versuche ähnlicher Art ausgearbeitet worden; den Haupt-
anteil an der Arbeit hat die Lehrerin Fräulein Martha Muchow.
Er enthält, neben einigen Fragen nach häuslichen Verhältnissen und
Schulleistungen, Fragen nach psychischen Eigenschaften des Kindes,
und zwar nur nach solchen, die für einen etwaigen Eintritt in eine Schule
mit erhöhten Anforderungen von Bedeutung sind. Die psychologischen
Fragen beziehen sich auf folgende Hauptgebiete: Anpassungsfähigkeit,
Aufmerksamkeit, Ermüdbarkeit, Wahrnehmungs - und Beobachtungs-
fähigkeit, Gedächtnis, Phantasie, Denken, Sprache, Arbeitsart, Gemüts-
und Willensleben, besondere Interessen und Talente. Der Lehrer soll
nicht etwa den ganzen Bogen ausfüllen, sondern nur diejenigen Punkte
beantworten, über welche ihm eindeutige und sichere Beobachtungen
vorliegen. Zur Erleichterung seiner Arbeit sind die möglichen Antworten,
sowie die Hauptgelegenheiten zur Beobachtung der betreffenden Eigen-
schaften hinzugefügt.
Vor Ausgabe der Bogen wurden die beteiligten Lehrer und Rektoren
zu einer Versammlung einberufen, in der sie genau über die Gesichts-
punkte der Auslese, sowie über den Zweck und die Benutzung des
Bogens orientiert wurden. Für di^ Ausfüllung der Bogen stand diesmal
leider nur die knappe Zeit von vier Wochen zur Verfügung. (In späteren
Jahren ist eine bedeutend längere Beobachtungszeit vorgesehen).
Nun folgte die Testprüfung, die bei der großen Zahl von Prüflingen
besondere technische Schwierigkeiten bot. Zu meinem Bedauern mußte
auf Einzelprüfungen gänzlich verzichtet werden; damit fiel auch die
Möglichkeit für die Benutzung der sogen, stummen Tests fort. (In
einer gewissen Modifikation ist einer von diesen, die Ordnung von
Begriffsreihen, auch im Gruppenversuch zu benutzen). Immerhin ließ
sich mit Hilfe der im Anfangsaufsatz dieses Heftes beschriebenen Testö
eine Prüfungsordnung zusammenstellen, die mannigfach genug ist, um
von der Fähigkeit der Prüflinge ein vielseitiges Bild zu geben. Daß unsere
Tests grade die sprachlich-logischen Fähigkeiten bevorzugen, ist für die
Hamburger Auslese angemessen, da der F-Zug sich vornehmlich durch
den Betrieb der Fremdsprachen von dem Normalzug unterscheidet. Die
Prüfung dauerte etwa vier Stunden, die auf zwei aufeinander folgende
Vormittage verteilt waren. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, daß
sämtliche etwa 1400 Prüflinge gleichzeitig geprüft werden mußten,
damit keine Weitererzählung über die erhaltenen Aufgaben von einem
zum andern stattfinden konnte. Deshalb wurden 60 Gruppen von je
20—25 Prüflingen gebildet; die hierzu nötigen 60 Prüf er und Prüferinnen,
die sich aus der Lehrerschaft zur Verfügung stellten, erhielten vorher
eine gedruckte Instruktion, in der jedes Wort, jede Weisung, jede Einzel-
handlung jede Zeitdauer vorgeschrieben war; diese wurde mit ihnen
Punkt für Punkt durchgesprochen, ihre bedingungslose Befolgung aufs
eindringlichste eingeschärft.
Die 60 Gruppenprüfungen wurden in 11 Schulgebäuden abgehalten,
in denen sonst kein Unterricht stattfand. In jeder Schule fungierte
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg 137
ein genau informierter Mitarbeiter des psychologischen Seminars als
Prüfungsleiter. Das Verfahren konnte ohne Störungen durchgeführt
werden; auch darf man nach den getroff enen Vorkehrungen annehmen,
daß die Prüfungsbedingungen für sämtliche Prüflinge in hohem Maße
gleichartig und gleichwertig waren — trotz der Vielköpfigkeit des
Prüferkollegiums.
Nicht minder schwer ist die nun folgende Aufgabe der Bearbeitung,
die binnen wenigen Wochen völlig abgeschlossen sein muß. Es müssen
einerseits die Beobachtungsbogen ausgezogen, andererseits die 8 x 1400
Testleistungen korrigiert und beziffert, die Prädikate für jeden Schüler ver-
einigt werden. Auch hierfür stellten sich zahlreiche Helfer zur Verfügung,
die in 8 Arbeitsgruppen unter psychologisch geschulter Leitung tätig sind.
Nunmehr tritt eine engere Aufnahmekommission (4 Pädagogen und
der Referent) in Tätigkeit. Sie hat auf Grund des gesamten, für
jedenSchülervorliegendenMaterials, nämlich des Zeugnisbogens,
des Beobachtungsbogens, des Testausfalls und der etwaigen (durch Unter-
streichung gekennzeichneten) besonderen Empfehlung zu entscheiden, ob
er in den F-Zug aufgenommen wird oder nicht. Dies Urteil wird für die
große Mehrheit der Fälle sehr schnell gegeben werden können, nämlich
dort, wo die genannten Wertungen gleich günstig lauten, oder wo sie
alle oder mehrere von ihnen weniger günstig sind. Jene sind aufzu-
nehmen, diese auszuscheiden. Der Rest aber muß einer mehr indi-
vidualisierenden Behandlung unterworfen werden; es wird im ein-
zelnen zu prüfen sein, worauf etwa der ungünstige Ausfall, z. B. der
Tests beruhe, oder wodurch die geringeren Ziffern der Zeugnisse be-
dingt seien, da doch die anderen Instanzen für den Schiller sprechen.
In Ausnahmefällen wird auch noch eine persönliche Äußerung des
Lehrers, oder eine nochmalige Prüfung des Schülers herbeizuführen sein.
Auch die» Verfahren wird nicht vor Irrtümern und gelegentlichen Miß-
griffen schützen; aber es ist immerhin das beste, das zur Zeit empfohlen
werden kann. Und es wird umso besser werden, je mehr die Lehrer-
schaft sich darauf einstellt, daß schon bei der Vorauslese nicht der bloße
äußere Leistungseffekt, sondern die wirkliche Fähigkeit dei intellektuellen
und Willenssphäre in Betracht kommt, je mehr sie ferner geschult wird,
den Beobachtungsbogen zu benutzen, und je mehr die anzuwendenden
Testmethoden durchgearbeitet und dem besonderen Zweck angepaßt
sein werden.
Ausführlichere Berichte sowohl über den Beobachtungsbogen und seine
Anwendung, wie über die Ergebnisse der Testprüfung werden später
erfolgen; zur Zeit müssen wir uns damit begnügen, den Wortlaut des
Bogens und das Verzeichnis der Tests wiederzugeben. Bei Wieder-
holung der Auslese in künftigen Jahren wird der Beobachtungsbogen
vermutlich auf Grund der diesmaligen Erfahrungen einige Änderungen
erfahren. Die experirtientelle Prüfung muß selbstverständhch in jedem
Jahr mit ganz andersartigen Tests arbeiten, damit keine Einübung
möglich ist.
Daß das gewonnene Material, auch abgesehen von seiner praktischen
Bedeutung, einen großen Wert für die jugendkundliche Forschung ge-
winnen kann, sei doch zum Schluß noch hervorgehoben.
138 William Stern
II. Der Beobachtungsbogen
für die Auslese befähigter Hamburger Volksschüler des vierten Schuljahres.
Vorbemerkung. Der Beobachtungsbogen ist im psychologischen Laboratorium zu Hamburg unter
meiner Leitung und unter Mitwirkung anderer Seminarmitglieder von der Lehrerin Frl. Martha
Muchow ausgearbeitet worden.
Erleichtert ist die Ausfüllung des Bogens durch zwei methodische Hilfsmittel:
1. Allen Fragen ist eine Reihe möglicher Antworten beigegeben, doch stets in genügend
großer Mannigfaltigkeit, um Suggestionswirkung auszuschließen. 2. Es sind die Gelegenheiten
genannt, bei denen der Lehrer Beobachtungen über die erfragten Eigenschaften machen kann.
Näheres über die Anwendung des Bogens, der in seiner Urform auf Folio reichlichen
Schreibraum aufweist, enthält der vorangehende Bericht. Die „Erläuterungen" wurden den Lehrern
zusammen mit dem Bogen eingehändigt.
Erläuterungen.
1. Für die Ausfüllung genügen die in der Klammer angegebenen möglichen Antworten oder
ähnliche. Die Mitteilung weitergehender, detaillierter Beobachtungen und konkreter Belege
für die einzelnen Urteile in der Abteilung „Bemerkungen" unter Verweis auf die Ziffern
des Schemas ist sehr erwünscht, aber nicht unbedingt erforderlich.
2. Es sind nur die Fragen zu beantworten, für die eindeutige Beobachtungen vorliegen. Im
Zweifelsfalle verzichte man auf die Angaben oder füge ein Fragezeichen bei.
3. Die Gradurteile sind möglichst im Vergleich mit den Altersgenossen festzulegen.
4. Die Aufzeichnungen dürfen nicht nach einer einmaligen Beobachtung gemacht werden.
Sie müssen sich vielmehr gründen
1. auf schon früher wiederholt gemachte Beobachtungen, über die sichere Er-
innerungen vorliegen;
2. auf neue wiederholte Beobachtungen, die während der noch zur Verfügung
stehenden Zeit gesammelt werden.
5. Es ist nicht erwünscht, daß zur Feststellung der erfragten Eigenschaften besondere Proben
oder Experimente veransfaltet werden. In den Beobachtungsbogen sollen nur Aufzeichnungen
über das natürliche und spontane Verhalten des Kindes aufgenommen werden.
6. Die Eintragungen sind in der Regel vom Klassenlehrer zu machen.
7. Die hinter den Fragen angegebenen möglichen Antworten und die in Spalte 2 aufgeführten
Beobachtungsmöglichkeiten sind als Beispiele aufzufassen. Sie machen keinen Anspruch
auf Vollständigkeit.
8. Es sei noch besonders darauf hingewiesen, 1. daß für die Zwecke des Beobachtungsbogens
die Angabe jeder, auch scheinbar unwesentlichen Beobachtung (z. B. über Spielereien in der
Stunde und ähnl.) von Bedeutung ist; 2. daß auch negative, absprechende Urteile über den
Schüler positiven Wert haben können, also deshalb nicht umgangen werden dürfen (z. B.
unregelmäßige Schwankungen des Arbeitstempos und der Qualität — IV. 9 b — : die Angabe
könnte mangelhafte Prüfungsergebnisse erklären). Außerdem bedeuten negative Eigenschaften
keineswegs immer einen Mangel (z. B. IV. 9 a : Langsamkeit des Arbeitstempos, wenn es durch
eingehende Vertiefung bedingt ist ; oder IV. 10 a: Gleichgültigkeit, wenn der Grund zu geringe
Inanspruchnahme der Kräfte, zu große Leichtigkeit der Aufgaben ist; u. a.)
9. Die Kinder, die der Schule besonders geeignet erscheinen, in den F-Zug aufgenommen
zu werden, sind durch Unterstreichung des Namens zu kennzeichnen.
10. Für weitere mündliche Auskünfte finden im Psychologischen Seminar, Domstraße 8, Sprech-
stunden statt, und zwar an jedem Mittwoch von 5 — 6 Uhr.
Beobachtungsbogen.
I. Name des Kindes; Geburtsjahr und -tag:
n. Das Elternhaus:
Beruf des Vaters?
Werden die Schulleistungen des Kindes durch die häuslichen Verhältnisse gefördert oder
gehemmt? (Gewerbliche Arbeit der Mutter, des Kindes u. a.)
HI. Leistungen:
Hat das Kind in allen Fächern gleichmäßig gute Leistungen aufzuweisen oder nur in
einzelnen?
Welche sind das ?
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg
139
rv.
Bestehen auf bestimmten Leistungsgebieten Schwächen?
Welche Gebiete sind das?
Sind die hohen Leistungen vorwiegend ein Ergebnis seines Fleißes oder hoher Allgemein-
begabung bezw. Sonderbegabung für die betreffenden Fächer, oder sind Fleiß und Be-
gabung einigermaßen gleichmäßig daran beteiligt?
Beobachtungen über die seelische Eigenart des Kindes:
Frage
Gelegenheiten
zur Beobachtung
1. Anpassungsfähigkeit:
Findet das Kind sich langsam oder schnell in neue Lehrstoffe
und Aufgaben, neue Lehrer und neue Lehrweisen, neue
Situationen und neue Einrichtungen? (Schneit; weder auf-
fallend schnell noch auffallend langsam ; langsam, weil vor-
sichtig; langsam, weil schwerfällig; auffallend langsam; u.a.)
2. Aufmerksamkeit;
a) Ist die Aufmerksamkeit des Kindes leicht erregbar? (Sehr
leicht; X bemerkt jede Veränderung in seiner Umgebung;
bemerkt alles Hervorragende und Ungewöhnliche; X ist
unfähig, dgl. zu bemerken: übersieht und überhört leicht
etwas; u. a.)
b) Ist das Kind imstande, seine Aufmerksamkeit längere Zeit
intensiv auf denselben Gegenstand zu richten, oder ist es
leicht ablenkbar? (X hat in hohem Maße die Fähigkeit,
seipe Aufmerksamkeit zu konzentrieren; muß, wenn es
sich in etwas vertieft hat, mehrfach beim Namen gerufen
oder angestoßen werden, ehe es abgelenkt wird; X wird
durch das geringste Geräusch oder Unbehagen gestört : u. a.)
c) Wie ist die Aufmerksamkeit des Kindes beim Unterricht
zu beurteilen? (Folgt dem Unterricht mit gespannter, tätiger
Aufmerksamkeit; passiv; wechselnd; gleichmäßig usw.)
Ist sie für alle Fächer gleichmäßig?
S. Ermüdbarkeit :
a) Ermüdet das Kind leicht? (Ja; zuweilen; bei Hitze; bei
längerem Schreiben ; beim Kopfrechnen ; beim Turnen ; nein.)
b) Äußert sich die Ermüdung in einer Verschlechterung oder
Verlangsamung der Arbeit? (X arbeitet schlechter; lang-
samer; langsamer und schlechter.)
c) Erholt sich das Kind schnell oder langsam ? (Schnell ; nicht
auffallend schnell oder langsam; langsam.)
4. Wahrnehmung und Beobachtungsfähigkeit:
a) Hat das Kind in seiner Umwelt zahlreiche und viel-
seitige Beobachtungen gesammelt? (Sehr vielseitig; nicht
mehr als der Durchschnitt der Altersgenossen ; wenig; ein-
seitig auf technischem, hauswirtschaftlichem usw. Gebiete.)
b) Ist es zu genauer Beobachtung von Gegenständen und
Vorgängen fähig? (Ja; in besonders hohem Maße; nein;
auffallend wenig.)
Sind seine Beschreibungen von Gegenständen und Vor-
gängen der Wirklichkeit entsprechend? (Ja; stets; bei
starker Erregung zuweilen nicht; nie; beschreibt stets
ungenau.)
c) Beobachtet es selbständig? (Ja; nein; sehr viel; fast
gar nicht; nur auf den Gebieten seines besonderen
Interesses.)
Bei der Einführung neuer
Stoffe, Spiele; bei Verände-
rungen der Klassenordnung,
der Klassenämter, bei Lehrer-
wechsel.
Bei Veränderungen in der
Klasse; beim Betrachten von
Bildern, Modellen, Pflanzen;
auf Schulausflügen.
Bei Störungen in der Klasse ;
beim Aufrufen des Kindes ;
bei Spielereien im Unterricht.
Im Unterriclit.
Bei längerem Kopfrechnen ; bei
schriftlichen Arbeiten; gegen
Ende der Stunde, des Tages,
der Woche, des Halbjahrs.
Beim Kopfrechnen, bei Dik-
taten, Aufsätzen.
Nach der Pause ; nach Ferien.
Bei Aufsätzen ; in der Unter-
haltung: in den Realien; an
seinen grammatischen Bei-
spielen.
Im naturkundlichen Unter-
richt, im Zeichenunterricht.
Bei Aufsätzen; bei Berichten
über gemeinsame Erlebnisse
der Klasse (z. B. überAusflüge).
Im natur- u. heimatkundlichen
Unterricht; bei Aufsätzen; in
der freien Unterhaltung.
140
William Stern
Frage
Gelegenheiten
zur Beobachtung
5. Gedächtnis:
a) Lernt das Kind schnell oder langsam? (Sehr schnell;
ziemlich schnell; nicht auffallend schnell oder langsam.)
b) Lernt es vorwiegend verstandesmäßig oder mechanisch?
(Vorwiegend verstandesmäßig; vorwiegend mechanisch;
nicht festzustellen.)
c) Ist sein Gedächtnis dauerhaft? (Ja; nein; sehr wenig.)
d) Ist sein Gedächtnis treu? (Ja; nein; sehr.)
e) Hat es ein besonderes Gedächtnis irgendwelcher Art ? (Für
Zahlen, Namen, Farben, Formen, Personen, Begebenheiten,
sprachliche Zusammenhänge u. a.)
6. Phantasie :
a) Hat das Kind eine lebhafte oder stumpfe Phantasie? (Leb-
haft; X pflegt bei der Wiedergabe von Gelesenem oder
Gehörtem phantasievolle Zusätze zu machen; malt gern
bis ins Kleinste aus; stumpf.)
b) Wie betätigt sich seine Phantasie? (Basteln, Bauen,
Zeichnen, Rollenspiel, Erdichten und Fabulieren ; Erfindung
neuer Spiele usw.)
7. Denken:
a) Faßt das Kind schnell oder langsam auf? (Schnell ; X eilt
zuweilen schon voraus; langsam; mittelmäßig.)
b) Stellt das Kind selbständig sinnvolle Fragen? (Ja; häafig;
X versucht stets der Sache auf den Grund zu kommen ; neigt
zum Weiterdenken; selten.)
Äußert es eigene Gedanken? (Ja; oft; verallgemeinert,
schließt, vergleicht selbständig.)
Auf welchen Gebieten? (Naturkunde, Geschichte u. a.)
c) Erfaßt es rasch die Hauptsache, den Zusammenhang, oder
beachtet es mehr die Einzelheiten und Teile und studiert
diese genau ? (Möglichst durch Einzelbeispiele zu belegen.)
d) Neigt es zur Kritik und zum Zweifel, oder nimmt es fremde
Urteile ungeprüft hin? (X zeigt starke Neigung zur Kritik ;
verrät Oppositionsgeist; verteidigt hartnäckig seine Meinung;
bezweifelt, was es nicht selbst gesehen hat; X nimmt alles,
was der Lehrer sagt, hin, ohne zu kritisieren.)
Bemerkt es schnell Fehler? (Ja; nein.)
Widersteht es Suggestionen? (Ja; nein.)
e) Ist es zur Selbstkritik fähig ? (Ja ; nein ; nur auf Anregung ;
überprüft schriftliche Arbeiten oft vor dem Abgeben; hat
ein ziemlich sicheres Bewußtsein, ob die gelieferte Arbeit
gut oder schlecht geraten u. a.)
8. Sprachlijcher Ausdruck:
a) Ist seine Sprache reich an Wörtern und Ausdrücken, oder
werden dieselben Ausdrücke und Wendungen beständig
wiederholt? (Zu unterscheiden zwischen mündlichem und
schriftlichem Ausdruck.)
b) Schafft das Kind zuweilen aus Eigenem neue Ausdrücke
und Wendungen? (Möglichst Belege!)
c) Wie ist seine mündliche und schriftliche Darstellung?
(Fließend; zusammenhängend; schwerfällig; ungelenk).
Bei der Einprägung von Lern-
stoffen, Gedichten, Regeln,
Prosastücken, 1x1.
1. an sinnvollen Fehlem,
selbständigen Veränderun-
gen des Wortlauts bei der
Wiedergabe v. Gelesenem;
2. an sinnlosen Fehlem; am
Festhalten am Wortlaut.
Bei Wiederholungen nach
längeren Zwischenräumen.
Bei Wiederholungen von Me-
morierstoften.
Im Unterricht.
Beim Aufsatz; beim Spiel;
im Zeichenunterricht ; beim
Wiedererzählen.
Beim Spiel; bei Spielereien
in der Stunde; an der häus-
lichen Beschäftigung.
Bei der Darbietung neuer
Stoffe.
Überall im Unterricht ; in der
freien Unterhaltung.
Bei der Besprechung von
Fabeln, biblischen Geschich-
ten, Gedichten u. a.
Im Unterricht; im Umgang.
Bei der gegenseitigen Korrek-
tur; bei Suggestionsfragen.
Bei der Selbstkorrektur von
Kladdearbeiten; an der Art
der Arbeit bei Klassenarbei-
ten; auf moralischem Gebiete.
Beim Vortrag; beim Aufsatz;
im Umgang.
Im Unterricht; beim Spiel;
im Umgang.
Bei mündlichen und schrift-
lichen Darstellungen.
Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg
141
Frage
Oelege nheiten
zur Beobachtung^
9. Arbeitsart:
a) Pflegt das Kind im Vergleich zu seinen Altersgenossen schnell
oder langsam zu arbeiten? (Schnell; auffallend langsam
oder schnell; langsam; mittel.)
Ist die Langsamkeit durch die Anwendung besonderer Sorg-
falt auf Schrift, äußere Form usw. der Arbeit, durch eingehende
Vertiefung in den Stoff, durch Schwerfälligkeit oder durch
äußere Gründe, z.B. Sinneslehler, zu erklären? Hat das
schnelle Arbeitstempo Oberflächlichkeit zur Folge, oder ar-
beitet das Kind auf Grund seiner eigentümlichen Begabung
schnell? (Bereitschaft des Wissens, Urteilsschnelligkeit,
Übersicht, Dispositionsfähigkeit u. a.)
b) Sind das Tempo und die Qualität der Arbeit gleichmäßig,
oder schwanken sie ? (Ziemlich gleichmäßig; gegen Mittag,
nach Turnstunden, nach Rechenstunden u. a. nimmt beides
ab; nach den Ferien haben beide zugenommen; unregel-
mäßige Schwankungen.)
c) Welchen Einfluß hat das Zusammenarbeiten mit den Klassen-
genossen auf die Arbeitsart des Kindes? (Erhöht die Lei-
stungen; der Wetteifer stört das Kind; keinen Einfluß.)
d) Ist das Kind imstande, eine Arbeit richtig anzugreifen und
die Teiltätigkeiten richtig zu verteilen ? (Ja; nein, muß immer
angeleitet werden ; unpraktisch.)
10. Gemüts- und Willensleben:
a) Ist das Kind rege und tätig oder gleichgültig und phleg-
matisch? (Rege; phlegmatisch; wird durch den gewöhn-
lich«n Schulbetrieb nicht genügend angeregt; drängt sich
immer vor.)
b) Ist es auch bei Schwierigkeiten beharrlich oder gibt es die
Bemühung bald auf? (Selr beharrlich; läßt nicht nach,
bis die Aufgabe gelöst ist ; gibt bald die Anstrengung auf.)
c) Welche Motive bestim men vorwiegend sein Handeln ? ( Vorteil ,
Vergnügen, Mitgefühl, Pflichtgefühl, Gehorsam, Kamerad-
schaftsgefühl, Wißbegierde, Ehrgeiz, Trieb zur Selb-
ständigkeit.)
d) Ist das Kind aufrichtig und ehrlich?
e) Sind intellektuelle Gefühle, Freude an der Arbeit, an großer
Anstrengung, am Gelingen oder Niedergeschlagenheit beim
Mißlingen beobachtet worden?
f) Handelt es vorsichtig und überlegt oder leichtsinnig, sorglos
und unbedacht? (Vorsichtig; impulsiv; sorglos; oft unbe-
dacht und voreilig.)
g) Ist es imstande, in neuer Lage rasch zweckmäßige Ent-
scheidungen zu treffen? (Ja; zeigte Proben von Geistes-
gegenwart [Belege]; nein.)
h) Ist organisatorische Begabung beobachtet worden? (Ja
[Belege]; nein.)
i) Ergreift es beim Spiel und im Unterricht oft die Initiative ?
(Ja ; nein ; im Spiel nicht u. a.)
Ist es Führer der KJasse oder neigt es zur Ein- oder Unter-
ordnung?
k) Wie verhält es sich gegen seine Klassengenossen? (Freund-
lich, verträglich, hilfsbereit, zänkisch, streitsüchtig, herrisch
usw.)
Bei schriftlichen Arbeiten;
Handarbeiten; beim Zeichnen.
Zu verschiedenenTageszeiten ;
nach Turnstunden , Pausen,
Ferien, Krankheiten; bei gro-
ßer Hitze, Kälte usw.
Beim Arbeiten in der Klasse.
Bei der Anlage von Auf Sätzen ;
bei eingekleideten Aufgaben;
bei der Erledigimg von Auf-
trägen (richtige Ausnutzung
der Zeit).
Im Unten icht; beim Spiel u.a.
Besonders in Fächern, in
denen es weniger Gutes
leistet.
Im Umgang; im Unterricht.
In den angegebenen Fällen
bei mündlichen und schrift-
lichen Arbeiten.
Bei Urteilen, Aussagen u. a.
Beim Spiel; bei Unglücks-
fällen in der Klasse oder auf
dem Hofe u. a.
Beim Spiel.
Im Spiel; in freien Aus-
sprachen ; bei schwierigen
Aufgaben und Fragen.
Im Umgang mit den Klassen-
genossen.
142
William Stern
Frage
Gelegenheiten
zur Beobachtung
11. Besondere Interessen und Talente:
a) Sind bestimmte Schulfächer beliebt oder unbeliebt?
Welche '?
Liegen für diese Vorliebe oder Abneigung besondere Gründe
vor? (Sonderbegabung, sachliches Interesse, persönliche
Beziehungen zum Lehrer u. a.)
b) Hat das Kind besondere Neigungen und Interessen außer-
halb der Schule ? (Handarbeit, Technik, Natur, Hafen und
Schiffahrt, Musik, Gartenbau, Tierzucht u. a )
Wie bekunden sich diese Neigungen? (Basteln, Spielen,
Wandern, Sammeln, Kinobesuch, Lektüre u. a.) Liest das
Kind aus eigenem Antriebe ? (Ja ; nein ; viel ; wenig.) Was
liest es? (Schundliteratur, Märchen, Indianergeschichten,
Kriminalgeschichten, belehrende Bücher usw.) In welcher
Weise betreibt es diese Lektüre? (Verschlingt wahllos, was
es erreichen kann; liest dasselbe immer wieder; spielt oder
schafft nach, was es gelesen hat u. a.)
c) Hat das Kind Sonderbegabungen? (Für Zeichnen, Malen,
Bauen, Basteln, Musik u, a.)
Im Umgang.
Im Umgang; gegebenenfalls
durch Befragen der Eltern
festzustellen.
Gelegentlich im Unterricht.
111. Verzeichnis der angewandten Tests.
(Bei den ersten 6 Tests wurde den Kindern an Beispielen erläutert, wie die Aufgabe gemeint ist.)
Erster Prütungstag:
A) Begriffsreihen ordnen (s. dieses Heft S. 94). Die zu ordnenden Begriffe waren nicht auf
Einzelkarten geschrieben, sondern in falscher Abfolge auf einem Zettel vorgedruckt; sie
mußten in richtiger Folge darunter geschrieben werden. Die Vorlagen lauteten:
1. Waffenstillstand — Schlacht — Kriegserklärung — Friedensschluß — Ausmarsch der
Truppen — Sieg.
2. Arzt — Fußballspiel — Heilung — Verband — Beinbruch — Besserung — Sturz.
3. Sinkendes Schiff — Landung — Nebel — Rettungsboote — Leck im Schiff — Schiffs-
zusammenstoß.
B) Erklärung von Begriffen (s. dieses Heft S. 81). Gewählt wurden die Begriffe: Mut, Beute,
Onkel, Neid.
C) Lückentext, in dem die Konjunktionen zu ergänzen sind, nach Lipmann (s. dieses Heft S. 70).
D) Dreiwort-Methode (s. dieses Heft S. 87). Die Vorlagen lauteten:
1. Reise — treuer Hund — Freude,
2. Soldaten im Lager — sternlose Nacht — große Verwirrung.
3. Stehengebliebene Uhr — geschehenes Eisenbahnunglück — Freude.
E) Die Lehre von 2 Fabeln finden (s. dieses Heft S. 84). Vorgelegt wurden:
1. Rübezahl und der Fuhrmann.
2. Der Holzfäller und die Waldfee.
Zweiter Prüfungstag:
F) Kritiktest: Herausfinden der in eine Geschichte eingestreuten Sinnwidrigkeiten (s, dieses
Heft S. 77). Vorgelegt wurde der etwas geänderte Text 1. (S. 79.)
G) Aufsatz über eine Bilderfolge (s. dieses Heft S. 78). Da es nicht möglich war, einen
Münchener Bilderbogen in genügender Menge zu beschaffen, wurden den Kindern zwei zu-
sammengehörige Ansichtskarten vorgelegt, die eine einfache Geschichte darstellten. Der
Text der Karten („Wie Du mir" — „So ich Dir") war entfernt. Die Prüflinge hatten die
Geschichte niederzuschreiben und eine Überschrift dazu zu finden.
H) Merkfähigkeitstest. Einige nicht ganz leichte Sätze wurden den Kindern gezeigt; jeder war,
nachdem er im Chor von den Kindern gelesen worden war, sofort aus dem Gedächtnis
niederzuschreiben. Deutlich trat der Unterschied hervor zwischen dem mechanischen Ge-
dächtnis, das einige BruchteUe des Wortlauts ohne sinnvollen Zusammenhang wiedergab,
Kleine Beiträge und Mitteilungen I43
und dem intelligenten Gedächtnis, das bei oft bedeutender Veränderung des Wortlauts doch
den geforderten oder einen ähnlichen sinnvollen Zusammenhang reproduzierte. Die Sätze
lauteten :
1. Der gemeine Neid über den von Jahr zu Jahr wachsenden Handel Deutschlands hat
England bewogen, uns fast alle Völker auf den Hals zu hetzen.
2. Durch seinen ruhmvollen Sieg in Masuren hat Hindenburg den andrängenden russischen
Massen so erhebliche Verluste beigebracht, daß er ihnen für immer die Lust am Wieder-
kommen benahm.
3. Wir erhoffen den Sieg durch unsere U-Boote, weil der täglich größer werdende Mangel an
den notwendigsten Lebensmitteln England früher oder später zum Frieden zwingen wird.
Kleine Mitteilungen zum Begabungsproblem.
Breslauer Begabtenauslese. In Breslau wird Ostern 1918 an einer Knaben-
und an einer Mädchenmittelschule je eine Sonderklasse eingerichtet, in der
hochbegabte Volksschulkinder nach Besuch der vorletzten Volksschulklasse
(etwa 12. Lebensjahr) ans Ziel der Mittelschule gebracht werden sollen.
Kindern, die sich in dieser Klasse bewähren, will die Stadt später den Weg
zu weiterer, ihren Anlagen entsprechender Ausbildung ebnen. Für die Be-
gabtenauslese hat die städt. Schul Verwaltung die Hilfe des Fachpsychologen
in Anspruch genommen. Unterzeichneter hatte zunächst einen psychogra-
phischen Fragebogen auszuarbeiten, mit dessen Hilfe die Lehrer gegen-
wärtig Begabungspsychogramme der nach ihrer Meinung in Frage kommenden
Kinder herstellen. Dieser Bogen ist neben einem in amtlicher Rektorenkonferenz
gehaltenen Erläuterungsvortrag in Nr. 51 (Jahrgang 191 7) der „Schles.Schulztg."
erschienen; Sonderabdrücke der Erläuterungen gingen allen in Betracht kommen-
den Lehrpersonen zu. Nach Eingang der Psychogramme sollen die vor-
geschlagenen Kinder noch einer Test Prüfung unterworfen werden. In Vor-
versuchen, bei denen mich Herr Rektor Rüpprich unterstützte, ergaben sich
als für unsere Absichten zweckmäßig, folgende von Stern in diesem Hefte
behandelten Tests: Bindewortergänzungstest (Minkusscher Test), Kritiktest,
Begriffserklärungen, Drei wort -Test, Fabeltest, Begriffsordnung (im Massen ver-
such) und Farben-, Figuren-, Bilderbogenlegen (im Einzelversuch), ferner ein
Gedächtnistest, über den später Genaueres berichtet werden mag. Da die
Stadt unter Umständen für den ganzen Ausbildungsgang der ausgewählten
und sich bewährenden Kinder sorgen will, so erscheint es möglich, den Ent-
wicklungsgang dieser jungen Menschen bis zum Eintritt in einen Beruf (viel-
leicht noch weiter, da doch vielleicht manche dann in städtische Dienste
treten werden), psychologisch zu verfolgen: eine theoretisch und praktisch
wichtige Aufgabe für einen schul- oder stadtpsychologischen Dienst.
Breslau. Alfred Mann.
Förderung begabter Kleinstadt- und Landschüler. Ein sehr beachtens-
werter Aufsatz von H. Wermbter (Hildesheim)i) weist auf die Gefahr hin, die
aus der bisher rein großstädtischen Behandlung der Begabtenförderung er-
wachsen kann. Denn es handelt sich um eine gesamtstaatliche Aufgabe,
1) Der Aufstieg der Begabten und die Verschiedenheit der Volksschulen in Stadt und Land.
Dtsch. Philologenblatt 25. Jhrg,, Nr. 45/46. Dez. 1917. — Vgl. auch die kurze Notiz zu dem-
selben Thema „Förderstunden für Begabte"; Ztschr, f. pädag. Psychol., Bd. 18, S. 240, 1917,
144 Kleine Beiträge und Mitteilungen
die nicht zum Objekt städtisch-partikularistischer Bestrebungen gemacht werden
dürfe. „In den Mittel- und Kleinstädten sowie auf dem Lande werden zweifel-
los auch hochbegabte Kinder geboren, deren Förderung zu höherem Aufstieg
hinauf nicht hinter derjenigen hochbegabter Kinder aus Großstädten zurück-
gesetzt werden darf, und dieses um so weniger, als im allgemeinen der
Gesundheits- und Kräftezustand der Kleinstadt- und Landkinder besser ist als
der der Großstadtkinder." W. durchmustert nun daraufhin das nicht- groß-
städtische Volksschulwesen und stellt fest, daß hier die Möglichkeiten des
ungezwungenen Übergangs der Begabten auf Mittel- und höhere Schulen
außerordenthch ungünstig seien, weil die weitaus meisten dieser Volksschulen
nur aus wenigen Klassen bestehen. Um so nötiger ist die Schaffung beson-
derer Einrichtungen und eine Zentralisierung derart, daß sie allen Befähigten
aus Dorf und Stadt ohne Unterschied zugänglich ist. Daher sieht W. als die
geeigneten Träger dieser Veranstaltungen die Provinzen an. Wie die
Provinzialverwaltungen die Fürsorge für die geistig und körperlich Minder-
begabten in Händen hätten, sollten sie auch diejenige für die Höherbegabten
übernehmen; nur dann sei die Möglichkeit gegeben, daß „die unbemittelten
Begabten aus allen Gemeinden gleichmäßig im ganzen Staate erfaßt
und ihnen die Wege zu den höchsten Stufen der Ausbildung und dement-
sprechenden Lebensstellungen eröffnet werden."
Entwurf eines psychographischen Beobachtungsbogens für begabte Volks-
schüler in Berlin. Für die Vorauslese der Begabten an den Berliner Gemeinde-
schulen hat die „Arbeitsgemeinschaft für exakte Pädagogik" (Wissen schaftl.
Leiter Dr. Otto Lipmann) einen von mir verfaßten Entwurf eines Beobachtungs-
bogens der städtischen Schuldeputation eingereicht. An der Hand dieses
Bogens sollen mit Zustimmung der Schuldeputation in Zukunft alle Schüler
beobachtet werden, die durch hervorragende Begabung und ausgezeichnete
Leistungen auffallen. Die Beobachtungen sollen sofort beginnen, sobald die
Begabung bemerkt wird, also vielleicht schon vom zweiten Schuljahr an. Der
Beobachtungsbogen enthält folgende Abteilungen: 1. Körperliches und Sinne,
2. Auffassung, 3. Aufmerksamkeit, 4. Gedächtnis und Lernen, 5. Denkfähig-
keit, 6. Gefühle und Affekte, 7. Wille und Arbeitsverlauf, 8. Stellungnahme,
9. Begabungen, 10. Stellung in der Gemeinschaft, 11. Allgemeines Verhalten.
Um die Ausfüllung zu erleichtern, sind in einem Anhang Erläuterungen bei-
gegeben sowie Beispiele und Beobachtungsgelegenheiten angeführt. Der Ent-
wurf wird im Wortlaut veröffentlicht in der Zeitschrift für angewandte Psychologie
Bd. XIII, Heft 5/6, 1918.
Berlin. H. Rebhuhn.
Druck von J. B. Hirschfeld (August Pries) in Leipzig.
Kindergartenfragen nach dem Krieg.
Von Aloys Fischer.
1.
Im 14. Jahrgang dieser Zeitschrift (Seite 11 f) habe ich einige Grund-
fragen der Entwicklung des Kindergartenwesens aufgeworfen; seitdem
haben sich die Dinge schnell und vielseitig verändert. Eine beträcht-
liche Anzahl von Arbeiten aus deutschen, österreichischen und ungarischen
Kindergärten läßt einen erheblichen Fortschritt in Einrichtung und Aus-
stattung der Kindergärten erkennen, stärkere Anknüpfung an die vom
Kinde selbst mit- und entgegengebrachten Interessen, eine reifere Durch-
bildung der Methodik der Kleinkindererziehung. Die von außen her
an das Kind herangebrachten Spiele nnd Gaben — gewiß nicht ent-
behrlich, aber mit Vorsicht anzuwenden — treten zurück zugunsten
der Anknüpfung an die lebendige Gelegenheit; die absichtlich ersonnenen,
vielfach von bestimmten Theorien über das geistige Wachstum des
Menschen aus konstruierten, deshalb nicht selten überlehrhaften, sind
nicht mehr richtunggebende Schablone. Überall wird selbständig ver-
sucht und geändert, und wenn sich auch noch kaum die Erfahrungen
zu etwas wie einer neuen Tradition verdichten lassen, dies suchende
Leben selbst ist wertvoll, Vorstufe einer bald anbrechenden Zeit der
Erneuerung im ganzen.i)
Unter dem Drucke des Krieges hat sich die Zahl der Kindergärten
vergrößert, mit freiwilligen Hilfskräften ist es aller Orten möglich ge-
worden, neue zu errichten. Auch unmittelbar nach dem Krieg werden
diese Verhältnisse noch andauern. Die vorher schon angebahnte Be-
wegung, die den Kindergarten aus einer Armenanstalt in eine von allen
Schichten der Bevölkerung gesuchte und geschätzte, aus individuell eu-
dämonistischen und sozialen Gründen gleich wertvolle organisatorische
Hilfe für die Früherziehung der Kinder umwandelt, ist gewachsen, weil
im Krieg vielfach auch aus solchen Familien und Haushalten, die sich
vorher sehr wohl der Kinder annehmen konnten, Zuwanderung kam,
überhaupt wie die Erwachsenen so auch die Kinder näher aneinander
rückten.
Für den Fortgang, die gedeihliche Zukunftsentwicklung des Kinder-
gartenwesens ist nun die maßgebendste Voraussetzung und Bedingung
die Auslese und Vorbildung der Kindergärtnerinnen. Auf
die darin beschlossenen Probleme möchte ich kurz die Aufmerksam-
keit lenken. Ich gehe von zwei Gruppen von Tatsachen aus: von der
') Zur Erläuterung des Gesagten möchte ich auf das vor wenigen Monaten erschienene Buch
„Ein Jahr Kindergartenarbeit " von A. Huth hinweisen (als Band VIII der von Oskar Messmer
imd mir herausgegebenen Sammlung „Pädagogium". Leipzig 1917, J. Klinkhardt).
' Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 10
146 Aloys Fischer
bisherigen Auslese und Vorbereitung für den Beruf der Kindergärtnerin
und von den Erfahrungen mit freiwilligen, schnell und kurz oder gar
nicht eingeschulten Hilfskräften in der Kriegszeit. Von diesen Ausgangs-
punkten her möchte ich einige Wege aufzeigen, die zu einer kommenden,
allgemein als unvermeidlich gefühlten öffentlichen Kindergärtnerinnen-
bildung führen, und mittelbar gegen eine andere Möglichkeit Stellung
nehmen, deren Motive ich wohl verstehe, in der ich jedoch gleichwohl
den Keim für eine Gefährdung derKindergartenarbeit selbst erblicken muß.
Freilich läßt sich die Besprechung der Bildungs- und Standesfrageii
der Kindergärtnerin nicht ganz von der Gesamtwürdigung des Kinder-
gartens selbst trennen ; deshalb mag es gestattet sein, die spezielle Auf-
gabe des Kindergartens im Rahmen der planmäßigen Kinderfürsorge
wenigstens andeutend zu umreißen. Erst wenn uns Sinn und Ziel des
Kindergartens als einer Kleinkinderfürsorgemaßnahme deutlich geworden
ist, können wir auch alle Anforderungen klarlegen, die an eine Kinder-
gärtnerin gestellt werden dürfen. Ich möchte dabei vom Boden der
Zeitgeschichte aus nochmals auf die Wandlung des Kindergartens hin-
weisen, die ich früher von allgemeinen soziologischen Erwägungen
aus gekennzeichnet habe.
2.
Nicht nur als Christenpflicht der Barmherzigkeit gegen Arme und
Schwache, auch nicht bloß als soziale Maßregel zum Ausgleich des
Geburtenrückgangs, als politische Forderung von größter Tragweite,
als Gebot der allgemeinen Notwehr Deutschlands um seinen Bestand
und seine Geltung sind Säuglingsschutz und Kleinkinderfürsorge jetzt
in unserem Bewußtsein lebendig. Über die Richtlinien ihres Ausbaues
wird jetzt verhandelt und entschieden; deshalb mag es gestattet sein,
auf einige mit Säuglingsschutz und Kleinkinderfürsorge eng zusammen-
hängende pädagogische Fragen aufmerksam zu machen, die in Gefahr
sind, übersehen bezw. falsch eingeschätzt zu werden, unter ihnen vor
allem auf den Sinn des Kindergartens.
Wenn wir von der soziologischen und bevölkerungspolitischen Seite der
Kinderfürsorgefragen absehen, bleiben hauptsächlich zwei Richtungen für
die Arbeit: die hygienische und die pädagogische. Auf dem Gebiet des
Säuglingsschutzes scheint alles an der hygienischen Fürsorge zu
liegen. Die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit ist in erster Linie
Sache der Ärzte und ihrer Hilfsorgane: der Säugiingspf legerinnen, Ammen,
Kinderwärterinnen, ferner Sache der Aufklärung der Eltern, besonders
der Mütter, und endlich Sache der materiellen Mittel zur Beschaffung
genügender Nahrung von Mutter und Kind, entsprechender Kleidung
und Wohnung, zur Bezahlung von Arzneistof f en. Seit wir einen genaueren,
auf Morbiditäts- und Mortalitätsstatistiken gegründeten Einblick in die
Feinde des Säuglingslebens besitzen, sind auch gesundheitspolizeihche
Maßnahmen, wie Impfzwang, Anzeigepflicht für bestimmte infektiöse
Krankheiten als segensreiche Abwehrmaßregeln sei es schon eingeführt
und erprobt, sei es wenigstens vorgeschlagen und empfohlen worden.
Allerdings hat der Kampf gegen die Säuglingssterblichkeit einzelne Maß-
nahmen Hiit sich gebracht, die selbst wieder zur Gefahr werden ; so ist
Kindergartenfragen nach dem Krieg I47
z. B. die Krippe ein Hauptherd für Säuglingsinfektionen; überdies ist
der Säuglingsschutz noch nicht durchgebildet genug, keineswegs unserer
genauen Kenntnis über die Verteilung der einzelnen Todesursachen auf
die verschiedenen Monate des ersten Lebensjahres, auf die Jahreszeiten
usw. so angepaßt, wie er es werden könnte. Aber sicher scheint, daß
die Aufgaben des Säuglingsschutzes rein ärztlicher, hygienischer und
gesundheitspolizeilicher Natur seien, daß also für das Gebiet des Säug-
lingsschutzes pädagogische Bestrebungen, erziehungskundliche Kennt-
nisse, pädagogische Schulung und Ausbildung der Mütter, Ammen,
Wärterinnen, Pflegerinnen nicht erforderlich seien.
So gewiß die hygienische Seite im Säuglingsschutz überwiegt, so un-
richtig scheint es mir, ihn ganz auf die gesundheitliche Fürsorge ein-
zuengen. Auch das Säuglingsalter ist eine Zeit der Erziehung. Die Ordnung
und strenge Gewöhnung des Kindes an bestimmte Zeiten des Trinkens
und Schlafens, die aus gesundheitlichen Gründen gefordert wird, ist
zugleich eine primitive Erziehung und Vorbereitung der Charakter-
entfaltung. Die Pflege der Bewegungsorgane, der Sinne steht keineswegs
ausschließlich im Dienst der leiblichen Gesundheit, sondern auch im
Dienst des Vorstellungs- und Kenntniserwerbs, des Anreizes zu ein-
facher geistiger Tätigkeit. Vollends ist das ganze persönliche Verhältnis
von Säugling und Pflegepersonen der Brutboden für die Frühregungen
des Giefühlslebens. So gewiß für die Dauer der ersten zehn bis vierzehn
Lebensmonate der Säuglingsschutz vorwiegend unter der Jurisdiktion
des Arztes und Hygienikers steht, so wenig wäre doch ein Ausschluß
pädagogischer Gesichtspunkte aus seiner Organisation berechtigt. Im
Gegenteil gehören die faßlich dargestellten Grundsätze einer gesunden
Früherziehung auch schon des Säuglings mit zu den besten hygienischen
Schutzmaßnahmen, die es gibt. Deshalb ist es durchaus notwendig, daß in
der Ausbildung der Mütter, Hebammen, Ammen, Kindermädchen, nament-
lich auch der öffentlich angestellten Säughngspflegerinnen neben dem
Arzt und seinen Gesichtspunkten der Erzieher das Wort hat, daß in den
Stätten des Säuglingsschutzes (Milchküchen, Krippen, Beratungsstellen)
auch für eine elementare pädagogische Aufklärung und Anweisung Sorge
getragen wird.
Für das Kleinkind dreht sich das Wichtigkeitsverhältnis des hygieni-
schen und des pädagogischen Teils der Schutzbestrebungen geradezu um.
Allerdings steht nach den jüngsten, sorgfältigen und verdienstvollen
Untersuchungen von M. Pfaundler, L. Seiffert') und anderen fest, daß
nicht nur die Säuglingssterblichkeit allein am Wachstum unserer Volks-
ziffer nagt, sondern daß auch die Sterblichkeit des Kleinkindes eine
beträchtliche Höhe aufweist. Mögen die Krankheiten, denen das Kind
im Spielalter zum Opfer fällt, auch andere sein als diejenigen, die den
Säugling bedrohen, so sind nach Seiffert die Sterblichkeitsverhältnisse
des Kleinkindesalters doch als sehr bedenklich zu bezeichnen. Ins-
besondere die Infektionskrankheiten fordern viele Opfer. In Preußen
kommen, auf 1000 Lebende berechnet, im Zeitraum 1900—1901 206 Todes-
fälle der Altersstufe 0—1 Jahr, 23,9 der Altersstufe 1—5 Jahr, in Bayern
*) G. Seiffert: Das Kleinkind und seine gesundheitliche Fürsorge. München 1916. E. Reinhardt.
lü*
148 Aloys Fischer
für den gleichen Zeitraum 258,5 Todesfälle im Säuglingsalter, 20,7 im
Spielalter.
Die gewaltigen Verluste an Menschen auch noch im Spielalter lassen
es (gerade nach diesem Krieg) als dringend notwendig erscheinen,
die Kleinkinderfürsorge auch nach der hygienischen Seite hin auszu-
bauen. Und wenn auch gewiß nicht alle Kleinkinder einer hygienischen
Fürsorge bedürftig sind, weil viele von gesunden Eltern stammen und
in guter Famihenpflege sich befinden, das öffentliche Interesse am
Nachwuchs erfordert doch grundsätzlich eine Gesundheitskontrolle für
jedes Kleinkind, und je nach dem Ergebnis dieser Kontrolle die Über-
nahme der gefährdeten, mangelhaft versorgten und aufsichtslosen Kinder
in öffentUche Gesundheitsfürsorge. Wir müssen es der deutschen Ärzte-
schaft zu Dank wissen, daß sie mit immer neuem Nachdruck das Augen-
merk auch auf den gesundheitlichen Kleinkinderschutz lenkt und noch
während des Krieges bei den gesetzgebenden Körperschaften und höchsten
Reichsbehörden die hier liegenden Aufgaben so vordringhch darzustellen
wußte, daß die Anregung zur „Deutschland -Kinderspende" die Mittel
für eine großzügige Fürsorge flüssig zu machen verspricht.
Nach diesen Darlegungen wird mir wohl der Vorwurf erspart bleiben,
ich verkannte Notwendigkeit und Bedeutung des gesundheithchen
Momentes im Kleinkinderschutz, oder ich unterschätzte die Mitarbeit
des Arztes auf diesem Gebiet der Bevölkerungspolitik, wenn ich nun
dazu übergehe, zu zeigen, daß die Kleinkinderfürsorge wohl mit hygie-
nischen Maßnahmen beginnen und dauernd durchsetzt sein müsse, aber
in der Erziehungsfürsorge für das Kleinkind gipfele. Wie ich
an anderer Stelle ') ausgeführt habe, ist die Zahl der Kinder, der geborenen
und am Leben erhaltenen, nicht das einzig ausschlaggebende Moment
im Aufbau des Volkes; es kommt ebenso sehr auf die Qualität, die
Leistungsfähigkeit und die Bildungshöhe des Nachwuchses an. Unter
diesem Gesichtspunkte gewinnt der Kindergarten eine neue, vertiefte
Bedeutung, er ist nicht bloß als eine Wohlfahrtseinrichtung für die minder-
bemittelten Kreise und als Ersatz ganz oder teilweise fehlender Familien-
erziehung sinnvoll, sondern berufen, der Mittelpunkt der öffent-
lichen Kleinkinderfürsorge zu werden. Es läßt sich leicht zeigen,
daß der Kindergarten die beste Möglichkeit der Gesundheitskontrolle
gibt, daß sich auch die gesundheitliche Fürsorge und Beratung am besten
nach den in ihm gemachten Erfahrungen und Beobachtungen durch-
führen läßt. Darüber hinaus bietet der Kindergarten, wenn er den
Vorurteilen entrückt, möglichst gleichmäßig von den verschiedenen
Ständen beschickt wird und einigermaßen gut ausgestattet, vor allem
mit Spielplätzen versehen ist, eine die häushche Enge und Armut,
Einseitigkeit und Nüchternheit wohltätig ergänzende Lebenssphäre eigener
Art und Ordnung, eine Fülle von Anregungen des geistigen Lebens, von
Spielen und Freuden, die Gelegenheit zu lebenswichtigen sozialen Ge-
wöhnungen, eine vorzügliche Schule körperlicher Übung und Abhärtung,
einen unauffäUigen Weg zur Verbreitung vernünftiger Erziehungsgrund-
sätze in den Kreisen der Elternschaft. Die im Krieg begonnene Ver-
•) A. Fischer : Aufgabe und Entwicklung des deutschen Schulwesens nach dem Krieg, (Leipzig
1916. J. Klinkhardt) Seite 26 u. t
Kindergartenfragen nach dem Krieg 149
mehrung der Kindergärten wird sicher weiter andauern, die innere Um-
bildung und Verbesserung der Einrichtungen und des Betriebes nicht
stillstehen. Alle Parteien, die Sinn für die Aufgaben der Bevölkerungs-
politik als des grundlegenden Momentes der Sozialpolitik besitzen,
werden für Schutz und Pflege der Kindergärten Mittel flüssig zu machen
trachten, die mittleren und großen Städte, vor allem in den Industrie-
gegenden geradezu gezwungen sein, dem Ausbau der Bewahranstalten
und Kleinkinderschulen erhöhte Fürsorge angedeihen zu lassen. Sobald
der Gedanke des Kindergartens als Mittelpunktes der öffentlichen Fürsorge
für das Kleinkind richtig begriffen ist, werden auch die Vorurteile zer-
gehen, die bisher seine Entwicklung aufgehalten haben.
Die erste Folge der neuen Lage wird eine schärfere Differenzierung
im Kindergartenwesen selbst sein. Heute besteht noch in weiten Kreisen
das Bedenken, daß durch den Kindergarten die Kleinen zu früh und zu
lang der Familie entzogen würden. In den Kreisen des mittleren
und gehobenen Bürgertums scheut man sich, die Kinder womöglich
ganztägig außer Haus zu geben; den ganz armen Schichten, die Mann
und Frau und ältere Kinder gleichmäßig ins Erwerbsleben schicken
müssen, ist dagegen mit einem Kindergarten nicht gedient, der die Kinder
nur 2 — 3 Stunden beherbergt, sie vor allem nicht verpflegt. Solange nur
e i n Kindergarten oder ein Typ von Kindergärten vorhanden ist, müssen
einzelne Gruppen der Besucher notwendig enttäuscht werden. Die Zu-
kunft wird demgemäß bewußt zwischen Kindergärten im engeren Sinn
unterscheiden, die von den Spielkindern höchstens 2 — 3 Stunden am
Tag besucht werden, zu Spiel- und Erziehungzwecken, während
das Kind in der übrigen Zeit der Familie bleibt, zum Essen, Schlafen,
Spazierengehen, Spielen, und zwischen Kindertagesheimen, Einrich-
tungen, die nach Räumen, Personen und Hilfsmitteln eine Verbin-
dung von Kindergarten, Kinderspeiseanstalt und Hort darstgllen, den
Kindern zu ganztägigem Aufenthalt offen stehen, ohne sie natür-
lich den ganzen Tag in der gleichen Weise zu beschäftigen wie während
der 2 — 3 Kindergartenstunden. Leistungsfähige Stadtgemeinden sollten
sich mit dem Gedanken von Kinderheimen oder Kinderhäusern großen
Stils vertraut machen, mit der Schaffung zweckmäßiger Bauten, in denen
neben den Kindergarten- und Bewahrräumen mit ihren Spielplätzen auch
Horte und Werkstätten, Lesesäle und Arbeitszimmer für die aufsichts-
losen Schulkinder, eine Speiseanstalt für die Armen, Schlechtversorgten,
Bäder und Turngelegenheiten für die Körperpflege untergebracht wären.
Wie die Differenzierung und Zusammenfassung im einzelnen sich aus-
gestalten ließe, ist weniger Sache grundsätzlicher Überlegung, als der
örthchen Bedürfnisse, Möglichkeiten, Mittel; nur auf den Grundgedanken
kommt es hier an, die Einordnung des bisher isoliert stehenden Kinder-
gartens in das System der öffentlichen Kleinkinderfürsorge, und die
damit verbundene Verschiedengestaltung der Kindergärten selbst.
Die zweite Folge ist m. E. die Verbindung der heute meist in das
Sprechzimmer von Kinderärzten verlegten Beratungsstellen mit dem
Kindergarten. Eine ärztlich geleitete Kleinkinderberatungsstelle ist auch
in Zukunft unerläßlich; es genügt nicht, daß die Mutter ihr Kind behält
und Zeit für seine Pflege hat; sie muß auch etwas davon verstehen
150 Aloys Fischer
und in Zweifelsfällen sich Rat holen können. Aber wie ich ausgeführt
habe, es sollte sich die Beratung nicht auf die pflegerische Seite be-
schränken; für das Spielalter ist auch eine Erziehungsberatung unerläß-
lich. Stellen, die dieser pädagogischen Aufgabe sich widmen, gibt es
heute höchstens vereinzelt. Eine durchgreifende Besserung ist m. E.
am leichtesten zu erzielen, wenn an die Kindergärten neben die ärzt-
liche auch die pädagogische Beratungsstelle verlegt wird. Die Leitung
der Kindergärten, die vielen in ihnen arbeitenden Kräfte werden
imstande sein, die Aufgaben der Erziehungsberatung zu übernehmen;
der Kindergarten bietet selbst schon eine Art Anschaungsunterrickt für
die Anregung, Behandlung, Leitung der Kinder, zeigt die Spiele und
Hilfsmittel für die Beschäftigung des Kleinkindes. Daß wir auf päd-
agogische Beratungsstellen in der Kleinkinderfürsorge nicht mehr ver-
zichten können, beweisen die vielen Stimmen, die eine „Gesellschaft
zur Förderung der häuslichen Erziehung" >) begrüßen, beweisen die Eltern-
abende und Sprechstunden unserer Schulen, wissen nicht zuletzt die
Kinderärzte, denen mangelhafte und falsche Erziehung im Spielalter als
Ursache vieler Kinderkrankheiten, namentlich der Kindernervenkrank-
heiten nur zu bekannt ist. Vielleicht ist der Ausdruck: Verbindung
einer Erziehungsberatungsstelle mit dem Kindergarten ein Pleonasmus,
vielleicht lebt sich der Kindergarten selbst als diese Beratungsstelle ein;
es kommt nur darauf an, daß die an ihm wirkenden Kräfte willig und
geschult sind, die neuen Aufgaben zu übernehmen, und daß Ärzte und
Behörden auf diese Seite der Kindergartentätigkeit die öffentliche Auf-
merksamkeit lenken.
Daß sich die Gesundheitskontrolle über die 7 — 8 Millionen Kleinkinder
des Deutschen Reiches am einfachsten mit den Kindergärten verbinden
läßt, habe ich schon gesagt. Man braucht nur die Aufnahme eines
Kindes in, den Kindergarten von einer vorhergehenden Vorstellung des
Kindes beim Arzt abhängig zu machen, braucht nur die ärztliche Beratungs-
stelle (mit der pädagogischen) in ihn zu verlegen. Soweit das Eltern-
haus nicht in der Lage ist, die entsprechende Pflege selbst durchzuführen,
wäre in den Kinderheimen die beste und wirksamste Fürsorge für das
leibliche Wohl schon geschaffen.
Eine letzte, aber keineswegs bedeutungslose Folge der Eingliederung
des Kindergartens in das Ganze der öffentlichen Kleinkinderfürsorge
ist die Vermehrung der Mittel, Kräfte und Versuche zur inneren Aus-
gestaltung. Schon die Räume des Kindergartens sind, wie Einzelversuche
zeigen, einer zweckmäßigen Veränderung und Vermehrung fähig; nach
den besten Erfahrungen, von denen ich die des Berliner Pestalozzi-Fröbel-
hauses und des Münchener Versuchskindergartens vor allem hervorheben
möchte, muß ein Kindergarten an gesonderten Räumen mindestens um-
fassen : einen Warteraum für Angehörige, eine Kleiderablage mit Hand-
waschgelegenheit, das oder die eigentlichen Spielzimmer, auch diese
nach Möglichkeit differenziert in Spiel-Lernzimmer und Spiel-Turnzimmer,
einen Spielplatz im Freien mit Gartengelegenheit. Zu diesen Tages-
räumen des Kindergartens müssen in den Anstalten, die den Kindern
') Siehe diese Zeitschrift 1916 u. 1917 (bes. S. 503).
Kindergarteiifragen nach dem Krieg 151
ganztägig zur Verfügung stehen, ein Eßraum, ein Schlaf raum für den
Nachmittagsschlaf und ein Baderaum zur Verfügung stehen. In ge-
schlossenen Kinderheimen hat sich in der letzten Zeit nach dem muster-
giltigen Vorgang des Viktoria- Augusta-Hauses in Berlin ein eigener
Raum für ansteckungsverdächtige Kinder neben den Krankenzimmern
als äußerst vorteilhaft erwiesen. Im übrigen bemerke ich ausdrücklich,
daß diese Angaben nur Hinweise sein sollen auf die Richtungen, in
denen die Örtlichkeit des Kindergartens einer Verfeinerung, Vermehrung,
zweckmäßigen Durchbildung unterworfen werden kann, daß sie weit davon
entfernt sind, das hier Mögliche zu erschöpfen. Während die Raum-
gliederung und Hygiene der Krippen und Kinderheime beständig fort-
schreiten, lassen die Kindergärten in beiden Hinsichten sehr viel zu
wünschen. Als „Armenanstalten" glaubt man sie vielfach auch so arm-
selig als möglich halten zu sollen, nach Raum und Einrichtung, und
übersieht dabei die Gesundheitsgefahren der Nachlässigkeit, des Schmutzes,
der Raumknappheit. Wie die räumlichen Momente, können auch die
Einrichtung und Ausstattung, Mobiüar, Fußbodenbelag, Wandbehang,
Anschauungs-, Beschäftigungs- und Spielmittel vermehrt, verfeinert
werden. Im letzten Jahrzehnt hat es nicht an ausgezeichneten Versuchen
gefehlt, mit Hilfe kinderpsychologischer und kinderphysiologischer Er-
fahrungen die dinglichen Mittel des Kindergartens zu veredeln und zu
vertiefen. Namentlich wurde Bildungsgehalt und geistige Ergiebigkeit
der Spielgaben gesteigert. Wer heute einen guten Kindergarten besucht
und Erfahrungen vor 30 Jahren damit vergleicht, staunt über die Mannig-
faltigkeit kindergärtnerischer Arbeitsmittel und die Freibeweglichkeit des
einzelnen Kindes.
Auch die schwierige, zwischen Haus und Kindergarten, Kindergarten
und Schule strittige Frage des „Stoffes" ist in ein neues Stadium der
Erörterung getreten. Wir lernen immer genauer unterscheiden, was
der intimsten Erziehungssphäre, dem Gemeinschaftsleben von Mutter
und Kind im Schoß der Familie vorbehalten werden muß, was erst die
strengere Arbeitsgemeinschaft der Schule in Angriff nehmen soll. Aller-
dings ist auf diesem Gebiet des „Lehrplans" der Kindergärten noch
vieles im Fluß ; eine allgemeine Hebung der Einrichtung kann nur von
Nutzen sein auch für diese innere Arbeit.
3.
Der Gedanke, den Kindergarten in den Mittelpunkt der öffentlichen
Kleinkinderfürsorge zu stellen, kann nicht vollständig verstanden und
durchgeführt werden ohne Lösung einer anderen, seit Jahren brennen-
den Frage : nach der Vorbildung, Stellung und Lebenshaltung der Kinder-
gärtnerin. Die Bildung der Kindergärtnerin ist eine der Voraussetzungen
eines guten Kindergartens, wie umgekehrt das Ansehen der ganzen
Einrichtung, Kindergarten genannt, eine der Voraussetzungen der Standes-
hebung der Kindergärtnerin ist. Es ist unrichtig und aussichtslos, den
Kindergärtnerinnen stand heben zu wollen — etwa durch eine neue
Studienvorschrift — , wenn der Kindergarten als ganze Einrichtung mit
dem Makel Armenangelegenheit behaftet bleibt; es ist unrichtig, aus
bloßen Standesrücksichten die Gedanken zur Lösung des Bildungsproblems
152 Aloys Fischer
der Kindergärtnerin zu entwickeln, ohne auf die soziale und pädagogische
Aufgabe des Kindergartens selbst hinzuschauen.
Daß in der öffentlichen Schätzung, der Stellung und Besoldung der
Kindergärtnerin heute vielfach geradezu unanständige Motive und
Tendenzen zum Ausdruck kommen, ist bekannt. In der Familie wird
sie mitunter dem häuslichen Dienstboten hart nahegerückt, in der öffent-
lichen Erziehungs- und Schulverwaltung fast ausnahmslos unter die
Aufsicht und Amtsgewalt anderer, meist der Kleinkindererziehung und
Kinderfürsorge fernstehender Behörden gestellt. Die Kindergärtnerin
kämpft deshalb einen Kampf, ähnlich dem der Volksschullehrerschaft,
wenn auch die Fronten verschieden sind, und sie führt diesen Kampf
mit ganz entsprechenden Mitteln. Wie die Volksschullehrerschaft meint
und hofft, durch Beseitigung ihrer gesonderten Vorbildung, durch den
Zugang zur höheren Schule und Hochschule, durch Hebung ihrer Vor-
bildung also, die Unterschiede in Ansehen und Besoldung zu überwinden,
die sie heute noch vielfach von den wissenschafthchen Lehrern der
höheren Schulen trennen, so ist auch in den Kreisen der Kindergärt-
nerinnen der Glaube lebendig, durch eine Bildungsauslese das Ansehen
und die Erwerbsbedingungen ihres Standes zu verbessern. Bei der un-
leidlich äußerlichen Art der Schätzung nach Schulen und Berechtigungen,
bei der unsachlichen Trennung von Mensch und Aufgabenkreis, an der
wir Deutschen leiden, ist diese Richtung des Kampfes der Kindergärt-
nerinnen verständhch; ob sie im Interesse des Kindergartens selbst liegt,
darf fraglich erscheinen. Für alle Erzieher und Lehrer kann das
Bildungsproblem im Grunde nur lauten: „Welche Vorbildung und Berufs-
bildung ist die sachlich zweckmäßigste?* Freilich ist eine Lösung der
schwebenden Fragen von diesem Standpunkt aus eigentümlich abstrakt;
sie übersieht geflissentlich, daß sich Erziehungseinrichtungen im Gesamt-
leben einer bestimmten Gesellschaft geschichthch entwickelt haben, und
daß vom Boden bestehender, gesellschaftlicher Anschauungen aus die
rein sachlichen Forderungen doch unsachlich werden können, wenn sie
nämlich nicht zugleich dem Stand die für seine Erziehungsaufgabe er-
forderliche Autorität gewährleisten. Man wird deshalb gut tun, vorher
zu untersuchen, wer sich ändern soll: die bestehende traditionelle
Schätzungsweise oder die Bildungseinrichtungen. In der Bildungsfrage
der Kindergärtnerinnen werden wohl beide Teile umlernen müssen, die
Gesellschaft im ganzen und der einzelne Stand der Kindergärtnerinnen.
Als Symptom und zugleich Weg dieser geforderten Gesinnungsänderung
'möchte ich gerade die Umbildung des Kindergartens selbst nochmals
betonen, seine Entwicklung aus der Abgeschlossenheit einer bloßen
Wohlfahrtseinrichtung für Arme in den Mittelpunkt der öffent-
lichen Kleinkinderfürsorge. Es kann nicht mehr verkannt werden, daß
Kleinkinderfürsorge und alles, was mit ihr zusammenhängt, sich steigen-
der Wertschätzung erfreut, und es muß nun dafür gesorgt werden, im
öffentlichen Bewußtsein den Kindergarten als den wichtigsten Hebel
dieser Fürsorge festzulegen, um auch dem Ansehen der Kindergärtnerin
den gewünschten Aufschwung zu geben. Dieser Weg zur Hebung des
Standes der Kleinkindererzieherin scheint mir erfolgreicher als Erhöhung
ihrer Vorbildung.
Kindergartenfragen nach dem Krieg 153
Selbstverständlich ist damit nicht gesagt, daß die bisher übliche Aus-
bildung der Kindergärtnerinnen in jedem Betracht genügend und gut
ist; wie der Kindergarten selbst ist auch die Ausbildung für die in ihm
tätigen Personen veränderlich; es lohnt sich wohl,'über die Anforderungen
nachzudenken, die der Kindergarten der nächsten Zukunft an Leiterin
und Gärtnerin stellt, und das Problem der Ausbildung unter diesem Ge-
sichtswinkel kurz zu betrachten.
Der bisher übliche Bildungsgang der Kindergärtnerin war in den ver-
schiedenen Bundesstaaten des Reiches verschieden. In Preußen i)
z. B. waren seit der Neuordnung des höheren Mädchenschulwesens (durch
die Verfügungen des Unterrichtsministeriums vom 6. Febr. 1911, erschienen
in der Februarnummer 1911 des „Zentralblatts für Unterrichtsverwaltung'*
und vom 16. Aug. 1911) vorzugsweise zwei Wege gangbar: der Besuch
eines anerkannten Fachseminars (Kindergärtnerinnenseminars) mit 1^2-
jähriger Dauer und staatlicher Abschlußprüfung oder der Besuch einer
Frauenschule mit angegliederten anerkannten Kursen zur Ausbildung
von Kindergärtnerinnen. Die Dauer dieses Bildungsgangs betrug zwei
Jahre. Die Vorbildung für den Eintritt in ein Kindergärtnerinnenseminar
war m. W. nicht einheitlich geregelt ; es mußte nur bei der schulwissen-
schafthchen Aufnahmeprüfung (Vorprüfung) der Nachweis einer ent-
sprechenden allgemeinen Bildung geliefert werden; wo sich die Be-
werberin diese Bildung erworben hatte, ist m. W. nicht in den Zulassungs-
bedingungen normiert. Eine neunstufige Mittelschule, eine höhere Mädchen-
schule, ein Lyzeum waren gleichmäßig als Vorbildung zulässig; auch der
Fall, daß sich die Bewerberin nach Erfüllung der Volks- und Fort-
bildungsschulpflicht und geeigneter Selbstvorbereitung oder privater
Ergänzung ihres Bildungsgangs zu dieser Vorbildung meldete, war nach
dem Wortlaut der Bestimmungen und den Gewohnheiten der Praxis
nicht ausgeschlossen. Vorgeschrieben war nur die Altersgrenze (voll-
endetes 16. Lebensjahr) und die Vorprüfung selbst. In Bayern bestand
vor Einrichtung der Frauenschulen keine einheitliche Regelung; es gab
einige städtische und private Kindergärtnerinnenseminare, meistens von
früheren Schülerinnen höherer weiblicher Unterrichtsanstalten besucht;
Kindergärten in Verbindung mit Klöstern bildeten ihre Gärtnerinnen selbst
aus. Die Ministerialbestimmungen vom 8. April 1911 regeln das höhere
Mädchenschulwesen im allgemeinen nach zwei Wegen: der eine führt
von dem gemeinsamen Unterbau der allgemeinen höheren Mädchen-
schule über realgymnasiale oder humanistische Kurse zur Universität,
der andere über die Frauenschule zur Ausbildung in bestimmten weib-
lichen Berufen, namentlich dem der Kindergärtnerin und Erzieherin.
Die Abzweigung der Gymnasialkurse beginnt am Schlüsse der dritten
Klasse der höhere Mädchenschule (vollendetes 13. Lebensjahr); sie sind
auf sechs Jahre berechnet; ihre Reifeprüfung verleiht den 19jährigen
Schülerinnen im Prinzip die gleichen Berechtigungen, wie die Reifeprüfung
der neunklassigen höheren Schüler der männlichen Jugend. Die Ab-
') Zusammenstellung der ■wichtigsten Vorschriften über den Bildungsgang der Kindergärtnerin
bietet Marie Wandel: Auskunftsbuch für Lehrerinnen mit Einschluß der Kindergärtnerinnen. Aus-
gabe II für Kindergärtnerinnen. Braunscbweig und Leipzig 1913. H. Wollermann.
154 Aloys Fischer
zweigung der Frauenschule beginnt nach der sechsten (Schluß-) Klasse
der höheren Mädchenschule, nach dem vollendeten 16. Lebensjahr; die
Dauer der Frauenschule ist auf zwei Jahre festgesetzt; sie umfaßt eine
allgemeine, haus wirtschaftlich eingestellte Abteilung, eine Abteilung für
Kinderpflege, eine Abteilung für Kindergarten und Kindererziehung.
Während das erste Jahr, die allgemeine Abteilung, keine Berufsausbildung
vermittelt, sondern auf die Stellung der Mädchen als Hausfrauen bzw.
auf den Eintritt in ein Hauswirtschaftslehrerinnenseminar oder in eine
Fürsorgeschwesternausbildungsanstalt vorbereitet, sind mit den beiden
anderen Fachabteilungen Prüfungen verbunden, nämlich das Kinder-
gärtnerinnenexamen bzw. die Erzieherinnenprüfung.
Ihrem Stoff und Inhalt nach umfaßt die Ausbildung der Kindergärtnerin
bisher außer einer Reihe sogenannter allgemeiner Bildungsfächer (Religion,
Deutsch, Geschichte, Bürgerkunde, Zeichnen, Handarbeit, Musik) vor
allem theoretische Pädagogik, Kindergartenpraxis, Beschäftigungslehre
für den Kindergarten, Kinderturnen und Turnen und Kindergartenliteratur.
Der Schwerpunkt liegt überall in der praktischen Anleitung zur Arbeit
im Kindergarten selbst.
Eine erste Erhöhung der Bildung über diesen hier in einem Durch-
schnitt gezeichneten Stand bedeutet die preußische Trennung der Jugend-
leiterin von der Kindergärtnerin. Die Jugendleiterin ist berechtigt zur
Leitung mehrgliederiger Kindergärten, Horte, Kinderheime und ähnlicher
Anstalten zur Pflege und Erziehung der Jugend außerhalb der Schulzeit,
vor allem aber auch seit der Kriegsentwicklung zur Mitarbeit in der
öffentlichen Jugendpflege. Ein Urteil über die praktische Bewährung
dieser erst kurz wirksamen Unterscheidung ist noch kaum möglich;
ihre Aufnahme in den beteiligten Kreisen ist eine geteilte, sie schafft
im Stand der Kindergärtnerinnen eine Art Gegenstück zu der norddeutschen
Trennung von „Lehrern" und „Oberlehrern".
An sich fordert die Leitung eines Gesamtkindergartens, namentüch
in Großstädten, oder die eines vollen Tagesheims für Kleinkinder gewiß
manche Charaktereigenschaften, Kenntnisse und Erfahrungen, die in der
bisherigen Kindergärtnerinnenausbildung gar nicht oder nur gelegentlich
gepflegt worden sind. Und ganz außer allem Zweifel steht, daß die
Aufgaben der Jugenpflege, die freilich selbst noch immer schwankend
sind, nicht von einer Kindergärtnerin im bisher üblichen Sinn bewältigt
werden können, schon aus dem einfachen Grunde, weil die Jugend-
pflege sich vorzugsweise an das volksschulentlassene Alter wendet.
Anlässe zur Differenzierung der Kräfte, die auf dem Gebiet der Klein-
kindererziehung, Kleinkin'derfürsorge und Gesundheitspflege arbeiten,
bestehen gewiß und reichlich; die Differenzierung der Personen ist in
Zukunft ebenso notwendig wie die der Anstalten selbst und ihrer Räume.
Als ein Teil in diesem Vorgang mag auch die Unterscheidung zwischen
Kindergärtnerin und Jugendleiterin verstanden und gewürdigt werden.
Die Vorbildung einer Jugendleiterin besteht nach den preußischen
Plänen im Besuch einer neunklassigen höheren Mädchenschule, einer
Frauenschule mit Kindergartenabteilung bzw. eines Kindergärtnerinnen-
seminars, und mindestens vierjähriger Praxis im Kindergarten. Die
Lehrpläne zur Ausbildung selbst sind m. W. noch nicht einheitlich; im
Kindergartenfragen nach dem Krieg 155
allgemeinen muß die künftige Jugendleiterin noch ein Jahr in einem
Fachseminar studieren; die preußischen Vorschriften betonen als Lehr-
stoffe: Pädagogik, Berufskunde, Gesundheitslehre, Jugend- und Volks-
literatur, Unterrichtslehre, ModeUieren, Ausschneiden und Zeichnen,
Handfertigkeit. Als unterste Altersgrenze für die Zulassung zur Jugend-
leiterinnenprüfung ist das vollendete 19. Lebensjahr festgelegt.
Aus der Erörterung der Trennung von einfacher Kindergärtnerin und
Jugendleiterin einerseits, aus den vorher schon wirksamen Bestrebungen
auf Hebung des Standes der Kindergärtnerinnen anderseits sind die
neueren Forderungen hervorgewachsen: allgemein soll in Zukunft der
Besuch einer neunklassigen höheren Mädchenschule die schulwissen-
schaftliche Vorbildung für Kindergärtnerinnen bilden. In Frauenschulen
und FachseminarAi für Kindergärtnerinnen soll dann ein zwei- bis drei-
jähriger Berufsbildungsgang folgen.
Die generelle Regelung der Kindergärtnerinnenbildung in diesem Sinn
würde eine Reihe von Konsequenzen für die künftige Zusammensetzung
des Standes einschließen. Die Kosten einer höheren Mädchenschule
würden die Auslese zugunsten der bemittelten Schichten beschränken.
Es fehlt nicht an Stimmen, die darin gerade einen Vorteil und Segen
für den Kindergarten erblicken. Die höhere Haustochter mit ihrer durch-
schnittlich guten Kinderstube, ihren besseren Manieren, ihrer reineren
Sprechweise soll im Kindergarten gerade um dieser Eigenschaften willen
vorzüglich amPlatz sein, jedenfalls den Vorzug vor dem Mädchen verdienen,
das mit einfacher oder gehobener Volks- und Fortbildungsschulbildung
durch langjährige Mitarbeit rein praktisch in den Beruf der Kinder-
gärtnerin hineinwächst. Führende Persönlichkeiten stehen nicht an,
ausdrücklich zu gestehen, daß ihnen eine Hebung des Standes der Kinder-
gärtnerinnen nur möglich scheint, wenn die Schicht, aus der er sich
rekrutiert, nach oben rückt; das Mittel, dies zu erreichen, ist in ihren
Augen der Pflichtbesuch einer neunklassigen höheren Mädchenschule
als Vorbedingung für den Eintritt in das Kindergartenseminar. Ohne
die Erhöhung oder Vertiefung der Kindergärtnerinnenbildung selbst an-
greifen zu wollen, möchte ich diesen Erwägungen doch zwei Bedenken
in den Weg legen: das erste rein soziologischer Natur, das zweite päd-
agogischer Erfahrung entsprungen. Wir lernen seit Jahrzehnten mit einer
wachsenden Zahl von Mädchen rechnen, die aus guten Ki'eisen stammend,
namentlich aus Familien von höheren Beamten, höheren Angestellten
in der Privatwirtschaft, keine Aussicht haben, in Ehen versorgt
zu werden, oder auf die Versorgungsehe verzichten. Das Bestreben
der gehobenen Stände, für ihre Haustöchter befriedigende Berufe zu
schaffen und womöglich zu privilegieren, ist die verständlichste Schutz-
maßnahme. In diesem Kampf um anständige, befriedigende und ge-
nügend entlohnte Berufe für die höhere ledige Haustochter haben in
der letzten Zeit auch die pädagogischen Berufe der Frau an Breite ge-
wonnen; die Statistik über die Herkunft der Volksschullehrerin gibt
darüber fast eindeutige Aufschlüsse. Als kaufmännisch Angestellte
ist nicht jeder Haustochter die standesgemäße Arbeit und Behandlung
sicher; für akademische Studien und die freien akademischen Berufe
bestehen vielfach noch Schranken, außerdem ist der akademische Weg
X56 Aloys Fischer
zur beruflichen Selbständigkeit für ein Mädchen lang, kostspielig, mit
Unsicherheiten behaftet. Es wird in solchem Zusammenhang verständ-
lich, wenn die Kindergärtnerin als ein Berufsziel auch für die Tochter
der höheren Stände immer mehr an Beliebtheit gewinnt. Die Arbeit
der Kindergärtnerin ist der weiblichen Anlage und Interessensphäre
gemäß ; in gemeindlicher oder staatlicher Anstellung kann ihr auch die
wünschenswerte wirtschaftliche Sicherheit gewährleistet oder geschaffen
werden. Ist erst der Stand nach seiner Zusammensetzung einigermaßen
gesellschaftlich auf der Höhe, so kann ein ernsthaftes Bedenken, die
höhere Haustochter als Kindergärtnerin zu versorgen, nicht wohl mehr
bestehen.
Unbefangene Beurteiler der Entwicklung unserer Frauenberufe konnten
sich seit längerer Zeit dem Eindruck nicht entziehen^ daß an der Neu-
regelung der Kindergärtnerinnenbildung auch derartige Standeswünsche
und gesellschaftliche Bedürfnisse ihren Anteil besitzen, zumal sie von
Seiten der Kindergärtnerinnen selbst nicht abgelehnt oder zurückgewiesen
werden. Die Frage, ob gehobene soziale Herkunft und bessere wissen-
schaftliche Schulbildung die Neigung, sich mit dem Kleinkind, gerade
mit dem armen, vernachlässigten Kleinkind abzugeben , fördern, ob sie
die Gesinnung der Kindergärtnerin zu erzeugen vermögen, trat dabei
doch merklich in den Hintergrund. Und doch wird niemand, der die Arbeit
des Kindergartens nicht bloß aus gelegentlichen Besuchen, sondern genau
kennt, im Zweifel darüber sein, daß die Erziehung der Kleinkinder
namentlich in den öffentlichen Anstalten außer fachlich -technischer
Schulung vor allem reine Liebe zu den Kindern, zu der Erziehungsarbeit
als solcher, Opferkraft, physische Leistungsfähigkeit und — ich kann
es nicht unterdrücken — eine gewisse Bescheidenheit der Ansprüche
an das Leben geradezu fordert. Ich leugne die Vorteile nicht, die eine
gute Abstammung einer Kindergärtnerin geben können, aber ich glaube
immer wieder beobachtet zu haben, daß sich Mädchen solcher Vorbildung
und Herkunft leicht „zu gut" für die tägliche Arbeit des Kindergartens
dünken und nach ein paar Jahren über sie hinausstreben. Allenfalls
scheint ihnen die L e i t u n g eines Kindergartens mehr zu entsprechen. Mit
ihrer Vorbildung stehen ihnen ja auch andere Wege offen, Wege zu unab-
hängigerem, reicherem und angesehenerem Erwerb. Es ist selbstver-
ständHch begrüßenswert, wenn der weibliche Nachwuchs auch der höheren
Stände in die Kindergartenarbeit geht, aber es wäre m. E. ein Unglück,
wenn den Mädchen aus einfachen Verhältnissen der Weg zu ihr über-
mäßig erschwert oder gar verlegt würde. Das ist der erste Punkt, auf
den ich mit allem Nachdruck bei der Erörterung der Vorbildungsfrage
immer wieder aufmerksam zu machen für meine Pflicht halte.
Dazu kommt ein zweiter Gesichtspunkt: Während der Kriegszeit
mußte vielerorts mit freiwilligen Hilfskräften gearbeitet werden; ich
überblicke selbstverständlich nicht alle dabei gemachten Erfahrungen;
die Auslese für diesen Hilfsdienst in Krippen, Horten, Kindergärten ist
auch nicht überall gleich gewesen. Aber im großen scheint mir doch
eines festzustehen, daß Mädchen mit Volksschulbildung und praktischer
Erfahrung eine für Pflege- und Erziehungsberufe geradezu bewunderns-
werte instinktive Anstelligkeit gezeigt haben. Ihre frühe Vertraut-
Kindergartenfragen nach dem Krieg X57
heit mit den Wirklichkeiten des Lebens gleicht die Mängel theoretischer
Vorkenntnisse leicht aus. Auch ist der Abstand zwischen ihrer und
der Welt ihrer Schutzbefohlenen kein so großer; sie können die häus-
lichen Verhältnisse sowohl leichter überblicken, verstehen und berück-
sichtigen als auch beeinflussen. Der pflegerische und pädagogische
Genius steckt nicht in der Erkenntnis, auch wenn er ihrer nicht ent-
raten kann. Ich glaube deshalb, daß wir auch in Zukunft nicht darauf
verzichten sollen, tüchtigen Mädchen der einfachen Schicht mit guter
Schulbildung den Weg zur Arbeit im Kindergarten durch praktische
Mitarbeit, durch eine Art Lehrzeit also, offen zu halten; daß wir dies
tun sollen weniger im Interesse der Versorgung dieser Mädchen, als im
Interesse der Kinder und Kindergärten selbst. Das pädagogische Talent,
Lust und Liebe zu den Kindern, Anstelligkeit und Opfergesinnung und
die oben berührte Bescheidenheit der Lebensansprüche machen auch ohne
viel „wissenschaftlichen Unterricht", ohne Fremdsprache, Physik, Chemie,
Verwaltungsrecht und Bürgerkunde aus diesen Mädchen tüchtige Kinder-
gärtnerinnen.
Will man diese uns notwendigen Naturgaben nicht ungenutzt ver-
kümmern lassen, so gilt es, die Frage der Vorbildung und Berufsbildung
der Kindergärtnerin möglichst vielfältig durchzuführen und insbesonders
zwischen der Kindergärtnerin als solcher, der Leiterin eines Kinder-
gartens, der Vorsteherin eines Tagesheims für Kinder, der Aufsichts-
kraft und der Jugendpflegerin schärfer zu unterscheiden.
Die geschilderte Ausbildung innerer Unterschiede der Einrichtungen
für die Pflege und Erziehung des Kleinkindes, sowie für die außerhäusliche
Betreuung auch noch der Schulkinder wird künftig dazu zwingen, auch
in der Ausbildung der dafür sich vorbereitenden Kräfte Unterschiede
zu machen. Die Kindergärtnerin wird wohl noch der namengebende,
aber nicht mehr einzige Typ sein; die Kindergartenleiterin, die Gärtnerin,
die Aufsichtskraft im Kindertagesheim, die Tagesheimleiterin, die Jugend-
pflegerin, vielleicht auch die Schulpflegerin werden sich auf den Grund-
lagen der Kindergärtnerinnenausbildung nach und nach einbürgern,
mindestens in der Kleinkinderpflege der großen und mittleren Städte.
Und ist einmal der vereinheitlichende Schritt von der Erziehung zur
Fürsorge, von der pädagogischen Einrichtung: Kindergarten zu dem um-
fassenden Ganzen : organisierte Kleinkinderpflege gemacht, so stehe ich
nicht an zu erwarten, daß auch die für ländliche Verhältnisse gedachten
Wanderpflegerinnen, Kreispflegerinnen, Fürsorgeschwestern (oder wie
die öffentlichen Helferinnen der Kinderpflege sonst heißen mögen) eine
pädagogische Ausbildung ungefähr wie Kindergärtnerinnen und Hort-
nerinnen anstreben und nutzen werden.
Hält man sich die mannigfachen Bedürfnisse der Gesellschaft vor
Augen, denen die Kleinkinderpflege gerade auch nach der Erziehungs-
seite genügen soll, denkt man an die großen Zahlen der dafür erforder-
lichen vorzubildenden Kräfte, und ist man schließlich davon überzeugt,
daß die Kleinkinderpflege künftig stärker als bisher unter staatliche
Vereinheitlichung, Regelung und Förderung kommen muß, so bleibt für
die Frage der Kindergärtnerinnenbildung nur ein Weg aussichtsreich:
die Schaffung staatlicher Kindergartenseminare.
158 Aloys Fischer
Der augenblickliche Zustand der Dinge erinnert lebhaft an jene Zeiten,
in denen auch die Ausbildung des Volksschullehrers uneinheitlich, un-
gleich und im Ganzen dürftig war, weil der Staat seine Aufgaben auf
dem Gebiet der Lehrerbildung noch nicht begriffen hatte. Wie wir
über die Zustände der Voraufklärungszeit hinauswachsen mußten und
namentlich staatliche Lehrerseminare nötig hatten, um die Volksschule
zu bekommen und den staathchen Schulzwang vom Papier der Verord-
nung in die Wirklichkeit des Volkslebens überzuleiten, so wird auch
der Ausbau der Kleinkindererziehung erst dann den wünschenswerten
Schritt annehmen, wenn die Erzieherin des Kleinkindes in staatlichen
Anstalten ihre zweckmäßige Berufsbildung suchen und erhalten kann.
Ich stelle diese Forderung hier nicht, um die bestehenden Einrichtungen
herabzusetzen; ihre Verdienste sind unbestreitbar, ihre Art kann viel-
fach benutzt werden zum Aufbau des Kommenden. Die Forderung ist
begründet in den völlig anders gewordenen gesellschaftlichen Verhält-
nissen und in den Aussichten, denen Deutschland entgegen wächst , in
dem Wunsch, auch dem Stand der Kindererzieherinnen die Würde und
Lebenshöhe zu sichern, ohne die ihre Arbeit durch die Gleichgültigkeit,
das Mißtrauen, die Erwerbsrücksichten um ein gut Teil des Erfolges
gebracht wird. Der Staat kann sich m. E. nicht länger mehr der Ver-
pflichtung entziehen, das Kindergartenwesen als wichtigen Bestandteil
der Kleinkinderpflege in seine Fürsorge zu nehmen. Ein Zwang zur
Errichtung von Kindergärten, zur Beschickung derselben kann selbst-
verständlich nicht befürwortet werden; ein Kindergartenzwang nach Art
des Schulzwangs wird dauernd (aus Gründen der Famihenpolitik, der
Erziehungsrechte des Hauses und anderen Überlegungen) abzulehnen
sein. Aber wohl ist es denkbar, daß wir im Interesse der einmal vor-
handenen Kinder und genötigt durch die Wirtschafts Verhältnisse, die
eine Familienerziehung oft ausschließen oder erheblich einschränken,
größeren Gemeinden, Gewerbebetrieben, Fabriken und anderen Wirt-
schaftseinheiten die gesetzliche Verpflichtung auferlegen, für die Kinder
ihres Verwaltungsbereiches ein Mindestmaß erzieherischer Fürsorge zu
schaffen. Von dem Zeitpunkt an, in welchem der Staat den Kindergarten
als eine Maßregel der Kleinkinderpflege in seine Hut nimmt, erwächst
ihm Recht und Pflicht, auch für die Kindergärtnerinnen in seinem Dienst
zu sorgen, ihre Bildung, Stellung und Einkommensverhältnisse zu regeln.
Und geht einmal der Staat hier mit seinem Beispiel voran, so werden
die Gemeinden und Familien nachfolgen müssen, die auf die Anstellung
von Kindergärtnerinnen, Bonnen, Kinderfräulein usw. nicht verzichten
können.
Ich glaube mit den angedeuteten Zusarqmenhängen gezeigt zu haben,
daß der Staat Pfhchten hat gegenüber dem Kindergarten und wie er
durch Gründung eigener Anstalten für die von ihm direkt eingerichteten
oder überwachten Kindergärten die gesamten Probleme der Wirtschafts-
und Standesfragen der Kindergärtnerinnen fördern kann.
Die nächste Frage ist die: Auf welcher Grundlage soll das staatliche
Kindergartenseminar aufgebaut sein? Zur Zeit ist das ganze Kinder-
gartenbildungswesen von den Leitgedanken und Beispielen des deutschen
Fröbelverbandes beherrscht ; auch die Regierungen, die sonst gern freie
Kinderp:artenfragen nach dem Krieg 159
Hand und selbständige Initiative bewahren, zeigen sich in den Grund-
sätzen zur Regelung des Kindergartenbildungs wesens wesentlich unter dem
Einfluß dieses großen und verdienstvollen Verbandes. Da der Fröbel-
verband an der höheren Töchterschulbildung als unerläßlicher Vorbe-
dingung für den Eintritt in das Kindergärtnerinnenseminar festhält, so
haben auch die Regierungen diese Bedingung festgehalten oder über-
nommen. Ist diese Bedingung sachlich ganz gerechtfertigt? Ich erinnere
an die Bedenken, die ich oben gegen diese Regelung geltend gemacht
habe; ich füge noch deutlichere Einwände hinzu. In Bundesstaaten,
in denen Absolventinnen der höheren Töchterschule andere Bildungs-
wege als das Kindergärtnerinnenseminar offen stehen (z. B. Studienan-
stalt, Lehrerinnenseminar, Gymnasial- oder Realgymnasialabteilung einer
bayrischen höheren Töchterschule) schwenken erfahrungsgemäß vorzugs-
weise Mädchen in das Kindergartenseminar ab, die nach ihrer bisherigen
schulischen Entwicklung nicht als bestbegabte und geschickteste gelten
können. Wer einigermaßen Aussicht hat, noch mehr „lernen" zu können,
strebt weiter. Es kann jedoch nicht im Interesse des Kindergartens
liegen, die Kräfte an sich zu ziehen, denen zu anderen, angeblich
höheren Zielen die erforderliche Tüchtigkeit mangelt. Die bestehende
Vorschrift wirkt also nicht notwendig günstig auf die Auslese für den
Stand der Gärtnerinnen. Dazu kommt als wichtiges Moment, daß die
höhere Tochter infolge ihrer Beanspruchung durch die Schule wenig
Zeit hat, im ausgiebigen Umgang mit Geschwistern die für die Behand-
lung des Kleinkindes so wichtigen Früherfahrungen zu sammeln. Wie
mir mein an H. Gaudigs Anstalt wirkender Freund Otto Scheibner mit-
teilt, haben Umfragen über den Umgang der Schülerinnen mit ihren
Geschwistern enttäuschende, ja traurige Befunde gezeigt. Die höhere
Schule läßt wenig, mitunter erschreckend wenig Zeit dazu. Ich möchte
meinerseits noch mehr auf ein drittes Moment hinweisen: die fremd-
sprachliche Bildung (Französisch und Englisch) ist in der Berufsarbeit
und Lebensform dei* Durchschnittskindergärtnerin, namentlich der öffent-
lich angestellten, verlorene Mühe gewesen, während große Gebiete der
Sachbildung, die für die kindergärtnerische und kinderpflegerische Arbeit
wünschenswert sind, zu kurz kommen oder überhaupt nicht mehr nach-
geholt werden können.
Ich weiß, daß gerade dieser fremdsprachliche Einschlag wie überhaupt
die sogenannte allgemeine höhere Bildung besonders verteidigt wird.
Man weist daraufhin, daß die gesellschaftliche Stellung der Kindergärtnerin
in der Familie mit davon abhängig ist, ob sie mit der Frau des Hauses
wenigstens streckenweise die Bildung teilt oder nicht. Der Fröbelverband
bildet in seinen Anstalten ja einen großen Teil der Hauserzieherinnen,
Kinderfräulein, Bonnen usw. aus und legt wohl mit Rücksicht auf deren
Fortkommen und Stellung solchen Nachdruck auf die Vorbildung durch
eine höhere Mädchenschule. Aber einmal hindert nichts, daß für die Aus-
bildung der Hauserzieherinnen nach wie vor private Unternehmungen
wirken können, die an den bisherigen Aufnahmebedingungen festhalten
mögen; ich verkenne nicht, daß für das Fortkommen im Dienst der Haus-
erziehung namenthch der vornehmen Kreise, wie heute die Dinge gelagert
sind, die beste gesellschaftliche Vorbildung durchaus eine Empfehlung ist
160 Aloys Fischer, Kindergartenfragen nach dem Krieg
— aber ich bestreite, daß dieser Umstand irgend etwas mit der besonderen
beruflichen Aufgabe zur Kindergärtnerin zu tun hat, bestreite auch, daß
diese Vorbildung von den Familien mit Rücksicht auf die Kinder gefordert
wird. Die Gründe liegen in ganz anderen Richtungen und Rücksichten.
Überläßt man die Ausbildung des vornehmen Kinderfräuleins den be-
stehenden höheren Mädchenanstalten und den auf sie aufgebauten Semi-
naren, dann bleibt dem Staat die Möglichkeit unbenommen, für seine
Kinderpflege Schwestern und Kindergärtnerinnen auf einer anderen
Grundlage auszubilden, nämlich auf jener der allgemeinen Volksschule.
Das staatliche Kindergärtnerinnenseminar schwebt mir nach Vor-
bedingungen und Dauer durchaus als Seitenstück zu den staatlichen
Lehrerseminaren vor. Vor allem müßte mit der (nicht durch die Sache,
sondern eben durch den Zwang des Besuches einer höheren Mädchen-
schule) bedingten Kürze der kindergärtnerischen Ausbildung gebrochen
werden. Denken wir uns Mädchen mit gutem Abgangszeugnis von der
Volksschule, mit natürlichem Interesse für Kinderpflege und Erziehung
in einem mindestens fünfjährigen Lehrgang theoretisch und praktisch
für die Kindergartenarbeit befähigt, so haben wir nicht nur eine zweck-
mäßig zureichende Vorbildung für Kindergärtnerinnen geschaffen, son-
dern zugleich, um ein Schlagwort des Tages zu gebrauchen, eine neue
Möglichkeit des Aufstiegs der Begabten eröffnet, noch dazu — was m. E.
sehr ins Gewicht fällt — für das weibliche Geschlecht. Es ist hier nicht
angebracht, einen förmlichen Lehrplan eines solchen fünfstufigen Kinder-
gärtnerinnenseminars zu entwerfen; dazu müßte außer der pädagogischen
Wissenschaft vor allem die Erfahrung der Praxis selbst zu Rate gezogen
werden. Nur einige Andeutungen über das Grundsätzliche seien gestattet:
die zeitliche Trennung der allgemeinen Bildung und Fortbildung (Deutsch,
Religion, Natur- und Kulturkunde usw.) von der Fachbildung dürfte un-
zweckmäßig sein; vom Anfang an und für die ganze Dauer der Aus-
bildung soll vielmehr die engste Verbindung und Durchdringung der
allgemeinen und der beruflichen Bildungsfächer dem Lehrgang das Ge-
präge geben. Noch wichtiger aber ist das richtige Verhältnis zwischen
„theoretischem" und „praktischem" Unterricht, genauer gesagt zwischen
der schulmäßigen Unterweisung in den theoretischen Grundlagen der
ganzen Kindergartenarbeit und der anleitenden Einführung in sie. Der
Übungsschule am Lehrerseminar müßte ein Übungskindergarten am
Kindergartenseminar entsprechen. Die Einzelheit der Unterrichtsfächer
könnte, wie gesagt, nur nach den Bedürfnissen und den Erfahrungen
der Praxis festgelegt werden.
Die Ausbildung im fünf stuf igen Kindergartenseminar würde die Schülerin
bis zur praktischen Mithilfe am Kindergarten führen. Nach ein bis
zwei Jahren Arbeit als Helferin würde sie die nötige Selbständigkeit
erwerben haben, um einen Kindergarten kleinen Umfangs, eine Abtei-
lung eines mehrstufigen Kindergartens selbst zu führen.
Das staatliche, auf die Volksschule aufbauende Kindergärtnerinnen-
seminar scheint mir berufen, die in steigendem Maß in der städtischen
wie ländlichen Kleinkinderpflege erforderlichen Kräfte auszubilden. So-
weit das Haus, insbesondere die gehobenen und begüterten Schichten,
weiterhin Kinderfräulein verwenden, soll deren Ausbildung im großen
Henriette Goldschrnidt, Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen \ß\
und ganzen im Rahmen der bisherigen Privatanstalten vor sich gehen,
zugleich auf der höheren Töchterschulbildung aufbauen und nach der
pädagogischen Seite vertieft werden.
Soweit für die leitenden Stellen größerer Kindergärten, städtischer
Kinderheime und allenfalls auch noch für die Mitarbeit in der Jugend-
pflege eine andersartige Bildung erforderlich ist, soll sie den bewährten
Kindergärtnerinnen, gleichviel mit welcher Vorbildung, nach zehn Jahren
praktischer Arbeit offen stehen in eigenen, staatlich eingerichteten und
überwachten Kursen für Leiterinnen, deren Dauer mindestens zwei
Jahre betragen und deren Stoff sich vor allem auf die sozialgeschicht-
liche, verwaltungsrechtliche, organisatorische Seite der ganzen Kinder-
fürsorge und Kinderpflege zu erstrecken hat. Ich will freilich nicht ver-
schweigen, daß ich die augenblicklich erstrebte Verbindung von Klein-
kinderfürsorge mit der (weiblichen) Jugendpflege sachlich nicht für
zweckdienlich und ersprießlich halte. Die Kindergärtnerin ist durch
Vorbildung und Erfahrung auf ganz andere Erziehungsaufgaben ein-
gestellt und vorbereitet, als sie in der Jugendpflege zu lösen sind. Es wird
auf die Dauer nichts anderes übrig bleiben, als eigene Wege und Ver-
anstaltungen zur Ausbildung der Jugendpflegekräfte zu suchen und zu
gehen. Die Jugendlichen sind in leiblicher, psychischer, sozialer Hin-
sicht ganz verschieden vom Kleinkind, ihre Erziehung geht andere
Bahnen als sie in Kindergarten und Schule beschlossen sind , deshalb
könnte ich in der Verwendung von Kräften, die ursprünglich vorzugs-
weise für das Kindes- und Schulalter ausgelesen und vorgebildet
worden sind, nur eine durch die Not entschuldigte Ausnahme, nicht
eine Regel erblicken. Auch die höhere Bildung macht nicht an sich
zur Jugendpflege geeignet, dies tut nur eine spezifische Bildung. Sie
muß freilich erst noch geschaffen werden.
Durch diese Vorschläge wird die Bewerbung um die leitenden Stellen
den beiden Gruppen möglich, durch die Bedingung einer genügend langen
praktischen Zeit wird dem Mißstand gesteuert, daß die leitenden Stellen
mit Kräften besetzt werden, die trotz ihrer höheren Bildung dem ganzen
Betrieb des Kindergartens und der Kleinkinderpflege fernstehen.
Selbstverständlich sollen die gemachten Vorschläge nur die allgemeine
Linie der wünschenswerten Entwicklung kennzeichnen; diese wird un-
streitig dadurch bestimmt werden, daß der Kindergarten aus der eigen-
tümlichen Selbständigkeit heraustritt und im Rahmen der Maßnahmen
einer allgemeinen öffentlichen Kinderpflege seine Wiedergeburt erlebt.
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen.
Ein Rückblick auf die Anfänge der deutschen Frauenbewegung
und das Erzieliungswerk Friedrich Fröbels.
Von Henriette Goldschmidt.
Zu den wenigen Frauen gehörend, die in den sechziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts die Initiative für die Frauenfrage ergriffen und sie den Zeitgenossen
zur Beantwortung vorgelegt hatten, ward es mir nicht schwer, auch für den
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 1 1
162 Henriette Goldschmidt
Gedanken einer Hoclischule für Frauen das sympathische Interesse weiterer
Kreise zu finden und ihn zur Verwirklichung zu bringen. Man brachte mit
Recht die Hochschule in Zusammenhang mit der Frauenbewegung, die ja be-
kanntlich von Leipzig ihren Ausgang genommen hat. Als der einzigen noch
Lebenden jener Frauen, die zaghaft und doch mutig die ersten Schritte für
diese Bewegung unternahmen, möge es mir vergönnt sein, sie in Kürze zu
zeichnen.
Wie jede neue Erscheinung, die sich bsdeutsam für unsere Entwicklung
erweist, im geistigen Lebsn der Menschen lange vorbsreitet sein muß, so war
es auch die Frauenfrage. Sie ist ein Kind jener Zeit, die in den vierziger Jahren
des vorigen Jahrhunderts auf allen Gebieten unseres Kulturlebsns die Gemüter
mächtig bewegte und im Jahre 1848 sichtbar in die Erscheinung trat. Das tolle
Jahr nannten es viele — als ein bedeutsames Jahr für das politische und soziale
Leben Deutschlands ist es historisch anerkannt. Wer es erlebt hat, weiß, daß
es em Jahr der Befreiung, der Erlösung war, ein Jahr der Wiedergeburt neuer
Hoffnungen.
Im Jahre 1848 hatte die Frau, die später, im Jahre 1865, Deutschlands Frauen
zu einer öffentlichen Konferenz nach Leipzig barief, in der über die Stellung
der Frau beraten werden sollte, die erste politische Zeitung für Frauen gegründet
mit dem Motto: „Dem Reich der Freiheit werb' ich Bürgerinnen".
Luise Otto, die Tochter eines Justizbeamten in Meißen, hatte in Gemein-
schaft mit einigen Gesinnungsgenossinnen, zu denen auch Auguste Schmidt
gehörte, das Wagnis unternommen. Es fand kein nennenswertes Echo in der
Frauenwelt; doch führte die Konferenz in Leipzig zur Gründung des „All-
gemeinen Deutschen Frauenvereins".
Fast zu gleicher Zeit rief der damalige Handelspräsident Lette in Berlin einen
„Verein zur Förderung der weiblichen Erwerbsfähigkeit" ins
Leben. Das Prinzip dieses Vereins ist einfach und deutlich erkennbar. Die
Notlage des weiblichen Geschlechts bestimmte einsichtige und wohlwollende
Menschen zur Hilfeleistung.
Der in Leipzig gegründete Allgemeine Deutsche Frauenverein war in gleicher
Weise von der Notlage des weiblichen Geschlechts bsdingt. Sein Programm
sprach es deutlich aus : „Der Verein erklärt die Arbeit als die Grundlage imserer
modernen Kultur für die Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts. Er will
bestrebt sein, alle Hindernisse zu beseitigen, welche ihr im Wege stehen".
Es ist unschwer zu erkennen, daß bside Vereine von verschiedenen Gesichts-
punkten ausgehen. Der Letteverein will der Notlage durch erhöhte Erwerbs-
fähigkeit abhelfen ; der Allgemeine Deutsche Frauen verein bezeichnet die Arbeit
als Ehre und Pflicht der Frau, er stellt die Frau in die Arbeitsgemeinschaft aller
ein. Arbeit ist nicht nur ein Mittel für die Erwerbsfähigkeit des einzelnen, sie
ist Bedingung unserer gesamten Kultur. Inzwischen haben beide Vereine mit
Befriedigung auf eine fünfzigjährige Wirksamkeit zurückbhcken können.
Der Allgemeine Deutsche Frauen verein hatte zunächst die agitatorische Tätig-
keit als die ihm gemäße ins Auge gefaßt. Er hat eine Zeitschrift ins Leben ge-
rufen: „Neue Bahnen", die sich bis jetzt trotz der Fülle von Zeitschriften
für die Frauenfrage behaupten konnte, und er bediente sich des wichtigsten und
wirksamsten Agitationsmittels, des gesprochenen Wortes in öffentHchen Ver-
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen 163
ßammlungen. Unter dem Vorsitze seines Vorstandes fanden alljährlicli in einer
der größeren oder mittleren Städte Frauentage statt. Frauen sprachen dort zu
Frauen und erörterten alle Seiten der Frauenfrage; die Stellung der Frau als
Persönlichkeit und im Zusammenhange mit dem Familien-, Gemeinde- und
Staatsie ban. Diese von Frauen geleiteten imd von Frauen ausgeführten Tagungen
machten die Zuhörerinnen zu Mitkämpfern für diese ihre eigene Angelegenheit.
Nicht nur das Verständnis wurde geweckt, der Wille zur Betätigung für die Arbait
aller, für Rechte und Pflichten der Frau, ergriff die Gemüter. In den Frauen-
tagen liegt die Wurzel der Frauenbewegung.
So verlockend es für mich wäre, den Werdegang dieses Agitations Vereins
nach allen Richtungen eingehend zu schildern, so muß ich mir das versagen.
Unsere Hauptaufmerksamkeit wandte sich zunächst dem Mädchenschulwesen
zu. Vor 50 Jahren gab es keine Fortbildungsschule für Mädchen — weder für
Volksschülerinnen, noch für Schülerinnen der höheren Töchterschule. Die
einzige Bildungsstätte über das Ziel der höheren Töchterschule hinaus war das
Seminar für Lehrerinnen.
Die erste Tat der sogenannten Frauenrechtlerinnen war die Gründung einer
Fortbildungsschule in Leipzig für Töchter unbemittelter Familien. Die Frauen-
tage schlössen fast immer, anstatt mit der Fassung von Resolutionen, mit der
Gründung eines Fr auenbildungs Vereins, der es für seine vornehmste und erste
Aufgabe hielt, Fortbildungsschulen für Mädchen zu errichten.
Neb3n dieser unteren Stufe eines bildenden Unterrichts beschäftigte uns
die Möglichkeit des Studiums der Frauen an der Universität, zunächst das
medizinirche und pädagogische Studium. Nach einem zwei Jahrzehnte wäh-
renden Kampf öffneten sich die Pforten der Universität den Frauen.
In den letzten fünfzig Jahren sind eine Fülle von Schulen entstanden, die
sich teils aus Fortbildungsschulen zu Fachschulen erweiterten, teils gleich als
solche eingerichtet wurden. Eine Erscheinung auf pädagogischem Gebiete,
die vor 50 Jahren dem allgemeinen Verständnis der offiziellen Pädagogik fremd
war, wurde von den damaligen Führerinnen der deutschen Frauenbewegung zwar
wohlwollend betrachtet, in ihrer Bedeutung für die Bildung der weiblichen Jugend,
für den Erziehungsberuf der Frau, kaum beachtet. Ich meine ,,das Frö-
belsche Erziehungswerk".
Dem schöpferischen Geiste Friedrich Fröbels war es vorbehalten, Grund-
lagen für eine Erziehung des kindlichen Alters und Bildungsmittel für das
jungfräuliche Alter zu finden, die im Zusammenhang miteinander stehen, so
daß man nicht nur von einer pädagogischen Theorie , sondern von einem Er-
ziehungswerke sprechen darf. Fünfundzwanzig Jahre vor der ersten Konferenz
deutscher Frauen in Leipzig, im Jahre 1840 hat Fröbel in einer öffentlichen
Versammlung in Blankenburg deutsche Frauen und Jungfrauen zur Grün-
dimg eines deutschen Kindergartens aufgerufen. Er sagte ihnen: ,,Gott hat
das leibliche und geistige Bestehen des Menschengeschlechts durch die Kind-
heit in das Frauenherz und -gemüt gelegt. Es ist die Kindheits-, es ist die
Frauen würde, die Würde des häuslichen, des Familienlebens, die wir begründen
wollen." Im Jahre 1851 ist in Hamburg von Frauen, die für Fröbels Ge-
dankenwelt reif waren, neben den Kindergärten eine Hochschule für Frauen er-
richtet worden, die leider nach kurzem Bestehen der Reaktion zum Opfer fiel.
11*
164 Henriette Goldschmidt
Nocli deutlicher und umfassender als in den genannten Anstalten, bereits
im Jahre 1836, spricht Fröbel seine Gedanken über weibliches Wesen imd Sein
aus. Über Erneuerung des Familien- und Volkslebens stellt der einsame Denker
seine Betrachtimgen an, und in der Neujahrsnacht 1835/36 kam ihm der
Gedanke, es sei das Charakteristische der Zeit, das weibliche Geschlecht
seines instinktiven, passiven Seins zu entheben, und es von selten seines Wesens
und seiner Menschheit pflegenden Bestimmung als Glied der Menschheit zu der
ihm gebührenden Höhe und Anerkennung zu bringen.
Dieses Wort, vor beinahe einem Jahrhimdert ausgesprochen, ist ein propheti-
sches gewesen. Unleugbar hat die erste öffentliche Konferenz deutscher Frauen
am 18. Oktober 1865 in Leipzig die Prophezeiung zu erfüllen begonnen. Die
Frau tat den ersten Schritt, sich von ihrem instinktiven, passiven Sein zu be-
freien, sie forderte ihr Recht, in die Kulturarbeit ihres Volkes einzutreten und
hat während der Dauer eines halben Jahrhunderts für dieses Recht gelitten,
gestritten und es siegreich erkämpft. Unsere Zeit, die gewaltige, grausame Kriegs-
zeit hat bewiesen, daß dieser friedliche Kulturkampf bedeutsame Kräfte der
Frau gezeitigt hat und daß ihr die organisierende Fähigkeit, die man unserem
Volke nachrühmt, nicht fehlt. Ohne die Vorarbeit von Jahrzehnten wäre
die Gestaltung des nationalen Frauendienstes unmöglich gewesen. Aber deut-
licher als je zuvor hat der Krieg auch gelehrt, daß die Natur nach ewigen, ehernen
Gesetzen jedem Geschlechte die Grenzen zieht, und so zeigt der Krieg die Be-
währung der Manneskraft in Schlacht und Kampf, während die Frau die erhal-
tenden, heilenden, pflegenden und erziehenden Kräfte, die sie schon im Frieden
übte, bewähren muß.
Seine Urkräfte betätigt der Mensch immer der Kulturstufe gemäß, die er
errungen, und ehe er eine Kulturstufe erreicht hatte, instinktiv. Längst aber
erfordert jeder Beruf des Mannes eine Vorbereitung, eine Schulung, der Kriegs-
dienst selbst dann, wenn er ihn nicht als Berufssoldat ausüben sollte. Daß die
Urkräfte der Frauen gleich denen des Mannes einer Kultivierung bedürfen, ist
von dem Augenblicke an selbstverständlich, wo es ausgesprochen wird. Niemand
hat das klarer ausgesprochen als Fröbel. Er schaut in die Seele des Weibes wie
keiner vor ihm. Er fand den Quell und Keimpunkt ihres Gemüts- und Seelen-
lebans und zeigte den Weg ihrer Entwicklung von diesem Keimpimkte aus.
Die der Frau selbst nicht bewußte seelische Kraft hat er ihr offenbart und sie
ihrer Menschen pflegenden Bestimmimg bewußt werden lassen. Zum erstenmal
ist der Ruf an sie ergangen, mittätig zu sein an einem die Menschheit umfassenden
Werke. Der Ruf: „Kommt, laßt uns unseren Kindern leben!" war ein Weckruf
aus dem Herzen, aus dem Gem.üt der Frauen. Wie sollten die Frauen diesen
Ruf nicht verstehen ? Sie haben ihn verstanden, sie haben ihm Folge geleistet.
Einen Kindergarten will er errichten, dessen Pflege er ihnen anvertraut.
Der Kindergarten bildet den Grundstein des Fröbelschen Er-
ziehungswerkes. Wir sehen hier die Erzieherin der Kindheit als naturnot-
wendig, als innerlich bedingt. Die erziehende Kraft der Frau ist in Tätigkeit
gesetzt. Nicht nur als Erzieherin ihrer eigenen Kinder, sie fühlt ihre Aufgabe
im Dienste der Volksfamilie, ihre Menschheit bildende Bestimmung. „Der
Erziehungsberuf ist der Kulturberuf der Frau." (H. Göldschmidt.)
Die Notwendigkeit einer Schulung der Vorbereitung für diesen Beruf wird er-
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen 165
kannt. Konnten und können die bestehenden Anstalten für die weibliclie
Jugend benutzt werden? Heutzutage ist dies eine müßige Frage. Es hat
sich im Laufe der Zeit die Eigenart Fröbelscher Bildungsanstalteij derartig
herausgearbeitet, daß wir sie eine schöpferische Tat Fröbels nennen können,
die im engsten, innersten Zusammenhange miteinander stehen und Neu-
schöpfungen sind.
Diese den geheimnisvollen Tiefen menschlichen Greisteslebens entkeimten
Schöpfungen haben aber vielfach in einer Weise Gestalt gewonnen, die eher ge-
eignet war, die Idee, der sie dienen sollten, zu verbergen, als sie zu offenbaren.
Der Kindergarten fand als Volkskindergarten die Teilnahme von Menschen-
freunden; er war Wohltätigkeitsanstalt wie die Bewahranstalt und bezog sich,
wie man meinte, nur auf die ärmere, notleidende Bevölkerung. Daß hier die
gesamte Kindheit, die Erziehung des frühen Kindesalters System imd Methode
erhielt, das zeigte sich nur zufällig demjenigen, der Augen zu sehen und Ohren
zu hören besaß.
Viel schwieriger war es, Bildungsstätten für Kindergärtnerinnen zu errichten.
Nicht die Not der armen Mutter, die, um das tägliche Brot für die Familie zu
schaffen, verhindert ist, ihren Kindern die nötige Pflege und Sorgfalt zu widmen,
eine andere Not, die Erwerbsfrage für die heranwachsenden Töchter des gebil-
deten Mittelstandes kam hier zu Hilfe.
Ich habe im ersten Teil meiner Darlegungen darauf hingewiesen, daß die
Frauenfrage als Erwerbs- und Brotfrage für die weibliche Jugend Zustimmung
und Anerkennung selbst bei denen fand, die ihr als Kulturfrage gleichgültig
oder feindlich gegenüberstanden. Und so verhielt es sich auch bei der Einführung
der neuen Bildungsanstalten. Nicht der Gedanke, die weibliche Jugend vertraut
zu machen mit dem A-B-C der Erziehungskunst und Wissenschaft war das
Motiv zur Gründung der Seminare für Kindergärtnerinnen und deren schnelle
Verbreitung. Man entdeckte in ihnen eine Erwerbsquelle für das weibliche
Geschlecht, die nicht zu unterschätzen war.
So bsmühten sich unberechtigte imd bsrechtigte Elemente, Kindergärtnerinnen
auszubilden, noch bai Lebzeiten des Meisters. Unbekümmert um diese ihm
fern liegenden Motive arb3itete Fröbel selbst an beiden zueinander gehörenden
Anstalten und an ihrer inneren Einheit. In dem festen Glauban an seine Mission
erblicken wir ihn in Bad Liebanstein, unbeirrt davon, daß die damals dort anwesen-
den Kurgäste ihn einen alten Narren nannten, der mit barfüßigen Kindern auf der
Wiese herumspringt. Hier aber wollte es einer jener Zufälle, die wir providentiell
nennen dürfen, daß eine Frau in Fröbels Lebenskreis trat, eine ihm kongeniale
Natur, Fr a u von Marenholt z-Bülow. Sie lernte ihn in seiner Tätigkeit in beiden
Anstalten kennen imd ward mit voller Begeisterung, ja, mit apostolischem Eifer
für seine Lehre erfüllt; sie wurde ihre Verkünder in nicht nur in Deutschland,
sie trug sie in alle Länder des Auslands bis nach Amerika.
Eis ist bekannt, daß Fröbel bereits sein System, seine Methode, seine Be-
schäftigungsmittel ausgearbeitet, bei Kindern angewendet hatte und keinen
Namen für seine Anstalt wußte. Bewahranstalt, Spielschule, Beschäftigungs-
anstalt für Eander, alle diese Bezeichnungen konnte er nicht brauchen.
'166 Henriette Goldschmidt
Auf einem Spaziergang in den waldigen Thüringer Bergen mit seinen Freunden
rief er plötzlich aus : „Ich habe den Namen für mein jüngstes Kind gefunden,
Kindergarten soll es heißen." Mit diesem Namen hatte er sein Werk
gerettet, hatte er es dem Bereiche der Not enthoben und die Einheit zwischen
Natur und Kind poetisch und deshalb herzgewinnend bezeichnet, Nomina
simt omina. —
Der Allgemeine Deutsche Frauenverein betrachtete die Frauenfrage als Kultur-
frage, und so fand mein erster öffentlicher Vortrag 1867 in Leipzig unter dem
Titel „Die Frauenfrage eine Kulturfrage" statt. Es war besonders die Stellung
der Frau innerhalb der bürgerlichen Gemeinde, die ich behandelte. Ich wies auf
die Nichtbeachtung der Kräfte der Frau hin und bezeichnete die Sachlage mit
den Worten : Wir haben wohl Väter der Stadt, wo aber sind die Mütter ?
Wo sind die Mütter ? Hier ist der Schlüssel für meine Stellung in der deutschen
Frauenbewegung, der ich in allen ihren Bestrebungen während 40 Jahren nach
meinen bescheidenen Kräften gedient, imd für die Arbeit, die ich im Dienste
des Fröbekchen Erziehungswerkes geleistet habe.
Fröbel, der die Frau zur Hilfeleistung für eine Kulturaufgabe rief, hat ihr
auch die Mittel gebracht, sie für diese vorzubereiten.
Der von mir im Jahre 1871 gegründete ,, Verein für Familien- und Volks-
erziehung" (der in seinem Namen seine Aufgabe bezeichnet) eröffnete zxmächst
einen Volkskindergarten, dem bald das Seminar für Kindergärtnerinnen folgte.
Bereits im Jahre 1874 richteten wir wissenschaftliche Vortragsreihen für
Damen ein, die von Universitätslehrern gehalten wurden und die auch mir
Gelegenheit gaben, Fröbel einem gebildeten Frauenkreise als den Pädagogen
der weiblichen Jugend bekannt zu machen. Diese Vorträge waren die Vor-
läufer des 1878 gegründeten Lyzeums, einer Anstalt, in deren Mittelpunkt wie
im Seminar Fröbelsche Erziehungslehre und -praxis stand. Den Plan gestaltete
ich nach der aus Fröbekchen Schriften gewonnenen Einsicht im Zusammenhang
mit der Methode imd Praxis des Kindergartens. Ein großer Teil der Lehrgegen-
ßtände war damals noch in keinen Lehrplan der höheren Mädchenschulen auf-
genommen. Raum- imd Formenlehre, Volkswirtschaftslehre, Bürgerkunde, Er-
ziehimgslehre, Geschichte der Erziehung, Psychologie, Gesundheits lehre, künst-
lerische Übungen im Zeichnen, Modellieren, Gesang und G3nnnastik sind
obligatorische Fächer, sie gehören zur Praxis im Kindergarten.
In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es noch keine geschulte
Lehrkraft für die Fröbekche Erziehungslehre, und so mußte ich diesen Unterricht
selbst erteilen. Ich hatte demnach ausgiebig Gelegenheit, den Einfluß kennenzu-
lernen, den unsere Schulen auf die weibliche Jugend ausübten. Waren auch
die wissenschaftlichen Stunden getrennt, je nach der Vorbildung der Schüle-
rinnen, — der Kindergarten vereinigte alle im gemeinsamen Spiel. Wohl mehr
als 1000 Schülerinnen aus den verschiedenen G«selkchaftskreisen, verschiedenen
Bildungsstufen, verschiedenen Alters (von 15 — 30 Jahren), allen war es, ak
hätten sie hier den natürlichen Boden gefunden, aus dem sie Nahrung für
ihr Geistes- und Gemütsleben erhielten. Schülerinnen, die sich gesträubt, in
den Kindergarten zu gehen, und die nur an dem wissenschaftlichen Unter-
richt teilnehmen wollten, verließen die Anstalt als begeisterte Kindergärtne-
rinnen.
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen 167
So bestätigte die Erfahrung, was mir durch die Schriften Fröbels Überzeugung
geworden war, daß es keinen besseren Lehrgang für die Entwicklung des Weibes
gibt als den von Fröbel gefundenen.
Und von dieser Überzeugung geleitet, hatte ich den Mut, dem Kuratorium
des Lyzeums, hervorragenden Lehrern der Universität, die Idee einer Hochschule für
Frauen vorzutragen und sie zu bitten, das Kuratorium für sie zu übsrnehmen.
Mit ihrer Zustimmung und der eines Ehren Vorstandes, gebildet aus Lehrern der
verschiedenen deutschen Universitäten, Vertretern der staatlichen und städti-
schen Behörden, einer Anzahl bekannter Persönlichkeiten, ist der Aufruf zur
Gründung einer Hochschule für Frauen im Oktober 1911 veröffentlicht worden.
Wie einst Fröbel durch den Namen Kindergarten sein Werk der Not-
imd Brotfrage enthob und es als Erziehungsanstalt für die gesamte Kindheit
rettete, so wollte ich durch den Namen Hochschule die Bedeutung Fröbels
für die gesamte weibliche Jugend retten und sie aus dem engen Bereich
der Not- und Erwerbsfrage in das lichte Reich der Wissenschaft führen. Nomina
sunt omina.
Die Hochschule soll ims die noch fehlende Ausgestaltung des Fröbelschen
Erziehungswerkes bringen, eine neue Stufe in der erzieherisch-unterrichtlichen
Tätigkeit der Frau: die Lehrerin für die Bildungsanstalten von Kinder-
gärtnerinnen. Für diese Lehrerinnen ist noch keine Schule vorhanden; auch
sie muß naturgemäß organisch aus dem Keime, dem Kindergarten, heraus-
wachsen und sich entfalten. So soll die Hochschule die Wissenschaft für den
mütterlich erziehlichen Beruf der Frau bringen.
Je mehr ich mich in die Pädagogik Fröbels vertiefte, die Größe imd Weite
seines Geistes- und Gemütslebens erkannte, den Zusammenhang, in dem sie
mit Philosophie und Psychologie, mit Mathematik und Naturkunde, mit Religion
und Kunst aufgefaßt sein will, desto klarer wußte ich, daß diese Pädagogik zu
lehren, ein Studium bedeutet. Die Anzahl der Lehrkräfte, die ein solches Studium
leiten können, besitzt zwar die Universität, doch beruht das Universitätsstudium
auf anderer Voraussetzung. Wohl kann die Universität auch einer Hochschule
für Frauen eine freundliche und hilfreiche Alma mater sein; aber ersetzen kann
sie sie nicht. Kein Abiturium, keine Real- noch höhere Töchterschule führt zu
ihr. Sie beruht auf der Vorbsreitung durch die Fröbel-Anstalten, und die Aus-
gestaltung des Fröbelschen Erziehungswerkes ist ihre erste Aufgabe.
Der Keim, den wir Fröbel verdanken, hat sich entwickelt und zu Neubildungen
geführt. Neben den Kindergärten und scheinbar ganz unabhängig von ihnen
entstanden und entstehen Schutzanstalten für Kindheit und Jugend: Hilfs-
schulen für Schwachbefähigte, Nichtvollsinnige, für Gebrechliche und Krüppel,
für sittlich gefährdete Kinder und Jugendliche, Fürsorge für Kinder gegen Miß-
handlung in ihrer eigenen Familie. Hier ist soziale Arbeit kein kleines und ein
sehr wichtiges Feld für weibliche Betätigung. Der Weg von der erzieherischen
sozialen Aufgabe ist nirgends in so folgerichtiger, so logischer Weise gebahnt,
wie in den Fröbekchen Bildungsanstalten. Das hat die Erfahrung längst be-
wiesen. Kindergärtnerinnen sind für diese Aufgaben begehrte Helferinnen.
Lange bevor die Frauen das Wort „soziales Gewissen" kannten, lange bevor
die Frauenvereine für freiwillige Hilfstätigkeit existierten, bekundeten die
Frauen ihr mütterliches Gefühl in liebevoller Sorgfalt für Arme imd Schwache.
168 Henriette Goldschmidt
Lange bevor den Frauen ein Studium gestattet war, hatten sie sich bemülit,
Wandel zu schaffen, fühlten sie den Trieb, über den Kreis der Familie hinaus
ihre Kraft in Wirksamkeit umzusetzen, innerhalb des bürgerlichen Gemeinlebens
die ihnen gebührende Stellung zu finden. Sehr zögernd öffneten die Väter der
Stadt den Müttern die Tore. Doch der gewaltige Krieg hat gezeigt, daß die HiLfe-
kraft der Frau zur Gesamtkraft des Volkes gehört und nicht entbehrt werden kann.
Wie die erzieherische, so ist auch die soziale Tätigkeit der Frau nicht an das
Studium der Universität gebunden, doch ist für die Ausübung in fast allen Ge-
bieten: Wohnungs pflege, Armenpflege, Gefängniswesen und in zahllosen anderen
Gebieten wissenschaftliche Kenntnis notwendig. Neben diesen zwei, dem inner-
sten Bedürfnis des weiblichen Wesens entkeimten Trieben der Betätigung, gibt
sehr früh ein dritter Beruf Kunde von dem Bedürfnis der Frau, ihre helfende,
pflegende, erhaltende, menschliche Bestimmung zu erfüllen, die Kranken-
pflege.
Die Erziehungsaufgabe ist wie die Krankenpflege zunächst in instinktiver
Weise von den Frauen ausgeübt worden; wir dürfen wohl mit Sicherheit an-
nehmen, daß das Verhältnis zwischen Mutter und Kind die erste Triebfeder zur
Krankenpflege bot. Noch bis zur Stunde ist jedes weibliche Mitglied der Familie,
die Gattin, Tochter, Schwester usw. die Pflegerin in Krankheitsfällen.
Sehr früh ist die Krankenschwester über den Kreis der eigenen Familie hinaus
im Gemeindeleben tätig gewesen, auch im Staatsleben. Mit dem Manne
zieht die Krankenschwester ins Feld; auch sie bedarf des Mutes, der Tapferkeit,
der Seibotüberwindung, auch sie erfüllt die staatsbürgerliche Dienstpflicht;
sie erfüllt sie ihrer Natur gemäß im Heilen der Wunden. Für eine Schulung
der Krankenschwester ist außer der Vereinstätigkeit auch der Staat bemüht;
es fehlt jedoch die wissenschaftliche Schulung für die Obsrin als Lehrerin für
Kjankenschwestern. Diese wissenschaftliche Schulimg ist auch wie die der
Lehrerin an den Seminaren für Kindergärtnerinnen eine eigenartige und beruht
auf anderen Voraussetzungen als das Studium an der Universität; sie gehört
zu den Aufgaben einer Hochschule für Frauen. Lehrerinnen für Kranken-
und Gesundheitspflege in der Familie sind eine Forderung der Zeit. Die rein
instinktive Ausübung einer so wichtigen Aufgabe der weiblichen Mitglieder
der Familie entspricht nicht der Erkenntnis, daß der Instinkt geleitet werden
muß, daß auch die häusliche Krankenpflegerin eines vorbereitenden Unterrichts
bedarf.
Indem wir die Lehrerinnen für die Berufsausbildung der Krankenpflegerinnen
schaffen, schaffen wir auch die Lehrerinnen für Gesimdheits- und Krankenpflege
zum Hilfsdienst in der Familie.
Diese drei Gebiete, in denen die Frauen ihre erziehende, er-
haltende, pflegende Kraft bekunden, bilden ein einheitliches
Ganze für die Erhaltung der Volkskraft; sie sind ein wesentlicher
Teil des Volkstums.
Aus diesem Gedanken ist die Hochschule für Frauen hervorgegangen. Die
Zusammenfassimg der dem weiblichen Wesen innewohnenden Urkräfte und
ihre Betätigung gemäß der Kulturstufe, die wir erreicht haben, rechtfertigt ihren
Namen. Sie in ihrer Totalität zu verwirklichen war nur möglich, wenn die
äußeren Bedingungen dazu vorhanden waren.
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen 169
Die drei Abteilungen: die Pädagogische, die Soziale, die für Lehrerinnen
von Krankenschwestern sind jede ein Ganzes für sich und doch Glieder eines
Ganzen, durch innere Zusammengehörigkeit von universaler Bedeutung, i)
Eine besondere Gunst des Schicksals fügte es, daß zwei nebeneinander liegende
Häuser Raum für die vielgliedrige und doch einheitliche Schule boten.
Die Idee der Hochschule ist nicht beschränkt auf die Entwicklung der dem
weiblichen Wesen entsprechenden Seelenkräfte. Die Frau hat Anteil an dem
gesamten Kulturgut ihres Volkes, und sie will in Beziehung zu ihm bleiben.
Die Hochschule soll belebend und fördernd auf alle geistigen Kräfte der Frau
wirken — so gehört in ihren Studienplan eine vierte Abteilung: Allgemein-
bildung. Diese ist jeder Frau zugänglich und erhält den Zusammenhang mit
den genannten drei Abteilungen; sie hebt die Einseitigkeit auf, die jeder Fach-
bildung anhaftet.
Ich bin mir b3wußt, die Fülle von Erwerbsmöglichkeiten nicht batont zu
haban, die aus den drei Berufs arten hervorgehen. So gewiß der Idealist Fröbel
mehr für die Erwerbsmöglichkeit des weiblichen Geschlechts getan hat als
irgendein Wohltäter oder ein klug berechnender Realpolitiker, so gewiß bleibt
das Wort zu Recht bestehen, das er über den Wert und die Würde mensch-
licher Arbeit sagte: „Erniedrigend, nur zu dulden, nicht zu verbreiten, ist
die Meinung, als arbeite und schaffe der Mensch nur um seiner leiblichen Be-
dürfnisse (Nahnmg, Kleidung, Wohnung) willen. Nein, der Mensch schafft,
damit das Göttliche, das Geistige in ihm zur Entfaltung, zum Dasein gelange.
Das ihm dadurch zukommende Brot, Kleid und Haus ist Zugabe."
Die Hochschule besteht sechs Jahre. Nur drei Jahre hat sie im Schutze des
Friedens an ihrer Ausgestaltung arbeiten können. Der Krieg brach aus und
mit ihm alle die Schwierigkeiten, die in seinem Gefolge sind. Trotz der Kriegs -
zeit hat die junge Anstalt ihre Arbeit auf den gegebenen Grundlagen aufrecht-
erhalten, sowie die Verhandlungen mit der Königlich sächsischen Regierung wegen
staatlicher Anerkennung.
Am 29. Oktober 1916 ist diese erfolgt.
Die Hochschule für Frauen ist eine selbständige Stiftung mit eigener Ver-
waltung. 2) Der Verein für Familien- imd Voikserziehung, der sie gegründet und
den Unterbau für sie geschaffen hat, arbeitet weiter in seinen Anstalten und
gibt in seinen Kindergärten und Schulen die beste Vorbereitung für die wich-
tigste Aufgabe der Hochschule: für das Studium des Erziehungsberufes
der Frau.
Ich habe keine pädagogische Abhandlung über das Fröbelsche Erziehungs-
werk zu schreiben beabsichtigt, auch keine pädagogische Studie über das System
und die Methode seiner Lehre ; ich habe es hinstellen wollen als einen lebensvoll
pulsierenden Teil in unserem Volkstum. Es hat seine Wurzel in dem geheimnis-
•) Die dritte Abteilung mußte in ihren Lehrplan „Naturwissenschaften" auf-
nehmen, die jetzt eine selbständige Abteilung bilden. Ein „Frauenberuf" der
Lehrerin an Haushaltungsschulen, der ganz besonders naturwissenschaftlicher
Kenntnisse bedarf, ist in Aussicht genommen.
') Der Geheime Kommerzienrat, Herr Henry Hinrichsen-Leipzig, hat dem Verein
für Familien- und Volkserziehung 2 Häuser und deren Einrichtung als Schenkung
zur Gründung der Hochschule überwiesen.
170 Henriette Goldschmidt
voll und doch sich fortdauernd offenbarenden Leben der Natur und des Geistes,
es erklärt sich selbst in seiner folgenreichen Entwicklung. Ein halbes Jahr-
hundert in seinem Dienste stehend, hat es für mich in imserer inhaltschweren
Zeit eine neue Bedeutung gewonnen.
In dieser Kxiegszeit ist von allen den schweren Sorgen, die uns bedrücken,
von all den Problemen, die auftauchen, vielleicht das Schwerste : der Rückgang
der Geburten, die Erhaltung unseres Volkes.
Lange Zeit vor dem Kriege wurde die Tatsache von der Zunahme der Ehelosig-
keit und die Überhandnähme von außerehelich geborenen Kindern als ein be-
denkliches Symptom für eine gesunde Entwicklung unseres Volkstums erkannt.
Im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts ging ein Aufruf von der
radikalen Seite der Frauenbewegung aus, der das Interesse, namentlich
der Frauenwelt, auf die Benachteiligung der ledigen Mütter und ihrer außer-
ehelich geborenen Kinder lenkte imd in so leidenschaftlicher "Weise Sympathie
für diese Kinder kundgab, daß er in dem bekannten Schrei nach dem Kinde
ausklang und eine berechtigte Bewegung in Mißkredit zu bringen drohte.
Die Zeiten ändern sich. Dieser Schrei ist zum Notschrei geworden ; er ertönt
aus dem Munde von Staatsmännern, von Volkswirtschaftslehrern; patriotisch
gesinnte Frauen und Männer geben ihm Gehör. In einem unserer besten Frauen-
blätter finden wir den Schrei nach dem Kinde in den Willen zum Kinde
gewandelt und als patriotische Pflicht von den Frauen gefordert.
Der Wille zum Kinde ist eins mit dem Willen zur Familie. Und wer kann
leugnen, daß unsere Kulturen twicklung den Weg genommen hat, diesen Willen
in Frage zu stellen. Der auflösende Einfluß, den die Industrie, das Fabrik- und
Maschinenwesen, der Handel auf die Vereinzelung der Familienglieder, auf die
Zersetzung des Familienganzen, ausübt, ist bekannt. Von jeher bildeten aber
die weiblichen Mitglieder einen Halt für das Familienganze. Wie ja auch die
Sprache das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester als geschwisterlich be-
zeichnet, die Brüderlichkeit aber ohne Verhältnis zur Familie feststellt.
Die Frauenbewegung hat einen Kulturfortschritt von so großer Bedeutung
errungen, daß er nicht frei sein kann von den Schatten, die alle unsere Fortschritte
begleiten. Das Bild der neuen Zeit, die Selbständigkeit der Frau, zeigt sich be-
reits in dem 16jährigen Mädchen nach Verlassen der Schule. Nicht zurück in die
Familie, sondern dem jungen Manne gleich, hinaus in die Welt richtet sich der
Bhck. Alle Wege sind offen; auch sie will sich ihre Stellung in der Welt erringen.
Daß sie Ehelosigkeit, Kinderlosigkeit wählen kann, wie der Mann, ist ihr gutes
Recht.
Unberechenbar wäre die Schädigung, die sich vollzogen hat, wenn der lebendig
wirkende Geist der Menschheit nicht neue Quellen entdeckte, aus denen wir
frische Nahrung für Erneuerung unseres Seelenlebens schöpfen können.
Ein Entdecker solch einer neuen Quelle istFröbel gewesen. Er ist bei seinem
Denken und Sinnen über Erneuerung des Familien- imd Volkslebens nicht an
der Frau vorbeigegangen. Er hat an ihre Menschheit pflegende Bestimmimg
gedacht und die Urkraft des weiblichen Geschlechts, die mütterliche Liebe, als
Keimpunkt, als wesentlichen Teil der Volkskraft erkannt. Den Willen zima
Kinde hat er in jedem normalen weiblichen Wesen vorausgesetzt und diesen Willen
zu einem Grimdpfeiler seiner Lehre gemacht. „Kindheitsleben und Frauenleben
Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen 171
sind 80 innig eins, daß der Menschheit Heiligstes in ihm seine Stätte findet."
(F. Fröb3l.)
Ich habe in meinen Darlegungen in Kürze auf den Einfluß hingewiesen,
den eine gut organisierte Fröbelsche Bildimgsanstalt auf die weibliche Jugend
auszuüben vermag.
Im Jahre 1871 sprach ich in einem öffentlichen Vortrage die Forderung aus :
Ein Freiwilligen] ahr für die weibliche Jugend einzurichten, zur Vorbereitung für
den Dienst gegen die inneren Feinde des VoUcstums.
Zwanzig Jahre später ist der gleiche Gedanke, wenn auch in anderer Form,
ausgesprochen worden. Bei Beginn unseres Volkskrieges und während desselben
hat er durch die Bezeichnung ,,ein Dienstjahr für Mädchen" festere Gre-
stalt gewonnen.
Bestimmte Normen für die Einrichtung dieses Dienst] ahres sind bis jetzt
noch nicht gefunden. Und doch bleiben oft Fragen ungelöst, während die Lösung
bereits vorhanden ist. „Es gibt keinen anderen Mangel, als nicht zu benutzen, was
da ist" (Pestalozzi). Das Dienstjahr für die weibliche Jugend sei ein Lehrjahr
in einer gut geleiteten Fröbelschule !
Das Prinzip, das dem Freiwilligen] ahr für die männliche Jugend zugrunde
liegt, beruht auf einer Vorbereitung für den Krieg gegen die Feinde nach
außen. Das Dienstjahr der weiblichen Jugend gelte den Feinden im Inneren des
Volkstums.
Unsere Kultur hat so viele Bindemittel verloren, die den Zusammenhang
innerhalb der einzelnen Glieder der Familie festhielten, sie hat so viele Lockmittel
geschaffen, die den Blick der Jugend nach außen lenken und das Innenleben
beeinträchtigen : so begrüße man dankbar eine Stätte, die das Sinnen und Denken
der Jungfrau auf das Familienleben zurückführt und dem Lebensalter zuführt,
das, wie kein anderes, ims das Geheimnis des Seins und Werdens offenbart.
Hier, im Kindergarten, ist die Stätte, namentlich im Volkskindergarten, wo der
Wille zum Kinde in der keuschesten Weise in den jugendlichen Gemütern erweckt
wird imd das mütterliche Gefühl in einer unserer Kultur gemäßen Weise sich
betätigt. Nicht an die Mutterschaft gebunden erweist die Kindergärtnerin mütter-
liche Liebe als natürliche Regung ihres weiblichen Wesens allen Kindern; hier
hat die weibliche Jugend durch den Verkehr mit den Kindern des Volkes die
beste Gelegenheit, unser Volk kennen und achten zu lernen und als Helferin
mit an dem Ausgleich zu arbeiten, der die verschiedenen Stände verbinden soll
und so zur Lösung der sozialen Frage beizutragen.
Das Dienstjahr ist bäreits im Gange. Die zuerst von Preußen, dann von den
anderen deutschen Staaten eingerichteten Frauenschulen habsn begonnen,
die Fröbekche Erziehungslehre (Theorie und Praxis) in ihre Lehrpläne aufzu-
nehmen. Diese Schulen könnten durch einen auf das Dienstjahr sich baziehenden
Lehrgang zu obligatorischen Fortbildungsschulen gestaltet werden.
Die Vorbareitung für den Er ziehungs beruf der Frau gehört zur Dienstpflicht
der weiblichen Jugend in Krieg und Frieden.
Der Stand der Kindergärtnerin ist anerkannt und ihre mütterlich erziehende
Bedeutung für die Volksfamilie wird gewürdigt.
Gemeingut der Frauenwelt ist Fröbels Vermächtnis aber noch nicht ge-
worden; sie hat die Erbschaft noch nicht angetreten. „Die Liebe zur Menschheit
172 Henriette Goldschmidt, Vom Kindergarten zur Hochschule für Frauen
soll dem weiblichen Geschleclit zum Kultus in der Pflege der Kindheit werden,
in der Pflege des Gottesfunkens, den die Kindesseele birgt" (B. v. Marenholz-
Bülow).
Einer Erneuerung des Familien- und Volkslebens hat Fröbel nachgesonnen, und
von dem innerlichsten, einheitlichsten Verhältnis, dem Verhältnis zwischen
Mutter und Kind, von dem mütterlichen Liebesgefühl, erhofft er diese Erneuerung.
Wohl niemals seit Menschengedenken war die Sehnsucht nach Erneuerung
des Menschengeschlechts so groß wie jetzt, wie in unserer Zeit. Die Züge des
Weltbildes sind durch Haß, Neid und Zorn, durch alle schlechten Leidenschaften
verzerrt, durch Gram entstellt. Nur eine Grenze gibt es für die in Wut und
in Selbstmord geratenen Völker : die Kinder der Feinde. Das Antlitz des Kindes
zeigt das Urbild des Menschen, den Stempel des Göttlichen. Es sei uns Trost
und Ermutigung.
Und wem es beschieden sein wird, die Zeit des Friedens zu erleben, der wird
die Friedensboten, die der Genius Deutschlands an alle Völker gesandt, die
Kindergärten, bei allen feindlichen Völkern finden.
Wenn der Haß unserer Feinde sie taub gemacht hätte für die Geisterstimmen
eines Kant, eines Schiller und Goethe, der deutsche Geist wird durch die
Stimmen ihrer Kinder sich vernehmlich machen und ihnen zurufen : ,,Hieristdie
Grenze für Euren Haß! Diese Grenze zeigt Euch den Weg zur Rückkehr, zur
Erneuerung des Lebens."
Ein Trost und eine Hoffnung für imsere Zukunft sei uns die neue Generation.
Der kleine Kinderarm werde der Hebearm für eine Wiedergeburt, für eine Er-
neuerung des Menschengeschlechts!
Zur Forderung einer Psychotechnik der Beobachtung.
Von W. J. Ruttmann.
Es gibt kaum eine Betätigung, die in dem gewaltigen züchtenden Kampfe
um die Wertung des Einzelnen im ganzen Volke eine größere Rolle spielt,
als die des Beobachtens. Der schlichten Beobachtung des Landmannes, die
auf Beachtung und Wirksamkeit mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrender
und fast traditionell gewordener Erscheinungen gerichtet ist, hat sich im Volks-
geiste ungleich mächtiger an die Seite gestellt die Beobachtung des Kaufmanns,
der an der Hand kaleidoskopisch wechselnder Erfahrungen seine Handels-
maßnahmen trifft und die Beobachtung des Technikers, der auf Grund der
beobachtenden Leistungen des Entdeckers, Erfinders und Forschers die Volks-
kraft zu wirtschaftlichen Höchstleistungen anreizt. Das Kriegserlebnis schuf
eine besondere Kombination der Beobachtungsleistung, die zwischen der des
Entdeckers, Forschers, Technikers, Wissenschaftlers und des „Indianers" auf
der anderen Seite variiert.
Daß sowohl unsere psychologische Forschung wie auch damit das gesamte
Erziehungs- und Bildungswesen die Beobachtungsleistung bis in die jüngste
Zeit hinein nicht genügend beachtete und damit auch nicht systematisch
züchtete, muß eigentlich wundernehmen. Dennoch darf nicht vergessen
werden, daß die psychologische Forschung längst über lehrbuchmäßige Be-
griffe hinausgewachsen ist und tatsächlich schon aus zahlreichen Einzelunter-
W. J. Ruttmann, Zur Forderung einer Psychotechnik der Beobachtung I73
suchungen Unterlagen für eine Psychotechnik der Beobachtung und Be-
obachtungsfehler entnommen werden können. Wenn auch noch keine syste-
matischen Ergebnisreihen dazu vorliegen, wenn auch die Kriterien da und
dort noch nicht geordnet und zuverlässig erscheinen, so hat deswegen die
Psychologie nicht das Recht, mit ihrer vorläufigen Sachkenntnis zurückzu-
halten. Der Praktiker beurteilt die Brauchbarkeit wissenschaftlicher Ergeb-
nisse ganz anders wie der Theoretiker und verpflichtet den letzteren, ihm
gegenüber weder mit Geheimniskrämerei noch mit übertriebener Vorsicht zu
verfahren. Auch im Arbeitsfelde der deutschen Psychologie ist vonnöten,
aus der zuwartenden Vorsicht herauszugehen und auch Teilergebnisse der
Praxis zur Verfügung zu stellen. Diese müßte ja lange warten und sicher-
lich größere Irrwege ohne als mit der Theorie gehen, wollte sie allein arbeiten.
Die Vorbilder, wie sie Ernst Meumann oder Hugo Münsterberg gegeben, eben-
so wie die Arbeitsforderung des deutschen Pfadfinders der angewandten
Psychologie, W. Stern, jene in ihrer Großzügigkeit, dieser in der Sicherheit
seiner Forschungsweise, müssen anreizen, innigere Beziehungen zwischen der
wissenschaftlichen Forschung und der Praktik der Lebensgebiete aufzunehmen.
Die psychotechnischen Grundlagen der Beobachtungsleistung mögen hier als
Beispiel hingenommen werden, das um so wichtiger erscheint, als die augen-
blicklich mit allen Mitteln der Forschung betriebene Erkundung der Berufs-
eignung schließlich ja nur ein grundlegendes Kapitel davon bildet.
Beobachten scheint trotz der Planmäßigkeit und des Zielbewußtseins, die
ihm dienen, an sich keine besonders hohe geistige Leistung zu sein, denn
die„ Beobachtungsgabe" ist in der Tierwelt in vielen Abstufungen zu finden.
Wir wissen aber, daß diese Art des Beobachtens in der besonderen biono-
mischen Beschaffenheit jeder Tiergattung begründet liegt. So reagiert die
Katze auf Bewegung; ich kann lange das Gewehr auf sie anlegen, ohne daß
sie die in der Bewegungslosigkeit bestehende Gefahr erkennt. Die geringste
Bewegung verscheucht sie, obwohl damit keine direkte Gefahr verbunden ist.
Hans Volkelt 1) hat den Begriff der Angepaßtbeit bezw. Unangepaßtheit für
die Tierseele formuliert und damit auch eine Erklärung der tierischen Be-
obachtungsleistung geboten. Daß die menschliche Beobachtungsleistung von
ganz anderer Art ist, vermag aber nicht nur die vergleichende oder die Ent-
wicklungspsychologie darzutun, sondern auch die Geschichte des menschlichen
Denkens und Schaffens selbst. Meumann sagte gelegentlich ; „Die Geschichte
der Wissenschaften zeigt uns, daß die Menschen jahrhundertelang sich lieber
mit Reflexionen über die Wirklichkeit beholfen haben, als daß sie zu ihrer
Beobachtung schritten, und im täglichen Leben kommt vielleicht auf hundert
und mehr Menschen, die sich lieber am grünen Tisch eine subjektive Meinung
über die Dinge bilden, einer, der seine Meinungen von genauen Beobachtungen
der Wirklichkeit abhängig macht." Dem mehr wissenschaftlichen Interesse
an der „phylogenetischen" Entwicklung der Beobachtungsleistung tritt ungleich
wichtiger zur Seite die Frage, wie es um ihre Entfaltung beim Einzelwesen
steht, insbesondere, welche Begabungskomponenten und Umweltsreize voraus-
gesetzt werden können. Wir deuten damit ein Problem der psychotechnischen
Voraussage nur an, an dessen Bewältigung aber zunächst nicht gedacht wer-
den kann.
») Vgl. H. Volkelt, Über die Vorstellungen der Tiere. Leipzig 1917. S. 126.
174 W. J. Ruttmann
Beobachten erfordert in erster Linie Sinnesleistung, womit die Sinnes-
beschaffenheit zur einfachsten und grundlegenden Voraussetzung wird. Die
Sinnesbeschaffenheit kann untersucht werden in bezug auf ihr normales bezw.
krankhaftes Verhalten, weiterhin auf Umfang, Unterschiedsmerkraale der ein-
zelnen Empfindungsarten, auf ihre Anpassungsfähigkeit und Einteilung zu
mehrsinniger Leistung. Damit wird die gesamte Sinnesphysiologie zur Grund-
lage einer Analyse des Beobachtungsvorganges. Die Übergänge von den
sinnesphysiologischen Tatsachen zu den psychologischen der Empfindung und
Wahrnehmung sind durch die glänzende Entwicklung der Psychophysik ge-
währleistet. Hier vermag die in Forschungen von Weber, Fechner und Helm-
holtz bis auf Wundt breit und in mühseliger Kleinarbeit sich dehnende Un-
summe von theoretischer Erfahrung bereits einen nur des Absteckens harrenden
Baugrund für psychotechnische Gesichtspunkte zu bieten.
In inniger Verbindung mit den Ergebnissen der Sinnes- und Empfindungs-
forschung steht die Erforschung der Reaktionsformen. Die Reaktion darf
als die elementarste Ausdrucksform der Beobachtungsleistung betrachtet werden.
Die in der neuen Psychologie so überaus fleißig untersuchte Art zu reagieren
ist ohne weiteres Psychologie der Beobachtungsleistung, die Tatsachen der
Reaktionszeit, der erkannten Reaklionstypen, der Reizschwellen, die gesamten
Ergebnisse über die sogenannten einfachen Reaktionen finden weiterhin eine
Bereicherung der psychotechnischen Möghchkeiten durch die Untersuchung
und Prüfung von Akten der Unterscheidung, der Wahl, der Kenntnis. Ihnen
schließt sich an die Beurteilung der Reaktionen assoziativer und intellektueller
Art. Vergleich, Täuschung, Augenmaß bilden endlich einen Komplex von
Tatbeständen und Leistungen, der bereits Psychotechnik des Beobachtens be-
deuten kann, wenn die nicht geringe Anzahl von Einzelergebnissen aus fast
fünfzigjähriger Entwicklung der physiologischen Psychologie praktische Ordnung
erhält. So ergibt sich aus der Überschau des psychologisch-physiologischen
Arbeitsfeldes die grundlegende Kenntnis der Beobachtungstechnik.
Damit meinten wir nun zunächst den apparativen Teil der Voraussetzungen,
wenn man bei Leistungen des lebendigen Organismus überhaupt in diesem
Bilde sprechen darf. Dazu kommt die besondere Art der höheren Funktionen,
die sich aus den Betätigungsrichtungen des Vorstellungs- und Willenslebens
wie aus der Intelligenzleistung aufbauen. Auch hier sind normalerweise die
allgemeinen psychologischen Erkenntnisse als Voraussetzung zu erachten,
in ungleich höherem Maße kommt nun aber, um der Komphziertheit der
psychischen Funktionen willen, die individuelle Entfaltung in Betracht. Es
weisen die Beschaffenheiten der sensorischen und motorischen Apparate an
sich schon individuelle Eigentümlichkeiten auf; letztere steigern sich aber,
wenn es sich um den Ausbau ihrer Glieder handelt. Wenn man die durch
die Erblichkeitslehre versuchte Beweisführung von der außerordentlichen
Variabilität der Keimesanlage und die durch ungeheure Variation des Lebens
wechselnde persönliche Erfahrung beachtet, erkennt man die vielseitige Kon-
struktion der Persönlichkeiten und ihre besonderen Leistungen. Dennoch
heben sich hier grundlegende Betätigungen des Geistes, auf Anlagemerkmalen
beruhende Sonderheiten ab, die sich zu typischen Verhaltungsweisen ordnen
lassen. Solche hat die Psychologie insbesondere im Bereiche des Vorstellens,
Lernens, Denkens und Aufmerkens erforscht, und sie können uns in etwas
geringerem als Führer dienen durch die individuelle Äußerung der Beobachtungs-
Zur Forderung einer Psychotechnik der Beobachtung 175
leistung. Die Erkundung der Leistungstypen nach der psychischen Seite darf
indessen zwei Besonderheiten der individuellen Regung nicht vergessen, welche
durch die allgemeine Analyse des Seelenlebens noch nicht erfaßt werden.
Das ist zunächst die individuelle Suggestibilität, Impressionabilität, Dissozia-
bilität. Suggestive Einflüsse machen sich leicht geltend, wo die Gruppen-
leistung in Frage kommt. Die Impressionabilität vermag es, dem Beobachter
gleich im ersten Reize ohne intellektuelle Prüfung das Urteil abzuringen, und
die DisSoziabilität pflegt eine Verwirrtheit zu disponieren, die sich schon unter
den einfachsten Umständen bemerkbar macht. Alle diese individuellen Be-
sonderheiten sind letzten Endes abhängig von der Art, wie sich die „Nerven"
den an sie gestellten Anforderungen anzupassen vermögen. Endlich ist An-
passungsfähigkeit überhaupt eines der bedeutsamsten Merkmale.
Zu alledem ist zu rechnen die Fülle ökologischer Faktoren. Es sind zu-
nächst die engeren menschlichen Umstände, welche die Beobachtungsleistung
beeinflussen, nämlich Arbeitsort und Arbeitskreis, weiterhin die natürlichen,
welche mit Hellpach unter die Formel von den geopsychischen Erscheinungen
gebracht werden können.
Bei einer Überschau der bisher angedeuteten Gesichtspunkte ergibt sich,
daß trotz der Fülle von möglichen Einzelergebnissen eine Unterscheidung der
Beobachtungsarten damit noch nicht erreicht wird. Die Analyse der Beobach-
tungsart hat nämhch zur Voraussetzung die Kenntnis des Beobachtungsmotives,
den Zweck der Beobachtungsleistung oder auch nur ihren Sinn. Aus einer
Anzahl psychologischer Vorarbeiten treten uns als praktische Möglichkeiten
entgegen: Führerbeobachtung, Spurenbeobachtung, physikalische und biolo-
gische Beobachtung. In diesen Hauptarten ist nur die physikalische Beobach-
tung so weit erforscht, daß die Psychotechnik direkt aus dem Arbeitsbereiche
wissenschaftlicher Erfahrung entlehnen kann. Sie ist die Methode der exakten
Wissenschaften und hat deshalb nicht nur eine gewaltige Anwendung gefunden,
sondern auch eine sorgfältige Kritik ihres Erfolges. Sie ist bereits im Stadium
angelangt, die Beobachtungsfehler eingehend zu erforschen. Die deutsche
Wissenschaft hat in Feldmeßkunst, Astronomie, wie in zahlreichen Sonder-
gebieten der messenden Naturwissenschaft längst begonnen, die Meß- und
Schätzungsfehler, welche durch die persönliche Leistung entstehen müssen,
festzustellen, und Aufgabe der Psychologie ist, ihre Kriterien der Psychotechnik
dienstbar zu machen. Die ungeahnte Entwicklung der physikalischen Be-
obachtung im Kriege mit den vielgestaltigsten Hilfsmitteln der optischen und
akustischen Beobachtung machen die Aufgabe noch eindringlicher, soll nicht
die Psychologie die Position wieder verheren, welche ihr dank dem Fleiße
glänzender Forscher allerwärts geworden ist.
Wir haben bis jetzt die Möglichkeiten angeführt, welche eine Wegweisung
zu psychotechnischer Grundlegung der Beobachtungsleistung bieten möchten,
dürfen aber endlich nicht übersehen, daß damit nur der erste Teil der Be-
obachtungsleistung erfaßt wird; allerdings der grundlegende. Die Beobachtungs-
leistung gliedert sich gewissermaßen in ein Bereich des Eindruckes und in
ein solches ihrer Ausdrucksform; sie muß in einer Sprache wiedergegeben
sein, die dem anderen Menschen verständlich ist, sei es nach rein sprach-
licher, nach graphischer oder mimischer Richtung. Jeder Eindruck auf unser
geistiges Leben kann sich unmittelbar zum Ausdruck verhelfen oder erst nach
einer sozusagen kulturell an- oder eingeschulten Art den Ausdruck gestalten.
176 W. J. Ruttmann, Zur Forderung einer Psychotechnik der Beobachtung
Hiervon interessiert uns psychotechnisch nur die letztere Frm Die Psycho-
logie hat sich in unserer Zeit fleißig mit der Kritik der Beobachtungsaussage
befaßt und kann hier der Psychotechnik mit Voraussetzungen dienen. Das
Zeitalter der Technik ist aber zugleich ein Zeitalter der denkenden und re-
denden Hand geworden. Die Kriterien der schriftlichen Ausdrucksform
wie die Beachtung der zeichnerischen Typologie und deren Fehlet quellen
müssen deshalb auch durch die psychologische Forschung Vertiefung und
wissenschaftliche Ordnung erfahren.
Eine Anbahnung psychoteclmischer Grundlagen der Beobachhingsleistung
ist an sich für die aktuelle Fragestellung der Berufseignung durchaus nichts
Neues ; doch fehlt auf der einen Seite die Nutzung der sehr zerstreut liegen-
den Unterlagen und auf der anderen gewissermaßen das amtliche Bindeglied
zwischen der Kenntnis der Dinge und ihrer Beurteilung, amtlich hier wort-
wörtlich genommen. Man beruft sich zu viel auf Erfahrung, Bewährung,
Auslese, Ausscheidung usw. Die Berufung auf Erfahrung insbesondere bringt
doch nur allzuleicht traditionelle oder gar dogmatische Forderungen, deren
Erfüllung dann entweder „sinnenlos" erfolgt oder ohne Verständnis ihrer inne-
ren Zweckmäßigkeit geschieht.^)
Ergänzimg von Stichworten zu einer ganzen Geschichte,
eine Nachprüfung der Ergebnisse E. Meumanns auf Grund
seiner „Kombinationsmethode".
Von Georg Weiß.
I.
Im 13. Bande der „Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experi-
mentelle Pädagogik" berichtet E. Meumann S. 145 ff. „Über eine neue Methode
der Intelligenzprüfung und über den Wert von Kombinationsmethoden". 2)
Die von ihm ausgebildete Kombinationsmethode, deren Ergebnisse ich an
zwei Klassen der Übungsschule des Pädagogischen Universitäts-Seminars zu
Jena nachprüfte, „besteht darin, daß eine mehr oder weniger leicht faßliche
Geschichte mit deutlich hervortretender Pointe auf wenige Stichworte reduziert
wird. Diese werden den Kindern diktiert, und sie bekommen die Instruktion,
aus den Worten eine Geschichte aufzubauen. Diese Instruktion muß sehr
genau gegeben werden, und jüngeren Kindern muß die Aufgabe zunächst an
einem oder mehreren Beispielen klargemacht werden. Die Methode ist einer
sehr großen Variation fähig. Zunächst ist darauf zu achten, daß die relative
Bedeutung der Stichworte für das Verständnis des Zusammenhangs der Er-
zählung genau berücksichtigt wird. Mit Recht hat Ziehen darauf aufmerk-
sam gemacht, daß es ein besonderer Prüfstein der Intelligenz ist, ob ein
Individuum diesen relativen Wert der gegebenen Vorstellungen für den Auf-
bau der Erzählung zu erkennen vermag." (S. 155).
*) Der Verfasser wird in einer demnächst erscheinenden Schrift über „Beobachtung und Be-
obachtungsfehler in Beruf und Heeresdienst" eingehend auf das kurz umrissene Thema zurück-
kommen.
^ Vgl. auch : Meumann, Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. II*, S. 446 ff.
Georg Weiß, Ergänzung von Stichworten zu einer ganzen Geschichte usw. 177
Von den zwei angegebenen Erzählungen wurde die zweite verwendet. An
die Tafel wurden die Worte geschrieben : „ Winteruacht — Soldat — Kälte —
erstarrte — Ablösung — Tod." Angestellte Fragen ergaben bei den zehnjährigen
Schülern, daß das Verständnis für die Bedeutung der Stichworte vorhanden
war; bei den dreizehnjährigen unterblieb eine solche Nachprüfung. Außerdem
wurde allen Kindern ausdrücklich gesagt, daß das Wort Tod das Dingwort und
darum Tod geschrieben sei. Weiter wurden die Worte von einem Schüler laut
vorgelesen, darnach von der ganzen Klasse im Chor. Nun bekamen die Kinder
die Aufgabe gestellt: „Aus diesen Worten macht nun jeder für sich eine Ge-
schichte."
Die Versuchspersonen waren zwei Klassen, ein 4. Schuljahr und ein 7. Schul-
jahr, und zwar die ganzen Klassen, jede Klasse für sich. Den jüngeren Schülern
war die Aufgabe einige Tage zuvor an dem anderen, vonMeumann angegebenen
Beispiele: „Haus brannte ab — Kind allein — kluger Affe — Eltern dankbar —
Belohnung" klar gemacht. Die älteren schrieben ohne jede Vorbereitung. Es
war der erste derartige Versuch, der mit ihnen gemacht wurde. Das, worauf
es mir ankam, war lediglich, festzustellen, ob auch von meinen Schülern
keiner diePointe der zweiten Erzählung begreife und den erfaßten
Sinn sprachlich klar wiederzugeben vermöchte, wie das bei Meumann
und seinen Versuchspersonen der Fall war.
IL
A) Ergebnisse bei den zehnjährigen Schülern:
1. Fritz Seh.: „In einer Winternacht stand ein Soldat auf Posten. Es war
eine Kälte. Er erstarrte ganz, aber bald kam die Ablösung. Da war er Tot."
2. Walter Sehn.: „Es war eine kalte Winternacht. Ein Soldat stand auf
Posten. Die Kälte war so groß, das er erstarrte. Als die Ablösung kam, fand
man ihn Tod auf."
3. Willi W.: „Es war in einer Winternacht. Da mußte ein Soldat Posten
stehen. Aber ganz steif stand er da. Es war eine strenge Kälte. Und als
er so dastand, da kam die Ablösung. Aber als er dann in das Quartier kam,
war er bald Tod."
4. Herbert Z.: „In einer Winternacht stand ein Soldat Posten im Schützen-
graben. Es war bei strenger Kälte und der Soldat erkältete sich und er er-
starrte und war ganz kalt. Endlich kam die Ablösung, daß er nicht krank
wird. Nach ein paar Tagen war er schwer krank und der Tod faste ihn."
5. Walter E.: „In einer kalten Winternacht stand ein Soldat Wache. Es
war so eine Kälte, das er erstarrte. Aber bald kam die Ablösung. Aber der
Tod kam bald."
6. Clemens W. : „Es war in einer Winternacht. Im Felde mußte ein Soldat
Wache stehen. Und es war eine große Kälte. Der Soldat erstarrte denn es
kam kein(e) Ablösung und bald kam der Tod."
Diese sechs Arbeiten sind die besten von den sechzehn, die angefertigt
wurden. (Die Klasse zählt zwanzig Schüler, vier fehlten an diesem Tage
wegen Krankheit, bezw. weil sie keine Schuhe hatten.) Manche Annäherungen
an die richtige Lösung kommen vor. Die meisten scheitern daran, daß sie
Tod als Substantiv nicht festzuhalten vermochten. Richtig ist die Lösung allein
bei 6. Die Analogie zwischen der Ablösung des Soldaten durch die Wache und
ZeitRoiirift f. pädagog. Psychologie. 12
178 Georg Weiß, Ergänzung von Stichworten
der Ablösung durch den Tod im Sinne des Sterbens wurde durchaus richtig er-
faßt. Das brachte zu voller Deutlichkeit die Befragung. Als der Schüler
sein Blatt abgab, ließ ich mir von ihm die Arbeit vorlesen und fragte: „Wo
war denn der Soldat, als der Tod kam?" Antwort: „Da stand er noch auf
Posten und guckte, ob die Feinde kommen." „Du schreibst aber: es kam
keine Ablösung." Antwort: „Die richtige nicht, aber der Tod.'*
B) Ergebnisse bei den 13jährigen Schülern:
1. Hans B.: „Es war eine stürmische Winternacht, Die Russen schienen
einen Angriff zu planen. Der Soldat Max Wehner mußte Wache stehen.
Viele sprachen unter einander: „Bei dieser Kälte möchten wir aber keine
Wache stehen." Wehner rückte nun aus. Als seine zwei Stunden bald um
waren, wurde es schneidend kalt. Es kam so weit, daß seine Glieder erstarrten.
So kam denn die Ablösung. Wehner wurde ins Feldlazarett gebracht, wo er
im Kampf mit dem Tod unterlag."
2. Hermann D.: „Es war eine kalte Winternacht. Rauh blies der Wind.
Kein Mensch war bei diesem Wetter aus dem Haus. Es war alles still. Nur
die Sternlein blinkten. In dieser Nacht stand ein Soldat auf Posten. Er hatte
die Hände in den Taschen, den Kragen emporgeschlagen und das Gewehr
unterm Arm. So schlenderte er auf seinem Platze hin und her. Seid einer
Stunde war er nun schon auf Posten. Es schien ihm eine Ewigkeit. Ach
hätte er doch ein Schluck warmen Krog oder Kaffee. Er konnte nicht mehr.
Die Glieder schienen ihm wie Bleiklumpen. Da nahten Schritte. Die Ab-
lösung nahte. Vor ihr brach er zusammen. Man rief nach Hilfe. Aber als
diese kam, war es zu spät. Rasch hatte der Tod den Menschen angetreten."
3. Walter S.: „Es war in einer kalten Winternacht in Frankreich. Rings-
umher waren Berge, hinter denen die deutschen Soldaten ihre Aufstellung
hatten. Auf den Bergen standen Vorposten. Einer der Vorposten hatte einen
ganz besonderen Stand. Dieser Stand war auf einem sehr hohen Berge.
Auf dem Berge war großes Schneegestöber. So kam es, daß der Soldat, der
auf Wache stand, von Schnee überdeckt wurde. Nach langer Arbeit gelang
es ihm sich durch den Schnee hindurchzuarbeiten. Als er sich hindurch-
gearbeitet hatte, war er fast erstarrt. Nicht lange darauf kam die Ablösung.
Zwei Soldaten wollten ihn ablösen, aber der Soldat hatte den Tod gefunden."
4. Fritz H.: „Eine kalte Winternacht war es. Hell schienen die Sterne.
Im Dickicht lag ein Soldat. Eine Kugel hatte ihn am rechten Oberschenkel
getroffen. Er hatte einen verlorenen Posten gestanden. Die Kälte biß an
seiner Wunde. Ruhig mußte er alles über sich ergehen lassen. Jetzt kam
eine Gestalt auf ihn zu. Schwarz, ganz verhüllt. Er dachte, jetzt würde
wohl seine Ablösung kommen. Aber wie war er plötzlich erschrocken als
er angefaßt wurde ; es war auch die Ablösung, nämlich der Tod. Am andern
Morgen fand ihn eine Patro(u)ille vor Kälte erstarrt vor."
Von den 15 Schülern (die Klasse zählt 18 Schüler, 3 fehlten wegen Krank-
heit, bezw. waren zu häuslicher Dienstleistung für diese Stunde beurlaubt)
hat sich ein Teil bemüht, der Geschichte einen versöhnlichen Ausgang zu
geben und haben drei die Aufgabe sachlich gelöst, in vorzüglicher Weise vor
allem der letzte mit Rücksicht auf die Form der Darstellung. Manche An-
näherung an die richtige Lösung kommen auch hier vor (Type 1).
Hans Rupp, Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 179
ffl.
Die Nachprüfung der Ergebnisse, zu denen E. Meumann gekommen ist, an
den Schülern der Übungsschule des Pädagogischen Universitäts-Seminars zu
Jena, die nach ihrer Organisation im Grunde eine Volksschule ist, führte zu
einem Resultat, das von dem Meumanns ganz erheblich abweicht. Und dies,
obwohl er ungleich umfangreichere Erhebungen angestellt hat oder anstellen
ließ (vgl. a. a. 0. S. 147.). Wie läßt sich nun diese beträchtliche Abweichung
erklären?
1. Aus der Ungleichheit der Begabung nicht. Die Annahme, daß
die Jenaer Kinder begabter sein sollen als die Leipziger, hat so viel Unwahr-
scheinlichkeit gegen sich, daß sie gar nicht in Betracht kommen kann. Auch
kann von einer Auslese der Begabten keine Rede sein. Es wurden
ja die ganzen Klassen als Versuchspersonen verwendet. Auch für die Zu-
sammensetzung der Klassen kann davon keine Rede sein. Denn die Schüler
werden jeweils aufgenommen, sobald sie schulpflichtig werden und verbleiben
fast vollzählig in der Schule, bis sie ihrer obligatorischen Volksschulpflicht
von acht Jahren genügt haben. Es kann sich also nur um eine ver-
schiedene geistige Entwicklung der Kinder handeln.
2. Von Einfluß darauf scheint, vor allem für die älteren Schüler, die Zeit,
in der sie heranwachsen. Das Erlebnis des Krieges mit seinem großen
Sterben spielt entschieden mit. Aber daraus allein dürfte es auch nicht
zu erklären sein; auf keinen Fall möchte ich darin die Hauptursache sehen.
Ich kann das um so eher sagen, da sie mehr oder weniger unter meinen
Augen herangewachsen sind und ich ihre Entwicklung übersehen konnte.
3. Mitwirken dürfte ebenso sehr die Art des Aufsatzunterrichts , der
ihnen, von einer Unterbrechung abgesehen, im ganzen zuteil geworden ist.
Hier kam vor allem der freieAufsatz zu seinem Rechte, ohne ihn allein
maßgebend sein zu lassen.
4. Die Hauptursache läßt mich eine in fast zehnjähriger praktischer Arbeit
gewonnene und auf methodischer Beobachtung beruhende Erfahrung in der
Anwendung des sogen, entwickelnd-darstellenden Unterrichts-
verfahrens sehen, das sich der Grenzen seiner Verwendungsmöglichkeit
stets bewußt bleibt, dessen Wirkung ganz wesentlich gefördert wird durch
einen Aufbau des Lehrplans, wie er der Unterrichtsarbeit der Übungs-
schule des Pädagogischen Universitäts-Seminars als eine in immer größerer
Deutlichkeit herauszuarbeitende Aufgabe vorschwebt.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(Fortsetzung aus dem Jahrgang XV u. XVT.)
m. Grnppe: Gehörs Wahrnehmungen, insbesondere musikalische
Auffassung. ')
Der elementare Psychologie- und Pädagogikunterricht dieses Oebietea
muß einige physikalische Erscheinungen erläutern. Er muß auf das
') Ausführlicher suche ich die meisten hierher gehörigen Probleme und Ver-
suche zu besprechen in der Abhandlung „Über die Prüfung musikalischer Fähig-
keiten", Zeitschr. f. angewandte Psychol. Bd. IX, 1914.
12*
180 Hans Rupp
Phänomen der Schwebungen hinweisen und ihre Verwendung beim
genauen Einstimmen und beim Eichen von Tönen zeigen. Er muß die
Resonanz erläutern, namentlich solche Resonatoren, die durch die Größe
ihres Hohlraumes auf einen bestimmten Ton abgestimmt werden. Von ge-
ringerer Bedeutung dürfte für den elementaren Unterricht und für pädago-
gische Untersuchungen die Interferenz sein. Dagegen wird der Unterricht auf
die mannigfaltigen Arten zusammeng'esetzter Schwingungen hinweisen
müssen, er wird erläutern, daß unsere Instrumente an Zahl und Stärke
der Obertöne sehr verschieden sind, und wird die Obertöne durch Schwebungen
oder Resonanz oder durch direktes Heraushören aufzuzeigen suchen.
Das Hauptinteresse ist den Empfindungen und den sich daran knüpfenden
Leistungen zugewendet.
Zunächst sind die Eigenschaften und Auffassungen eines einzelnen
Tones zu studieren. Hohe Töne erscheinen nicht allein hoch, sondern
auch hell, ferner spitz, dünn; tiefe Töne nicht allein tief, sondern auch
dunkel, breit, voluminös. Diese Eigenschaften werden vielleicht vom Kind
leichter und früher erfaßt als die Höhe. Die Vokale der Sprache erscheinen
verschieden hoch, hell etc. Reiches Material für die Beobachtung bieten
die verschiedenen Klangfarben: voll, leer, weich, reich, näselnd, scharf
u. 8. f. Es ist eine sehr anregende und lehrreiche Übung für Schüler
und Lehrer, verschiedene Klänge, z. B. verschiedene Vokale oder Instrumente,
in solcher Weise zu charakterisieren. — Analoge Übungen habe ich früher
bei den Farben besprochen.
Wir können Töne unterscheiden, insbesondere ihrer Höhe nach. Wer ein
feineres Gehör besitzt, erkennt feinere Unterschiede, kann einen Ton genauer
einstimmen. Ebenso können wir Töne ihrer Höhe nach absolut, ohne
Anhaltspunkte erkennen, z. B. als a oder d, oder wir können einen bezeichneten
Ton, etwa c aus dem Gedächtnis singen oder einstimmen. Wer ein feineres
absolutes Tonbewußtsein besitzt, bezeichnet den Ton genauer, trifft ihn
genauer. — Eine gewisse Feinheit des Unterscheidens ist für den Musiker
unerläßlich. Dagegen gibt es viele Musiker, die nur ein mangelhaftes
absolutes Tonbewußtsein besitzen.
Die Hauptrolle in der Musik spielen aber nicht diese, an einzelnen Tönen
zu beobachtenden Eigenheiten, sondern die Eindrücke, die sich an eine
Folge von zwei oder mehr Tönen oder an einen Zusammenklang derselben,
also an simultane und sukzessive Intervalle, an Melodie und Har-
monie anschließen. Dabei kommt es nicht nur auf die Tonhöhen an,
sondern auch auf die zeitlichen und Stärkeverhältnisse, auf den zeitlichen
und dynamischen Rhythmus.
Von den vielen möglichen Intervallen in der stetigen Tonreihe wählt
die Musik wenige Schritte aus. Wir empfinden sie als rein, die Abweichungen
als unrein, falsch, verstimmt. Zum Teil mögen wir uns die Schritte einfach
gemerkt haben, zum Teil aber benützen wir besondere Kriterien. Eines
derselben ist relativ leicht zu beobachten: die Verschmelzung, deren
Entdeckung und Würdigung wir Stumpf verdanken. Konsonantere Inter-
valle verschmelzen inniger; Quart, Quint und vollends die Oktave er-
scheinen uns daher „leer". Andere Kriterien sind schwer zu fassen. Es er-
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 181
scheint daher ausaichtlos, die Wirksamkeit dieser Kriterien, die Entwicklung
des Verständnisses für dieselben beim Kinde direkt zu verfolgen.
Dagegen kann man ohne weiteres feststellen, wie groß die einzelnen
Intervalle gewählt werden, welche Intervalle rein erscheinen. Wir suchen
zunächst das Ideal festzustellen, indem wir die besten Musiker prüfen.
Diese Intervalle stimmen nicht genau mit den physikalisch „reinen"
Intervallen (V2, Va usw.) überein; ferner dürften je nach dem Zusammen-
hang in der Melodie und Harmonie etwas verschiedene Intervalle als ideal
rein erscheinen. Endlich besteht für jedes Intervall ein gewisser „Umfang";
es kann innerhalb gewisser Grenzen variieren, während es doch immer noch,
auch dem besten Musiker, rein erscheint.
Mit dem so gewonnenen Ideal vergleichen wir die Einstellungen von
Unentwickelten und von Unmusikalischen oder Halbmusikalischen. Ergeben
sich größere Schwankungen (Umfange) oder auch deutliche Abweichungen
des Mittels?
Diese Versuche wie auch die früher erwähnten zur Prüfung der Unter-
scheidungsfähigkeit und des absoluten Tonbewußtseins dürften zugleich zur
Erziehung, zur Bildung des Gehörs sehr förderlich sein. Die päda-
gogische Bedeutung ist eine ähnliche, wie sie die Farbenversuche besitzen,
die ich in Gruppe I besprochen habe: Man verwendet Apparate, die
ein hinreichend feines Einstimmen ermöglichen und zugleich
technisch sehr leicht zu bedienen sind, so daß sich alle Kraft auf
das Hören, auf die Verfeinerung des Gehörs konzentrieren kann.
Gehen wir von einfachen Intervallen zu ganzen Melodien und Harmoni-
sierungen über, so treten neu die Regeln hinzu, welche unsere Melodie
und Harmonie beherrschen. Ein Intervall in diesem Zusammenhange kann
rein sein, aber doch nach unseren Regeln unmöglich, es paßt nicht an
diese Stelle. So kann z. B. eine Melodie nie mit der Sekunde enden, so
sind Quintenparallelen verpönt usw.
Ich spreche in diesem Falle von „Unmöglichkeit". Davon zu unterscheiden
ist die „Unrichtigkeit". Ein Ton kann in eine Melodie passen, also möglich und
rein sein, dabei aber doch unrichtig sein, sofern ich nämlich eine bestimmte
Melodie im Auge habe, in der an dieser Stelle eben ein anderer Ton steht. Man
muß also dreierlei scheiden: Reinheit, Möglichkeit und Richtigkeit.
Auch hier wird sich die Pädagogik wohl darauf beschränken müssen
einfach festzustellen, ob und welche Abweichungen von den Regeln früher,
welche später befolgt werden; und man wird darnach, wenn diese Unter-
suchung vorliegt, das Entwicklungsstadium des Geprüften oder seine musi-
kalische Begabung einschätzen.
Derselbe Weg ist endlich für den Rhythmus vorgeschrieben. Wir bestimmen
das Ideal, die Regeln, die die besten Musiker befolgen. Spielen sie z. B.
die Taktteile gleichlang oder wird der betonte Teil ein wenig länger genommen ?
Damit vergleichen wir die Unentwickelten und Unmusikalischen. Kommen
neben feineren Abweichungen auch gröbere Taktfehler vor ? Wann und durcii
welche Übungen wird der Schüler kritischer, taktsicherer?
Wenn hier von einem Ideal die Rede ist, so ist natürlich nur das Ideal
unserer Musik gemeint. Sie ist nicht die einzig existierende oder gar die
einzig mögliche. Andere Systeme haben andere Intervalle, Melodiegesetze usw.
182 Hans Rupp
Alle diese Prüfungen gehen auf gutes Spiel oder auf Erkennung eine»
guten Spieles. Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß ausdrücklich her-
vorgehoben werden, daß das musikalische Empfinden damit nicht er-
schöpfend klargelegt ist. Wir prüfen sozusagen nur die äußere Wirkung.
Aber es ist vorläufig die klarste Seite, an der wir anfassen können, und
es ist ein außerordentlich großes und fruchtbares Feld.
Ich führe nun eine Keihe einfacher Apparate an. Viele Versuche sind
ohne Apparate auszuführen. Bei anderen sind jedoch fein abstimmbar©
und genau geeichte Apparate nötig.
2 kleine Stimmgabeln von 400 — 600 Schwingungen, mit Lauf-
gewichten (Mechaniker Marx, Berlin). Millimeterteilung für die Laufgewichte;
kein Resonator.
Wenn man die Gabeln mittels der Laufgewichte etwas gegeneinander
verstimmt und gleichzeitig ertönen läßt, kann man Schwebungen demon-
strieren und die Abhängigkeit der Schwebungsfrequenz von der Verstimmung
zeigen.
Durch Aufsetzen des Stiels z. B. auf den Tisch wird der Ton so
verstärkt (Resonanz), daß ihn ein ganzes Auditorium hört.
Wenn man die Millimeterskala eicht, d. h. bestimmt, welche Töne bei jeder
Stellung der Laufgewichte erklingen, so besitzt man in den Gabeln einen
(sehr konstanten) Tonmesser.
Vor allem dienen die Gabeln zu Versuchen über Unterschiedsempfind-
lichkeit. Man verstimmt z. B. die eine Gabel gegen die andere so lange,
bis man den Unterschied eben merkt oder eben nicht mehr merkt, und
stellt die Differenz durch Schwebungen fest.
2 kleine Sti]mmgabeln von 5 — 800 Schw., mit Laufgewichten
(Mechaniker Marx, Berlin). Ausführung und Verwendung wie oben.
Mit den beiden Paaren Nr. 1 u. la zusammen lassen sich Intervalle innerhalb
der Oktave 400 — 800 einstellen. Wie und wie genau stimmen Musiker, Un-
entwickelte und Unmusikalische die Intervalle ein?
Man kann die Gabeln auf bestimmte, ausgezeichnete Intervalle eichen
und ähnliche Demonstrationen ausführen, wie sie, allerdings in wesentlich
einfacherer Form, mit den Intervallapparaten Nr. 9 — 12 auszuführen sind.
Starktönende Gabel ohne Resonanzkasten zur Demonstration
der Interferenz (Mechaniker Marx, Berlin). Von jeder Zinke geht eine
Tonwelle aus. Dreht man die Gabel um [ihre Längsachse, so werden die
Wellen gegeneinander verschoben und interferieren. Man hört also den
Ton abwechselnd schwächer und stärker.
Zungenpfeife von 100 |Schw. (Mechaniker Marx, Berlin; Spindler &
Hoyer, Göttingen). Sie hat viele und [starke Obertöne und ist daher für
die Demonstration der Obertöne besonders geeignet. Man kann dieselben
durch Resonanz verstärken (vgl. Nr. 6) oder durch Schwebungen nachweisen
(z. B. mittels der Gabeln Nr, 1 u. 1 a). Man kann sich aber auch einüben, sie
direkt herauszuhören.
Handgebläse zum Anblasen der Pfeifen Nr. 3, 6, 7, 8, 9, 11, 14 (7 u. 14
werden meist mit dem Munde angeblasen).
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 183
Obertonapparat, 8 Zungenpfeifen (Mechaniker Marx, Berlin; Spindler Mr.».
& Hoyer, Göttingen). Der Apparat enthält die Zungen 100, 200, 300 uaw.
bis 800. Die Töne 2 — 800 sind als Obertöne in der Zunge
100 enthalten. 100 ist ungefähr Gis der großen Oktave; ich
schreibe der Einfachheit halber Obertöne von G in Noten an.
Die Zungen sind in ähnlicher Weise nebeneinander angeord-
net wie bei einer Mund- oder bei einer Ziehharmonika. An-
^i ZZ geblasen werden sie durch das Gebläse Nr. 4. Will man eine
1— #1 — Zunge zum Tönen bringen, so zieht man den zugehörigen
Knopf heraus. Der Apparat dient dazu, die Obertöne vorzuführen, und ge-
stattet zugleich, sich im Heraushören derselben zu üben. Hat man nämlich
vorher die dem Oberton entsprechende Zunge gehört, so ist man auf den
betreffenden Ton vorbereitet, „eingestellt", und hört dann meist auch den
Oberton leichter heraus.
Ausziehbare Resonatoren nach Schaefer, vereinfacht (Mechaniker n».«,
Marx, Berlin). Die Resonatoren bestehen im wesentlichen aus 2 überein-
ander gesteckten Rohren. Das Ansatzstück am engeren Rohr dient dazu,
den durch den Resonator verstärkten Ton ins Ohr zu leiten, oder auch dazu,
einen Ton mittels eines Schlauches in den Resonator zu führen.
Der größere der 2 Resonatoren resoniert auf die Töne 200 — 400 Schw.,
der kleinere auf 400 — 800. Läßt man die Zunge 100 (Nr. 3 oder 5) ertönen und
hält den Resonator ans Ohr, so kann man durch Verstellen desselben der
Reihe nach verschiedene Obertöne verstärken und deutlich hörbar machen.
Ähnlich kann man die Resonanz einem Auditorium demonstrieren, in-
dem man eine Gabel von der Öffnung des Resonators schwingen läßt oder
einen Ton gleichmäßig stark singt, und dabei den Resonator verstellt. An
einer gewissen Stelle wird der Ton stärker. (Zugleich ändert sich seine
Klangfarbe, er wird breiter, dumpfer).
Die Verstärkung der Obertöne durch Resonanz läßt sich bekanntlich auch am
Klavier zeigen. Man wählt z. B. das G der großen Oktave (etwas weniger als
100 Schw.) als Grundton und schlägt ihn an, nachdem man die Tasten der Ober-
töne vorher leise, ohne die Saiten anzuschlagen, niedergedrückt hat. Die Ober-
töne des Grundtons bringen die freiliegenden Saiten zum Mitschwingen; diese
klingen weiter, wenn man die Grundtontaste losgelassen hat, und sind dann
deutlicher zu hören, weil sie vom Grundtone nicht übertönt werden.
Vokalröhre (Mechaniker Marx, Berlin; Spindler & Hoyer, Göttingen). Nr. 7,
Sie besteht aus einer Zungenpfeife mit einem ausziehbaren Resonator. Durch
Verstellen des Resonators werden verschiedene Obertöne verstärkt. Dabei
Z\ R
W
ändert der Klang seine Farbe in drastischer Weise. Wählt man den Re-
ßonanzraum erst groß, dann immer kleiner, verstärkt man also erst die tiefen
dann immer höhere Teiltöne, so wird der Klang immer schärfer und dünner;
er scheint auch deutlich in die Höhe zu gehen. Manche Klangfarben haben
Ähnlichkeit mit einigen unserer Vokale.
Das Instrument ist auch dadurch lehrreich, weil es, wenn auch in sehr
unvollkommener Weise, erläutert, wie wir selbst die verschiedenen Vokale
184 Hans Rupp
hervorbringen. Wir erzeugen durch Bewegen des Kiefers, der Zunge und
der Lippen verschiedene Resonanzräume im Mund und verstärken dadurch
die für die Vokale charakteristischen Teiltöne.
Um verschiedene Klangfarben zu erzielen, ist es wohl am einfachsten, ver-
schiedene Instrumente zu benutzen. Man spannt z. B. auf der Geige eine Darm-
und eine Metallsaite auf und stimmt sie auf denselben Ton ein, oder man streicht
dieselbe Saite einmal nahe am Steg, einmal weiter davon entfernt an; man spielt
einmal mit, einmal ohne Dämpfer, ferner vergleiche man damit das Klavier oder
das Harmonium. Das letztere bietet in seinen verschiedenen Registern selbst eine
oft sehr reichhaltige Sammlung von Klangfarben. Nimmt man endlich die ver-
schiedenen Vokale der menschlichen Stimme oder verschiedene Stimmen und
auch das Pfeifen hinzu, so verfügt man über eine stattliche Anzahl verschiedener
Klangfarben, an welchen man die Beobachtung vortrefflich üben und schärfen kann.
Dreiklangapparat, 12 Zungenpfeifen, nach Stumpf, etwas vereinfacht
(Mechaniker Marx, Berlin; Spindler & Hoyer Göttingen). Der Apparat
r? 7'/. jlr ^^^ ähnlich gebaut wie der Obertonapparat Nr. 5.
Er enthält außer den 8 Zungen dieses Apparates
noch die Zungen 150, 250, 450 und 750 (= ly,,
21/2, 4V* und 7V. X 100).
-6 i5»fT^-
-3 9
2 ' ^ *— — I Man kann zunächst alle Versuche des Oberton-
A» 3 — _,
•y • # 1'/. — 0 apparates ausführen
• 1 -9— ' Ferner kann man mittels der hinzugefügten
Zungen die Differenztöne des Dur- und Moll-Dreiklangs zeigen. Der Dur-
dreiklang 400, 500, 600 enthält deutlich hörbar die Differenztöne 100, 200,
300 (vgl. die Noten), also lauter konsonante, zum Dreiklang passende Töne.
Der Molldreiklang dagegen, z. B. 500, 600, 750 (10 : 12 : 15) enthält die
Differenztöne 150, 250, 400 und 450, von denen 400 mit 750 eine große
Septime, also eine scharfe Dissonanz ergibt. Auf diese dürfte das Schärfere
dieses Dreiklangs zurückzuführen sein.
Der Apparat enthält in der Oktave 400 — 800 alle gewöhnlich vorkommen-
den Intervalle in natürlicher physikalischer Stimmung: kleine Sekunde 15 : 16
(750 : 800), große Sekunde 8 : 9 (400 : 450), kleine Terz 5 : 6 (500 : 600),
große Terz 4 : 5 (400 : 500), Quart 3 : 4 (600 : 800), Tritonus 4 : 7 (400 : 700),
Quinte 2 : 3 (400 : 600), kleine Sexte 5 : 8 (500 : 800), große Sexte 3 : 5
(450 : 750), natürliche Septime 4 : 7 (400 : 700), große Septime 9:16 (450 : 800),
große Septime 8 : 15 (400 : 750), Oktave 1 : 2 (400 : 800).
Man kann z. B. die Verschmelzungsstufen der einzelnen Intervalle demon-
strieren, oder prüfen, wie oft bei verschiedenen Intervallen die Töne von
Unmusikalischen überhaupt nicht mehr geschieden werden, der Zweiklang
also für einen Einklang gehalten wird.
Intervall apparat, 16 Zungenpfeifen, nach*Stumpf, etwas vereinfacht
(Mechaniker Marx Berlin; Spindler & Hoyer, Göttingen). Der Apparat
soll verschiedene Intervalle in physikalischer, enharmonischer und temperierter
Stimmung demonstrieren. Die Noten zeigen die Töne, welche der Apparat
I^^L L.U U. "' !^' .^'i^-^
taz. — j^ ,,^_jj _
tp tp tp tp
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 186
«ntliält. Das Zeichen tp unter einigen Noten bedeutet temperierte Stimmung.
Die übrigen Töne sind physikalisch (nicht psychologisch !) „rein" gestimmt. Die
Vorschläge zeigen an, auf welchem Wege der betreffende Ton gewonnen ist:
z. B. ist bei gis erst die reine Terz gh und von dieser die reine kleine Terz nach
unten, bei as die reine Quart gc, dann die reine große Terz nach unten genommen.
Der Apparat enthält folgende Intervalle: 2 enharmonische kleine Sekunden
24 : 25 (400 : 4162/3 ; g : gis), 15 : 16 (400 : 4262/3; g:as); dazwischen die tem-
12
perierte 1 : V 2 (400 : 423,8; g : gis [tp]); große Sekunde 8 : 9 (400 : 450;
12_
g : a); kleine Terz 5 : 6 (400 : 480; g : b); temperierte kleine Terz 1 : 1/2»
(400 : 475,7; g : b [tp.]) große Terz 4 : 5 (400 : 500; g : h); temperierte große
12
Terz 1 : V 24 (400 : 504,0; g : h [tp.]); Tritonus 5 : 7 (500 : 700; h : fi);
12
Quinte 2 : 3 (400 : 600; g : d); temperierte Quinte 1 : V 2' (400 : 599,3; g : d
[tp.]); kleine Sexte 5 : 8 (500 : 800; h : g); natürliche kleine Septime 4 : 7
<400 : 700; g : fi); 2 enharmonische kleine Septimen 9 : 16 (400 : 711V9;
g : fii) und 5 : 9 (400 : 720; g : fiii); große Septime 8 : 15 (400 : 750;
g : fis); Oktave 1 : 2 (400 : 800; g : g). Ferner sind die beiden »Sexten
und die Quarte in reiner und temperierter Stimmung enthalten als Um-
kehrungen der entsprechenden Terzen und Quinten.
Der Apparat zeigt, daß zwischen den einzelnen Stimmungen z. T. sehr
deutliche Unterschiede bestehen. So sind gis und as deutlich verschieden;
zwischen beiden liegt die temperierte kleine Sekunde. Bei den Terzen und
Sexten sind die temperiert gestimmten Intervalle ebenfalls deutlich von
der reinen verschieden. Bei der Quinte und Quarte stimmen beide fast genau
überein. Die 3 kleinen Septimen sind wieder ein drastisches Beispiel, wie
verschiedene Töne man durch reine und enharmonische Stimmung erhält; zu-
gleich erkennt man den höheren Verschmelzungsgrad der natürlichen Septime,
obwohl diese subjektiv nicht rein, sondern entschieden zu klein erscheint.
Da der Apparat viele Töne des vorigen enthält, liegt es nahe, ihn mit
diesem zu kombinieren; ein solcher Apparat würde die Funktionen des Ober-
ton-, Dreiklang- und Intervallapparates vereinigen (21 Zungen).
Intervallapparat, Metallophon, nach Stumpf, etwas vereinfacht Nr. lo.
(Mechaniker Marx, Berlin). Dieselben Intervalle wie in Nr. 9 werden hier
durch Anschlagen von Metallstäben erzeugt. Nur i
sind die Töne um eine Oktave höher, sie gehen nnfTTTinPlFlFIFinFlPinn
also von 800—1600 Schw., da tiefere Stäbe nicht UJUJIJJUUUIJJUUUUU
80 gut klingen. Man braucht kein Gebläse. Der '
Ton hält freilich nicht gleichmäßig an wie bei den Zungen, sondern klingt
allmählich ab, wie bei den Stimmgabeln. (Vgl. die Abbildung zu Nr. 13.)
Intervallapparat für kleinste Intervalle, 16 Zungenpfeifen, Nr.ii.
nach Stumpf, etwas verändert (Mechaniker Marx, Berlin; Spindler & Hoyer,
Göttingen). Der Apparat ist als Zusatz zum Apparat Nr. 9 gedacht. Es
sind 8 Töne um 400, 8 um 800 Schw. hinzugefügt, u. zw. um 400 die
Töne 388, 392, 396, 398, 402, 404, 408, 412, um 800 die Töne mit doppelt.
80 großen Schwingungszahlen. Mit ihnen kann man die Unterschiedsem-
186
Hans Rupp
pfindlichkeit und Intervallempfindliclikeit prüfen. Man spielt bald eine
größere, bald eine kleinere Differenz vor und stellt für jede fest, in wieviel
0/0 der Fälle sie richtig beurteilt wird. Ebenso spielt man durch Hinzu-
nehmen der Zungen von Nr. 9 bald physikalisch reine, bald verstimmte
Intervalle' und läßt entscheiden, ob sie subjektiv rein erscheinen oder nicht..
Man erkennt so, welche Intervalle im Durchschnitt rein erscheinen, und
kann zugleich die Streuung, den Umfang derselben feststellen.
Der Apparat enthält mit 9 kombiniert 32 Zungen. Man kann ihn aber
außerdem mit 8 und 5 kombinieren und erhält dann einen ziemlich viel-
seitigen Apparat von 37 Zungen.
Nr. 12. Intervallapparat für kleinste Intervalle, Metallophon, nach
Stumpf, etwas verändert (Mechaniker Marx, Berlin). Wie der vorige, nur
mit Metallstäben und mit doppelt so großen Schwingungszahlen. Der
Apparat ist als Zusatz zu Nr. 10 gedacht.
Nr.i3 Siamesische und Javanische Tonleiter, Metallophon, nach
Stumpf (Mechaniker Marx, Berlin).
Die Siamesen teilen die Oktave in
7 gleichtemperierte Stufen, die Ja-
vaner in 5, während wir bekannt-
lich 12 Stufen (Halbtöne) zählen.
Dadurch ^entstehen Intervalle, die
von unseren z. T. erheblich ab-
weichen. So liegt die siamesische
Terz zwischen unserer großen und
kleinen Terz.
Das Instrument gibt die beiden
Leitern in der Oktave 800—1600.
Wir hören leicht unsere Intervalle
hinein und übersehen die Verstimmung. Je nach dem Zusammenhang hören
wir verschiedene Intervalle hinciii. So erscheint die siamesische Septime
beim Hinaufspielen der Ton-
leiter als große, beim Zurück-
spielen als kleine Septime.
»r. 11 Tonometer nach v. Horn-
bostel (Mechaniker Zimmer-
mann, Leipzig). Der Apparat
benutzt ein im Handel käuf-
liches Instrumentchen: ein
Zungenpfeifchen, dessen Ton-
höhe variiert werden kann, in-
dem man die Zunge verlängert
oder verkürzt. Die Variation
geht bis zu einer Oktave. Eine
Kreisteilung gestattet, die
Stellung genau abzulesen und
immer wieder herzustellen.
Man kann 2 oder 3 Pfeifchen
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 187
benutzen und zugleich anblasen. Sie werden auf ein kleines Gehäuse auf-
gesetzt, das so eingerichtet ist, daß sich der Luftstrom gleichmäßig auf
alle 3 Pfeifen verteilt. Will man nur 1 Pfeifchen oder die Pfeifchen hinter
einander anblasen, so braucht man das Gehäuse nicht vorzusetzen.
Der Apparat ist vielseitig. Man kann Schwebungen und Differenztöne
demonstrieren. Man kann die erwähnte Skala eichen und besitzt dann
einen Tonmesser, mit dem man andere Töne bis auf 2 Schwingungen genau
messen kann (vgl. auch Nr. 1). Man muß nur darauf achten, daß man das
Instrument immer mit gleicher Stärke anbläst.
Endlich kann man Versuche über Unterschiedsempfindlichkeit und Inter-
vallempfindlichkeit anstellen, letztere auch bei simultanen Intervallen. Usw.
Dichord nach Spearman (Mechaniker Köhler, Leipzig). Über die Stege Nr.i«.
I und II bezw. III u. IV sind Klaviersaiten gespannt. Zwischen diesen
Endstegen sind 4 verschiebbare _ i 9
Stege 1 — 4 eingesetzt. Sie können
-O D-
-D-
an jeder Stelle festgeschraubt und
die Saiten an ihnen eingeklemmt
werden. Dadurch erhält man für
jede Saite 3 unabhängig von- ^ " ^ ^ ^''"^
einander schwingende Stücke. Man
benutzt nur die 2 äußeren, und hat so im ganzen 4 Töne, deren Höhe
man innerhalb gewisser Grenzen beliebig einstellen kann. Die Stellung
der Stege kann an einer Millimeterteilung mittels Nonius abgelesen
werden. Außerdem geben Schwingungszahlen die Töne an, welche jede
Saite bei den betreffenden Stegstellungen gibt. Das setzt aber voraus, daß
die Saite vorerst genau auf den Grundton eingestimmt ist.
Die Saiten lassen sich in den mittleren Tonlagen bis auf Bruchteile einer
Schwingung genau einstellen. Der Tonumfang des Instruments reicht bei-
läufig von 160 bis 4000 Schw. Die Saiten werden mit einem Stift gezupft,
ähnlich wie die Metallsaiten der Zither.
Tontabellen nach Stumpf-Schaefer (Verlag A. Barth, Leipzig). 9 Tabellen, Nr.i*
die man bei Versuchen und Übungen fast stets zur Hand haben muß, um
die Schwingungszahlen der Töne und die Verhältnisse der Intervalle nach-
zusehen. Sie geben die Schwingungszahlen der Töne unserer Leiter in 10
Oktaven von C2 bis c' und zwar der Töne in natürlichen, temperierten und
in den wichtigsten enharmonischen Stimmungen. Ferner sind alle diese
Töne in 3 verschiedenen Stimmungen des ganzen Systems gegeben: 1) in
der heutigen internationalen Normalstimmung a^= 435; 2) in der älteren
Normalstimmung ai<= 440; 3) in der für Berechnungen bequemeren physi-
kalischen Stimmung, in welcher C2== 16, 0^=256, ai= 430,54 ist. Die
temperierten Leitern sind in Dezimalbrüchen, die reinen und enharmonischen
in Dezimal- und in gewöhnlichen Brüchen angegeben.
Exzelsior-Phonograph mit Reiseverpackung (Photozentrale des Kolonial- N,.tT.
kriegerdankes, Berlin). Wie der Phonograph bei Aufnahmen von Gesängen primi-
tiver Völker und von Volksgesängen unentbehrlich geworden ist, so dürfte er
auch für die Pädagogik Bedeutung gewinnen. Man kann mit bloßem Ohr grobe
Fehler in Ton und Takt hinreichend sicher feststellen. Will man aber genauer
188 Hans Rupp
untersuchen, wie intoniert wird, wie Kinder, Halbmusikalische und wie
andererseits die besten Musiker spielen, so ist das Ohr ganz unzuverlässig.
Man vergleiche z. B. das subjektive Hineinhören verschiedener Intervalle,
welches bei der siamesischen Tonleiter zu beobachten ist (vgl. Nr. 13).
Der Phonograph gibt Tonhöhe und Takt genau richtig wieder; nur die
Klangfarbe ist verändert. Man kann das phonographierte Stück beliebig
oft reproduzieren und die Tonhöhe mittels eines Tonmessers (vgl. Nr. 1 und
Nr. 14) bestimmen. Dadurch lassen sich die angeführten Probleme exakt
untersuchen.
Die zur Untersuchung des Rhythmus dienenden Apparate könnten ebenso
wie der Phonograph auch bei den zeitmessenden und zeitregulierenden Appa-
raten (Gruppe Vin und IX) angeführt werden. Um aber die Zusammenstellung
akustischer Apparate zu vervollständigen erwähne ich hier wenigstens die
Aufnahmeapparate.
Nr. 18. Elektrischer Taster (Mechaniker Marx, Berlin). Man klopft auf ein
Brettchen, ähnlich einer Klaviertaste. Das Brettchen schlägt sofort nach
dem Niederdrücken auf einen Stift auf, wodurch ein Strom geschlossen wird.
Durch das Aufschlagen entsteht ein scharfes Geräusch, ein kurzer Schlag,
welcher dem Spielenden als Kontrolle des Rhythums dient. Durch das
Schließen des Kontaktes wird in bekannter Weise auf einen Kymographion
oder Chronograph eine Marke geschrieben; es lassen sich die Zeiten zwischen
den Kontakten messen.
Nr. 19. Taster für Luftübertragung (Mechaniker Marx, Berlin). Das Brettohen
des Tasters drückt hier auf eine Lufttrommel; der Druck wird in bekannter
Weise auf einen Schreiber übertragen. Dieser schreibt nicht nur den Beginn
und die Dauer des Druckes, sondern auch die Stärke, den Anstieg und Abfall
auf, freilich nicht so, daß z. B. bei doppelt so starkem (doppelt so tiefem)
Niederdrücken genau die doppelte Exkursion gezeichnet würde. Aber dem
stärkeren (tieferen) Druck entspricht doch eine stärkere Exkursion.
Wenn man mit dem Finger klopft, so hört man kaum das schwache,
dumpfe Geräusch, das durch das Aufschlagen entsteht. Der Taster eignet
sich also für Versuche, bei welchen eine akustische Kontrolle vermieden
werden soll. Will man aber Geräusche haben, so kann man z. B. einen Finger-
hut über den Finger stecken oder mit einem Stab auf das Brettchen klopfen.
IV. Gruppe: Wahrnehmungen der übrigen Sinne, abgesehen
Yon ihren Banmwahrnehmungen.
Die Lehre von den 5 Sinnen ist längst aufgegeben. Sicher festgestellt
sind bis jetzt 11 Sinne; vielleicht sind es aber wesentlich mehr. Nicht
berücksichtigt sind bei diesen 11 Sinnen die Empfindungen, die uns über
den Zustand im Inneren unseres Körpers berichten: Hunger, Durst, Ekel,
die mannigfachen Empfindungen bei Erkrankungen. Ferner sind nur die
Schmerzempfindungen der Schmerzpunkte der Haut berücksichtigt; vielleicht
gibt es andere Arten von Schmerzempfindungen, vielleicht auch Lust-
empfindungen — ganz abgesehen von Lust- und Unlust-Gefühlen.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 189
Jeder Sinn kann für die experimentelle Pädagogik Interessantes bieten.
Wir haben bei den Farben gesehen, wie die Klassifikation, die Ordnung in
ein System auf Grund der Ähnlichkeit, die Unterscheidung der verschie-
denen Eigenschaften eine Aufgabe ist, an welcher sich die Beobachtungs-
kunst messen und üben kann. Eine ähnlich reizvolle Aufgabe dürften die sehr
verwickelten Geruchs- und Geschmacksempfindungen bieten. Leider ist die
Technik solcher Versuche etwas umständlich, so daß ich vorläufig von
Apparaten für solche Versuche abgesehen habe. Auch wird die Pädagogik
Gebiete vorziehen, die zugleich größeres praktisches Interesse besitzen, als
es bei Geruch und Geschmack (wenn man von einigen speziellen Berufen
absieht) der Fall ist.
Eine zweite Aufgabe, die sich bei allen Sinnen durchführen läßt, ist die
der absoluten und der Unterschiedsschwelle. Aber auch hier wird
die Pädagogik sich solche Sinne und solche Aufgaben herausgreifen, die zu-
gleich größere praktische Bedeutung haben; so hat z. B. die Unterschieds-
schwelle gewisser Gelenkempfindungen für das Schätzen von Gewichten
praktischen Wert.
Eine dritte, vielleicht die interessanteste Aufgabe, bildet die Untersuchung
von Erscheinungen, ähnlich der der Gedächtnisfarben. So lösen z. B.
dieselben Gelenkempfindungen beim Heben eines Gewichtes den Eindruck eines
schweren Gewichtes aus, wenn das Gewicht kleiner ist; sie werden besser
„ausgenützt". Wir haben also eine Anpassung an die Wirklichkeit vor uns,
die nicht weniger bewunderungswürdig und nicht weniger praktisch wert-
voll ist, als die anologe Erscheinung der Gedächtnisfarbe. Solcher Er-
scheinungen gibt es noch eine ganze Reihe.
Einige weitere Erscheinungen, wie das Objektivieren der Empfindungen,
das kunstvolle Zusammenwirken verschiedener Empfindungen usw., finden
bei der speziellen Besprechung der einzelnen Sinne Erwähnung.
A) Tastsinn.
Unter Tastsinn im strengen Sinne des Wortes verstehen wir nur die
Druckpunkte der Haut. Wenn man mit einer Spitze die Haut abtastet,
so empfindet man die Berührung einzelner Punkte als warm, andere
Punkte als kalt, wieder andere als schmerzhaft. Wieder andere endlich er-
geben eine indifferente Berührungsempfindung. Das ist der eigentliche
Tastsinn.
Gewöhnlich werden ausgedehntere Stellen, also viele Punkte gereizt;
freilich findet dabei der Reiz nicht überall, sondern meist nur an den
Rändern statt, wo die Haut gedehnt wird.
Bei stärkerem Druck wird nicht nur die Haut gereizt, sondern auch die
tieferen, unter der Haut liegenden Partien; wir spüren Muskel, Knochen
u. dgl. Man spricht auch von innerem Tastsinn, gegenüber dem
äußeren Tastsinn der Haut.
Die Empfindungen des äußeren und inneren Tastsinnes werden von uns
in mannigfacher Weise verarbeitet. Wir vergleichen und schätzen die
Intensität des Druckes. Dementsprechend bestimmen wir die absolute
190 Hans Kupp
Schwelle und Unterschiedsscliwelle : wir prüfen, ob sich gewisse Standard-
."gewichte, namentlich unsere Maßeinheiten eingeprägt haben; wir untersuchen,
wie feine Unterschiede zwischen Gewichten noch richtig erkannt werden;
wir vergleichen auch Unterschiede von Gewichten, stellen z. B. fest, ob der
Unterschied zwischen 50 und 60 g ebenso groß erscheint, wie der zwischen
10 und 20 g; wir können versuchen, zu einem Gewicht ein zwei-, drei- .... mal
«o schweres zu bestimmen, u. s. f.
Wie genau urteilt in allen diesen Fällen der Erwachsene, wie das Kind?
wie der Intelligente, wie der weniger Intelligente oder Schwachsinnige? Wie
weit läßt sich die Fähigkeit üben? durch welche Übungen kann sie schnell,
mühelos gesteigert werden?
Wir können die nackte Druckempfindung an sich spüren. Wir können
«ie aber auch auf unseren Körper lokalisieren, und wir können sie in den
berührenden Gegenstand verlegen ; im letzteren Falle empfinden wir unmittel-
ha,T eine Schwere oder Leichtigkeit des Gegenstandes.
Ähnlich schreiben wir den Körpern auf Grund unserer Berührungs-
empfindungen Härte und Weichheit zu; ebenso, namentlich wenn er über
4iie Haut hin bewegt wird, Glätte und Rauheit.
Unterscheidet auch das Kind diese Eigenschaften richtig? Kann es der
^Geistig-Zurückgebliebene?
Derselbe Druck, dasselbe Gewicht erzeugt auf verschiedenen Stellen der
Haut verschiedene Empfindungen ; die Druckpunkte liegen verschieden dicht,
'die Haut ist bald gröber, bald zarter, u. dgl. m. Ein Gegenstand kann mit
■einer breiten Fläche auf der Haut aufliegen, oder mit einer Kante oder
gar Spitze drücken; die Empfindungen sind wieder sehr verschieden. Dies
alles, obwohl das objektive Gewicht stets genau dasselbe ist. Haben wir
nun, den verschiedenen Empfindungen entsprechend, den Eindruck ver-
«chiedener Gewichte? Oder ziehen wir die Verschiedenartigkeit der Reizung
in Betracht, nützen den Reiz verschieden aus?
Eine andere, für Leben und Schule interessante Ausnützung habe ich
schon früher erwähnt. Wenn derselbe Druck einmal von einem kleineren,
■einmal von einem größeren Gegenstand herrührt, so besteht der größere
Gegenstand aus einer leichteren Masse, er hat, wie die Physik es ausdrückt,
-ein kleineres spezifisches Gewicht, geringere Dichte*).
Das Leben hat uns gelehrt, neben dem absoluten Gewicht auf das Material,
-auf die Masse zu achten. Sie bleibt dieselbe trotz verschiedener Größe,
ähnlich wie die Farbe dieselbe bleibt trotz verschiedener Beleuchtung, die
Größe dieselbe trotz verschiedener Entfernung, Die Massigkeit wird un-
mittelbar empfunden, das eine Extrem als massig, bleischwer, das andere als
federleicht. Diese Eigenschaft ist sinnfällig gegeben wie die Gedächtnisfarbe.
Dies alles ist schon beim passiven Druck zu beobachten. Es tritt viel-
leicht deutlicher hervor bei aktiver Hebung, von der unter Punkt B die
Rede ist. Es ist möglich, daß wir beim passiven Druck, wenn wir das
') Mit demselben Problem beschäftigt sich eine von Herrn Friedländer im
Berliner Psychologischen Institut durchgeführte Untersuchung, die auf eine Reihe
-dieser Fragen näher und quantitativ eingeht. Sie wird in der „Zeitschrift f. Psy-
•ohologie" erscheinen.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik IQl
■Gewicht, das absolute wie das relative, recht deutlich fühlen wollen, die
Empfindungen beim aktiven Heben hineinerinnern.
Wie bei Gedächtnisfarben und scheinbarer Größe fragen wir auch hier:
Wie groß ist die Ausnützung? Geht sie so weit, daß wir das reine spezi-
fische Gewicht empfinden, d. h. daß Gegenstände aus gleichem Material
uns gleich massig, gleich spezifisch schwer erscheinen, auch wenn sie ver-
schiedene Größe und daher verschiedenes absolutes Gewicht besitzen? Zu-
nächst ist zu betonen, daß wir — zum Unterschied von Farben und
Größen — auch das absolute Gewicht beurteilen können. Je nach den
Umständen des Vergleichs und je nach Willkür scheint bald das absolute,
bald das spezifische Gewicht hervorzutreten. Wenn wir aber uns ganz auf
das spezifische Gewicht einstellen, wird es dann ideal wahrgenommen?
Erzeugt der größere Körper den Eindruck derselben Massigkeit, obwohl er
verschieden schwer ist? (Dabei ist natürlich vorausgesetzt, daß man die
gleiche Masse nicht am Aussehen des Körpers erkennen kann.) Vermutlich
wird der absolut schwerere Körper auch seinem spezifischem Gewichte nach
wenigstens etwas schwerer erscheinen. Die Ausnützung ist dann nicht ideal,
sie bleibt hinter der objektiven Wirklichkeit etwas zurück.
Bekannt ist, daß auch das Umgekehrte gilt, daß das spezifische Gewicht
das absolute beeinflußt. Zwei gleich schwere aber verschieden große Ge-
wichte erscheinen, wie schon erwähnt, verschieden schwer, auch wenn man
auf das absolute Gewicht achtet.
Vielleicht können wir es durch Übung dahin bringen, beide Eindrücke
besser zu isolieren, so daß unser Urteil den objektiven Verhältnissen sich
mehr nähert. Ähnlich wie bei der Perspektive wird es wohl auch hier
Kniffe geben, die diese Trennung erleichtern.
Die verschiedene Größe muß natürlich wahrgenommen werden; auf Grund
dieser Wahrnehmung findet ja verschiedene Ausnützung statt. Der Grad
der Ausnützung wird nun auch davon abhängen, ob die Größenverhältnisse
richtig erkannt werden. Ein doppelt so hohes Prisma mag doppelt so groß
erscheinen. Wie aber bei Kugeln, bei Würfeln usw.? Wie bei 5 mal oder
10 mal 80 großen Körpern? Findet die Ausnützung auch dann statt, wenn
wir die Körper nicht sehen, sondern nur betasten?
Die Erscheinung ist für die Schule von praktischer Bedeutung. Der
Physikunterricht wird, wenn er die Begriffe Masse, Dichte, spezifisches
Gewicht erläutert, nicht von Definitionen ausgehen, sondern sich zuerst auf
die lebendige Empfindung stützen; er wird sie durch Versuche und Übungen
zum klaren Bewußtsein bringen. Das dürfte leicht zu erreichen sein, da
jene Begriffe vermutlich schon im Kinde entwickelt sind. Indem der
Unterricht die weitere Frage auf wirft, wie jene Eigenschaft zu messen ist
wird sich spielend die physikalische Definition ergeben, der Schüler wird
sie vielleicht selbst entdecken. Wenn wir dagegen mit der Definition be-
ginnen, bringen wir Fremdes hinein, das vielfach nur mechanisch gelernt
wird. Das eigentlich Belebende, der sinnfällige Eindruck verschiedener
Massigkeit fehlt, oder vielmehr es fehlt der Zusammenhang derselben mit
der Definition. Das Kind wird nicht den Eindruck haben, daß das, was
die künstliche Definition sagt, auf dasselbe oder fast dasselbe geht wie jene
192
Hans Rupp
Nr. 1.
L
Nr. 2.
bekannte Empfindung. Demonstrationsversuche mit Wägen auf dem Katheder
nützen wenig. Die Massigkeit kann man nicht sehen, man muß sie spüren?
Die Versuche, die unten angegeben sind, dienen einerseits dazu,
die Feinheit der Schätzung zu heben. Das setzt aber zugleich die
andere, für die Schule wichtigere Aufgabe voraus, daß man sich
die Eindrücke des absoluten und spezifischen Gewichtes klar zum
Bewußtsein gebracht hat. Es ist der ernsten Erwägung und prak-
tischen Erprobung wert, ob der Physikunterricht nicht mit der-
artigen einfachen Versuchen beginnen soll. (Auf eine andere
Art, die Masse durch lebendige Empfindungen zur Anschauung zu
bringen, komme ich in Punkt B zu sprechen).
Haarästhesiometer nach v. Frey (Mechaniker Zimmermann,
Leipzig), zur Bestimmung der absoluten Schwelle für Druckreize,
namentlich wenn einzelne Druckpunkte gereizt werden. Das Prinzip
dieses bekannten Instrumentes ist folgendes: Ein Haar wird aua
einer feinen Röhre mehr oder weniger weit hervorgeschoben. Drückt
man das Haar jedesmal so stark auf die Haut, daß es sich eben
durchbiegt, so ist die Druckstärke der Länge des Haares umgekehrt
proportional. Die Länge des vorstehenden Stückes ist an einer
ram-Teilung abzulesen. Man muß beim Gebrauch darauf achten,
daß das Haar nicht durch Unvorsichtigkeit eine Knickung erfährt.
Je nach Bedarf kann man ein stärkeres (Pferde-) oder schwächere»
(Frauen-) Haar einsetzen. Da die Schwelle von der Schnelligkeit
der Berührung abhängt, so muß man sich einüben, immer mit der-
selben Schnelligkeit zu berühren.
Einfaches Gewichtsästhesiometer nach Rupp (Mechaniker
Marx, Berlin). Der vertikale, oben die Gewichte tragende Stab
gleitet sehr leicht in der Gabel, welche an einem Griffe gehalten
wird. An das untere Ende des Stabes, das auf die Haut aufgesetzt
wird, können Stücke mit größerer oder kleinerer Berührungsfläche
aufgesetzt werden. Sie sind aus schlecht die Wärme leitendem
Material gearbeitet, um die störenden Kälteerapfindungen zu vermeiden, und
sind alle gleich schwer.
Oben können beliebige Gewichte bis zu 100 g aufgesetzt werden. Sie
sind in der Mitte durchgebohrt und werden auf den Stab aufgesteckt, so daß
sie nicht herabfallen können und zugleich zentriert sind. Man muß
darauf achten, daß der Stab immer vertikal drückt. Ebenso
muß man den Apparat stets mit gleicher Geschwindigkeit auf
die Haut herabsenken.
Man kann die Unterschiedsschwelle und die absolute Schätzung
prüfen; kann Gewichte auf verschiedenen Hautstellen oder Ge-
wichte von verschiedener Druckfläche vergleichen lassen. Meistens arbeitet
man mit 2 Instrumenten, damit man die Vergleichsreize unmittelbar hinter-
einander aufsetzen kann.
Das berührte Glied liegt hier, wo es sich um den Tastsinn handelt, passiv
auf. Andernfalls würden zum Tastsinn noch die durch das aktive Halten
V
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 193
auftretenden Empfindungen hinzukommen. Die Probleme und Versuche
würden sich aber für diesen Fall genau wiederholen (vgl. B).
Gewichtschalen nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Der Apparat Mr.a.
dient für ähnliche Versuche wie der vorige, nur ist die
drückende Fläche größer. Sie besteht aus einer flachen
Schale von ca. 5 cm Durchmesser. In der Mitte erhebt sich
ein Stab, auf den wieder die Gewichte gesteckt werden; zu-
gleich dient er zum Anfassen des ganzen Apparates. Schale
und Stab wiegen genau so viel wie Stab und Aufsatzstück beim
vorigen Apparat, die Schale ist auf der Unterseite mit Tuch
belegt, um Kälteempfindungen zu vermeiden. Die Gewichte sind auch für
die Versuche mit aktiver Hebung verwendbar (vgl. B).
Serie von spezifischen Gewichten der Größe 20 cm»," nach Rupp Nr.4.
(Mechaniker Marx, Berlin). 30 Gewichte von 5 — 100 g, erst von 5 zu 5 g
abgestuft, später von 10 zu 10 g, jedes Gewicht doppelt. Alle haben gleiche
Größe imd Form und sind gleich angestrichen. Es sind runde Platten von
ca. 5 cm Durchmesser und genau 1 cm Höhe ; ihr Kubikinhalt beträgt genau
20cm3. Die Masse ist bei allen Gewichten möglichst gleichmäßig über die
ganze Form verteilt. Um die Gewichte auch für gewisse Versuche, die unter
B beschrieben werden, verwertbar zu machen, sind sie oben in der Mitte
mit einem Häkchen versehen, an dem man sie aufhängen kann.
Die Serie kann zunächst zur Bestimmung der Unterschiedsschwelle ver-
wendet werden. Man läßt die Gewichte paarweise vergleichen oder man
läßt sie ordnen, und bestimmt. die Fehler und die Zeit. Das Ordnen stellt
zugleich eine anregende, spielende Beschäftigung dar und kann zur Erziehung
verwendet werden. Ferner kann man absolute Schätzung üben: man läßt
die Gewichte von 10, 20, 50 g bestimmen. Ferner: Welches Gewicht er-
scheint doppelt so schwer wie ein gegebenes? Erscheint der Unterschied
50 und 60 ebenso groß wie 10 und 20? Endlich kann man die objektiv
richtige Schätzung an der Hand unserer Serie üben. Der Schüler muß sich
dabei ganz auf die Schwerempfindung stützen, da er sonst keinerlei Anhalts-
punkte hat.
Serie von spezifischen Gewichten der Größe 50 cm^ und 100 cm^ Nr.ßu.«.
nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die Gewichte unterscheiden sich
von denen der Serie 4 dadurch, daß sie 2 ^- bezw. 5mal so hoch sind. Die
spezifischen Gewichte sind dieselben.
Der Hauptzweck dieser Serien ist, in Verbindung mit der Serie 4 zu prüfen,
inwieweit das spezifische Gewicht trotz verschiedener Größe und absoluter
Schwere wiedererkannt wird. Man gibt ein Gewicht aus einer Serie vor
und läßt aus den andern das Gewicht von gleicher Massigkeit, gleichem spe-
zifischem Gewicht suchen. Wird es richtig bestimmt? Wie vom Erwachsenen,
wie vom Kinde?
Serie von Gewichten der Größe 20 cm 3 aus einigen wichtigen Nr.7.
Materialien, äußerlich kenntlich, nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin).
Form und Größe der Gewichte wie bei 4; es fällt nur der Anstrich fort, so
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 13
J94 Hans Rupp
daß das Material an dem Aussehen erkennbar ist. Die Materialien sind:
Gips, Aluminium, Eisen, Messing, Blei mit den spezifischen Gewichten 1 , 2,7 ,
7,2, 8,4, 11,4.
Für den Physikunterricht, namentlich für manche Berufszweige, hat es
Wert, einige spezifische Gewichte einzuprägen. Sicher wird man sich die
lebendigeren Gewichtsempfindungen besser merken als die toten Zahlen. —
Natürlich kann man nach Bedarf beliebige andere Materien hinzufügen.
Man kann die Einprägung leicht prüfen. Man gibt ein Gewicht bei ge-
schlossenen Augen vor und läßt das Material bestimmen; oder man läßt aus der
Serie 4 das Gewicht suchen, das z. B. dem des Eisens am nächsten steht;
und ebenso für die anderen Materialien.
Nr.8. Serie von Gewichten von gleicher Dichte, aber verschiedener
Größe nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die Gewichte sind zylindrisch,
haben dieselbe Grundfläche wie die der Serie 4; die absoluten Gewichte sind
ebenfalls die gleichen wie bei Serie 4. Aber das Material ist überall das
gleiche, imd die Höhen verhalten sich also proportional den Gewichten. Das
spezifische Gewicht ist gleich 1.
Man lernt durch diese Serie das absolute Gewicht beurteilen. Waren die
Serien 4 — 7 Serien von reinen spezifischen Gewichten, so ist 8 eine reine
Serie absoluter Gewichte. Subjektiv ist freilich nicht immer der Eindruck
gleicher Dichte oder Massigkeit vorhanden. Aber es wird doch durch die
verschiedene Größe der Eindruck verschiedener Dichte zurückdrängt.
Man kann also dieselben Versuche wie mit Serie 4 anstellen, nur unter
der Bedingung, daß jetzt vorwiegend absolute Gewichte beurteilt werden.
Wie verhält sich die ünterschiedssch welle ? Welches Gewicht scheint uns,
wenn wir auf absolute Gewichte eingestellt sind und bei der Schätzung die
Augen schließen, doppelt so groß wie ein gegebenes? Wir können aus Serie
Nr. 4 ein Gewicht von anderer Dichte vorgeben und das absolut gleichschwere
Gewicht aus 8 bestimmen lassen. Wir sehen dadurch, ob wir uns vom
spezifischen Gewicht ganz frei machen konnten. Endlich können wir an der
Hand der Serie die Vergleichung üben; dadurch, daß die Höhen selbst sinn-
lich gegeben sind, mag sich besser einprägen, was z. B. ein doppelt so schweres
Gewicht ist.
Nr.». 2 Gewichte zur Demonstration der bekannten Gewichtstäuschung.
2 Messingkugeln von gleichem absoluten Gewicht, aber sehr verschiedener
Größe; die kleinere erscheint absolut imd spezifisch schwerer. Die Kugeln
werden an Schlingen gehalten, oder auf gleich schwere und gleich große Unter-
sätze gelegt und diese auf die passiv gehaltene Hand aufgelegt.
Ur.io. 2 Bücher zur Demonstration der bekannten Gewichtstäuschung,
nach Friedländer (Mechaniker Marx, Berlin). 2 nicht bsdruckte Bücher, das
eine aus leichtem Papier und ziemlich dick, das andere aus schwerem Papier und
ungefähr halb so dick. Das erstere ist dem absoluten Gewicht nach etwas
schwerer ; es erscheint aber deutlich leichter, analog wie bei den Gewichten Nr. 9.
Kr. 11. Serie von Sandpapieren (Mechaniker Marx, Berlin), von fast glatten
bis zu sehr rauhen, grobkörnigen Papieren. Sie sollen zeigen, wie feine
Unterschiede in der Rauhigkeit gemerkt werden. Man läßt die Papiere
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 195
entweder paarweise vergleiclien oder läßt sie ihrer Rauhigkeit nach ordnen.
Aus der Zahl der Fehler und aus der Zeit, die zur Lösung der Aufgabe ge-
braucht wird, kann man die Empfindlichkeit erkennen.
B. Gelenkempfindungen.
Gewichte beurteilen wir meist durch aktive Hebung. Es liegt nahe, zu
glauben, daß wir sie auf Grund von Maskelempfindungen beurteilen. Allein
den Hauptanteil haben Gslenkempfindungen. Bei schweren Gewichten werden
die Knochen fester in die Gelenkkapseln gedrückt und dadurch Reizungen
erzeugt. In untergeordnetem Maße mögen sich auch Muskel- und Sehnenemp-
findungen beteiligen.
Die Probleme der Gewichtsschätzung sind hier zum Teil dieselben wie beim
passiven Druck. Die Prüfung der Sshwelle fällt fort; es müßte denn der
Tastsinn vorher unempfindlich gemacht worden sein. Dagegen bleiben die
Fragen der Unterschiedsempfindlichkeit, der absoluten Schätzung und der
Vergleichung von Gewichtsunterschieden. Ebenso wie die Tastempfindung
wird die aktive Gewichtsempfindung verschieden objektiviert, bald in unseren
Körper, bald direkt in den gehobenen Gegenstand als sein Gewicht verlegt.
Ebenso oder besser als dort können wir durch aktives Tasten Härte,
Weichheit, Rauhigkeit, Glätte und die Reibung spüren. Dazu kommen
beim aktiven Tasten die interessanten Eindrücke der Elastizität, der
Biegsamkeit und Sprödigkeit. Wenn wir auf die Biegsamkeit achten,
müssen wir die Dicke und die Größe der gebogenen Fläche berücksichtigen.
Wenn die gebogene Fläche größer ist, oder wenn sie dicker ist (z. B. ver-
schieden große und dicke Papiere oder Bleche), ist mehr Kraft zum Biegen
nötig. Das Material als solches wird darum nicht steifer. Wir schreiben
ihm eine konstante, spezifische Biegsamkeit zu, ähnlich wie ein spezifisches
Gewicht. Geschieht dies auch schon in der Empfindung, im sinnfälligen
Eindruck? Ziehen wir z. B. die Größe des gebogenen Papieres in Betracht,
wenn wir seine Steifheit schätzen?
Wie wir früher das Problem besprochen hatten, ob dasselbe Gewicht,
auf verschiedene Hautstellen drückend, gleich schwer erscheint, ergibt sich
hier die Frage, ob dasselbe Gewicht, mit verschiedenen Gliedern gehoben,
gleich schwer erscheint. Wir können z. B. einen Korb am Henkel mit dem
Finger, mit der Mittelhand oder mit dem Arm heben. Immer sind Empfin-
dungen anderer Gelenke beteiligt. Ebenso können wir die Finger mit dem
Rücken nach oben oder nach unten halten. Dabei können wir auf die
Empfindungen in den Fingern achten oder uns auf die Empfindungen
z. B. im Ellbogengelenk stützen. Ferner können wir die hebenden Glieder
schlaff oder stramm angespannt halten. Also eine Fülle verschiedener
Eindrücke, die alle von dem gleichen Gewicht ausgelöst werden. Es wäre
eine schlechte Anpassung an die Wirklichkeit, wenn das scheinbare Gewicht
alle diese Variationen mitmachen würde. In wie weit haben wir also ge-
lernt, die Reize trotz ihrer Verschiedenheit in gleicher oder ähnlicher Weise
auszunützen?
Ein sehr schöner und reiner Fall verschiedener „Ausnützung" derselben
Empfindung ist zu beobachten, wenn wir dasselbe Gewicht, z. B. einen Korb,
13*
196 Hans Rupp
auf verschiedene Stellen des Unterarmes hängen. Wenn er weiter vom
Drehpunkt, also vom Ellbogen entfernt ist, ist eine größere Kraft nötig.
Haben wir dementsprechend den Eindruck einer größeren Schwere? Oder wird
der längere Hebel in Betracht gezogen und der sinnfällige Eindruck
eines leichteren Gewichtes erzeugt? Nach einigen orientierenden Versuchen,
die ich angestellt habe, findet eine solche Ausnutzung in der Tat statt,
analog wie bei Gedächtnisfarben und scheinbarer Größe: Wir haben zwar,
wenn der Korb weiter vom Gelenk abgerückt wird, den Eindruck, daß die
Schwere zunimmt, aber sie nimmt lange nicht so stark zu, wie es nach
den Hebelgesetzen zu erwarten wäre. Ich gebe unten die einfachen Versuche
an, durch die man die Erscheinung prüfen kann. (Man sollte glauben,
die Druckempfindung, welche auf verschiedenen Stellen des Armes ungefähr
dieselbe ist, würde leicht den Fehler vermeiden lassen. Allein sie scheint
wenig beachtet zu werden.)
Wie schon erwähnt, kehrt beim aktiven Heben die Unterscheidung
zwischen absolutem und spezifischem Gewicht wieder. Es gelten
genau dieselben Fragen und Versuche.
Jedoch kommen hier zur Beurteilung der Masse neue Wege hinzu. Ich
kann Gewichte verschiedener Masse z. B. an Fäden aufhängen und ihre
Masse dadurch vergleichen, daß ich sie in Schwingung bringe und den
Widerstand beurteile. Ich kann verschieden große Körper verwenden,
ähnlich wie bei Serie 8, oder Körper gleicher Größe und verschiedener
spezifischer Gewichte. Im ersteren Fall verlege ich die Empfindung als
absolutes Gewicht in den Gegenstand, im zweiten als spezifische Masse, als
Dichte; also die analogen Eindrücke wie beim absoluten und spezifischen
Gewicht. Ich fühle zugleich, wie der Widerstand von der Schnelligkeit
abhängt, die ich erzielen will. Ich muß von ihr absehen und sie konstant
halten, um die Massen vergleichen zu können. Die Bedeutung dieses Ver-
suches (zu dem es natürlich manche analoge gibt) für die Physik liegt auf
der Hand. Es sind dieselben pädagogischen Grundsätze geltend zu machen
wie beim früheren Versuch: erst lebendige Erfahrung, die hier in den
Gelenkempfindungen besteht; dann Versuch, die so gewonnenen Begriffe
messend zu bestimmen, woraus sich von selbst und ganz natürlich, nicht
gekünstelt, unmotiviert, die physikalische Definition ergeben dürfte.
Wir können weitergehen und den Eindruck der absoluten oder relativen
Masse, den wir bei diesem letzten Versuch gewinnen, mit dem beim früheren
Versuch vergleichen. Sind sie subjektiv überhaupt vergleichbar? Können
wir zu einer Masse, die an einem Faden hängt und die wir stoßen, die
gleiche spezifische Masse aus einer Serie Gewichten, die wir heben, be-
stimmen ?
Wenn wir Gewichte schätzen, namentlich bei absoluter Schätzung und
beim Heben mit verschiedenen Gliedern, muß auch die Schwere des heben-
den Gliedes berücksichtigt werden. Bei leichteren Gewichten würde es
eine außerordentliche Fälschung bedeuten, wenn diese Berücksichtigung nicht
eintreten würde. Darin liegt also eine neue Leistung.
In ähnlicher Weise können wir das Gewicht einer Unterlage, z. B eines
Tellers, auf dem der zu beurteilende Körper liegt, in Betracht ziehen. Wir
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 197
scheiden also Brutto- und Netto-Gewicht. Wie vollkommen ist diese Ver-
arbeitung ausgebildet?
Wir können ein Gewicht mit zwei Händen heben*); jede Hand hat dann
halbe Arbeit zu leisten. Addieren sich diese zwei geringeren Empfindungen
zu derselben Gesamtempfindung, zu dem gleichen, in den Körper lokalisierten
Gewichtseindruck, wie wenn wir den Körper mit einer Hand heben würden?
Drücken wir eine Feder mit Daumen und Zeigefinger zusammen, so
haben wir zwei Empfindungen. Haben wir denselben Eindruck der Federkraft,
wie wenn wir die Feder nur mit einem Finger gegen eine Unterlage drücken?
Endlich sei noch auf eine Leistung unseres Sinnes hingewiesen. Wir
spüren, ob ein Körper homogen schwer ist, oder ob sich die Masse in
manchen Teilen konzentriert, während er im anderen Teil hohl ist. Wir
bewegen den Körper instinktiv und haben in kürzester Zeit die Verteilung
der Masse erkannt.
Ich gehe nun zur Besprechung der Apparate über. Zunächst wären die
Apparate 3 — 11 auch hier anzuführen mit allen früher besprochenen Ver-
suchen. Der Unterschied besteht nur darin, daß jetzt die Gewichte aktiv
gehoben, die Sandpapiere aktiv mit gewissem Druck betastet werden.
Die Serien 4 — 8 sind mit Häkchen versehen, so daß man sie aufhängen
kann. Das dient für die Versuche mit hängenden Gewichten. Man bestimmt
z. B. zu einem Gewicht der Serie 4 das gleich massige Gewicht der Serie
5 oder 6, indem man die Masse nach dem Widerstand, den sie dem Stoß
bietet, beurteilt und die Größe berücksichtigt. Oder man sucht zu einem
Gewicht der Serie 4, das nicht die Dichte 1 besitzt, das gleiche absolute
Gewicht aus Serie 8.
G e wi cht svariator nach Gallus-Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Während Nr.«.
bei den Gewichtserien eine Reihe diskreter Gewichte vorhanden ist, gibt
dieser Apparat, wie jeder „Variator", die Möglich-
keit, innerhalb gewisser Grenzen jeden Reiz, jedes
Gewicht herzustellen, das Gewicht also kontinuierlich
zu variieren. Der Apparat besteht aus einem ein-
armigen Hebel, der an dem freien Ende (in der Figur links) gehoben wird. Die
Variation des Gewichtes wird dadurch erreicht, daß man ein Reitergewicht auf
dem Hebel hin- und herschiebt. Die mm-Teilung gibt die Gewichte an; sie.
gehen von 550 — 1000 g, jeder Millimeter bedeutet 1 g. Am linken Ende
des Hebels sieht man ein zweites, festes Gewicht. An diesem wie am
Reitergewicht können Zusatzgewichte angeschraubt werden, falls man eine
kontinuierliche Reihe schwererer Gewichte herstellen will. Der Hebel wird
mittels eines bügelartigen Griffes gehoben.
Man kann mit dem Apparat vor allem bequem die Unterschiedsempfind-
lichkeit bestimmen. Ferner kann man das absolute Gewicht schätzen oder
ein bestimmtes absolutes Gewicht herstellen lassen, ebenso Unterschiede
von Gewichten schätzen oder einstellen lassen.
Universalgewichtsvariator nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Mr. i».
Das vorige Instrument ist durch kleine Zusätze und Änderungen so erweitert,
*) Auf dieses Problem hat mich Herr Friedländer hingewiesen.
198 Hans Rupp
daß es auch für eine Reihe anderer Versuche verwertbar ist. Der Griff
ist vergrößert, so daß man den Arm in den Bügel stecken kann. Wie
schwer erscheint dasselbe Gewicht, wenn es auf verschiedenen Stellen des
Armes hängt? -Wie weit wird der Hebel in Rücksicht gezogen? Da der
Griff größer ist, kann man auch mit beiden Händen zugleich heben. Erscheint
das Gewicht leichter? Ein wie großes Gewicht erscheint gleich schwer wie
ein mit einer Hand gehobenes?
Der Bügel läßt sich entfernen und an seine Stelle eine gleich schwere
Gurtschlinge einhängen, die für manche Zwecke bequemer ist als der starre
Griff.
Der Apparat sollte auch für Zug z. B. nach unten verwertbar sein. Zu dem
Zwecke wird ein Stab mit einer sehr leicht spielenden Rolle angeschraubt,
der Bügel abgenommen und durch eine Schnur ersetzt, die erst nach oben
über die Rolle, dann nach unten geführt wird; an dem unteren Ende dieser
Schnur wird entweder der Bügel oder der Gurt befestigt.
Wie schwer erscheint ein Gewicht, wenn es in dieser Weise gezogen wird,
gegenüber einem gehobenen Gewicht? Wird die Empfindung in das über
die Rolle gezogene Gewicht verlegt? Wie schwer erscheint das Gewicht,
wenn man mit verschiedenen Gliedern zieht, oder wenn der Zug an ver-
schiedenen Stellen desselben Gliedes, z. B. des Unterarmes ansetzt? — Zum
Vergleich des gehobenen und des gezogenen Gewichtes muß man sich zweier
gleicher Apparate bedienen.
Man kann von der Rolle aus auch seitlich in horizontaler Richtung ziehen
und den Gewichts- oder Masseneindruck beurteilen lassen.
Endlich sollte der Apparat auch zur Erzeugung von Druckreizen dienen.
Zu dem Zweck wird wieder der Bügel entfernt und durch einen nach unten
stehenden Stab ersetzt, an welchen verschiedene Endstücke angeschraubt
werden können. Diese Endstücke sind verschieden groß, aber selbstver-
ständlich alle gleich schwer. Man legt nun z. B. den Arm entweder passiv
unter das Endstück und senkt dieses mit konstanter Geschwindigkeit auf
den Arm herab. Oder man hält den Arm aktiv, aber ruhig und läßt wieder
das Gewicht herabsinken. Oder endlich man hebt mit dem Arm das
Gewicht empor, ähnlich wie beim Versuch mit dem Bügel oder dem Gurt.
Man kann so die Versuche mit passivem Druck oder mit aktiver Hebung
ausführen, beide unter Berücksichtigung der Größe der Druckfläche, und
mit den hier gegebenen größeren Gewichten.
Will man den Druck auf verschiedenen Stellen vergleichen, so ist es,
ähnlich wie oben, nötig, 2 gleiche Apparate zu verwenden.
Mit 2 Apparaten kann man auch Gewichte simultan heben oder drücken
lassen und die Unterschiedsempfindlichkeit unter dieser Bedingung prüfen.
Nr.ii. Serie verschieden dicker Papiere und Bleche der Größe 3x5 cm
nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Jedes Blech und Papier ist doppelt
vorhanden. Man klemmt sie an der schmalen Kante ein (z. B. in einem
Buch) und sucht durch Drücken die Steifheit zu bestimmen und zu ver-
gleichen. Wie feine Unterschiede werden richtig und sicher erkannt? Man
kann sie auch verschieden weit vorstehen lassen, ein Blech z. B. 2 cm, ein
zweites, gleiches Blech 4 cm.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 199
Erscheinen sie ungefähr gleich steif? Wird also die Länge des vorstehenden
Stückes berücksichtigt?
Serie verschieden dicker Papiere und Bleche der Größe 1x5 Nr.i&.
und 5x5 cm nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die Streifen haben
also die gleiche Länge wie die der Serie 14, aber die einen sind wesentlich
schmäler (1 cm), die andern wesentlich breiter (5 cm). Jeder Streifen ist
nur Imal vorhanden. Mit dieser Serie und der Serie 14 kann man prüfen,
ob die Breite der Fläche bei der Schätzung der Steifheit berücksichtigt
wird. Man sucht zu einem Streifen irgendeiner der 3 Serien die gleichen
Streifen aus den beiden anderen Serien.
Serie von Gewichten mit verschieden verteilter Masse, nach Rupp ni.j«.
(Mechaniker Marx, Berlin). In Röhren von gleicher Größe sind eine Reihe
von Kugeln eingelegt, aber so, daß die Masse in den Röhren verschieden
verteilt ist, bald mehr an einem Ende, bald in der Mitte, bald an beiden Enden,
bald gleichmäßig u. s. f. Das Gesamtgewicht ist überall das gleiche. Durch
Verwendung verschieden schwerer Kugeln läßt sich dies leicht erreichen.
Man soll entscheiden, wie in jedem Falle die Masse verteilt ist. Ist auch
das Kind dazu imstande?
Y. Gruppe: Banmwahrnehmangen anfier denen des Anges.
Nicht alle Sinne sind für die Erkennung der äußeren Räumlichkeit von
Bedeutung. Es kommen in Betracht: das Ohr, der äußere und innere Tast-
sinn, Gelenkempfindungen und der statische Sinn. Ob Sehnen- und nament-
lich Muskelempfindungen nennenswerten Einfluß haben, ist zweifelhaft.
Für die Raumwahrnehmung des Gehörs sind vorläufig keine Apparate vor-
gesehen. Es lohnt sich kaum für die Pädagogik, schallperimetrische Unter-
suchungen anzustellen. Man wird sich zum Zwecke der Demonstration damit
begnügen, z. B. mittels zweier Geldstücke an verschiedenen Stellen um den
Kopf herum kurze Geräusche zu erzeugen und jedesmal die Stelle von dem
Beobachter, der natürlich die Augen geschlossen hält, angeben zu lassen. Es
ergibt sich dabei, daß in der Medianebene des Kopfes oft ganz falsch und un-
sicher, in den seitlichen Partien leidlich gut lokalisiert wird.
In einem interessanten Zusammenhang stehen Entfernung und Intensi-
tät. Das schwächere Geräusch wird häufig in größere Entfernung verlegt.
Umgekehrt scheint aber das Geräusch einer Tonquelle, die man in größerer Ferne
sieht, nicht so schwach zu sein, wie es tatsächlich an das Ohr dringt. Es
wird vielmehr infolge der größeren Entfernung besser ausgenützt, wird stärker
gehört, analog wie ein ferner Gegenstand größer gesehen wird, als es seinem
Netzhautbild entspricht. Leider sind die Versuche ziemlich schwierig aus-
zuführen, so daß von ihnen hier abgesehen werden muß.^)
*) Über diese Erscheinung, über die ich hier das erste Mal berichte, ist im
Psycholog. Institut der Universität Berlin eine Arbeit eben zum Abschluß ge-
bracht. Sie wird in der Zeitschrift f. Psychologie erscheinen.
200 Hans Rupp
A. Tastsinn.
Sehr dankenswert und auch von praktischem Interesse ist die genauere
Untersuchung der Raumwahrnehmungen des Tastsinnes und der mit ihm zu-
sammenwirkenden Gelenkempfindungen. Ich bespreche zuerst den Tastsinn.
Die bekannteste Untersuchung ist die Bestimmung der Raumschwelle.
Wie weit müssen 2 Berührungen voneinander entfernt sein, damit man die
Zweiheit merkt? Wie weit in der Längs-, wie weit in der Querrichtung eines
Gliedes? Wie weit an verschiedenen Körperstellen? Leider ist die Unter-
suchung fast immer bei gleichzeitigem Aufsetzen von 2 Spitzen ausgeführt
worden. Die Sukzessivschwelle ist mindestens ebenso wertvoll; sie liefert
feinere Schwellen und zeigt uns die äußerste Grenze unseres Unterscheidungs-
vermögens. Bei der Simultanschwelle spielt eine Art Irradiation und Ver-
schmelzung der 2 Eindrücke mit hinein, welche die Schwelle vergrößert.
Diese Irradiation und Verschmelzung ist freilich selbst wieder von Interesse.
Prüfen wir beide Schwellen, so können wir sowohl die Unterscheidung wie
auch die Irradiation feststellen.
Auf 2 Hautstellen, deren Schwellen verschieden sind, sind auch die über-
schwelligen Werte verschieden. Sie scheinen zunächst sogar in gleichem Ver-
hältnisse verschieden zu sein. Zwei solche Taststrecken erscheinen also dann
gleich, wenn sie gleichviel Schwellen enthalten — ein für die Theorie des
räumlichen Sehens fundamentaler Satz. Der Satz gilt aber nicht uneinge-
schränkt. Je größer die Strecken und je mehr Gesichtsempfindungen der
berührten Körperteile hinzutreten, desto mehr nähert sich die scheinbare
Größe der Wirklichkeit. Wir sehen daran deutlich den Einfluß der Erfahrung,
welche die ursprünglichen Empfindungen korrigiert. Tritt diese Korrektur
auch beim Kinde auf? und wie nahe kommt die Modifikation den objektiven
Verhältnissen? Sind manche Stellen der Haut besser korrigiert? — Alle
diese Fragen sind bis jetzt nur an Erwachsenen und mit simultaner Berührimg
untersucht. Interessant wäre es auch. Blinde daraufhin zu prüfen.
Bei passiver Haltung des Gliedes ist wegen der großen Simultanschwelle
das Erkennen von Formen sehr mangelhaft und hat auch wenig praktisches
Interesse. Instinktiv geht man immer zum aktiven Tasten über. Dagegen
scheinen die Eindrücke der Spitzigkeit und Stumpfheit, von scharfen und
spitzen Schneiden der Beachtung wert. Sie gründen sich wohl auf die Größe
und Form der Berührungsfläche. Sofern freilich die spitzeren und schärferen
Gegenstände auch Schmerz erzeugen, ist der Eindruck nicht mehr ein rein
räumlicher.
Neben der Erkennung von Größen und Formen gehört zum Tastsinn noch das
Erkennen der Lage eines berührten Punktes auf der Haut, ob er
z. B. an diesem oder jenem Finger, auf der Dorsal- oder Volarseite liegt usw.
Die Lage des Fingers selbst muß dabei außer Betracht bleiben; nur die Lage
auf der Haut, die ,, relative Lokalisation", gehört dem Tastsinn an.
Verbunden mit diesen Leistungen des Tastsinns tritt eine Objektivierung
des Eindruckes auf. Ebenso wie die Härte, das Gewicht usw. in den Gegen-
stand verlegt wird als seine Eigenschaft, so verlegen wir auch die. räumlichen
Beziehungen, die Form, Größe, Spitzigkeit usw. in den Gegenstand, nehmen
sie meist unmittelbar an ihm, nicht an unserem Körper wahr.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 201
Ich bespreche nun einige einfache Apparate, deren man sich zu den ge-
samten Untersuchungen bedienen kann.
Ästhesiometer nach Spearman (Mechaniker Köhler, Leipzig). Das In- Nt.i.
strument ist so bekannt und verbreitet, daß eine Beschreibung kaum nötig
ist. Die nach unten stehenden Spitzen dienen für Versuche mit gleichzeitiger
Berührung, die schräge für Versuche, wo jedesmal nur
eine Spitze aufgesetzt wird. Das Instrument ist aus
Aluminium gearbeitet, sehr leicht und handlich.
Man kann die Simultan- und Sukzessivschwelle be- "^
stimmen, kann überschwellige Distanzen vergleichen lassen, namentlich solche
auf verschiedenen Körperstellen.
Man achte auf gleich schnelles und gleich starkes Aufsetzen der Spitzen,
bei simultaner Berührung vor allem auf genaue Gleichzeitigkeit.
Serie von Spitzen und Serie von Schneiden nach Rupp (Mechaniker sr.t.
Marx, Berlin). Sie werden auf die Haut aufgesetzt und dabei nach ihrer
Spitzigkeit bezw. Schärfe beurteilt. Man kann sie paarweise vergleichen oder
sie ordnen lassen.
Serie von Kanten verschiedener Länge. (Mechaniker Marx, Berlin). Nr.«.
Pappstreifen, 2 cm breit, mit den Längen 1 — 5 cm, in mm abgestuft. Sie
werden init der Längskante auf die Haut aufgesetzt und ihrer Länge nach
b3urteilt. Pappstreifen haben den Vorzug, daß sie keine störerden Kälte-
empfindungen erzeugen wie Matallstreifen.
Man kann die Unterschiedsempfindlichkeit für Linien bestimmen und kann
Linien auf verschiedenen Körperstellen vergleichen. Auch die absolute Schät-
zung und die Vergleichung mit gesehenen Strecken haben Interesse.
B. Gelenkempfindungen.
Gelenk-, vielleicht auch Sshnenempfindungen zeigen uns die Lage und
die Bewegungen unserer Glieder an, auch wenn wir die Augen geschlossen
halten. Mit der Erkennung der Lage b^i vollkommen ruhenden Gliedern ist es
vielfach schlecht bestellt; aber wir brauchen nur das Glied ein wenig zu
bewegen, so tritt die Lage deutlich hervor.
Ich sagte vom Tastsinn, daß er nur die Lage eines berührten Punktes
auf der Haut, auf dem Körper vermitteln könnte. Treten Gelenkempfin-
dungen hinzu, so kann auch die Lage der Haut, des Körperteiles berück-
sichtigt werden. Die Lokalisation wird also vollständiger. War sie früher
nur relativ, so kann man sie jetzt als absolut bezeichnen. In demselben
Sinne war beim Auge von absoluter und relativer Lokalisation die Rede.
Diese absolute Lokalisation der B3rührung ermöglicht uns, durch Umfassen
oder Umfahren die Form, Größe und Lage eines Gegenstandes zu
erkennen. In dem populären Ausdruck ,, Tastsinn" wird auch diese absolute
Lokalisation, das aktive Betasten, mitgemeint.
Zu dieser Erkennung ist nicht nötig, daß wir uns die Lage der beteiligten
Glieder vorstellen. Wir haben vielfach keine Ahnung, welche Finger und
welche Stellen derselben wir in jedem Augenblick benützen; ganz unmittelbar
gehen wir auf das Ziel los, nehmen direkt den Gegenstand in seinen räum-
202 Hans Rupp
liehen Eigenscliaften wahr. Das gilt aueh, wenn wir mit einem Stäbchen
betasten.
Wie genau sind die Raum Wahrnehmungen, die durch Hinzutreten der Gelenk-
empfindungen entstehen?
Zunächst fragen wir nach der Schwelle. Welches ist die kleinste Bewegung,
die wir überhaupt merken können? Wir denken uns dabei ein Glied sehr
vorsichtig durch einen Gehilfen bewegt. (Auf die kleinste aktive Bewegung
komme ich später zu sprechen. Bei ihr spielen motorische Fähigkeiten hinein,
nicht bloß die Bewegungsempfindungen.) Ähnlich fragen wir nach der Unter-
schiedsempfindlichkeit für Lagen. Wie genau können wir die Lage eines
Gliedes wiederholen? wie feine Abweichungen merken wir?
Wie genau können wir betastete Strecken, Flächen, Körper vergleichen, in
Größe und Form? Wie genau erkennen wir Verhältnisse? Haben wir uns
normale Größen, Maße eingeprägt? Erkennen wir auch die absolute Lage,
ohne hinzusehen, richtig? Können wir z. B. einen Stab genau vertikal halten
oder einen drehbaren Stab so einstellen, daß er genau vertikal steht ? Trifft
es das Kind? Die Fragen, die bei dem Gesichtssinn aufgeworfen worden sind,
kehren hier wieder.
Wir können einen Gegenstand, z. B. einen Stab, in verschiedener Weise
betasten: Wir fahren mit einem Finger an ihm entlang, wir umspannen ihn
mit Zeigefinger und Daumen usw. In jedem Fall sind andere Glieder und
Gelenke beteiligt. Bei welcher Art erkennen wir die Länge richtiger? Gibt
es eine natürliche Art des Betastens? Wie verhält sich das Kind?
Auf einen interessanten Fall von Ausnützung hat schon E. H. Weber hin-
gewiesen. Wenn man eine Strecke einmal mit dem Finger abtastet, einmal
mit einem Stab, indem man jedesmal z. B. den ganzen Unterarm im Ell-
bogengelenk bewegt, so ist im zweiten Fall eine kleinere Exkursion auszu-
führen, um so kleiner, je länger das Stäbchen ist. Ist das Stäbchen z. B.
so lang wie Unterarm und Hand, so ist ungefähr die halbe Exkursion nötig.
Der Erwachsene hat aber nicht den Eindruck einer halb so großen Strecke,
vielmehr wird die Exkursion, die Gelenkempfindung besser ausgenützt. Das
ist staunenswert, da wir relativ selten mit Stäben betasten. Wie groß ist
die Ausnützung? Kommen wir den objektiven Verhältnissen nahe? Zeigt
sich die Ausnützung schon beim Kinde? Ist sie auch beim Blinden ent-
wickelt? Das Problem ist ganz analog dem der Ausnützung des Gesichts-
winkels bei verschiedener Entfernung.
Ich bespreche die Apparate. Es lassen sich eine Reihe früher bespro-
chener Apparate verwenden: Die Kantenserie Nr. 4, aus den Apparaten über
Raum Wahrnehmung der Augen (Gruppe II) die Stäbchenserie 7a, die
Scheibchenserie 21, die Zylinder- und Streifenserie 31, endlich zur Ver-
gleichung und absoluten Beurteilung von Neigungen der Neigungsapparat 37.
lir. 4. Serie verschieden dicker Drähte nach Rupp (Mechaniker Marx,
Bariin). Die Dicke soll durch bloßes Betasten beurteilt werden. Man läßt
die Drähte paarweise vergleichen oder man läßt sie ordnen.
Kt.5. Rechteckserie zur Bestimmung des scheinbaren Quadrates (Me-
chaniker Marx, Berlin). Rechtecke aus Karton oder Blech. Die Grundlinie
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik, 203
ist immer 3 cm. Die Höhen gehen von 2 — -1 cm, in mm abgestuft. Man
soll das scheinbare Quadrat durch Betasten herausfinden.
Prismenserie zur Bestimmung des scheinbaren Würfels (Mecha- Nr.«.
niker Marx, Berlin). Die Prismen haben den Querschnitt von 3 cm im Qua-
drat und die Höhen von 2 — 4 cm, in mm abgestuft. Man soll den schein-
baren Würfel durch Betasten herausfinden.
Fühlstrecken-Apparat^ Modell I nach Rupp (Mechaniker Marx, Bariin). Nr. 7.
Auf einem mit Millimeterteilung versehenen Lineal sind 2 Reiter zu ver-
fohieban. Die durch sie bagrenzte Distanz
St S2 wird batastet und baurteilt. Man kann j-x-^^^::^^^!»
Strecken sukzessiv vergleichen, sie absolut ^'<!!^!^^^^^^^^^^^
schätzen lassen, oder zu einer bstasteten (-„^.„"^^ü^^^^^^^^^
Strecke nachher bei offenen Augen die gleich- J^^^^^^"^
große, gesehene Strecke einstellen lassen.
Ferner sind dem Apparat einige Stäbchen verschiedener Länge baigegeben,
mit denen man die Web. r, chen Stäbchen versuche quantitativ durchführen kann.
Fühlstreckenapparat, Modell II, nach Rupp (Mechaniker Marx, Ber- Nr.8.
lin). Die zu beurteilenden Distanzen werden hier durch kleine Höcker (Knöpfe)
gebildet, die auf dem Lineal zu verschieben sind. Der Apparat ist ährlich
dem einfachen Perlendistanzvariator in Gruppe II, Nr. 14; nur das mecha-
nische Prinzip mußte hier anders gewählt werden.
Man kann mehrere Knöpfe verwenden und die beiden zu vergleichenden
Strecken nebeneinander auftragen, eine Strecke halbieren, dreiteilen lassen
usw., eine ausgefüllte Strecke mit einer leeren vergleichen, ein Verhältnis in
größere oder kleinere Dimension übertragen lassen.
Bewegungsmesser nach Goldscheider (Mechaniker öhmke, Berlin; Mecha- Nr.».
niker Spindler und Hoyer, Göttingen). Er dient für die oben besprochene
Bestimmung der Bewegungsschwelle bei passiver Bewegung eines Gliedes.
Ein mit Leder überzogenes Brettchen wird an das Glied fest angelegt. Von
dem Brettchen hängt ein Pendel frei herab. Eine Kreisteilung, an der das
Pendel spielt, wird so eingestellt, daß das Pendel zunächst auf 0 steht. Aus
dieser Lage heraus bewegt man vorsichtig das Glied so lange, bis die Be-
wegung bemerkt wird. Das Pendel zeigt in Graden die Größe der Bewegung
an. Der Apparat kann sowohl für Biegung und Streckung, wie auch für
Drehung eines Gliedes Xferwendet werden.
C. Statischer Sinn.
Im Ohrlabyrinth befinden sich neben der Schnecke die Bogengänge und die
Otolithen. Sie geben uns Nachricht über jede Beschleunigung oder Ver-
zögerung einer Bewegung des Kopfes und damit auch des ganzen Körpers;
vmd zwar sowohl einer drehenden Bewegung wie beim Tanzen, im Karussel,
als auch einer Progressivbewegung wie in der Bahn, im Fahrstuhl, im Schiff.
Dauert die Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit an, ist also die Beschleu-
nigung oder Verzögerung gleich Null, so hört der Reiz auf, wir spüren keine
204 Hans Rupp
Bewegung mehr. Bei stärkerer Verzögerung oder beim Anhalten der Bswegung
tritt einige Sskunden der Eindruck einer Gegenbewegung auf, ein Art negatives
Nachbild. Von diesen Erscheinungen kann man sich leicht überzeugen: für
Progressivbewegungen auf der Bahn oder im Fahrstuhl; für Drehbewegung
mittels eines Drehstuhles oder noch einfacher dadurch, daß man sich ein
paar Mal um die Längsachse dreht und dann plötzlich anhält. Die Ver-
suche sind bei geschlossenen Augen auszuführen. Sehr instruktiv ist fol-
gender einfacher Versuch: Wenn man z. B. beim plötzlichen Anhalten den
Kopf neigt, so ändert sich mit der Kopflage der Sinn der scheinbaren nega-
tiven Nachbewegung. Der Versuch beweist, daß die Nachempfindung im
Kopf erzeugt wird.
Der statische Sinn soll uns auch über die Lage Auskunft geben. "Wenn
Kopf oder Körper geneigt werden^ erkennen wir mehr oder weniger richtig
die Lage. Das brauchen wir, um uns z. B. beim Schwimmen unter Wasser
zu orientieren, vor allem aber, um das Gleichgewicht beim Gehen, Stehen,
Balanzieren zu halten. Ob die Erkennung der Lage durch dieselben Sinne
erfolgt wie die Erkennung der Bewegung, und ob sie ganz ohne Bswegung
erfolgen kann, ist wohl noch nicht endgültig entschieden. Jedenfalls be-
steht das Problem, ob und wie gut wir Lagen erkennen.
Es tritt eine bekannte Täuschung auf: die Neigung des Körpers wird
überschätzt; neigen wir den Körper allmählich bis zur Horizontalen, so
scheint er uns schon längst vorher in horizontaler Lage zu sein. An
jedem Reck kann man sich davon überzeugen. Zur genaueren Untersuchung
hat man Drehbretter konstruiert. Für unseren Zweck der Demonstration
reicht die folgende einfache Vorrichtung aus.
Apparat zur Bestimmung der schein-
baren Körperneigung nach Rupp (Mecha-
niker Marx, Berlin). An ein mit Tuch be-
spanntes Plättbrett ist unten ein Querbrett
zum Aufsetzen der Füße angeschraubt. Der
Baobachter stellt sich auf das Brett und
lehnt sich mit dem ganzen Körper flach an
dasselbe an. Dann neigen zwei Gshilfen all-
mählich des Brett, indem sie an der in der
Zeichnung zu sehenden Querleiste anfassen. Wann
hat der Bsobachter den Eindruck, horizontal zu
liegen, wann unter 450? Erkennt das Kind die
Neigung, kann es dieselbe zeigen? Ein kleines
Pendel mit einer Kreisteilung gibt die wirkliche Neigung an.
(Fortsetzung folgt.)
Literaturbericht 205
Literaturbericht.
Dr. phil. Ottmar Dittrich, Prof. an der Universität Leipzig. Individualismus, Univer-
salismus, Personalismus. Berlin 1917, Reuther & Reichard. 36 S. 1,00 M,
Dittrich hatte unter dem Eindrucke des Weltkrieges „Neue Reden an die deutsche Nation*
(Verlag Quelle & Meyer in Leipzig) den breiten Schichten unserer Gebildeten vorgelegt. Die
philosophischen Grundlagen dieses wirkungsvollen und mit viel Beifall aufgenommenen Buches
finden nunmehr in dem vorliegenden Schriftchen einß gelehrte Darstellung. Sie ist in so straffer,
fast leitsatzförmiger Fassung gehalten, daß eine Kennzeichnung des Inhaltes, dessen Gliederung im
Titel ersichtlich wird, zu wörtlicher Übernahme führen müßte.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Max Verworn, Prof. au der Universität Bonn, Die Fragenach den Grenzen der Erkenntnis.
Ein Vortrag. Zweite durchgesehene und verbesserte Auflage. Jena 1916. Fischer. 52 S. 1,20 M.
Verworn zergliedert den Begriff Erkenntnis und versucht alsdann nachzuweisen, wie vor
einer konditionalen Betrachtungsweise der Welt die beiden Grenzen verschwinden, die Du Bois-
Reymond dem menschlichen Erkennen als unüberschreitbar gezogen sieht. „Wenn uns die Er-
fahrung zeigt, daß alle Dinge in gesetzmäßigen Abhängigkeitsbeziehungen stehen, dann müssen
auch alle Dinge erkennbar sein." Es empfiehlt sich, die kleine Schrift zugleich mit einer anderen
des Verfassers: „Kausale und konditionale Weltanschauung" durchzudenken.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Dr. phiL et med. A. Pfeifer, Das menschliche Gehirn.. Nach seinem Aufbau und seinen
wesentlichen Leistungen gemeinverständlich dargestellt. Mit 83 Abbildungen im Text. 2, Aufl.
Leipzig 1917. Engelmann. 103 S. 4,20 M.
Die erste Auflage dieses vorbildlich ausgestatteten Buches, das wir seines Inhaltes und seiner
Darstellung wegen erneut dem Seminarunterricht empfehlen, hat bei den zuständigen Fachmännern,
so u. a. bei dem Frankfurter Gehirnanatomen Edinger, durchweg Beifall gefunden. So blieb
wenig zu verbessern. Die späteren Auflagen werden wohl manches aus neuen Erkenntnissen
und Befunden, die in den Kriegslazaretten gewonnen wurden, in angemessener Auswahl berück-
sichtigen, wie ja schon in der gegenwärtigen Gestalt bei der Beschreibung der Sehstörungen
bildliches Material von Schußverletzungen, die Inouye aus dem russisch-japanischen Kriege wissen-
schaftlich bearbeitete, Verwendung gefunden hat. Uns selbst und anderen Schulmännern hat
sich die Schrift in der unterrichtlichen Verwendung aufs Beste bewährt, wobei bemerkt sei, daß
der weitaus größte Teil des Lehrstoffes der Gehirnkunde nicht der Psychologie, sondern der
Anthropologie und vergleichenden Zoologie zu überweisen ist. Der Wunsch, dem sich von
psychologischer Seite auch Meumann anschloß, daß den gehirnanatomischen Unterlagen der
Sprache eine mit anschaulichem Material durchsetzte Darstellung gewidmet werde, hat die
zweite Auflage zureichend und recht geschickt erfüllt. Vielleicht, daß sich späterhin auch noch
ein besonderer Abschnitt über die Entwicklung des kindlichen Gehirns einfügen läßt.
Leipzig. Otto Scheibner.
Moede, Walther, Die Untersuchung und Übung des Gehirngeschädigten nach
experimentellen Methoden. Beiträge zur Kinderlorschung uud Heilerziehung, Heft 135.
Beyer & Söhne, Langensalza. 1916. 4,50 M.
Auf Moedes Schrift, die experimentelle Psychologie in den Dienst der Untersuchung und
Übung zu stellen, paßt Münsterbergs bedeutungsvolles Wort, das jedem Psychologen und Nicht-
psychologen stets vorschweben sollte: „Versagt die wissenschaftliche Psychologie ihre Hilfe, so
nimmt das Leben mit vorwissenschaltlichen Beobachtungen vorlieb. Da kann es doch unmöglich
den Interessen der Kultur entsprechen, wenn die Psychologie darauf besteht, ihr nichts zu geben,
weil sie ihr noch nicht alles geben kann." (Münsterberg, Psychotechnik p. 21.) Welche Wissen-
schaft vermöchte das ? Und es ist durchaus nicht so wenig, was die experimentelle Psychologie
heute schon zu bieten vermag. So gestattet sie eine genaue Feststellung des Status praesens
des Patienten und zwar nicht nur in qualitativer, sondern auch in quantitativer Hinsicht, ist also
auch von Bedeutung für die Diagnose des Arztes; sie ermöglicht nicht nur, sondern sie fordert
eine Übungstherapie geradezu, indem sie infolge ihrer quantitativen Feststellungen objektive
Anhaltspunkte über den Erfolg der eingeschlagenen Behandlung 0bt; sie erleichtert aus dem-
selben Grunde die Rentenfestsetzung, zumal die experimentellen Methoden auch einen Einblick
in die Arbeitsfähigkeit des Patienten erlauben, sie bietet insofern auch die beste Grundlage für
206 Literaturbericht
eine etwa notwendig werdende Berufsberatung. Im zweiten Kapitel entwickelt M. genauer die
Übungstherapie, ausgehend vom Wesen der Übung, die eine Eigenschaft alles Organischen ist,
also jeder Zelle zukommt, weshalb die Übungstherapie auch auf alle Bewußtseinsfunktionen aus-
gedehnt werden kann. Nachdem wir mit den Begriffen und Methoden der psychophysischen
Messung bekannt gemacht worden sind, führt uns M. die wichtigsten Apparate vor, deren er sich
bei der Untersuchung und Übung der einzelnen Sinnesgebiete und Bewußtseinsfunktionen bedient.
Die hauptsächlichsten sind handlich in einem Arbeitskasten zusammengestellt. Die angeführten
Apparate und Methoden dürften den Lesern dieser Zeitschrift bekannt sein. Neu schien mir,
wenigstens in der Art der Anwendung, sein Tremometer, eine Metallplatte mit Löchern und
Schlitzen von verschiedener Richtung und Weite, wodurch die Treffsicherheit und Zitterbewegungen
der Hand genau festgestellt werden können, da Platte und Stift in einen Stromkreis eingeschaltet
sind. — Es wäre vielleicht angebracht gewesen, wenn M. in die Darstellung dei Methoden aus
seinen gewiß reichen Erfahrungen einige Beispiele eingestreut hätte, die den Erfolg der Übung
illustrierten. Dennoch dürfte gerade in medizinischen Fachkreisen erhöhtes Interesse für die
Anwendung experimenteller Psychologie erregt worden sein.
Bonn. Oskar Kutzner.
Blüher, Hans, Die Intellektuellen und die Geistigen. Verlag H. Blüher, Tempelhof-
Berlin. 30 S. 1.— M.
Die Intellektuellen und die Geistigen unterscheiden sich in ihrer Stellung zur Idee. Während
die Geistigen dicht am Urerlebnis der Idee stehen bleiben und sich so die Ursprünglichkeit ge-
wahrt haben, stellen die Intellektuellen mehr die geistigen Handwerker dar und sind darum auch
nicht die eigentlichen Vertreter der Kultur, sondern nur die der bürgerlichen Bildung. Sie zer-
fallen in zwei Typen, den technologischen Typ und den Gelehrten. Auch die Philosophieprofessoren
vermögen die Situation nicht zu retten, denn sie haben die Philosophie zu dem gemacht, was
sie niemals sein kann, „harmlos" (14) und weiter oben heißt es: „zur Dienstmagd der Theologie
lind damit der herrschenden Klassen" (14). Auch bei den Geistigen bestehen zwei Typen: der sakrale
und der politische. Da B. überzeugt ist, daß sein Schrei nach Kultur von den älteren Jahrgängen
zwischen 30 und 70 nicht mehr gehört wird, wendet er sich an die Jugend. Hoffentlich geht
es ihm dabei nicht wie den Philosophieprofessoren, die, „da sie jahraus jahrein, Woche für Woche
mit halbernsten Seminarzöglingen beiderlei Geschlechts erkenntnistheoretische Quisquilien dreschen,
keine Geistigen sein können" (15). Die le'.zte Stelle möge zugleich eine Probe des Tons sein,
in dem der Autor sein Thema zu erörtern für notwendig erachtet.
Bonn. Oskar Kutzner.
Ladislaus Nagy, Ergebnisse einerUmfrage über die Auffassung des Kindes vom
Kriege. Autorisierte Übersetzung aus dem Ungarischen von K. G. Szidon. Sonderabdruck aus
Z. f. angewandte Psychologie Bd. XU, 1916. J. A. Barth, Leipzig. 63 S.
Die ungarische Gesellschaft für Kinderforschung veranstaltete im Herbst 1914 eine Unter-
suchung nach der Fragebogenmethode, deren Ziel es war, die Wirkung des Krieges auf das Kind
festzustellen. N. hat zwei Fragen daraus herausgegrffen, um an den Antworten die geistige imd
sittliche Entwicklung des Kindes zu verfolgen. Die beiden Fragen waren: 1) Was ist die Ur-
sache des Krieges? 2) Was gefiel am besten unter den Ereignissen des Krieges? Die 1661 Ant-
worten gestatteten eine Gruppierung in subjektiv-typische (charakterisiert durch Phantasie und
einfache Reproduktion der Gedanken Erwachsener), in objektiv-konkrete (Kind stützt sich auf
reales Wissen) und abstrakt-typische Antworten (Kind sucht nach inneren Motiven für den Aus-
bruch des Krieges); diese letzteren treten erst vom 12. LA. häufiger auf, gleichzeitig nimmt
die Gefühlsbetonung der Antworten ab. Da sich diese Erhebungen über das 8. — 19 LA. er-
streckten, konnten auch entwicklungspsychologisch interessante Zusammenhänge festgestellt werden.
So lassen die konkreten und abstrakten Geistesfunktionen im Kindes- und Jugendalter den mathe-
matischen Mittelwert der Antwort fast umgekehrt erscheinen (9. — 14. LA. objekt.-konkr. Typus
77,20/0, abstrakt. Typus 18%, 15.— 18. LA. 25«'/o und 750/o). Verfolgen wir speziell die Entfaltung
der abstrakten Geistesfunktion, so ergibt sich folgendes Bild : LA. 9 — 13 Periode der Vorbereitung,
LA. 13 — 15 Periode der rapiden Entwicklung, LA. 16 — 18 der Blütezeit, mit LA. 19 beginnt die
Denkweise wieder realer, konkreter zu werden. (14), — Für die Beantwortung der zweiten Frage
muß berücksichtigt werden, daß sie in die Zeit vom Nov. 1914 bis Anfang März 1915 fällt. Hat
der Krieg die Stimmung und Lebensbetätigung der Kinder herabgesetzt oder gesteigert? In 93''/o
der Antworten war eine erhebende Wirkung festzustellen. Die in Tabelle 4 wiedergegebene Kurve
zeigt ihre Höhepunkte im LA. 11—13, dann allmähliches, aber im Ganzen geringes Sinken von
100*'/o auf 80% im LA. 19. Was die sittliche Wirkung des Krieges anlangt, kommt N. zu dem
Literaturbericht 207
Ergebnis, daß der Krieg auf die sittlichen Gefühle der Kinder die größte Wirkung ausgeübt hat
und ihm darum ein wichtiger, sittenerziehlicher Wert zuzuschreiben ist (25). Es würde den Rahmen
eines Referates überschreiten, wollte man sich in eine ausführliche Kritik einlassen, die vielmehr
Gegenstand einer selbständigen Arbeit sein müßte; dennoch seien einige kritische Fragen gestattet.
1) Ob N. den Begriff sittlich nicht etwas zu weit gefaßt hat, 2) ob nicht bei der Beantwortung
obiger Frage über die sittliche Wirkung des Krieges die Dauer desselben sehr zu berücksichtigen
ist? Würden nicht heute nach drei Jahren Krieg die Antworten anders ausfallen? 3) ob über-
haupt gerade die Kriegszeit geeignet ist, als Grundlage zu einer Untersuchung über die geistige
und insbesonders sittliche Entwicklung des Kindes zu dienen ? Man könnte zunächst meinen, daß
doch im Krieg eine Verstärkung der Gefühle gesetzt wird, weshalb ihr Auftreten leichter zu er-
kennen, ihre Entwicklung besser zu verfolgen wäre. Mir scheint aber nicht nur eine Intensitäts-
steigenmg der Gefühle vorzuliegen, sondern auch eine qualitaüve Änderung namentlich bei dem
Suggestionen so zugänglichen Kinde; dann aber würden die Ergebnisse einer solchen Umfrage
einen beschränkteren Wert haben für die allgemeine Entwicklung des kindlichen Seelenlebens,
dafür einen umso höheren für den Einfluß des Krieges in massenpsychologischem Sinne. Es
sei daher aus dem Folgenden nur auf Einzelheiten hingewiesen. In den Antworten der Kinder
treten folgende Momente besonders hervor: Sieg, Kampflust, Eigentum im Recht, Ehre, Religion,
Vaterlandsliebe, altruistische Gefühle. Das Interesse für den Sieg nimmt bis LA. 12 unablässig
zu, dann ab. (Das scheint mir sehr abhängig zu sein von der jeweiligen strategischen Lage
und der Einsicht des Schülers in dieselbe, vergl. folgende Niederschrift eines 1 9jährigen : „Nach dem
Ausbruch des Krieges verkündeten wir mit lauter Stimme, daß wir mit den Schweinehirten sehr
bald fertig werden, und dann jagten sie unser Heer aus Serbien heraus." (24).) Die instinktiven
kriegerischen Gefühle (z. B. Freude an der Vernichtung des Feindes) nehmen fast
unablässig zu bis LA. 14, dann rasches Sinken, während die sekundären kriegerischen Gefühle
(Tapferkeit, Mut) bis LA. 18 fast regelmäßig ansteigen. Auch bei der Vaterlandsliebe unter-
scheidet N. eine primäre und sekundäre Komponente; die erste steigt rapide vom 8—11 LA., um
dann stufenweise zu fallen bis zum 17 LA, während die sekundäre Komponente bis zum LA. 13
nur wenig ausgeprägt ist, dann aber in zwei Etappen die primäre überflügelt. „Der wahre, reine
Altruismus beginnt, obschon auch nur instinktiv, erst im LA. 10—11" (51). Am Schlüsse der
Abhandlung stellt N. allgemeine Lehrsätze der sittlichen Entwicklung auf, von denen nur folgen-
des hervorgehoben werden soll: LA. 3—8 ist vom sittlichen Standpunlrte aus passiv; im 9. LA.
setzt eine erste aktive Periode ein bis zum LA. 12; sie ist die Zeit des sittlichen Instinkts, da-
rauf folgt LA. 13 — 14 eine Störung der vorher instinktiven, aber zuverlässigen Sittlichkeit durch
den Wandel der intellektuellen Kräfte und die Empfindungen der Pubertät, die dann LA. 15—16
von einer mehr passiven Periode abgelöst wird, an die sich vom LA. 17—19 wieder eine solche
gesteigerter Aktivität anschließt. — Die vorliegende Arbeit dürfte jedenfalls zur Nachprüfung des
so komplizierten, aber für den Pädagogen bedeutungsvollen Problems Anregung geben.
Bonn. Oskar Kutzner.
Dr. Willi Warstat, Oberlehrer in Altena -Ottensen, Die Schulzeitschrift
und ihre Bedeutung für Erziehung, Unterricht und Jugendkunde.
Heft 13 der Säemann-Schriften für Erziehung und Unterricht. Leipzig 1915.
Teubner. 95 S. 2,40 M.
Schülerzeitschriften, besonders die geheimen, sind ergiebige Fundgruben für
den Jugendkundler. So ist z. B. der sich so jugendlich, allzujugendlich ge-
bärdende „Anfang«, der im Schatten Wynekens wucherte, ein höchst begehrens-
wertes und gesuchtes Stück für jugendkundliche Sammlungen. Warstat aber
geht in seiner Arbeit über die Schülerzeitschrift nicht auf psychologische Aus-
beute aus, wiewohl er zwischendurch und in einem kurzen besonderen Ab-
schnitte einige Funde vorzeigt. Er hält vielmehr eine pädagogische Einstellung
fest und verfolgt die Absicht, den Lehrern die Schülerzeitschrift in ihrem Werte
für den Unterricht und das gesamte Bildungsleben der Schule darzustellen und
zu empfehlen. Er selbst gibt als „Lehrerberater" die Monatshefte des Altonaer
Reform-Realgymnasiums heraus, deren Schriftleitung aus den Schülern der An-
stalt besteht, und dieser Erfahrungsbereich gibt seinen Ausführungen über die
Schulzeitschrift im Dienste der Gemeinschaftserziehung, in ihrem Verhältnis zur
Schulkritik, in ihrer Unterstützung der Unterrichtsvertiefung, in ihrer Geschäfts-
führung und Einrichtung u. s. f. einen sicheren Boden. Am meisten gewinnt die
Darstellung, wie die Schulzeitschrift dienen kann, die heute so eifrig erörterte
208 Literaturbericht
freiere Gestaltung des Unterrichts zu unterstützen. Es sei hier ergänzt, daß da-
bei auch daran zu denken wäre, in der Schülerzeitschrift einen Ort für die Ver-
einigung der arbeitsteilig in der Klasse behandelten Stoffe zu suchen.
In Amerika und England soll es kaum eine höhere Anstalt geben, an der
nicht eine Schul- oder Schülerzeitschrift besteht. Bei uns im Lande der Schulen
ist sie bisher etwas Ungewöhnliches. Und uns will scheinen, als sei sie dem
Geiste deutschen Schul- und Schülerlebens innerlich fremd. In den letzten Jahr-
zehnten war es nachgerade bedenklich geworden, wie überseeisches Erziehungs-
gut bei uns fast massenhaft eingeführt wurde. Der Krieg hat uns auch hier
Besinnung gegeben. Und wenn vielleicht die Schulzeitschrift sich weit harmloser
ausnimmt als Koedukation, Schülerselbstverwaltung u. s. f., so will doch sehr
ernstlich geprüft und erprobt sein, ob wir ihrer für die Dienste, zu denen sie sich
empfiehlt, in unserer alten deutschen Schulkultur auch wirklich bedürfen.
Leipzig. Otto Scheibner.
E Meirowsky, Geschlechtsleben der Jugend, Schule und Elternhaus.
4. Auflage. Leipzig 1915. J. A. Barth. 80 S. 0,90 M. (Flugschriften der
Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, Heft 12.)
Die Schrift enthält sehr reiches, für alle an der Erziehung Beteiligten im
hohen Grade beachtenswertes Material über das Geschlechtsleben der Jugend,
ferner wohldurchdachte Ratschläge, die durch das Beobachtungsmaterial nahe-
gelegt werden. Beigegeben ist ein „Merkblatt für Eltern" („Wie erzieht man seine
Kinder zu einem gesunden und sittlichen Geschlechtsleben?")
Gießen. August Messer.
Dr. P. Brohmer, Seminarlehrer in Eilenburg, Sexuelle Erziehung im Lehrerseminar,
Schriften des Deutschen Ausschusses für den math. und naturw. Unterricht. III. Folge. Heft 3.
Mit 11 Abb. Leipzig 1917. Teubner. 28 S. 0,80 M.
Nach Darlegung des Grundsätzlichen über die Aufnahme der Sexualpädagogik in die Büdungs-
arbeit der Lehrerseminare legt Brohmer — bekannt als der Weiterbildner der Schmeilschen
naturwissenschaftlichen Lehrbücher — einen bis zur unterrichtlichen Thematisierung ausgear-
beiteten Plan vor, der zeigt, wie in den biologischen Belehrungen allüberall vorbereitende Arbeit
geleistet werden kann für die dann unmittelbar den schwierigen Stoff ergreifenden Bestrebungen
in verschiedenen anderen Fächern: so in der Menschenkunde, in dem Deutschen, nicht zuletzt
in der Psychologie, der Unterrichts- und Erziehungslehre und den Besprechungen, die im An-
schluß an die Tätigkeit in der Übungsschule erfolgen. Daß dabei die sexualpädagogische Ein-
wirkung mehr als anderes unterrichtliche und erziehliche Tun auf die Persönlichkeit des Lehrers
gestellt bleiben muß, wird von Brohmer nicht verkannt. Seine praktischen Vorschläge ver-
dienen, daß sie von den Fachleuten des Seminars durchdacht und erprobt werden.
Leipzig. Otto Scheibner.
Dr. med. Martin C ho tzen,DieN Ol wendigkeit ein er häuslichen sittlichen Erziehung,
Breslau 1914. Koebner'sche Buchhandlung. 23 S. 0,80 M.
Die kleine Schrift, die auf einen Vortrag vor dem Ausschuß des Berliner Vereins für Fragen
der Volkssittllchkeit zurückgeht, beschränkt sich auf die sexualpädagogische Frage, ohne aber
zu dem viel behandelten und mißhandelten Thema, das vor einem Jahrzehnt geradezu pädagogische
Mode war, wesentlich Neues sagen zu können. Geleitet von der Anschauung, daß die erziehliche
Einwirkung in früher Jugend schon einsetzen müsse und durch den ganzen Werdegang der Jugend-
lichen hindurch in einer der jeweiligen Entwicklungsstufe sich immer von neuem anpassenden
Form fortzuführen sei, ruft es vor allem das Haus, ohne aber die Schule entlasten zu wollen,
zu seinen Erzieherpflichten auf. Erforderlich erweist sich ihm eine Anleitung der Eltern. Als
gangbare Wege empfiehlt Ch. dazu die Einrichtung von Vortragsreihen für Väter und Mütter und
die Veranstaltung von Elternabenden durch die Schule, die hier das Wort dem Schularzt geben mag.
Chotzen hat sich seit langem in Wort und Schritt bemüht, in dem Sinne, wie es das kleine
Heft anregend darstellt, die häusliche Erziehung zu beeinflussen; er hat auch ein Elternmerkblalt,
,Wie erzieht man seine Kinder zu einem gesunden und sittlichen Geschlechtsleben?" heraus-
gegeben, das in großen Massen verbreitet ist. Genugsam bekannte Erscheinungen der Kriegszeit
dürften ihn und die Öffentlichkeit veranlassen, seinen Bestrebungen erhöhten Nachdruck zu geben,
Leipzig. OttoScheibner,
Druck von J. B, Hirschfeld (August Pries) in Leipzig.
über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen
Universitäten.
Gutachtliche Äußerungen zu der Pädagogischen Konferenz im Preußi-
schen Ministerium der geisthchen und Unterrichts- Angelegenheiten am
24. und 25. Mai 1917.
Erste Reihe.
Von
Dr, Erich Becher, o. Prof. d. Philos., Direktor des psychol. Instituts a. d. Univ. München.
Dr. Jonas Cohn, ao. Prof. d. Philos., beauftragt mit der Vertretung der Pädagogik a. d. Univ.
B'reiburg i. B.
Dr. Rudolf Lehmann, Prof. d. Philos. u. Pädag. a. d. Kaiser-Wilhelm-Akademie in Posen.
Dr. Paul Natorp, Geh. Reg.-Rat, o. Prof. d. Philos. u. Pädag., Direktor d. philos. Seminars
a. d. Univ. Marburg.
Dr. William Stern, Prof. d. Philos., Psychol. u. Pädag., Direktor des philos. Seminars und des
psychol. Laboratoriums am allgem. Vorlesungswesen in Hamburg.
Anhang: Die Leitsätze für die pädag. Konferenz im preußischen Ministerium, aufgestellt von
Geh. Regierungsrat Prof. D. Dr. Ernst Troeltsch in Berlin , von Prof. Dr. Julius Ziehen in Frank-
furt a. M., von Prof. Dr. Eduard Spranger in Leipzig.
Vorbemerkung.
Schon seit langem ist von Gelehrten und Erziehern dafür gekämpft worden,
daß die Pädagogik als selbständiges Forschungs- und Lehrgebiet an den Universi-
täten vertreten sein müsse; aber die Regierungen und Universitäten hatten bis vor
kurzem keine allzu große Neigung gezeigt, diesem Wunsche Folge zu leisten.
Bisher gibt es unseres Wissens in Deutschland nur vier etatsmäßige ordentliche
Professuren für Pädagogik, nämlich in Leipzig, München, Jena und Frankfurt
am Main; an einigen anderen Universitäten sind außerordentliche Professoren
der Philosophie beauftragt, sich, der Pädagogik besonders anzunehmen. Im
allgemeinen aber wird die Pädagogik nur als ein nicht eigens betontes Teil-
gebiet des Lehrauftrages für Philosophie angesehen, und es hängt ganz von
dem persönlichen Interesse des Professors ab, ob er den Vorlesungen und
Übungen zur Pädagogik eine eingehendere oder geringere Pflege widmet.
Nunmehr ist zu hoffen, daß eine Änderung dieses Zustandes in absehbarer
Zeit eintreten wird; denn das Kultusministerium des führenden Bundesstaats
hat durch Veranstaltung einer geschlossenen Tagung die Frage ins Rollen ge-
bracht. Der preußische Kultusminister halte für den 24. und 25. Mai 1917
zu einer „Pädagogischen Konferenz" eingeladen, an der 23 Herren teilnahmen.
Es waren dies : drei Universitätslehrer, die schon jetzt Professuren für Päda-
gogik inne haben (F. J. Schmidt- Berhn, Spranger-Leipzig, Ziehen-Frankfurt),
acht Philosophieprofessoren (Braun -Münster, Ettlinger- Münster, Frischeisen-
Köhler-Halle, Hönigswald- Breslau, H. Maier -Göttingen, Rehmke-Greifswald,
Troeltsch-Berhn, Vierkandt-Berlin), zwei Theologieprofessoren (Harnack-Berlin,
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 14
210 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
Mausbach-Münster), drei Schulräte (Borbein-Berhn, Siebourg-BerUn, Wasner-
Magdeburg), drei Gymnasialdirektoren (Ery thropel-Düsseldorf , Goldbeck-Berlin,
Schroeder-Charlottenburg), vier Oberlehrer (Kranz-Charlottenburg, Kuckhoff-
Essen, Litt-Köln, Poske-Berlin). Die vornehmlich psychologisch orientierte
Richtung der Pädagogik (Kinderpsychologie, Jugendkunde, experimentelle Päda-
gogik) war auf der Konferenz nicht vertreten.
Hauptreferenten waren die Herren Troeltsch und Ziehen, deren jeder für
die Besprechung eine Reihe von Thesen aufgestellt hatte; außerdem wurde
noch von Herrn Spranger eine Thesenfolge vorgelegt. Der Kultusminister und
der vortragende Rat im Kultusministerium Professor Becker nahmen an der
Besprechung teil. Ein Gesamtbericht ist vom Kultusministerium herausgegeben
worden unter dem Titel: „Pädagogische Konferenz im Ministerium der geist-
lichen und Unterrichtsangelegenheiten am 24. und 25. Mai 1917".
Bei der außerordentlichen Wichtigkeit der Frage erscheint es nun erforder-
lich, dem dankenswerten Vorgehen des preußischen Kultusministeriums weitere
öffentUche Besprechungen des Gegenstandes folgen zu lassen und insbesondere
jenen sachverständigen Persönlichkeiten, die auf der Konferenz nicht anwesend
waren, Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Wir erbaten daher von
einigen Herren gutachtliche Äußerungen, mit deren Abdruck wir heute be-
ginnen. Eine solche zwanglose Aussprache dürfte bewirken, daß gewisse
Grundgedanken der Konferenz durch allseitige Zustimmung gesichert werden,
daß andere, dort vielleicht zu kurz gekommene Gedankenreihen die gebührende
Hervorhebung finden, und daß durch Beibringung neuer Gesichtspunkte das
Bild ergänzt und vervollständigt wird. So wird hoffentlich der Boden vor-
bereitet, auf dem die akademische Pflege der Erziehungswissenschaft und die
berufliche Vorbereitung der Jugenderzieher zur vollen Entfaltung kommen kann.
Die Schriftleitung.
1. Ober Ordinariate ffir Pädagogik in den philosophischen Fakultäten.
Von Erich Becher.
Ein gedruckter Verhandlungsbericht gibt Auskunft über die „Päda-
gogische Konferenz im (preußischen) Ministerium der geistlichen und Unter-
richts-Angelegenheiten am 24. und 25. März 1917", auf der über Universitäts-
professuren für Pädagogik beraten wurde. „Die Sache marschiert", erklärte
der damalige preußische Kultusminister, und es wird dahin kommen, daß
jede Universität ihre Pädagogik-Professur hat (S. 27). Die Freude über
diese Aussicht und über die Förderung der Angelegenheit, die jene Kon-
ferenz gebracht hat, möge man sich nicht durch einige Einseitigkeiten und
Unstimmigkeiten trüben lassen, die bei den gehaltvollen Verhandlungen zu-
tage traten, umso weniger, als sie innerhalb der Versammlung alsbald be-
seitigt und ausgeglichen wurden. Im ganzen und in der Hauptsache herrschte
fast mehr Übereinstimmung, als man bei einer so wichtigen, schwierigen
und vielseitigen Frage erhoffen durfte.
Vor allem zeigten die Erwägungen, daß wissenschaftliche Auf-
gaben für die Pädagogik-Professuren in Fülle vorhanden sind. Noch
immer begegnet man bei Fakultätsberatungen dem seitsamen Einwand,
Pädagogik sei eine Kunst, jedoch keine Wissenschaft. Gewiß ist Erziehen
eine Kunst, eine hohe Kunst fürwahr; aber das schließt eine Wissenschaft
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 1. Becher 211
von der Erziehung keineswegs aus. Auch das Heilen ist ja eine Kunst, und
doch gibt es eine reiche, weitverzweigte, blühende medizinische Wissen-
schaft. Alle die großen Gebiete des geistigen, staatlichen, praktischen Lebens
finden ihre gründliche akademische Pflege; Religion, Kunst, Wissenschaft,
Staat, Heerwesen, Recht, Volkswirtschaft, Landwirtschaft, Technik, Handel
werden durch eigene Professuren, Fakultäten oder ganze Hochschulen ver-
treten ; das Erziehungswesen aber wird ganz stiefmütterlich in unserem Hoch-
schulbetriebe behandelt. Es gibt nur sehr wenige Ordinariate für Pädagogik,
beispielsweise nur ein einziges in Preußen. Unsere philosophischen Fakul-
täten haben z. B. ihre Ordinariate für Geschichte der bildenden Künste, und
das ist gut so; sollte da die reiche Geschichte der Erziehung und des
Schulwesens unwürdig einer Vertretung an diesen Fakultäten sein? Hier
liegen gewaltige echt wissenschaftliche Aufgaben, die um so dringender
sind, als sie bisher wenig bearbeitet wurden, eben weil es an Pädagogik-
Professuren fehlte.
Neben der Vergangenheit aber ist die Gegenwart zu erforschen.
Das gegenwärtige Recht, die gegenwärtige Verfassung und Verwaltung, die
gegenwärtige Wirtschaft werden an unseren Hochschulen sorgsam und ein-
dringend behandelt; verdient nicht auch unser Erziehungs- und Schul-
wesen solche Behandlung? Hier steht wiederum eine große wissenschaft-
liche Aufgabe vor uns, deren theoretische Berechtigung und praktische Be-
deutung nicht wohl bestritten werden können.
Die Geschichte der Erziehung und die allseitige Erforschung
unseres gegenwärtigen Bildungswesens repräsentieren pädagogische
Tatsachenwissenschaften. Die pädagogische Wissenschaft soll aber
nicht nur feststellen und erklären, was war und ist. Sie soll auch die be-
stehenden Erziehungsverhältnisse wissenschaftlich bewerten, soll Ideale
und Forderungen aufstellen, soll uns helfen, Verfehltes als solches zu
erkennen und durch Gutes zu ersetzen, das Gute aber durch das Bessere
zu verdrängen. Sie soll für die Erziehungsverhältnisse leisten, was die
wissenschaftliche Hygiene für die gesundheitlichen Verhältnisse leistet. In-
dessen die Aufgaben der pädagogischen Wissenschaft reichen hier weiter.
Während die Ziele des hygienischen Tuns im wesentlichen feststehen, sind
die der Erziehung vielfach strittig.
Es gilt alsf) zunächst, die Erziehungsziele wertend zu bestimmen.
Der Kampf um diese pädagogischen Wert- und Zielprobleme aber führt mit
Notwendigkeit auf die allgemeinen Fragen nach den letzten, höchsten Werten
und Zielen, nach der Rangordnung der Werte, kurz auf die Fragen der
philosophischen Werttheorie zurück. So ist das Grundproblem der werten-
den Pädagogik in der philosophischen Werttheorie zu verankern.
Diese fundamentale Bedeutung der Philosophie für die pädagogische Wissen-
schaft ist auf der preußischen Ministerialkonferenz in den Begrüßungsworten
des Ministers, dem Referat Troeltschs und den weiteren Beratungen mit
Recht sehr stark betont worden. Troeltsch fordert kulturphilosophische,
F. J. Schmidt ethische Grundlegung der Pädagogik. Diese Forderungen
decken sich mit den unsrigen wohl im wesentlichen.
Man kann nun freilich gegen die philosophische, werttheoretische Be-
gründung der Erziehungsziele den Einwand erheben, daß die in Frage
kommenden philosophischen Grundlagen selbst sehr unsicher und
14*
212 Übfr di>' künftige fflepe der Pädagogik an den deutschen Universitäten
umstritten seien. In der Tat handelt es sich hier um ebenso schwierige
wie wichtige Probleme; unser ganzes Kulturleben leidet schwer unter der
Unsicherheit und Zerfahrenheit der Wertungen und Zielsetzungen. Um so
wünschenswerter ist es, daß auch von der Pädagogik her ein Antrieb zur
Bearbeitung der Werttheorie sich ergibt. Die pädagogische Wissenschaft
kann einen starken Einschlag schwieriger, umstrittener philosophischer Pro-
bleme aufnehmen, ohne sich in unsichere Spekulation zu verflüchtigen,
da sie in ihren tatsachenwissenschaftlichen Teilen einen festen
empirischen Halt besitzt.
Zu den tatsachenwissenschaftlichen Grundlagen gehört nun auch die
Psychologie. Sie ist keineswegs nur für die Wissenschaft von den Er-
ziehungsmitteln, für die Methodik und die Didaktik wichtig, sondern auch
für die Theorie der Erziehungsziele unentbehrlich. Denn um zu wissen,
welche als wertvoll erkannten Ziele durch die Erziehung des Menschen ver-
wirklicht oder gefördert werden können, muß man den Menschen und ins-
besondere seine Seele kennen. Das wertvollste Ziel ist pädagogisch be-
deutungslos, wenn seine Verwirklichung oder Förderung durch Erziehung
psychologisch unmöglich ist.
Wiederum ist die Psychologie unentbehrlich, wenn es gilt, die Mittel
zur Erreichung der als wertvoll und psychologisch möglich erkannten Er-
ziehungsziele festzustellen. Man muß den Menschen, das Kind und seine
Seele kennen, um sie im Sinne der Erziehungsziele beeinflussen und leiten
zu können. Darum sind Psychologie und Jugendkunde sicherlich
unentbehrliche Grundlagen der pädagogischen Wissenschaft. Leider trat
auf der Berliner Konferenz zuweilen eine starke Abneigung gegen die
Psychologie als Grundlage der Pädagogik zutage. Erythropel meinte:
„Die auf Psychologie gegründete Pädagogik, wie sie bisher geübt wurde,
hat großes Unheil angerichtet, wenn sie jetzt aber in der Kulturphilosophie
verankert werden soll, so wird der Gewinn groß sein" (S. 19). Es war sehr
verdiensthch, daß Braun den „konstruierten Gegensatz zwischen Psycho-
logie und Kulturphilosophie als Hilfswissenschaften der Pädagogik"
(S. 21) ablehnte, daß Ettlinger sich ihm anschloß und auch den Wert der
wissenschaftlich betriebenen experimentellen Psychologie hervorhob, daß
Poske unter Hinweis auf Höflers Verdienste die Bedeutung der Psychologie
und Jiigendkunde betonte, daß Reinhardt Philosophie, Psychologie und
Jugendkunde nebeneinanderstellte. Bemerkenswert war, daß ein Schulmann,
Borbein, entgegen den Thesen Troeltschs ein Ausgehen von der Einzelseele,
nicht von der Kulturphilosophie, forderte.
Es besteht Gefahr, daß hier Einseitigkeiten, Neigungen und Abneigungen
einer großen Sache schaden. Die wissenschaftliche Pädagogik braucht gleich
notwendig Wertphilosophie und Psychologie. Wie würde Herbart,
der größte Vertreter der wissenschaftlichen Pädagogik, die Unstimmigkeiten
zwischen Philosophie und Psychologie, die völhge oder teilweise Verdrängung
der Psychologie aus der Pädagogik bekämpft haben! Je exakter die Er-
kenntnis der einschlägigen Tatsachen gestaltet werden kann, um so besser
für die Pädagogik. Darum sollte auch die experimentelle Methode
als Hilfsmittel pädagogischer Wissenschaft nicht verfemt werden. Gewiß
sind Übertreibungen und Mißgriffe in der experimentellen Pädagogik und
der pädagogischen Psychologie vorgekommen; aber fehlen sie etwa in der
GiitafhtlichB Äiißoriin<ren, Erste Rcil»"'. 1. Heclier 213
philosophischen Pädagogik, bei Plato z. B.? Sie fehlen keiner Wissen-
schaft! —
Nach alledem muß man die Frage: Ist Pädagogik als Wissenschaft
möglich? durchaus bejahen. Es ist Raum für eine solche Wissenschaft
vorhanden, es fehlt weder an Tatsachen, noch an Problemen. Es sind alle
Tatsachen des Erziehungs- und Schulwesens zu erforschen, von der „Mutter-
schule" bis zur Fachschule, von der Volksschule bis zur Hochschule, vom
Kindergarten bis zur Jugendbewegung. Zu den Tatsachen der Gegenwart
kommen die der Geschichte, zur pädagogischen Tatsachenwissenschaft kommt
die wertende, normierende pädagogische Theorie, die in philosophischer
Werttheorie verankert ist und sich auf Psychologie und Jugendkunde stützt,
auch Staats- und Gesellschaftslelire, Hygiene u. a. als Hilfswissenschaften
braucht.
Bei der Art unseres deutschen Forschungsbetriebes setzt das Gedeihen
einer Wissenschaft ihre Pflege an unseren Hochschulen voraus. Die
pädagogische Wissenschaft fügt sich, wie auch Troellsch darlegt, ungezwungen
ein in den Rahmen der philosophischen Fakultät. Sie hat enge Be-
ziehungen zur Philosophie, Psychologie und Kulturgeschichte. In den philo-
sophischen Fakultäten erhalten ja auch die zukünftigen Lehrer der höheren
Schulen ihre wissenschaftliche Ausbildung.
Das Gebiet der pädagogischen Wissenschaft ist sehr groß. Darum sind
eigene, im Hauptamt angestellte Professoren erforderhch. Nebenher
mögen, wie bisher, Philosophen, Philologen, Theologen und Schulmänner an
unseren Universitäten die Pädagogik fördern ; das bleibt dankenswert, genügt
aber allein nicht. Auch die im Hauptamt angestellten Pädagogik-Professoren
werden das gewaltige Gebiet nicht gleichmäßig beherrschen können; der
einzelne mag als Forscher hauptsächlich sich der philosophischen Grund-
legung, dem psychologischen Aufbau, der Schulorganisation, der Geschichte
widmen. Eine entsprechende Spezialisierung ergibt sich ja auch in den
anderen Fächern. Nur darf nicht eine Richtung, etwa die philosophische
oder die psychologische, einseitig gezüchtet und bei den Berufungen
bevorzugt werden.
Die Besetzungsfrage liegt nicht einfach, würde aber mit der Zeit
leichter werden. Mit den o. Professoren werden die Privatdozenten der
Pädagogik kommen. Diese müssen gründlichen Einblick in die Schulpraxis
gewinnen. Besuche in den verschiedenen Schulen (die nicht zu Revisionen
werden dürfen) werden den Universitätslehrern von Erythropel mit Recht
empfohlen. Für eine Anzahl von Lehrstühlen wären auch gegenwärtig ge-
eignete Gelehrte zu finden. Mit Troeltsch meinen wir: „Woher ressortmäßig
der Mann kommt, ist gleichgültig" (S. 24). Man sollte aber recht hohe
Ansprüche an seine wissenschaftlichen Qualitäten stellen und Heber
auf einen Lehrstuhl verzichten als ihn mit einem Herrn besetzen, der —
so bewährt er auf anderen Arbeitsfeldern sein mag — nicht ein bedeuten-
der Forscher ist. Man bedenke, daß es sich um eine werdende Wissen-
schaft handelt, die um ihre Anerkennung ringen und sich ihre eigene
Arbeitstradition schaffen muß.
Von der wissenschaftlichen Bedeutung ihrer Vertreter wird in erster Linie
die Stellung abhängen, die die Pädagogik an der Universität sich erwirbt.
Ein als Forscher und Dozent tüchtiger Pädagogik-Professor wird bald starken
214 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
Einfluß auf die Studenten, die künftigen Lehrer, ausüben, llir In-
teresse für wissenschaftlich vertiefte Pädagogik ist groß. Eine philosophisch,
werttheoretisch begründete Lehre von den Erziehungszielen aber kann die
Studenten „in Ideale und Ethik des Lehrerberufes einführen'*
(S. 22), worauf ich mit Becker sehr großes Gewicht legen möchte. Diese
Ideale fehlen den Studenten unserer Fakultät, auch den tüchtigen unter ihnen,
nur zu oft, und das ist verständlich, solange die Pädagogik auf der Uni-
versität hinter der Philologie, Mathematik usw. und hinter deren Forschungs-
idealen ganz zurücktritt. Daraus ergibt sich dann im späteren Berufe die
Überschätzung der Fachkenntnisse gegenüber der Erziehung; man nimmt
„von der Universität eine falsche Berufsethik mit ins Leben" (Becker S. 22).
Eine philosophisch vertiefte Pädagogik kann hier Wandel schaffen ; sie kann
die Ideale darbieten, die der zukünftige Lehrer in den empfänglichen Jahren
des Studiums in sich aufnehmen sollte. Dazu gehört aber, daß die päda-
gogische Wissenschaft vollwertig neben den anderen Universitätswissen-
schaften steht.
Was die Gestaltung ihresWirkens angeht, so sollte man den Pädagogik-
Professoren weitgehende Freiheit lassen. Eine werdende Wissenschaft
bedarf erst recht der akademischen Freiheit zu gedeihlicher Entfaltung. Die
Professoren müssen selbst herausfinden, wie sie ihre Vorlesungen, Seminare
oder Institute am besten einrichten und ausbauen. Verfehlte Versuche werden
auch hier nicht ausbleiben, aber sie werden verschwinden, und das Gute
wird sich durchsetzen.
2. Thesen über pädagogische Professuren.
Von Jonas Cohn.
1. Maßgebend für die Beurteilung der Notwendigkeit und der
Art pädagogischer Professuren ist das Bedürfnis der Studenten
als künftiger Lehrer.
Ernst Troeltsch geht bei seinen Thesen von der „Gesamtidee der philo-
sophischen Fakultät" aus. Gewiß soll sich das neue Glied der alten Gemein-
schaft einfügen, aber diese Gemeinschaft und ihrp „Idee" ist selbst geschicht-
licher Wandlung fähig, vielleicht bedürftig. Notwendig ist der Professor der
Erziehungslehre nicht für seine Kollegen, sondern für die Studierenden.
Wenn ich von deren Bedürfnissen rede, so meine ich nicht, was sie zum
Examen sich einprägen müssen, nicht einmal, was sie gerne und mit Hin-
gebung zu treiben pflegen, sondern was sie für ihren Beruf wirklich brauchen.
2. Der künftige Oberlehrer soll durch Wissenschaft erziehen.
Das kann er nur, wenn er die Wissenschaft, deren Anfangs-
gründe Gegenstand seines Unterrichts sind, durch Teilnahme an
ihrer forschenden Arbeit sich innerlich zu eigen gemacht hat.
Aber da nicht die Wissenschaft als solche, auch nicht ihre freie
Mitteilung sein Beruf ist, sondern Erziehung durch Wissenschaft,
so bedarf er einer Einstellung und Vorbereitung, die mit dem
Einleben in seine Wissenschaft noch nicht gegeben ist.
Ich berücksichtige nur den künftigen Oberlehrer, da die vielumstrittene
Frage, ob und in welchem Umfange Volksschullehrer zur Universität zu-
gelassen werden sollen, mit der Errichtung pädagogischer Professuren nicht
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe, 2. Cohn 215
notwendig zusammenhängt. Vielmehr sind solche Lehrstühle schon durch
das Bedürfnis künftiger Oberlehrer dringend genug gefordert. Der Volks-
schullehrer, der ja auf dem Seminar pädagogisch ausgebildet ist, wird auf
der Universität in erster Linie Vertiefung in eine besondere Wissenschaft
suchen, in zv^iter Linie volles wissenschaftliches Bewußtsein über den Zu-
sammenhang seiner mehr praktisch-pädagogischen Kenntnisse. Daß päda-
gogische Vorlesungen auch dem künftigen Verwaltungsbeamten, Jugendrichter,
Kinderarzt, Geistlichen nützlich sein können, werde nebenher erwähnt.
Die strenge einzelwissenschaftliche Ausbildung des Oberlehrers darf
nicht geschmälert werden, obwohl sie seinem Berufe hier und da besser
angepaßt werden könnte. Die pädagogische Belehrung wird daher nicht
übermäßig Kraft und Zeit beanspruchen dürfen. Sie wird das nicht brauchen,
da es sich wesentlich um eine richtige Einstellung des Geistes handelt. Der
eigentlich praktische (technische) Teil der Ausbildung bleibt der Schule selbst
(dem Seminar- und Probejahre) vorbehalten. Aber mit großem Unrecht
vernachlässigen wir auf den Universitäten die Theorie dieser Praxis. Wir
fordern von dem Kandidaten nach seinem Examen eine neue Einstellung,
auf die er in keiner Weise vorbereitet ist.
3. Erziehung ist ein Ganzes, dem sich wieder der wissen-
schaftliche Unterricht als Teil einzuordnen hat. Ein Ganzes
soll di« Erziehung jedes Einzelnen bilden, ebenso aber auch die
Erziehung aller Glieder eines Volkes. Den Geist des Lehrers
auf seinen Beruf einstellen, heißt, ihm die Möglichkeit geben,
jede einzelne Unterweisung oder Maßregel in diese beiden Ganz-
heiten einzugliedern.
Diese Sätze gelten unbedingt in einer Zeit, in der das Ganze der Er-
ziehung, wie das Ganze des Lebens überhaupt, nicht selbstverständlich über-
liefert wird. Wir leben in einer Periode der Kritik, der Anregungen und Ver-
suche; dabei geht der Urteilende oder Vorschlagende vielfach von einem
einzelnen Bedürfnis aus, auch der Lehrer ist geneigt, sein „Fach" für das
allein wesentliche zu halten. Der Lehrer muß gegenüber den Anfechtungen
der Kritik ein sicheres Bewußtsein seines Berufes erringen, er muß es auch,
so sehr er Fachmann ist, verstehen, den „Ressort-Patriotismus" seines Faches
der Liebe zum Ganzen, zur Persönlichkeit des einzelnen Schülers wie zum
Gesamtleben des Volkes unterzuordnen.
4. Auf der Universität, als auf einer wissenschaftlichen An-
stalt, ist dieses Gesamtbewußtsein als wissenschaftliches zu
gewinnen. Die so geforderte Wissenschaft bedarf, wie jede
Wissenschaft, des einigenden Gedankens und des mitteilbaren
Stoffes. Der einigende Gedanke muß philosophisch sein, den
Stoff der Wissenschaft geben Geschichte und Psychologie.
Die einzige Art, in der die Universität den Geist des künftigen Lehrers
auf die Erziehung einstellen kann, trifft zusammen mit einer Forderung,
die unsere Zeit, als in welcher das Vereinigende so wenig selbstverständhch
ist, an uns stellt. Die Erziehung ist nur Einheit, wenn ein einheitlicher
Geist sie beherrscht, und dieser muß heute bewußt sein. Der Lehrer, wenn
er mit Überzeugung lehren soll, muß sein Tun vor sich selbst rechtfertigen
können, er muß in dem Streite um Erziehung und Schule Stellung nehmen
können.
216 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
Die pädagogische Wissenschaft wird zusammengehalten durch den ein-
heitlichen Zweck der Erziehung. Dieser aber ist nur zu bestimmen von
einer Überzeugung über den Sinn des menschlichen Lebens und der mensch-
lichen Gemeinschaft her. Zu solcher Überzeugung zu führen, ist Haupt-
aufgabe der Philosophie. Der einigende Gedanke der Pädagogik muß also
philosophisch sein^).
5. Philosophie als Streben nach einem einheitlichen, be-
gründeten Wert- und Kulturbewußtsein beherrscht und vereinigt
die Lehre von der Erziehung.
Philosophie ist nicht als vollendetes Ganzes gegeben, philosophische
Besinnung kann daher an jeder zentralen menschlichen Tätigkeit einsetzen.
Die Probleme der Erziehung bieten auch dem philosophisch noch weniger
Geschulten einen geeigneten Ausgangspunkt zu tieferem Eindringen. Die
philosophische Haltung und Begründung der Pädagogik sichert dem künftigen
Lehrer das Gesamtbewußtsein von seinem Berufe und dessen Aufgaben. Die
von Tröltsch beklagte Einengung der Philosophie auf eine besondere Art
von Spezialistentum ist durchaus im Schwinden, zudem kann gerade die
Pädagogik zu einer stärkeren Betonung auch der Ethik, Geschichts- und
Kulturphilosophie im akademischen Unterrichte führen. Der philosophisch
gerichtete Pädagoge wird sich gewiß nicht auf Pädagogik allein einschränken
lassen, sondern jene mit der Erziehungslehre so eng verbundenen Gegen-
stände ebenfalls behandeln wollen.
6. Nur aus der Geschichte ist die Gegenwart verständlich,
das gilt für die Erziehungsideale wie für die Erziehungsan-
stalten. Erziehen ist eine geschichtlich gerichtete Tätigkeit:
für diese geschichtliche Lage und mit Hilfe dieser geschichtlich
gewordenen Anstalten und Mittel soll erzogen werden. Er-
ziehungslehre bedarf also der Geschichte überall; aber nur
wenn die Geschichte unter den Auswahlprinzipien des dauernd
und des für die Gegenwart Wertvollen steht, kann sie Leben
wecken.
Es gilt, die Geschichte der Erziehung und der Erziehungslehre nicht als
Sammlung unverbundener Notizen, auch nicht als bloßen Gegenstand ge-
schichtlicher Einzelforschung vorzutragen, sondern sie dem allgemeinen
Ziele pädagogischen Universitätsunterrichts, der Erweckung eines wissen-
schaftlich begründeten Berufsbewußtseins der künftigen Lehrer unterzuordnen.
Geschichte der Erziehungslehre und Geschichte der Erziehung hängen auf
das innigste zusammen, gerade die Wechselwirkung zwischen Wirklichkeit
und Idealbildung ist lehrreich. Der Studierende, besonders der pädagogisch
interessierte, pflegt auf die Gegenwart allein sein Interesse zu richten; es ist
die Aufgabe geschichtlicher Vorlesungen (oder des geschichtlichen Einschlags
in nicht geschichthchen) ihm die Notwendigkeit einer historischen Vertiefung
klar zu machen. Philosophische und historische Pädagogik hängen eng
miteinander zusammen: die philosophische Besinnung entwickelt sich in
einer Reihe geschichtlich verbundener Gestalten, sie geht aus von der wirk-
lichen Erziehung und beeinflußt diese ihrerseits. Die Geschichte ist nicht
') Diese Einsicht ist wieder weit verbreitet. Lange aber hat fast allein Paul Natorp sie
energisch vertreten. Mit Bedauern vermißt man ihn unter den Teilnehmern an der Berliner
Konferenz.
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 2. Cohn 217
ohne Philosophie verständlich, und die Philosophie bleibt ohne Geschichte
abstrakt und inhaltarm.
7. Die Bejdeutung der Psychologie für den Lehrer beschränkt
'sich keineswegs auf die Dienste, die sie — bes. durch die neueren
exakten Forschungen — der Didaktik leistet. Vielmehr schärft
psychologische Schulung den Blick für das seelische Geschehen,,
lehrt auf sonst übersehene Möglichkeiten achten und an die
unbeabsichtigten Folgen jeder Maßregel auf das ganze Seelen-
leben denken. Der Lehrer soll stets als ganzer Mensch auf
den Schüler als ganzen Menschen wirken. Die so geforderte
Haltung ist gewiß von der sachlichen Kühle des psychologischen
Beobachters grundverschieden; aber sie wird, zumal Personen
gegenüber, deren Art von der eigenen stark abweicht, durch
psychologisches Wissen sehr erleichtert. Besonders die Ent-
wicklungsgeschichte des Seelenlebens und die Lehre von den
individuellen Unterschieden sind wichtig. Bei dem engen Zu-
sammenhang von Leib und Seele ist die Psychologie des jugend-
lichen Menschen als Teil der Jugendkunde zu behandeln.
Es ist bemerkenswert, daß in der Berliner Konferenz gegenüber dßv
ablehnenden Haltung der Thesen von Tföltsch und Ziehen einige Praktiker
(Borbein, Goldbeck, Poske) für die Psychologie eingetreten sind. Gerade
weil ich Gegner jedes Psychologismus und fest überzeugt bin, daß Ziele nie
aus der Psychologie (sowenig als aus einer andern Seins Wissenschaft) ge-
wonnen werden können, weil ich ferner die stellungnehmende, miterlebende
Haltung des echten Lehrers von der beobachtenden, aller Wertung sich ent-
haltenden des Psychologen streng trenne, möchte ich um so entschiedener
hervorheben, daß die Psychologie dem Lehrer unersetzliche Hilfe zu bieten
hat. Man wird nun vielleicht fragen: welche Psychologie — und darauf
ist zu antworten, eine recht vielseitige, an Gesichtspunkten der Betrachtung
reiche. Die exakte Methodik des Experiments lehrt die rein psychologische
Auffassung, die affektfreie Selbst- und Fremdwahrnehmung; übrigens aber
ist das, was man als „experimentelle Pädagogik" bezeichnet, nur ein zu-
fäUiger und schlecht begrenzter Ausschnitt aus dem Erforderlichen. Die ein-
seitige Richtung auf sie verführt dazu, an Rezepte zu glauben, die die Psycho-
logie geben könnte. Weit wichtiger ist es, daß die Eigenart jedes Alters,
die Bedeutung jeder Entwickelungsstufe im Ganzen der Entwickelung vorge-
führt wird, daß die Verschiedenheit der Individuen, die Notwendigkeit, auf von
dem eigenen ganz abweichende Typen zu rechnen, sich dem Geiste einprägt,
daß die Beobachtung des SeeHschen geschult wird. Nicht zu vergessen sind
die Entwicklungsstörungen, die abnormen Fälle. Der Lehrer soll nicht Arzt
spielen wollen, aber er soll aufmerken, ob er nicht einen pathologischen
Fall vor sich hat, um rechtzeitig den Arzt zu Hilfe zu rufen. Körperliche
und seelische Entwickelung sind unlöslich verbunden, der Erzieher hat stets
den ganzen Menschen, nicht die Seele vor sich — so muß auf das Ganze
seine Aufmerksamkeit gerichtet sein. Vielleicht ist daher das Wort „Jugend-
kunde** dem Ausdruck „Psychologie der Jugend" vorzuziehen. Die Psycho-
logie wie die Jugendkunde ist reine Tatsachenwissenschaft, kein Werturteil
darf die vorurteilslose Beobachtung und Theorie beeinflussen; aber die Aus-
wahl dessen, was der Professor der Pädagogik behandelt, ist durch die Be-
218 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
dürfnisse des Lehrers bestimmt. Nur sollen diese nicht allzu eng technisch-
didaktisch begrenzt werden.
8. Der Professor der Pädagogik soll ein Mann der Wissen-
schaft sein, kein bloßer Praktiker; aber er soll mit der Praxis
des Schulwesens Fühlung halten.
Das geht aus seiner Aufgabe hervor. Ob die Fühlung dadurch erreicht
wird, daß er eine Zeitlang praktisch tätig war, oder dadurch, daß er Ge-
legenheit erhält und wahrnimmt, die Schulen dauernd zu besuchen und zu
beobachten, Verkehr mit Schulmännern zu pflegen, ist nicht entscheidend.
Jedenfalls sollte er kraft seines Amtes die allgemeine Erlaubnis haben, in
allen Schulen dem Unterrichte beizuwohnen. — Es könnte gegen die Er-
richtung von besonderen Professuren der Pädagogik eingewendet werden,
daß die Gegenstände dieser Wissenschaft allzu mannigfaltig, teils philosophisch,
teils psychologisch, teils historisch sind. Aber sie werden durch einen
Geist und e i n Interesse zum Ganzen verbunden. Daß nicht jeder einzelne
Vertreter der Erziehungswissenschaft in allen Zweigen dieser Wissenschaft
gleichmäßig als Forscher tätig sein wird, ist wahrscheinlich. Aber auch der
Physiologe pflegt entweder vorwiegend sinnesphysiologisch oder chemisch-
physiologisch usw. zu arbeiten. Es genügt, wenn der Professor der
Pädagogik auch dort, wo er nicht* als Forscher tätig ist, doch die Arbeiten
anderer mit selbständigem Urteil verwertet. Das Urteil aber und der Geist
des Ganzen ist in der Pädagogik notwendig durch Philosophie bestimmt.
Philosophische Geistesrichtung und Bildung ist also unerläßlich, um so mehr
da sie sich weit schwerer als Einzelkenntnisse nachträglich erwerben läßt,
9. Den infolge der „Jugendbewegung" hervortretenden päda-
gogischen Eifer zu pflegen, erscheint wichtiger als die Vorbe-
reitung auf pädagogische Prüfungen.
Da der Lehrer der Pädagogik den begrenzten Wert aller Prüfungen her-
vorheben muß, da er den Blick des Lehrers auf die innere wesenthche
Förderung des Schülers zu richten hat, so darf seine eigene Lehre nicht in
Prüfungs-Drill ausarten. Wenn er Forderungen in bezug auf die Lehramts-
Prüfungen stellt, so soll er dabei nur von dem Bedürfnis der Lehrer und
Schüler, nicht von dem seines Faches ausgehen. Die liebsten Hörer müssen
ihm immer die freiwilligen und begeisterten sein. Daß der Professor der
Pädagogik in jedem Semester dasselbe Kolleg lesen müßte, wie Tröltsch
meint, ist auch dann unrichtig, wenn für das Examen nur das Hören eines
Kollegs verlangt wird. Es kann nur gefordert werden, daß jedes päda-
gogische Kolleg für sich versländlich ist. Die dürftigen Examenleute werden
wenigstens von einer Seite auf pädagogisches Nachdenken hingewiesen, die
besseren Studierenden erkennen die Ergänzungsbedürftigkeit der gehörten
Vorlesung und setzen ihre Studien fort. Wir müssen zu der Urteilsart der
Fichte und Schleiermacher zurückkehren, die bei ihren .Vorschlägen stets an
die Tüchtigen dachten, im Gegensatz zur Gewohnheit der jüngsten Ver-
gangenheit, überall die Schwachen zu hätscheln.
10. Die Promolion mit einer pädagogischen Dissertation sollte
möglich aber schwierig sein. Vor allem ist Prüfung in Philo-
sophie als Hauptfach unbedingt zu fordern.
Möghch muß die Promotion sein, weil so ein Stab geschulter wissen-
schaftlicher Arbeiter gewonnen wird. Schwierig muß sie sein, damit nicht
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 3. Lehmann 219
das neue Fach dazu dient, die Eitelkeit bequem zu befriedigen. Wirklich
fruchtbringende pädagogische Arbeiten sind selten, der Wust überschüssigen
bedruckten Papiers ist gerade in der Pädagogik erschreckend. Wissenschaft-
licher Pädagoge ist niemand, der nicht auch philosophische Studien getrieben
und philosophische Bildung erworben hat.
Zur Gestaltung des pädagogischen Universitätsunterrichts im einzelnen
Stellung zu nehmen, versage ich mir, da meiner Ansicht nach hier vorläufig
jeder seinen Weg einschlagen soll — erst allmählich wird sich eine allge-
meine Übung ausbilden. Das gilt besonders von den pädagogischen Semi-
narien. Die Einrichtung großer Seminarien, an denen Lehrer, nicht Studenten
teilnehmen, nach dem Vorschlage Frischeisen-Köhlers, halte ich für
sehr erwägenswert. Es sollte mindestens an einer Stelle einmal ein Versuch
damit gemacht werden.
3. Pädagogikprofessuren.
Von Rudolf Lehmann.
Ich darf das Verdienst in Anspruch nehmen als einer der ersten, etwa
neben W. Rein und mit W. Münch, die Errichtung von pädagogischen Pro-
fessuren gefordert zu haben, und ich bin seit 1 V2 Jahrzehnten immer wieder
in der Öffentlichkeit für die Sache eingetreten. Daher bin ich auch jetzt
nicht in der Lage, eigentlich Neues zu der Frage beizubringen. Es muß
mir gestattet sein, kurz zusammenzufassen, was ich an anderen Stellen aus-
führlich dargelegt habe.
Die Forderung entspricht ebensowohl einem theoretischen wie einem
praktischen Bedürfnis. Die Geschichte der Erziehung, wenn sie wissen-
schaftlich erfaßt wird, ist ein integrierender und wichtiger Zweig der Geistes-
geschichte überhaupt. Die Pädagogik als Normwissenschaft steht in innerem
und unmittelbarem Zusammenhang mit den übrigen Wertwissenschaften, ins-
besondere der Ethik. Die Jugendkunde endlich bildet heute unbestritten
einen Teil der psychologischen Wissenschaft; ihre Bedeutung, nicht nur für
die praktische Normgebung, sondern auch für das pädagogische Denken
überhaupt ist so unmittelbar, daß auch von dieser Stelle her die Erziehungs-
wissenschaft einen notwendigen und natürlichen Anschluß an die Univer-
sitätswissenschaften findet. Will die Hochschule ihren Charakter als Uni-
versitas Litterarum bewahren und den Zusammenhang der Geisteswissen-
schaften im ganzen Umfang umfassen, so darf sie die Pädagogik nicht
länger beiseite lassen.
Wenn diese sehr einfache Wahrheit zur allgemeinen Anerkennung in
unseren Fakultäten gelangen würde, so wäre damit viel, ja alles gewonnen.
Der Hochschuluntericht braucht sich hier ebenso wenig wie bei anderen Ge-
bieten um praktische Wirkungen zu bekümmern. Seine Aufgabe ist und bleibt
das theoretische Verständnis und die Fähigkeit zur Erfassung wissenschaft-
licher Zusammenhänge zu vermitteln, und diese Aufgabe fiele ihm zu, auch
wenn die Pädagogik gar keine Bedeutung für unser praktisches Leben hätte.
Erziehen und Unterrichten zu lehren, ist keine Verpflichtung der Universität,
kann es nicht sein, solange die philosophische Fakultät ihren jetzigen Charakter
wahrt. Pädagogische Universitätsseminare haben zu geisteswissenschaftlicher
oder psychologischer Forschung auf dem Gebiete der Pädagogik anzuleiten,
220 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen üniversit'Uc^n
nicht zum Unterrichten und wenigstens unmittelbar auch nicht zum Erziehen.
Übungsschulen braucht man nicht, und wenn in Jena eine solche Einrichtung
besteht, die darauf ausgeht, die theoretische Vorbildung der angehenden Lehrer
mit der praktischen Ausbildung zu verbinden, so ist das eine besondere Eigen-
heit der dortigen Organisation, die, auch wenn man ihren Wert nicht verkennt,
nicht als vorbildlich und verbindlich für die übrigen Hochschulen zu betrachten
ist. Etwas anders steht es mit den Versuchsschulen, die vielfach von den
Psychologen gefordert werden. Sie dienen immerhin wissenschaftlichen Zwecken,
nicht der praktischen Einübung. Gleichwohl scheinen mir aus äußeren und
inneren Gründen die Wissenschaft sowohl wie die Schule besser dabei zu fahren,
v/enn die Schule nicht in die Universität, sondern die Universität, soweit sie
dessen bedarf, in die Schule kommt, d. h. wenn solche Schulen nicht an den
Hochschulbetrieb angeschlossen werden, sondern wenn eine oder mehrere der
in der Universitätsstadt vorhandenen Schulen den Psychologen für ihre Zwecke
zugänglich gemacht werden. Die Entwicklung der Münchner Versuchsschule,
die zu Forschungszwecken begründet, doch in die der städtischen Verwaltung
unterstellte Organisation eingereiht worden ist, scheint mir ein Beleg dafür
zu sein. —
Welche Bedeutung nun aber hat ein solcher rein theoretischer Betrieb für
die Praxis der Schule und der öffentlichen Erziehung überhaupt? Die Praxis
hat ihre eigenen Bedürfnisse und Ziele. Sie entwickelt und gestaltet sich,
wie das Leben überhaupt, im wesentlichen unabhängig von der wissenschaft-
lichen Theorie, unmittelbar aus sachlichen Notwendigkeiten und vielfältigen
Überlieferungen. Um erfolgreich zu unterrichten, um sein Pensum bewältigen
zu können, bedarf der Lehrer keiner geisteswissenschafthchen Gesichtspunkte
(soweit er nicht etwa auf der höheren Stufe Geisteswissenschaft zu lehren hat).
Er braucht auch keinen Einblick in die psychologischen Grundlagen der
Methoden, nach denen er verfährt; wenn er diese aus einer bewährten Über-
lieferung übernimmt und verständig anwendet, wenn er ausreichende Kenntnisse
seines Gegenstandes damit verbindet, so genügt das, um eine brauchbare
Lehrkraft, einen tüchtigen Lehrbeamten aus ihm zu machen. Verlangt man
freilich, daß der Lehrer zugleich ein denkender Erzieher sei, soll seine Tätig-
keit aus einer persönlichen Gesamtkultur erwachsen und über die Einprägung
vorgeschriebenen Wissens hinaus sich auf die Persönlichkeit seiner Schüler
erstrecken, soll er mit selbständigem Urteil an der Entwicklung des Bildungs-
und Erziehungswesens mitarbeiten, so wird man ein tieferes und umfassen-
deres Verständnis zu den Bedingungen solcher Wirksamkeit rechnen müssen.
Er muß dann in die richtunggebenden Probleme der Erziehung überhaupt
einen Einblick gewinnen. Er muß die Organisation des gesamten nationalen
Bildungswesens in ihrem Zusammenhang überblicken und die treibenden
Kräfte ihrer geschichtlichen Entwicklung kennen. Er muß endlich das leben-
dige psychische Gebilde und seine wirkenden Gesetze in seinen Schülern
erblicken und achten lernen, sie nicht nur als Köpfe betrachten, deren leere
Räume er zu füllen hat. Diese Bedürfnisse sind im allgemeinen auch von
der Schulverwaltung anerkannt; in Preußen ist seit langem den Lehrerbildungs-
anstalten, und nach der im vorigen Jahre erschienenen Neuordnung des Aus-
bildungswesens auch den Gymnasialseminaren, die Aufgabe zugewiesen, unter
den angedeuteten Gesichtspunkten die praktische Ausbildung durch die theo-
retische zu ergänzen. Wenn das in echt wissenschaftlichem Geiste geschieht.
GataohMiche Äußerungen, Erste Reihe. S. Lehmann 221
wenn auch in den Gymnasialseminaren der genügende Nachdruck auf diese
Seite der Vorbildung gelegt wird, so werden diese letzteren, wie es schon jetzt
wenigstens im Prinzip die Lehrerbildungsanstalten anstreben, die erforder-
liche Vermittlung zwischen Theorie und Praxis schaffen, und man braucht
die Universitäten ebenso wenig für die durchschnittliche pädagogische Aus-
bildung der künftigen Studienräte in Anspruch zu nehmen, wie für die der
Volksschullehrer, wenn es auch wünschenswert ist, daß einige Vorlesungen
allgemeinen Charakters schon dem Studenten eine Übersicht über das ge-
samte Gebiet verschaffen.
Die grundlegende Bedingung nun aber für die geforderte Wirksamkeit der
Seminare ist, daß die Schulverv/altung über die erforderliche Anzahl von
Direktoren und sonstigen Lehrkräften verfügt, die imstande sind, in einem
wissenschaftlichen Geiste und aus einer gründlichen theoretischen Einsicht
heraus pädagogische Bildung zu vermitteln. Das ist heute in den Lehrer-
bildungsanstalten nur teilweise, in den Gymnasialseminaren noch viel seltener
der Fall. Mit dieser Feststellung soll gegen die Seminarleiter und -lehrer
nicht im geringsten ein Vorwurf erhoben werden ; es bemüht sich gewiß ein
jeder nach dem Maße seines Wissens und Könnens, seine Aufgabe zu erfüllen;
aber wo die nötige Vorbildung fehlt, da genügt der gute Wille allein nicht,
zumal bei Männern, die mit Amtsgeschäften anderer Art überhäuft sind.
Diese Vorbildung aber kann nur auf der Universität erworben werden, und
hier ist das praktische Bedürfnis begründet, das die Errichtung von päda-
gogischen Lehrstühlen und Einrichtungen erforderlich macht. Was die Universität
für die Vorbildung von Seminarleitern und -lehrern der Pädagogik zu tun
hat, steht durchaus in einer Reihe mit dem, was sie für die Vorbildung-
wissenschaftlicher Lehrer überhaupt tut: sie soll ihnen die Grundlage geben,
aus der späterhin ihrem Unterricht ein wissenschaftlicher Geist erwächst.
Auf diesen Zusammenhang weist die preußische Neuordnung hin, indem
sie die Pädagogik als „Zusatzfach" in die wissenschaftliche Prüfung einführt.
Damit ist ein Weg gewiesen, der sehr wohl zur Hebung des gerügten Mangels
zu führen vermag. Wenn die Schulverwaltung bei der Ernennung von Direktoren
solche Schulmänner bevorzugt, die sich die Lehrbefähigung für das Zusatz-
fach erworben haben, wenn sie Oberlehrern, die sie für Direktorenstellen und
Seminarleitungen ins Auge faßt, durch Urlaube oder Stundenverminderung
die Möglichkeit gibt, das Zusatzfach nachzuholen, so wird sie bald in der Lage
sein, über eine genügende Anzahl wissenschaftlich gebildeter Kräfte zu ver-
fügen, und auch für die Zukunft wird diese Einrichtung ein Sporn sein, der
ständig eine Anzahl von Studenten zu wissenschaftlichem Studium der Päda-
gogik treibt.
Ein solches Studium aber ist nur möglich, wenn an den Universitäten die
geeigneten Einrichtungen geschaffen werden. Mit Lehraufträgen im Neben-
amt und ein paar allgemeinen Vorlesungen ist es nicht mehr getan. Nach
dem Grundsatz, den unser gesamtes Universitätsleben beherrscht, brauchen
wir akademische Lehrer, deren eigenstes Forschungs- und Wissensgebiet die
Pädagogik ist und die ihre Hörer und Schüler zu selbständig eindringender
Arbeit anzuleiten vermögen. Solche Männer dürfen dann aber auch eine
Stellung für ihre Wissenschaft fordern, die ihrer Bedeutung entspricht: die
MögHchkeit, zum Ordinariat zu gelangen für die Dozenten, das Recht zu promo-
vieren für ihre Schüler.
222 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
Man hört nicht selten den Einwurf, daß es an geeigneten Vertretern der
Pädagogik, besonders in der geisteswissenschafthchen Richtung fehle und man
daher pädagogische Lehrstühle nicht würde besetzen können. Aber es ist ja
auch keineswegs nötig, daß an allen Universitäten mit einem Schlage Pro-
fessuren oder gar Ordinariate errichtet werden. Wenn wir auch nur an drei
oder vier Universitäten solche Lehrstühle hätten, so wäre zunächst einmal
dem dringendsten Bedürfnis Genüge geschehen, und die Auslese einer solchen
Anzahl läßt sich ohne Schwierigkeiten treffen. Nur darf man sich dabei nicht
ausschließlich, vielleicht nicht einmal hauptsächlich an die Kreise junger
Akademiker und Privatdozenten halten. Denn solange es keine pädagogischen
Lehrstühle gibt, kann es auch keinen akademischen Nachwuchs in diesem
Fach geben, und, wenn man auf einen solchen warten will, kommt man aus
dem Zirkel nicht heraus. Man muß vielmehr geeignete Oberlehrer heran-
ziehen: eine solche Erweiterung des Kreises liegt wahrlich nahe genug und
ist auch im sachlichen Interesse des Lehrbetriebes. Wir brauchen Ordinariate,
damit die Möglichkeit gegeben wird, einen Nachwuchs zu schaffen, mit dem
man dann eine größere Anzahl von Lehrstühlen besetzen kann. Diese mögen
zunächst außerordenthche Professuren sein, das weitere Endziel bleibt frei-
lich die durchgehende Begründung von Ordinariaten. Es kann nur allmählich
gelingen, der pädagogischen Wissenschaf t diejenige Stellung an den Univei-sitäten
zu schaffen, die ihr ihrem theoretischen Rang nach gebührt und zugleich dem
Bedürfnis unseres Bildungswesens entspricht, aber es ist an der Zeit, nunmehr
einen entschiedenen Anfang mit dieser notwendigen Entwicklung zu machen.
4. Thesen betreffend die Pflege der Erziehungswissenschaft an der
Universität.
Von Paul Natorp.
1. Die Aufgabe der Menschenbildung oder Erziehung erstreckt sich an sich
unterschiedslos auf alle Seiten des Menschentums: sie umfaßt gleichermaßen
das theoretische, praktische, ästhetische und religiöse Bewußtsein, in seiner
vollen Aktualität ebenso wie im zeitlichen Rück- und Vorausblick, zuletzt in
der überzeitlichen Einheit seiner Gesetzesgrundlage. Daher sind an der wissen-
schaftlichen Grundlegung zum Gesamtwerke der menschlichen Erziehung —
der theoretischen Pädagogik — alle Wissenschaften, die irgendeine Seite
des Menschenwesens berühren, das heißt alle, vor allen aber die Wissen-
schaften beteiligt, welche gegenüber der Mannigfaltigkeit der Richtungen
und Dimensionen die unteilbare Einheit des menschlichen Wesens zu ver-
treten haben: Philosophie als universale, analytische Prinzipienlehre,
Psychologie als nicht minder universale, synthetische Darstellung des Be-
wußtseinsgehalts in der Totahtät wie inneren Ungeteiltheit (Individuität) des
Erlebens. Jede Sonderwissenschaft liefert von ihrer Seite eine Stütze für die
universale, theoretische Grundlegung zur Erziehung ; Philosophie und Psycho-
logie beziehen sich als ganze auf ihr Ganzes. Das menschliche Wesen er-
kennen will man zuletzt, um es in beständiger Selbsterhöhung von Geschlecht
zu Geschlecht zu überhefern, d. h. um der Menschenbildung, um der Erziehung
willen.
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 4. Natorp 223
2. Indessen ist keine der genannten Wissenschaften an sich Erziehungs-
wissenschaft. Jeder von ihnen ist ihre Aufgabe aus rein sachlichen Gesichts-
punkten gestellt, zunächst ohne Rücksicht auf ihren Anteil am Erziehungswerk.
Um sie für dieses auch nur im theoretischen Sinne fruchtbar zu machen,
bedarf es noch einer besonderen, auf die Praxis der Erziehungsarbeit als solche
gerichteten, gleichwohl selbst theoretischen Erwägung. Diese hat die Regeln
aufzustellen für die Zurückbeziehung der rein sachlichen, gesetzlich allgemeinen
Feststellungen der je auf ihren Gegenstand gerichteten Wissenschaften auf
die bestimmt gegebenen Bedingungen, die zu Gebote stehenden Kräfte, Ge-
legenheiten und Hilfen jeder Art, mithin (da diese nicht von selbst bereit-
stehen, sondern planmäßig immer neu bereitzustellen sind) auf die bestimmten,
vorhandenen oder zu fordernden Organisationen vielseitig ineinandergreifender,
bildender Tätigkeit zuletzt Einzelner an Einzelnen in singulär bestimmter Lage.
FolgHch bedarf es, gegenüber allem, was die reinen Sachwissenschaften zur
Grundlegung der Erziehung im bloß theoretischen Sinne beitragen, noch einer
eigenen, technisch gerichteten Bildungs- und Erziehungslehre : Pädagogik im
engeren Sinne, praktische Pädagogik. Diese darf auf den vollen Rang^
einer Wissenschaft Anspruch erheben, nicht bloß sofern sie auf Wissenschaft
und zwar, der Idee nach, auf der Gesamtheit der Wissenschaften fußt, son-
dern auch, sofern das Technische der erziehenden Tätigkeit selbst einer weit-
ausblickenden, vielseitigen theoretischen Überlegung, im gleichen Sinne wie
jede andere Technik und, ihrer allumfassenden Bedeutung wegen, mehr als
jede andere, bedarf.
3. Die gesamte wissenschaftliche Grundlegung zur Technik und Praxis der
Erziehung findet ihre natürliche Stätte an der Universität. Erstens, als
wissenschaftliche Grundlegung ist sie auf die Mitarbeit nicht bloß der oder
jener, sondern aller Wissenschaften angewiesen, deren Gesamtheit nur an der
Universität zulänglich verbeten ist. Zweitens, als Grundlegung zur Praxis der
Erziehung gehört sie zur Berufsausbildung aller derer, die am Werke der Er-
ziehung in irgendwie selbstverantwortlicher Stellung beteiligt sind. Für diese
Berufsausbildung aber, also vor allem die der Lehrer jeder Kategorie, vom
Volksschullehrer bis zum Hochschullehrer, ist, da sie auf Wissenschaft fußen
muß, die Universität verpflichtet.
4. An der theoretischen Grundlegung der Erziehung sind (nach These 1)
in genau berechnetem Zusammenwirken zu beteiligen: die Philosophie, die
Psychologie und die Einzelwissenschaften; die beiden ersteren, um für das
Gesamtwerk der Erziehung die ihm wesentliche Einheit der Grundlage sicher-
zustellen und jede einzelne ihrer Leistungen auf ihr hohes einheitliches Ziel
genau gerichtet zu halten; die Einzelwissenschaften, damit auch den Sach-
forderungen jedes Sonderfachs in einer den Erfordernissen der Wissenschaft
voll genügenden Weise entsprochen wird. In welcher Art und Umfassung
und mit welchem Erfolg dies geschehen kann, dafür hat die von Felix Klein
organisierte Zusammenarbeit der Mathematiker zur methodischen Bearbeitung
des mathematischen Unterrichts ein Beispiel aufgestellt, hinter dem die üb-
rigen Fächer des Unterrichts, und zwar alles Unterrichts von der Volksschule
bis zur Universität, nicht zurückbleiben dürfen.
5. Es mag auf den ersten Blick scheinen, als ob nicht ebenso unmittelbar
die praktische Seite der Erziehungslehre der Universität nahe liegen müsse.
Dennoch sieht auch sie sich, im gleichen Interesse beider, auf die Universität
224 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
*
zwingenii hingewiesen. Selbst Wissenschaft (s. These 2), tritt sie in nicht
bloß äußerer Nebenordnung den reinen Sachwissenschaften zur Seite, sondern
durchdringt sie alle und gibt ihnen die gemeinsame neue Wendung auf den
für sie keineswegs äußerlichen, sondern mit ihnen selbst notwendig gesetzten
Zweck der menschlichen Bildung. Diese neue Zweckbeziehung aber fordert
im Organismus des Bildungswesens eine eigene, besonders geartete Vertretung,
an der es bis dahin fehlt. Diese wäre nicht gegeben durch eine eigene
Professur für praktische Pädagogik an der Universität, oder selbst durch eine
den übrigen nebengeordnete neue, pädagogische Fakultät. Erforderlich ist
vielmehr eine besondere, in gewissem Maße selbständige, weder der Organisation
der Universität noch denen der praktischen Erziehung schlechthin eingefügte,
sondern gewissermaßen zwischen beiden stehende Institution. Diese muß
einerseits mit der Universität in einer solchen Verbindung stehen, daß sie
ihrer vollen Mitarbeit sicher sein darf, andererseits aber mit der praktischen
Erziehungsarbeit jeder Art und Richtung in lebendiger, wechselseitig befruch-
tender Berührung bleiben. Das Zentrum dieser Institution würde ein Seminar
mit Arbeitsräumen und Bibliothek bilden, als Mittelpunkt ebensowohl für alle
auf die Praxis der Erziehung zielenden wissenschaftlichen Untersuchungen,
wie für deren Befruchtung mit dem Anregungen der Praxis und wiederum
Rückwirkung auf diese.
6. Die Organisation des gedachten, etwa als Pädagogische Akademie zu
bezeichnenden Instituts würde in der Hand eines Ausschusses liegen, an
welchem Theoretiker und Praktiker gleichmäßig beteiligt sein müßten. Die
Oberleitung aber würde einem eigenen Vertreter der praktischen Pädagogik
als ganzer zufallen, der der Universität gegenüber unabhängig sein müßte,
wenn auch etwa zugleich als Honorarprofessor ihr angehören dürfte. Er
müßte mit der Praxis durch eigene reiche Erfahrung vertraut sein, zugleich aber
in vollgewichtigen Leistungen pädagogischer Theorie wissenschaftliche Schulung
und Schöpferkraft bewiesen haben.
7. Als nächstliegende, dringlichste Aufgabe würde der gedachten pädago-
gischen Akademie die praktisch-pädagogische Ausbildung der Schullehrer
jeder Stufe und jedes Fachs obliegen. Diese müßte außerhalb des Rahmens
der rein fachlichen Ausbildung stehen, die besonders für die künftigen Lehrer
höherer Schulen durchaus keine Abkürzung verträgt. Sie müßte daher jeden-
falls für diese erst nach abgelegter Fachprüfung einsetzen (würde also in
Preußen an die Stelle des jetzigen Seminar- und Probejahrs treten). Allen-
falls würde eine vorläufige Einführung in die Unterrichtspraxis in mehr nur
rezeptiver Beteiligung zulässig sein. Die volle aktive Teilnahme an der Schul-
arbeit fordert den Einsatz der ganzen Kraft und kann nicht bloß wie auf
Probe nebenher abgemacht werden. Aufgabe der pädagogischen Akademie
würde es weiter sein, alle historischen und aktuellen wie auch ferneren Zukunfts-
fragen der Schulpädagogik und Schulpolitik fest im Auge zu behalten, die
nötigen und möglichen Reformen theoretisch vorzubereiten und, soviel an ihr
liegt, praktisch anzubahnen.
8. Zu ihrem Arbeitsfelde gehören'aber ebensosehr die weitverzweigten Auf-
gaben der nationalen Erziehung, die außerhalb des Rahmens der Schule fallen :
die Aufgaben der häuslichen Erziehung und, wo diese zerstört oder verkümmert
ist, des tunlichen Ersatzes für sie: Kinderpflege, Kindergarten, Kinderhort,
Jugendfürsorge, körperliche Ausbildung und Gesunderhaltung der Jugend,
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 5. Stern 226
Fortbildung der Schulentlassenen, freie, nichtschulinäßige Bildungspflege der
Erwachsenen, jeder Art und Richtung; die erziehenden Kräfte der einzelnen
Berufe, die besonderen erziehlichen Forderungen und erziehlichen Werte des
Handwerks, der Fabrik, des Handels usw., des Heeresdienstes, der kirchlichen
wie außerkirchlichen religiösen Ordnungen, der freien Vereine und Verbände
überhaupt jeder Art und Sonderheit, unter diesen besonders der Jugendver-
bände; die bildende Wirkung der Tagespresse, der Presse überhaupt, daher
Buchvertrieb und Bücherei hinsichtlich ihres bildenden Einflusses; Heimat-
pflege, Wohnungswesen, Festfeier, künstlerische Lebensgestaltung aller Art,
volkstümliche Kunst- und Musikpflege, Theater, Kino. Die systematisch theo-
retische Bearbeitung und praktische Förderung dieses weiten Komplexes
„sozialpädagogischer" Aufgaben erfordert gleichermaßen Weite des Um-
blicks, Vertrautheit mit den Gesellschaftswissenschaften (Wirtschafts-, Rechts-
und Staatslehre) wie organisatorische Befähigung, sicheren Blick für das
zunächst Dringliche und Erreichbare, Takt in der praktischen Behandlung der
Dinge und Menschen ; Eigenschaften, die sich gewiß nicht leicht in einer Person
vereint finden, aber am ehesten dann sich herausbilden würden, wenn das
Ganze dieser Aufgaben nicht nur Einzelnen und vereinzelt Bleibenden obläge,
sondern einer vielseitigen Zusammenarbeit von Theoretikern und Praktikern,
wie sie in gedachter Akademie organisiert wäre, unterstände.
9. Ist es für jetzt nicht zu erreichen, daß die so gedachte pädagogische
Akademie von selten des Staats ins Leben gerufen wird, so bleibt möglich
und ist es um so dringlicher, daß einstweilen die Universitäten von sich aus
mit den für sie erreichbaren Praktikern zu freien Vereinigungen zusammen-
treten, um von den genannten Aufgaben wenigstens die, welche unter den
gegebenen Bedingungen für sie lösbar sind, auf sich zu nehmen. Uneinge-
Bchränkt gilt dies für den rein theoretischen Unterbau der Pädagogik ; bedingt
aber auch für die gesamte Lehrerbildung wie auch für die praktische Förderung
mancher einzelnen Zweige der sozialen Erziehung besonders in den (ja meist
mit Universitäten versehenen) Großstädten. Eine gemeinsame, große, gesamt-
deutsche Organisation müßte diese „pädagogischen Universitätsaus-
schüsse" vereinigen und sich mit allen schon bestehenden und neu ins
Leben tretenden Verbänden verwandter Absicht (zunächst dem Deutschen
Ausschuß für Erziehung und Unterricht) in Verbindung setzen, um gemeinsam
mit diesen auf die volle Durchführung des Planes der pädagogischen Akademie
hinzuwirken.
Anmerkung: Die nächste bei gegebener Lage erreichbare Vorstufe wäre die Verallgemeinerung
des an der Universität Halle eingeschlagenen Weges: Zusammenwirken von Universitätslehrern
(der Philosophie und Psychologie wie der wesentlich in Betracht kommenden Einzelwissenscbaften)
mit Schulmännern, unter Leitung je eines hervorragenden, zugleich wissenschaftlich erprobten
Praktikers, zunächst zur praktisch-pädagogischen Ausbildung der künftigen Oberlehrer. Nähere
Ausführung darüber darf ich unterlassen, weil sie von anderer Seite erwartet werden darf.
5. Pädagogik als Universitätsfach.
Von William Stern.
Die philosophischen Fakultäten der Universitäten nehmen in der Gesamt-
heit unserer Hochschuleinrichtungen eine geradezu einzigartige Stellung ein.
Alle anderen Veranstaltungen: die übrigen Universitätsfakultäten, die Ab-
teilungen der technischen Hochschulen, die Fachhochschulen verschiedener
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 16
226 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
Art haben die Aufgabe, die Vorbildung für bestimmte höhere Berufe auf
wissenschaftlicher Grundlage zu geben — die philosophische Fakultät ist
ihrer Idee nach der reinen Wissenschafts-Pflege und -Übermittelung um ihrer
selbst willen gewidmet. Das ist ihre Größe, von der ihr nicht ein Deut ge-
raubt werden darf, es ist aber zugleich ihre Schwäche, die beseitigt werden
muß. Denn Berufsvorbildung ist auch für die Hörer der philosophischen
Fakultät nicht bloß eine banausische, unter dem Gesichtspunkt des künftigen
Erwerbs stehende Angelegenheit; sie bedeutet die Wahrung der geistigen
Volkskraft und der wertvollen Bildungsgüter, und damit die Förderung der
Volkszukunft auf dem Kulturgebiet der Erziehung; sie soll den einzelnen
für die Lebensaufgabe tüchtig machen, zu der er innerlich „berufen" ist
und ihn nicht nur in die Gnosis, sondern auch in das Ethos dieser seiner
künftigen Bestimmung hineinführen.
Daher darf die Arbeit der philosophischen Fakultäten nicht weiterhin unter
der Fiktion stehn, als ob sie lauter künftige Privatdozenten heranzubilden
haben. Natürlich soll die Gründlichkeit der Fachausbildung und die Ein-
führung in echt wissenschaftliche Betrachtungsweise der philologischen und
mathematisch-naturwissenschaftlichen Sachgebiete in keiner Weise verkürzt
werden; aber sie muß eine Ergänzung durch den pädagogischen Gesichts-
punkt erfahren. Die beinahe ängstliche Scheu, mit welcher die meisten
Vorlesungen und Übungen der philosophischen Fakultät die Beziehung auf
die spätere Verwertung des behandelten Stoffes in der Jugendbildung ver-
meiden oder mit Bewußtsein ausschalten, hat nirgends in der Vorbereitung
zu höheren Berufen ihresgleichen. Und so kommt es, daß kein Berufs-
anwärter ahnungsloser in die Praxis seiner Tätigkeit hereintritt als der junge
Oberlehrer. Er hat auf der Universität wohl die Begeisterung für sein Fach,
nicht aber die Liebe für seinen Erziehungsberuf erhalten ; ja er bringt leicht
eine gewisse Geringschätzung für die bloß schulmäßige, elementare Behand-
lung seines Gebietes mit, das er bisher lediglich von der hohen Warte
wissenschafthcher Forschung aus betrachtet hat. Er hat nicht gelernt, das
Kulturgebiet der Erziehung in seiner Gesamtheit zu überschauen und in
seiner philosophischen und sozialen Bedeutung zu würdigen, in seiner Be-
deutung, die es «dem Kulturgebiet der reinen wissenschaftlichen Erkenntnis
gleichwertig an die Seite stellt. Er hat in den drei bis vier Studienjahren
kaum je Gelegenheit gehabt, sich zu vergewissern, ob er überhaupt für den
Beruf, den er sich gewählt, Neigung und Eignung mitbringt — Vorbe-
dingungen, ohne die er zu jahrzehntelangem freudlosen Berufsbetrieb ge-
nötigt ist; denn die Leistungsfähigkeit in Mathematik oder Philologie besagt
nichts über seine erzieherischen und unterrichtlichen Gaben. Er hat die
sachlichen Inhalte, die er als Lehrgegenstände zu übermitteln hat, aufs
gründlichste kennen gelernt, steht aber um so unerfahrener den persön-
lichen Bedingungen seines Wirkens, dem Wesen der Kindheit und Jugend,
gegenüber.
Daß hier ein Wandel nötig ist, wird schon seit Jahren von Schulmännern
und Hochschullehrern, von pädagogischen Vereinen und Kongressen betont;
aber fast noch wichtiger erscheint mir, daß sich das Bedürfnis nach der
fehlenden pädagogischen Einstellung und Ausbildung in der Studenten-
schaft selbst mächtig regt. In den letzten Jahren vor dem Kriege gab es
die unerwartete Erscheinung, daß sich an vielen Orten „pädagogische Gruppen
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 5. Stern 227
der Studentenschaft" auftaten, die sich neben dem Fachstudium eifrig mit
Fragen des Schulwesens und der Schulorganisation, der Erziehungsreform,
der sozialen Jugendpflege usw. beschäftigten. Es waren Akte der Selbst-
hilfe, da eben die offiziellen Bildungsstätten diesem ihrem Bestreben gegen-
über stumm blieben; und nur die private Teilnahme einzelner Hochschul-
lehrer konnte hier und da diesen starken und ursprünglichen Interessen
beratend und fördernd zur Seite stehen. Es ist nicht zu bezweifeln, daß
nach dem Krieg unsere studentische Jugend in noch höherem Maße die
Größe und Schwere der Erziehungs- und Volksleitungsaufgabe empfinden
wird, zu der sie sich vorbereitet; es wäre schmerzlich, wenn die Univer-
sitäten solchen Bedürfnissen und Bestrebungen nicht gerecht würden.
Wie läßt sich nun diese Forderung mit dem alten historischÄi Wesen der
phflosophischen Fakultät, an dem wahrlich nicht gerüttelt werden soll, ver-
einigen? Dies Wesen besteht in der Pflege wissenschaftlicher Lehre
und Forschung; als Wissenschaft ist daher auch die Pädagogik in ihren
Rahmen aufzunehmen. Es kann sich also nicht darum handeln, den künf-
tigen Oberlehrer in die Erziehungs- und Unterrichts praxis unmittelbar durch
praktische Arbeit einzuführen ; Übungsschulen, ja selbst nur allzu eingehende
Behandlung der Didaktik der einzelnen Lehrfächer, scheinen mir nicht auf die
Universität zu gehören, dafür sind ja die beiden auf das Staatsexamen
folgenden Ausbildungsjahre bestimmt. Wohl aber müßte „die ganze Theorie
der Praxis" — wie es Spranger einmal treffend ausdrückt — auf der Uni-
versität ihren Platz finden.
Wenn von Gegnern dieses Gedankens geltend gemacht wird, daß die
Pädagogik noch nicht den Charakter einer ernsthaften Wissenschaft ge-
wonnen habe, so ist zweierlei zu erwidern. — Erstens: man hat ihr dies ja
eben dadurch so schwer gemacht, daß man die Stelle, wo eine solche
methodische Ausgestaltung zur Wissenschaft möglich gewesen wäre, nämlich
die Universität, verschloß, und hat dadurch ihre Bearbeitung zum Teil
eifrigen und wohlmeinenden, aber kritisch ungeschulten Kräften preisgegeben.
Zweitens: wenn Pädagogik auch noch keine fertige Wissenschaft ist, so ist
doch ihre wissenschaftliche Aufgabe und Problemstellung oder vielmehr dag
ganze wissenschaftliche System dieser Problemstellungen bereits deutlich zu
erkennen; jetzt gilt es zu deren Bearbeitung die schon in der Entwicklung
begriffenen Forschungsmethoden pädagogischer Erkenntnis auszubilden und
anzuwenden; hierzu aber bedarf es der wissenschaftlichen Persönlichkeiten
und wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsstellen.
Es ist an dieser Stelle vielleicht nicht unnötig, zu betonen, was die Uni-
versitätspädagogik nicht sein soll. Man darf sie nicht in den engen Rahmen
der sogenannten „Gymnasialpädagogik" (genauer „Pädagogik des höheren
Schulwesens") spannen wollen, sondern muß sie alsLehre vom gesamten
Erziehungs- und Bildungsleben unseres Volkes als einer einheit-
lichen, wenn auch in sich mannigfach differenzierten Kulturtatsache aufr
fassen. Dies ist zunächst deshalb nötig, weil auch der Oberlehrer die Be-
deutung und Aufgabe seiner speziellen Schulgattung und seiner Sonderfächer
nur würdigen kann, wenn er ihre Stellung im System des nationalen Bil-
dungswesens überhaupt, vor allem auch im Verhältnis zu Volksschule, Fort-
bildungsschule, Jugendpflege usw. kennt. Sodann aber ist ja die Pädagogik-
professur nicht ausschließlich der Oberlehrerfortbildung gewidmet; sie ist
16»
228 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
der Mittelpunkt wissenschaftlichen Pädagogikbetriebes überhaupt; sie ist auch
mit bestimmt für den Volksschullehrer, der wissenschaftliche Fortbildung an-
strebt und solche an Universitäten, sei es als Hospitant, an einigen auch
schon als Student der Pädagogik, erlangen kann; sie soll auch die Schul-
verwaltungsbeamten heranbilden helfen, deren künftige Arbeit vornehmlich
der Volksschule gilt; sie soll schließlich das Interesse für die Pädagogik auch
in den Angehörigen anderer Fakultäten wecken, die als Schulärzte, als
Jugend- und Vormundschaftsrichter, als Verwaltungsbeamte, als Geistliche usw.
mit Volkserziehung zu tun haben.
Es ist eines der Hauptverdienste der vorjährigen Ministerialkonferenz, das
wissenschaftliche „Heimatrecht der Pädagogik an den Univer-
sitäten", '^^ie es der preußische Kultusminister ausdrückte, erwiesen zu
haben. Aber die Thesen der beiden Hauptreferenten, Troellsch und Ziehen,
bedürfen doch einer Ergänzung, damit die Beziehung der Pädagogik zu den
Wissenschaftsgebieten nicht einseitig aufgefaßt werde. Beide betonen vor
allem die Beziehung der Pädagogik zur Philosophie, insbesondere zur Kultur-
philo Sophie und Wertlehre, wie auch die zur Kulturgeschichte; Ziehen
legt außerdem noch auf die Eingliederung des Erziehungsweseiis und seiner
Organisation in die Gesamtheit des staatsbürgerlichen und Berufslebens be-
deutenden Wert. Diese Zusammenhänge sind in den Thesen und an-
schließenden Besprechungen so ausführlich und vielseitig erörtert worden,
daß es unnötig ist, nochmals darauf zurückzukommen. Es ist auch meine
Überzeugung, daß die Behandlung der Erziehungs-Ideale im Zusammen-
hang mit der Ethik, die der Bildungsgüter im Zusammenhang mit
der Kulturgeschichte, die der Unterrichts- und Erziehungs- Veranstal-
tungen im Zusammenhang mit der Staats Wissenschaft zu den wesent-
lichen Aufgaben der pädagogischen Wissenschaft gehört. Aber sie bilden
nicht die einzige Aufgabe; nicht minder wichtig ist die Berücksichtigung
der Erziehungsobjekte im Zusammenhang mit der Menschenkunde, ins-
besondere der Psychologie. Denn Erziehung ist nicht bloß die Sicherung
und Erweiterung objektiver Kulturgüter, sondern die Hineinbildung dieser
Güter in lebendige Menschenseelen und die Heranbildung der Kindheit und
Jugend unseres Volkes zu wertvollem Sein und Tun. Darum müssen wir
die Kindheit und Jugend kennen, in der inneren Gesetzlichkeit ihrer
seelischen Entwicklung, in der Beeinflußbarkeit ihres Intellekts und Charakters
durch die äußeren Eindrücke und Einwirkungen, in ihrer Fähigkeit, die
objektiven Forderungen der Erziehung und des Unterrichts zu erfüllen, in
ihrer Differenzierung nach Geschlechtern und sozialer Schichtung, nach Be-
gabungen, Gemüts- und Willenseigenschaften. Und so tritt denn die psycho-
logisch orientierte Jugendkunde der ethisch und staatswissenschaftlich
orientierten Kulturkunde als die zweite Grundlage wissenschaftlicher Päda-
gogik gleichberechtigt zur Seite. Die Abneigung gegen die psychologische
Pädagogik, wie sie durch die Ausführungen einiger Redner hindurch-
schimmert, ist wohl verursacht durch das Übermaß von Ansprüchen, mit
denen diese junge Wissenschaft im ersten Übereifer hier und da aufgetreten
war, durch die Behauptung, als sei die ganze Pädagogik nichts als ein
psychologisches Problem, durch die unglücklichen Bezeichnungen „experi-
mentelle Pädagogik" und „experimentelle Didaktik", die den Anschein
erweckten, als sollte eine neue., der Naturwissenschaft entlehnte Methode
Gutachtliche Äußerungen, Erste Reihe. 5. Stern 229
alles Bisherige über den Haufen werfen und auf den Kopf stellen. Das
waren Kinderkrankheiten, die überwunden sind, und es wird heute kaum
mehr irgendein ernsthafter Vertreter der Jugendkunde zu finden sein, der
noch zu solchen Ansichten neigt. Um so nachdrücklicher müssen wir uns
aber dagegen wenden, daß nun der Jugendkunde die ihr und der Päda-
gogik so notwendige Entwicklung bei der Einrichtung der Lehrstühle ver-
kümmert werden soll. Die Fragen, welche heute von der Jugendkunde
bearbeitet werden, beschränken sich nicht mehr, wie Troeltsch anzunehmen
scheint, auf die „technischen" Angelegenheiten des Unterrichtsverfahrens,
sondern sie ergreifen das gesamte Seelenleben des Kindes und jungen
Menschen; die Jugendkunde beschränkt sich auch nicht mehr auf die eine
Methode des Experiments, sondern sie läßt daneben andere Methoden, die
Biographie, die Statistik, vor allem aber die uralte und doch ewig junge
Methode der natürlichen Beobachtung, wieder zu ihrem Recht kommen. Sie
will auch nicht die jugendliche Seele naturwissenschaftlich zergliedern, bis
sie ein bloßes Aggregat von einzelnen Bewußtseinsinhalten und Leistungen
geworden ist; sondern sie will uns befähigen, die jugendHche Persönlichkeit
in ihrer Einheit und ihrer Besonderheit, in ihrer Ursprünglichkeit und ihrer
Bedingtheit zu verstehen.
Und gerade das letzte scheint mir für den akademischen Unterricht von
der grundsätzHchsten Bedeutung zu sein. Es kann sich nicht darum handeln,
den angehenden Lehrer zu einem Experimentalpsychologen zu machen, der
künftig imstande sein soll, an seinen Schülern wissenschaftlich psycho-
logische Studien anzustellen. Wohl aber soll er die verstehende Ein-
stellung auf das jugendliche Seelenleben gewinnen; soll zu nach-
erlebendem Einfühlen befähigt werden; sein Interesse soll geweckt und sein
Blick geschärft werden für das knospende und werdende, dem seinen oft
so fremde und doch von eigenem Reiz und eigenem Recht getragene Innen-
leben des Schülers. Ich selbst habe Universitätsvorlesungen über Kindes-
und Jugendpsychologie oftmals gehalten und weiß daher aus eigener Er-
fahrung, was diese veränderte Einstellung für die künftige Berufsauffassung
und -freudigkeit bedeuten kann. So mancher ehemalige Hörer bezeugte mir,
daß er auf Grund jener psychologischen Interessen dazu gekommen sei,
seinen Beruf nicht als Wissensübermittelung, sondern als Seelenführung an-
zusehen und lieb zu gewinnen.
Aber auch als wissenschaftliches Forschungsgebiet darf die Jugend-
kunde beanspruchen, aus ihrer bisherigen Heimatlosigkeit erlöst zu werden.
Denn die Aufgaben, die ihrer als angewandter Wissenschaft in Zukunft harren,
sind von größtem Umfang — es sei nur beispielshalber erwähnt, daß die Pro-
bleme des Begabtenaufstiegs, des Berechtigungswesens, der Jugendpflege, der
Berufsberatung, sowie der Reform bestimmter Lehrmethoden und Schulorgani-
sationen ohne jugendkundhche Grundlage gar nicht befriedigend gelöst werden
können. Darum würde es auch gar nicht genügen, wenn man den bestehen-
den Professuren für Psychologie nahelegen wollte, mehr als bisher jugend-
psychologische Fragen zu bearbeiten — dazu ist das Gebiet der Psychologie
selbst zu umfangreich geworden; vielmehr wird zu verlangen sein, daß an
gewissen Universitäten die Pädagogikprofessur in die Hände von Persönhch-
keiten komme, die nicht nur als Kenner, sondern als Forscher auf dem
Gebiet der psychologischen Jugendkunde wirken.
230 Über die künftige Pflege der Pädagogik an. den deutschen Universitäten
Dies führt uns zu dem Gesichtspunkt der notwendigen Arbeitsteilung.
Die Pädagogik ist, als wissenschaftliche Disziplin, so umfassend, daß ihre all-
seitige gleichmäßige Pflege die Kräfte eines einzelnen weit übersteigt. Man
wird zum mindesten vier Haupttypen von Pädagogikprofessoren zu unter-
scheiden haben: den „Philosophen" im engeren Sinne (Ethiker, Kultur- und
Sozialphilosophen), den „Didaktiker" — hierher gehören die meisten Männer,
die aus der Schulpraxis zur Pädagogikdozentur übergehen — den Sozial-
und Slaatswissenschaftler (wie er insbesondere von Ziehen gefordert wird)
und den „Jugendkundler". Da zurzeit nicht daran zu denken ist, daß
mehrere ordentliche Professuren für diese Zwecke an einer Universität er-
richtet werden, so ist wenigstens dies zu fordern, daß an verschiedenen
Universitäten verschiedene Typen zur Geltung kommen. Sowie
man sich früher mit Recht gegen den Anspruch wandte, daß die Pädagogik
tiberall durch „experimentelle Pädagogen" vertreten würde, so muß man sich
jetzt dagegen wenden, als ob die „Kulturphilosophen " die einzigen Anwärter
auf die neuen Lehrstühle sein dürften. Hier muß sich vielmehr die Mannig-
faltigkeit deutschen Universitätslebens wieder einmal bewähren. Überall
aber wäre dann dafür zu sorgen, daß diejenigen Gebiete der Pädagogik, die
dem Fachvertreter auf Grund seiner besonderen Interessen fernliegen, durch
Heranziehung der anderen Fakultätskollegen, der Philosophen, Psychologen,
Philologen, Naturwissenschaftler, sowie durch Mitwirkung jüngerer Hilfskräfte
ebenfalls zu ihrem Rechte kommen.
Zugleich müßte der Pädagogikprofessor eine nicht gering zu achtende Auf-
gabe darin sehen, die oben erwähnten spontanen Interessen der Studenten-
schaft an den Fragen der Volkserziehung und des Bildungswesens zu fördern
und mit den Bestrebungen der studentisch -pädagogischen Gruppen persön-
liche Fühlung zu nehmen.
Anhang.
Die Leitsätze für die Pädagogische Konferenz im preußischen Ministerium.
A) Geheimer Regienmgsrat Professor D. Dr. Ernst Troeltsch in Berlin.
1. Vom StanJpunkte oder der Gesamtidee der Philosophischen Fakultät aus ist bezüglich der
pädagogtschan Lehrstühle zu fordern, daß sie eine rein theoretische Wissenschaft vertreten. Nur
eine solche fügt sich der Idee einer wissenschaftlichen, d. h. theoretischen Bearbeitung des Globus
intellectualis ein, während eine Mischung von Unterrichtsgeschichte, Probeschule, Vorlesungen
über Unterrichtstechnik und pädagogisch verwertbarer Psychologie kein Ganzes in sich ist und
zwischen halber Wissenschaft und halber Praxis schwankt, ein ähnlich unorganisches Anhängsel
an die Philosophische Fakultät, wie die sog. praktische Theologie es an die Theologische ist.
Als rein theoretische Wissenschaft ist sie Wissenschaft von der Volkserzieliung auf der Grundlage
einer bestimmten Anschauung von Volk und Gesellschaft, von Berufsgliederung und ethischer
Persönlichkeitserziehung, von der Organisation der Erziehung in allen Stufen und Arten. Damit
entspricht sie durchaus dem Wesen der Philosophischen Fakultät, die ja in naturwissenschaftlich-
mathematischen, philologischen, historischen und philosophischen Fächern das Lehrgut zusammen-
trägt, das der Anwendung und Anpassung auf die Volkserziehung harrt.
2. Bei solcher Auffassung steht die Pädagogik zunächst allen Disziplinen der Philosophischen
Fakultät gleich nahe, indem sie deren Stoffe als Bestandteile des Lehrgutes betrachtet und deren
Verwertung für die in ihrer historischen Entstehung und soziologisch-politischen Bedingtheit
"verstandenen Schulorganisationen deutlich macht. Am notwendigsten ist freilich dafür der Besitz
einer einheitlichen Synthese dieser verschiedenen Bestandteile des Lehrgutes zu einer wenigstens
relativ einheitlichen Kulturidee, die da;m den verschiedenen Schulgattungen in der durch ihre
Sonderzwecke nuancierten Besonderung, aber doch als wesentliche geistige Einheit zugrunde
Leitsätze von Troeltsch 231
gelegt werden kann. Dieser Begriff einer Synthese rückt nun aber die Pädagogik selir nahe an
die Philosophie heran, deren Aufgabe ja unter allen Umständen und bei jeder besonderen Art
ihrer Begriffswelt die Synthese des geistigen Gehalts und Sinnes der gegenwärtigen Kultur ist,
wie eine jede zu jeder Zeit sich diese Aufgabe gestellt hat. Die Pädagogik muß insofern auf
philosophischer Grundlage, d. h. auf der von der Philosophie her entwickelten und begründeten
Geschichts- und Kulturphilosophie oder Ethik, begründet sein oder selber sich eine solche Syn-
these philosophisch erwerben. Da aber für eine solche Arbeit die völlige Beherrschung der philo-
sophischen Grundprobleme erforderlich ist, so wird sie in dieser Hinsicht von der Philosophie
her bedingt sein und in enger Gemeinschait mit der Arbeit der Philosophen stehen.
3. Das setzt freilich eine Gestaltung der philosophischen Lehrtätigkeit und noch mehr der
philosophischen Problemstellung selbst voraus, die zwar an sich im Wesen der Philosophie liegt,
die aber in der gegenwärtigen Verfassung der Philosophie nicht ohne weiteres gegeben ist. Zu
allen Zeiten ist es die Aufgabe der Philosophie gewesen, den geistigen Besitz der Zeit in einer
letzten Synthese zu erfassen und zu begründen, wodurch sie sowohl für Ethik und Geschichts-
philosophie als für Staats- und Erziehungstheorie die Unterlage bildet. Das aber ist heute teils
durch die Spezialisierung der philosophischen Fächer, teils durch das Übergewicht der Rück-
sichten auf die Naturwissenschaften, teils durch eine gewisse Mutlosigkeit und vornehme Kon-
fliktscheu der Philosophie sehr erschwert. Die Philosophie ist heute wesentlich Psychologie
sodann Logik- und Erkenntnistheorie und schließlich Geschichte der Philosophie, welch letztere
zum Selbstzweck oder, was dasselbe ist, zum Examensgegenstand geworden ist. Ihre Wirkung
auf die Studenten, d. h. auf die zukünftigen Volkserzieher und Volksführer, ist daher im all-
gemeinen nicht viel mehr als eine gewisse Beruhigung darüber, daß die moderne Naturwissen-
schaft bei philosophischer Umsicht und Vorsicht nicht materialistische Konsequenzen nach sich
zu ziehen braucht. Aber eine positive Kraft der Weltanschauungsbildung entfaltet die Philo-
sophie selten und hält sie geradezu vielfach für nicht zu ihrer Aufgabe gehörig. Eben deshalb
treten auch Geschichtsphilosophie, Ethik und Kulturphilosophie in ihrer Lehrtätigkeit sehr
stark zurück. Unter diesen Umständen fehlt der Pädagogik größtenteils der philosophische
Anschluß und bleibt günstigsten Falles nur der Anschluß an die Psychologie, wobei dann für
die Pädagogik lediglich technische Hilfsmittel, aber kein Bild der staatlichen Gesellschaft und
des ethisch - kulturphilosophischen Unterrichtszieles sich ergeben. Eine derartige Angliederung
bleibt daher in ihrem Ergebnis ziemlich mager und gibt der Pädagogik keine rechte Einstellung
in die Zentralinteressen der philosophischen Fakultäten. Eine solche wird erst möglich werden,
wenn die Philosophie wieder zu ihren alten, weiteren und weniger fachmäßigen Problem-
stellungen zurückkehrt. Eine solche Rückkehr ist aber die Voraussetzung für die Schaffung
lebendig wirksamer Lehrstühle für Pädagogik.
4. Nimmt man nun aber einmal an, die Philosophie vollziehe eine derartige Rückkehr, wofür
in dem Geiste der jüngeren Generation manches spricht, imd sie pflege neben Psychologie und
Logik auch eine auf beide aufgebaute Kultur- und geschichtsphilosopbische Begriffsbildung, so
ist immer noch die Frage, wem die Aufgabe der Pädagogik in die Hand zu geben ist, ob dem
Philosophen selbst oder einem gründlich philosophisch gebildeten Spezialisten für Pädagogik.
Das erstere wird unter Umständen möglich sein , wofür etwa die Beispiele von Paulsen, Natorp
und Spranger genannt werden können. Allein solche Philosophen mit derartiger Spezalisierung
auf die Pädagogik werden selten sein, und die Größe der rein philosophischen Aufgabe wird
selten den Raum übrig lassen für eine genügend breite Entfaltung der Pädagogik. So wün-
schenswert es ist, daß Piiilosophen gelegentlich Pädagogik lesen, so wird doch die eigentliche
Pädagogik eine besondere und ganze Kraft verlangen, die den historischen, den politisch-sozio-
logischen, den philosophischen, den schulgeschichtlichen und den unterrichtstechnischen Teil
ihres Stoffes gleichmäßig beherrscht. Es würde sich also um die Schaffung einer selbstän-
digen, neuen und umfassenden Wissenschaft handeln, für die man erst ein paar begabte Ver-
treter haben müßte, um durch sie Tradition, Grundriß und Nachwuchs dieser Forschung aus-
bilden zu lassen. Die Aus- und Durchbildung des Faches müßte dann der weiteren Entwicklung
überlassen bleiben.
5. Es handelt sich also um eine selbständige und umfassende Wissenschaft vom staatlichen
Schulwesen, seiner Geschichte und seinen Zielen, wobei natürlich das gesamte Schulwesen ein-
schließlich der Volksschule zu umfassen ist. Das bedeutet eine Zusammenfassung v«rschiedener
und weitverzweigter empirischer Kenntnisse mit einer philosophisch-geklärten und begründeten
Anschauung vom Wesen unseres geistigen Besitzes, soweit er von der Schule jeder Art realisiert
werden kann. Das ist dann zugleich eine wissenschaftliche Unterlage für die Lehrer-Seminare,
eine Information für die Schulpolitik und eine Zusammenfassung de« praktischen Zweckes der
232 Über die zukünftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
philosophischen Fakultät, an der es bisher sehr gefehlt hat, schließlich eine Einführung der
Studenten in Ideale und Ethik des Lehrerberufes. Nur darf in letzter Hinsicht nicht übersehen
werden, daß das die Pädagogik nicht allein kann und soll, sondern hierin von den Vertretern
der Einzeltächer grundsätzlich und bewußt unterstützt werden muß. Die Begeisterung für den
idealen Erziehungs- und Bildungsgehalt des Lehrgutes muß in erster Linie von den Vertretern
der Einzelfächer geweckt und gepflegt werden. Die Pädagogik wird ihrerseits in dieser Hin-
sicht sich an den Lehrerberuf als Ganzes und an die Bedeutung dieses Ganzen für Staat, Ge-
sellschaft und Geislesleben zu halten haben.
6. So voll beschäftigender Stoff sich für einen solchen Lehrstuhl aufzeigen läßt, so schwierig
ist die Frage der ihm zuzuweisenden Zuhörer und der Entwicklung eines Vorlesungsprogrammes
für ihn. Der Student soll ja nicht Fachwissenschaftler der Pädagogik werden, und die Päda-
gogik darf nicht in fremde Stoffe übergreifen, etwa unter dem Vorwande philologische und
historische Stoffe schultechnisch zu behandeln. So könnte der Student normalerweise nur zu
einem einzigen Kolleg über Pädagogik verbunden werden. Das aber würde für den Lehrer
bedeuten, daß er jedes Semester dasselbe Kolleg zu lesen, und in diesem seinen ganzen Stoff
zusammenzudrängen hat. Das aber ist sowohl für den Gelehrten als für seinen Stoff eine miß-
liche Lage. Dazu kommt, daß die Pädagogik etwas Ganzes doch nur ist, wenn sie die Volks-
erziehung als Ganzes, also auch die Volksschule miteingeschlossen, behandelt. Von da aus
ergäbe sich natürlich eine Erweiterung und ein Wechsel des Hörerkreises, aber nur unter der
Bedingung, daß auch die zukünftigen Volksschullehrer oder doch wenigstens eine gewisse Aus-
wahl aus ihnen an diesen Kollegien beteiligt würden. Das aber ist nun wieder eine sehr
schwierige Frage, die zwar bereits an manchen Orten akut geworden, aber für die eine befrie-
digende Lösung bis jetzt nicht gefunden worden ist.
7. Unter diesen Umständen ist die Schaffung pädagogischer Lehrstühle immerhin ein ver-
wickeltes Experiment, das allerhand Voraussetzungen macht, die nicht ohne weiteres als erfüllt
gelten dürfen. Immerhin könnte diesen Voraussetzungen von der Unterrichtsverwaltung nach-
geholfen werden, und die zu geistiger Selbstbesinnung und Konzentration mahnende Zeit drängt
die gelehrte Arbeit von selbst in diese Richtung. Insofern wäre an einer oder ein paar
größeren Hochschulen ein derartiges Unternehmen möglich. Es ist zunächst und zuerst eine
Personenfrage. Ist die geeignete Person gefunden, so wird sie das Fach von selbst durchsetzen
und andere Personen erziehen, die die Aufgabe fortsetzen und verbreitem können. Die Frage
des Bedürfnisses selbst zu entscheiden, steht dabei den praktischen Schulmännern zu. Vom
Standpunkte der Philosophischen Fakultät kann es sich nur darum handeln, dem Fach die aus
seinem Wesen und aus den Verhältnissen der Fakultät heraus mögliche Eingliederung in ihre
Arbeit abzustecken, womit ja der inhaltlichen Erfüllung dieses Gebietes durch die etwaigen
zukünftigen Fachvertreter nicht vorgegriffen ist.
B) Stadtrat Prof. Dr. Julius Ziehen in Frankfurt a. M.
1. Durch die Universitätsvorlesungen und -Übungen über Pädagogik soll den mit der zwei-
jährigen praktischen Ausbildung der Lehramtskandidaten verbundenen Aufgaben in keiner
Weise vorgegriffen werden. Die Behandlung solcher Stoffe, die nur im Zusammenhang mit
praktischen Lehrversuchen in ihrer vollen Tragweite erfaßt werden können, hat daher zu
unterbleiben. Eine Übungsschule ist für die pädagogische Ausbildung auf der Universität nicht
einzurichten. Auch die sogenannte schulwissenschaftliche Behandlung der Lehrfächer ist abzu-
lehnen. Durch das Studium der Pädagogik darf das fachwissenschaftliche Studium in keiner
Weise beeinträchtigt werden.
2. Die erste Aufgabe der pädagogischen Universitätsvorlesungen und -Übungen geht dahin,
die Studierenden ein klares Verständnis dafür gewinnen zu lassen, wie auf dem Boden der all-
gemeinen Kulturentwicklung das Erziehungs- und Schulwesen seinen heutigen Stand erreicht
hat und welche grundsätzlichen Zusammenhänge zwischen der allgemeinen Kulturentwicklung
und dem Erziehungs- und Bildungswesen bestehen. Die Pädagogik muß dabei als Teilgebiet
einer allgemeinen Volkserziehungswissenschaft behandelt werden.
3. Die Geschichte der pädagogischen Theorien ist mit steter Bezugnahme auf die Verhält-
nisse der Gegenwart zu behandeln. Im Vordergrund der Betrachtimg hat die Geschichte der
Erziehungsideale und das Maß ihrer Verwirklichung in den verschiedenen Zeiten und Ländern
zu stehen.
4. Die Geschichte der Schulorganisation hat auszugehen von dem Bilde der Entwicklung,
die das Lehrgut der Völker im Laufe der Zeiten genommen hat. Die Erörterung über das
Verhältnis des Lehrgutes zu den Forderungen des staatsbürgerlichen und des Berufslebens
Leitsätze von Ziehen und Spranger 233
hat die Abstufung und Nebeneinanderstellung verschiedener Schularten in ihrer inneren Berech-
tigung zu erweisen.
5. Die Organisation der Schulverfassung und Schulverwaltung ist auf Grund der historischen
Entwicklung zu betrachten. Das Verständnis für diese Entwicklung ist durch eingehende Inter-
pretation besonders wichtiger erziehungs- und schulgesetzlicher Bestimmungen zu fördern. Durch
Heranziehung geeigneten biographischen Stoffes ist die Geschichte der Schulverfassung und
Schulverwaltung zu beleben.
6. Das Verständnis für die Erziehungs- und Schulpraxis ist durch die geschichtliche Betrachtung
des Erziehungs- und Schulwesens vorzubereiten. Dabei ist an der Hand biographischen Stoffes
einerseits das Lehrerberufsideal zum Verständnis zu bringen und andererseits die Wirkung der
Erziehungs- und Schularbeit auf die Jugendlichen zn veranschaulichen.
7. Bei der Behandlung aller hier aufgeführten Stoffe ist unter tunlichster Selbsttätigkeit der
Studierenden auf die quellenmäßige wissenschaftliche Erarbeitung der Kenntnisse das Haupt-
gewicht zu legen. Der bloßen Aneignung des Stoffes aus Quellen zweiter und dritter Hand ist
mit besonderem Nachdruck entgegenzuwirken.
C) Prof. Dr, Eduard Spranger in Leipzig.
I. Gegenstand der Pädagogik als Wissenschaft, die allein an die Universität gehört, ist der
Bildungsvorgang als eine alle Gebiete der Kultur durchziehende Erscheinung. An diesem
Bildungsvorgang sind als grundlegende Seiten zu unterscheiden: das Bildungsideal, die
Bildsamkeit, der Bildner (Erzieher) und die Bildungsgemeinschaft (z.B. Schule).
a) Die Bildungsideale der Vergangenheit müssen aus dem kulturellen Zusammenhang
ihrer Zeit: den religiösen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, künstlerischen, sozialen und poli-
tischen Motiven verstanden werden. Das Bildungsideal der Gegenwart beruht selbst großenteils
auf Bildungsgütern, die von vergangenen Kulturepochen erarbeitet worden sind. Eine
weitere Analyse hat die in ihm gebundenen Bildungswerte herauszuheben, d. h. die spe-
zifisch wirkenden Elemente, wodurch einzelne Lehrgegenstände, Geistesprozesse oder Kultur-
einrichtungen einen sich entwickelnden Geist zur Erzeugung entsprechender objektiv wertvoller
Leistungen in Tätigkeit setzen.
b) Die Bildsamkeit des Zöglings ist wesentlich Gegenstand der pädagogischen Psycho-
logie. Diese ist einerseits Kinder- und Jugendpsychologie, sei es Lehre von der psycho-physischen
Entwicklung des Kindes, sei es von den Typen der kindlichen Individualität (Differentielle
Psychologie). Andrerseits untersucht sie die psychischen Wege, auf denen Unterricht und Er-
ziehung wirken, die seelischen Anknüpfungspunkte und Hebel absichtlicher Beeinflussung, vor
allem auch die normalen oder krankhaften Grenzen der Plastizität (Bildsamkeit).
c) Der Bildner hat wie jeder schöpferische Mensch seine besondere Geistesstruktur. Das
Wesen des pädagogischen Eros muß zum Bewußtsein erhoben werden, und zwar in seinen
beiden Gestalten als Liebe zu den Kindern , wie sie in A. H. Francke und Pestalozzi gipfelt, und
als Liebe zu den objektiven Werten, zur Idee des Menschentums und dem Göttlichen, das in
jugendliche Seelen hineingearbeitet werden soll. Die Lehre von den Bildungsmethoden hat
das Gesetz des jeweiligen Sachgebietes und der psychischen Entwicklung aneinanderzuknüpfen
(Erziehungslehre und Didaktik).
• d) Die Bildungsgemeinschaft ist teils eine freie, wie sie aus der Zweckverwebung des
Lebens überall von selbst entsteht, teils eine organisierte, also Schule, speziell staatliche und
kirchliche Schule. Hier ist der Zusammenhang mit Verfassungsgeschichte, Soziologie und Rechts-
wissenschaft anzustreben. Im Vordergrund steht die Beziehung des nationalen Staates zu Schule
und Bildung, sowie die Pflicht der Schule gegen den Staat (staatsbürgerliche Erziehung). Be-
rücksichtigung des ausländischen Bildungswesens ist wünschenswert.
II. Für die Universitätsvorlesung ist diese systematische Einteilung nicht zweckmäßig. Über-
wiegend werden die entwickelten Gesichtspunkte an der Geschichte der Erziehung zur Dar-
stellung zu bringen sein. Doch darf eine systematische Zusammenfassung nicht fehlen. Liegt
eine G e s a m t auff assung der Betrachtung zugrunde, so muß der Geist des Ganzen schon dem
Hörer einer Vorlesung gegenwärtig werden. Die mißliche Verpflichtung zum Besuch des
ganzen Turnus (die ja auch in der Philosophie nicht besteht) fällt fort.
III. In Leipzig hat sich folgende Einrichtung bewährt:
Pädagogik I: Philosophische Grundlegung und Geschichte der Erziehung vom Altertum bis
Rousseau. 3 stündig.
Pädagogik II: Pädagogische Theorien und Erziehungswesen von Rousseau bis zur Gegenwart.
3 stündig.
234 Aloys Fischer
Pädagogik III: Systematische Pädagogik (Erziehungslehre und allgemeine Didaktik) mit einem
Abriß der Kinderpsychologie. 4 stündig.
Außerdem Geschichte der deutschen Schulgesetzgebung und Schulverfassung. 2 stündig.
Erziehungsfragen der Gegenwart j
Universitäten und Universitätsstudium \ publice,
usw. J
Ober das Bauen und die Bauspiele von Kindern.
Von Aloys Fischer.
Will man das Bauen der Kinder untersuchen, eine der allgemeinsten Formen
frühkindlicher Tätigkeiten, die in den weiteren Zusammenhang der von K. Groos
sogenannten Konstruktionsspiele hineingehören, so muß von vornherein das
Baumaterial genau bekannt, im Hinblick auf psychologische und päda-
gogische Absichten eventuell planmäßig ausgewählt und gestaltet werden.
Im allgemeinen lassen sich vier Gruppen von Baumaterialien unterscheiden:
a) Solche Klötzchen und Steinformen, die durch Gestalt und Be-
malung einen inneren Hinweis auf bestimmte Baugestalten ent-
halten. Die Verschiedenheit des Stoffes, ob Stein, Rohholz oder bemaltes
Holz ist dabei auch nicht ganz gleichgültig. Am eindeutigsten weisen solche
Klötzchen auf „Häuser", „Kirchen", „Scheunen" hin, welche aus Holz her-
gestellt und durch die Farbe und Oberflächenzeichnung als „Dach",
„Dachstück", „Wand mit Fenstern", Wand mit Tor" eindeutig gekennzeichnet
sind. „Der kleine Schwede" und der „Münchner Kindl-Baukasten" mögen
als Repräsentanten genannt sein. Die als Dachteile in Betracht kommenden
Klötze sind hellrot gestrichen, die Wandteile weiß; auf ihnen ist deutlich die
Zeichnung von Fenstern, Türen erkennbar. Weniger eindeutig sind die natur-
farbenen Klötze. Unter ihnen sind wieder die Steinklötze (mit braunroter oder
graugrüner Materialfarbe) den rohen Holzklötzen an hinweisender Kraft über-
legen. Eineii letzten Grad solch inneren Bausinnes haben alle regelmäßig
geformten Klötze überhaupt; die Anklänge an Quader und Ziegel, die Mög-
lichkeit der Schichtung und Verbindung mögen zusammenwirken, um diesen
Bausinn zu begründen. Dominosteine, die gar nicht für Bauspiele im eigent-
lichen Sinne erdacht sind, aber vom jungen Kind so verwendet werden, mögen
diese unterste Grenze des im Material steckenden Hinweises auf bauliche
Formgebung repräsentieren.
Eine zweite Gruppe von Materialien des Bauspiels stellen b) die ansich
relativ gestaltlosen, aber im höchsten Grade formbaren, ohne an-
deres Werkzeug als die Hände gestaltbaren Stoffe Sand, Lehm,
Schnee, Ton, Wachs, die künstlichen Modellierst off e dar. In diesen
Stoffen schlummert nur der allgemeine Anreiz zur Gestaltung ; sie können eben-
sogut in darstellender Absicht (das „Modellieren" von Schneemännern, Wachs-
figuren, Tontieren usw.) verwendet werden wie zu tektonischer Gestaltung,
zum Formen und Bauen im engeren Sinne. Es hängt von Begabung, Umwelt,
Muster, Anleitung und anderen Faktoren ab, ob das Kind sich dieser Mate-
riaUen in erster Linie als plastischer Materialien oder als Baustoffe bemächtigt,
ob es eventuell beide Seiten sieht, eventuell auf eine beschränkt bleibt. Das
Bauen in Sand und Schnee mindestens, in der Regel als Gesellschaftsspiel
an die Arbeitsverkettungen der Kollektivschöpfung gebunden, dürfte doch so
über das Bauen und die Bauspiele von Kindern 235
allgemein verbreitet sein, daß eine Psychologie des kindlichen Bauens an ihm
nicht vorübergehen darf, daß eine Beschränkung auf das Bauen mit fertigen
Klötzen und Steinen die Gefahr einseitiger Schlußfolgerungen bedeutet. Ins-
besondere müssen, wenn das gleiche Kind zufällig in beiden Materialien bauen
sollte, die Einflüsse des verschiedenen Materials auf die Formgebung ermittelt
werden, denn es ist gewiß, daß das Bauen mit Klötzchen als „Zusammen-
setzen" zu anderen Produkten führt, als das Bauen mit Sand oder Schnee,
das notgedrungen etwas vom „Formen" behält.
Von den bisher betrachteten Gruppen der Baumaterialien scheidet sich die
dritte dadurch ab, daß sie c) solche Stoffe umfaßt, die gerade noch
für bauende Tätigkeiten verwendbar sind, aber sowohl eines inneren
Bausinnes, wie einer unbedingten Formbarkeit entbehren. Ich denke an das
oft phantasievolle Bauen mit Steinen, Tannenzapfen, Zweigen im Wald, das
durch Eigentümlichkeiten des Bodens oder allgemeine Waldstimmungen an-
geregt wird. So habe ich bei 6 — Sjährigen Knaben häufig beobachtet, daß
ihnen die verwitternden Baumstümpfe als Ruinen, weiterhin als „Burgen" er-
schienen, mit Zacken," Zinnen und Türmen, und daß sie mit Rindenstücken
und aufgelesenen Feldsteinen Festungsmauern um solche Burgen bauten,
gepflasterte Wege zu ihnen über den Moosboden des Waldes anlegten und
anderes in solchem Zusammenhang Mögliche, wie Brücken, Wachttürme erbauten.
Oder die dem Zweck nach so verschiedenen, der Art nach so verwandten
„Bauten" am fließenden Wasser, der Bau von Stauwehren, von „Weihern"
mit Steinen, Straßenkot, Holzstückchen, Lumpen und anderen, meist dem Zu-
fall verdankten Abfällen. Bei einem 7jährigen Knaben beobachtete ich der^
artiges Bauen monatelang ; er hatte in dieser Zeit die ungleichen und ungleich-
verwitterten Baumstümpfe einer kleinen Blöße allmählich in ein ganzes, am
Fuß und unterm Schutz einer hochragenden Burg liegendes Dorf mit Kirche
und Straßen und Umfassungsmauer umgeschaffen, zu dem drei, trotz aller
Unbilden der Witterung immer wieder hergestellte Wege, ein Moosweg, ein
Stein weg, ein Prügelweg in Längen von 15, 12 und 9 m hinführten. Zugleich
wurde das „Burgdorf" der Mittelpunkt von „Erzählungen", in denen Gehör-
tes und Erfundenes sich zu schauerlichen Kampfszenen und behaglichen
Schilderungen aus dem Leben der Handwerker, besonders der Schmiede,
Sägemüller und Bäcker vereinigten.
Als letzte Gruppe müssen wir d) echte Baumaterialien ins Auge fassen.
Sie wenden keineswegs nur am Ende der Kindheit, von Jugendlichen verwandt,
sondern (unter ländlichen Verhältnissen z. B., oder unter dem Einfluß des
väterlichen Handwerks) auch schon von Schulkindern. Zu diesen echten
Baumaterialien rechne ich in erster Linie Bretter, Stangen und Laubzweige, die
zu Hütten verarbeitet werden, Ziegel, Feldsteine und Mörtel und ähnliche Dinge.
Das Bauen wird mit solchem Material auch noch in der Zweckhinsicht ernster:
es kommt zur Herstellung wirklicher Unterschlupfe, von Laubhütten und
Zelten, von gemauerten Feuerherden, von Taubenschlägen, Vogelkäfigen,
Kaninchenställen, Hundehütten usw. Für diese letzte Art des Baumaterials
und das dadurch bedingte Bauen ist wichtig, daß der Bau einen realen Zweck
wirklich befriedigen soll, mag dieser die Unterkunft des bauenden Knaben
selber sein, wie bei den Hütten, die unsere „Wandervögel" bauen, oder die
Unterkunft eines Tieres, die Aufbewahrung eines Besitzes. Demgemäß müssen
Material und Bearbeitung haltbar, dauerhaft sein ; beide nähern sich dem
236 Aloys Fischer
echten Bauen, ja gehen (bei der Herstellung von Blockhäuschen oder Feuer-
herden) in die primitiven Formen desselben unmittelbar über.
Eine Reihenfolge in der Benutzung dieser Materialgruppen ist kaum er-
kennbar; die Hilfsmittel der sozialen Schicht, welcher das Kind entstammt,
sind von größerem Einfluß darauf als die Entwicklungslinie der konstruktiven
Begabungen. Im allgemeinen werden auf jeder Altersstufe, für die das Bauen
noch charakteristisch ist, mindestens die drei zuerst genannten Materialien
nebeneinander verwendet. Nur die Benutzung echter Baumaterialien ist den
späteren Schuljahren vorbehalten, aus zwei Gründen, soviel ich sehe, weil
dann erst die erforderliche Körperkraft, Handgeschicklichkeit und technische
Übung vorhanden ist, ohne welche ein Arbeiten mit solchen Materialien schlecht
gelingt, mindestens ebensosehr aber auch, weil die Schaffung von Zweck-
bauten für reale Benutzung ohne einige Reife nicht zum Ziel der Bauspiel-
tätigkeit werden kann.
Es ist bekannt, daß es neben den hier gekennzeichneten Materialien auf
dem Spielwarenmarkt noch andere gibt, besonders die sog. Bau- und Modellier-
bogen. Bei ihnen handelt es sich zunächst um Ausschneidearbeit, die Stücke
werden dann zusammengebogen, verleimt oder ineinandergesteckt zu dünnen
Papphäusern. Diese Materialien lasse ich hier absichtlich beiseite, weil sie
sozusagen überdeterminiert sind; ein eigentliches Bauen ist mit ihnen nicht
mehr möglich, alles Bauliche steckt schon in den Vorlagen. Freilich wären
bei älteren Kindern Erhebungen über Raumphantasie mit Hilfe dieser Vor-
lagen möglich, aber dann müßten diese anders, allgemeiner gehalten und
gestaltet werden, als es bei den jetzt im Handel befindlichen Exemplaren der
Fall ist.
Außer der Art ist die Menge des Materials von erheblicher Bedeutung.
Die frühen Kinderjahre werden durch die Menge des Materials anders beein-
flußt als die späteren. Die Zahl der Klötzchen muß überschaubar sein, sonst
kommt es entweder zu keiner oder wenigstens zu keiner vollständigen Aus-
nutzung des Materials in Bauten. Die formlosen Materialien Sand, Schnee
usw. beeinträchtigen dagegen durch ihre Quantität die Bautätigkeit nicht;
offenbar weil das Kind weiß, daß es sich vom „Haufen" jeweils die Menge
wegnehmen kann, die es zu bewältigen vermag oder deren es bei seiner
Aufgabe gerade bedarf. Bei älteren Kindern, namentlich solchen mit aus-
schweifender Phantasie und nur beschränkter Konstruktionsbegabung ist
Knappheit des Materials ein Hemmnis; sie brauchen die Sicherheit, immer
noch über Massen von Material verfügen zu können.
Neben der Menge ist der Reicht um an unterschiedenen Einzelformen
je nach Alters- und Begabungsstufe ein Hindernis bezw. ein Vorteil. Man
kann am Material mit reichen Formunterschieden insbesondere die Entwick-
lung bestimmter Abstraktionen, des methodischen Denkens und Arbeitens
studieren. Was Köhn ') beim Kombinieren ebener Figuren aus gegebenen Teil-
stücken ausgezeichnet und erschöpfend festgestellt hat, das läßt sich auch
beim Bauspiel beobachten: die Kinder unterscheiden sich dadurch voneinander,
ob sie ihr Material (im Hinblick auf einen bestimmten „Bau", den sie machen
wollen, oder nur allgemein zum Bauen) vorher „sortieren" oder nicht, ob
das „Sortieren" vollständig oder unvollständig, planmäßig oder zufällig erfolgt,
') Experimentelle Beiträge zum Problem der Intelligenzprüfung, Leipzig 1913. Quelle &Meyer.
über das Bauen und die Bauspiele von Kindern 237
ob sie im weiteren Arbeitsverlauf die Erleichterungen und Hilfen auszunutzen
verstehen, die sortiertes Material ihnen gewährt oder ob sie auf diese Hilfen
wieder verzichten. Die Frühstufen der baulichen Leistung, die wir später
zusammenfassen, das richtungslose und das bestimmt gerichtete An- und Auf-
setzen der Klötzchen, das Legen von Reihen und symmetrischen Ordnungen
haben in der Sortiertätigkeit sowie in der Gleichartigkeit der sortierten Stücke
eine ihrer psychologischen Wurzeln. Reihungen und Ordnungen sind oft
nichts anderes als Entfaltung der durch Sortieren gefundenen Gleichheiten
des Materials. Die „Formlosigkeit" der Materialien Sand, Schnee äußert ihre
Wirkung u. a. auch darin, daß die rein formalen Vorübungen für die Her-
stellung von Baugliedern und den Verband solcher keine nennenswerte Rolle
spielen.
Für eine Psychologie der Bauspiele knüpfen sich an die vorstehend
skizzierten objektiven Eigenschaften des Baumaterials wichtige Fragen. Ich
hebe als solche (für Mitarbeiter an diesen Problemen auch als Fragestellungen
ihrer Beobachtungen und Versuche gedacht) die folgenden hervor:
1. Wann, in welcher Reihenfolge, mit welchen Hilfen erfaßt das Kind nach
und nach die in den Formen der Klötzchen enthaltenen Hinweise auf bauliche
Verwendung? Anders ausgedrückt: wie entwickelt sich das Verständnis für
die in den Klötzchen steckende Funktionsidee ?
Zur Durchführung von Versuchen, welche sich speziell mit der Beantwor-
tung dieser Fragen beschäftigen und begnügen, mache ich einen methodischen
Vorschlag: man verwende bei dem gleichen Kind an zwei verschiedenen, aber
nicht allzu getrennt liegenden Versuchstagen zwei verschiedene Ausführungen
derselben Bauklötzchen, etwa zwei Exemplare des „Kleinen Schweden* *) oder
zwei solche des „Münchener Kindl- Baukastens". Das eine Exemplar soll in
der Weise bemalt und bezeichnet sein, wie es bei den käufhchen Exemplaren
der Fall ist; das Kind hat dann in der roten Farbe ein Hilfsmittel zur Er-
kennung der Dach teile, in der weißen ein solches für die Mauerteile, in
den aufgemalten Fenstern und Türen gleichfalls eindeutige Hinweise. Das
andere Exemplar soll alle Klötzchen in der Naturfarbe des Holzes aufweisen;
als Moment, das auf eine bestimmte Verwendung im bauUchen Zusammenhang
hinweist, bleibt dabei lediglich die Form erhalten. Man lasse jedes Kind an
jedem Versuchstag zwei Aufgaben lösen: „Baue, was du willst", „Baue diese
Vorlage nach." In der Reihenfolge ist abzuwechseln, um etwaige Einflüsse
der Lage auszugleichen. Von jedem Kind würden wir insgesamt acht Lösungen
an vier Versuchstagen erhalten. Beispielsweise:
1. Tag. Es wird mit dem farblosen kleinen Schweden begonnen (7 Elemente!)
1. Bau nach eigenem Gutdünken.
2. Bau der nebenstehenden, in den farbigen Klötzchen ausgeführten
Vorlage.
2. Tag. Material: Farbiger Münchner Kindlkasten (Zahl der Elemente min-
destens 20).
1. Bau nach eigenem Gutdünken.
2. Bau der nebenstehenden Vorlage.
3. Tag. Material: Farbloser Münchner Kindlkasten.
0 Aussehen und Verwendung des »Kleinen Schweden" hat Otto Scheibner in dieser Zeit-
Bchrilt 1916, Seite 29 1. beschrieben.
238 Aloys Fischer
1. Bau nach Vorlage.
2. Bau nach Gutdünken.
4. Tag. Material: Kleiner Schwede in farbiger Ausführung.
1. Bau nach Gutdünken.
2. Bau nach farbiger Vorlage.
Wenn man die Ergebnisse dieser Versuche vergleicht, so wird sich mit einer
gewissen Leichtigkeit und Sicherheit der Fortschritt in der Erfassung des Bau-
sinnes der Materialien nachweisen lassen, insofern schließhch nur die Form
als Stütze desselben in Betracht kommt.
2. Wann fängt das Kind beim freien Bauen an, die in den vorgegebenen
Klötzchen steckenden Formbestimmtheiten und Hinweise als Hindernis für
seine eigenen Bauabsichten zu spüren und das Material unter diesem Gesichts-
punkt zu kritisieren oder abzuändern?
Manche selbstgestellten Aufgaben werden mit bestimmtem Material nicht oder
nur schlecht lösbar sein; es ist sicher anzunehmen, daß die Kinder allmählich
hinter die Grenzen des Materials imd die Erschwerungen durch dasselbe
kommen und sich zur Verwendung entweder formloser oder echter Baumaterialien
gedrängt fühlen.
3. Mit welchem Grade der Genauigkeit und Sicherheit vermag das Kind
eine Vorlage zu analysieren und die zu ihrer Ausführung nötigen Stücke
aus dem Vorrat der Klötzchen herauszusuchen?
Die Durchführung dieses Versuches bietet zwei Möglichkeiten, je nachdem
man von einer Vorlage Zeichnung oder von einem Vorlagebau ausgeht. In
beiden Fällen bezeichnet man der Versuchsperson mit dem Finger eine be-
stimmte Einzelheit, ein bestimmtes Stück und fordert es auf, dasselbe aus
seinen Klötzen herauszusuchen; die Umkehrung besteht darin, daß man ein
isoliertes Klötzchen vor das Kind legt, und es mit dem Finger zeigen läßt,
welchem Stück der Vorlagezeichnung oder des Vorlagebaues dieses Stückchen
entspricht. Je nach der Altersstufe fordert man noch eine mündliche Er-
läuterung, Begründung, weshalb das Stück nach der Meinung des Kindes an
diese Stelle gehört. Aus dieser erklärenden Aussage sind manchmal Auf-
schlüsse zu entnehmen über die Anhaltspunkte beim Vergleich von Formen
und der Analyse von Ganzen, auf die der Erwachsene sich nur noch aus-
nahmsweise stützt.
Die Hauptaufgabe der Psychologie der Bauspiele besteht jedoch darin, die
Entwicklung der bauenden Tätigkeit selbst klarzulegen, und zwar
unter Berücksichtigung aller Komponenten, die sie umschheßt: der Bauabsicht
und der antizipierenden Vorstellung eines Raumes, der durch das Bauen erst
entstehen soll bzw. des Mangels einer solchen Absicht und der Surrogate der
Zielvorstellung, der fortschreitenden Kenntnis und sachgemäßen Ausnutzung
der Materialien und ihrer Unterschiede, der etappenw^eisen Verwirklichung des
Bauplanes, der Korrekturen und Arbeitshilfen, der zusammenfassenden Charak-
teristik der von Kindern und Jugendlichen gestalteten Räume in ihren „Stil**-
unterschieden gegenüber aller Raumgestaltung der Erwachsenen, auch der
primitiven, der Beziehungen der Bautätigkeit zu allgemeinen geistigen Funk-
tionen, namentlich zur Intelligenz und zu Spezialtalenten, ihres allmählichen
Rückganges bzw\ Überganges in beruflich zugespitzte Formen und Leistungen
gegen das Ende der Jugendzeit.
Die weiteren Erhebungen, die heute noch erforderlich sind, lassen sich am
über das Bauen und die Bauspiele von Kindern 239
verständlichsten im Anschluß an die vorläufig erkennbaren Fortschritte des
Bauens angliedern; deshalb mag zunächst die Darstellung der Stufen, wie
sie sich einstweilen zusammenfassen lassen, folgen. Sie sind bisher nur am
Bauen mit Klötzchen festgestellt.
Das Bauen mit Klötzen zeigt eine deutlich gegliederte Entwicklung, die
auch durch die Unterschiede des Klötzchenmaterials nicht verdeckt werden
kann.O Als erste Stufe lassen sich die formalen Vorübungen für das
Bauen herausheben. Es sind solche Tätigkeiten, durch die das Kind erst-
mals die Herrschaft, die Verfügungsgewalt über die Klötzchen erwirbt, den
Baumaterialcharakter derselben entdeckt, dies innewird, daß sie sich heben,
verschieben, aneinanderreihen, aufeinanderlegen lassen. Innerhalb dieser Stufe,
die im allgemeinen schon im Kindergartenalter verlassen wird, bestehen noch
große Unterschiede, bedingt sowohl durch das Alter, wie insbesondere den
Begabungsgrad der Kinder. Zu ihr gehört noch das Kind, das mit den Klötz-
chen einfach hantiert, sie — wirklich oder scheinbar ziellos — aufhebt, weglegt,
hin- und herschiebt, zu Häufchen vereinigt, auseinanderstreut, dabei auch
gelegentlich allerlei an Figuren und Bauten anklingende Zufallsprodukte fertig
bringt und diese nachträghch deutet, und gehört ebenso das Kind, das sein
Klötzchenmaterial erst planmäßig sortiert, in Häufchen gleich großer, gleich
geformter Elemente vor sich aufschichtet und dann eine wohlgegliederte Reihe
mit ihnen legt. So groß die Abstände der Leistung zwischen dem wahllosen
Haufen und einer streng gegliederten Reihe aus einer Folge von z. B. je zwei
kleinen und einem großen Kötzchen sind, beide Äußerungen gehören doch
noch insofern zusammen, als sie vom eigentlichen Bauen, von der Um-
schließung von Räumen mit dem gegebenen Material, nichts erkennen lassen.
Im Gegenteil, es beweist die nachträghche Deutung solcher Produkte (etwa
als eines Eisenbahn zuges mit einer Lokomotive daran oder als einer
Person), daß dem hantierenden Kind noch nicht einmal der Charakter des
Baumaterials als solchen eindeutig und einleuchtend aufgegangen ist; es legt
seine Produkte nach Analogie seiner zeichnerischen und plastischen Versuche
als „Darstellungen" aus, mit einer manchmal noch verständlichen Ähnlichkeit,
oft auch mit einer — für den Erwachsenen wenigstens — vollkommenen
Unverständlichkeit.
Eine gewisse Verwandtschaft dieser Stufe mit der Kritzelstufe auf dem Ge-
biet der zeichnerischen Entwicklung oder Lallstufe auf dem Gebiet des Sprach-
erwerbs ist unverkennbar. Auch die Kritzeisstufe dient, teleologisch gewendet,
der formalen Vorübung, dem Erwerb der Handgeschicklichkeit, der Herrschaft
über Stift und Papier, dem Erwerb der gi'undlegenden Erfahrung, daß man mit
Stiften und Farben „zeichnen" und „malen* kann, sowie der allmählichen
Anbahnung einer Darstellungsabsicht. Die nachträglichen Deutungen des Ge-
kritzels sind in dieser Richtung zu interpretieren.
Auch die Anfänge der plastischen Gestaltung lassen sich bis auf eine solche
Stufe der Vorübung zurückverfolgen, sie wird durch das Kneten, Rollen, Drücken
der Formmasse bezeichnet. Aber die primitiven Produkte dieser Tätigkeit
enthalten für die kindliche Auffassung prägnantere Hinweise auf bestimmte
Objekte („Ball, Wurst, Wunn, Schlange") und demgemäß ist es bei der Deutung
') Vergl. dazu Walther Krölzsch: Beobachtungen über die Entwicklung des Kindes beim Bauen
mit Bausteinen. Diese Zeitschrift 1912, S. 421 f ; ,.Die Arbeitsschule" 1912, S. 188.
240 Aloys Fischer
plastischer Anfangsleistungen oft zweifelhaft, wie weit sich schon während
des Hantierens mit Ton und Wachs die Vorstellung von darstellbaren Ob-
jekten geltend macht und die Stufe der Vorübung in den ersten Versuch der
schematischen Darstellung fließend übergeht.
Auf die erste Stufe des Hantierens mit Klötzchen und der Entstehung von
Bauabsichten folgt als zweite Stufe die Umschließung von Flächen
mit Ausdeutungen im Sinne der Grundrißschematen. Das Kind legt
seine Klötzchen z. B. in einer unregelmäßigen oder regelmäßigen, in sich
zurückkehrenden Linie derartig an, daß von ihnen wie von einer Mauer,
einem Zaun, eine Binnenfläche umschlossen wird. Diese Binnenfläche wird
als „Stube", als „Haus", als „Stall", „Garten", gelegenthch auch als „Platz*
und „Straße" bezeichnet. Wesentlich an dieser Stufe ist dreierlei: daß ein
Umschließen von Flächen stattfindet, daß diese Umschließung nur horizontal,
in der Ebene erfolgt, im Grundriß, und daß es, wenn vielleicht zum Auf-
bauen, doch niemals zum Überbauen kommt. Selbstverständlich umfaßt
auch diese Stufe wieder die größten Unterschiede der Begabung und des
Reichtums an Sonderbildungen; das Kind, das gerade noch einen ungefähr
rechteckigen Grundriß zu umschließen vermag und ihn als Stab deutet, steht
ebenso auf der Grundrißstufe wie dasjenige, welches den Plan einer ganzen
Straße mit seinen Steinen legt und innerhalb des Grundrisses der Häuser
auch die der Zimmer abteilt, vielleicht sogar einzelne Einbauten noch markiert.
Über die umschlossene, gegliederte Fläche, die als Grundriß, als Fußboden-
ebene eines Baues phantasierend gedeutet wird, unter mehr oder minder
sicherer Imagination der Seitenwände, der Deckenabschlüsse, vielleicht auch
ohne jedes Bewußtsein der fehlenden Stücke, gelangt das Kind auf die dritte
Stufe hinaus, die als Stufe des Aufbaues und allseitigen Raumab-
schlusses bezeichnet werden kann und durch das immer glücklichere
Streben nach dem Einzelhaus beherrscht wird. Die Erkennung dieser
Stufe kann durch das Material erschwert werden; eine zu geringe Anzahl
von Elementen, die außerdem noch so geformt sind, daß sie sich nur zu einem
massiven Block zusammensetzen lassen (wie es beim „Kleinen Schweden" und
bei Münchner Kindl-Baukasten der Fall ist) erlauben uns nur, den Fortschritt
im Auf bauen, Aufsetzen und Überbauen zu verfolgen. Stellt man dagegen
dem Kind viele Elemente zur Verfügung, so zeigt es sich deutlich, daß es
vom Grundriß zunächst zum Maueraufbau sich wendet, dann durch Verbindung
von zwei oder drei Mauern zum Bau von Ecken, halboffenen Häusern, allmäh-
lich zum geschlossenen Haus, d. h. zum vierseitigen, aufragenden, über-
dachten, aber eines hohlen Inneren entbehrenden Hausblock; und nur sehr
allmählich gelingt den immer geschickteren Fingern die Umschließung und
Überdachung eines Innenraumes. Aber oft genug ist der Versuch, die oberen
horizontalen Abschlüsse aufzusetzen, die Ursache des Einsturzes, wenigstens
der Winkelverschiebung der senkrechten Träger. Der so umschlossene Innen-
raum ist selbst nicht weiter abgeteilt, weder in „Zimmer" noch viel weniger
in „Stockwerke"; er entspricht dem ursprünglichen Gesamtraum der Block-
häuser, der Eß-, Wohn-, Schlafzimmer und Küche zugleich ist.
Die nächste vierte Stufe erfolgt nun nicht etwa in der Richtung auf die
Ausgestaltung des Innenraumes, sondern kann bezeichnet werden als der
Fortschritt zur Häusergruppe, bzw. zum Dorf- und Städtebau. In
gewissem Sinn ist diese Stufe eine Synthese der zweiten und dritten. Kann
über das Bauen und die Bauspiele von Kindern 241
das Kind einmal einzelne Bauten herstellen, so hindert nichts, daß diese als
Einheiten gefaßt in ähnlicher Weise in Grundrißstellungen angeordnet werden,
wie es auf der zweiten Stufe die einzelnen Bausteine wurden. Und auf die
Form dieser Aufstellung ganzer Häuser hat natürlich die Erinnerung an Straße,
Platz, Dorf ebenso fühlbar Einfluß wie die Tendenz zu einfacher Reihung,
symmetrischer Gruppierung und verwandten geometrischen Figuren. Wenn
0. Scheibner 1) beobachtet, daß die Schulneulinge gerade noch bis zur Gruppe
in ihrer Bauleistung kommen (bei 5 von 59 sechsjährigen Mädchen wurden
solche festgestellt), so möchte ich zu diesem Befund bemerken, daß er nicht
bloß durch die geringe Anzahl der verwendeten Bausteine, sondern zweifellos
auch durch das Geschlecht mit bedingt ist; nach meinen Erhebungen im
Kindergarten und in vielen Familien geht der begabte Knabe durchschnittlich
mit dem 5. Lebensjahr zur Anlage von Gruppen über, ja oft ist die Häuser-
gruppe zu beobachten, ehe die Herstellung des Einzelhauses (im Sinne eines
vollständig umschlossenen Innenraumes) gut gelingt. Sicher dagegen ist auch
noch Scheibners Beobachtung, daß die Höhe der Begabung für die Anlage
von Baugruppen maßgebend ist.
Über die geschilderten Stufen kommt das vorschulpflichtige Kind beim Bauen
mit Klötzchen überhaupt nicht hinaus. Im Schulalter, und zweifellos untei-
dem Einfluß des Unterrichts, wird bei einer größeren Zahl, die noch spontan
sich mit Bauspielen beschäftigt, eine fünfte Stufe erreicht: der Ausbau
des Innenraumes, wenigstens die Abteilung in Zimmer. Die Ansätze
dazu, die Einteilung des Grundrisses, haben wir auf der zweiten Stufe kennen
gelernt. Aber das Problem der Überdeckung von Räumen mit starren Bau-
gliedern ist so schwierig, daß diese Anfänge zunächst keine Fortsetzung er-
fahren. Es vollzieht sich viehnehr die Entwicklung des Hausbaues einerseits,
der Einrichtung und Ausgestaltung von Zimmern andererseits getrennt. Die
Kinder spüren die darin steckenden Probleme sehr wohl. In Puppenzimmem,
Puppenküchen, Werkstätten wird die Ausgestaltung der Innenräume selbst-
ständig fortgeführt, aber diese Einrichtungen sind räumlich offen; es fehlen
Decke und Vorderwand, oder wenigstens eines von beiden. Auf der im Schul-
alter erreichten Baustufe kommt es nun zu Zimmern, meist zu vereinfacht
eingerichteten Zimmern im Haus, in vereinzelten Fällen, bei genügend reichem
und geeignetem Baumaterial, auch zur Stockwerkausgestaltung. Die Nieder-
schläge des heimatkundlichen Unterrichts sind dabei deutlich zu erkennen.
Bei der vorstehenden Stufenbildung des Bauens mit Klötzchen ist als leitendes
Merkmal die fort sehr eilende Fähigkeit, ganze Räume zu umschließen,
verwendet worden. Ich muß nun hervorheben, daß wir zu einer etwas anderen
Stufung der Bautätigkeit kommen, wenn wir die Durchbildung der ein-
zelnen Bauglieder in Betracht ziehen. Beobachtungen dazu sind freilich
ruir an farblosem Material möglich. Da läßt sich im allgemeinen feststellen,
daß anfangs Wandteile und Dachteile, Säulen und Blöcke ruhig gemischt, durch-
einander verwendet werden, wenn sie nur aufeinander stehen bleiben; all-
mählich dienen die auffälligen Formen nicht mehr zur Aufrichtung der Wände,
sondern zum Abschluß derselben, zu Vorbauten, zu Verzierungen, und schließ-
lich erreicht das Kind eine sachgemäße Disposition über das Baumaterial,
die jeden Baustein form- und funktionsgemäß verwertet. Freilich sind es
') 0. Scheibner, Mitteilungen über das.kindliche Bauen mit Klötzchen. Diese Zeitschr. 1916. S. 28.
Zeitsehrift f. pädagog. Psychologie 16
242 Aioys Fi.srjifr
nach meinen Beobachtungen nur noch wenige, die am Bauspiel bis zu dieser
Reife festhalten, \md diese wenigen stehen meistens unter dem Einfluß häus-
licher Anregungen und Hilfen.
Die Stufen der Bautätigkeit mit formlosem Material weichen von den bis-
her betrachteten erheblich ab. Eine den formalen Vorübungen entsprechende
Stufe läßtsich nicht feststellen. Das Wühlen, Graben, Scharren inSand und Schnee
ist ein, meist mit phantasievollen Auslegungen unterfüttertes Spiel eigener Art;
es bildet einen Teil bestimmter Roflenspiele; „Huhn", „Gärtner", „Bauer" sind
einige der Rollen, die sich bei den ersten Sandspielen zu entwickeln pflegen.
Als erste Stufe, die deutlich den Charakter von Bauspielen aufweist, muß
das Graben von Höhlen bezeichnet werden. Die Kinder wühlen Löcher in
den Sandhaufen, verstecken Spielsachen, namentlich Puppen und Tierfiguren,
darin, und begleiten diese Tätigkeit mit Reden, aus denen die Auffassung solcher
Höhlen als „Haus", „Stall" unzweideutig hervorgeht. Wie ersichtlich, wird
die Stufe des vollständig umschlossenen Raumes beim Bauen mit formlosem
Material sehr früh erreicht; sie ist die erste, früheste, weil durchaus material-
geraäße Gestalhmg.
Als zweite Stufe, deren Anfänge tibrigens gleichzeitig mit dem Graben
von Höhlen beobachtet werden, hebt sich die Umschließung von Grund-
rissen mit Mauern (Sandmauern, Schneemauern) heraus. Nur vereinzelt
baut das Kind eine „Mauer" allein; in der Regel werden gleich annähernd
(luadratische, rechteckige, runde, ovale, später auch unregelmäßige und aus-
gedehntere Grundrisse ummauert, d. h. Sand oder Schnee werden mit den
Händen zu kleinen Wällen aufgeschichtet und zusammengeklatscht, mitmeistens
dreieckigem Querschnitt; bei Materialien, die in feuchtem Zustand geformt
werden und nachher verhärten, wird auch die F'orm der unverjüngten Mauer
eingehalten. Die Mauern erfahren, je nach Altersstufe und Hilfsmaterial, reiche
Ausgestaltung durch eingebrochene Türen und Fenster, durch ausgezackte
Zinnen und Gesimse, hier und da auch durch Sockelstreifen; sie werden mit
kleinen Kieseln, mit Holzstückchen, Erbsen, Obstkernen, Glasperlen, Staniol-
plättchen verziert, mindestens in einfacher Reihung solcher Zierate mit be-
stimmten Abständen, häufig mit hübschen Mustern, die daraus gebildet werden.
Eine dritte Stufe ist erreicht mit dem Fortschritt zu unterabteilender
Gliederung der Grundrisse, mit der Anlage von ganzen Dörfern imd
Städten, die durch Wege geteilt, von „Baumgruppen" belebt, von „Wäldern"
umgeben sind. Der Fortschritt führt nicht bloß zur Vermehrung und Ver-
bindung von umschlossenen Grundrissen, sondern auch zur Verwendung von
Hilfsmaterialien, Stäbchen, Tannenzweigen usw., die, in Sandhäufchen gesteckt,
bald eine „Anlage" in der Stadt, bald ein „Wald" in ihrer Nähe sind; ins-
besondere ist aber für diese Stufe der Wegbau charakteristisch ; vielverschlungen
laufen die Furchen und Rinnen, die zu Wegen erhoben sind, durch das ganze
Sandfeld, und oft gibt es auf dieser Stufe mehr Wege als Bauten, die durch
sie sowohl verbunden als getrennt werden.
Die letzte Stufe des Bauens führt auch hier über die Grenzen des Materials
hinaus; sie wird erreicht mit der Überwölbung des Raumes, mit dem
geschlossenen Bausystem; aber um dies zu ermöghchen, sieht sich das
Kind genötigt, Muscheln, Steine und Stöcke zu Hilfe zu nehmen, oder den
Sand wenigstens vorübergehend zu nässen. Alle diese Momente zusammen
nähern den Bau schon den Zweckbauten an, die sich auf der Mittelshife der
über das Bauen und die Baiitspiele von lvind«n'n 243
Schule einstellen und ohne aufzuhören, Bauspiele xu sein, doch eine giun<i-
sätzlich andere Orientierung des Kindes miterkennen lassen.
Überblickt man nämlich die Äußerungen des Bautriebes im Ganzen,
so lassen sich auch dabei gewisse Stufen erkennen, die vom vollendeten dritten
Lebensjahr bis in die späte Jünglingszeit hinein reichen, freilich mit abnehmen-
der Allgemeinheit des V^orkommens.
Als erste Stufe läßt sich das zufällige Bauen, das spielende Hantieren mit
Baumaterialien, das zufällige Gestalten und nachträgliche Deuten der Ergeb-
nisse hervorheben. Die zweite Stufe ist charakterisiert durch das „Bauen-
wollen" und die Wirksamkeit einer mehr oder minder deutlichen Zielvorstel-
lung, die durch die Bautätigkeit realisiert werden soll. Diese Vorstellung eines
Zieles kann frei vom Kind konzipiert sein, aus einer Vorlage stammen, durch
die Spielsituation nahegelegt sein; es ist auch nicht ausgeschlossen, daß sie
im Verlauf der bauenden Tätigkeit sich verschiebt, ja verschwindet und das«
schließliche Resultat nichts mehr mit dem anfänglich Gewollten gemein hat.
Eine dritte Stufe ist als planmäßige Lösung von Bauaufgaben zu be-
zeichnen und tritt schon in mehr oder minder deuthche Beziehung zu Lebens-
interessen des Kindes. Die vierte Stufe stellt endlich das Bauen im Dienst
einer praktischen Zweckidee dar. Die Materialien werden dabei in
steigendem Maß vergrößert, die Technik jener der Erwachsenen, der Hand-
werkstradition angenähert. Die Herstellung des Zweckbaues steht, der inneren
Erlebnisform nach, an der Grenze zwischen Spiel und „Ernst*'betätigung; das
Produkt kann tatsächlich benutzt werden und hat eine über das Spiel hinaus-
reichende Dauer.
Wenn Wehrkraftjungen, z. B. bei einer Übung im Gelände, Laubhütten und
Unterstände bauen, so entspringt ihr Tun, obgleich es im weiten Sinn nocli
Spiel bleibt und den Selbstausbildungszweck aller Spieltätigkeit teilt, doch
einer völlig anderen Einstellung, als sie bei dem mit Klötzchen bauenden Kind
vorliegt. Es ist nicht nur die Vorstellung eines zu schaffenden Baues für die
Einzelheiten ihrer Arbeit wegeweisend, nicht nur ein Bauwille spürbar; das
ganze psychische Getriebe wird durch einen realen Zweck in Bewegung ge-
setzt; die Laubhütte soll wirklich Unterschlupf geben, Verdeckung gegen feind-
liche Sicht, dabei so angelegt sein, daß Überblick über das Vorgelände möglich
ist usw. Es ist ein ziemlich verwickelter, in der Instruktionsstunde vorher
durchgesprochener und zergliederter Funktionszusammenhang, der durch den
Bau verwirkHcht werden soll: die ganze Arbeit steht unter der fortwährenden
Kontrolle durch den Zweck, dem ihr Ergebnis zu dienen hat. Und wenn die
Übung beendet ist, mag die Hütte, der Unterstand fortbestehen, bis Wind
und Wetter oder Menschenhände sie wieder zerstören; solange diese Spiel-
bauten aber Bestand haben, können sie verwandten Zwecken auch anderer
Menschen als ihrer Erbauer dienstbar sein oder dienstbar werden.
Wir haben bisher das Bauen und Bauspiel als eine allgemeine Kinderleistung
ins Auge gefaßt; irgendwie und irgendwann treffen wir Spuren davon in jeder
Entwicklung. Es hat uns als beherrschende Frage die innere Stufenfolge in
der Entfaltung des Bauspiels interessiert, ihr Zusammenhang mit Alter und
allgemeiner Begabung. Diesem Weg von unten auf begegnet ein solcher
von oben her. Wenn wir vom erwachsenen Menschen ausgehen, so ist nichts
gewisser, als daß Bauen und Bautätigkeit nur von einer kleinen Zahl sowohl
spezifisch begabter wie ausdrücklich voi-gebildeter Menschen ausgeübt zu
IG*
244 Aloys Fischer
werden pflegt. Wir lassen dabei freilich zwei große Erfahrungstatsachen außer
Betracht: den architektonischen Dilettantismus und die rudimentär gebliebenen
oder wieder verkümmerten Anlagen all der Erwachsenen, die nicht Architekten
von Beruf geworden sind. Man muß sich bewußt sein, daß die Berufsübung
als Baukünstler nicht notwendig ein Kriterium entsprechender Begabung ist,
und umgekehrt, daß architektonische Talente sehr wohl in Menschen vor-
handen, sogar wirksam sein können, die nicht Häuser bauen, sondern z. B.
Prozesse führen oder biologische Forschung treiben. Allein diese sehr schwierigen
Fragen mögen hier auf sich beruhen. Wir nehmen an, daß im Großen und
Ganzen die Lebensleistung des Erwachsenen aus seiner Begabung hervorblüht;
wir nehmen weiter an, daß auch die Architektur und Tektonik spezifische
Begabungen erfordern. Vom Boden dieser Annahme aus ergibt sich dann
die interessante Frage nach den Frühformen baukünstlerischer Tätigkeit,
nach den ersten Proben des Talentes, nach den Vorläufern und Ankündigern
eines solchen. Bei der Verfolgung dieser Frage treffen wir zweifellos wieder
auf das Bauspiel jetzt nicht mehr als eine generellpsychologische, sondern
als eine differential psychologische Frage. Soweit uns die Jugend- und
Ausbildungszeit großer Architekten zugänglich ist, wissen wir, daß nicht nur
die Zeichnung von Bauten, sondern auch das Modellieren und Konstruieren
solcher eine mehr oder minder bedeutende Rolle darin gespielt hat; wenn wir
den Weg der Architekten heute verfolgen, durch die höhere Schule, Hochschule,
die Bauämter und Bauunternehmungen hindurch, können wir uns gleichfalls
von dem Wert der Bauspiele überzeugen. Freilich muß bei der reiferen Jugend,
wie sie die akademische Stufe darstellt, das Spielen etwas anders verstanden
werden: die zweckfreie Imagination von Räumen und ihre Gestaltung im
Modell, aus keinem anderen Grunde als dem, eine aufsteigende Idee so weit
sichtbar zu machen, daß über ihren künstlerischen Wert und' ihre Ausführbar-
keit ein Urteil möglich, gehört noch zu den Äußerungen des Spieltriebs. Auf
der anderen Seite sind die Einschläge von „Ernst" in solchen Arbeiten unver-
kennbar: die gestellte Aufgabe selbst ist ein Ernstfaktor, die Dynamik, die
sie über das Spiel der Einfälle ausübt, die selektorische Wirkung desgleichen,
statische Kenntnisse und baugeschichtliche Erfahrungen, die auch beim spie-
lenden Bauen nicht vergessen werden dürfen, ein dritter.
Wenn es einmal gelungen sein wird, für alle Stufen des Bautriebs die
nötigen Einsichten zu formulieren, dann ist der Zeitpunkt da, aus den jeweils
früheren Studien seiner Entwicklung bei einem konkreten Individuum auf
den notwendigen Fortgang zu schließen, dann wird es möglich sein, aus Probe-
leistungen über die Größe und Entwicklungsfähigkeit einer baukünstlerischen
Anlage mit mehr als mutmaßender Sicherheit zu urteilen und die Ergebnisse
der Forschung für die praktische Aufgabe der Berufsberatung nutzbar zu
machen. Freilich muß, wie bei allen Anwendungen der Psychologie, offen
gelassen werden: daß kein Mensch verpflichtet ist, das zu werden, wozu
die natürliche Begabung ihm die besten Voraussetzungen böte, daß Beruf und
Schicksal des Menschen, Ziele freier EntschUeßung, sehr häufig in anderer
Richtung gesucht werden, als die ist, in welche vollendete Selbsterkenntnis
weist oder weisen müßte. Es ist a u c h ein Menschenrecht, mit dem, was man
wirklich ist, hat und kann, nicht zufrieden zu sein und im Leben zu versuchen,
ob man nicht anderes auch zu erringen vermag. Eine Seite unserer Frei-
heit besteht auch im Verzicht auf unsere Vorzüge und Stärken, sei es, weil
über das Bauen und die Bauspiele von Kindern 245
wir sie nicht genau kennen oder weil wir uns den Verpflichtungen, die sie
auferlegen, entziehen wollen oder weil wir uns hier im Vergleich mit anderen
Persönlichkeiten nicht hoch genug werten und unserem sozusagen leeren
Wollen Schöpferkraft zutrauen, die Fähigkeit, aus nichts etwas zu machen.
Das Ergebnis einer Testdiagnose zwingt den Menschen nicht, das zu werden,
was er werden kann; es verhindert auch nicht den Versuch, etwas anderes
werden zu wollen; sie ist nichts als ein Hilfsmittel für den, der im Prinzip
entschlossen ist, das zu werden, was im Rahmen und Bereich seiner Begabungen
und Interessen liegt, der sich nur über diese selbst nicht klar zu werden
vermag. Es wird sicher einmal möglich sein, wie für alle Spezialtaiente und
allgemeinen Funktionen des Geistes, so auch für die baukünstlerischen An-
lagen eine Reihe von Symptomen festzustellen, bei deren successiver, im
Lauf der Kindheit und Jugend eintretender Gegebenheit die Lebenswahl eines
Architekten wenigstens in dem Punkt nicht verfehlt ist, der in der persön-
lichen Eignung und Leistungsfähigkeit besteht. Ein Gesetz aber, daß dem
für einen Beruf Geeigneten und Leistungsfähigen materiellen und
moralischen Erfolg garantiert, die Anerkennung der Zeitgenossen und
Nachwelt, die persönHche, dauernde Zufriedenheit mit dem gewählten Beruf
und Wirkungskreis, ein solches Gesetz gibt es nicht. Es ist keineswegs aus-
geschlossen, daß man auch in einem Beruf, für den man geradezu geboren
ist und den man mit heller Einsicht in die persönliche Eignung ergriffen hat,
nicht die Anerkennung der Zeitgenossen und Gleichstrebenden findet, wirt-
schaftlich Schiffbruch leidet, infolge der Misere und Erfolglosigkeit und trotz
aller Selbstgewißheit seiner Begabung und Leistung zu nörglerischer Unruhe
und Glücklosigkeit getrieben wird und so innerlich zugrunde geht. Ich hebe
diese Möglichkeit deshalb hervor, weil sie deutlich zeigt, daß persönliche Be-
gabung und Eignung allein das Lebensglück im Beruf nicht zu stabihsieren
vermögen und daß deshalb sehr wohl auch andere Faktoren bei der Berufs-
wahl eine Rolle spielen dürfen. Trotzdem: für den Durchschnitt der Menschen
wird die Quelle des Lebensmißerfolges häufiger sein, die aus der Unkenntnis
der persönlichen Leistungsart und Leistungsfähigkeit fließt, und deshalb mag
für die durchschnittliche Ordnung menschlicher Dinge das Streben nach recht-
zeitiger Selbsterkenntnis ein wertvolles und berechtigtes bleiben. Unsere
ganze psychologische Forschung muß sich deshalb auf die Anwendung zu-
spitzen, d. h. auf Ergebnisse und Reihen, die wir für die Prüfung einer erst
noch werdenden Persönlichkeit fruchtbar zu machen berechtigt sind. Bei
Talenten, zu denen auch das des Baukünstlers gehört, ist der Versuch sicher
aussichtsreich, wenn ihn nur genügend viele, sachlich Vorgebildete und wissen-
schaftlich Besonnene in Angriff nehmen.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(Fortsetzung.)
VI. Grappe: Motorische Leistungen.
Wenn wir eine Bewegung ausführen oder unsere Glieder aktiv in einer be-
stimmten Lage erhalten, so entstehen als Folge davon eine Reibe von Empfin-
dungen, die uns die Kenntnis der Lage mid Bewegung vermitteln. Ihre Tiei-
stungen sind in der vorigen Gruppe besprochen worden.
246 Hans Rupp
Von diesem sensorischen Vorgang ist der motorische Vorgang, das Halten
und Bewegen selbst, wohl zu scheiden. Der sensorische geht von den Sinnes-
organen, die den äußeren Reiz empfangen, nach innen zum Gehirn. Beim moto-
rischen wird im Gehirn oder Rückenmark ein Reiz erzeugt, der nach außen
wirkt und die Muskeln in Tätigkeit versetzt.
Auf dem motorischen Vorgange beruhen alle imsere äußeren Handlungen,
imser äußeres Gebaren und vor allem unsere technischen Fertigkeiten, vom
Sprechen und vom Gehen, wie es das Kind schon im ersten Jahre lernt, bis zu
den Kunstfertigkeiten und Sportleistungen der Erwachsenen.
Die experimentelle Pädagogik hat hier ein weites, fruchtbares Feld.*) Man
kann die Aufgab3n in zwei Gruppen trennen:
A. Die eine Gruppe untersucht die motorische Leistungsfähigkeit im
allgemeinen. Welcher Schüler ist motorisch begabter, welche weniger begabt?
Was leisten Knaben, was Mädchen? Wie steigt die Leistung mit dem Alter
(z. B. Einfluß der Pubertät)? Welchen Einfluß haben Krankheiten, Alkohol,
welchen Ferien, Stadt- und Landleben? Usf. Ferner: Was leisten verschiedene
Glieder, z. B. verschiedene Finger, die rechte \md die linke Hand, der Arm?
Welche Bewegungen sind von Natur begünstigt, welche weniger leistimgs-
fähig? Ferner ist die Übung und das Lernen zu studieren: Wie erreichen wir
die besten Fortschritte? Gibt es ähnliche Gesetze wie beim Lernen geistigen
Stoffes (vgl. Gruppe VII)?
In den motorischen Leistungen äußern sich auch psychische Eigenschaften:
Stärke der Konzentration, Ausdauer des Willens, ja auch Intelligenz; man
hat vielfach die körperlich Leistungsfähigeren als intelligenter befunden. Welchen
Einfluß üban umgekehrt motorische Übungen auf psychische Eigenschaft-en,
auf Willen, Selbstbewußtsein, Sicherheit, Mut usf.?
Um diese Fragen entscheiden zu können, suchen wir, ähnlich wie bei den
sensorischen Vorgängen, die einzelnen Teile oder Seiten der motorischen
Fähigkeit sorgfältig zu trennen. Und wir suchen zweitens nach Methoden,
nach geeigneten motorischen Leistungen, durch die wir die einzelnen Teile oder
Seiten möglich getrennt prüfen können.
Handelt es sich nicht um eine einmalige Untersuchung (etwa über Einfluß
des Alters oder gewisser Turnübungen), sondern um die immer wiederkehrende
Beurteilung eines einzelnen Schülers, so müssen Diirchschnittsleistmigen von
Schülern dieses Alters bekannt sein, imd es muß die Prüfungsmethode genau
dieselbe sein wie diejenige, für die das Durchschnittsmaß bestimmt worden ist.
Man muß sich also, wie auch auf den anderen Gebieten, für Normaltests
einigen. Dasselbe ist nötig, wenn Untersuchungen in Städten und auf dem
Lande, in verschiedenen Ländern usw. vergleichbar sein sollen. Über geeignet«
Normaltests vergleiche man z. B. Whipple, Manual of mental and physical Tests,
1910.
Neben der Prüfung der motorischen Fähigkeit durch bestimmte Methoden
beobachtet man auch da? allgemeine Gebaren, endlich das allgemeine Ver-
*) Das Hauptinteresse dürfte sich auf die willkürlichen Bewegungen vereinigen.
Die Untersuchung der unwillkürlichen Bewegungen (wie Atmung, Verdauungs-
bewegungen) fällt wohl ganz in das Gebiet des Schularztes. Umgekehrt hat aber der
Arzt Interesse an den lüer erwähnten Untersuchungen,
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 247
halten bei speziellen Fähigkeiten: Sind die Bewegungen des Einzelnen im all-
gemeinen lebhaft, gewandt, leicht, träge, ungeschickt, zappelig; stellt er sich
b^i Fertigkeiten geschickt, toUpatschig ; ist er zaghaft, bedächtig oder schneidig,
tollkühn usw.? Hierbei besteht die Aufgabe, eine genaue Richtschnur für die
Beobachtungen zu geben, damit klare Beschreibungen geliefert werden.
B. Die zweite Gruppe von Aufgaben geht auf einzelne bestimmte Fertig-
keiten, z. B. Schreiben, Zeichnen, Singen, Spielen von Instrumenten, Schießen
usf. Hier will man vor allem wissen, was zu jeder Fertigkeit gehört (zum
Zeichnen u. a. Augenmaß, zum Violinspielen u. a. feines Gehör usf.), welches
die günstigte Art der Ausführung ist (z, B. die richtige Haltung, die richtigen
Bewegungen, der beste Fingersatz), und welches die besten Lernmethoden sind.
Wenn in solcher Weise eine bestimmte Fertigkeit im allgemeinen untersucht
ist, ist es leicht, an die differentiellen Fragen heranzugehen. Wer ist für diese
Fertigkeit begabt, wer nicht? Eignen sich für verschiedene Typen oder ver-
schiedene Altersstufen verschiedene Ijemverfahren oder Lernmethoden besser?
Methoden und Apparate zur Prüfung spezieller Fertigkeiten bespreche ich
im Folgenden nicht. Jedoch ist vieles, was bei den Methoden zur Prüfimg der
motorischen Fähigkeit im allgemeinen angeführt ist, für die Untersuchung spe-
jiieller Fertigkeiten verwertbar.
Zu A. Ich stelle eine Reihe voj>,Methoden zusammen, die mir geeignet er-
scheinen, die motorische Leistungsfähigkeit im allgemeinen nach
ihren verschiedenen Richtungen zu untersuchen. Im Gegensatz zu
den meisten technischen Fertigkeiten (z. B. Instrument- Spielen) sind es Auf-
gaben, die wohl jeder schon von Kindheit auf übt oder die im Turnmiterricht
allgemein geübt werden.
Von den Apparaten spreche ich erst am Schluß, um den Zusammenhang nicht
zu stören. Viele Experimente können übrigens ohne Apparate ausgeführt werden.
Insbesondere lassen sich mancherlei Turnübungen für unseren
Zweck verwerten. Man muß nur die Ausführung genau vorschrei-
ben und überwachen (s. unten) und die^ Ergebnisse notieren. Solche,
regelmäßig in bestimmten Zeitabschnitten wiederholte stati-
stische Aufnahmen würden wertvolle und zuverlässige Aufschlüsse
über den Entwicklungsgang des einzelnen Schülers und ganzer
Klassen, über den Einfluß des Turnunterrichts u. dgl. geben. Die
Statistik könnte, wenigstens in höheren Schulen, von den Schülern selbst geführt
werden; dadurch würde das Interesse an den Übungen und an dem Fortschreiten
gesteigert, nebenbei auch der Sinn für exakte Messungen und statistische Zu-
sammenstellungen gefördert.
a) Es wird die einmalige maximale Kraftleistung des Schülers fest-
gestellt. Man läßt z. B. eine Feder zwischen Fingern und Daumenballen so stark
wie möglich zusammendrücken; die Feder zeigt den Druck an. Da eine einzehie,
namentlich die erste Bewegung leicht mißlingen kann, läßt man den Versuch
besser 2 oder 3mal ausführen und nimmt das Maximum. Wer hat mehr Kraft?
Wie steigt die Kj-aft mit dem Alter ? Wie wirken regelmäßige Turnübungen ? Usf.
So einfach die Aufgabe scheint, so gibt es doch verschiedene Ausführungs-
weisen. Man kann schnell oder langsam, bedächtig drücken, kann den Arm nach
248 Hans Rupp
vorn halten oder nach unten, wie wenn man mit der Wucht des ganzen Körpers
mithelfen würde, u. dgl. m. Je nach dem Verfahren kann das Ergebnis sehr
verschieden ausfallen. Man muß also das Verfahren genau vorschreiben.
Aus einem kräftigen Druck in der Hand darf man nicht auf allgemeine Kraft
schließen. Andere Bewegungen mögen schwächer entwickelt sein. Es hat für
den Turnlehrer wie für den Arzt Interesse zu wissen, welche Muskeln besser,
welche schlechter ausgebildet sind. Man muß also auch andere Bewegungen
prüfen. Ich gebe am Schluß zwei weitere Kraftmesser an. Man kann auch
prüfen, ein wie schweres Gewicht vom Schüler noch gehoben werden kann.
Natürlich ist auch in diesen Fällen, wie oben, auf die Ausführungsweise zu
achten.
Auch aus einem anderen Grunde lohnt die Untersuchung verschiedener Be-
wegimgen. Verschiedene Muskeln und verschiedene Glieder sind von Natur aus
nicht gleich stark. Ferner : wenn wir die Hand oder den Arm nach verschiedenen
Richtungen bewegen, merken wir sofort, daß manche Bewegungen schwerer
fallen, nicht so sehr, weil sie weniger geübt sind, sondern weil sie durch den
anatomischen Bau benachteiligt sind. Die Prüfung gibt in allen Fällen ein
genaues Maß der verschiedenen Leistungsfähigkeit.
Wollte man die Kraft verschiedener Muskeln vergleichen, so wäre der anatomisclo
Bau genau in Rechnung zu ziehen : ob der Muskel mit ganzer Kraft oder nur mit einer
Komponente wirkt, an welchen Punkten der Hebelarme Muskel und Last angreifen,
welche Muskeln zusammenwirken usw. Das Problem ist sehr verwickelt. Die oben
gestellte Frage ist einfacher; sie bescliränkt sich darauf, die praktisch vorkommenden
Bewegungen zu untersuchen, gleichgültig, wie sie anatomisch ztistande kommen.
b) Man bestimmt Ermüdung und Ausdauer in Kraftleistungen. Wer
die stärkere einmalige Leistung aufweist, muß nicht auch größere Ausdauer
besitzen. Wer hält besser aus ? Wie hält man nach geistiger Anstrengung aus ?
Wie kräftige, wie schwächliche Kinder? Dabei sind wieder verschiedene Aus-
führungsweisen möglich. Man kann zwischen ihnen wählen.
a) Man läßt die maximale Leistung in bestimmtem Tempo wieder-
holen und beobachtet das Nachlassen. Bei schnellerem Tempo ermüdet man
schneller; das Tempo ist also genau vorzuschreiben. Ferner achte man darauf,
wie hoch das Maximum der Kraftleistung gewählt wird. Wer sich bei jeder
einzelnen Bewegung sozusagen mit äußerster Kraft hineinwirft, wird sich bald aus-
gegeben haben.
ß) Man läßt die maximale Leistung dauernd ausführen imd beobachtet
das Nachlassen. Auch hier ist auf die Höhe des Maximums zu achten.
y und ö) Man läßt eine bestimmte, untermaximale, aber anstren-
gende Leistung in bestimmtem Tempo wiederholen oder dauernd
ausführen und beobachtet das Nachlassen. Die erwähnte Unbestimmtheit des
Maximums fällt hier fort.
Gewöhnlich beschränkt man sich auf das Heben eines Gewichtes mit einem
Finger (die klassischen Ergograph versuche). Es ist wünschenswert, auch andere
Leistungen heranzuziehen. Turnübungen geben Gelegenheit: Wie oft kann ein
schweres Hantel gestemmt werden? Wie oft gelingt der Klimmzug am Reck?
Wie oft die Kniebeuge ? Wie oft das Strecken der bekannten Streckapparate ?
Oder als dauernde Leistmigen: Wie lange kann der freie oder beschwerte Arm
Probleme »md Apparate zun experimentellen Pädagogik 249
seitwärts, das B in vorgestreckt gehalten werden? Usf. Es ist geringe Mühe,
die Bewegungen zu zählen oder die Zeit mit der Uhr zu bestimmen und so eine
genaue und zuverlässige Statistik zu führen. Natürlich ist auch hier zu be-
achten, ob es nicht verschiedene Arten der Ausführung gibt, die das Ergebnis
beeinflussen .
c) Bei vielen Fertigkeiten kommt es nicht so sehr auf Kraft wie auf Schnellig-
keit an. Beide gehen nicht immer zusammen; man muß daher beide prüfen.^)
Wir prüfen zunächst die maximale Geschwindigkeit einer einmaligen
Bewegung. Man wird auch hier den Versuch besser ein- oder zweimal wieder-
holen lasseh und das Optimum verwerten. Man kann das Glied frei bewegen
oder zugleich ein Gewicht heben lassen. Die freie Bewegimg kann leicht oder als
kräftiger Schlag oder Stoß ausgeführt werden. Man vergleicht die Schnelligkeit
verschiedener Glieder (z. B. rechte, linke Hand, verschiedene Finger) und ver-
schiedener Bewegungen desselben Gliedes (z. B. /Vi'mbewegujig nach verschie-
denen Richtungen). Selbstverständlich hängt die Schnelligkeit von der Länge
des bewegten Gliedes ab, ob z. B. die Hand oder der ganze Arm bewegt wird.
d) Wir prüfen Ermüdung und Ausdauer in schnellen Bewegungen.
Wir lassen eine Bewegung entweder möglichst schnell oder in einem bestimmten
untermaximalen, aber schnellen Tempo wiederholen, z. B. trillern, stoßen, ein
Rad drehen.
Es scheint, daß wir dadurch eine weitere Seite der Bew^egung prüfen können,
nämlich die Leichtigkeit. Eine eiimialige Bewegung kann auch durch Kraft
schnell ausgeführt werden. Bei Wiederholung würde sich jedoch sehr schnell
Ermüdung und Versagen einstellen. Nur eine Bewegung, die wir spielend leicht
ausführen, kann lange und schnell wiederholt werden. Beim Trillern kann
man diese Beobachtung leicht machen. Durch welche Übungen oder welche Ver-
fahren erreichen wir, daß eine Bewegung leicht, „frei" wird?
e) Wie schnell kann eine vorher verabredete Bewegung auf ein
Kommando hin ausgeführt werden? Wir prüfen also die Schnelligkeit der
Reaktion, die Bereitschaft der Bewegung.
Die Schnelligkeit hängt u. a. von der Art der Vorbereitung ab: so kann die
Hand, die z. B. auf einen Taster drücken soll, schon vor dem Kommando ge-
spannt zum Losschlagen bereit gehalten werden (motorische Einstellung) oder
sie kann schlaff daliegen. Ergeben verschiedene Bewegungen, verschiedene
Glieder verschiedene Reaktionszeiten? Wie bei freien Bewegungen und wie,
wenn eine Arbeit zu leisten, z. B. ein Gewicht zu heben ist?
f) Bisher wurden im wesentlichen Kraft, T^eichtigkeit und Bereitschaft der
Bewegung geprüft. Die folgenden Methoden gehen auf Genauigkeit der
Beherrschung. Es bedarf kaum des Hinweises, daß Kraft und Grenauigkeit
nicht vereinigt sein müssen, vielleicht sogar selten vereinigt sind. Wie genau be-
*) Wenn man eine Bewegung wiederholt, z. B. dauernd klopfen läßt, so kann man
vielfach neben dem maximalen auch ein optimales Tempo feststellen; es ist dem
Klopfenden am angenehmsten, liegt zwischen hastigem und langweilig langsamem
Tempo. Stern vermutet, daß jeder Mensch ein bestimmtes psychisches Tempo, eine
bestimmte psychische Lebendigkeit hat, durch die auch das Klopftempo bestimmt
wird, und daß umgekehrt das allgemeine psychische Tempo durch dae angenehmste
Klopf tempo bestimmt werden kann.
250 Hana Rupp
herrscht der Einzekie seine Bewegungen ? Wie Kinder, wie Erwachsene ? Zeichnen
sich manche Bewegungen oder Glieder durchKraft, andere durch Genauigkeit aus?
Gibt es besonders wirksame XTbungen, xnn Genauigkeit zu üben?
Zuerst (f) prüfen wir die einmalige minimale Bewegung (moto-
rische Schwelle). Man kann die kleinste, die langsamste Bewegung und den
leisesten Druck {z'. B. auf einer Briefwage) bestimmen, femer die leiseste Ände-
rung eines vorhandenen Druckes. Man muß die genannten Fälle scheiden, es
lohnt aber nicht, alle zu prüfen.
Man kann hinsehen oder die Augen schließen. Im ersteren Falle kontrollieren
wohl meist die Augen die Bewegung, im letzteren Falle die Gelenkempfindungen.
Was ist für den Fortschritt besser? Welchen Grad der Vollkommenheit er-
reicht der Blinde?
Die motorische Schwelle ist von der sensorischen, die in Gruppe V B besprochen
wurde, zu scheiden. Die sensorische, bei der das Glied passiv von einem anderen
bewegt wird, ist im allgemeinen feiner.
g) Wir bestimmen Ausdauer und Ermüdung in minimalen Bewegungen.
Wir können die Aufgaben f in bestimmtem Tempo wiederholen (a) oder sie
kontinuierlich fortsetzen lassen (ß). Wir lassen z. B. mit einem Stift fort-
schreitend kleinste Rucke zeichnen oder so langsam als möglich einen Strich
ziehen. Im letzteren Falle sollen keine Rucke oder Stockungen vorkommen.
Der Geiger wird sich an die lehrreiche Übung erinnern, den Bogen so langsam
wie möglich zu ziehen, aber doch so, daß der Ton ohne Unterbrechung fortklingt.
Die Bewegung kann mit freier Hand oder gegen einen Widerstand (z. B. Gewicht)
ausgeführt werden.
Man kann auch einen aktiven Druck so langsam wie möglich zu- oder abnehmen
lassen. Ferner könnte man, ähnlich wde in früheren Fällen, an Stelle der minimalen
Bewegungen bestimmte überschwellige, aber doch kleine Bewegungen vorschreiben.
h) Verwandt der Bewegungsschwelle ist die Schwelle für Ruhe. Ein Glied
soll möglichst ruhig, aber natürlich aktiv, gehalten werden. Wie groß sind die
feinen Schwankmigen, die dennoch auftreten? Wie bei verschiedenen Indivi-
duen, bei verschiedenem Alter ? bei Ermüdvmg, Alkoholgenuß, Krankheit ? b^i
freiem und bei belastetem Glied ? b^i verschiedenen Gliedern und Haltungen ?
firner bei geschlossenen und offenen Augen? Wer hält länger und besser aus?
Gibt es wirksame Ubmigen, um ruhige Haltung zu erzielen?
In der Medizin bezeichnet man diese Schwankungen als ,, Tremor". Der
Tremor ist für manche Geistes- imd Nervenkrankheiten ein charakteristisches
Symptom. Das Zittern und Zucken nervöser Personen ist bekannt. Für manche
Beschäftigungen imd Berufe ist eine ruhige Hand unerläßlich. Die Untersuchung
hat also praktischen Wert.
Neben der Sehwelle für Rulie (Geschwindigkeit = 0) könnte man auch die Sch>velle
für die Gleichförmigkeit von Bewegungen ( Goschwindigkeitsänderung = 0) prüfen.
Man stellt die Aufgabe, eine bestimmte Bewegung möglichst gleichförmig auszu-
führen. Und dies für verschiedene Gasschwindigkeiten und verschiedene Bewegvmgen.
i) Bei den Methoden f bis k war von der Genauigkeit schwelliger Bewegungen
' imd der Ruhe die Rede. Um bei überschwelligen Bewegimgen von Genauig-
keit sprechen zu können, muß, wenn es sich nicht gerade um Wiederholung
einer eben ausgeführten Bewegung handelt, ein Ziel gegeben sein , dem die Be-
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 251
wegung mehr oder weniger genau angepaßt ist. Schwelle und Ruhe sind eindeutig
bestimmt. Eine übsrsch wellige Bewegung, eine überschwellige Kraftleistung
kann größer oder kleiner sein. Erst durch das Ziel wird sie klar definiert, wird
aus den vielen möglichen Bewegungen eine bestimmte herausgegriffen. Wie genau
können wir die Bewegung dem Ziele anpassen, welche Fertigkeit hierin .haben
wir erreicht? Wie können wir sie steigern? Usf. In der Genauigkeit der Be-
herrschung, der Anpassung an bestimmte Ziele prüfen wir vielleicht die wich-
tigste und schwierigste Seite der motorischen Fähigkeit.
Ich führe einige Beispiele an. Wenn wir nach einem Gegenstand greifen oder ihn
abwehren wollen, wenn wir einen Ball fangen oder ihn mit Hand oder Fuß parieren
wollen, so müssen Kraft, Schnelligkeit, Ausmaß mid Ort der Bewegmig genau abge-
paßt sein. Wenn wir Konturen nachziehen, ausschneiden, ausstechen, weim wir in
schnellen Zügen eine Gerade, einen Kreis oder sonstige Formen in bestimmter Größe
schreiben oder zeichnen wollen, so muß wieder der zeichnende Stift genau der be-
absichtigten Linie folgen. Ebenso muß der Klavierspieler, der die Kechenmascliine
oder Schreibmaschine Bedienende die richtige Taste troffen, und noch melu* der
Geiger die Finger an haarscharf bestimmter Stelle aufsetzen.
Besonders schwierig mögen auf den ersten Blick Fertigkeiten erscheinen, bei denen
wir die Bewegung oder Haltung ihren räumlichen Eigenschaften nach lücht gut
beachten können, sondern auf einen fernerliegenden, durch die Bewegung er-
zeugten Erfolg gerichtet sind, wie beim Werfen nach einem ferneren Ziel oder beim
Singeii, Pfeifen, Sprechen. Auch hier müssen wir lernen, die Bewegmig genau dem
oft ganz andersartigen Ziele anzupassen.
Um die genaue Beherrschung von Bewegungen im allgemeinen zu prüfen,
muß man Methoden suchen, die die prinzipiell verschiedenen möglichen Fälle
darstellen. Zugleich sollen sie möglichst auch praktisch wichtigen Fertigkeiten
zugrunde liegen. Es scheinen mir folgende emfache Methoden geeignet :
a) Von einem Ausgangspunkte schnell zu einem Zielpunkt mit
der Hand (oder einem anderen Gliede) hin fahren. Wie genau löst die
gesehene Lage des Zielpunktes die Bewegung aus? Die Bewegung muß in
einem Zuge erfolgen; es wäre keine Kirnst, durch nachträgliche Korrekturen
zum Ziel zu kommen.
Die Aufgabe läßt mehrere Variationen zu. Ich kann von mir aus auf einen
Punkt hinstoßen, der in größerer oder geringerer Entfernung, in dieser oder
jener Richtung liegt. Oder es sind auf einer normal orientierten Zeichenfläche
zwei Pimkte gegeben und ich fahre von einem zum anderen; Entfern mig imd
Richtung der Punkte sind wieder variabel. Oder ich habe die Aufgabe, IJmen
von bestimmter Länge und Richtung zu ziehen, usf.
ß) Eine Bewegung, eine Haltung, einen Druck unmittelbar dar-
nach bei geschlossenen Augen wiederholen. Hier leitet nicht das Auge,
sondern die Erinnermig an die eben dagewesene Empfindung die neue Bewegmig.
Man kann die Bewegung in einem Zuge ausführen lassen oder Korrekturen ge-
statten. Das erstere ist schwieriger.
y) Um Ausdauer und Ermüdung zu prüfen, läßt man die Bewegungen a
wiederholen, aber jedesmal mit neuem Ziel. So zeichnet man unregelmäßige
Haufen von Punkten oder geradlinige Reihen von Punkten in unregelmäßigen
Abständen, in welchen die Punkte nacheinander zu treffen sind. Unregel-
mäßig soll die Anordnung sein, damit bei jeder neuen Bewegung neu gezielt
werden muß. Das Tempo ist vorzuschreiben.
252 Hans Rupp
S) Den Methoden « und y verwandt ist die Aufgabe, Konturen nachzu-
ziehen. Wie genau trifft man? Wie bei längerer Fortsetzung, wie bei verschie-
dener Schnelligkeit? Die Aufgabe kommt in der Praxis oft vor: beim Nach-
ziehen von Konturen, beim Pausen, beim Bemalen einer vorgezeichneten Figur
beim Ausschneiden usf.
s) Ähnlich wie die Aufgabe ß kann man auch die Aufgabe ß längere Zeit
hindurch wiederholen lassen, so z. B. gleiche Striche schreiben, eine Wellen-
linie zeichnen lassen, \isf.i).
^) Bei den Aufgaben a. y, d ist die Bewegung im wesentlichen räumlich
bestimmt; bei dieser Aufgabe muß sie vor allem in Stärke dem Ziel angepaßt
sein. Man läßt z. B. einen Ball bis in eine bestimmte Entfernung werfen
oder schieben. Wie genau paßt sich die Stärke des Stoßes dem Ziel an?
V) Weitere prinzipiell verschiedene Methoden zur Prüfung der Genauigkeit wären
noch folgende: Eine Bewegung an Tonhöhen anpassen, sei es räumliche Be-
wegungen, wie wenn man ein Lied auf einer Saite spielt, sei es intensive Bewe-
gungen wie beim Singen. Oder Anpassung an Tonstärken, z. B. vei'schiedene
Stärken genau naclisingen. Allein, abgesehen von der Umständlichkeit der Messung
würden diese Proben zu sehr von der musikalischen Begabung und Betätigung abhängen
und sich daher kaum für Proben der motorischen Fähigkeit im allgemeinen eignen.
k) Bisher war stets von Bewegungen die Rede, die jeder Mensch bis zu einem ge-
wissen Grade beherrscht. Eine neue Seite der motorischen Leistung ist es, Bewegungen
zu lernen, die man bis dahin überhaupt noch nie gekannt hatte. Ich führe Beispiele
an, mehr zur Demonstration des Problems wie als Prüfungsmethode:
Manche, namentlich Kinder, können die Ringfinger nicht isoliert bewegen; es fällt
ihnen ebenso schwer wie uns allen das isolierte Bewegen einer mittleren Zehe. Wie
bekommen wir die Bewegung in unsere Gewalt ? Zweierlei muß nun erreicht werden.
Erstens müssen wir es dahinbringen, daß die gewünschte Bewegmig überhaupt aus-
geführt wird, zunächst natürlich rein zufällig. Wir müssen eben so lange probieren,
bis sie zufällig gelingt. Die künstliclie Bewegxing des Gliedes durch die nicht be-
schäftigte Hand mag dabei förderlich sein. Zweitens müssen wir trachten, diesen
zufälligen Erfolg, sowohl die motorische Bewegiuig wie die sensorische Empfindung,
festziilialten und einzuprägen. Wir halten die Finger in Spannung oder suchen die
Bewegung sofort zu wiederholen, was vielfach gelingt, und prägen uns gut ein, was
wir dabei spüren. Wenn wir diese Übung oft wiederholen, gelangen wir allmählich
zur Herrschaft über die Bewegung.
Ähnlich geht es bei vielen neuen Fertigkeiten, wo wir die Bewegungen erst ent-
decken müssen: bei Turnübungen, beim Pfeifen usw. Zunächst haben wir keine
Ahnung, tappen auf gut Glück drauf los. Treffen wir das Richtige, so wissen wir, daß es
Zufall war. Und auch hier trachten wir instinktiv, die richtige Bewegung, wenn wur
sie zufällig getroffen haben, festzuhalten und einzuprägen.
Ich führe nun einige Apparate an, die bei verschiedenen Versuchen verwendet
werden können.
(Hand-Druck- )Dynamometer nach Collin. Die ellipsenförmige Feder
soll in der Hand so stark wie möglich zusammengedrückt werden (Methode a).
Der Zeiger gibt die Stärke des Druckes an. Da er beim
Nachlassen des Druckes zurückgeht, würde das Ablesen
des Maximums schwierig sein. Darum ist ein zweiter
Zeiger angebracht, der mit der Feder nickt verbunden
ist. Er wird vom ersten Zeiger vorgeschoben und bleibt
in der äußersten Lage stehen.
*) Auf diese Übung hat mich Herr Dr. Lipmann airfmerksam gemacht.
Probleme und Apparate zur experiiuentellexi Pädagogik
25tS
Wie kräftig kann man einmal drücken? Bleibt Zeit zum Ablesen oder läßt
man den Apparat so halten, daß man dauernd ablesen kann, so kann man auch
die Abnahme des Druckes bei fortgesetzter Wiederholimg oder bei dauernder
Ticistung feststellen (Methode b, a und ß).
Der Apparat wird in zwei Größen geliefert.
Zug-Dynamometer nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Um auch die
Kraft anderer Bewegungen messen zu können, stellte ich folgenden einfachen
Apparat zusammen. An beiden Enden einer Zugfeder\vage
werden direkt oder mit Zwischenschaltung verstellbarer |T~\-««.k^öe>'/~|
Riemen Griffe befestigt. Man faßt den Apparat ähnlich
an wie die bekannten Streckapparate und sucht die Griffe so stark als möglich
auseinander zu ziehen. Wie baim Collinschen Apparate schiebt der mit der Feder
verbundene Zeiger einen zweiten vor sich her, der in der äußersten
Lage stehen bleibt. Man kann eine Wage für leichtere oder eine
solche für schwerere Gewichte einsetzen.
(Hand-Druck- )Dynamograph nach Sniedley (Stoeltung Co.,
Chicago). Verwendung wie bei 1, nur andere Konstruktion. Man
umfaßt die zwei Griffe mit der Hand und di'ückt den inneren, beweg-
lichen Steigbügel gegen den äußeren. Entfernung der Griffe ver-
stellbar; Griffe handlich; Skala außen, so daß bequem abgelesen
werden kann.
Man kann die Bewegungen durch Laftüber tragung auf ein Ky-
mographion aufzeichnen (daher „Dynamo graph"); zu dem Zwecke wird oben
ein Schlauch angesetzt. Dies verwendet man hauptsächlich für die Versuche
b, a und ß.
(Zug- und Druck- )Dynamometer nach Sargent (Stoel-
ting Co., Chicago). Man stellt sich auf das Fußbrett, nimmt
die Griffstange mit beiden Händen und zieht sie so stark als
möglich nach oben. Das kaim durch Beugen der Arme,
durch Aufrichten des vorher vorgebeugten Oberkörpers oder
durch Strecken der vorher etwas gebeugten Knie geschehen.
Die Länge der Kette wird entsprechend geregelt.
Ferner kann die Kraft gemessen werden, mit der die seit-
lichen Knöpfe zusammengedrückt werden können.
(Hand-Druck- )Dynamograph nach Weyler (Sendtner,
München). Der Griff des Apparates besteht &,m zwei über-
einandergreif enden Teilen; er soll so stark wie möglich zu-
sammengedrückt werden. Am Ende des Griffes ist eine Dose angesetzt, die
einen Registrierapparat enthält. Man legt auf der oberen Seite der Dose
eine der beigegebenen, mit konzentrischen Ringen versehene
Scheibe ein. Auf dieser wird durch darübergelegtes Kopier-
papier registriert. Über der Scheibe bewegt sich nämlich bei
-^ --^^ jedem Zusammendrücken ein Schreiber in radialer Richtung; die
r^ Länge des Radius zeigt den Druck an. Beim Aufhören des
^ Druckes dreht sich die Scheibe automatisch ein wenig weiter.
Der beim nächsten Druck gezeichnete Radius ist also etwas verschoben.
Der Apparat dient vor allem für die Versuche ha.
Nr.
Nr. ?
254
Hans Rupp
Ergograph nack Mosso (Mechaniker Spindler und Hoyer, Göttingen). Der
Apparat dient vor allem für die Versuche b, y und «5. und zwar für Bewegung
eines mittlorcn Fingers. Kr ist so bekannt, daß es genügen wird, Abbildungen
beizufügen.
An St^elle des umständlichen Arm- und Handlagers kann das einfachere Hand-
lager des folgenden Apparates verwendet werden. Setzt man an Stelle des Ge-
wichtes das Zug-D}mamomet«r Xr. 2, so kann auch die maximale Leistung
geraessen werden (Versuche b, a oder /5). Faßt man den Schlitten des Schreib-
apparates, der die Feder trägt, mit der Hand, so karni man die langsamste oder die
gleichmäßige Bewegung aufzeichnen und imtersuchen (Versuche f, gundh Anm.).
Ergograph nach Dubois (Mechaniker Zimmermanu, Ticipzig). Für dieselben
Versuche \s^ a ^ y fi wie der vorige Apparat. Die Hand umfaßt einen Zapfen,
ein Finger hebt das Gewicht. Der Schreibapparat ist so konstruiert, daß kein
Kymographion nötig ist wie beim vorigen Apparat. Die zum Gewicht laufende
Sclimir nimmt einen vertikalen Bleistift mit, der auf dem darunter liegenden
Papierstreifen einen der Hubhöhe entsprechenden Strich schreibt. Nach jeder
Hebung wird das Papier automatisch ein wenig weiter geschoben (ähnlich wie
bei Nr. 5).
Koutaktbrett für Schnelligkeitsmessungen nach Rupp (Mechaniker
Marx, Berlin), zur Bestimmung der maximalen Geschwindigkeit einer Bewegimg
(Versuch c). Längliches Brett, die geschrafften Teile me-
tallisch, jedoch in einer Ebene mit dem mittleren Teil des '^
Brettes. Man streicht mit einem Metallstift oder mit
einem Fingerhut möglichst schnell von einer Seite zur
anderen. Die Zeit zwischen den zwei Kontakten wird am Chronographen (vgl.
Gruppe VIII, Nr. 6 — 10) gemessen. Je kürzer die Zeit, desto schneller war
die Bewegung.
ii
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
255
Orientiert man das Brett verschieden, so kann man verschiedene Bewegungen
prüfen. Um Ausdauer in schnellen Bewegungen zu prüfen (Versuch d), kann
man dauernd hin und her streichen lassen.
Der Apparat läßt sich auch in der Weise des Apparates Nr. U verwerten.
Ringkontaktbrett für Schnelligkeitsraessungen,
nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin), um die Bewegungen
von einem Punkte aus nach verschiedenen Richtungen hin-
sichtlich ihrer maximalen Schnelligkeit bequem vergleichen
zu können. Verwendung wie bei 8.
Tasterklavier (Mechaniker Marx, Berlin). Tasten einer * ^^^"^ ' n»
oder zweier Oktaven, genau vne beim Klavier. Beim Nieder-
drücken jeder Taste entsteht ein Kontakt, durch den auf dem Chronographen
(Gruppe VIII, besonders Nr. 7) eine Marke gezeichnet wird. Der Apparat dient
vor allem für die Versuche d: Wie schnell kann getrillert werden? wie bei län-
gerer Fortsetzung ? wie mit verschiedenen Fingern ?
Auch für sonstige Versuche, z. B. über den Fingersatz oder über den Rhythmus
br'im (stummen) Klavierspielen, dürfte der Apparat gut« Dienste leisten.
Man vergleiche auch die Taster Xr. 18 und 19 in Gruppe III, mit denen man die
Schnelligkeit des wiederholten Tastens auf dieselbe Taste prüfen kann.
Klopfbrett (tappingboard) nach Whipple (Mechaniker Stoeltung Co.. Kr. ii.
Chicago.), ziu* Prüfiuig der Schnelligkeit des Klopfens. Der Apparat sieht ähnlich aus
wie Nr. 8, nur sind die Metallplatten aufgelegt, nicht eingelassen. Bei Prüfvmg (h^'
rechten Hand liegt der Ellbogen am rechten Ende, die Hand mit dem Kontaktstift
links über der Metallplatte: bei Prüfimg der linken Hand umgekehrt. Daher die
2 Metallplatten. Für den gleichen Z^veck läßt gich natürlich das Kontaktbrett Nr. S
verwerten.
für Schnelligkeitsmessungen nach Lipmann (Me- niii
chaniker Marx, Berlin). Man bewegt einen Kontakt-
stift, den man in der Hand hält, möglichst schnell
zwischen den zwei vertikalen Böcken hin und her (sielio
die Pfeile), so daß man jedesmal an dieselben anschlägt
und Kontakte erzeugt. Die Entfernung der Böcke kann variiert werden.
W^ie schnell gelingt die Übung, wie mit der rechten, wie mit der linken
Hand? Wie mit der Hand, wie mit dorn ganzen Arm? Wie bei verschiedener
Entfernung der Böcke ?
Kontaktfingerhüte und Kontaktstifte (Mechaniker Marx, Berlin) zum n» i ••
Klopfen auf eine metallische Unterlage, statt der Taster. Man kann an mehnre
Finger passende Hüte stecken und verschiedene Trillerübungen ausführen.
Kymograph nach Minnemann (Mechaniker Marx, Berlin). Auf dem Reiß- Nr. ii.
brett wird ein nicht zu dickes Papier befestigt. Unter demselben wird durch die
Reibung der Rollen r r ein von der Rolle R kom-
mender Papierstreifen vorbeigezogen. Zwischen Zei-
chenpapier und Streifen ist Kopierpapier befestigt,
so daß sich die Zeichnimg auf dem Streifen ab-
tlrückt, imd zwar um so mehr auseinander gezogen,
je langsamer gezeichnet und je schneller der Streifen bewegt wird. Die Be-
wegung des Streifens ^\ird durch die Hand oder durch einen Motor bewirkt,
der an der einen Rolle r angreift (durch Gewicht angedeutet).
I
256
Hans Rupp
Man kann die langsamste Bewegung (f, g), die gleichmäßige Bewegung
(h Anm.) und das schnellste Hin- und Herbewegen (d), endlich die Genauigkeit
prüfen, mit der dieselbe Bewegung wiederholt wird (i ß). Die Bewegung muß
senkrecht zum Streifen ausgeführt werden.
j^^ jr, Tremograph nach Vierordt-Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Er dient zur
Aufzeichnung des Tremors (h), ferner zur Bestimmung der kleinsten Bewe-
gungen (f, g). Der zeichnende Stift steckt in einer Hülse,
aus der er durch eine leichte Spiralfeder nach außen
gedrängt wird. Das hat den Zweck, daß er die Schreib-
fläche (berußte Glas- oder Metallplatte) auch berührt,
wenn er schräg gehalten oder etwas ziu-ückgezogen wird.
E^ werden nur die Schwankungen in den zwei Dimen-
;• sionen der Schreibplatte aufgezeichnet.
f [jj '^ Ich ließ den Apparat so einrichten, daß er für ver-
I \ schiedene Bewegungen verwendbar ist. Um z. B. die
~ Schwankungen der Hand zu zeigen, wird er an einen
geeigneten Fingerhut oder an eine an der Hand angebmidene Platte geschraubt;
für Schwankimgen des Kopfes oder des Körpers oder Gewehres beim Zielen an
einer am Kopf, am Körper oder Gewehr zu befestigenden Platte; usf.
^,._ni ^ , Ruheprüfer (steadiness tester) nach Whipple (Mechaniker
Stoelting Co., Chicago). Die Metallplatte hat neun Löcher, deren
Durchmesser immer kleiner werden. Man führt eine Nadel in ein
Loch imd soll sie einige Zeit (z. B. 1/4 Min.) ruhig halten, ohne
den Rand des Loches zu berühren. "Geschieht das letztere, so ertönt eine Glocke
oder es wird eine Marke aaf dem Chronograph gezeichnet.
>;j j7 Zieltafel (target blank) mit Halter nach Whipple (Me-
chaniker Stoelting Co., Chicago). Das nahezu quadratische
Papier von ca. 20 cm Seite mit 10 Kreuzen wird auf dem
Halter befestigt. Der Apparat ist aufgehängt und kann je nach
der Größe des Schülers höher oder tiefer gezogen werden. Der
Schüler steht gerade davor, z. B. so, daß er die Tafel bei
ausgestrecktem Arm gerade berührt, und fährt mit einem Blei-
stift schnell auf die Kreuze hin. Wie groß sind die Fehler ?
Nr.is. Zieltafel für radiale Bewegungen nach Rupp (Mecha-
niker Marx, Berlin). Ein quadratisches Papier von ca. 50 cm
Seite wird in einen Rahmen gespannt. Es trägt einen größeren
oder kleineren Kreis von 12 Pmikten. Man soll vom Mittel-
punkte aus nach verschiedenen Randpunkten schnell hin-
fahren. Welche Punkte werden genauer getroffen? Wie bei
verschiedener Haltung des Armes ? oder verschiedener Orien-
tierung der Tafel (vertikal, horizontal) ? Man zeichnet entweder
direkt auf das Papier mit den Zielpunkten oder, um dieses zu
schonen und für mehrere Versuche verwenden zu können, auf ein darunter aus-
gespanntes, leeres Papier, indem man Kopierpapier zwischenlegt und mit
einem stumpfen Holzstift zeichnet.
Man kann auch die Aufgabe stellen, möglichst gerade Radien zu ziehen.
Welche gelingen besser? Wie bei verschiedener Schnelligkeit?
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
267
Kontaktspalt (tracing board) nach Bryan (Mechaniker Stoelting Co.,
Cliicago). Man fährt mit einem Metallstift mit vorgeschriebener Geschwindig.
keit den Spalt entlang, vom breiteren Ende beginnend. Stößt
man an den Rand, so ertönt eine Glocke oder es wird ein
Zeichen auf dem Chronograph notiert. Wie weit kommt
man ohne Fehler? Wie bei verschiedenen Richtungen?
Kontaktspalt nach Bolton-Rupp (Mechaniker Marx,
Berlin). Drei parallele Spalte von verschiedener Breite. Wie
oft stößt man an, wenn man den Spalt entlang fährt? Man
kann die Übung länger fortsetzen, indem man im bestimmten
Tempo hin und her fahren läßt. Wer hält besser aus?
Ring-Kontaktspalt nach Rupp (Mechaniker Marx, Ber-
lin). Drei Platten, jede mit drei verschieden großen Ring-
spalten, jedoch jede Platte mit anderer Spaltweite. Zum
Unterschied von Apparat 20 ist hier, namentlich bei den
kleineren Ringen, die Richtung fortwährend zu ändern. Man
kann dauernd im Kreise herumfahren lassen. Das Loch in
der Mitte kann für dieselben Versuche verwendet werden wie
Apparat 16.
Nr. H)
Nr. 20.
Nr Jl.
Außer diesen Apparaten sind noch an anderen Stellen beschriebene Apparate
für Versuche dieser Gruppe verwertbar. Der Bewegungsmesser nach Gold-
scheider, den ich bei Besprechung der passiven Bewegungsschwelle erwähnte
(Gruppe V B Nr. 9) , dient auch zur Bestimmung der aktiven Schwelle (Ver-
such f); für die Klopfversuche eignen sich, wie schon erwähnt, die Taster, die
in Gruppe III unter Nr. 18 und 19 beschrieben wurden. Für Reaktions ver-
suche, bei denen die Zeit bis zum Beginn der Reaktionsbewegimg gemessen
werden soll, sind eine Reihe der in Gruppe VIII zu beschreibenden Anordnungen
verwendbar.
Zur Geschichte der Kinderpsychologie und der
experimentellen Pädagogik.
Von Hermann Götz.
„Die größte methodische und zugleich materiale Neuerung, welche die
experimentelle Pädagogik mit sich brachte, ist die, daß wir alle
Probleme der Pädagogik vom Kinde aus zu entscheiden
suchen.''^) Als formale Neuerung kommt die Anwendung des Experiments
als Mittel pädagogischer Forschung hinzu. Wollte Meumann sagen, daß
die Vertreter der experimentellen Pädagogik sich energischer, zielbewußter
als frühere Pädagogen um die Erkenntnis der kindlichen Psyche bemühten,
so kann man mit seinen Worten einverstanden sein, aber unberechtigt wären
sie, wenn sie den Sinn haben sollten, daß erst mit der experimentellen Päda-
'» Meumann, E., Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik. Bd. I, S. 32,
Vgl. 2. Au«., Bd. I, S. 46, 47.
Zeitschrift f. padagog Psychologie 17
258 Hermann Götz
gogik die Erkenntnis gekommen sei, das Vertrautsein mit den Besonderheiten
des kindlichen Innenlebens sei die unerläßliche Bedingung der Pädagogik.
Im Jahre 1753 erschien in Berlin ein Buch unter dem Titel: „Versuch einer
Theorie von dem Menschen und dessen Erziehung." Der Verfasser,
Friedrich Engel, war Hauslehrer bei dem Grafen Heinr. Adrian von Borcke,
dem er sein Werk gewidmet hat. Engel ist von dem französischen Ästhetiker
Charles Batteux^) beeinflußt. Er betrachtet gleich diesem die schönen Künste
als Nachahmungen der Natur. Sie ist als die weiseste Verfassung keiner Ver-
besserung, wohl aber einer Verschlimmerung fähig. Aufgabe der Kunst,
natürlich auch der Erziehungskunst, ist es, durch die in der Natur gegründeten
Mittel die Verschlimmerung zu verhüten. „Kein Mensch ist das, was nach
der Anlage der Fähigkeiten aus ihm hätte werden können." Es gelingt der
Natur niemals, ihren Zweck völlig zu eiTeichen.2) Diese Gedanken begegnen
uns später extrem und schroff in den Sätzen, mit welchen Rousseau seinen
„Emil" beginnt: „Alles ist gut, wie es hervorgeht aus den Händen des Urhebers
der Dinge; alles entartet unter den Händen des Menschen." 3) Wie Kant, so
ist auch Engel der Meinung, daß die Erziehung ihrem innersten Wesen nach
nicht Beeinflussung, sondern Lenkung, Leitung ist. „Die Eindrücke von den
auswärtigen Dingen bestimmen ein Kind nicht in seinem Verhalten, sondern
diese sind nur Veranlassung, sich nach seinem inneren, in der Natur gegrün-
deten Plan zu bilden (§ 85). Die besten Übungen werden von der Natur
veranlaßt. Das Kind erwartet nur Beistand, den wir schlecht leisten werden,
wenn wir seine Natur nicht kennen. „Die große Regel der Weisen: Folge
der Natur, verbindet uns auf die dringendste Art, uns in eiiie nähere Be-
kanntschaft mit einem Kinde einzulassen, um die Natur eines Kindes, dafür
wir jetzt die nötigen Beschäftigungen wählen sollen, kennen zu lernen, weil
auf dieser Kenntnis das ganze Glück der Wahl und zugleich der Erziehung
beiiihet."*) Die Vorzüge des Menschen sind Vernunft und Freiheit. Zu beant-
worten hat deshalb der Erzieher die Frage: Was sind Vernunft und Freiheit
bei einem Kinde ?^) „Es ist falsch, von allen Menschen auf ein Kind zu
schließen." Man kann das so wenig, „als wir von dem, was die Menschen
wirklich sind, auf das, was sie sein können, einen Schluß machen können.
Desto richtiger und bündiger aber ist der Schluß, den man von Kindern auf
die Menschen macht und vielleicht besteht das einzige Mittel, den Menschen
nach einem aus der Natur hergeleiteten Begriff recht kennen zu lernen, darin,
daß man mit Kindern durch einen näheren Umgang bekannt wird."^) „Daß
ein Philosoph ein Kind nicht kennte, das kann man ihm vergeben, daß er
aber seinen Schlüssen, die er von dem Menschen, wie er wirklich ist, auf-
die menschliche Natur und auf ein Kind macht, soviel zutrauet, das kann man
ihm nicht vergeben."') „Vernunft, Klugheit, Verstand, Scharfsinnigkeit des
Geistes, diese Vorzüge wirkhch gioßer Männer, dadurch sie der Welt, sowohl
als sich selbst in allen Umständen so nützlich werden, müssen in ihren ersten
Zügen, ihrer Anlage nach, in der Seele eines Kindes, ob zwar gleichsam als
eingewickelt Hegen." „Diese Fähigkeiten eines Kindes, sowohl als ihr Ver-
«) Geb. 1713 in Allandhuy b. Vouziers, gest. 1780 in Paris. Hauptwerk: Cours de belles-
lettres. 5 Bde.
•^) Vergl. a. a. O., § 1, 19, 20, 95, 22. ^) Übers, von E. von Sallwürk. Bd. I, S. 9.
'^) Engel a. a. 0., § 95. *) A. a. 0., § 42. «) A. a. 0., § 43. ") A. a. 0., § 90.
Zur Geschichte der Kinderpsychologie u. der experimentellen Pädagogik 259
hältnis zu seiner Bestimmung müssen wir von einem Kinde selbst lernen.**')
Engel beschränkt sich nicht auf allgemeine Forderungen, sondern er ist be-
müht, eine Analyse des kindlichen Seelenlebens zu geben. Alle Handlungen
des Menschen sind aus „der einzig wirkenden Kraft der Seele" herzuleiten,
nicht von drei Seelen. Es gibt nur eine Seele mit einer gewissen starken
und schwachen Seite, mit gewissen Ober- und Unterkräften. Die Aufmerk-
samkeit ist das erste Merkmal des Verstandes, wie Engel bemerkt. Er zeigt,
wie sie durch Empfindungen bestimmt wird. Dann behandelt er die Neigung
des Kindes, zu gefallen, seinen Nachahmungstrieb, seine Wißbegierde, seinen
Geschmack, der nach Engel unter allen Fähigkeiten die erste Stelle einnimmt.
Die Kinder sind „individuell verschieden". Der Geschmack ist es, der durch
seine verschiedenen Grade die Gaben eines Kindes unterscheidet und auf
den die ganze Bildung des Geistes und des Herzens ankommt."^) ^Der Irr-
tum, den der Mensch in der Wahl des Guten und Bösen begehet, ist ihm
gar nicht natürlich, am wenigsten aber einem Kinde, weil sich die Empfindung
allezeit weniger irret als die Vernunft." „Wir haben also nicht nötig, einem
Kinde die Wahl und die Unterscheidung des Guten und Bösen durch fremde
Mittel zu erleichtern". Der Mensch weiß seine Gedanken zum Vorteil seines
Handelns zu drehen, weiß sein Tun zu beschönigen, „das gilt besonders von
einem Kinde". 3) Die Bedeutung der Sprache füi* die geistige Entwicklung
des Kindes hebt Engel ganz besonders hervor. Von einem unrichtigen Aus-
druck eines Kindes dürfen wir nach ihm nicht auf eine mangelhafte Vor-
stellung schließen. Es ist also falsch, ein Kind nach seinen Ausdrücken zu
beurteilen. Man bedenke, wie schwer es selbst für den Erwachsenen oft ist,
für einen richtigen Gedanken das ganz richtige Wort zu finden.'*) Die erste
Handlung, welche auf die höhere Bestimmung des Kindes hinweist, ist die
lallende Nachbildung gehörter Laute, die sich auch bei Geschöpfen der nied-
rigsten Art findet. Höher steht die Bildung nichtgehörter Laute. Gedächtnis,
Witz und Geschmack bedingen die Bildung der Kindessprache. 'O Das Kind
lernt leichter eine vollkommene als eine unvollkommene Sprache. Man darf
es nicht nach vorausgesetzten und vorher bekannt gemachten Regeln unter-
richten. Übungen der Sprache sind zugleich Übungen des Verstandes. Die
Worte sind Zeichen unserer Gedanken. Beide haben notwendige Beziehungen
aufeinander, darum müssen die Regeln der Sprache zugleich Regeln der Ver-
nunft sein.^) Das Seelenleben des Kindes wird zunächst durch Gedächtnis
und Einbildungskraft beherrscht.'') „Aus dem Auswendiglernen ein besonderes
Geschäft machen, heißt nichts anderes, als dasjenige, was ein Kind notwen-
dig und mit Lust venichtet, einem unnatürlichen Zwang unterwerfen." Wenn
der Unterricht interessant gestaltet wird, tut das Gedächtnis von selbst, ohne
Zwang seine Schuldigkeit.^) Eine höhere Fähigkeit als die Einbildungskraft
und das Gedächtnis ist der Witz, mit dessen Hilfe das Kind schon die Ähn-
lichkeit zwischen den beiden ersten Tönen entdeckt. Während er bei dem
Tiere keiner Erweiterung fähig ist, sind bei dem Kinde immer höhere Grade
möglich. Auf dem Witz beruhen alle großen Eigenschaften des Geistes. Er
befähigt das Kind, „bloß aus dem Grunde der Ähnlichkeit, von der Beschaff en-
') A. a. O., § 115. 2) Vgl. a. a. 0. §§ 53—80. ») §§ 83, 85, 86 o. a. 0.
*) Vgl. a. a. 0., § 87, 88. *) Vgl. a. a. O., §96. 97. ") Vgl. a. a. O., § 111. 112.
') Vgl. a. a O., § 116. *) A. a. O., g 121, 123.
17*
260 Hermann Götz
heit ganzer Arten, Gattungen und Geschlechter richtig zu schließen und also
von einem Ding alle anderen, die unter einen allgemeinen Begriff gehören,
zu lernen." „Es ist grausam, ein Kind mit trockenen Lehren unterhalten, die
es selbst erfinden will, erfinden kann, erfinden muß." Die Natur hilft, zeigt
dem Kinde „die Ähnlichkeiten in den Verhältnissen zwischen Ursache und
Wirkung, Mittel und Zweck und zwischen dem Ganzen und seinen Teilen.
Ein Kind findet, so klein auch der Bezirk seiner Erfahrungen ist, daß in
einerlei Umständen immer einerlei erfolget, daß jede Wirkung eine Absicht,
ein Mittel zu einer höheren Absicht sei, dadurch alles um ihn in einer Ver-
knüpfung erscheinet. Das große Warum? das ein Kind, fast sobald es die
Augen öffnet, unaufhörlich und unendlich oft wiederholet, beweiset, daß es
von einer Welt, die mit seinen Bedürfnissen übereinstimmen und für ihn ge-
macht sein soll, Ordnung, Zusammenhang und Übereinstimmung erwarte."
„Ein Kind setzet voraus, daß alles seinen zureichenden Grund haben muß."')
„Die Aufmerksamkeit ist eine Anwendung der Vorstellungskraft auf einen
äußeren Gegenstand, deren Grad jedesmal nach dem Grade der Vollkommen-
heit, die sich in dem Gegenstande befindet, bestimmt wird." Der Verstand
denkt nur insoweit richtig, als er von dem guten Geschmack geleitet wird,
der alle Vorzüge des Geistes und Herzens in sich begreift. „Der Geschmack
macht auch die inneren Beweggründe und wahren Triebfedern aus, dadurch
der Geist in einer beständigen Wirksamkeit erhalten wird; er ist die Kraft,
durch die sich der Geist, durch sich selbst, zu seiner Vollkommenheit auf
die richtigste Art ausbildet." Belohnung und Strafe sind äußere Beweggründe,
aber sie können, weil sie nicht natürlich sind wie der Geschmack, großes
Unheil anrichten. Beschäftigungen, gegen die ein Kind beständig Unlust äußert,
müssen unnatürlich sein. 2) Im Kinde werden große Empfindungen durch wohl-
getroffene Schilderungen eines edlen Charakters allzeit erweckt. Die guten
Muster wählt sich ein Kind selbst. Eigensinn, Schalkheit, Unlust zu nützhchen
Beschäftigungen sind schon bei kleinen Kindern, oft in nicht geringer Stärke
anzutreffen. „Der Eigensinn ist ein Wille, der sich bloß durch das Gegenteil
dessen, was angeraten oder befohlen wird, bestimmt, es mag an sich gut oder
böse sein, nach dem bekannten Satze: Nitimur in vetitum, temper capimusque
negata. Quellen des Eigensinns sind: Mißtrauen gegen Andere und allzu-
großes Vertrauen auf sich selbst; Verbote, die dem Kinde mißfallen, Ton und
Mienen bei Befehlen und Verboten können das Mißtrauen des Kindes erwecken.
Mit dem Mißtrauen aber gegen andere wächst das Vertrauen zu sich selbst.
„Wenn man nun vom Eigensinn alles das absondert, was durch eine schlechte
Erziehung dazu kommt, nämlich Mißtrauen gegen andere und allzu großes
Vertrauen zu sich selbst, so bleibt nichts übrig als ein gewisser Widerstand
im Gemüt, der den Eindrücken von außen das Gegengewicht hält, daß sie
nur nach dem Grade des Guten und dadurch sich die Dinge unterscheiden,
auf das Gemüt wirken. Und in dieser Betrachtung ist der Eigensinn die
schönste Eigenschaft des Kindes." „Unterdrückt man diesen Eigensinn, so
raubt man einem Kinde nicht nur alles Verdienst, sondern macht es auch,
durch den unausbleiblichen Erfolg, entweder zu einer Maschine oder zu einem
Bösewicht." Die Triebe zeigen sich bei verschiedenen Kindern in sehr ver-
schiedener Stärke. Gegen Neigungen und Leidenschaften ist bei Kindern mit
») A. a. 0., § t26, 127, 128. '') Vgl. a. a. O., 131—133.
Zur Geschichte der Kinderpsychologie u. der experimentellen Pädagogik 261
Vernunftschlüssen wenig auszurichten, da sie Vorurteile des Herzens und da-
mit stärker und gefährlicher als die Vorurteile des Verstandes sind. Kinder
haben solche Vorurteile des Herzens nur so weit, als sie ihnen nach ein«r
festgesetzten Gewohnheit beigebracht werden. An sich hat ein Kind ein
richtiges Gefühl für das Gute, wie für das Böse. Die bösen Neigungen des
Kindes sind entweder feindsehge, d. i. solche, die eine Beleidigung zum Grunde
haben. Und dann ist das einzige Mittel, sie zu unterdrücken, daß man jene
unterläßt und das Kind mit den sanften Gefühlen bekannt macht, oder sie
sind töricht, „d. i. solche, die aus dem Irrtum, welchen wir in Absicht unseres
Wertes begehen, indem wir solchen zu hoch oder zu niedrig setzen oder ihn
aus falschen Gründen bestimmen. Diesen Irrtum begeht ein Kind niemals,
wenn wir nicht gegen es gebieterisch strenge, oder ängstlich zärtlich oder
niederträchtig gefällig sind und dadurch seinen Wert zu weit heruntersetzen
oder zu sehr über sein Verdienst erhöhen, wenn wir nicht selbst Verehrer
von den Dingen sind, die Geiz, Wollust und Ehrsucht vergöttert haben und
es dadurch veranlassen, seinen Wert aus falschen Gründen zu bestimmen." 0
Längere Zeit galt in Deutschland, nachdem die Franzosen Michelan und
Perez auf seine Verdienste hingewiesen hatten, der nicht unbedeutende Anti-
kantianer Diedrich Tiedemann als Begründer der Kinderpsychologie, ^) bis
Theodor Fritzsch nachwies, daß Tiedemann „nur ein Glied in der großen Reihe
der Forscher auf dem Gebiete der Pädologie in der zweiten Hälfte des 18.
Jahrhunderts ist". 3) Nun haben wir gezeigt, daß Friedrich Engel nicht nur
die Notwendigkeit der kinderpsychologischen Forschung und ihre Bedeutung
für die Grundlegung der Pädagogik erkannte, daß er sie nicht nur entschieden
forderte, sondern daß er es auch unternahm, die Entwicklung des kindlichen
Seelenlebens darzustellen. Mithin dürfen wir, solange nicht ein früherer Ver-
treter derselben gefunden wird, die Anfänge der Kinderpsychologie
in Deutschland bei Friedrich Engel, ihren Anfang also um das
Jahr 1750 suchen.
Elf Jahre später als das Werk Engels, erschien eine klar und leicht ver-
ständlich geschriebene Psychologie des Verstandes und des Willens.^) Ihr Ver-
fasser war David Nikol. Schönfeldt, Pastor an der deutschen Marienkirche zu
Bergen in Norwegen. Er sagt: „Die Erziehung der Kinder und die Regie-
rung anderer Menschen wird niemals recht von statten gehen, wenn man
die Gemüter, die regiert und gebessert werden sollen, nicht recht erkennet."^)
Aber wie erlangt man diese notwendige Erkenntnis? Es ist bedeutsam, wie
der Verfasser, der nur an wenigen Stellen auf die Eigen tümUchkeiten des
kindlichen Seelenlebens eingeht, diese Frage beantwortet. Er meint, die Er-
fahrung sei die Hauptsache in der Seelenlehre. Da fast gar keine fremden
Erfahrungen und Versuche hinterlassen worden seien, hätten einige Gelehrte
gewisse Meinungen und Grundsätze angenommen. Leicht sei die Einbildung
entstanden, daß die Erfahrung damit tibereinstimme. Dem Mangel an Er-
») Vgl. a. a. O., § 150 bis 161.
*) Geb. 1 748 zu Bremervörde b. Bremen, gest. 1 803 zu Marburg. Er veröffentlichte a. a. „Be-
obachtungen über die Entwicklung der Seelenfähigkeiten bei Kindern," erschienen 1787 in den
, Hessischen Beiträgen zur Gelehrsamkeit und Kunst," Bd. U, Stück 2 und 3.
^) Die Anfänge der Kinderpsychologie und die Vorläufer des Versuchs in der Pädagogik, Zeitschr.
f. päd. Psych., Path. u. Hygiene, 1910, S. 14'>.
*) Der Titel lautet : , Anweisung zur Erkenntnis seiner selbst nach der natürlichen Beschaffenheit
seiner Seele." Bützow u. Wismar 1764. *) A. a. 0 , S. 8.
262 Hermann Götz
fahrungen müsse abgeholfen werden. Die Großen, welche die Sozietäten der
Wissenschaften stiften und regieren, müßten die Seelenlehre zu einer Haupt-
klasse ihrer gelehrten Gesellschaft machen. Außer den Erfahrungen seien
besondere Versuche notwendig. Durch ausgesetzte Belohnungen soll man
„andere fähige Köpfe, vornehmlich solche, die mit der Unterweisung und
Erziehung der Kinder zu tun haben, ermuntern, sich um die zur Erkenntnis
der Seele, besonders der Kinder, dienenden Erfahrungen genauer zu bekümmern
und was sie nützliches entdecken, zum allgemeinen Besten kundzumachen."
Die Lehre von der Seele ist einer der allerwichtigsten und schwersten Teile
der Naturlehre. Darum sind bei der ersteren wie bei der letzteren mehr
Erfahrungen und genauere Versuche notwendig. Hier finden wir, vielleicht
zum ersten Male, die Forderung, die kindliche Psyche durch Ver-
suche zu ergründen. Gleichzeitig verlangt ein Aufsatz, der im Berlinischen
Magazin erschien (III, 583), eine Geschichte von allem, „was in der Seele
eines Kindes von der ersten Empfindung oder vielmehr von der ersten Be-
wegung seines Lebens an bis zum ersten Gebrauch, den es von seiner Ver-
nunft gemacht, vorgegangen ist." Dadurch werde ein helleres Licht über
das Wesen der Seele verbreitet als durch alle Lehrgebäude, welche die
Philosophen von Anfang der Welt aufgeführt haben. Im Jahre 1769 erschien
in Berhn Christian Garves') Preisschrift „Ob man die natürlichen Neigungen
vernichten oder welche erwecken könne, die die Natur nicht erzeugt hat."
Der Verfasser knüpft mit „großer Vorliebe an die ersten Regungen der
Kindesseele an". „Die Beispiele zeichnen sich durch die vom Kindesalter
ausführlich handelnde genetische Betrachtung aus. "2) Der namhafte Philolog
Christian Gottfried Schütz^) übersetzte 1770 Bonnets „Essai analytique* und
begleitete ihn mit eigenen wertvollen Bemerkungen. „Im einzelnen verlangt
er Untersuchungen über den Ursprung der Fähigkeiten und Neigungen in
den Kindern, ferner eine genauere Erforschung verschiedener außerordent-
licher Seelenzustände. Nun erst sind als Freunde und Vertreter der Kinder-
psychologie die Philanthropisten und Männer, die ihnen nahestanden, zu
nennen. Theodor Fritzsch führt besonders auf^) Sneedorf, einen Verwandten
Basedows, Johann Karl Wezel,^) „der eine ganze Theorie der pädagogischen
Beobachtung entwickelt", Christian Heinrich Wolke, 0) Ernst Christian Trapp,')
dessen noch heute wertvoller „Versuch einer Pädagogik" von Fritzsch neu
herausgegeben wurde, die Erziehungsrevisoren, Karl Philipp Moritz,^) der das
„Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" herausgab (1783 — 1793), den Württem-
bergischen Theologen Immanuel David Mauchart (1764 — 1826,) der ein „All-
gemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissen-
schaften" leitete (1792 — 1801), und den schon erwähnten Dietrich Tiedemann.^)
Das Interesse für die Kinderpsychologie bleibt auch weiterhin. Wir be-
1) Geb. 1742 zu Breslau, gest. daselbst 1798. ,
2) Max Dessoir, Gesch. der neueren deutschen Psychol., 2. Aufl., S. 151, 262, 264.
^) Geb. 1747 zu Dederstedt im Mansf eidischen, gest. 1832 in Halle.
*) A. a. O., S. 150 ff.
*) Geb. 1747 in Sondershausen, gest. 1819 ebenda.
^) Geb. 1741 zu Jever, gest. 1825 in Berlin.
'') Geb. 1745 zu Drage b. Itzehoe, gest. in Wolfenbüttel 1818.
*) Geb 1757 in Hameln, gest. 1793 als Prof. der Altertumskunde bei der Äkad. d. bild. Künste
zu Berlin.
"j Geb. 1748 in Bremervörde b. Bremen, gest. als Prof. der Philos. zu Marburg 1803,
Zur Geschichte der Kinderpsychologie u. der experimentellen Pädagogik 263
gegnen ihm, und das ist nicht allzu verwunderlich, bei einer Anzahl mehr
oder minder bedeutender Pädagogen, Pestalozzi führte über sein Söhnlein
.laqueli vom 27. Januar bis zum 19. Februar 1774 ein Tagebuch, das erst 1828
veröffentlicht wurde. ^) Friedrich Heinrich Christian Schwarz'^) schickt dem
dritten Bande seiner Erziehungslehre, in dem er das System der Erziehung
behandelt, einen Abriß der physiologisch-psychologischen Entwicklung des
Kindes voraus.^) Er betrachtet I. Das werdende Kind: 1. Lebensanfang.
2. Embryo. 3. Perioden seiner Entwicklung. 4, Einfluß der Mutter. II. Die
Jugend. 1. Periode: Die Kindheit: 1. Das neugeborene Kind. 2. Neuer Zu-
stand des Organismus. 3. Die wichtigsten Erscheinungen in dem menschlichen
Lebensprozesse in ihrer Beziehung auf das Geistige: a) Das Atmen, b) Das
Gähnen, c) Das Seufzen, d) Die Beklemmung und Bangigkeit, e) Das Weinen,
f) Das Lachen, g) Das Schreien (vagitus, Wimmern), h) Das Zittern, i) Der
Takt. Die erste Kindheit. Der Säugling: a) Erste Lebenswoche. Es wird
Licht, b) Die ersten fünf Monate. Das Chaos scheidet und formt sich, c) Vom
6. Monate bis zum 10. oder bis zum Ende des 12. Die Vollendung der Kind-
heit. Das laufende und sprechende Kind bis zur völligen Entwicklung des
Selbstbewußtseins d. h. bis gegen das Ende des 3. Jahres, a) Körperliche
Entwicklung, b) Geistige Entwicklung. 1. Der Sinne. 2. Des inneren Sinns.
3. Der Seele bis zum Selbstbewußtsein. 4. Der Gefühle und Neigungen.
5. Der Sprache. 6. Übersicht. 2. und 3. Periode : Das Knaben und Mädchen-
alter. Der Jüngling und die Jungfrau: I. Wachstum des Körpers. II. Entwick-
lung des Geistes. 1. In der Sinnestätigkeit. 2. In der Denkfähigkeit. 3. In
dem Fühlen und Begehren. Der erwachsene Mensch. — Angeregt durch Schwarz,
gibt Bernhard Gottlieb Denzel*) dem ersten Teile seiner Erziehungs- und
Unterrichtslehre auf Seite 1 — 75 eine psychologische Einleitung, in welcher
er u. a. behandelt: Entfaltungsgang der menschlichen Natur: Die Kindheit.
Das Knaben- u. Mädchenalter. Das Jünglingsalter. Hauptperioden der geistigen
Entwicklung*). Namentlich die Psychologie, der kindlichen Fehler und Tugen-
»j Mitgeteilt bei Fritzsch, a. a. 0., S. 159.
^) Geb. 1766 in Gießen, gest. als Prof. d. Theologie 1837 zu Heidelberg. ») 8. 96—328.
'•) Geb. 1773 zu Stuttgart, gest. 1838 als Rektor und Inspektor des evangel. Seminars zu Eß-
lingen.
•) Anmerkung: Denzel beruft sich unter anderem auf ein Buch Joh. Christian Aug. Groh-
manns, der Professor der Philosophie in Hamburg war: ,Die Psychologie des kindlichen Alters.
Hamburg 1812, Das Buch erschien erweitert, wohl 1816 und scheint viel gelesen worden zu
sein, da 1824 eine wohlfeile Ausgabe verbreitet wurde, welche den Titel trägt: „Ideen zu einer
Geschichte der Entwicklung des kindlichen Alters." Im Vorworte sagt der Verfasser : „Erziehungs-
lehre, das war das Ganze, was man glaubte aus dem Kinde machen und nehmen zu müssen.
Und doch studierte man selbst in dieser Hinsicht weniger die kindliche Natur, als daß man die
kindliche Natur nach der Erziehungslehre formte, nicht wissend, ob dasjenige, was man aus der
Natur nahm, Wahrheit oder Einfall war." Gr. will dazu beitragen, daß es anders wird. Er ist
angeregt von Moritz und Mauchart, weicht aber von der Methode seiner Vorgänger bewußt ab.
Er ist überzeugt, „daß sich der Mensch nach eben den Gesetzen ausbilde, nach welchen sich
das Menschengeschlecht bildet" (V., auch VI.), „Das Kind ist der kleine Naturmensch, der Natur-
mensch das großgewordene Kind" (41.). Das will er zeigen in einer auf Erfahrung gegründe-
ten Entwicklungsgeschichte der kindlichen Psyche. Er unterscheidet drei Entwicklungsstufen.
1. Die animale, auf welcher die niederenTriebe vorherrschen, 2. die humane, auf welcher sich
die spezifisch menschlichen Neigungen entwickeln, 3. die intellectuelle und moralische. Auf
jeder Stufe werden betrachtet „Begehrungsvermögen", „Empfindungsvermögen", „Erkenntnis-
vermögen" Der Verfasser besitzt Geist, er hat scharf beobachtet, aber sein an sich sehr in-
264 Hermann Götz
den findet verständlicherweise die Beachtung bedeutender Pädagogen. Tief-
gehendes Verständnis für die Eigenart der kindlichen Psyche, namentlich für
die tadelnswerten Regungen derselben, verrät bekanntlich Christian Gotthilf
Salzmann in seinem „Krebsbüchlein".!) Als trefflicher Kinderpsycholog er-
weist sich auch Aug. Herrn. Niemeyer, 2) der hervorragende Kanzler und
Rector perpetuus der Universität Halle in den folgenden vorzüglichen Aus-
führungen, die in seinen Grundsätzen der Erziehung und des Unterrichts
enthalten sind: 3) Ausartende Lebhaftigkeit. Natürliche Trägheit der Kinder,
Untugenden aus Trägheit. Aufrichtigkeit und Lügenhaftigkeit. Überstarke
und schwache Reizbarkeit der Kinder im früheren Alter. Untugenden aus
zu starker Reizbarkeit; Empfindlichkeit, Eigensinn, Geist des Widerspruchs,
Trotz, natürliches Wohlwollen der Kinder, Bekämpfung übelwollender und
feindseliger Neigungen. Über Selbstsucht, Neid, Eigennutz, Gewinnsucht.
Über Einbildung, Stolz, Ehrgeiz, Behutsamkeit in der Schwächung selbst-
süchtiger Triebe. Beförderung des Triebes zu gemeinnütziger Tätigkeit.
Vaterlandsliebe. Einfluß der Erziehung auf FamiUe und Freundschaftssinn.
Einfluß der Erziehung auf Geschlechtsliebe. Auch vorher begegnen wir da
und dort guten Ausführungen Niemeyers über psychische Eigentümlichkeiten
des Kindes. Zahlreiche psychologische Einstreuungen, die Fehler, Tugenden
und andere innere Wesensbesonderheiten des Kindes zum Gegenstand haben,
finden sich in der Erziehungs- und Unterrichtslehre Friedrich Eduard Benekes*)
und bei Tiuskon Ziller^), in dessen „Vorlesungen über allgemeine Pädagogik"
und in seiner „Grundlegung vom erziehenden Unterricht". Auch den be-
deutendsten Denker Herbartscher Richtung, Ludwig Adolf von Strümpell,*^)
mtissen wir hier nennen. Es sei hingewiesen auf seine Schrift „Die Ver-
schiedenheit der Kindernaturen" von 1844, deren Neudruck mit Nachwort
1894 erschien. Dem Interesse Strümpells an der Psyche des Kindes ver-
danken wir die grundlegende „Pädagogische Pathologie oder die Lehre von
den Fehlern der Kinder" (1890). Wie klar er sich des Zusammenhanges
zwischen der Kinderpsychologie und der Pädagogik bewußt ist, bezeugt er
selbst, wenn er sagt: „Unter der psychologischen Pädagogik verstehe ich die
Wissenschaft, von der geistigen Entwicklung des Kindes bezogen auf die
Zwecke, welche die Erziehung des Kindes durch die Erwachsenen im An-
schluß an die Individuahtät desselben zu erreichen strebt."^) So dürfen wir
sagen, daß in Deutschland das Interesse an der Kinderpsychologie spätestens
um 1750 n. Chr. erwachte und daß es nicht wieder erlosch, bis dann die
Vorläufer und die eigentlichen Vertreter experimenteller Pädagogik die
Kinderforschung energisch in die Hand nahmen.
Wenden wir uns nun zur formalen Neuerung der experimentellen Päda-
gogik, zur Anwendung des Experiments in der pädagogischen Forschung.
teressantes Buch liest sich nicht gut, da die Darstellung schwülstig ist und häufige, völlig un-
nötige Wiederholungen auftreten. Wo dem Verfasser die Beobachtungen fehlen, konstruiert er.
Auf den von ihm hervorgehobenen Parallelismus weist er nur anfangs an wenigen Stellen hin.
*) Geb. 1744 zu Sömmerda, gest. 1811 zu Schnepfenthal.
») Geb. 1754 zu Halle, gest. 1828 ebenda.
3) Herausgegeben von Rein, 2. Abt. Bd. I, S. 125 bis 232.
*) Geb. 1798 in Berlin, gest. 1854 daselbst.
^) Geb. 1817 in Wasungen, gest. 1882 in Leipzig.
") Geb. 1812 in Schöppenstedt, gest. IS99 in Leipzig.
') Psychol. Pädagogik, Leipzig 1890, S. V.
Zur Geschichte der Kinderpsychologie u. der experimentellen Pädagogik 265
Nach Max Dessoir bezeichnete man seit dem 16. Jahrhundert mit langsam
wachsender Einsicht als die Aufgabe wissenschaftlicher Psychologie: Den
ursächlichen Beziehungen nachzuspüren, die einerseits zwischen außen und
innen, anderseits zwischen den Elementen des Seelenlebens selbst bestehen;
die Naturgesetze der Seele aufzufinden; die Methoden der naturwissen-
schaftlichen Beobachtung und des Experiments, der Messung und mathe-
raathischen Berechnung anzuwenden.') Der Tübinger Professor Georg Bern-
hard Bilfinger,2) ein Wolffianer, fordert in seinem Hauptwerke: Dilucidationes
philosophicae de Deo, anima humana, mundo et generalibus rerum affectionibus
(Tübingen 1725), man solle die psychischen Erscheinungen durch sorgfältige
Beobachtungen und Versuche erforschen, die Tatbestände vergleichen und
daraus gewisse Regeln ableiten und die so gefundenen Kräfte zu einer all-
gemeinen Idee vereinigen. 3) Reichlich ein Vierteljahrhundert nach der viel
gelesenen Schrift Bilfingers erschien: „Versuch einer Experimentalseelenlehre"^),
von Johann Gottlob Krüger^), der Professor der Medizin in Halle und Helm-
städt war. Er will sich nur an die Erfahrung halten. Erfahrungen sind so-
wohl Wahrnehmungen als Versuche. Die Absicht, Experimente anzustellen,
ist ihm „nicht bloßer Scherz". Zum Experimentieren mit der Seele braucht
man „nicht Instrumente aus der Kammer des Naturforschers". Man kann
die Seele nicht durch die Sinne wahrnehmen, aber durch das Verbundensein
der Seele mit dem Leibe „wird der Körper ein Spiegel, darin sich die Seele
selber erbUckt" (S. 7.). Es ist natürlich, „von dem, was in dem Leibe Ver-
änderliches vorgeht, auf die Veränderungen der mit ihm verbundenen Seele
einen Schluß zu machen" (S. 11). Beim Experimentieren „versetzen wir die
Seele in Umstände, darein sie sonst nicht gekommen sein würde und da-
durch wir die Natur zwingen, uns das zu zeigen, was sie sich vorgesetzt
hatte für unsere Augen zu verbergen" (S. 15). Ins „Innere der Natur" kann
niemand dringen, aber die Experimente haben uns ihr ein gutes Teil näher
gebracht, darum muß man zur besseren Erkenntnis der Seele eine Experi-
mentalseelenlehre begründen, die einen Teil der empirischen Psychologie
bilden wird" (S. 17). Die Experimentalseelenlehre soll ihre Hände nicht mit
Menschenblut besudeln, obwohl es um große Missetäter nicht schade wäre.
Es lassen sich Versuche mit Tieren anstellen, und bei zahlreichen Krank-
heiten experimentiert die Natur von selbst, indem sie außergewöhnUche Ver-
änderungen des Leibes hervorruft. Die Ärzte können da viel wertvolles Ma-
terial sammeln (S. 20). Krüger hat nicht selbst psychologische Experimente
angestellt. Er behandelt die Wirklichkeit der Seele, das Erkenntnisvermögen,
die Empfindung, die Einbildungskraft, das Dichtungsvermögen, Wachen,
Schlafen und Träumen, Gedächtnis, Verstand, Witz, Vernunft, Gleichgültig-
keit, Lust und Unlust, die Gemütsbewegungen, die Freiheit, die Vereinigung
des Leibes und der Seele, die Seelen der Tiere. Krüger ist von dem Wolffianer
Baumeister in seinen Anschauungen beeinflußt. Er trägt sie mit Witz und
Humor vor, die ihm regelmäßig da helfen müssen, wo er ein Problem nicht,
oder doch nicht restlos zu lösen vermag. Von den Berichten, welche er
seiner Seelenlehre zu ihrer Erläuterung und Begründung anfügt und welche
'» Gesch. der neueren deutsch. Psychol., 2. Aufl., S. 22.
2) Geb. 1693, gest 1750. ») Vgl. dazu Dessoir, a. a. 0., S. 83.
') Halle u. Helmstädt 1756. ») Geb. 1715, gest. 1759.
266 Hermann Götz
er in geringer Zahl auch im Texte benutzt, ist auch uns der über den von
Cheseldon 1729 operierten Blindgeborenen bekannt. Von den übrigen er-
wecken die meisten, obwohl sie von seinerzeit berühmten Medizinern stammen,
unsere Heiterkeit, so z. B., wenn wir von einem Kranken lesen, der acht
oder wohl gar sechzehn Wochen lang an Stricken in der Schwebe gehalten
worden sei, da ein Grind von einem Zoll Dicke den ganzen Körper des Leiden-
den bedeckt und ihm das Stehen, Sitzen und Liegen gänzhch unmöglich ge-
macht habe. Doch dem sei wie ihm wolle, das Verdienst muß man Krüger
zubilligen, daß er die Notwendigkeit einer Experimentalpsychologie ganz in
modernem Sinne begründet hat. Kurz nach dem Erscheinen seines „Ver-
suches einer Experimentalseelenlehre", 1764, verlangte Dav. Nie Schönfeldt,
wie schon erwähnt wurde, die Erhebung der Seelenlehre zu einer Haupt-
klasse der Beschäftigungen der Gesellschaften der Wissenschaften und bezeich-
nete es — zum ersten Male — als notwendig, daß Pädagogen zu Experimenten
mit Kindern ermuntert würden. Durch das hervorragende Werk „Philoso-
phische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung" ^) wurde
Johann Nicolau» Tetens der größte empirische Psycholog Deutschlands in der
vorkantischen Zeit. Er sagt, er habe sich folgender Methode bedient: „Die
Modifikationen der Seele so nehmen, wie sie durch das Selbstgefühl erkannt
werden; diese sorgfältig wiederholt und mit Abänderung der Umstände
gewahrnehmen, beobachten, ihre Entstehungsart und die Wirkungsgesetze
der Kräfte, die sie hervorbringen, bemerken; alsdann die Beobachtungen ver-
gleichen, auflösen und daraus die einfachsten Vermögen und Wirkungsarten
und deren Beziehung aufeinander aufsuchen. Dies sind die wesenthchsten
Verrichtungen bei der psychologischen Analysis der Seele, die auf Erfahrungen
beruhet. Diese Methode ist die Methode in der Naturlehre und die einzige,
die uns zunächst die Wirkungen der Seele und ihre Verbindungen unter-
einander so zeiget, wie sie wirklich sind." Das meiste bei der beobachtenden
Methode beruhet auf einer richtigen Beobachtung der einzelnen Wirkungen,
ihrer Zergliederung und dann besonders auf ihrer Vergleichung, wodurch
einzelne Sätze zu Allgemeinsätzen der Erfahrungen erhoben werden. Jede
dieser Operationen hat ihre Hindernisse. Es gibt bei dem inneren Sinn wenn
nicht mehrere, so doch ergiebigere Quellen zu Blendwerken, als bei dem
äußern, wogegen ich kein Mittel weiß, das wirksam genug wäre, um sich da-
für zu verw^ahren, als die Wiederholung derselbigen Beobachtung sowohl unter
gleichen, als unter verschiedenen Umständen, und jedesmal mit dem festen
Entschluß vorgenommen, das, was wirkhch Empfindung ist, von dem, was
hinzu gedichtet wird, auszufühlen und jenes stark gewahr zu nehmen." Doch
Tetens beschrieb nicht nur die Methode der Naturlehre, die experimentelle
Methode, sondern er wendete sie auch"" an. Zunächst gab er dem Begriffe
der Empfindung, der zu seiner Zeit ein sehr verworrener war, fast durchaus
die Prägung, die heute als die richtige anerkannt ist. „Er weist die Haupt-
schuld der sogen. Sinnestäuschungen in den Wahrnehmungen selber nach"
und geht so weit, auch die scheinbare Größe eines sich entfernenden Gegen-
standes auf eine Modifikation der Empfindung zurückzuführen. Er verbessert
den ehedem unklaren Begriff der Nachempfindungen, indem er sie richtig
^) 2 Bde, 1777. In vorzügl. Ausstattung 1913 neu herausgeg. von der Kantgesellschaft bei
Reuther & Reichard in Berlin.
2) Geb. 1736 in Tettenbüll in der Landschaft Eiderstädt, gest. 1807 in Kopenhagen.
Zur Geschichte der Kinderpsychologie u. der experimentellen Pädagogik 267
auf die Dauer des Reizes bezieht. Er verweist auf die schnell bewegte glühende
Kohle, die nur infolge der Nachempfindung den Schein eines ganzen Licht-
kreises hervorbringt, und er behauptet sogar, durch Versuche, die er leider
nicht näher beschreibt, die Dauer der Gesichtsnachbilder auf 6 — 7 Terzen,
das Abklingen akustischer Wahrnehmungen auf etwa 5 Terzen festgestellt zu
haben. Selbst die Nachempfindungen des Getastes hat Tetens experimentell
untersucht und zwar ebenso wie 70 Jahre später der Physiolog Valentin."')
Um dieselbe Zeit, in welcher Tetens seine „Philos. Versuche über die mensch-
liche Natur und ihre Entwicklung" veröffentlichte, kehrte die Forderung Schön-
feldts wieder, daß Pädagogen mit Kindern Experimente anstellen sollten. Die
Philanthropisten gingen bei ihren Untersuchungen von dem Gedanken au>;,
daß durch die Beobachtung von Kindern „in das Innere des menschlichen Geistes
eingedrungen imd seine eigentümliche Gestalt aufgedeckt" werden könnte.
Die Sammlung von solchen Beobachtungen ist deshalb eine wichtige Aufgabe,
die sich das Organ des Dessauer Philanthropins („Pädagog. Unterhandlungen"
1777 ff.) gestellt hat."-) Man beginnt, sich der Tagebuchmethode zu bedienen,
welche pädagogische Beobachtung durch genaue chronologische Aufzeichnungen
festhält. Ernst Christian Trapp ist damit nicht zufrieden. Wie Job. Gottfr. Herder
klipp und klar den Gedanken ausgesprochen hatte: „Meines Erachtens ist
keine Psychologie, die nicht in jedem Schritte bestimmte Physiologie sei,
möglich" ='), so forderte Trapp, der von Tetens beeinflußt ist, ebenso die ex-
perimentelle Psychologie. Er klagt: „Das Studium der menschlichen
Natur ist zurzeit noch das schwerste unter allen, teils wegen der Beschaffen-
heit derselben, teils, weil noch so wenig darin vorgearbeitet ist, und teils, weil
aus Mangel einer Experimentalpsychologie so wenig darin getan werden kann."
„Wir haben keine Experimentalpsychologie, so wie wir eine Experimental-
physik haben. Daher können manche Zweifel in der Psychologie nicht so gut
aufgelöst werden, als manche der Naturlehre. "4) Trapp fordert auch das Ex-
periment in der Pädagogik. So z. B. : „Man^ebe mehreren Kindern von einer-
lei Alter verschiedene Gegenstände, Spielzeuge, Bücher, Modelle, Gemälde usw.
und lasse sie darin nach Belieben schalten und walten. Nun gebe man acht
auf die Verschiedenheit ihrer Äußerungen, Empfindungen, Handlungen, Er-
findungen usw. Man sehe, welche Gegenstände sich dieser, und welche sich
der wählt, wie bald er ermüdet, wie lange er bei einem Gegenstande aus-
halten kann. Man zähle, wieviele und welche Ideen, Empfindungen und da-
durch veranlaßte Äußerungen und Handlungen in einer gewissen Anzahl von
Minuten und Sekunden in den Kindern entstehen und zum Vorschein kommen.
Man mache dies Experiment mit Kindern von zwei bis sechzehn Jahren und
noch weiter." „Man führe das Experiment durch alle mögliche Kombinationen
von Alter der Kinder, von Zahl, Beschaffenheit, Verschiedenheit der Kinder
und der Gegenstände durch." s) Fritzsch weist darauf hin, daß die philan-
thropistische Pädagogik zur Forderung besonderer Versuchsschulen kommen
mußte und daß das Philanthropin zu Dessau mit der ausgesprochenen Absicht
gegründet worden ist, eine „Experimentalschule" zu sein, „in welcher neue
Versuche und immer wieder neue Vei-suche zur Abschaffung der vielen Mängel
*) M. liessoir, a. a. 0., S. 346. Vgl. Tetens a. a. 0., S. 31 ff. Der ausgez. Physiolog Gabriel
Gust. Valentin wurde g6b. 1810 zu Breslau u. starb 188» zu Bern. ") Fritzsch, a. a, 0., S. 150.
*) Vom Erkennen und Empfinden. 1778. Sämtliche Werke, herausg. v. Suphan, Bd. VIll, 8.
*) Versuch einer Pädagogik, herausgeg. von Th. Fritzsch, S. 8. 35. ») A. a. O., S. 36, 37.
268 Hermann Götz, Zur Geschichte der Kinderpsychologie usw.
des Schulwesens angestellt" werden sollten (Pädag. Unterhandlungen!. J., I.Stück
S. 23 u, 125). „Diese Versuche bezogen sich auf die physische, moralische und
wissenschaftliche Erziehung."!) Der Gedanke der „Experimentalschule" war Kant
sehr sympathisch. Er sagt: „Erst muß man Experimentalschulen errichten,
ehe man Normalschulen errichten kann." „Man bildet sich zwar insgemein
ein, daß Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und daß man schon
aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut oder nicht gut sein werde.
Man irret hierin aber sehr und die Erfahrung lehrt, daß sich oft bei unsern
Versuchen ganz entgegengesetzte Wirkungen zeigen von denen, die man er-
wartete. Man sieht also, daß, da es auf Experimente ankommt, kein Menschen-
alter einen völHgen Erziehungsplan darstellen kann. Die einzige Experimental-
schule, die hier gewissermaßen den Anfang machte, Bahn zu brechen, war
das Dessauische Institut. Man muß ihm diesen Ruhm lassen, ungeachtet der
vielen Fehler, die man ihm zum Vorwurf machen könnte; Fehler, die sich
bei allen Schlüssen, die man aus Versuchen macht, vorfinden, daß nämhch
noch immer neue Versuche dazugehören. Es war in gewisser Weise die ein-
zige Schule, bei der die Lehrer die Freiheit hatten, nach eigenen Methoden
und Plänen zu arbeiten, und wo sie unter sich sowohl, als auch mit allen Gelehr-
ten in Deutschland in Verbindung standen."-) Die Forderung, die kindliche Psyche
durch Experimente zu erforschen, die wir schon 1764 nachweisen konnten,
geriet in Vergessenheit. Als aber E. H. Weber den Versuch in die Psycho-
logie einführte'^) undalsG.Th.Fechner^) und Wilhelm Wundt 5) die experimentelle
Methode mit Erfolg anwandten und ausbauten, da fand sie auch bei der
Kinderforschung und bei der experimentellen Pädagogik eine Wirkungs-
stätte.
So haben wir nachgewiesen, daß die Grundgedanken der experimentellen
Pädagogik bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts ausgesprochen wurden,
das ist erheblich früher als E. Meumann annahm, da er die Worte schrieb:
„Die experimentelle Pädagogik ist ebenso wie ihre geistige Mutter, die experi-
mentelle Psychologie, nicht auf einen Schlag entstanden. Wissenschaftliche
Neuerungen entstehen nie mit einem Male, und sie sind nie etwas absolut
Neues, sondern sie erscheinen bei genauerer Betrachtung stets als allmähliche
Weiterbildungen früherer Gedanken."'')
Literaturbericht.
Abhandlungen aus der Zeitschrift für angewandte Psychologie,
Bd. 11 u. 12.
Von W. J. Ruttiiiann.
Die im Kriege mit einem Male wirklich praktisch in den Vordergrund tretende
Personenfrage hat weite Gebiete der angewandten Psychologie völh'g neu erschlossen
oder klarer orientiert. Dazu gehört in erster Linie die Frage der Berufseignung
und Berufsberatung. Die Zeitschrift für angew. Psychol. hat sich in großzügiger
») A. a. 0., S. 156. 157. ^) J. Kant, Über Pädagogik, herausg. von Th. Vogt, 3. Aufl. S. 78. 79.
*) Der Tastsinn u. d. Gemeingefühl 1849.
<) Elemente der Psychophysik 1860. In Sachen der Psychophysik 1877. Revision der Haupt-
punkte der Psychophysik 1882.
*) Grundzüge der physiologischen Psychologie. 1. Aufl., 1874.
*) Vorlesungen zur Ein!, i. d. exp. Päd., 2. Aufl., Bd. I, S. 2.
Literaturbericlit 269
Weise als Sammelstätte der Untersuchvmgen und Bestrebungen dazu eingerichtet.
Nachdem hierüber in der Z. f. p. Psych, gesonderte Berichterstattung schon mehr-
fach erfolgte und weiterhin erfolgen wird, bleibt für unsere Berichterstattung nur
dsr Teil übrig, der sich auf andere Fragen bezieht.
Bd. 11, Heft 1.
W. Stern, Der Intelligenzquotient als Maß der kindlichen Intelligenz, insbesondere
der untemormalen. S. 1 — 18.
Gegenüber der Differenzmethode (Intelligenz- Rückstand oder Intelligenz- Vor-
sprung) empfiehlt Stern als Mali der Intelligenz den Intelligenzquotienten, der aus
Intelligenzalter und Lebensalter zu gewinnen wäre. Er scheint etwa vom 7. bis
zum 12. Jahre annähernd konstant zu sein. Alsdann fällt er und verliert rasch
seinen rechnerischen Sinn. Das Intelligenzalter beträgt für noch außerhalb des
Schwachsinns stehende Kinder durchschnittlich über 0,80, bei Debilen etwa 0,75 und
bei Imbezillen unter 0,70. Er ist bei Kindern einer bestimmten Altersstufe um
so höher, je höher die Klasse ist, in der sie sich befinden. Seine prognostische
Bedeutung für die Art über die Intelligenz-Entwickhmg hinaus wird erst klar, wenn
die Beziehungen der Entwicklungswerte zur Entwicklungshöhe (Intelligenz-Stillstand)
einmal genauer bestimmt sind.
F. E. Otto Schnitze, Eine neue Weise der Auswertung der Intelligenzteste (Methode
der Intelligenzzensur). S. 19 — 28.
2 (100— H«>)
Die Methode, einen Intelligenzkoefizienten (= — — - wobei H''=jedesH,
dessen Aufgabe bestanden ist und Hp jedes H, dessen Aufgabe überhaupt dem betr.
Kinde ■ gestellt ist und die zu einem klaren Ergebnis geführt hat) zu bestimmen,
hat gegenübar der B.-S. Methode den Vorteil einfacher Handhabung, weiterhin ist
die bestimmte Anzahl Tests für eine Altersstufe avisgeschaltet, wozu noch einige
theoretische Vorteile kommen, unter denen uns besonders wichtig erscheint, daß auch
die Umwelteinflüsse zahlenmäßig einigermaßen ausgedrückt werden können.
W. Stern, Über Alterseichtmg von Definitionstests. Eine methodologische Unter-
suchung auf Grund der Massenversuche von A. Gregor. S. 90 — 96.
Die Auswertung Sterns an dem Gregorschen Material ergibt für Knaben und
Mädchen, daß Halbabstrakta (soziale, politische Begiüffe) nicht vor dem VI. Schul-
jahre, reine Abstrakta (logische, ethische Begriffe) nicht vor dem VII. Schuljahr
reif werden. ,,Für jene Begriffsgruppe ist das VI. und VII. Schuljahr, für diese
das VII. und VIII. das eigentliche Eichungsgebiet."
Heft 2 und 3.
S. Koväcs, Untersuchimgen über das musikalische Gedächtnis. S. 113 — 135.
Der Verfasser weist auf die Bedeutung des musikalischen Lesens hin. Vor-
bedingung dazu ist: 1. ein durchgebildetes äußeres wie inneres Gehör und 2. ein
umfassender technischer Vorrat.
H. Schüßler, Das unmusikalische Kind. S. 136 — 166.
Nach einer literarischen Studie über die musikalische Veranlagung folgen sta-
tistische Untersuchungen, wonach es nur ungefähr 5 — 10% unmusikalische Menschen
gibt. Von den Unmusikalischen erreichen nach Sohüßlers Material nin: 41 "/o, von
den Halbmusikalischen 57 "/o und von den Musikalischen 79 "/<> das Schulziel, und
die Arbeitsleistung der Musikalischen ist im Durchschnitt um 15 "/<>» die der Halb-
musikalischen um 6,6 % höher als die der Unmusikalischen,
S. Bernfeld, Über Schülervereine. S. 167—213.
Ein interessanter Beitrag zu dem selten erörterten Problem der Entwicklung
des sozialen Bewußtseins, der insbesondere für die Analyse der praktischen Jugend-
pflege, der von Erwachsenen geleiteten und durch die Jugend selbst gewollten,
Ausblicke bietet.
Heft 4 und 5.
A. Jaederholm, Untersuchimgen über die Methode Binet-Simon I. S. 289 — 340.
Die Arbeit bildet einen Anzug aus dem zweibändigen Werke über Intelligenz-
270 Literaturbericht
forschung und Intelligenz prüf uiig, das der schwedische Gelehrte 1914 veröffentlichte.
Sie bringt eine Art Fortschritt in der mathematischen Aviswertung der Intelligenz-
Prüfung nach Binet- Simon, indem sie die Gültigkeit der Gaußschen Fehlerkurve
für die Intelligenzstufen zu beweisen sucht. Dazu kommt die errechnete Tatsache,
daß die Zunahme der Leistimgsfähigkeit in einzelnen Intelligenztests (in der Alters-
periode 6 — 12 Jahre) linear im Verhältnis zum physischen Alter vor sich geht und
eine Bestätigung von Binets Berechnung mit einer kleinen Revision. Der praktischen
Erprobung empfiehlt sich die Jaederholmsche Tabelle der Intelligenzkoordinaten
nach der Minimalmethode.
Anna Wiese, Zur Frage nach den Geschlechtsdifferenzen im akademischen Studium.
Ergebnisse einer Studentenenquete. S. 341 — 401.
Nach den Befunden unterscheidet sich das akademische Studium beider Ge-
Kchlechter in einem für die Frauen ungünstigen Sinne.
E. Warschauer, Rechtspsychologische Versuche an Schulkindern. S. 402 — 412.
Eine vorlätif ige Mitteihing, die in Bezieh img gesetzt werden muß zu den Arbeiten
Levy- Suhls und M. Schaefers. ,
Heft 6.
G. Heymansund E. Wiersma, Verschiedenheiten der Altersentwicklung bei mäniv
lichen und weiblichen Mittelschülern. S. 441 — 464.
Die bekannte Umfrage des Verfassers fördert auch in der neuen Teilbearbeitung
eine Fülle von Ergebnissen. Die Mädchen zeigen ein entschiedenes Maximum in
Verhaltungsweisen, die auf inneres Gleichgewicht, Selbstbeherrschung, Widerstands-
fähigkeit gegen äußerliche Reize, auf Liebe und Hilfsbereitschaft, Wahrhaftigkeit,
Ehrlichkeit, Sittsamkeit, auf Eifer, Interesse, Schulleistungen sich beziehen im
Alter von 15 Jahren, wogegen sich beim 17- bezw. 18 jährigen Mädchen in den be-
?ipichneten Richtungen ein Minimum bemerkbar macht. Bei unerwünschten Eigen-
schaften liegt das Minimum bei 15 Jahren, das Maximum bei 16 Jahren. Beim
Knaben finden wir mit 15 Jahren kein Maximum, dagegen mit 17 Jahren dann,
wenn es sich um Eigenschaften des Temperaments handelt. Für Schulverstöße gilt
das Urngekehrte. Die Oszillationen der Entwicklung müssen in künftigen Unter-
suchvmgen in Parallele zu den physiologischen Erkenntnissen über das Alter ge-
bracht werden, wozu die Verfasser bereits Anregung geben.
H. Schüßler, Ist die Behauptung Meumanns richtig: Kinder können im allgemeinen
vor dem 14. Lebensjahre nicht logisch schließen? S. 480 — 497.
Für die 4 Schlußfigiuren, welche der Verfasser in seiner Untersuchung anwandte,
ergab sich, daß unter 50 Mädchen im Alter von 11 — 14 Jahren keines war, das
alle Schlüsse richtig ziehen konnte. Bei der ersten Figur waren ^js, bei der 2. Vs
richtig ;nach der dritten konnten unterZurechnung vonUnsicherheiten etwa '/«schließen.
Den vierten Schluß vollzog nur ein einziges Kind.
»and 12, Heft 1 und 2.
L. Nagy, Ergebnisse einer Umfrage über die Auffassimg der Kinder vom KJriege.
S. 1—63.
Die Untersuchung wurde vorgenommen auf Grund einer Datensammlung der
Ungarischen Gesellschaft für Kinderforschung (Herbst 1914), die die Wirkung des
Krieges nach der sittlichen Richtung erkim.den sollte. Der Umfang der Umfrage
vermindert ihre natürlichen Fehlerquellen. Über zwei Fragen berichtet Nagy ein-
gehend: 1. „Was ist die Ursache der Krieges ?'* 2. „Was gefiel am besten imter
den Ereignissen des Krieges ? Warum?"
Unter den Beantwortungen ergaben sich folgende Gruppen: subjektiv- typische,
objektiv-konkret-typische und abstrakt-typische. Die Verteilung der Typen ergibt
bei 9— 14jährigen 4,8%, 77% und 18%,
„ 15-18 „ - , 25% „ 75%.
Während im ersten subjektiven Entwicklungsabschnitt die Geistesarbeit der
Phantasie vorherrscht, ist der zweite durch reflektive Geistesfunktionen gekenn-
zeichnet. Der Prozentsatz der gefühlsmäßigen Antworten zeigt folgende Zahlen-
bewegung :
Literaturbericht
271
Lebensalter
8 j
9
10
11
12
13
14
15
16
17
27,5 1
18
14,1
10,4
28,4
26,3
28,3
41.7
51,4
51
18 I 19
45 |33,3%
Besonders reichhaltig ist Nagys Untersuchung an Ergebnissen über die sitt-
liche Entwicklung, wo er eine Parallele zwischen dem 8. bis 9. und dem 18. bis 19.
Lebensjahre findet.
M. Lobsien, Einfluß des Tempos auf die Arbeit der Schulkinder, S. 64 — 98.
Verhältnismäßig spät wird in der Schülerkunde, trotz der Anregungen dxirch
Ebbinghaus und Meumann, das Tempo der Arbeit in Beziehxmg zu ihrer Leistung
gebracht. Die Gegenüberstellung von Einzelleistung und Gruppenleistung drängt,
geradezu auf das Problem hin. Lobsien benutzt Kopfrechnungen und Diktate über
Gleichschreibung. Aus den Rechen versuchen geht hervor, daß Temposteigerung
geradezu verheerend wirken kann, namentlich bei der Subtraktion; dagegen zeigen
die Rechtschreibversuche keine Einheitlichkeit der Fehlersteigerung. Der psycho-
logischen Betrachtung des Verfassers über die inneren Zusammenhänge der Fehler-
quellen können wir nur teilweise folgen.
Heft 3. und 4.
A. Franken, Bilderkombination. Ein Beitrag zum Problem der Intelligenzprüfung.
S. 173—229.
Neben dem Ausbau der Auswertung der mehr oder weniger anerkannten Test-^
Serien dürfen jene Versuche nicht unbeachtet bleiben, die Einzeltest« namentlich
in bezug auf bestimmte Sorten der Intelligenz erproben. Durch eine recht prak-
tisch angewandte Aufgabe der Bilderkombination kommt Franken neben zahlreichen
anderen Teilergebnissen zn folgender Entwicklungsreihe der Kombi nationsfähigkeit ;
Alter 7
Trefferprozente 4,6
Fehlerprozente 34
Form der Arbeit in % 11,9
8
9
10
11
12
13
7
9,2
16,6
27,4
39
36,6
23,2
28,4
22,4
25,8
27,2
26,4
23,5
24,6
42,5
51,6
58,7
58,1
14
47
26,4
64
„Der korrelative Zusammenhang zwischen Treff er prozenten und Kombinations-
treue, Unterrichts- und Testleistung prägt sich mit dem Alter immer deutlicher aus."
H. J. und W.A. Pannenberg, Die Psychologie des Zeichners imd Malers. S.230 — 275.
Vergl. den nächsten Sammelbericht zur , .Psychologie des Zeichnens!"
Heft 5 und 6.
O. Lipmann, Die Entwicklvmg der grammatisch-logischen Fmiktionen S. 347 — 371.
,, Erkennt das Kind, in welchem logischen Verhältnis einzelne Teile des Satzes
und einzelne Sätze zueinander stehen und vermag es diese Beziehimgen durch das
richtige Wort (Bindewort) zu bezeichnen V Diese Frage wurde durch eine Arbeite-
gemeinschaft untersucht, wozu Lipmann in einer vorläufigen Mitteilung folgende
Sonderfragen stellt, die auch anderweitig nachgeprüft werden könnten:
„1. Welche der Lücken (Einfügimg des richtigen Bindeworts) sind am schwersten.
. auszufüllen ? In welchem Zusammenliange steht die Schwierigkeit der richtigen
Ausfüllung einer Lücke zu der betr. logischen Funktion ?
2. Werden die einzelnen Lücken besser von Knaben oder Mädchen ausgefüllt,
d. h. bei welchem Geschlecht sind die betr. sprachlich-logischen Fähigkeiten besser
ausgebildet 7
3. Wie entwickeln sich diese sprachlich-logischen Fähigkeiten mit wachsendem
Lebens- und Schulalter bei jedem der beiden Geschlechter ? In welcher Beziehimg
steht die^e Entwicklung zum Lehrplan ?
4. In welchen der an den Versuchen beteiligten Schulen sind die sprachlich-
logischen Funktionen am besten entwickelt, in welchen am schlechtesten ? Steht
diese Rangordnung der Schulen in Beziehmig zu der Bevölkerungsschicht, aus der
sie ihr Schulmaterial bezieht?
5. Welche Worte der deutschen Sprache werden, wenn Worte gleicher Bedeu-
tung zur Verfügung stehen, bevorzugt 7 Evtl. Hinweis auf dialektische Besonder-
heiten.
6. In welcher Beziehung steiht die von einem Kinde gelieferte Textergänzung zu
seinen sonstigen Leistungen, besonders in Deutsch, und zu seiner Intelligenz?
272
Literaturbericht
Ein Beispiel der Ergebnisse sei durch die nachfolgend beigegebene Reihe einer
Untersuchung geboten. Die ausführlichen Tabellen der Arbeit selbst können aber
allein nur eine wissenschaftliche Vergleichsmöglichkeit bieten, worauf deshalb aus-
drücklich hingewiesen sei.
Lücke
(Bindewort)
3.
m f
4.
m f
5.
m f
6.
m f
7.
m f
8. Schul-
jahr
m f
Stu-
denten
m f
„oder"
44; 89
61; 62
61; 98
61; 88
90; 88
88; 88
96 95 •/..
„da"
14; 22
29; 35
38; 71
41; 66
51; 78
54; 63
89 90 •/(.
„weder -noch"
24; 45
44; 59
66; 85
69; 89
84; 75
88; 86
96 100 7o
„als"
15; 35
51; 46
59; 63
69; 82
81; 87
90; 84
100 100 7„
„während"
1; 1
1; 1
3; 16
2; 25
15; 19
33; 26
70 90 Vo
„abei"
24; 23
57; 52
42; 60
63; 80
76; 77
86; 73
92 lOOVo
„denn"
24; 30
61; 57
69; 75
74; 86
86; 92
100; 93
100 100«/
O. Deuchler, Über die Bestimmung von Kangkorrelationen aus Zeugnisnoten,
S. 395—439.
Die schon mehrfach angeregte statistische Nutzung der Zeugnisnoten baut
Deuchler ähnlich seinen den Lesern der Z. f. p. Psych, längst bekannten mathe-
matischen Versuchen zu einer praktischen Auswertung aus. Das praktische Er-
gebnis der Überlegungen bezieht sich in der vorliegenden Arbeit auf Rangkorrela-
tionen zwischen Begabung, Aufmerksamkeit, Fleiß, Betragen und häuslichen Ver-
hältnissen bei 31 10/1 1jährigen Volksschülerinnen. Die Noten gewann der Lehrer
xmter sorgfältiger Beachtung der in Betracht kommenden Faktoren.
Sammelberichte sind enthalten in Band XI u. XII über: gerichtl. Psychol.
^Lipmann), Schlaf und Traum (H. Keller), Psychol. d. neusprachl. Unterrichts
(Hans Keller), Spuren interessebetonter Erlebnisse und ihrer Symptome (Lipmann),
Krieg und Schule (H. Keller), Entwicklungspsychologie (E. Rothacker), Psychoana-
lyse (Friedländer, Norgall, Fürst<^nheim, J. H. Schultz).
Ein Preisausschreiben
zum Problem der Begabtenauslese
«rläßt der „Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen
Unterrichts" in seinem Organ, den „Unterrichtsblättern für Mathematik u. Natur-
wissenschaften" (Jahrg. XXIII, Nr. 4). Es lautet: „Im Hinblick auf die künftig
noch nlfehr als bisher erforderliehe Auslese der Begabten erscheint das Rechnen
als ein besonders geeignetes Mittel zur Prüfung der Intelligenz der Schüler. Es
soll dargelegt werden, wie die Aufnahmeprüfung für Sexta zu handhaben und wie
der Rechenunterricht in den Klassen Sexta bis Quarta zu gestalten ist, damit
dieses Ziel in möglichst vollkommener Weise erreicht wird." — Von den Be-
arbeitern wird erwartet, daß sie Kenntnis von den Methoden und den Ergeb-
nissen der neueren Begabungsforschung haben. Die Bewerbungsarbeiten müssen
in gut lesbarer Schrift geschrieben sein und sind bis zum 31. Dezember 1918 an
den Vorsitzenden des Vereins (zurzeit Professor Dr. P o s k e , Berlin - Lichter-
felde W, Friedbergstr. 5) einzusenden. Sie müssen mit einem Kennwort versehen
sein ; in einem verschlossenen Umschlag, der mit demselben Kennwort bezeichnet
ist, sind Name und Anschrift des Verfassers anzugeben. Der Preis beträgt 300 M.
Das Veröffentlichungsrecht geht mit der Zuweisung des Preises an den Verein
über.
über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen
Universitäten.
Gutachtliche Äußerungen zu der Pädagogischen Konferenz im Preußi-
schen Ministerium der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten am
24. und 25. Mai 1917.
Zweite Reihe.
Von
Dr. E. R. Jaenscb, Prof. der Philosophie an der Universität in Marburg,
Karl Muthesius, Schulrat, Seminardirektor in Weimar,
Anton Sickinger, Geheimrat, Stadtschidrat in Mannheim.
Leitsätze zur Hoehschulvertretung der Pädagogik.
Von E. R. Jaensch.
Von Herrn Geheimrat Natorp aufgefordert und von der Leitung der Zeit-
schrift ermächtigt, fasse ich meine Anschauungen über die Hoehschul-
vertretung der Pädagogik in folgenden Sätzen zusammen:
Die BerlinerThesen, insbesondere die vonTroeltsch, weisenauf
einen Mißstand hin, der aber nicht durch Begründung eines neuen
Faches, sondern nur durch den Ausbau des Bestehenden zu be-
heben ist. Förderung schon in Gang befindlicher Entwicklungen
wird hier auf natürlichem Wege Abhilfe bringen.
1. Zuzugeben ist, daß es an Persönlichkeiten fehlt, die fähig sind, unserem
Bildungssystem, damit aber der Gegenwartskultur, Ziel und Richtung zu
weisen. Diese Aufgabe wurde in älterer Zeit für das Gesamtgebiet von
Kultur und Bildungswesen von Männern wie Aristoteles, Leibniz oder Goethe
gelöst, in neuester. Zeit nur für Einzelgebiete der Kultur von hervorragenden
Fachgelehrten — wie von Bonitz, Harnack, Klein oder Suess — in Angriff ge-
nommen. Ein ausreichender Befähigungsnachweis für diese Aufgabe ist weder
die von dem Pädagogikprofessor geforderte historische Kenntnis von Kultur-
und Bildungssystem, noch die von ihm erwartete Freiheit von jener „Mutlosigkeit
und vornehmen Konfliktscheu", die die gegenwärtige Philosophie, angeblich
unvorteilhaft, unterscheidet. Unserm Bildungssystem die Richtung zu weisen,
sind nur solche befugt, in denen die schaff enden Kräfte der Gegenwarts-
kultur und -Wissenschaft selbst wirksam sind. Nur dem Selbstschaffenden
kommt die Kultur- und Bildungsintention der Zeit, damit aber der Weg, der
der aufstrebenden Generation gewiesen werden muß, zu voller Klarheit. Nur
Persönlichkeiten, die sich selbst zu hoher Warte erhoben haben, würden die
von Troeltsch gestellte Aufgabe lösen können.
2. Vorbildlich für die Behandlung der Gesamtaufgabe ist das auf engerem
Gebiet bereits Geleistete. Das Unterrichtswerk der Mathematiker zeigt, daß
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 18
274 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
nicht nur die Einzelfragen der speziellen Didaktik, sondern auch die prin-
zipiellsten Probleme des Unterrichtszieles nur durch souveräne Beherrschung
des gesaraten Lehrguts zu lösen sind.
3. Daß wir aber im Gegensatz zu früheren Zeiten nur auf Einzelgebieten
der Kultur Führer besitzen, liegt an der Entfremdung und Spannung zwischen
Philosophie und Einzelwissenschaft, in der die jetzt führende Gelehrtengene-
ration aufgewachsen ist. Indes schon bei ihr ist zu bemerken, wie die zu-
nehmende Annäherung zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie die Dis-
kussion der Bildungsfragen von dem Standort im Einzelgebiet aus auf eine
immer höhere Warte hebt. Dieser allmählich und ohne Begründung neuer
Fächer zum Ziel führende Entwicklungsgang wird gefördert durch eine der
Wichtigkeit des Gegenstands angemessene und der gekennzeichneten Lage
entsprechende Vertretung der Philosophie an den Universitäten.
4. Vor allem aber wird diese Entwicklung dadurch gefördert, daß nicht
nur die Fachmänner der Philosophie und Psychologie sowie geeignete Prak-
tiker, sondern auch Vertreter der Einzelwissenschaft sich in einem pädago-
gischen Seminar, wie in Halle, zusammenschließen. Nach Erfahrungen, die
Verf. bei der Vertretung des einen philosophischen Ordinariats in Halle ge-
macht hat, schien sich diese — auch in Marburg erstrebte — Organisation
zu bewähren. Auch eine Gelehrtengeneration, die philosophischen Fragen
wieder näher steht, wird die pädagogische Auswertung des Lehrguts nur in
gemeinsamer Arbeit vollziehen können.
5. Erfahrene Schulmänner von Ansehen und Rang führen lebhaft Klage,
daß die Thesen gerade den Schwierigkeiten, mit denen der Praktiker am
schwersten ringt, nicht Rechnung tragen. Nicht wie das Unterrichtsziel zu
bestimmen sei, sondern wie man Zugang zmu Geist des Zöglings finde, sei
die dringendste Frage des Praktikers. Die moderne Psychologie, durch die
Arbeit von Dilettanten und durch voreilige praktische Reformen zuweilen
diskreditiert, wird, wenn durchweg fachmännischen Händen anvertraut, diese
Aufgabe in zunehmendem Maße lösen. Täglich mehr liefert sie den Beweis,
daß das Seelenleben der Kinder und Heranwachsenden ein uns unbekanntes
Land ist, das sich nicht dem intuitiven Blick und dem einfühlenden „Ver-
stehen", sondern nur methodischer Tatsachenforschung erschließt. Das für den
Lehrer allerdings unerläßliche einfühlende „Verstehen" dieser neuen Welt
und der Blick für sie wird erst erzogen durch Beschäftigung mit der wissen-
schaftlichen Psychologie, wie sich ja auch in der Geschichte das „Verstehen"
in Diltheys Sinn erst über gründlicher Tatsachenforschung erhebt. Die Förde-
rung der Psychologie ist auch die unerläßliche Voraussetzung für die Lösung
der unter 1. — 4. erwähnten Fragen, da die Zerrissenheit unserer Kultur, ins-
besondere der fast ständige Konflikt zwischen Natur- und Kulturwissenschaft,
von der späten Erforschung des vermittelnden Zwischengebietes, eben des
psychologischen, herrührt. Wie sehr die Psychologie, für die ein unerläßliches,
wenn auch keineswegs das einzige Hilfsmittel das Experiment ist, in Preußen
noch der Förderung bedarf, das zeigen eindringlich die Angaben G. E. Müllers,
dessen psychologisches Institut, ungeachtet seiner unzureichenden Ausstattung,
seit Jahrzehnten einen wichtigen Anziehungspunkt der Universität Göttingen
bildet (vgl. Bericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie in
Göttingen 1914. Leipzig 1914. S. 106 ff.).
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Mutheeius 275
Zur Frage der Lehrstühle für Pädagogik an den Universitäten.
Von Karl Muthesius.
Aus der großen Zahl von Fragen, die in der pädagogischen Konferenz im
Kultusministerium verhandelt worden sind, möchte ich zwei herausheben:
1. Die Einbeziehung der Volksschulpädagogik, 2. Die Übungsschule.
1.
Troeltsch hat in seinem Leitsatz 6 hervorgehoben, daß die Pädagogik
nur etwas Ganzes sei, wenn sie die Volkserziehung als Ganzes, also die Volks-
schule mit eingeschlossen, behandle. Und in seinem Schlußwort erkläit er
es für „selbstverständlich", daß die Volksschule in die Universitätspädagogik
einbezogen werden müsse als Gegenstand ihrer Forschung. „Es handelt sich
ja gerade um die Gesamtheit des nationalen Unterrichtswesens und um die
Spezifikation eines einheitlichen Geistes nach den verschiedenen Schulgattungen
und Schulstufen hin."
Die Einheitlichkeit der Pädagogik ist damit treffend zum Ausdruck gebracht
worden. Die Tragweite dieses Urteils erstreckt sich weiter als es auf den
ersten Blick scheinen mag. Wird anerkannt, daß Volksschulpädagogik und
Pädagogik der höheren Schulen nicht zwei grundsätzlich verschiedene Dinge
sind, so müssen alle die bis in die neueste Zeit wiederholten Behauptungen über
die grundsätzlich verschiedene Lehrweise an beiden Schulgattungen aufgegeben
werden, es kann dann auch nicht bestritten werden, daß es grundlegende
Richtlinien für eine gewisse Einheitlichkeit in der Ausbildung der beiden
Lehrergattungen gibt. Die pädagogische Konferenz hat also dadurch, daß sie
sich zu der Einbeziehung der Volksschulpädagogik in die Universitätspäda-
gogik bekannte, dem Bestreben nach innerer VereinheitHchung des gesamten
Schulwesens und seiner Lehrerschaft einen wesentlichen Dienst geleistet.
Die nächstliegende Folgerung aus ihrer Stellungnahme hat zwar die Kon-
ferenz nicht umgangen, es aber dann doch nicht zu einer widerspruchslosen
Meinungsäußerung über sie gebracht : über die Zulassung von Volksschullehrern
zur Universität. Zwar hatte Ziehen nicht ganz unrecht, wenn er behauptete, man
habe zu dem Streben der Volksschullehrer nach der Universität nicht Stellung
zu nehmen, sondern „lediglich die Frage der inneren Konstituierung der
Pädagogik als Universitätsdisziplin zu erörtern". Aber ein innerer Zusammen-
hang zwischen beiden Dingen besteht zweifellos. Für wen soll denn Volks-
schulpädagogik an der Universität gelehrt werden, wenn nicht für diejenigen,
welche in der Volksschule arbeiten? Gewiß liegt es in der Auffassung des
Bildungswesens als einer Einheit, daß auch andere Studierende, die künftigen
Oberlehrer, einen Überblick über das Gesamtgebiet, in dem die Volksschul-
pädagogik einen notwendigen Teil bildet, erhalten, aber die eigentliche Ver-
tiefung in das Sondergebiet wird doch von denen erwartet, die ihr Sonder-
beruf zu ihm in die lebendigste Beziehung setzt. So hat denn auch Troeltsch
von allem Anfang an das hier vorliegende Verhältnis aufgefaßt. Schließe
man, sagt er in Leitsatz 6, die Volksschule in die Volkserziehungswissenschaft
ein, so ergäbe sich von da aus „eine Erweiterung und ein Wechsel des Hörer-
kreises, aber nur unter der Bedingung, daß auch die zukünftigen Volksschul-
lehrer oder doch wenigstens eine gewisse Auswahl aus ihnen an diesen
Kollegien beteiligt würden". In vorsichtigerer Form erklärte er dann in seinem
Schlußwort, er wage nichts darüber zu sagen, wie weit aus der Einbeziehung
18*
276 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
der Volksschule in den Gegenstand auch eine irgendwie geartete Beteiligung
von Volksschullehrern als Hörern gefolgert werden solle und müsse. Ihre
Forderungen würden jedenfalls in Zukunft gesteigert auftreten, es scheine
ihm aber genügend, wenn die Kontaktstelle vorhanden sei, an die später
etwaige Verbindungsschnüre angelegt werden könnten.
Zwischen Leitsätzen und Schlußwort Troeltschs liegen eine Anzahl Äuße-
rungen, die in verschiedener Abschattierung zu der Frage des Studiums der
Volksschullehrer Stellung nehmen. Ziehen zollt diesem Streben nach Weiter-
bildung höchste Anerkennung und hält es für erwünscht, wenn den einzelnen
Volksschullehrern Gelegenheit gegeben wird, als Gasthörer auch den Vor-
lesungen über Pädagogik an der Universität beizuwohnen; die Behandlung
der Disziplin dürfe aber natürlich durch diesen Kreis von Zuhörern keinerlei
Änderung in ihrem grundsätzhchen Charakter erfahren. „So verlockend es
für den Universitätslehrer der Pädagogik sein mag, den mächtigen Resonanz-
boden fruchtbar zu machen, den der deutsche Volksschullehrerstand mit
seinem rühmlichen Streben nach Weiterbildung ohne Zweifel darstellt, so
unverbrüchhch muß auf der andern Seite daran festgehalten werden, daß
die Pädagogik als Universitätsdisziplin in bezug auf die Hochhaltung ihres
Wissenschaf tUchen Charakters keinerlei Zugeständnisse machen darf."
Den gleichen Vorbehalt machte auch Kuck ho ff. Es sei gegen das Studium
^Hochqualifizierter" nichts einzuwenden, nur dürfe „dasNiveau der Vorlesungen
um ihretwillen nicht niedriger gehalten werden". Heinrich Maier be-
hauptete, in Tübingen hätten die Volksschullehrer zu den eifrigsten Hörern
gehört, aber nicht auf der erforderlichen Bildungshöhe gestanden. Völlig ab-
ablehnend verhielt sich Oberlehrer Litt. Die zu wünschende Kulturpädagogik
setze einen Einblick in die Kulturzusammenhänge voraus. „Einen solchen
Einblick in das Wesen einer Kultur zu gewinnen, ist aber dem Volksschul-
lehrer seiner ganzen Bildung nach versagt, also ist ihm die Teilnahme an
diesen Vorlesungen nicht zu gestatten." Unmittelbar nach ihm kam Spranger
zum Wort, der auf Grund seiner Leipziger Erfahrungen berichtete, daß dort,
wo die Volksschullehrer seit 1865 zum Studium der Pädagogik zugelassen
seien, das Niveau durch sie keineswegs herabgezogen werde. „Ja ihre Teil-
nahme wirkt belebend auf die Diskussion ein, da die Lehrer aus der eigenen
Praxis berichten können." Für den Dozenten ergebe sich allerdings leicht
die Gefahr politischer Abhängigkeit, die aber schwinde, wenn man sich rein
auf den akademischen Ton einstelle.
Unter den Volksschullehrern ist vielfach die Meinung verbreitet, die Uni-
versitäten würden sie, wenn nur die Regierung die nötigen Anordnungen
erlasse, mit offenen Armen aufnehmen. Sie mögen aus den Verhandlungen der
pädagogischen Konferenz von neuem ersehen, wie irrig das ist. Selbst so offen-
kundige Freunde der Volksschullehrer wie Ziehen machen ihre Zustimmung
von Vorbehalten aller Art abhängig, die Ansicht, daß die Volksschullehrer „nicht
auf der erforderlichen Bildungshöhe" stünden, ist verbreiteter, als man in
Lehrerkreisen glaubt, und die von Litt mit so apodiktischer Sicherheit hin^
gestellte Behauptung: „Einen solchen Einblick in das Wesen einer Kultur zu
gewinnen, ist dem Volksschullehrer seiner ganzen Bildung nach versagt",
spiegelt mit ihrer ohne jede Einschränkung gezogenen Folgerung, daß dem
Volksschullehrer die Teilnahme an den Vorlesungen nicht zu gestatten sei,
das durchschnittliche Urteil der Oberlehrerschaft Norddeutschlands wieder.
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Muthesius 277
Eins ergibt sich jedenfalls mit zwingender Sicherheit aus den Verhandlungen:
Der Zusammenhang zwischen Volksschullehrerbildung und Universität kann
nur dadurch hergestellt werden, daß zunächst einmal eine Auswahl „Höchst-
qualifizierter" zum Studium zugelassen wird. Erst wenn diese, wie es in
Sachsen geschehen ist, den Beweis erbracht haben, daß ihnen keineswegs die
., erforderliche Bildungshöhe" mangelt und deshalb die Befürchtung unbegrün-
det ist, daß sie „das Niveau herabdrücken werden" i), erst dann werden sich
die Pforten der Universität weiter öffnen. Man mag darin nicht die letzte
Lösung der ganzen Frage sehen, man mag darin mehr nur eine Station auf
dem Wege nach dem Hauptziele erblicken: ohne diese Übergangszeit ist es
überhaupt unmöglich, in der Frage vorwärts zu kommen. Sie ist vor allen
Dingen (leshalb nicht auszuschalten, weil in ihr erst einmal die Lehrerbildungs-
anstalten mit akademisch gebildeten Lehrkräften, die aus dem Volksschullehrer-
stande stammen, versorgt werden müssen, wodurch allein ihre Lehrweise und
ihre Leistungen so ausgestaltet und gesteigert werden können, daß alle Zweifel
an der wissenschaftlichen Zulänglichkeit schwinden. Die Volksschullehrer
aber haben mit dem gänzlich unvermittelten Verlangen, sofort allen den Zu-
gang zur Universität zu gestatten, nur die Widerstände gesteigert und damit
selbst die Entwicklung gehemmt.
2.
In der Ablehnung von Übungsschulen waren die Mitglieder der Konferenz
einig; wenigstens wurde von keiner Seite ein Wort für sie eingelegt. Zwar
forderte man zur Ergänzung der Vorlesungen pädagogische Seminare, aber
so erklärte z, B. Frischeisen-Köhler: „Da die Anleitung zur Erziehungs-
praxis und zum Unterricht nicht Aufgabe der Universitätspädagogik sein kann,
kann das pädagogische Seminar nur ein Seminar für theoretische Pädagogik
sein; die praktische pädagogische Einführung ist dem Gymnasialseminar aus-
schließlich vorbehalten." Zu dieser dürfe, meinte Troeltsch,, an der Uni-
versität „keine Dublette geschaffen werden".
Mir scheint, es liegt hier zum mindesten eine recht einseitige Auffassung
vom eigentlichen Wesen der pädagogischen Bildung vor.
Pädagogik ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst, und wie es im
Wesen jeder wahren Bildung liegt, daß sie nach Betätigung, nach Produktivität
geradezu hindrängt, so namentlich im Wesen der pädagogischen Bildung.
Für alle großen Erzieherpersönlichkeiten ist der Drang nach pädagogischer
Betätigung kennzeichnend; Pestalozzi ist ein typisches Beispiel hierfür. Die
Pädagogik als bloße Theorie betreiben, heißt sie blutleer machen. Überall
verfällt die Theorie der Verdörrung, wenn sie nicht fortlaufend in ein leben-
diges Verhältnis zur Praxis gesetzt wird. Zugestandenermaßen ist es der Vor-
zug der ärztlichen Berufsbildung, daß hier die Organisation eine befruchtende
Wechselwirkung, ein vollständiges gegenseitiges Durchdringen von Theorie
und Praxis gewährleistet. Würden wir nicht den Vorschlag, die Kliniken von
der medizinischen Fakultät zu trennen, als ganz undurchführbar empfinden ?
So werden auch pädagogische Lehrstühle an den Universitäten nur eine tiefere
Wirkung hervorbringen können, wenn sie in irgendeiner Weise mit päda-
•) Vergl. Pädagogische Blätter 1911, S. 43 u. 328: Die Erfolge der sächsische»
Studieneinrichtungen für Volksschullehrer.
278 über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
gogischen Beobachtungs- und Übungsfeldern verbunden werden, so daß sie
fortlaufend das Bild der Verwirklichung neben sich haben.
In dem Satze Sprangers: „Gerade dies ist die Seelennot des Ordinarius,
daß ihm die Berührung mit der ganzen Breite der pädagogischen Praxis fehlt",
ist das Bedürfnis in Rücksicht auf den Dozenten überzeugend ausgesprochen,
und auch Ettlinger hat darauf hingewiesen, daß es „vielleicht für den Lehrer
der Pädagogik selbst" einer Übungsschule bedürfe. Ist es aber nicht ein
Widerspruch, das Bedürfnis mit so eindringlichem Wort zuzugestehen und
doch die Verwirklichung abzulehnen? Als gleichen Widerspruch empfinde
ich es, wenn z. B. Kuckhoff fordert, die pädagogische Psychologie solle dem
Hörer die Mittel an die Hand geben, die verschiedenen Begabungen zu er-
kennen, in einem Atem damit jedoch erklärt: „Eine Übungsschule aber ist ab-
zulehnen". Wo soll der Hörer Gelegenheit finden, Begabungen zu erkennen,
wenn nicht an lebendigen Kindern?
Erythropel rät von der Errichtung einer Übungsschule mit der Be-
gründung ab: „Die Technik des Unterrichts ist noch lange nicht das Wesent-
liche". So wahr dieser Satz an sich ist, so muß doch mit allem Nachdruck
betont werden, daß die Einübung der Unterrichtstechnik eben nicht als das
Wesentliche einer Übungsschule angesehen werden darf. Diese mag getrost
den Gymnasialseminaren als deren eigentliche Aufgabe vorbehalten bleiben.
Hier handelt es sich zunächst um etwas anderes und weit Wertvolleres: die
Begründung der rechten pädagogischen Gesinnung. Das kann nur geschehen
in lebendigem Umgang mit der Jugend. Goldbeck beklagt es bei aller An-
erkennung des Eifers und des Wohlwollens der Lehrer, daß ihnen „das Ver-
ständnis für die kindliche Seele, die Fähigkeit des Sicheinfühlens" fehle. Dem
Mangel kann aber auf keine andre Weise abgeholfen werden, als daß der
Lehrer gleich beim Beginn seiner Berufsbildung in ein inniges Gemeinschafts-
verhältnis zur Jugend gesetzt wird. Mit warmen Worten hat Becker auf
die tiefer liegenden Werte der pädagogischen Berufsbildung hingewiesen.
Wenn Troeltsch in seinen Leitsätzen gleichsam als Nebenaufgabe der neuen
Pädagogik erwähnt habe, die Studenten in die Ideale und in die Ethik des
Lehrerberufs einzuführen, so müsse er mit Entschiedenheit betonen, daß hierin
gerade das Allerwesentlichste enthalten sei. Im allgemeinen werde von den
Lehrern der einzelnen Fächer jede Beziehung auf die Schule, d. h. auf ihre
erziehlichen Zwecke, abgelehnt, die Studenten würden zu Gelehrten, aber nicht
zu künftigen Lehrern erzogen und nähmen deshalb von der Universität eine
falsche Berufsethik mit ins Leben. „Diese Dissonanz zu lösen, den beiden
großen Gefahren der Intellektualisierung und der Spezialisierung zu begegnen,
ist die neue pädagogische Professur vor allem berufen: sie soll ausgleichen
und verbinden, soll schon auf der Universität den Studenten mit dem Ideal
seines künftigen Berufes ganz durchdringen." Sehr gut gesagt. Meint man
aber, derartige Wirkungen zu erzielen, wenn man die Studenten bloß an-
redet? Ein in seiner Tiefe erfaßtes Ideal drängt mit der Macht der Natur-
notwendigkeit nach Verwirklichung, nach Betätigung; es verblaßt wieder, wenn
diese Betätigung auf fernere Zeiten verschoben wird. Nur im eigenen Tun
findet es Nahrung, nur in der unmittelbaren engen Berührung mit der Jugend
kann das Berufsideal des künftigen Lehrers gedeihen.
Das Bedürfnis nach irgendwelcher Beziehung zur Praxis ist in der Kon-
ferenz namentlich von mehreren praktischen Schulmännern wiederholt aus-
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Sickinger 279
drücklich hervorgehoben worden. Borbein fordert die praktische Berührung
mit der Jugendbewegung; Reinhardt erhofft eine gegenseitige Befruchtung
von Theorie und Praxis davon, daß der Professor der Pädagogik den Sitzungen
der Gymnasialseminare, dem Unterricht, den Prüfungen am Schluß der prak-
tischen Ausbildung beiwohnt. Das alles sind aber nur notdürftige Ersatz-
mittel für den Dozenten, gelegentUche , flüchtige Annäherungen an die
Wirklichkeiten des pädagogischen Lebens, die noch lange nicht die Gewähr
bieten, daß dieses Leben mit allen seinen flutenden Erscheinungen in dem
Universitätsunterricht seine befruchtenden Wirkungen ausübt. Aber was die
Hauptsache ist: der Hörer geht dabei vollständig leer aus, er soll künstlich
von jeder Gelegenheit, sich selbst irgendwie zu betätigen, ja auch nur mit
eigenen Augen zu beobachten, abgesperrt werden.
Das ist unnatürlich, und deshalb unhaltbar. Errichtet man pädagogische
Professuren mit pädagogischen Seminaren, so werden Professor und Studenten
bald von innen heraus dazu gedrängt werden, die Verbindung mit der päda-
gogischen Wirklichkeit aufzusuchen, es werden aus innerer Notwendigkeit heraus
Einrichtungen entstehen, die für Lehrer «und Hörer die Möglichkeit bieten,
in irgendeiner Form pädagogisches Empfinden und Denken in Tun umzu-
setzen. Sie brauchen durchaus keine Dubletten der Gymnasialserainare zu
sein, es lassen sich Organisationen denken, die eine Vorwegnahme der Auf-
gaben jener vermeiden. Die Technik des Unterrichts bis zu einem erheblichen
Grade der Fertigkeit einzuüben, ist nicht ihr Zweck, wenn sie auch zu den
ersten Lehrversuchen Gelegenheit bieten mögen. Sie sollen vor allen Dingen
dem künftigen Lehrer in planmäßigen Veranstaltungen Gelegenheit geben, in
ein enges Gemeinschaftsverhältnis zur Jugend zu treten. Nur dadurch kann er
in die rechte pädagogische Temperatur versetzt werden, nur dadurch kann in
ihm die Stimmung rege werden, daß der Lehrer etwas anderes ist als ein
Stundenhalter und Sklave des Uhrzeigers, nur dadurch kann sich in ihm alles
das entfalten, was man in den Ausdruck pädagogisches Berufsideal zusammen-
fassen mag.
SchHeßlich noch eine kurze allgemeine Bemerkung. Borbein machte dar-
auf aufmerksam, daß der Name Herbarts kaum genannt worden sei. Das
ist überhaupt das Kennzeichen der Konferenz : sie hat das Problem in seinem
ganzen Umfange ab ovo behandelt, sie hat (mit Ausnahme eines kurzen Hin-
weises durch Ziehen) unbeachtet gelassen, daß die Frage der pädagogischen
Professuren anderwärts bereits gelöst ist, daß insbesondere 'auch die beiden
Einzelfragen, auf die wir die Aufmerksamkeit lenken wollten, ihre Geschichte
haben : die Zulassung von Volksschullehrern zur Universität und die Errichtimg
pädagogischer Seminare mit Übungsschulen. Vielleicht hätte es doch zur
Klärung der Anschauungen beigetragen, wenn man dieses ganze Erfahrungs-
und Tatsachengebiet nicht so ohne weiteres als nicht vorhanden betrachtet hätte.
Zum Begriff der Hochschulpädagogik nach den Bedürfnissen
der Jugend- und der Volkserziehung.
Von Anton Sickinger.
„Die Welt soll nicht so rasch zum Ziele als wir denken und wünschen.
Immer sind die retardierenden Dämonen da, die überall dazwischen- und
überall entgegentreten, so daß es zwar im ganzen vorwärts geht, aber sehr
langsam." Dieses Goethewort trat mir in den Sinn, als ich nach der Lektüre
280 Über die zukünftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
der Thesen und des Verhandlungsbeiichts der im preußischen Ministerium
der geistlichen und Unterrichts- Angelegenheiten am 25. u. 26. März 1817
abgehaltenen Pädagogischen Konferenz die zurückliegenden 50 Jahre in
Gedanken durchwanderte, in denen mir nacheinander als Schüler der Volks-
schule und des Gymnasiums, als Student der klassischen Philologie, als
Gymnasiallehrer (zugleich Lehrer des Turnens) und seit 23 Jahren auf
einem leitenden Posten mit weittragender Verantwortung reichlich Gelegenlieit
geboten ward, die ganze Tragweite des pädagogischen Problems passiv und
aktiv zu erleben und so an mir selbst und dazu an ungezählten anderen,
die am Erziehungswerke in den verschiedensten Stellungen tätig sind und
mit denen ich Erfahrungen austauschte, einen Maßstab für das, was in
der Sache nottut, zu gewinnen. Ja, es ist langsam, aber mit Genugtuung
sei es gesagt, es ist vorwärts gegangen. In scharf ausgeprägter Form
kommt diese erfreuliche Tatsache in den vom Minister zum Beginn und
zum Beschluß der Verhandlungen gesprochenen Sätzen zum Ausdruck: die
alte Pädagogik sei reformbedürftig und müsse auf eine neue Basis gestellt
werden. Die Universitäten und Fakultäten müssen den praktischen Be-
dürfnissen Rechnung tragen. Da die Universität die Lehrer vorbildet, so habe
sie auch die Oberlehrerschaft mit dem Geist der Pädagogik zu erfüllen.
Schon auf der Universtät müsse dies geschehen — in diesem Geiste der
Pädagogik sei das Schönste des Lehrerberufs beschlossen. Unserer
Oberlehrerschaft fehle es noch daran. Es müsse dahin kommen, daß der
nicht als volles Glied des Standes gelte, der nicht eine Stellung zu den großen
kulturphilosophischen Fragen zu finden suche und in ihnen lebe. Dies Ziel
müsse erreicht werden, wenn wir die Schule auf die notwendige Höhe heben
wollen. Das sind unzweideutige und im Munde des Kultusministers des
führenden Staates besonders bedeutsame Worte, auf denen sich ein Neues
wohl aufbauen läßt. Schade, daß für das Neue nicht schon in den der
Aussprache zugrunde gelegten Leitsätzen, die nach außen hin als die Willens-
raeinung der Konferenz gelten, die genügend breite Basis gewählt worden
ist. Die neue Hochschulwissenschaft wurde nämlich in den Leitsätzen nicht
nach den praktischen Bedürfnissen (vgl. die Worte des Ministers), sondern
in erster Linie nach formalen Rücksichten, der Einfügbarkeit des Neuen in
den Rahmen der philosophischen Fakultät und weiterhin mit dem Zuschnitt
auf die Tragfähigkeit einer Person, des neuen Professors der Pädagogik,
abgegrenzt und als die selbständige und umfassende Wissenschaft vom gesamten
staatlichen Schulwesen einschließlich der Volksschule, seine Geschichte und
seine Ziele gekennzeichnet. Gewiß, die wissenschaftlich historisch philo-
sophische Bearbeitung der tatsächlich bestehenden nationalen Schuleinrich-
tungen ist eine Aufgabe der neuen Erziehungswissenschaft. Darin waren
die Konferenzteilnehmer einig, und insofern geben die Leitsätze die Anschauung
der Konferenz wieder. Allein das nationale Schulwesen ist doch nur ein Teil
der pädagogischen Wissenschaft, von der unser Volk durchgreifende Förderung
erwartet. In ihren Begriff fallen sämtliche Institutionen der Volkserziehung
und der Volksbildung, die der Mündigen so gut wie die der Unmündigen,
sie alle mit der einheitlichen Zielrichtung, in umfassender Menschenökonomie
die ungeheuren quantitativen Verluste des Volkskörpers an gesundem Leben,
an Menschengeist, Kultur- und Wirtschaftskraft qualitativ dadurch zu ersetzen,
daß auf dem Wege des organisierten Zusammenwirkens der in Familie, Schule,
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Sickinger OQj
Staat und Gesellschaft wirkenden Erziehungsmächte jede im Volksnachwuchs
schlummernde Einzelkraft durch die richtigen Mittel zunächst zu dem
erreichbaren Höchstmaß individueller Kultur und sozialer Leistungsfähigkeit
entwickelt, sodann zur Erzeugung entsprechender Kultur- und Gebrauchswerte
am rechten Platze in die nationale Gesamtwirtschaft eingeordnet und mög-
lichst lange produktiv erhalten wird. Wenn je, so gilt für uns heute und
künftighin das Wort: „die Nation lebt nicht von der Vergangenheit, sondern
von der Zukunft". Nur die gekennzeichnete, in die Tiefe und in die Weite
greifende Mitarbeit an der Kultur des kostbarsten Besitzes der Nation ent-
spricht der Würde und der in großer Vergangenheit wurzelnden Tradition
der deutschen universitas. Nur der aus solcher Auffassung geborene Geist
der Pädagogik wird bewirken, daß die Lehrenden ihren Blick über den engen
Rahmen der Schule hinauslenken und die grundsätzlichen Zusammenhänge
einerseits ihres Sondergebietes mit den übrigen Gebieten der Jugenderziehung,
andererseits der Schulerziehung mit der Volkserziehung und der Volkswohl-
fahrt klar erkennen, wodurch ihr Verantwortlichkeitsgefühl, aber auch ihre
Befriedigung an der eigenen Arbeit gesteigert wird, indem sie sich als Ver-
walter und Mehrer der idealen und damit auch der wirtschaftlichen Güter
unseres schwer ringenden Volkes fühlen lernen und aus dieser Gesinnung
heraus ihre Arbeit möglichst ertragsreich zu gestalten bemüht sind.
Indessen ist, und damit komme ich auf den Kern meiner Ausführungen, die
ertragsreiche Berufsausübung auf irgendeinem Posten des Erziehungswesens
nicht schon sicher gestellt durch eine klare und gehobene Berufsauffassung
als Frucht der Einfühlung in die sachlichen Inhalte einer kultur- und staats-
politisch orientierten Hochschulpädagogik, sondern mindestens ebenso wich-
tige Vorbedingung dafür ist die Vertrautheit mit den Forderungen, die sich
für die erzieherische und unterrichtliche Tätigkeit, für Lehrkunst und Lehr-
handwerk aus der physischen und psychischen Natur des zu erziehenden
und zu bildenden Menschen als unbedingt zu beachtenden Normen ergeben.
Denn die Natur läßt sich nicht vergewaltigen. Wir meistern die Natur nur,
wenn wir ihre Gesetze befolgen. Die höchste Weisheit der Pädagogik
ist deshalb, der Natur getreu zu verfahren. In der unzulänglichen
Beachtung dieser Grundnorm aller Erziehung wurzeln in der Hauptsache die
Mißerfolge der alten Pädagogik. Der von Troeltsch hervorgehobene Umstand,
die heutige Schule sei in Inhalt und Methode dem modernen Menschen
vielfach nicht ganz angepaßt (Verhandlungsbericht S. 24), der tief eingewurzelte
Irrtum, die Aufgabe des Oberlehrers erschöpfe sich im Gegensatz zu der des
Volksschullehrers im Lehren, und wer eine Wissenschaft gut verstehe, sei
auch schon imstande, sie andern gut zu lehren, ferner die starken Mißgriffe
nicht bloß bei Behandlung des Lehrgutes (Verhandlungsbericht S. 12 und 25),
sondern auch bei der Behandlung der Schüler, das leider so häufig gespannte
Verhältnis zwischen Lehrern und älteren Zöglingen, die nicht zur Ruhe kommen-
den Klagen der Überbürdung und die Häufigkeit der Einstellung von Haus-
lehrern selbst bei Schülern, die bei verständigerem Betrieb auf eigenen Füßen
stehen könnten, „die noch immer herrschende Neigung der Lehrer zu ganz
schematischerBeurteilung der Schüler, die zuweilen geradezu menschenmordend
wirkt" (Verhandlungsbericht S. 22), weiterhin das Versagen gegenüber der
Notwendigkeit der gegenseitigen Rücksichtnahme bei den an die Schüler der
gleichen Klasse zu stellenden täglichen Arbeitsforderungen, die geradezu un-
282 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
sinnigen Stofforderungen, die hier und dort für die neu einzurichtenden Über-
gangsklassen gestellt worden sind, die verhältnismäßig geringe Einwirkung
der Schule aufs Elternhaus (Verhandlungsbericht S. 26), die befremdende
Unkenntnis der Lehrer hinsichtlich der außerschulischen Interessen und Be-
tätigungen der Schüler, die ablehnende Stellungnahme gegenüber dem Erlaß
des Ministers, durch den auch den Lehrern der höheren Schulen die Berufs-
beratung der Schüler zur Pflicht gemacht wird — diese und andere dem
mit der Praxis Vertrauten wohlbekannten Erfahrungstatsachen erweisen zur
Genüge: das Hauptstück des auf der Hochschule zu legenden theore-
tischen Unterbaues der Pädagogik hat die Einführung in die Forschung
und die Forschungsergebnisse der physio-psychologischen Jugend-
kunde zu bilden.
Im Hinblick auf das Gewicht dieses menschenkundlichen Bestandteils
der Pädagogik, der in den Leitsätzen entschieden zu kurz gekommen ist, sei
noch auf einiges besonders hingewiesen.
Die bisherige einseitige Ausbildung der Studierenden zu Philologen, Mathe-
matikern hat gar leicht eine Überschätzung des Stofflichen, zumal seiner quanti-
tativen Seite und die Trübung des Blicks für die Unteilbarkeit des Erziehungs-
objektes zur Folge. Dafür ein sprechender Beleg aus der Praxis. Zur Zeit
der Einführung der dritten Turnstunde wurde im Gymnasiallehrei*- Verein einer
unserer größten Städte folgende These einstimmig gutgeheißen : „Die Delegierten-
konferenz erblickt in der immer mehr sich steigernden Berücksichtigung der
Körperpflege im Schulbetrieb ein Hindernis zur Erreichung der in den Lehr-
plänen festgesetzten Ziele." Dieser vom Standpunkt des Ganzen der Er-
ziehung befremdenden Stellungnahme liegt die Befürchtung zugrunde, durch
die stärkere Betonung der körperlichen Seite dei Erziehung gingen unsere
Schulen ihres geschichtlichen Charakters, Pflegestätten des Geistes, Übungs-
stätten für gründliches Lernen zu sein, verlustig. Diese Befürchtung ist nichtig.
Einmal ist die Körperübung zugleich auch eine Übung des Geistes, insofern
mit jedem bewußten Üben der Muskeln ein Üben des nervösen Zentralorgans
parallel geht und von den Leibesübungen Wirkungen auf den Intellekt, das
Gemüts- und Willensleben ausgehen, die in ihrer Eigenart durch nichts an-
deres ersetzt werden können. Sodann ist Gründlichkeit und Ergiebigkeit des
Lernens nicht gleichbedeutend mit systematischer Vollständigkeit der Lern-
stoffe. Diese alte Weisheit hat zu Anfang des Krieges durch einen die Sich-
tung und Kürzung des Geschichtsstoffes betreffenden Erlaß des preußischen
Unterrichtsministers eine bemerkenswerte Bekräftigung erfahren. Wenn daher
durch Abbau der überkommenen Lernstoffe die rein geistigen Arbeitsleistungen,
die zu einem guten Teil reine Gedächtnisleistungen sind, eingeschränkt werden
und dafür Wissen, Können und Wollen in einer gesunden Körperlichkeit
verankert werden, so bedeutet dies eine wertvolle Steigerung der der Gesamt-
erziehung zum Ziele gesetzten Lebenstüchtigkeit des Individuums. Es
ist deshalb verständlich •, daß der angeführte Beschluß des Lehrervereins von
hygienischer Seite ^) eine scharfe Verurteilung erfahren hat: „Ein schrecklicher
Gedanke, daß eine solche Anschauung gerade in den Kreisen Raum gewinnen
und gebilligt werden konnte, welchen das Höchste und Kostbarste unseres
Volkes, unsere Jugend, lange Jahre zwangsweise anvertraut ist. Der jugend-
') Generaloberarzt und stellv. Korpsarzt Dr. Leu, „Die Lebenslehre ", Berlin 1907.
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Sickinger 283
liehe Körper soll sich nicht nach den Lehrplänen modeln. Vielmehr müssen
sich die Lehrpläne dem in der Entwicklung begriffenen Organismus
anpassen, damit er keinen Schaden nimmt und untauglich für das schaffende
Leben wird." In der Tat: der gesundheitliche, der biologische Gesichts-
punkt, der verlangt, daß der jugendliche Mensch zu dem der individuellen
Anlage erreichbaren Höchstmaß von Gesundheit im prägnanten Sinn,
d. i. zur vollen leiblichgeistigen Leistungstüchtigkeit heranreift, muß in der
deutschen Erziehung stärker als bisher zum Ausdruck kommen und zwar
dadurch, daß alle erzieherische Betätigung bewußter unter die Idee der
richtigen Betätigung gestellt wird — richtig im Sinne von physischer,
physiologischer und psychologischer Gemäßheit, die ebenso ein zu leicht
und zu wenig, wie ein zu schwierig und zu viel der Anforderungen ausschließt.
Diese aus der fortgeschrittenen Erforschung der kindlichen Natur und ihrer
Wachstumsbedingungen hervorgegangene Forderung ist in der Neuzeit zuerst
mit Nachdruck für die physische Seite der Erziehung erhoben worden. ^
Während früher das Turnen als Bewegungsschule und die körperliche Aus-
bildung als Aneignung bestimmter Fertigkeiten aufgefaßt wurde und man
dementsprechend den aufsteigenden Altersstufen den vielgestaltigen Übungs-
stoff des deutschen Turnens nach der Schwierigkeit der Ausführung zuordnete,
erblickt man heute — entsprechend der eigentlichen Bedeutung von „Bildung"
als vollendeter Ausgestaltung des in einem Lebewesen angelegten Formprinzips —
die Aufgabe der *köiperlichen Ausbildung darin, alle im heranwachsenden
Kinde vorhandenen Wachstumsanlagen zur bestmöglichen Entfaltung zu bringen,
und ordnet zu diesem Zwecke den einzelnen Altersstufen die Übungen so
zu, wie sie dem physiologischen Übungsbedürfnis der Altersstufen entsprechen.
Der Physiologie kommt also heute bei Aufstellung der Turnlehrpläne das
entscheidende Wort zu, und die Turnlehrer sind mit der physiologischen Eigen-
art der kindlichen Entwicklungsstufen und ihrer Bedürfnisse vertraut zu machen.
Das gleiche biologische Gesetz gilt nun auch für das seehsche Wachstum.
Wie jeties andere Organ erreicht auch das Gehirn seine vollendete Ausbildung
und damit die höchsterreichbare Qualität der Leistung nur dann, wenn bei
der Bildungs- und Unterrichtsarbeit Art und Maß der Betätigung mit der
individuellen Funktionsfähigkeit des Denkorgans in Einklang stehen. Nur unter
dieser Vorausetzung kommt es zum selbsttätigen Erwerb der Bildungsstoffe,
der allein die Entwicklung der intellektuellen Kräfte gewährleistet. Andernfalls
kommt es, da die Fähigkeit des geistigen Verdauens so wenig wie die des
leiblichen erzwungen werden kann, höchstens zur Anhäufung gedächtnis-
mäßigen Wissens, das Steine statt Brot bedeutet, denn das vom Gehirn nur
mechanisch Aufgenommene stärkt nicht nur nicht die Erkenntnisfähigkeit,
sondern schwächt die Kräfte der Anschauung und des Urteils.
Wirksame Entwicklung des Intellekts als Folge des richtigen Verhältnisses
zwischen Leistungsforderung und Leistungskraft ist aber selbst wieder Vor-
aussetzung der Entfaltung des Gemüts- und der Erstarkung des Willenslebens;
denn nur aus der innerlichen Verarbeitung der Kenntnisse und ihrer Um-
setzung in geistige Kraft erwächst das für die Bildung des Charakters so
wichtige Selbstvertrauen und in dessen Gefolge Arbeitslust und Arbeitsfreude
') Vgl. insbesondere F. A. Schmidt „Physiologie der Leibesübungen* und .Das Scliulkind nach
seiner körperlichen Eigenart und Entwicklung". Leipzig, R. Voigtländers Verlag.
284 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
und hieraus hinwiederum das Verlangen nach weiterer Betätigung und die
Kraft des Beharrens, die unversiegliche Nährquelle für die Erstarkung des
sittlichen Willens, das Endziel aller erzieherischen Beeinflussung.
Mit diesen aufbauenden Wirkungen der zwischen Sollen und Können
harmonisch abgestimmten, d. i. psychologisch richtigen Erziehungsarbeit ver-
gleiche man die niederhaltenden Wirkungen ihres Gegenstücks nach der zutreffen-
den Schilderung Meumanns: ') „Unser ganzes pädagogisches und didaktisches
System krankt an einem fundamentalen Übel. Es gibt noch immer zahlreiche
Pädagogen, die keine Ahnung davon haben, wie außerordentlich wichtig die
Behandlung des Gemüts- und des Willenslebens der Kinder für alle ihre
intellektuellen Leistungen und ihren gesamten geistigen Fortschritt ist. Jeder
falsche Tadel, jede Versäumnis zur Aufmunterung des Kindes, jedes unberechtigte
Mißtrauen, alle Art ironischer und spöttischer Behandlung der Kinder, jede
falsche Beurteilung ihrer Leistungen, jedes Nichtverstehen ihrer Individualität
und ihres Begabungstypus, jede Zurücksetzung hinter andere vermag bis aufs
einzelne Wort, das der Erzieher oder Lehrer spricht, in dem Gemüts- und
Willensleben des Kindes eine Hemmung oder Depression zu verursachen, durch
die es die nachhaltigste Schädigung davon trägt. Die ganze Pädagogik der
Demütigung, der Depression, der Schädigung des Selbstbewußtseins, der Unter-
drückung oder Nichtentwicklung der Selbsttätigkeit der Kinder ist ein Ver-
brechen an der Kindesseele ; an ihre Stelle muß die Pädagogik des Vertrauens,
der Aufmunterung, der Aufmunterung um jeden Preis, der Belebung, der
Selbsttätigkeit und Selbständigkkeit, des gründlichen Eingehens auf die In-
dividualität und Begabung der Kinder, der Einfühlung in ihre Entwicklungs-
stufe und des vertieften Verständnisses der gesamten kindlichen Eigenart treten".
Die Pädagogik des gründlichen Eingehens auf die Individualität
und die Begabung der Kinder, die Einfühlung in die Entwick-
lungs- und Wachstumsgesetze und des vertieften Verständ-
nisses der gesamten kindlichen Eigenart — ja, das ist die leben-
weckende Pädagogik, die an die Stelle der alten Pädagogik zu treten hat,
die nach den Worten des Ministers reformbedürftig ist urfÖ auf eine neue
Basis gestellt werden muß. Darnach bestimmt sich innerhalb des Gesamt-
begriffs der Hochschulpädagogik die Bedeutung der „psychologischen" Päda-
gogik, die lehrt, was in Erziehung und Unterricht erreicht werden kann,
neben der „philosophischen" Pädagogik, die lehrt, was erreicht werden soll.
Es ist kein Zufall, daß sich die mit den lebendigen Bedürfnissen der Schule
vertrauten Konferenzteilnehmer in ihrer übergroßen Mehrheit für erstere
mit Nachdruck eingesetzt haben, daß vor allem auch Reinhardt, der Verfasser
der gehaltvollen Erläuterungen zu der Ordnung der Prüfungen und zu der
Ordnung der praktischen Ausbildung für das Lehramt an höheren Schulen
in Preußen, Psychologie und Jugendkunde in eine Reihe mit der Philosophie
gestellt hat und daß auch von den Universitätslehrern immerhin eine starke
Minderheit dem menschenkundlichen Faktor in der pädagogischen Berufslehre
gerecht geworden ist. Dies sei ausdrücklich festgestellt, um der Auffassung
entgegen zu wirken, daß die in den Leitsätzen und noch mehr in deren Be-
gründung sich kundgebende Auslegung, die Psychologie komme im wesent-
lichen nur für die Technik des Unterrichtens in Betracht und falle deshalb
') Vorlesungen II, 421.
Gutachtliche Äußerungen, Zweite Reihe. Sickinger 285
vornehmlich dem Praktiker, d. i. dem Leiter des 2iährigen praktischen Vor-
bereitungsdienstes zu, der Standpunkt der Konferenz gewesen sei.
Für das Bedürfnis einer vollkräftigen Auswirkung des psychologischen
Einschlags der Pädagogik auf der Hochschule selbst sprechen auch gewisse
tatsächliche Feststellungen aus dem akademischen Lehrbetrieb der Gegen-
wart. Einmal das auf der Konferenz von Frischeisen-Köhler hervorgehobene
starke Interesse bei den Studierenden an der Jugendkunde sowie an den
großen Erziehungsproblemen und Reformbewegungen der Gegenwart, während
nur sehr wenige Studierende „Geschichte" der Pädagogik ohne Rücksicht
auf das Examen hören. Sodann eine auf den Vorlesungsverzeichnissen für
das Winterhalbjahr 1917/18 beruhende Zusammenstellung darüber, wie zur
Zeit die Pädagogik als Gesamtbegriff an den 22 deutschen Universitäten in
die Erscheinung tritt.') Darnach ist die Geschichte der Pädagogik mit
25 Kollegien vertreten, allgemein pädagogische Themen (Unterrichtslehre, Er-
ziehungslehre, Spezialfragen) werden in 25 Vorlesungen und Übungen be-
handelt. Die Psychologie dagegen ist mit 70 Veranstaltungen aufgeführt,
dazu Psychopathologie mit 11, experimentelle Pädagogik mit 3, Hygiene
mit 4, Jugendfürsorge mit 1 Veranstaltung. Nach den Fakultäten geordnet
wurden pädagogische Fragen behandelt: von 21 Dozenten der theologischen,
24 der philosophischen, 32 der psychologischen, 22 der medizinischen und
2 der wirtschaftlichen Fächer: ein zahlenmäßiger Beweis dafür, daß eine
dem Leben zugewandte Pädagogik sich nicht fakultätsmäßig einhegen
läßt, sondern ihre Wurzeln auch in benachbartes Erdreich schickt, wenn
sie dort assimilationsgerechte Nahrung findet. Auf diesen freieren lebens-
volleren Begriff der Pädagogik weisen auch zwei Bemerkungen Ziehens:
die Anregung, es möge zugunsten der staatsbürgerlichen Belehrung die
Rechtskunde in irgendeiner Form als Zusatzfach für die Oberlehrerprüfung
hinzugenommen werden, sodann der Hinweis darauf, wie wertvoll auch für
die Theologen und die in der Schulverwaltung tätigen Juristen die Universi-
tätsvorlesungen über Pädagogik seien. Ziehen hätte hinzufügen dürfen:
auch für die zukünftigen Richter, die Ärzte und nicht zuletzt für die Offiziere,
denn sie alle sind zur Mitarbeit an der Fülle volkserzieherischer Aufgaben
berufen.
Dem freieren Begriff der pädagogischen Disziplin entsprechend wird ihr
organisationsmäßiger Ausbau an den einzelnen Hochschulen ein verschiedenes
Bild gewähren. Daraus erwächst kein Nachteil, denn die Vollständigkeit der
Teilgebiete wird durch die gegenseitige Ergänzung der Hochschulen erreicht.
Das Hauptbestreben muß darauf gerichtet sein, daß an allen Hochschulen ein-
schließlich der technischen und Handelhochschulen haupt- oder nebenamtliche
Vertretung der Pädagogik mit entsprechenden Pflege- und Übungsstätten einge-
richtet werde und daß die Studierenden des Lehrfaches unter allen Umständen
schon auf der Hochschule und nicht erst im praktischen Vorbereitungsdienst in
die Grundfragen der die Physiologie und Psychologie der Jugendlichen umfassen-
den Jugendkunde in möglichst anregender Form eingeführt werden. Weiterhin
ist mit allen Mitteln anzustreben, daß die großen Städte, die der Hochschulen
entbehren, wenigstens psychologische Forschungsinstitute (in natürlicher Ver-
bindung mit den überall zum Bedürfnis gewordenen Beruf sberatimgsämtern)
') Frankfurter Schulzeitung 1918, Nr. 12.
286 Über die künftige Pflege der Pädagogik an den deutschen Universitäten
ins Leben rufen. An diese schließen sich ungezwungen Vorträge über päda-
gogisch-psychologische Zeitfragen an, für die das gebildete Publikum durch
ihre Behandlung in der Presse angeregt steigendes Interesse zeigt. Natürlich
sind alle für pädagogisch-psychologische Zwecke bestehenden Einrichtungen
auch den im Dienst befindlichen Lehrern aller Schulgattungen nutzbar zu
machen; außerdem sind für die Lehrerschaft besondere Vortragsreihen mit
entsprechenden Vorführungen sowie Ferienkurse zu veranstalten.
Die pädagogisch-psychologische Wissenschaft wird unter dem unserem Volke
auferlegten Zwange der größtmöglichen Ausnutzung jeder Energie und der
größtmöglichen Ersparnis an Kraft, nachdem nunmehr von ihr der tote Punkt
überwunden ist, in der Vergangenheit Versäumtes in rascherem Tempo nach-
holen. Dafür können zahlreiche Tatsachen angeführt werden. Ich begnüge
mich hier mit zwei Hinweisen aus meinem eigenen Erfahrungskreis. An der
technischen Hochschule in Karlsruhe wurde vor Kurzem auf Antrag des
Senats einem Dozenten Lehrauftrag für Psychologie unter Einschluß der
Arbeits- und Wirtschaftspsychologie und der Pädagogik erteilt, und an der
Handelshochschule in Mannheim ist in diesem Jahre eine Wilhelm Wundt-
Professur für Philosophie, Psychologie und Pädagogik errichtet worden.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von HansRupp.
(Fortsetzung.)
VII. Gruppe: Oedächtnis.
Das Gedächtnis ist eine der elementarsten Fälligkeiten des Gehirns und der
Seele. Kein Urteil, keine Willenshandhmg ist okne Gedächtnis möglich; schon
bei Wahrnehmungen wirkt es mit. Ja, man vermutet in dem Gedächtnis di e oder
wenigstens eine Grundfunktion alles Lebendigen überhaupt; bis zu sehr ein-
fachen Lebewesen hinab sind Gedächtniswirkungen beobachtet.
Die Psychologie sucht die Gesetze und Bedingungen dieser elementaren Fähig-
keit zu erforschen. Auch für die Pädagogik haben diese Probleme hohe Be-
deutung. Verschiedene Schüler haben verschiedenes Gedächtnis; und in dem-
selben Schüler kommt den einzelnen Sinnen verschiedene Gedächtniskraft zu.
Ruht die Verschiedenheit in den Grundfähigkeiten ? und in welchem der Gesetze,
in welcher der Bedingungen?
Leider können wir heute nur in wenig Fällen diese Fragen sicher beantworten.
Die Eindrücke, die auf uns wirken, die wir einprägen sollen, sind nicht einfach,
sondern sehr zusammengesetzt — man denke an ein Bild, eine Situation, an ein
Gedicht; und selbst wenn einfachere Eindrücke wirken, so werden sie doch von
uns in der mannigfaltigsten Weise verarbeitet — man erinnere sich an die Ge-
dächtnisfarben, an die räiunliche Apperzeption. Es ist heute in den meisten
Fällen unmöglich, aus dem Labyrinth von Kräften und Wirkungen das Ver-
halten der Grundkraft des Gedächtnisses herauszuschälen.
Die angegebenen Probleme sind aber auch durchaus nicht die einzigen, welche
Psychologie und Pädagogik interessieren. Können wir der Grundkraft schwer
Hans Rupp, Probleme und Apparate eur experimentellen Pädagogik 287
beikommen, so können wir doch die Gesetze und Bedingungen des praktischen
Lernens untersuchen. Wir nehmen die komplizierteren Eindrücke und Stoffe,
so wie sie eben in der Praxis einzuprägen sind, und suchen nach den Gesetzen und
Bedingungen des Lernens, gleichgültig, wie dieselben durch Zusammenwirken
elementarer Kräfte zustande kommen mögen. Darauf zielen wohl die meisten
Untersuchungen. Zugleich ergibt sich oft Gelegenheit, Unterschiede zwischen
Individuen, Alters- und Entwicklungsstufen festzustellen, die für die Pädagogik
von Wert sind, auch wenn sie nicht die elementare Bedeutung haben wie die oben
besprochenen Unterschiede.
Ich erläutere das Gesagte durch einige Beispiele, die zugleich die Mannigfaltig-
keit der Fragen zeigen sollen.
Es gibt sehr verschiedene Arten von Lernstoffen. Man halte z. B. neben-
einander: das Alphabet, ein Gedicht, Geschichtsdata, Atomgewichte, eine geo-
graphische Zeichnung, ein Landschaftsbild (z. B. zur Orientierung beim Wan-
dern), ein Musikstück, die Bewegungen bei verschiedenen Fertigkeiten (z. B.
Sprechen, Zeichnen, Klavierspiel, Schreibmaschine, Tanz). Es ist fast selbst-
verständlich, daß so verschiedene Stoffe auch verschiedene Lernverfahren zur
Einprägung verlangen, so z. B. von der bloßen lebhaften Vergegenwärtigung,
vom lebendigen Erleben (Anschauungsunterricht, Verständnis, Erarbeiten)
durch die mannigfaltigen mnemotechnischen Hilfsmittel bis zum stumpfen me-
chanischen Wiederholen eines wenig Anhaltspunkte liefernden sinnlosen Lern-
stoffes.
Vielfach genügt gründliches Verstehen, lebhaftes Erleben zur Einprägung. Manche
wollen in solchen Fällen, selbst wenn die Absicht der Einprä^ng besteht, noch
nicht von ,, Lernen", ja nicht einmal von ,, Gedächtnis" sprechen. Die experimentelle
Gedächtnislehre rechnet dagegen auch diese Verfahren zu den Lern- und Gedächtnis-
verfahren. Sie sucht das sinnvolle Lernen immer mehr in den Kreis ihrer Unter-
suchungen zu ziehen.
Nicht nur der Lernstoff kann sehr verschieden sein, sondern auch die Art
der Darbietung und die Aufgabe oder das Ziel des Lernens. Ein Gedicht
kann laut oder leise gelesen oder vorgesprochen werden, ein Musikstück in Noten
gegeben oder vorgespielt werden. Verschiedene Ziele sind z. B.: Wörtliches
Lernen oder Einprägen dem Sinne nach, momentanes oder dauerndes Einprägen;
Vokabeln, Atomgewichte sind bloß paarweise zu lernen, das Alphabet, die Härte-
grade, Geschichtsdata in ihrer ganzen Reihenfolge, usf. Wie paßt sich das Lern-
verfahren diesen Verschiedenheiten der Darbietung und des Lernzieles an?
Die experimentelle Pädagogik sammelt nun die verschiedenen Arten von
Stoffen, Darbietungen und Aufgaben und sucht die für das Lernen wesentlichen
Unterschiede derselben herauszuarbeiten. Sie sammelt vor allem die verschie-
denen Lern verfahren, die bei den einzelnen Stoffen usw. angewendet werden
können, sucht auch nach neuen Verfahren. Sie prüft dann, welches Verfahren
für diesen, für jenen Stoff das beste ist, ob es vielleicht allgemeine Regeln (z. B.
über Verteilung der Wiederholungen, Lernen im Ganzen oder in Teilen, Lernen
mit und ohne Rezitieren) gibt. Das sind die Probleme der Technik und Öko-
nomik des Lernens.
Zugleich untersucht sie, ob verschiedene Schüler, Altersstufen usw. verschie-
dene Stoffe oder auch alle Stoffe verschieden leicht lernen, ob sie aus freien
Stücken verschiedene Verfahren wählen, imd ob nicht für den einen dieses, füi
288 Hans Rupp
den anderen jenes Verfahren vorteilhafter ist (z. B. für den einen visuelles, für
den andern akustisch-motorisches Lernen), Das sind die Fragen der differen-
ziellen Psychologie des Lernens.
Die Gedächtnisexperimente werden auch zur Untersuchung anderer Fähigkeiten
als der des Gedächtnisses verwertet. Wenn eine Reihe von Wörtern mit bestimmten
logischen oder sachlichen Beziehungen, bestimmte Bilder, Gegenstände besser gemerkt
werden, so ist es wohl ein Zeichen, daß das Verständnis für sie besser entwickelt ist.
Wenn an Bildern besonders die Farben oder besonders die Formen gemerkt werden,
ist es ein Zeichen, daß der Lernende (dauernd oder momentan) besonders auf Farben
oder Formen achtet. Endlich, wenn ein Schüler sich in neue Lernstoffe schnell hinein-
lebt, wenn er bei neuen Aufgaben rasch das günstigste Lernverfahren herausfindet,
ist es ein Zeichen von Intelligenz, Anpassungsfähigkeit. Man kann also dvirch Ge-
dächtnisleistimgen (wie durch manche aifdere Leistimgen) auch Aufmerksamkeits-
richtung, Verständnis, Intelligenz u. dgl. m. prüfen.
Wenn man prüfen will, wer ein besseres Gedächtnis hat, welches Lernver-
fahren vorteilhafter ist, muß man sich schlüssig werden, was man imter besserem
Gedächtnis und besserem Verfahren verstehen will, und muß nach Methoden
suchen, sie exakt prüfen und messen zu können. Die experimentelle Ge-
dächtnislehre hat eine Reihe solcher Maße entwickelt; sie gehen zum Teil auf
verschiedene imd unabhängige Seiten der Gedächtnisleistung. Ich führe die
wichtigsten an.
Das bessere Gedächtnis, das bessere Verfahren erkennt man vor allem an
dem besseren und längeren Behalten. Ferner nennt man ein Gedächtms,
ein Verfahren besSer, wenn es weniger Anstrengung beim Lernen verlangt
oder wenn es mehr Freude beim Lernen bereitet.
Anstrengung und Freude sind schwer objektiv zu prüfen. Man wird sich auf
den subjektiven Eindruck stützen, wenn er deutlich ausgeprägt ist.
Dagegen gibt es für das Behalten eine Reihe objektiver Meßmethoden. Zwei
Hauptmethoden sind zu scheiden. Die eine geht auf die Reproduktion, auf
die Fähigkeit, den Stoff auswendig wiederzugeben. Die genaueren Maße gebe
ich noch an. Vielfach sind wir aber zur Reproduktion nicht mehr imstande,
während doch eine Gedächtniswirkung noch vorhanden ist. So liegt uns oft ein
Name „auf der Zunge", ohne daß er ans einfällt, d. h, ohne daß er reproduziert
werden könnte. Bei solchen schwächeren Einprägungen prüft man entweder
das Wiedererkennen: man kann den Namen sofort erkennen, wenn er vor-
gesagt wird, mid man erkennt, wenn ein anderer Name genaimt wird. Oder man
prüft die Einprägungsfähigkeit beim Wiederlernen: wenn eine Erinnerung
zurückgeblieben ist, geht das Wiederlernen leichter und schneller. Man spricht
im Gegensatz zur Reproduktion von besserer Disposition oder Aufnahmefähig-
keit (Suszeptibilität).
Innerhalb beider Hauptmethoden gibt es wieder verschiedeDe Maße. Die
Reproduktion kann verschieden genau sein, z. B. bei Wiedergabe eines Tones,
einer Farbe, einer Bewegung, oder von komplizierten Gebilden, wie eines Bildes,
einer Geschichte, eines Musikstückes (Genauigkeit). Bei zusammenge-
setzten Stoffen besitzt m.an oft ein bequemes und klares Maß in, der Anzahl der
richtig behaltenen Teile, 7. B. Anzahl der Vokabeln, der Wörter oder der richtigen
Aussagen in einem Beriebt (Menge des Be;haltenen, Treffer zahl). Dazu
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 289
kommt als drittes Maß die Schnelligkeit der Reproduktion (Trefferzeit), Der
Schüler antwortet z. B. beim Vokabelabfragen prompt oder zögernd, er sagt
das Gedicht fließend oder stockend. — Dieselben Maße der Genauigkeit, Treffer-
zahl und Treff er zeit gibt es beim Wiedererkennen und selbstverständlich auch
bei der Reproduktion nach dem Wieder lernen.
Statt das Behalten, wie es eben vorhanden ist, zu messen, kann man auch
einen bestimmten Grad des Behaltens vorschreiben, z. B. eo lange
lernen lassen, bis der Stoff (wenigstens für den Augenblick) richtig wiedergegeben
werden kann, und die Lernzeit oder die Zahl der Wiederholungen, die zum vor-
geschriebenen Ziel, in unserem Beispiel zimi Erlernen, nötig war, messen.
Wenn ein Verfahren, ein Individuum mehr Zeit braucht, ist das Behalten
schlechter. — Den gleichen Weg gibt es beim Wiederlernen. Man mißt die Zeit
oder Wiederholungszahl, die z. B. zum Wiedererlemen nötig ist; je kleiner sie
ist, je mehr man im Vergleich zu einem neuen Lernen spart, desto besser war
die Einprägung.
Alle diese Methoden sind zu scheiden von solchen, die die Art des Lernens,
das Lemverfahren bestimmen, z. B. das verschiedene Tempo, die Beteiligung ver-
schiedener Sinne, das Heranziehen von Hilfen. Unsere Methoden untersuchen nicht
das Lernverfahren, sondern messen das Behalten.
Die Prüfungen sollten öfter ausgeführt werden, damit man die Dauer des
Behaltens erfährt (Abfallskurve, Kurve des Vergessens). Es genügt nicht, wenn
ein Schüler schnell lernt; er soll auch lange behalten. (Die zuletzt erwähnte
Methode des Erlernens z. B. prüft nur das augenblickliche Können unmittelbar
nach dem LerneD.)
Wo der Stoff zusammengesetzt ist, können verschiedene Teile, ver-
schiedene Verknüpfungen getrennt geprüft werden. Welche Teile eines
Gedichtes, einer Vokabelreihe (Anfang, Mitte, Ende) sitzen erfahrungsgemäß
besser ? Sind die Verbindungen von der fremden zur deutschen Vokabel oder
die in umgekehrter Richtimg fester ? Und vieles andere.
Wenn die experimentelle Pädagogik verschiedene Maßmethoden angibt, so
ist es nicht so aufzufassen, daß es gleichgültig wäre, ob man dieses oder jenes Maß
anwendet, daß man sich also das jeweils bequemste heraussuchen könnte, als
ob jedes Maß das (als einfache Funktion gedachte) Gedächtnis prüfen würde.
Die verschiedenen Maße beziehen sich vielmehr auf verschiedene Wirkungen ,
Seiten des Gedächtnisses, die häufig unabhängig voneinander sind. Wer
z. B. schneller lernt, braucht nicht länger zu behalten; ein Schüler, der mehr
kann, braucht nicht auch- schnellere Antworten zu geben; ein Schüler, der weniger
reproduzieren kann als ein anderer, hat vielleicht viel mehr Wissen latent, in
Bereitschaft, so daß er beim Wiedererkennen oder nach Auffrischen viel mehr
leistet als der andere.
Die Apparate, die man bei Gedächtnisversuchen verwendet, dienen teils
zur Beobachtung des Lernvorganges (wenn z. B. das verschiedene Tempo beim
Lernen registriert wird), teils zur Prüfung der Gedächtnis Wirkungen nach den
verschiedenen Methoden, wie sie eben beschrieben wurden, teils endlich dazu,
den Lernstoff zu erzeugen (Töne, Farben) oder ihn in bestimmter Weise darzu-
bieten (z. B. in bestimmtem Tempo).
2^itschrift f. pädagog. Psychologie 1^
290
Hans Rupp
I up
gösch
Als Gedäclitnisapparate im engeren Sinne des Wortes bezeicknet man
solche, durch die man Keihen von Silben , Wörtern usw. in gleichmäßiger Ge-
schwindigkeit beliebig oft vorführen kann. Ich beschreibe diese Apparate unter A.
Die übrigen Apparate, die man zu Gedächtnisversuchen verwenden kann, sind
in anderen Gruppen beschrieben. So können zur Untersuchung des Gedächt-
nisses für Farben, Größen und Formen, Töne, Bewegungen mancherlei Apparate
imd Serien der Gruppen I bis VI, zur Messung der Besinnungszeit die unter
Gruppe VIII beschriebenen Apparate für Reaktionsversuche, zur Registrierung
des Tempos, der Atmung usw. Chronographen und Kymographien derselben
Gruppe verwertet werden.
Unter B führe ich Reihen an, die als Lernstoffe verwendet werden können,
und zwar wieder hauptsächlich solche, die den Apparaten A angepaßt sind.
Bezüglich weiterer Stoffe und Tests muß auf die Sammlung des Instituts für
angewandte Psychologie verwiesen werden (siehe Einleitung).
A. Gedächtnisapparate (im engeren Sinne des Wortes).
jj,. 1 Gedächtnisapparat nach Lipmann-Marx (Mechaniker Marx, Berlin). Der
Apparat dient dazu, Reihen von Silben, Wörtern, Zahlen usw. in beliebigem,
meßbarem Tempo vorzuführen. Die Silben
werden auf einen Papierstreifen geschrieben
und der Streifen mittels eines Gummi-
bändchens auf einer Trommel befestigt.
Die Trommel wird durch einen Federmotor
gedreht, und zwar ruckweise, so daß bei-
iedem Ruck eine neue Silbe in dem Aus-
schnitte des davorstehenden Schirmes er-
echeint. Der Mechanismus ist aus der Skizze
ersichtlich. Die Ruckbewegimg erfolgt
schnell, ohne Zittern und fast geräuschlos. Ein Tourenzähler an der Schmal-
seite des Apparates zählt die Umdrehungen der Achse mit den Mitnehmer-
stiften s s, aus denen sich leicht die Umdrehimgen der Trommel, die Wieder-
holungen der Reihe berechnen lassen.
Der Streifen wird so befestigt, daß die Silben den außen an der Trommel an-
gebrachten Ziffern entsprechen . Die Silben stehen dann genau in der Mitte des
Schirmausschnittes, und man kann, was „für Treff er versuche" (analog dem
Vokabelabfragen) wichtig ist, bald diese, bald jene Silbe in den Ausschnitt
bringen.
Es sind zwei Trommeln vorgesehen, eine für 14, eine für 20 Rucke, entsprechend
den unter B angeführten gedruckten Lernreihen. Durchmesser und Breite sind
ebenfalls der Normalgröße dieser Reihen angepaßt.
Der Federmotor läuft sehr konstant, nicht wie bei den gewöhnlichen Kymo-
graphien erst schneller, am Ende langsamer. Geschwindigkeit kann durch eine
Bremsvorrichtung bis auf ein Viertel der vollen Geschwindigkeit reduziert werden.
Ferner kann man einen der zwei Mitnehmerstifte s s zurückschieben, so daß sich
die Ruckfolge nochmals auf die Hälfte verlangsamen läßt.
Der Apparat ist mit anderen Apparaten zu kombinieren. Durch das Episkop
Nr. 7 kaim man die Silben projizieren, also einer größeren Zahl von Be-
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
291
obaclitern zum Zweck von Demonstrationen vor führen. Für den unten (Nr. 5)
beschriebenen Expositionsapparat sowie für das Pendeltachistoskop Gruppe IX
Nr. 4 dient der Apparat als Träger der zu exponierenden Silben, Wörter usw.,
sofern die Größe der Felder geeignet ist.
Der sehr konstante Motor kann zum Betrieb der Chronographen Gruppe IX
Nr. 6 und 7 verwendet werden.
Gedächtnisapparat nach Lipmann ohne Motor (Mechaniker Marx. Nr 2
Berlin). Der etwas kostspielige Motor ist fortgelassen; das Kad mit den Mit-
nehmerstiften wird durch irgendeinen getrennten Motor, über den man gerade
verfügt, getrieben. Auf Wunsch wird ein Tourenzähler mitgeliefert.
Gedächtnis apparat nach Müller-Schumann (Mechaniker Marx, Berlin). Nr. 3
Wie 1, nur ohne den Mechanismus zur Ruckbewegung; die Trommel wird kon-
tinuierlich gedreht. Die Dimensionen sind (zum Unterschied von den ursprüng-
lichen Müller- Schumann- Apparaten) den Normalstreifen angepaßt.
Derselbe ohne Motor (Mechaniker Marx, Berlin). Nr. 4
Für größere Streifen kann man die Kymographien, Gruppe VIII, Nr. 8, 10 — 12, ver-
wenden. Man achte jedoch darauf, ob die Konstanz der Rotation ausreicht.
Zu 1 — 4: Einfacher Expositionsapparat nachRupp (Mechaniker Marx. Nr. 5
Berlin). Hinter dem vor der Trommel stehenden Schirm mit rechteckiger Öffnung
ist ein kleines Schirmchen angebracht, das zunächst die Silbe verdeckt, durch
Druck auf einen Hebel aber weggeschleudert wird, so daß die Silbe plötzlich
sichtbar wird. Gleichzeitig wird ein Kontakt geöffnet.
Der Apparat dient zur Messung der Besinnungszeit bei Versuchen analog dem
Abfragen von Vokabeln, sowie zu sonstigen Reaktionsversuchen.
Gedächtnisapparat nach Schulze (Mechaniker Petzold, Leipzig). Um die Nr.«
Trommel des Studentenkymographions nach Petzold (vgl. Gruppe VIII,
Nr. 8) wird ein Mantel aus Kaliko gelegt, welcher 17 oder 33 Taschen trägt,
in die Taschen werden Papiere oder Kar-
tons mit den zu exponierenden Wörtern
usw.gesteckt. Bei der Drehung des hori-
zontal in einem Kasten befestigten Kymo-
graphions fällt eine Tasche nach der anderen
herunter, so daß die Wörter ruckweise
exponiert werden. Vor dem Fallen wird
jede Tasche durch den Anschlag a eine
Zeitlang zurückgehalten, um dann um so
plötzlicher herabzuschnellen. Die Kontakte
bei a und b dienen für Zeitmessungen
(Fallzeiten, Pausen zwischen den Rucken,
Reaktionszeiten).
Es werden auch doppelseitige Taschen
geliefert, bei denen man auf der Vorder-
und auf der Rückseite ein Papier einstecken kann. Dadurch können bei
jedem Ruck zwei übereinander stehende Wörter exponiert werden.
Die Taschenzahlen 17 und 33 sind berechnet für 16- bezw. 32-gliederige
Reihen. Zwischen je zwei Wiederholungen der Reihe wird eine Pause von
einem Ruck eingeschaltet.
19*
292
Hans Rupp
Nr.'
Nr. 8
Über andere Konstruktionen von Gedächtnisapparaten vgl. den Katalog des Me-
chanikers Spindler vind Hoyer (Göttingen). Ich glaube sie hier übergehen zu dürfen,
da sie mir alle, auch der Apparat von Ranschburg, durch die hier beschriebenen
Modelle an Einfachheit übertroffen zu werden scheinen.
Episkop nach Schmidt und Haensch (Optische Werkstätten Schmidt &
Haensch, Berlin). Projektionsapparat für episkopische Projektion. Seine
Vorzüge sind folgende: man kann den gewöhnlichen elektrischen Lichtstrom
verwenden; der Apparat ist klein, leicht in der Hand zu tragen und ent-
wickelt keine unangenehme Hitze.
In seiner ursprünglichen Form wird er auf ein horizontal liegendes Buch
oder Papier, dessen Schrift oder Zeichnung man projizieren will, aufgesetzt.
Siehe die 1. Figur, jedoch ohne Unterteil für Diaskopie.
cr>
Objekt-
u^
Ich ließ den Apparat ein wenig umbauen, so daß er auch zur Projektion
der vertikal stehenden Wörter der Gedächtnisapparate 1 — 4 verwertet werden
kann. Siehe die 2. Figur.
Bei episkopischer Exposition ist das beleuchtete Objekt selbst die Licht-
quelle. Es kann nur so stark beleuchtet werden, als es das Papier ver-
trägt. Die Beleuchtung reicht daher nur für mittelgroße Räume aus. Auch
ist nötig, durch gute Verdunklung das Auge an Dunkelheit zu gewöhnen
(z. B. nicht gegen etwaige helle Spalten an den Fenstern sehen, die Episkop-
lampen gut abblenden!).
Das episkopische Bild darf nicht glänzend sein; ebenso darf keine Glas-
platte darüber gelegt werden.
Epidiaskop nach Schmidt und Haensch (Optische Werkstätten Schmidt
& Haensch, Berlin). Das eben beschriebene Episkop wird auf einen Kasten
gestellt, in dem eine Projektionslampe eingesetzt ist. Siehe 1. Figur, unterer
Teil. Diese Lampe wird ebenfalls durch den gewöhnlichen Lichtstrom ge-
speist. Ihre Stärke ist so berechnet, daß die diaskopisch projizierten Bilder
ebenso hell sind wie die episkopisch projizierten. Zwischen dem erwähnten
Kasten und dem Episkop werden Rahmen eingeschoben, in die sowohl die
diaskopischen , wie die episkopischen Bilder gelegt werden können. Man
kann abwechselnd nach Bedarf beide Arten von Bildern projizieren. Bei
der diaskopischen Projektion werden die Episkoplampen ausgelöscht.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
293
Streifen
'Heft
B. Lernstoffe.
180 sinnlose Silbenreihen mit ungeradzaliligen Treffersilben nach Nr.i
Müller- Schumann, herausgegeben von Rupp (Mechaniker Marx, Berlin; Me-
chaniker Spindler und Hoyer, Göttingen). Die Reihen sollten einen Stoff bilden,
der in seinen Gliedern und namentlich in seinen Verbindungen möglichst fremd
ist. Bei sinnvollem Stoff bestehen bereits vielerlei Beziehungen, die das Lernen
unkontrollierbar beeinflussen. Will man wissen, welche Lerngesetze für relativ
einfache Verhältnisse bestehen, so muß man zu sinnlosen Reihen greifen.
Die Silben bestehen aus Anfangskonsonant, Vokal oder Diphthong und End-
konsonant (z. B. lap). Jede Reihe hat 12 Silben. Vereinzelt kommt eine sinn-
volle Silbe vor (z. B. reich); jedoch sind sinnvolle Folgen (z. B. reich mir) ver-
mieden.
Neben der vertikalen Silbenreihe ist eine zweite Reihe mit den ungeraden
Silben (1., 3. bis 11.) gedruckt, aber nicht in natürlicher, sondern in bunt wech-
selnder Folge. Diese Silben dienen für das Abfragen; ,
es soll jedesmal die folgende Silbe aus dem Ge-
dächtnis genannt werden.
Die Reihen werden in Streifen oder in Heften ge-
liefert.. Die Streifen sind den oben beschriebenen
Gedächtnisapparaten angepaßt. Unter den 12 Silben
sind zwei Felder frei, damit zwischen je zwei Wieder-
holungen eine Pause von zwei Rucken eingeschaltet
wird. Daher sind die Trommeln für 14 Rucke kon-
struiert. In den Heften ist neben den Reihen ein Raum für Notizen frei.
Näheres über den Aufbau der Reihen siehe im Katalog des Mechanikers Spindler
und Hoyer in Göttingen.
Mit solchen Reihen sind die meisten grundlegenden Versuche angestellt worden :
über das Lernen im Ganzen und in Teilen, über Häufung und Verteilung der
Wiederholimgen, über die Wirkung der einzelnen Wiederholungen, über Tempo,
über die Bedeutung des Rezitierens, über den Unterschied optischer und aku-
stischer Darbietung, usf. Sie werden auch in Zukunft vielfach Dienste leisten-
Manche dieser Versuche lassen sich in Übungen im Massenversuch wieder-
holen, ohne daß viel Zeit benötigt würde: so über die Wirkung der einzelnen
Wiederholungen (wie viel Silben werden nach 1,2,
. . . Wiederholungen gemerkt?), über die Bedeutung
verschiedener Tempos, über die Wirkung des Rezi-
tierens, der optischen und akustischen Darbietung,
Zugleich lassensich Beobachtungen über Lokalisation,
Zusammenfassen, sinnvolle Hilfen, über die senso-
rische Art des Lernens anstellen.
48 sinnlose Silbenreihen (Mechaniker Marx, t ::::::;: :1: : : Nr. 2
Berlin). Ähnlich wie 1, nur etwas andere Regeln
imd andere Anordnung. So sind sinnvolle Silben ver-
mieden. Keine Treffersilben. Anordnung wie das
Schema zeigt; sie hat den Vorzug, daß man auch längere Reihen (bis zu 24 Glieder)
verwenden kann. Die Silben sind sorgfältig geschrieben und vervielfältigt.
18 13 M U «J n it
294
Hans Rupp
Nr. 4
Nr. 5
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Nr.3 40 Keihen ein- und zweisilbiger Wörter (Mechaniker, Marx, Berlin).
Die Wörter sind so gewählt, daß sie auch Kindern geläufig sind. Anordnung
ähnlich wie bei 2, nur 10 statt 12 Eeihen rebeneinander.
Sie dienen zu ähnlichen Versuchen wie 1 und 2. Für Übungen haben sie den
Vorzug, daß sie schneller gelernt werden, also weniger Zeit erfordern.
Man kann das Lernen der Reihen 2 und 3 vergleichen und den Unterschied
studieren. Bei Wörtern treten z. B. häufig (nicht immer) Sachvorstellungen hinzu.
48 sinnlose Silbenreihen mit gerad- und
ungeradzahligen Treffersilben (Mechaniker
Marx, Berlin). Aufbau der Reihen wie bei 2.
Anordnung wie Schema zeigt. Gerade und ungerad-
zahlige Treffersilben in bunter Folge. Trefferreihen
aeben den Lernreihen.
Man läßt in Paaren, trochäisch oder jambisch
lernen. Beim Abfragen wird bald eine betonte, bald
eine unbetonte Silbe gegeben. Läßt man stets die
folgende nennen, so vergleicht man die Verbindung
der Silben eines Taktes mit der Verbindung der auf-
einanderfolgenden Silben zweier Takte (,, Takt-
schonung und Taktlös ang"). Stellt man die Aufgabe, immer die andere
Silbe desselbsn Taktes zu nennen, so vergleicht man die zwei Repro-
duktionsrichtungen innerhalb eines Taktes. Welche Verbindung ist
stärker? Wie bei jambischem, wie bei trochäischem Rhythmus?
24 sinnlose Silbenreihen für Wiedererkennungsversuche (Mecha-
niker Marx, Berlin). Anordnung wie für 4, nur 12 statt 6 Silben in der Prüfreihe.
Erst wird die links stehende Lernreihe mehrmals gelesen. Dann werden die
Silben der rechtsstehenden Prüfreihe vorgeführt. Bei jeder ist zu entscheiden,
ob sie in der Lernreihe vorhanden war oder nicht. Die Prüfreihe enthält 2 — 6
Silben der Lernreihe, ferner 2 — 4 ähnliche Silben, und zwar solche, die 2 Buch-
staben gemeinsam habsn, während der Rest aus fremden Silben besteht.
Stellt man zum Vergleich Versuche an, in denen die behaltenen Silben aus-
wendig wiederzugeben sind, so erhält man ein Bild, um wie viel das Reproduzieren
schwerer ist als das Wiedererkennen (auch für Übungen geeignet).
Nr.6— 8 24 sinnlose Silbenreihen mit Reimpaaren, 24 mit Alliterations-
paaren, 24 mit vokalgleichen Paaren (Mechaniker Marx, Berlin). Anord-
nimg wie bei 2. Bei den Reihen 6 haben je zwei aufeinanderfolgende Silben
gleichen Vokal und Endkonsonant, bei 7 gleichen Vokal und Anfangskonsonant,
bei 8 nur gleichen Vokal. Vergleicht man das Lernen dieser Reihen mit dem
der Reihen 2, so erhält man ein Bild von der Wirkung von Reim, Alliteration und
gleichem Vokal.
Nr.9 10 Reihen von Paaren: Wort — sinnlose Silbe (Mechaniker Marx
Berlin). Anordnung wie 3, nur links Wort, rechts sinnlose Silbe; man benützt
also zwei Felder nebeneinander. 5 Reihenpaare nebeneinander.
Die Aufgabe ist ähnlich der Aufgabe des Vokabellernens. Man kann die Auf-
gaben 4 mit diesem Lernstoff wiederholen.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
296
Statt der sinnlosen Silben kann man natürlich auch Worte einer fremden Sprache
wählen. Niu' dürften mehr Ungleichmäßigkeiten (Aussprache, durch Fremdwörter
bekannte Vokabeln) vorhanden sein als in den künstlichen Reihen.
10 Reihen von Paaren: Wort — Zahl (Mechaniker Marx, Berlin). An- Nr lo
Ordnung ähnlich wie bai 9, nur statt der Silben dreistellige Zahlen. Man kann eine
oder zwei Ziffern abdecken und erhält dann zwei- oder einstellige Zahlen.
Die Aufgabe ist ähnlich den praktischen Aufgaben, zu Geschichtsdaten oder
Peisonennamen Jahreszahlen, zu Städten Einwohnerzahlen, zu Bergen Höhen-
zahlen, zu Stoffen Atomgewichte oder spezifische Gewichte zu lernen, usf.
Man kann, zu unseren Versuchen Parallelversuche mit den eben erwähnten
praktischen Stoffen anstellen. Bestehen Unterschiede?
10 Reihen Konkreta, 10 Reihen Abs trakta (Mechaniker Marx, Berlin). Nrti
Auf der linken Hälfte des Bogens oben und unten je fünf Reihen Konkreta, auf
der rechten Hälfte die Abstrakta. Welche Reihen werden leichter gelernt? Bei
verschiedenen Altersstufen ? Man achte auf Unterschiede im Lernverfahren !
Je 10 Reihen von Paaren: über- und untergeordneter Begriff Nr.12-1
(z. B. Möbel — Schrank), nebengeordnete Begriffe (z. B. Schrank — Bett),
Ganzes und Teil (Armee — Regiment), Art und Individuum (Stadt —
Berlin), Paare mit sonstigen Beziehungen (Sonne — Wärme, Tinte —
Feder) (Mechaniker Marx, Berlin). Anordnung wie bei 9. Welche Paare werden
leichter gelernt ? Man kann nach zwei Richtungen abfragen : welche liefert mehr
Treffer?
Die Reihen sind auch zu folgenden Versuchen verwertbar : Man läßt zu einem Be-
griff einen untergeordneten nennen, ohne daß der in der Reihe angegebene Begriff
voi'her eingeprägt worden ist. Welche der verschiedenen Aufgaben ist leichter ? Wie
spielt sich der psychologische Vorgang ab ? Das sind nicht mehr Gedächtnis-, sondern
Denkversuche.
24 Reihen von je 36 Ziffern und von je 36 Konsonanten (Mecha- Nr. 17,1
niker Marx, Berlin). Anordmmg wie Schema. Man
kann den Bogen in Streifen schneiden und im
Gredächtnisapparat exponieren; jeder Streifen um-
faßt 6 nebeneinanderstehende Ziffern oder Buch-
staben. Durch Abdecken kann man auch weniger
exponieren.
Welche Vorstellungen (akustisch, optisch usw.)
werden beim Lernen benützt? Welche Gruppen
werden gebildet (durch Hersagen von hinten leicht
zu erweisen) ? Welche arithmetischen oder sonstigen
Hilfen werden herangezogen? Wie bei simultaner
Darbietmig des ganzen Streifens und wie bei suk-
zessiver im Gedächtnisapparat? Wie bei monotonem und wie bei rhyth-
mischem Vorlesen ? usw.
Endlich kann man die sogen. Gedächtnisspanne prüfen. Man liest erst drei
Elemente vor; auch die jüngeren Schüler können sie nachsprechen. Dann liest
man vier (natürlich andere) vor, dann fünf, sechs usf., bis der Schüler nicht mehi-
imstande ist, die Gruppe richtig nachzusagen. Die Anzahl, die er noch nach-
sagen konnte, ist die ,, Spanne"; so viel kann er umspannen. Man achte auf kon-
396 Hans Rupp
stantes Tempo (z. B. V2 Sekunde) und auf den Rhythmus (am besten gleich-
mäßiges Vorlesen ohne jegliche Betonung). —
Ich führe noch einige Reihen an, die nicht in Verbindung mit den erwähnten
Gedächtnisapparaten verwendet werden, die aber den besprochenen Reihen ganz
verwandt sind.
Nr. 19 12 sinnlose Silbenreihen auf Kartons, ca. 15x30 cm, für Massen-
versuche nach Pohlmann (Mechaniker Marx, Berlin). Auf jeden Karton ist
eine Silbe geschrieben. Man zeigt die Kartons der Reihe nach in bestimmtem,
z. B. Zwei- Sekunden-Tempo vor.
Mit solchen Reihen zeigte Pohlmann u. a, , daß vorgezeigte .Silben besser
gelernt und behalten werden als (deutlich) vorgesprochene. Die Versuche eignen
sich auch für Übungen.
Nr. 20 4 Reihen von Wörtern auf Kartons ca. 15 x30 cm nach Pohlmann (Me-
chaniker Marx, Berlin).
Nach Pohlmann werden in dieser Weise vorgezeigte sinnvolle Wörter nicht
besser behalten als vorgesprochene Wörter.
Nr. Li 4 Reihen von Gegenständen nach Pohlmann (Mechaniker Marx, Berlin).
Die Gegenstände entsprechen den Wörtern Nr. 20.
Mit den Reihen 20 und 21 kann man, auch in Übungen, die interessanten
Versuche Pohlmanns wiederholen, nach denen Gegenstände besser gemerkt
werden als vorgezeigte oder vorgesprochene Wörter. Der anschauliche Stoff ist
eben eindringlicher.
Mit den Materialien 19, 20 und 21 läßt sich auch folgende praktische Frage
untersuchen. Beim Vokabellernen kann entweder der Gegenstand selbst gezeigt
und mit der Vokabel (oder der sinnlosen Silbe) verbunden werden, oder es
wird bloß die Bezeichnung, das sinnlose Wort genannt oder gezeigt. Ist
zwischen beiden Fällen für das Lernen ein Unterschied?
^^.22, ^^ — ^_ — 8 sinnlose Silben reihen zur Prüfung des Ein-
flusses der Lokalisation nach Pohlmann (Mechaniker
Marx, Berlin). Jede Reihe ist auf vier Kartons ca. 45 X 30 cm
" verteilt, wie das Schema zeigt. Die vier Kartons I bis IV
werden nacheinander gezeigt, aber einmal alle an derselben Stelle (A), einmal
nebeneinander (B).
Nach Pohlmann wird im Falle B besser gelernt, offenbar, weil die Silben infolge
der verschiedenen Lokalisation in der Erinnerimg leichter auseinander gehalten
werden. Auch diese Versuche eignen sich für Übungen.
Über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern.
(Aus dem päd. Seminar der Universität Tübingen.)
Von Karl Köhn.
I. Frühere Untersuchungen; die Problemstellung der vorliegenden.
Untersuchungen, welche die Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichts-
fächern zum Gegenstand haben, wurden schon in ziemlich großer Zahl durch-
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 297
geführt. Die erste dieser Art stammt von Marx Lobsien^); wichtiger geworden
ist dann die folgende, die W.Stern veranlaßt hat^); auch wurde das gewonnene
Material von ihm bsarbsitet. Verschiedene zusammenfassende Darstellmigen
geben einen Überblick über die Art und die Ergebnisse der auf Sterns Unter-
suchungen folgenden Erhebungen^). Es kann aus diesem Grunde unterlassen
werden, auf sie im einzelnen einzugehen.
Gemeinsam ist einer Reihe von ihnen — man darf dazu den größten Teil der
"Arbeiten zählen — das, daß sie in Beziehung gesetzt werden zu Darlegungen über
daslnteresse der Schulkinder; viele gehen sogar so weit, daß sie in den Beliebt-
heitsuntersuchimgen geradezu Interesse Untersuchungen sehen. Walsem ann*)
z. B. tut dies in seiner Schrift über „das Interesse", Hoff mann über-
schreibt sein Sammelreferat „Das Interesse der Schüler an den Unterrichts-
fächern"5). Stern und nach ihm auch Br andelH) bilden die Gleichung Interesse
== Beliebtheit, d. h. die Fächer sind beliebt, für welche die Kinder Interesse be-
sitzen. Diese Gleichung läßt sich nach ihren Ausführungen auch umkehren.
Auch Meumann neigt zu dieser Auffassung. Er reiht in seinen ,, Vorlesungen"
die Untersuchungen über die Beliebtheit der Unterrichtsfächer da ein, wo er von
der Untersuchung des kindlichen Interesses spricht. Er führt dort u. a. aus, daß
die Bsliebtheitsuntersuchungen auf eine ,, auf steigende Interessenentwicklung"
hinweisen'). Der Grundgedanke ist hier immer: Untersucht man die Aus-
sagen der Kinder über die Beliebtheit der Unterrichtsfächer,
dann gewinnt man Einblick in die Interessenrichtungen der Schul-
kinder. Ob dies tatsächlich der Fall ist, aus welchen Gründen dies zutreffen
könnte, das wurde dabei nicht weiter erörtert; ob das, was man mit Interesse
bezeichnet, sich deckt mit dem, was die Beliebtheit eines Faches bedingt, das
wurde dabei ganz aus dem Auge gelassen.
Es ist ein Verdienst von 0. Pommer, auf dieses Problem aufmerksam gemacht
zu haben. Er sagt, ,,daß nicht der Lehrstoff als solcher allein, sondern nur mit
der Methode und den Anforderungen zusammen dem Schulfach sein Gepräge
gibt, und daß nicht das gegenständliche Interesse die einzige psychische Disposi-
*) M. Lobsien, Über Kinderideale, Zeitschr. für pädag. Psychologie, V, 1903»
S. 323 ff.
*) W. Stern, Über Beliebtheit und Unbeliebtheit der Schulfächer, Zeitschrift für
pädag. Psychologie, VII, 1905, S. 267 ff.
') H. Keller, Beliebtheit und Unbeliebtheit der Unterrichtsfächer, Zeitschrift
für angew. Psychologie III, 1910 und P. Hof f mann, Das Interesse der Schüler an den
Unterrichtsfächern, Zeitschrift für pädag. Psychologie, XII, 1911, S. 458 — 470.
*) Walsemann, Das Interesse, 2. Aufl., 1907.
*) Hoffmann führt z. B. S. 459 aus: „Bei der Erforschung des geistigen Lebens
ist es nun gewiß eine wichtige Aufgabe, in Erfalirung zu bringen, in welchem Verhält-
nis der Schüler zu dem Lehrstoff steht, der ihm in den verschiedenen Fächern darge-
boten wird, oder kurz: sein Interesse an den Unterrichtsfächern kennen zu lernen."
Auch bei E. Seekel, Über die Beziehungen zwischen der Beliebtheit und der
Schwierigkeit der Schulfächer, Zeitschrift für angew. Psychologie IX, 1915, S. 268
bis 277 weisen manche Ausführungen darauf hin, daß sie dieselbe Gleichung macht.
•) G. Brandell, Das Interesse der Schulkinder an den Unterrichtsfächern.
10. Beiheft der Zeitschrift für angew. Psychologie.
') E. Meumann, Vorlesungen zvir Einführung in die experimentelle Pädagogik.
1911, Bd. T, S. 661.
298 , Karl Köhn
tion ist, welche von dem Scliulbstrieb dieses Faches in Anspruch genommen wird"« ) .
Er weist ferner darauf hin, daß ,, ziemlich oft trotz lebhaften gegenständlichen
Interesses das Schulfach entschieden als unbeliebt bezeichnet wurde "s). Nach
ihm kann also die Gleichung Interesse = Beliebtheit oder umgekehrt nicht gelten.
In dieselbe Richtung weisen auch Aussagen, die von einer Reihe von Schülerinnen
bei meinen Versuchen gemacht wurden. Es wurde angegeben, ein Fach sei beliebt,
,,weil man in diesem Unterricht sprechen imd lachen dürfe", oder ,,weil man das
gut könne", oder ,,weil man sich nicht anstrengen müsse", oder weil man das,
was man dort lerne, ,,fürs Leben brauchen könne". Diese Beispiele könnten noch
beträchtlich Vermehrt werden. Man sieht hier sofort, daß die angegebene Glei-
chung nicht gilt. Daß sie nicht stimmen kann, das leuchtet auch sofort ein, wenn
man das Problem etwas allgemeiner faßt und fragt, ob Personen, oder Gegenstände,
die uns interessieren, auch beliebt sein müssen (oder: gerade deshalb auch
beliebt sein müssen). Man wird sofort einwenden, daß wir uns für Personen oder
Dinge interessieren können, die wir nicht nur nicht lieben, die wir sogar hassen,
(in Frankreich z. B. interessiert man sich für unsere Ernte 1916*), für unseren
Heeresersatz usw., das geschieht sicher nicht aus Liebe zu uns, auch nicht aus der
Beliebtheit, die wir dort genießen).
Aus dem Dargelegten ergibt sich eine Aufgabe für das Folgende. Ehe an eine
Erörterung der Ergebnisse der Beliebtheitsuntersuchuiig gegangen werden kann,
muß dreierlei geklärt sein : L ist zu untersuchen, was man damit meint, wenn man
voninteressespricht, 2. ist festzustellen, was man imter beliebt bzw. Beliebt-
heit versteht, 3. ist das, was über das Interesse festgesetzt wurde, in Beziehung
zu setzen zu dem, was man mit Beliebtheit meint.
1. Wir sagen, diese Nachricht interessiere uns, sie errege -unser lebhaftes
Interesse. Dann steht sie mit früher erlebten Ereignissen, mit bestimmten Wün-
schen und Erwartungen in Beziehung. Wir wenden uns dieser Nachricht zu,
suchen, sie so vollständig als möglich zu erfassen, sie mit unseren Vorstellungen
und Erwartungen in Beziehung zu setzen.
Ein Vortrag interessiert uns, er weckt unser Interesse. Wir haben vielleicht
bestimmte Vorstellungen über den zu behandelnden Gegenstand, wir haben
vielleicht schon gewisse Erfahrungen gemacht, die sich auf denselben beziehen;
nun möchten wir mehr darüber hören, möchten die vom Redner vertretenen An-
schauungen mit unseren in Verbindung bringen.
Eine Person interessiert uns. Wir haben schon dies und jenes von ihr gehört,
vielleicht auch schon manches mit ihr erlebt, wir haben uns gewisse Vorstellungen
über sie gebildet. Wir wenden uns nun ihr zu, wir wünschen, von ihr noch mehr
zu erfahren, sie noch genauer kennen zu lernen.
Wir hatten, solange wir die Schule besuchten, Interesse für einen bestimmten
ünterrichtsgegenstand, sagen wir für Mathematik. In diesem Fall besaßen
wir Kenntnisse und Fertigkeiten in Mathematik. Ein Mitschüler konnte sie in
demselben Maß besitzen ; er interessierte sich nicht für das Fach. Bei uns waren sie
eben in besonderer Weise in der Mannigfaltigkeit unserer Erlebnisse ausgezeichnet,
*) u. 2) O. Pommer, Die Erforschung der Beliebtheit der Unterrichtsfächer, Jahres-
bericht des k. k. Staatsgymnasiiims XVIII in Wien, 1914, S. 31.
') Die Abhandlung wurde Sommer 1916 niedergesclirieben ; die Erhebvuigen
dagegen waren bereits Frühjahr 1915 abgeschlossen.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 299
daraus ergab sich bei uns ein besonderes Verhalten der Mathematik gegenüber,
das in dem Wunsch gipfelte, weiteres Wissen in diesem Fach zu erwerben.
Charakteristisch bei diesen Interesseerlebnissen ist also, daß ein gewisses
Wissen vorhanden ist, das in irgendeiner Beziehung mit dem uns interessieren-
den Gegenstand steht, daß dieses Wissen in besonderer Weise in der Mannig-
faltigkeit der Erlebnisse ausgezeichnet und herausgehoben ist,
daß daraus sich ein inneres Zuwenden zu dem neuen Gegenstand
ergibt, womit zugleich das Streben (u. a. auch der Wunsch) nach
weiteren Wissensinhalten verbunden ist.
Pommer weist darauf hin, daß dieser Wunsch ,, meist begleitet ist von einer
phantasiemäßig nacherlebten Lust an vorhergegangenen Akten des Wissens über
diesen Gregenstand"^). Er hält dies aber nicht für einen notwendigen Inhalt
des Interesseerlebnisses. Daß dies zutrifft, wird durch folgendes bewiesen: Ein
Offizier hatte eine Verwundung am linken Oberarm erhalten (ein Granatsplitter
war bis auf den Knochen eingedrungen und hatte diesen zerrissen), die Heilung
machte durch Hinzutreten von Rotlauf usw. langsamen Fortschritt, die Übungen
im mediko-mechanischen Institut waren sehr schmerzhaft. Er interessiert sich
nun für alle ähnlichen Verwundungen.
Ebenso darf nicht in die Begriffsbestimmung aufgenommen werden, daß der
Interessierte dem zu erwerbenden Wissen besonderen Wert — abgesehen vom
Wissenswert — zuschreibt. Es kann ihm wertvoll sein, er kann aber auch
ein Verhalten einnehmen, das ganz frei ist von einer Wertung.
Der, Umkreis dessen, was unter den Begriff des Interesses fällt, ist damit keines-
wegs erschöpft; die Erörterung genügt aber für die folgende Betrachtung.
2. Bei der Analyse des Beliebtheitserlebnisses gehen wir von den Tat-
beständen des Gernhabens und Gerntuns aus.
Ich arbeite gerne, das bekundet sich in mehreren Richtungen. Die Tätigkeit
des Arbeitens habe ich schon wiederholt ausgeführt und dabei Lustgefühle verspürt.
Denke ich an die Arbeit, wird mir eine besondere Arbeit aufgetragen, so erfüllt
mich das mit Freude ; bei der Verrichtung der Arbeit erlebe ich als Grundzug das-
selbe, schließlich schätze ich auch die Arbeit als solche.
Ich ging gerne in die Schule. In der ersten Zeit des Schulbesuches konnte
ich nichts in dieser Richtung aussagen. Als ich bestimmte Erfahrungen gemacht,
eine Reihe von Gefühlen erlebt hatte, kam es zu einer Wertung; ich besuchte nun
mit einer bestimmten Haltung die Schule, das Schulleben kam in der Haupt-
sache diesen Erwartungen entgegen, das Leben in der Schule wurde mir wertvoll.
Kaum verschieden hiervon ist die Wendung: der Lehrer ist beliebt. Das
Kind hat eine Reihe von Erfahrungen im Zusammensein mit dem Lehrer gemacht;
eine besondere Haltung ihm gegenüber hat sich gebildet, eine Werthaltung; da«
Zusammensein mit ihm wird vom Schüler positiv ge wertet.
Ein Unterrichtsfach ist beliebt. Der Schüler hat vielleicht in diesem
Fach sich Kenntnisse und Fertigkeiten erworben, eine besondere Haltung ihm
gegenüber hat sich herausgebildet, die urteilsmäßig formuliert zur Wertung
führt; damit verbindet sich sehr leicht der Wunsch, noch mehr zu erfahren, das
Unterrichtsfach wird nun dem Schüler wertvoll. Aber diese selbe Haltung, wenn
>) A. ». O. S. 13.
300 Karl Köhn
auch mit etwas anderer „Färbung", kann sich auch ohne besondere Beziehung
zum Lsbansinhalt des Faches herausbilden, und sie kann ohne den Wunsch, mehr
zu erfahren, bestehen.
So viel zum Verständnis des Beliebtheitsbegriffs im Gegensatz zum Begriff
des Interesses,
3. Man sieht, beide, das aktuelle Interesse und die Beliebtheit, haben manche
Seiten gemeinsam. In beiden Fällenistunser Inneres einem Gegenstand zugewendet,
wir sind ihm zugewandt. Aber a) beim Interesse drängt diese Zuwendung zu
weiteren Erfahrungsinhalten, bei der Beliebtheit bleibt sie beim Ge-
genstand, der durcheinen auszeichnenden Erlebnischarakter aus den
übrigen herausgehoben und zu anderen in einen, wenn auch latenten
Gegensatz gesetzt wird. Das ist eben der Akt der Wertung.
b) Diese Gegensätzlichkeit fehlt beim Interesse; es findet ebenfalls
Heraushebung statt; an der Stelle des Entgegengesetzten steht das Indiffe-
rente, das zum Interessierenden im Verhältnis des Unterschiedes steht.
c) Etwas Unbsliebtes ist ein negativ Ge wertetes. Das Nichtinteressierende ist
das Indifferente; es kann sich natürlich darauf auch ein negatives Werturteil
bauen wie auf das Interessante ein positives. Eine Wertung kann das Interesse-
erlebnis gleichsam umhüllen, in diesem Fall ist es aber dann eigentlich
kein Interesseerlebnis mehr, sondern ein Beliebtheitserlebnis.
Daraus folgt: Untersuchungen über die Beliebtheit der Unterrichtsfächer
geben nicht ohne weiteres Aufschluß über die Interessenrichtungen des
Schulkindes, sondern zunächst eben bloß über Wertungen, die das Schulkind
dem Begriff der Beliebtheit bzw. Unbeliebtheit unterordnet.
Nun kann auf das Problem der folgenden Arbeit eingegangen werden. Es handelt
sich um die Untersuchung der Beliebtheit und der Unbeliebtheit
von Unterrichtsfächern. Dabei soll neben der tatsächlidlien Fächer-
wahl vor allem auf die Konstanz des Beliebtheits- bzw. des Unbeliebt-
heitsurteils geachtet werden. Damit dies möglich wird, sind die Versuche in
einem Zeitraum von 1^4 Jahren in derselben Form (je mit einer etwa ^4 jährigen
Unterbrechung) in derselben Klasse durchgeführt worden.
Herrn Dr. Deuchler, dem Dozenten der Pädagogik an der Universität Tü-
bingen, der durch eine Reihe von Anregungen diese Arbeit förderte, sei auch an
dieser Stelle herzlich gedankt^).
II. Die Versuchspersonen und die Durchführung der Versuche.
1. Die Versuchspersonen.
Versuchspersonen waren Schülerinnen der evangelischen Volksschule in Gmünd
(Württemberg), sie waren im Frühjahr 1914 im 6., seit 1. Mai 1914 im 7. Schuljahr.
Am 1. Februar 1914 waren die Altersverhältnisse die folgenden:
Durchschnittsalter
Alter
der ältesten
zweitjüngsten
jüngsten Schülerin
12; 8 Jahre 2) 13; i-
12; 2
11; 7
^) Vgl. auch G. Deuchler, Der gegenwärtige Stand der Beliebtheitsuntersuchun-
gen; Die Lehrerfortbildung II, Heft 1 — 3.
") 12; 8 Jahre = 12 Jahre 8 Monate.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
301
Die soziale bzw. gesellschaftliche Schicht, aus der diese Schülerinnen kommen,
läßt sich aus den Berufen erschließen, denen ihre Väter angehörten. Es wafen
Beruf der Väter
Anzahl
der Schülerinnen
1. Industriearbeiter (Gold-, Silberarbeiter, Fasser, Gürtler,
Ringmacher usw.)
16
2. Gewerbetreibende (Schneider. Schreiner, Kubier, Maler,
Bäcker, Friseur, Monteur, Wirt)
11
3. Niedere Befimte (Schutzmann, Aufseher, Kasernen- und
Bahnwärter)
6
4. Ungelernte Arbeiter (Taglöhner, Fuhrleute, Packer) . .
5. Landwirte
6
3
Zusammen
41
Fine größere Anzahl der Schülerinnen hat Beziehungen zu den Berufen, die mit der
Edelmetallbearbeitung zusammenhängen (die unter 1. genannten). Zeichnen, Ent-
werfen, Beiu'teilungen auf künstlerischen Wert oder Unwert spielen hier eine große
Rolle. Dieser Einfluß macht sich im Zeichenunterricht geltend.
Von den 41 Mädchen, die an den Versuchen teilnahmen, wohnten 38 in der Stadt
Gmünd selbst (23 000 Einwohner), 3 wohnten auf dem Land in der Nähe der Stadt
(Vi — Vi Stunden davon entfernt).
Das sittliche Verhalten der Schülerinnen war durchaus gut; über mangelnden
Fleiß konnte nicht geklagt werden. Mit Rücksicht auf die Begabung müssen be-
zeichnet werden:
ausgezeichnet
sehr gut
gut
befriedigend
genügend bis
kaum genügend
1
2
13
16
9
Will man drei Grade der Begabung unterscheiden, dann müssen 16 als gut, 16 als
mittel und 9 als schwach begäbt bezeichnet werden.
Die körperliche Entwicklung war im allgemeinen eine normale; nur einige Mäd-
chen waren etwas schwächlich.
Man sieht, daß die für die Versuche zur Verfügung stehende Klasse eine ganz
normale genannt werden kann.
Die Auswahl der Versuchspersonen könnte eine einseitige genannt werden, insofern
als nur Mädchen einer Altersstufe in Betracht kommen. Die Auswahl wurde
mit Absicht so getroffen. Für die ins Auge gefaßten Konstanzuntersuchungen sollten
die Verhältnisse so einfach als möglich gewählt werden. Dies wurde dadurch
erreicht, daß nvu" Versuchspersonen eines Geschlechtes und einer Altersstufe gewählt
wurden, daß eine Klasse gewählt wurde, in der der Klassenlehrer während der Versuche
nicht wechselte, in der neben dem Klassenlehrer nxir wemge Fachlehrer und Fach-
lehrerinnen unterrichteten. Dazu kam noch ein nicht zu unterschätzender Umstand ;
es wurde die Klasse gewählt, in der der Verfasser selbst über die Dauer der Ver-
suche Klassenlehrer war.
2. Die Aufgaben.
Die Aufgaben, die gestellt wurden, waren folgende:
1. welches Fach treibst (hast) du am liebsten;
2. welches Fach kommt dann (treibst du am zweitgernsten);
3. welches gefällt dir am wenigsten;
4. welches treibst du auch noch ungern, aber nicht so ungern wie das vmter
3. genannte (kurz : am zweitungernsten) ?
302
Karl Köhn
Jede Frage wurde vorgesprochen und sofort schriftlich (von allen Schülerinnen)
beantwoftet. Zu jeder Nennung sollte die Begründung angegeben werden; es wurde
daher jeder Frage beigefügt: Schreib, warum du das Fach gern (oder ungern) treibst!
Waren alle Schülerinnen mit der Beantwortung der ersten Frage (samt Begründung)
fertig, dann wurde die 2. vorgesprochen, dann folgte die 3. usw.
Bei der Nennung der Fächer hatten die Schülerinnen so weit Freiheit, daß sie nur
ein Fach jeder Gruppe nennen dvirften, wenn sie glaubten, kein zweites Fach mehr
nennen zu können; wenn also ein Mädchen erklärte, es könne kein zweitbeliebtes
Fach nennen, dann unterblieb eben die Nennung eines solchen; dasselbe gilt auch von
der Unbeliebtheit. Von dieser Freiheit wAirde öfter Gebrauch gemacht und zwar bei
den unbeliebten Fächern häufiger als bei den beliebten, von gut und mittel begabten
Mädchen häufiger als von schwach begabten.
Es sollten vier Fächer, zwei beliebte und zwei unbeliebte, genannt werden. Daß
man sowohl beliebte als auch unbeliebte Fächer nennen ließ, das bedarf keiner Begrün
düng mehr. Darauf muß hingewiesen werden, warum je zwei derselben Art genannt
werden sollten. Es hat sich nämlich gezeigt, daß es dem Schüler oft schwer geht, das
beliebteste Fach zu nennen. Es sind meist mehrere Fächer, die an erster Stelle ge-
nannt werden könnten. Darf nur ein Fach genannt werden, dann entsteht die Gefahr,
daß eben irgendeines dieser Fächer genannt wird; eine Zusammenstellung dieser
Fächer und die daraus gezogenen Schlüsse werden dann nicht immer den tatsächlichen
Verhältnissen entsprechen. Man wird denselben näher kommen, wenn man je zwei
Fächer nennen läßt.
3. Die Versuchstage.
Die angegebenen vier Aufgaben wurden viermal gegeben. Die Versuchstage waren
I. Versuch
n. Versuch
III. Versuch
IV. Versuch
20. Januar 1914
7. April 1914
2. Dezember 1914
9. April 1915
Zahl der Schülerinnen, die am Versuch teilnahmen:
36
40
37
38
Die erste Beantwortung erfolgte zwei Monate nach Übernahme der Klasse diirch
den Verfasser, die zweite am Ende des 6. Schuljahres, die dritte vier Monate nach Aus-
bruch des Krieges, die vierte kurz vor Austritt der Schülerinnen aus der Schule, kurz
vor ihrer Konfirmation.
Es ist dies das erstemal, daß dieselbe Axif gabenreihe über Beliebtheit und Unbeliebt-
heit von Fächern viermal denselben Schülern zvir Beantwortung aufgegeben wurde.
Nun ist es möglich, aixf Grund dieser Aussagen Aufstellungen über die Konstanz
des Beliebtheits- Tind Unbeliebtheitsurteils zu machen, die Ursachen aufzu-
zeigen, die eine Änderung in der Wertung herbeifiihrten.
Avif zwei Gesichtpunkte mehr allgemeiner Art nrnß noch hingewiesen werden.
1. Auf das Verständnis für die gestellten Fragen. Meumann schließt aus
den teilweise starken Abweichungen der Ergebnisse bei den verschiedenen Versuchen,
daß die Fragen nicht richtig verstanden worden seien. Er sagt: „Ich vermute, die
Schüler haben die Fragestellung wohl oft nicht richtig aufgefaßt . . . Unter „Beliebt-
heit" konnte der Schüler ebensowohl das verstehen, was ihm am bequemsten ist, was
am wenigsten anstrengt, als auch das, was im höheren Sinne ihn sachlich interessiert
und ihm wertvoll erscheint."^) Dem ist entgegenzuhalten, daß sowohl das Verhalten
^) E. Meumann, Vorlesungen usw., 1911, Bd. I, S. 661.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 303
der Schülerinnen bei der Beantwortung der Aufgaben als auch die Antworten selbst
durchaus den Eindruck machen, daß die Fragen verstanden word^ sind. Mädchen
in diesem Alter verstehen sicher, was damit gemeint ist. Versuche in anderen Klassen
haben gezeigt, daß man mit dieser Fragestellung sogar ziemlich weit (bis ins 3. und
4. Schuljahr) heruntergehen kann und daß man immer noch verstanden wird. Die
Verschiedenheit der Ergebnisse hat andere Ursachen. Meuma,nn weist darauf hin.
Der Umkreis dessen, was die Beliebtheit oder Unbeliebtheit eines Unterrichtsfaches
bestimmt, ist sehr groß, viel größer als man bisher angenommen hat. Alles das, was
Meumann anführt, kommt bei der Wertung in Betracht. Daß dies tatsächlich der
Fall ist, folgt aus den späteren Ausführtmgen. Diese Tatsache beweist mm aber nicht,
daß die Frage nicht richtig aufgefaßt wurde, sondern sie zeigt, daß eben der Beliebt-
heitsbegriff von den Forschern zu eng gefaßt worden ist, daß man keine
Interessenvmtersuchung durchführt, wenn man nach der Beliebtheit fragt; will man
dies, dann muß man anders fragen. Hat man dies eingesehen, dann versteht man,
weshalb die Ergebnisse verschiedener Versuche nur noch im großen ganzen überein-
stimmen können: bei einem Versuch stehen die einen, bei einem andern die andern
Gesichtspunkte der Wertung mehr im Vordergrund. Die Vielgestaltigkeit der Ur-
sachen der Wertung führt zu einer Vielgestaltigkeit der Wertung.
2. Man hat bisher volle Anonymität für die Antworten der Schüler ver-
langt' ) und hat sich gegen die Angabe des Namens gewendet. Dies läßt sich für ge-
wisse Verhältnisse begründen. Hier war dies durchaus nicht notwendig. Das Verhält-
nis, das sich zwischen Lehrer und Schülerinnen herausgebildet hatte, war das des gegen-
seitigen Vertrauens. Die Schülerinnen scheuten sich nie, ihre Ansicht zum Ausdruck
zu bringen auch dann, wenn sie der des Lehrers entgegenstand. Dafür lassen sich nicht
bloß Beweise aus dem Schulleben anfüliren, das beweisen aiich andere psychologische
Versuche, in dene» sie ilire Meinung sehr offen aussprachen, das zeigen auch die später
folgenden Beispiele aus den Beliebtheitsversuchen selbst. Die Schülerinnen wußten
auch — darauf wxirden sie wiederholt hingewiesen — , daß sie nicht nach ihren Angaben
eingeschätzt wurden. Es war also kein Grtmd vorhanden, von der Namensangabe ab-
ausehen. Es wurde jeder Schülerin ein Heftchen übergeben, das den Namen derselben
trug; dorthin wurden alle Antworten für diese und ähnliche Versuche geschrieben.
Dieses Vorgeben hat manche Vorteile; so nur ist es z. B. möglich, die Konstanz des
Beliebtheitsurteils beim einzelnen Kind durch die vier Versuche hindurch zu
bestimmen. Auf weitere Vorteile, die noch daraus folgen, soll später hingewiesen
werden.
III. Die Fächerwahl.
Ein Einblick in die Fächerwahl im Verlauf der vier Versuche soll durch eine
Auswahl typischer Beispiele gegeben werden (Tafel 1).
Hier sind die in der 1. Zeile genannten Fächer die beliebtesten, die in der 2. die
an zweiter Stelle beliebten, die in der 4. Zeile die unbeliebtesten, die in der 3. die
zweit unbeliebtesten. Mi treibt also im 1. Versuch Geschichte am liebsten, Kon-
firmandenunterricht am zweitliebsten; Diktat hat sie am wenigsten gern, dann
konmit Lesen. Entsprechendes gilt für den 2., 3. und 4. Versuch und für M^,
Mzo usw.
Von den früher angegebenen Problemen der Beliebtheitsuntersuchung lassen
sich im Anschluß an diese Haupttabelle zwei besprechen, das der tatsächlichen
Fächerwahl und das der Konstanz, bzw. der Variabilität der Fächerwahl. Von
beiden ist das letztere das interessantere, wichtigere, bisher noch nicht behandelte ;
ihm wenden wir uns zunächst zu.
*) O. Pommer, a. a. O., S. 23.
304
Karl Köhn
CD
P
p:
n
^
^
I
^
CO
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3.
3
unbeliebt
'beliebt
unbeliebt
beliebt
unbeliebt
beliebt |
H- tO
to ' t-'
H- to
to t-*
H- tO
• 1
Diktat
Lesen
Biblische
Geschichte
Konfirm.-
Unterricht
Natur-
geschichte
Diktat
Aufsatz
Lesen
Diktat
Ge-
schichte
Konfirm.-
Unterricht
M
Diktat
Zeichnen
Lesen
Schön-
schreiben
Repe-
titionen
Aufsatz
Rechnen
Naturlehre
Repe-
titionen
Ge-
schichte
Lesen
1— i
Diktat
Rechnen
Handarbeit
Aufsatz
Rechnen
Naturlehre
Handarbeit
Diktat
Lesen
Rechnen
Handarbeit
Ge-
schichte
H-l
1— (
M
Naturiehre
Schön-
schreiben
Singen
Aufsatz
Konfirm.-
Unterricht
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Rechnen
Ge-
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CD
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3
unbeliebt
beliebt
unbeliebt
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unbeliebt
beliebt
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H-- to
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1 1
1 1
Natur-
geschichte
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Konfirm.-
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Rechnen
Lesen
Zeichnen
Turnen
JH
Aufsatz
Diktat
Lesen
Erdkunde
Memorieren
Repe-
titionen
Rechnen
Erdkunde
(Kopf)-
Rechnen
Repe-
titionen
Konfirm.-
Unterricht
Lesen
ö
Aufsatz
Diktat
Lesen
Schön-
sehreiben
Naturlehre
Rechnen
Handarbeit
Geschichte
Diktat
Aufsatz
Handarbeit
Singen
Rechnen
Diktat
Singen
Erdkunde
Rechnen
Diktat
Konfirm.-
Unterr.
Zeichnen
Aufsatz
Naturlehre
Geschichte.
CD
P
CS
3"
a>
CO
5*
O
CT-
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
306
1. Konstanz und Variabilität der Fächerwahl.
Die Konstanzbetrachtung kann von zwei verschiedenen Standpunkten aus ge-
macht werden : ich kann mich als Beobachter undErzieher der einzelnen Schü-
lerin gegenüber stellen, ich kann die Werturteile auf die einzelne Schülerin be-
ziehen, ich kann Individualpsychologie treiben. Ich kann aber auch die Urteile
auf die ganze Klasse beziehen, ich kann fragen, wieviel mal etwa Rechnen
positiv, bzw. negativ gewertet wird bei den einzelnen Erhebungen von der Ge-
samtheit der Schülerinnen, wie ausgebreitet die Tendenz zu einer bestimmten
Wertung in der Klasse ist. Als Gruppenpsychologe frage ich nach dem bestimmten
Willens- und Wertungsrelief oder Willens- und Werthaltungsgepräge der Klasse
als eines Ganzen, das sich aus der Verarbeitung der Angaben der Schülerinnen
ergibt. Beide Betrachtungsweisen können dasselbe Ergebnis zeitigen. Dies ist
aber nicht notwendig, da? Willens- und Wertungsgepräge kann in allen diesen
Versuchen konstant sein, während die Werthaltung der einzelnen Schülerin völlig
wechseln kann. Wollte man in diesem Fall Schlüsse ziehen auf Grund der gruppen-
psychologischen Betrachtungsweise, dann würden diese nicht ganz den Tatsachen
entsprechen. Eine wichtige Ergänzung wird hier durch die individualpsycholo-
gische Betrachtungsweise geliefert; sie ist aber nur möglich, wenn man die Anony-
mität der Antworten beiseite läßt; nur in diesem Fall ist es möglich, die Antworten
derselben Schülerin zusammenzustellen.
Wir stellen uns nun
a) auf den Standpunkt des Individualpsychologen.
1. Auf die Konstanz der Fächerwahl wird in Tafel 1 aufmerksam gemacht.
Dort sind die Fächer, die während der 4 Versuche von derselben Schülerin wi e -
derholt entweder als beliebt oder als unbeliebt genannt wurden, im Druck her-
vorgehoben. M^ z. B. nennt als beliebtes Fach viermal nacheinander Geschichte,
als unbeliebte Fächer zweimal nacheinander Rechnen und zweimal (diesmal aber
nicht nacheinander) Lesen; M^^ nennt als beliebtes Fach zweimal Schönschreiben,
als unbeliebtes Fach dreimal nacheinander Diktat.
Diese Konstanzfälle sind nun in der folgenden Tafel zusammengestellt (Tafel 2).
Tafel 2: Konstanz der Fächerwahl.
Art der Wertung
Dasselbe
4 mal
Fach wurde
3 mal
genannnt
2 mal
Zusammen
[ nach-
! einander
3
3
30
36
überhaupt
noch
1
4
26
30
Beliebtheit <■
Summe der
i Konstanz-
fälle
Zahl der
i
3
58
7
56
66
möglichen
80
151
—
[ Fälle
1
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie.
20
306
-
Karl Köhn
Art der Wertung
Dasselbe
4 mal
Fach wurde
3 mal
genannt
2 mal
Zusammen
'
nach-
einander
2
9
1
22
3,
überhaupt
noch
—
5
9
14
Unbe-
liebtheit
Summe der
Konstanz-
fälle
2
14
31
47
Zahl der
möglichen
Fälle
28
60
105
1
Hier sind in der 1. (wagerechten) Zeile die Fälle zusammengestellt, in denen
vier, drei-, zweimal nacheinander dasselbe beliebte Fach genannt wurde, in Zeile 2
stehen die noch übrigen Fälle, in denen dasselbe Fach mehreremal (nun nicht mehr
nacheinander) als beliebtes genannt wurde; in Zeile 3 sind diese Fälle zusammen-
genommen. Entsprechendes gilt für die Unbeliebtheit. Bei M^ ist also ein Fall
zu zählen, in dem dasselbe Fach — Geschichte — viermal nacheinander als
beliebtes genannt wurde, ein Fall, in dem ein Fach — Rechnen — zweimal nach-
einander unbeliebt war und ein Fall, in dem ein Fach — Lesen — eben zweimal
(diesmal nicht nacheinander) als unbeliebtes genannt wurde. Entsprechendes gilt
für die übrigen Schülerinnen.
Die absolute Zahl der Konstanzfälle läßt keine Schlüsse zu; ja sie würde geradezu
auf falsche Schlüsse hinführen ; man könnte z. B. schließen, daß die Konstanz bei
der positiven Wertung eine größere ist als bei der negativen, dort sind es 66,
hier 47 Fälle ; wir werden später sehen, daß das Gegenteil gilt. Es muß dazu kom-
men die Angabe der möglichen Fälle. Diese Zahlen findet man auf Tafel 2 in
Zeile 4 und 8. Diese Zahlen erhält man durch einfaches Auszählen. Man wird
vermuten, daß für die einzelne Kategorie (viermal dasselbe Fach, dreimal usw.)
die Zahl der möglichen Fälle der Beliebtheit gleich ist der Zahl der möglichen Fälle
der Unbeliebtheit; tatsächlich sind es aber für die Kategorie viermal dasselbe
Fach dort 58, hier 28 mögliche Fälle. Die Zahlen für dieselbe Kategorie weichen
bei den verschiedenen Wertungen (positiv und negativ) stark voneinander ab.
Die Ursache ist aus Tafel 1 leicht zu erkennen : man beachte etwa die Angaben von
M20; dieses Mädchen hat viel mehr Angaben für die Beliebtheit als für die Unbe-
liebtheit. Diese Eigentümlichkeit geht durch. Es sind weniger mögliche Fälle bei
der Unbeliebtheit als bei der Beliebtheit, da dort weniger Urteile abgegeben wur-
den als hier.
Setzt man nun die Zahlen, welche die Konstanzfälle im einzelnen angeben, ins
Verhältnis zur Zahl der jeweils möglichen Fälle, dann erkennt man, daß die Zahl
der Konstanzfälle verhältnismäßig gering ist im Vergleich zu der Zahl der mög-
.3 17 1 56 1
liehen Fälle; denn man erhält für die Beliebtheit — --^ — i); r- '^ 77 ; 7^- '^ 5 5
00 17 oO 11 15! »j
3 1 3 1
*) — «N* — - soll bedeuten: — ist beinahe — — .
oo 17 58 17
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern. 307
, , . 2 1 14 1 31 1 . , , . , „ ,.
für die Unbeliebtheit — -^ 77; — ~ , ; ttt^'^ z', man ersieht hieraus, daß die
28 14 60 4 lOo 0
Konstanz verhältnismäßig gering ist. Wir dürfen also behaupten :
1) die Konstanz des Beliebtheits- und Unbeliebtheitsurteils ist
bei der einzelnen Person innerhalb größerer Zeiträume verhältnis-
mäßig gering.
Man kann nun auch eine Vergleichimg zwischen den Konstanzfällen der
Beliebtheit und denen der Unbeliebtheit vornehmen; dabei darf man aber
nicht bloß nach den absoluten Summenzahlen sehen. Ein besseres Bild geben die
oben angegebenen Verhältnis{Bruch-)Zahlen. Die absolute Summe dieser Brüche
ist nun beinahe gleich (0,48 gegen 0,52) ; die Konstanz ist demnach beinahe dieselbe
bei der Beliebtheit und bei der Unbeliebtheit, bei letzterer etwas größer als bei
ersterer. Daß sie bei der Unbeliebtheit tatsächlich größer ist als bei der Beliebtheit,
das sieht man sofort, wenn man die Konstanzfälle im einzelnen betrachtet. Ein
Konstanzfall, bei dem dasselbe Fach dreimal genannt ist, ist höher zu bewerten
als ein solcher, in dem dasselbe Fach nur zweimal genannt ist; diese Wertung er-
reicht einen noch höheren Grad, wenn die Nennung dreimal nacheinander erfolgt.
Entsprechendes gilt für viermalige Nennung. Wendet man diese Betrachtung
auf die Konstanzfälle an, dann sieht man : der Unbeliebtheit fallen mehr höher-
wertige Konstanzfälle zu als der Beliebtheit, dort sind es die Verhältniszahlen
1 l . .
— für viermalige, —für dreimalige Nennung, hier sind die entsprechenden Zahlen
14 4
— bzw. — ; dort wurde dasselbe Fach in 2 Fällen viermal nacheinander und in
17 11
9 Fällen dreimal nacheinander genannt, hier in 3, bzw. 3 Fällen. Es folgt
daraus :
2) Die Konstanz in der Werthaltung der Fächer ist größer auf
der Seite der unbeliebten Fächer als auf der der beliebten!), mit
andern Worten : die Abneigung gegen ein bestimmtes Fach ist im
allgemeinen ausgesprochener und anhaltender als die Zuneigung.
Endlich ist noch eine Vergleichimg möglich zwischen den verschiedenen Be-
gabungsgraden. Wir wählen zu diesem Zweck nur gut begabte und schwach
begabte Schülerinnen und achten auf die Verhältnisse zwischen diesen beiden
extremen Begabungsgraden. Von den 9 Schwachbegabten Schülerinnen ziehen
wir nur diejenigen in den Rahmen der Betrachtung, die alle 4 Versuche mitgemacht
haben, es sind dies 5, nämlich M^^, M^q M37, M^g und M^o', es bedarf wohl kaum
einer Begründung dieses Vorgehens. Dieser Tatsache entsprechend wurden eben-
falls 5 Schülerinnen guter Begabung gewählt, welche alle 4 Versuche mitgemacht
^) Die Konstanz verhält sich in beiden Fällen ungefähr wie 32: 23. Setzt man näm-
lich den Konstanzgrad bei viermaligem Auftreten gleich 100%, den bei dreimaligem
gleich 67%, den bei zweimaligem gleich 33% und den bei nur einmaligem, d. h. bei
ständigem Wechsel gleich 0 %, so erhält man aus obigenZahlen für die Beliebtheit 23%,
für die Unbeliebtheit 32%. Anm. von Dr. Deuchler.
20*
308
Karl Köhn
hab3n, es sind dies Mj^, M^^M^, M^ und ikf«.
(Tafel 3).
Die Konstanzfälle sind die folgenden
Tafel 3: Konstanzfälle extremer Begabungsgrade.
Begabungs-
grad
Beliebtheit
4 mal 3 mal 2 mal
Unbeliebtheit
4 mal 1 3 mal 2 mal genannt
gut
begabt
schwach
begabt
4
10
Man sieht, die Konstanz ist größer bsi schwach, bsgabten Schülerinnen als
bsi gut bsgabten; dies zeigt sich in den Summen; für die schwach begabten
Schülerinnen habsn wir bei der Bsliebtheit 11, bei der Unbeliebtheit 9 Konstanz-
fälle, bai den gut bsgabten dort 6 und hier 7, in bsiden Fällen sind es also auf der
Ssite der schwach bsgabten Kinder mehr Konstanzfälle; dasselbe folgt auch aus
der Bstrachtung der Konstanzfälle im einzelnen. Bei der Beliebtheit kommen auf
die viermalige Nennung desselben Faches je ein Fall, bei der dreimaligen bei den
gut begabten einer, bei den schwachen 0 Fälle, dieser Abmangel wird aber durch
die zweimalige Nennung reichlich ausgeglichen; denn dort sind es 4, hier 10 Fälle.
Noch bestimmter als bei der Bsliebtheit liegen die Verhältnisse bei der Unbeliebt-
heit (s. die Tafel). Daraus folgt:
3) Das gut begabte Kind ist in der Wertung, bzw. Wahl eines Un-
terrichtsfaches viel veränderlicher als das schwach begabte.
Die Ursache liegt in der größeren und reicheren Entwicklungsfähigkeit des gut
bsgabten Kindes. Ein Bsispielsoll dies zeigen. M^, das Mädchen auf dem letzten
Klassenplatz, hat nur 3 Versuche mitgemacht (s. Tafel 1). Es nannte als unbe-
liebtestes Fach dreimalDiktat, das ist begreiflich, denn es konnte selbst im 7. Schul-
jahr nur leichte Wörter fehlerlos schreiben; es nannte zwei mal Lesen als beliebtestes
Fach; das kann es noch verhältnismäßig gut. Können und Nichtkönnen heben
sich bsi schwach bsgabten Schülerinnen scharf voneinander ab. Anders ist dies
bei M^ oder M^ (Tafel 1). Die Fertigkeit ist im allgemeinen in verschiedenen Fä-
chern beinahe gleichgroß; wechselnde Einflüsse bestimmen hier das Urteil und
rufen Veränderungen in der Fächerwahl hervor.
2. Zur bisherigen Konstanzbstrachtung möge ergänzend eine Überlegung über
die Variabilität der Wertung hinzutreten.
Aus Tafel 1 ist bei genauer Betrachtung eine Eigentümlichkeit in der
Wertung zu erkennen *). Bei M^ z. B. ist Lesen zunächst zweitunbeliebtes, dann
zweitbsliebtes, schließlich wieder zweitunbeliebtes Fach. Dieser Umschlag der
Wertung von der positiven Seite zur negativen oder umgekehrt ist auch bei Mg,
M.2Q, Mqo usw. zu bemerken. Eine Zusammenstellung dieser Fälle gibt die fol-
gende Tafel (4); sie gibt einen Überblick über die Schwankung des Urteils,
bzw. der Wertung bei derFächerwahl.
*) Leider ließ sie sich im Druck nicht deutlicher machen, da Pfeile in die Tafel
schwer einzusetzen sind.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
309
Tafel 4: Variabilität der Wertung.
Die Wertung schlug um
o
(D
O
9
d
TS
u
Xi
von zu
1 . beliebt — 1. unbeliebt
•l • •» •^' »
2. „ -1. „
2. ,. —2.
- 1
beliebt — unbeliebt
] . unbeliebt — 1. beliebt
1. „ —2. „
2. „ —1. „
2. .. —2. ..
unbeliebt — beliebt
15
1
12
zusammen
8
1
27
1
Am häufigsten trat die ,, Umwertung" ein beim Lesen, dann
folgt Rechnen — bei diesem Fach, allerdings nur einseitig — ,
ihm schließt sich an Diktat, in einigem Abstand folgen Ge-
schichte, Erdkunde usw. Überall ist — mit Ausnahme von Rechnen, —
weniger bedeutend auch bei Natur lehre und Singen — der Umschlag häufiger von
der negativen zur positiven Seite als umgekehrt, man darf daher wohl behaupten :
die Beliebtheit der Unterrichtsfächer nimmt im großen ganzen
mit dem wachsenden Alter der Schülerinnen zu.
Als Motive , die eine Umwertung herbeiführen, kommen nach den Beobachtun-
gen des Klassenlehrers in der Klasse und nach den Aufzeichnungen der Schülerin-
nen in Betracht:
1) Beim Lesen z. B. die besondere Art des dem Unterricht zugrunde liegenden
Lehrstücks und die Form seiner Verarbeitung; sie erregen Lustgefühle oder auch
Unlustgefühle, nach denen sich die Wertung richtet. Waren die Lesestücke lang,
unterhaltend — besonders voll Humor — und wurden sie nur einmal gelesen,
dann gefiel dieses Fach, andernfalls mißfiel es; damit ist der doppelte Umschlag
im Lesen bei M^ zu erklären.
2) Wurden die Anforderungen in einem Fach gesteigert, dann trat ein Umschlag
ins Negative ein. Dies war zu beobachten im Rechnen, besonders im Kopfrech-
nen, so bei M30, wo ein intensiverer Betrieb dieses Faches und schwierigere Auf-
gaben die Ursache zur Umwertung wurden; beim Rechtschreiben, bei ilfig, wo
durch die unvorbereiteten Diktate — bisher waren sie vorbereitet — die An-
forderungen wuchsen.
3. Sobald sich mit zunehmendem Alter ein Können entwickelte, schlug die Wer-
tung ins Positive um. Dies war im Rechtschreiben besonders bei gut begabten
Schülerinnen, z. B. bei Mg, zu beobachten.
310 Karl Köhn
4) Tritt Freitätigkeit, besonders freie WaH des Gegenstandes, mit dem man sich
zu beschäftigen hat, an Stelle des Zwangs, des Vorgeschriebenen, so kann ein
Umschlag vom Negativen ins Positive eintreten. Diese Freitätigkeit trat besonders
als Wahlfreiheit in der Auswahl der Themen im Aufsatz (,, freier Aufsatz") auf,
darauf ist der Umschlag zurückzuführen bei Mig und Mzi.
5) Endlich kann die Umwertung erfolgen auf Grund der erkannten stärkeren
oder seil wacheren Beziehungen des Unterrichtsfaches zur Heimat oder zum Leben
des Kindes, besonders in Geschichte und Erdkmide. Bei Mn z. B. war die Wer-
tung der Erdkunde zunächst eine positive, wurde dann negativ imd dann wieder
positiv und blieb auch im 4. Versuch positiv. Beim 1. Versuch wurde Asien be-
handelt, es wirkte aber neben der Neuheit des Gegenstandes das kurz vorher be-
handelte Europa herein; beim 2. Versuch handelte es sich immer noch um Asien,
dem aber um diese Zeit wenig Beziehungen zur Heimat abgewonnen werden
konnten; baim 3. Versuch wurden die deutschen Kolonien in Afrika und Afrika
selbst, beim 4. deutsche Wirtschaftsgeographie behandelt; je bestimmter die Be-
ziehung zur Heimat (und zum Leben) wurde, desto bestimmter war die positive
Wertung.
Fassen wir die einander ergänzenden Betrachtungen über Konstanz und Variabi-
lität der Fächerwahl bzw. der Wertung zusammen, dann dürfen wir sagen: Die
Fächerwahl, bzw. die Wertung derselben zeigt verhältnismäßig
große Schwankungen im Gesamtverlauf der Versuche. Die Ursache derselben
ist in der Vielgestaltigkeit der Motive begründet, welche die Fächerwahl,
bzw. ihre Wertung bestimmen.
b) Wir nehmen nun den Standpunkt des Gruppenpsychologenein und fragen
nach dem Willens- und Wertungsgepräge der Klasse als eines
Ganzen, bzw. nach der Konstanz desselben.
Der Einfachheit halber ist zur Bestimmung dieser Konstanz die Methode
der Rangkorrelationen benützt. Es wird dabei in folgender Weise vorge-
gangen : auf Grund der Nennungen kann für jeden einzelnen Versuch eine Häufig-
keitstafel aufgestellt werden, sowohl für die an L Stelle als beliebt genannten
Fächer als auch für die zweitbeliebten; ebenso für die unbeliebten. Es können aber
auch die Nennungen für das 1. und 2. beliebte Fach zusammen genommen
werden, ebenso die für das L und 2. unbeliebte^). Man erhält auf diese Weise
für den 1. Versuch für die Beliebtheit für Rechnen 16, für Lesen 11, für Konfirman-
denunterricht 10, . . . für Zeichnen und Singen je .5 Nennmigen usw. ; für die Un-
beliebtheit im Rechtschreiben 14, in Erdkunde 10 usw. Nennungen. Die Beliebt-
heitsfächer lassen sich für jeden Versuch nun nach ihrer Häufigkeit in eine Reihe
bringen, diese Reihe lautet beim 1. Versuch: 1. Rechnen, 2. Lesen, 3. Konfirman-
denunterricht, 4. Erdkunde, 5 imd 6. Zeichnen und Singen, 7. usw.; beim 2. Ver-
such: 1. Lesen, 2. Rechnen usw. Auf diese Weise erhält man vier Reihen für die
Beliebtheit der Fächer, auf dieselbe Weise erhält man auch vier Reihen für die
Unbeliebtheit. (Die aus den absoluten Zahlen gewonnenen Prozentzahlen,
nach denen sich diese Reihen bilden lassen, finden sich auf Tafel 9.) Eine
Zusammenstellung, in der die jeweilige Stellung des Faches in der betreffenden
Versuchsreihe angegeben ist, findet sich auf der folgenden Tafel 5.
^) Für die Begründung dieses Vorgeheiis sind auf S. 318 Gesichtspunkte ange-
geben.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
311
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312
Karl Köhn
Das Vorgehen bsi der Bestimmung der Korrelationskoeffizienten ist von
Deuchler auseinander gesetzt und begtündet worden^). Es kann daher unter-
lassen werden, zu zeigen, wie die Werte gewonnen werden. Die Werte selbst sind
in der folgenden Tafel 6 zusammengestellt.
Tafel 6: Korrelation der Fächerwahl.
1. Beliebtheit.
Reihe
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I— IV
II— III
II— IV
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-1 0,40
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2. Unbeliebtheit.
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+0,43
+0,37
+0,45 4-0,44
±0,08
Die angegebenen Korrelations werte sind ein Maß für die Konstanz der Häufigkeit
des Vorzugs- bzw. Ablehnungsurteils der Klasse, diese als Ganzes betrachtet.
Sie besagen folgendes : wäre die Korrelation gleich + 1 oder nahe bei + 1, so hieße
das, die Bsliebtheit, bzw. die Unbeliebtheit haben bei denselben Fächern eine
konstante Häufigkeitsordnimg — bei den einzelnen Schülern kann dabei immer
noch eine Änderung in der Bevorzugung oder Ablehnung der Fächer eintreten — ,
dies würde sich in der oben angegebenen Tafel 5 oder Häufigkeitsordnung der
Werturteile darin zeigen, daß die beiden aufeinander bezogenen Häufigkeits-
ordnungen, etwa I und II, dieselben oder nahezu dieselben wären. Sind die Werte
kleiner als +1, dann folgt daraus, daß das Beliebtheits-, bzw. Unbeliebtheits-
urteil von einem zum aiidern Versuch sich ändert, daß also das Willens- imd
Wertungsgepräge der Klasse von einem zum andern Versuch em anderes wird,
daß es sich auf andere Fächer bezieht, daß also die "Häufigkeitsverteilung eine
andere wird; mit solchen Fällen haben wir es in Tafel 5 und 6 zu tun.
Die in Tafel 6 angegebenen tatsächlichen Werte sagen nun :
1) daß die Häufigkeitsrangordnung in den aufeinander folgenden Versuchen
zwar nicht in besonders hohem Maße gleich bleibt, sonst müßte der Korrclations-
koeffizient dem Wert + 1 nahe kommen, daß sie sich aber auch nicht nach
Belieben ändert, denn sonst müßte di im wesentlichen ^ 0 sein, sondern daß
eine gewisse Konstanz vorhanden ist, sowohl in Beziehung auf den
Fortschritt von einem Versuch zum andern, das zeigen die Extremwerte + 0,57
und + 0,26, als auch im großen ganzen, darauf weisen die Durchschnittswerte
von +0,40 und +0,44 hin; diese Konstanz ist eine solche von nahezu
*) G. Deuchler, Über die Methoden der Korrelationsrechnung in der Pädagogik
und Psychologie. Zeitschrift iür pädag. Psychologie, XV. Jahrgang, 1914, S. 146 tf.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 313
mittlerem Grad; anders ausgedrückt: das Willens- und Wertungs-
gepräge der Klasse als Ganzes ändert sich nicht beliebig im Ver-
lauf der Schulzeit, sondern weist einen gewissen konservativen
Zug, eine Konstanz von nahezu mittlerem Grade auf.
2) Diese Konstanz wird eine geringere, sobald bedeutende, vonein-
ander verschiedene Ereignisse aufs Schulleben einwirken. Dies
zeigt sich in der Beliebtheitsreihe I — III, hier ist der Krieg die Ursache, daß
ffi nur gleich 0,32 wird, ebenso bei I — IV; hier ist's die Konfirmation mit ihrem
Drum und Dran, und bei III — IV, hier kommt der Wettstreit der Ereignisse Krieg
(Versuch III) und Konfirmation in der Höhe ^ = 0,26 deutlich zum Ausdruck.
3. Es scheint auch charakteristisch zu sein, daß das (positive) Vorzugs-
urteil veränderlicher ist als das negative. Darauf weist Verschiedenes
hin: Der Durchschnittswert der Korrelations koeffizienten ist bei der Beliebtheit
gleich 0,40, bei der Unbsliebtheit gleich 0,44; ebenso sind die Koeffizienten dort
mehr verschieden (0,57 und 0,26) als hier (0,57 und 0,37), was sich in der größeren
Streuung +0,10 gegen +0,08) ausdrückt.
Dies ist gut verständlich: für das positive Vorzugsurteil kommen mehr
Faktoren in Frage als für das negative. Ich nenne nur die Neuheit
sowohl des Unterrichtsfaches, etwa des Konfirmandenunterrichtes, als auch des
Lehrers, der Geistliche im neu beginnenden Konfirmandenunterricht. Diese
Faktoren sind bei dem Wechsel viel stärker unterworfen als die
das negative Urteil bestimmenden. Dies zeigt sich wieder an der Neuheit ;
sobald der Konfirmandenunterricht nicht mehr neu ist, wechselt auch die Wer-
tung; dasselbe zeigt die Wertung der Handarbeit: im 3. Versuch wirkte der Krieg
und seine Folgen als neues Ereignis herein, die Wertung wurde positiv, im 4. Ver-
such war nichts mehr von Neuheitswirkung zu bemerken, die Wertung
wechselte.
Wir fassen das Ergebnis der Konstanz- und Variabilitätsbe trachtung zu-
sammen: die Fächerwahl bzw. die Wertung derselben weist innerhalb
größerer Zeiträume eine verhältnismäßig große Schwankung,
bzw. eine Konstanz von nicht ganz mittlerem Grade auf; dies gilt
sowohl für die Werthaltung der einzelnen Schülerin — Standpunkt der
Individualpsychologie — als auch für das Willens- und Wertungs-
gepräge der Klasse als Ganzes — Standpunkt der Gruppen psychologie.
2. Die tatsächliche Fächerwahl und ihre wahrscheinlichen
Ursachen.
Einen Ein blick in die tatsächliche Fächerwahl gibt Tafel 1 . Auf Grund der voll-
ständigen Tafel, der diese Beispiele entnommen sind, läßt sie sich zahlenmäßig
darstellen. Man kann nun in zweifacher Weise vorgehen. Man kann in eine Tafel
die Anzahl der Nennungen des 1. beliebten, 2. beliebten usw. Faches aufnehmen.
Diese Tafel der Rohwerte gestattet aber nur einen Vergleich innerhalb desselben
Versuchs, da ja die Zahl der Versuchspersonen von Versuch zu Versuch wechselte.
Will man Häuf igkeits werte, die einen Vergleich durch alle Versuche und schließ-
lich auch mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen gestatten, dann muß
man Prozentzahlen berechnen. Man kann dabei so vorgehen, daß man die Zahl
der Nennungen des Faches in der betreffenden Wertkategorie (1., 2. beliebtes usw.)
314 Karl Köhn
ins Verhältnis setzt zur Summe der Nennungen dieses Faches in der betreffenden
Wertkategorie und diese Verhältniszahl mit 100 vervielfacht; man erhält also
Zahl der Nennungen des Faches einer -Wertkategorie
Summe der Nennungen des Faches einer Wertekategorie
so, dann erhält man als Häufigkeitszahlen die Werte der Tafel 7.
Es sollen einige Bemerkungen zu dieser Tafel folgen :
a) Die Fächerwahl erstreckt sich auf vier Wertungskategorien.
Die Hauptfrage, die sich mit Hilfe dieser Tafel lösen läßt, ist: Welches ist
das beliebteste, das unbeliebteste usw. Fach?
a) Das beliebteste Fach ist hier besonders ausgezeichnet. Die Häufigkeits-
zahlen für dieses Fach sind im I. Versuch 30, im II. 17i/2, im III. 64^4, im IV. 50.
In den anderen Kategorien bleiben die Häufigkeitszahlen im großen ganzen unter
diesen Werten. Innerhalb der Kategorie bleiben die übrigen Häufigkeitswerte —
ausgenommen ist der II. Versuch — beträchtlich unter denen für das beliebteste
Fach. Die Nennungen häufen sich also innerhalb dieser Wertungskategorie
stärker als in anderen um ein bestimmtes Fach. Bezieht man dies auf die Klasse,
dann kann man sagen:
1) In der Klasse ist zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Fach als
beliebtestes in der Gesamtheit der Fächer deutlich herausgehoben.
Dieses Maximum wird im I. Versuch im Rechnen, im II. neben dem Rechnen
auch im Aufsatz, im III. in der Handarbeit und im IV. vom Konfirmandenunter-
richt erreicht; es findet also ein Wechsel zwischen verschiedenen Fächern statt;
man darf daher wohl annehmen:
2) die Heraushebung eines Faches als beliebtestem wechselt
innerhalb größerer Zeiträume zwischen verschiedenen Fächern.
Die Häufigkeitswerte beim erstbeliebten Fach schwanken beim I. Versuch
zwischen 0 mid 30%; die Nennungen sind dabei auf 11 Fächer verteilt; beim
II. Versuch wird das Maximum schon bei 17 ^% erreicht, es sind diesmal 15 Fächer
genannt. Es ist also beidemal eine verhältnismäßig große Zahl von
Fächern und eine verhältnismäßig geringe Schwankung. Dies wird
anders beim III. und IV. Versuch. Beim III. Versuch liegt das Maximum bei
64^% (Handarbeit), die Zahl der genannten Fächer hat sich nun um mehr als
die Hälfte verringert, sie ist auf 7 gesunken, was auf Einwirkungen besonderer
Art hinweist. Es ist der Krieg, der gesteigert und gesammelt hat. Ähnlich
ist es beim IV. Versuch. Hier wird das Maximum bei 50% erreicht bei einer Ver-
teilung auf 11 Fächer. Auch hier machen sich Einflüsse geltend, die die Schülerin-
nen in besonderer Weise in Anspruch nphmpn : die in naher Zukunft stehende Kon-
^) Diese Art der Verrechnung weicht von der bisher gebräuchlichen ab. W. Stern
z. B. führt aus (Zeitschrift für pädag. Psychologie, VII, 1905, S. 272): Die Berechnun-
gen ,,sind stets prozentuell: die abfeolute Zahl der Vorzugs- ( + ) oder Ablehnungs- ( — )
Urteile wurde ins Verhältnis gesetzt zu derjenigen Schülerzahl, die in dem Fach unter-
richtet wurde." Diese Art der Verrechnung hat einen Sinn, wenn die Schüler alle ein
bzw. zwei, bzw. vier Urteile abgegeben haben. Bei den durchgeführten Versuchen
hat nun eine größere Zahl von Schülern nur drei bzw. zwei Urteile in einem Versuch
abgegeben. Bei dieser Art der Verrechnvmg würde die Sujnme der Prozentzahlen beim
zweitunbeliebten Fach beim I. Versuch gleich 45. beim IV. sogar nur 37. % sein. Sollen
es Prozentzahlen sein, dann muß die Summe jedesmal gleich 100 werden. Dies wird
erreicht bei der durchgeführten Verrechnung.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
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316 Karl Köhn
firmation bindet einen bedeutenden Teil der geistigen Energie und lenkt sie in
eine bestimmte Richtung, wodurcli sie einer Reihe von anderen Unterrichtsfächern
entzogen wird. Beachtenswert ist bei beiden Fächern, daß sie in normalen Zeiten
in der Wertung ziemlich tief stehen : bei der Handarbeit sind es 0, 2 ^, 64 ^, 0 % ;
beim Konfirmandenunterricht 3, 5, 0, 50%. Daß die Steigerung auf 50 und 64^4%
nicht durch Kräfte herbeigeführt werden kann, die aus dem Unterricht entsprin-
gen, leuchtet durchaus ein.
Im Hinblick auf die geschilderten Verhältnisse darf behauptet werden :
3). verhältnismäßig geringe Schwankungen in der Häufigkeit der
Nennung, Verteilung der Nennungen auf eine verhältnismäßig
große Zahl von Unterrichtsfächern ist typisch für normale Unter-
richtsverhältnisse, normale Begabungsverteilung und normalen
Unterrichtsbetrieb. Ist die Verteilung eine andere, dann muß man erwarten,
daß es irgendwo fehlt; dann sind gewisse äußere Verhältnisse vorhanden, die auf
das Schulleben hereinwirken, dann ist die Klasse einseitig begabt oder ist der
Unterricht des Lehrers kein gleichmäßiger, d. h. dann bevorzugt er — als Klassen-
lehrer, der beinahe in allen Fächern unterrichtet — manche Fächer, während er
andere vernachlässigt.
ß. Beim zweitbeliebten Fach liegt das Maximum beim I. und II. Versuch
bei 25, beim III. bei 16^, beim IV. bei 13^%; die Nennungen sind auf 11 — 13
Fächer verteilt. Auf eine Eigentümlichkeit muß hier besonders aufmerlcsam ge-
macht werden : beim III. Versuch wird das Maximum von zwei, beim IV. sogar von
vier Fächern erreicht, beim I. und beim II. Versuch erreicht beidemal ein 2. Fach
beinahe das Maximum. Man darf behaupten:
4) Ein einzelnes zweitbeliebtestes Fach läßt sicli in der Klasse
als Ganzem kaum aufzeigen.
y) Beim erstunbeliebteii Fach schwanken die Häufigkeitswerte zwischen
39 und 0 %, die Maxima liegen hier zwischen 25 und 39 %. Beim beliebtesten Fach
liegen sie zwischen 17^ und 64^%. Man erkennt daran die geringe Höhe der
Maxima beim erstunbeliebtesten Fach. Die nächstniederen Häufigkeitswerte
liegen zwischen 18^ und 25%; die Verteilung erstreckt sich auf 7 — 11 Fächer.
Daraus folgt: die Nennungen sind um ein Fach gehäuft, die Häufigkeit ist in
allen vier Versuchen beinahe dieselbe ; es finden um einige andere Fächer herum
ebenfalls Häufungen statt, die von geringerem Grade sind, relative Maxima. Es
darf demnach behauptet werden:
5) Ein bestimmtes Fach wird als unbeliebtestes aus der Reihe
der Unterrichtsfächer herausgehoben; diese Heraushebiing ist
beim unbeliebtesten Fach keine so deutliche wie beim beliebtesten.
Man kann hier wieder nach dem Wechsel innerhalb der Fächerreihe fragen.
Das unbeliebteste Fach des I. Versuches ist Erdkunde (25%), darauf folgt Recht-
schreiben (19 %); im II. Versuch ist es Rechtschreiben (31%), im III. Rechnen
(36%), dann folgt wieder Rechtschreiben (25%), im IV. wieder Rechtschreiben
(39%):
6) Ein Wechselinnerhalb der Fächerreihe, tritt beim unbeliebte-
sten Fach überhaupt nicht oder nur selten ein innerhalb größerer
Zeiträume.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
317
6) Beim zweitbeliebteu Fach werden die Maxima zwischen 18 und 45%
erreicht; die nächstniederen Häuf igkeits werte liegen zwischen 10% und 21^4%,
die Maxima sind also ziemlich deutlich zu erkennen :
7) Das zweitunbeliebteste Fach wird also ziemlich deutlich aus
der Reihe der Fächer herausgehoben.
Fassen wir diese Darlegung übsr das bsliebteste bzw. unbsliebteste Fach zu-
sammen: das beliebteste Fach ist in jedem Versuch deutlich zu erkennen,
es ist Rechnen (T), Rechnen bzw. Aufsatz (II), Handarbeit (III), Kon-
firmandenunterricht (IV); weniger deutlich, aber doch noch bestimmt
hebt sich das unbeliebteste Fach heraus, es ist Erdkunde (I), Rechtschrei-
ben (II und IV), und Rechnen (III); auch ein zweitunbeliebtestes kann man
noch mit einiger Sicherheit nennen; am wenigsten bestimmt ist das
zweitbeliebteste Fach.
Die bisherige Betrachtung läßt sich ergänzen. Wir haben bisher die Häufigkeit
der Nennungen für das einzelne Fach berücksichtigt. Wir können nun auch Sum-
men bilden und die Summen für die einzelnen Kategorien usw. miteinander ver-
gleichen. Dabei läßt sich die bisher benützte Tafel 7 nicht mehr verwenden, da
wir ja dort Prozentwerte haben. Wir gewinnen diese Summenzahlen am besten
aus der Tafel der Roh werte (Beispiel hiervon s. Tafel 1). Damit sich die Werte
vergleichen lassen, berücksichtigen wir nur die Fälle, in denen die Schülerinnen
sämtliche vier Versuche mitmachten. Zählen wir nun alle Nennungen einer
Kategorie in allen vier Versuchen zusammen, so erhalten wir :
Tafel 8: Summe der Vorzugs-, bezw. Ablehnungsurteile
Wertung
Anzahl
der Urteile
1. beliebtes Fach
2. beliebtes Fach
116
116
Wertung ( — )
Anzahl
der Urteile
1. unbeliebtes Fach
2. unbeliebtes Fach
Beliebt (zusammen)
232
Unbeliebt (zusammen)
110
59
1€9
Sieht man in der Anzahl der abgegebenen Urteile ein Maß für die Schwierig-
keit der Urteilsbildung, dann kann man sagen:
8) Es fällt dem Schüler verhältnismäßig leicht, das beliebteste
bzw. zweitbeliebte Fach zu nenneji, schwerer ist für ihn das un-
beliebteste, am schwierigsten das zweitunbeliebte Fach zu nennen;
denn dort wurden je 116, hier 110 bzw. 59 Urteile abgegeben.
Man kann nun auch die Summenzahlen für die Vorzugsurteile mit denen für die
Ablehnungsurteile vergleichen, es sind 232 und 169; dort sind es bedeutend mehr
als hier. Kommt darin die gemütliche Wirkung des Unterrichts bzw. des Schul-
lebens auf das Schulkind zum Ausdruck, dann darf man behaupten:
9) Die Gemüts- bzw. Gefühlswerte, die dem Schüler aus dem Schul-
leben mit seiner Unterrichtsgestaltung fließen, sind mannigfalti-
ger auf der positiven als auf der negativen Seite.
Endlich kann man die Verteilung der Vorzugs- bzw. Ablehnungsurteile auf die
verschiedenen Begabungsgrade berücksichtigen. Es genügen für unsere Zwecke
die beiden extremen Begabungsgrade, gut und schwach begabt. Wir berücksich-
318
Karl Köhn
tigen die Verhältnisse bei M^, M^, Afg, M7 und M^ einerseits und M^, M^^, M37,
Mss und M40 andererseits. Es sind dieselben Schülerinnen, die wir früher schon
(S, 308) zum Vergleich herangezogen haben. Die Zusammenstellung der Urteile
gibt Tafel 9.
Tafel 9: Zusammenstellung der Urteile gut begabter und schwach begabter
Schülerinnen.
Gut begabte Schülerinnen
Schwach begabte Schülerinnen
Wertung ,^-Sue
Wertung
Anzahl
der Urteile
1. beliebtes Fach ... 20 |
2. beliebtes Fach • • • 1 20
1. beliebtes Fach . . .
2. beliebtes Fach . . .
20
20
1 1
1. unbeliebtes Fach . . | 19 j
2. unbeliebtes Fach • • j H i
1. unbeliebtes Fach
2. unbeliebtes Fach . .
20
15
Über die bsliebtesten Fächer sind von beiden Gruppen gleichviel Urteile ab-
gegeben worden. Über die unbeliebten Fächer wurden von den schwach begabten
Schülerinnen mehr Urteile abgegeben als von den gut begabten; die schwach be-
gabten Schülerinnen lehnen also mehr Fächer ab als die gut begabten. Damit
stimmen sonstige Erfahrungen bei diesen Versuchen überein. Das gut begabte
Mädchen M^ z. B. erklärte, es könne kein zweitunbeliebtes Fach, überhaupt kein
unbeliebtes Fach nennen, es „treibe alle Fächer gern"; schwach begabte dagegen
hätten gern eine ganze Reihe von imbeliebten Fächern genannt. Sieht man hierin
wieder ein Zeichen für die verschiedene Gemütswirkung des Unterrichts, dann
darf man behaupten :
10) Die gut begabten Schülerinnen erfahren durch den Unter-
richt weniger Gemütshemmungen als die schwach begabten.
b) In den folgenden Betrachtungen beziehen wir die Fächerwahl nicht
mehr auf vier, sondern nur noch auf zwei Wertungskategorien, auf die
Kategorien beliebt und unbeliebt.
Dadurch werden die folgenden Zusammenstellungen einfach und übersichtlich.
Dies ist notwendig. Man könnte dies dadurch erreichen, daß man nur das erst-
beliebte und erst unbeliebte Fach berücksichtigen würde und die übrigen fallen
ließe. Man sieht aber aus Tafel 7, daß das nicht der richtige Weg wäre. Beide,
das erstbeliebte und das zweitbeliebte Fach, entsprechend auch die unbeliebten
Fächer, ergänzen einander und werden daher zweckmäßigerweise zusammen
genommen. Darauf weisen auch Bemerkungen der Schülerinnen hin; sie sagten
häufig: ,,Das zweite Fach treibe ich eigentlich so gerne wie das erste". Man
könnte nun so vorgehen, daß man in Tafel 7 die Häufigkeitswerte von je zwei ent-
sprechenden Kategorien (1. und 2. beliebtes, bzw. 1. und 2. unbeliebtes Fach)
für jedes einzelne Fach zusammen nimmt. Dann erhält man aber keine Prozent-
zahlen. Will man diese erhalten, dann muß man noch durch zwei teilen; denn
die Summe der Prozentzahlen für zwei Kategorien ist 200.
Man kann natürlich diese Prozentzahlen auch aus den Summenzahlen der
tatsächlichen Nennungen eines Faches berechnen, man hat dann zu rechnen
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
319
Summe der Nemimigen eines Faches in zwei Katep:orien
X 100. Diese Art der
Summe der Nennungen aller Fächer dieser Kategorien
Verrechnung ist der andern vorzuziehen, da sie genauere Werte gibt; denn in
Tafel 7 wurden die Zahlen auf- bzw. abgerundet. Man erhält auf diese Weise
die Werte von Tafel 10^) (S. 320).
Diese Tafel bedeutet in mancher Hinsicht einen Fortschritt gegen Tafel 7.
Das verschieden große Gewicht, das dort einer Nennung in den verschiedenen
Kategorien bei verschiedenen Versuchen zukommt, hat für die Erörterungen, die
sich an diese Tafel anschloß, keine nachteiligen Folgen. Für die nun folgenden
Darlegimgen könnte es bedeutsam werden. Durch die^ große Zahl der Nennungen
wird dies nun ausgeglichen; nun ist das Gewicht jeder Nennung für jeden Fall
beinahe dasselbe.
Wir können nun in dieser Tafel ein Abbild des Willens- bzw. Wertungsgepräges
der Klasse als eines Ganzen erblicken ; darauf haben wir früher schon hingewiesen.
Wir können sie aber auch so ansehen, daß sie zum Ausdruck bringt, welche
Fächer mit Gefühlen behaftet sind, in welcher Weise und dgl.
a) Mit Hilfe von Tafel 10 läßt sich für jeden Versuch eine Betontheitsreihe
aufstellen. Wir gehen dabei so vor, daß wir die Prozentzahlen für die Beliebtheit
und für die Unbeliebtheit zusammenzählen und wieder durch zwei teilen. Nach
der Höhe dieser Zahlen lassen sich dann die Fächer in eine Rangordnung bringen.
Wir geben einen Ausschnitt aus dieser Zusammenstellung.
Tafel 11 2): Ausschnitt aus einer Betontheitsreihe.
Versuch
Recht-
schreiben
Rechnen
Lesen
Aufsatz
Turnen
Sprach-
lehre
I
(1.)
15
(6.)
'- 13"
(3.)
4
(8.-9.)
IV.
(11.-19.)
0
(11.-19. ;
11
1
(2.)
12 V.
(1.)
IIV.
3.
8^/4
(6.)
3V.
(10.-11.)
0
(19.)
III
14V4
(2.)
14
(3.)
7
(6.)
7V.
(5.)
IV.
(12.— 14.)
IV4
(12.— 14.)
IV
15V.
(1.)
14 V»
(2.)
3V.
(9.-10.)
9V,
• (5-)
0
V,
(17.)
Durch-
schnitt
UVa
li'U
9
1 vu
1
IV.
1
V,
1
Es ist hier Rechtschreiben ein mittel bis stark betontes, Rechnen ein mittel
betontes, Lesen und Aufsatz ein schwach betontes und Turnen und Sprachlehre
ein unbetontes Fach. Die Berechtigung dieser Bezeichnungen folgt aus späteren
^) Man könnte ini Zweifel über die Berechtigung dieser Verrechnung in den Fällen
sein, in denen ein Fach nur in einer Kategorie genannt ist statt in zwei. Es handelt
sich, wie aus früheren Ausführungen folgt, n\ir vun die Unbeliebtheit. Hier ist eben die
eine Nennung als zweifache Nennung aufzufassen. Denn man denkt sich eben die Lage
80, daß die Unbeliebtheit so ausgedehnt ist, daß dieses Fach an 1. und an 2. Stelle 7u
stehen kommt.
*) Die in Klammer gesetzten Zahlen geben die Stellung innerhalb der Unbeliebl-
heitsreihe für den betr. Versuch an.
320
Karl Köhn
<
M
1— <
M
l-l
1— 1
<
<-t
OD
C5
beliebt
unbeliebt
CD K
er <^
et-
ö er
er* CD
CD K
tr; CD
er ^
(2
CS u-
CT CD
CD P
K CD
a> 0"
u" «■
Wertung
S
<Ä 0
Go 10
Rechnen
i -^
oo Ol
=- g
»^ 1— '
Lesen
1 Ül
j
1 •<-
1 i"'
1 )f>-
Konfirm.-
Unterricht
fco «0
^ :^
Erdkunde
h* Hb
Co bO
1 ^
Oi -4
Zeichnen
^ W
1 -
1 1
i
Singen
§
Recht-
schreiben
'=^ 00
n^ 1^
i
Aufsatz j
-5 w
^ Ol
s »^
Geschichte
1 !
1 ^
1 ^
1
Bibl.
Geschichte
! 1
^ !
~^ 1
1 ^
Turnen
^ 1
1 1
^ ^
1 t— '
Memorieren
4k
«NO ,_:;
Naturlehre
1 ;^
•^ ^
1 Oi .^
►—1
10^
Schön-
schreiben
i
1 '^
1 1
1 1
Sprachlehre
^ 1
1 1
5S V -
1 1
Repe-
titionen
1 ^
1 1
s<a ~c
'*^ 1
Natur-
geschichte
!
1 Ol
1 -S
i 1
Handarbeit
i 1*^
i i
i 5
1 '
Religions-
unterricht
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 321
Darlegungen. Wir dürfen also behaupten: Die Gefühlsbetontheit, bezogen
auf die Klasse als Ganzes, ist am meisten ausgebreitet beim Recht-
schreiben und beim Rechnen, weniger beim Lesen und Aufsatz,
hierher ist auch Geschichte, Erdkunde zu rechnen; keine oder kaum
eine Gefühlsbetontheit ist zu verzeichnen bei Turnen, Sprach-
lehre, Naturgeschichte, Naturlehre, Schönschreiben, Memorieren,
Religionsunterricht, Biblischer Geschichte.
ß) Die bisherige Betrachtung soll durch eine weitere ergänzt werden, die
etwas andere Wege einschlägt.
Diese knüpft zimächst an Ausführungen W. Sterns an. Die Beliebtheits-
und Unbaliebtheitsurteile scheiden sich deutlich in vier Gruppen. Die erste Gruppe
wird gebildet durch die Fächer mit weit überwiegender Beliebtheit: ,, positive
Fächer"; die letzte Gruppe durch diejenigen mit weit überwiegender Unbeliebt-
heit: ,, negative Fächer". Dazwischen stehen die ,, indifferenten Fächer", welche
weder starke Baliebtheits- noch starke Unbgliebtsheitswerte zeigen und die „bi-
polaren Fächer", welche sowohl starke Beliebtheits- wie Unbaliebtheitswerte
zeigen ... Zu den eindeutigen Fächern (Gruppe 1 und 4) rechnete ich stets die-
jenigen, bei denen die vorherrschende Richtung mehr als 5% und mindestens den
doppelten Wert der entgegengesetzten Richtung betrug ... Zu den indifferenten
rechnete ich alle Fächer, bei denen keine Richtung mehr als das doppelte des
andern betrug imd keine den Wert von 10 % überstieg . . Bipolar dagegen ist das-
jenige Fach, das nach einer Seite mehr als 10 % imd nach der andern mehr als
die Hälfte der überwiegenden Seite zeigt"^).
Man erkennt sofort die Willkürlichkdt der Bestimmungen, die Zufälligkeit des
Maßes. Besser wird dies, wenn man den Maßstab aus den gegebenen Verhältnissen
heraus folgerichtig gewinnt. Eine solche Ableitung kann gegeben werden^).
Man nimmt an, es seien s = 100 Schülerinnen; diese Annahme macht man, weil
man ja mit Prozentzahlen, also mit 100 fingierten Schülerinnen rechnet. Verhalten
sich diese s Schülerinnen gegen die f Fächer unentschieden, geben aber der Forderung
entsprechend ein Urteil ab, so wären die einzelnen Nennungen Zufallsergebnisse.
Würde man unter dieser Voraussetzung den Versuch genügend oft wiederholen
(theoretisch u = oo oft), so würde die Häufigkeit der Nennung für jedes Fach schließ-
lich gleichgroß werden. Als Gesamtzahl der Nennungen für alle Fächer hätten wir
8 ' u
8 • t* und für jedes einzelne Fach —7- als Häufigkeit. Als Durchschnittsgröße für einen
8-U 8 100
Versuch erhalten wir J =- — = -, = — ;-. Diese Größe kann man als Zufalls-
f-u f f
b e r e i c h oder Unbetontheitsbereich betrachten . In den vorliegenden Versuchen
ist nun // = 18 (da in diesem Versuch die Repetitionen nicht mitgezählt werden
dürfen); fii-iv = 19 (vom II. Versuch ab sind die Repetitionen bekannt). Es ist also
j/ _ — 5,5; Jri-iv = —^ = 5,3. Der Zufallsbereich beträgt also im I. Ver-
ls lo
such 5,5 Vo; im II.— IV. Versuch 5,3 «/o-
Nim kann eineEingliedertmg der zahlenmäßig charakterisiertenErgebnisse (TafellO)
in ein System qualitativ tmterschiedener Begriffe erfolgen.
1) W. Stern, Über Beliebtheit und Unbeliebtheit der Schulfächer, Zeitschrift für
pädag. Psychologie, VII. Jahrgang, 1905, S. 275.
*) Ich folge nun Entwicklungen von Herrn Dr. Deuchler (Tübungen). Vgl. auch
seine Ausführungen darüber in der Zeitchrift für pädag. Psychologie, Bd. 17, S. 13 ff.
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 21
322
Karl Köhn
1) Wenn die Prozentzahl der Nennungen der einzelnen Fächer p ^J ist, bei +
oder — , so haben wir ein ( + oder — ) unbetontes Fach.
Ist p > J, so haben wir ein gefühls- oder wertbetontes Fach.
2) Ist p einseitig ( + oder — ) größer als J, so haben wir ein einseitig betontes Fach
und zwar ein positives oder ein negatives.
Bei diesen Fächern kann nun mit Hilfe von J auch der Grad der Betontheit
ausgedrückt werden.
Ist J <.p ^2J, so ist das Fach schwach positiv,
,, 2J <.p ^SJ, ,, „ ,, ,, mittelstark ,, ,
„ dJ <p ^4:J, „ „ „ „ stark „ ,
,, p >. 4 J, ,, ,, ,, ,, überstark ,,
Entsprechendes gilt für die negativen Fächer.
3. Ist p beiderseitig größer als J, so haben wir es mit zweiseitig betonten
Fächern zu tun, diese sind a) gleichseitig betont, wenn 1. beide p >J und 2. inner-
halb des gleichen Vielfachen von J sind. Sie können wieder abgestuft werden nach den
vorhergehenden Festsetzungen in gleichseitig schwach, mittelstark, stark und über-
dtark betont;
b) ungleichseitig betont, wenn 1. beide p> J und 2. der Unterschied beider p
mehr als J ist. Die Ungleichseitigkeit kann sein positiv oder negativ, je nachdem
Pb >• Po. oder umgekehrt ist vmd sie kann wieder bloß schwach, mittel, stark oder über-
stark sein, je nachdem beide p um 1, 2 3 und mehr als drei Vielfache von J^ auseinander -
liegen.
Nun haben wir ein absolutes Maß, das von Willkürlichkeiten frei ist. Dieses
gestattet nun aber auch, da die Zahl der in Betracht kommenden Fächer darin
enthalten ist, einen Vergleich der Ergebnisse auch der Versuche, in denen die
Fächerzahl nicht dieselbe war. Dies war bisher nicht möglich.
Wir wenden nun diese Festsetzmigen auf die Ergebnisse unseres I. Versuches
an. Wir erhalten dann aus Tafel 10:
Tafel 12: Gefühlsbetontheit der Unterrichtsfächer des 1. Versuches.
Grad der
Betontheit
unbetont
0
einseitig betont
I positiv negativ
zweiseitig betont
gleichseitig
positiv
<-)
negativ
0. Grad
(unbetont)
1. Grad
(schwach)
2. Grad
(mittelstark)
3. Grad
(stark)
4. Grad
(überstark)
Religion, Memo-
rieren, Bibl. Ge-
schiclite; Aufsatz,
Sprachlelire ; Natur-
feschichte , -Lehre ;
Urnen, Handarbeit
[Memo-
rieren, Bibl.
Geschichte,
Turnen]
[Natur-
gesch.]
Singen | Schön-
I schreiben,
Geschichte
Konfir-
manden-
unterricht
Recht-
schreiben
[Religion,
iandarbeit,
Sprach-
lehre,
Aufsatz]
Zeichnen
Lesen
Rechnen
Erd-
kunde
*) Bei den zweiseitig positiven und negativen Fächern wird nicht der Grad
der Betontheit, sondern der Grad der Ungleichseitigkeit angegeben.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 323
Es fällt ohne weiteres die große Zahl der unbetonten Fächer in die Auger ;
es sind 9, also die Hälfte aller in Betracht kommenden Fächer. Darunter sind
drei Rsligionsfächer — alle Religionsfächer mit Ausnahme von Konfirmanden-
unterricht— , zwei Sprachfächer, die beiden naturwissenschaftlichen Fächer und
zwei technische Fächer. Von den übrigen erreichten 5 den 1., 3 den 2. und nur
eines den 4. Grad der Betontheit. Man darf daher behaupten: die Zahl der
Gefühls- oder wertbetonten Fächer ist im allgemeinen niedrig,
ein großerTeil der Fächer ist unbetont, verschiedene sind schwach,
manche mittelstark betont, nur eine ganz geringe Zahl von Fä-
chern erreicht einen höheren Grad der Betontheit; es scheint, daß
diese vor allem in die Reihe der negativ betonten Fächer gehören.
Nun wenden wir uns den in Tafel 12 gebildeten Fächergruppen und den
einzelnen Fächern des I. Versuches zu.
l) Die unbetonten Fächer: Wir haben hier vor allem Fächer, die nur
gelegentlich oder nur in wenigen Wochenstunden erteilt werden.
Sprachlehre soll nur gelegentlich erteilt werden, sie ist nach dem Lehrplan für die
württembergischen Vollcsschulen kein selbständiges Unterrichtsfach ; für Memorie-
ren und Biblische Geschichte stehen zusammen nur 2 Wochenstunden zur Ver-
fügung, Turnen wurde in höchstens einer, Religion zurzeit des Versuchs ebenfalls
in einer Wochenstunde erteilt; Naturgeschichte und Naturlehre werden halbjährig
im Wechsel je in zwei Wochenstunden erteilt. Für Handarbeit stehen vier, für
Aufsatz zweieinhalb Stunden zur Verfügung.
Daraus läßt sich aber die Unbetontheit nicht vollständig erklären. Wir achten
noch auf den jeweils behandelten Stoff u. a.
a) Daß der Religionsunterricht des Geistlichen keine besonders tiefe
lebendige Wirkung erzielte, zeigt die gänzliche Unbetontheit. Dies ist um so auf-
fälliger, als dieser Unterricht von einem Fachlehrer, in diesem Fall also von einem
, »fremden" Lehrer erteilt wurde und als im allgemeinen ein Fach, das von einem
,, fremden" Lehrer erteilt wird, häufigere Betonung und zwar meist eine positive
erhält als eines, das der Klassenlehrer erteilt, der Reiz des Neuen, Außergewöhn-
lichen liegt über einer solchen Unterrichtsstunde. Die Art des Unterrichts, be-
sonders auch der etwas „strenge Ton", der in diesen Stunden üblich ist, die Pro-
bleme, zu denen wohl nur wenige ein persönliches Verhältnis erhalten, lassen keine
Betontheit entstehen.
b) Im Memorieren werden an den Fleiß zu Haase einige Anforderungen ge-
stellt; daher entsteht keine positive Wertung. Da es sich während der Versuche
nur um die Wiederholmig schon gelernter religiöser Sprüche und Lieder handelte,
kam es auch zu keiner negativen . Das Memorieren machte den Schülerinnen keine
besonderen Schwierigkeiten, die schwäclisten Mädchen durften nur einen Teil des
für die übrigen in Betracht kommenden Stoffes lernen; diese Aufgabe konnten
sie bewältigen. Eine Vorliebe für das Auswendiglernen religiösen Stoffes war
kaum zu bemerken; so kam es zu keiner Betontheit. Nur ein einziges Mädchen
hatte eine Freude am Aufsagen (Betonen!).
c) In der Biblischen Geschichte wurde das Leben Jesu (nach Matthäus)
behandelt. Die Schülerinnen konnten sich nicht einleben in den Stoff, dazu war
21*
324 Karl Köhn
die Zsit (je etwa ^ Stunde) zu kurz, sie wurden nicht warm, daher fehlt die Be-
tontheit. Die Aufmerksamkeit wurde nicht so lange und teilweise auch nicht so
stark in Anspruch genommen wie in anderen Fächern — es wurde viel gelesen — ,
daher kam es auch nicht zu einer negativen Wertung.
Zusammenfassend darf man wohl von den religiösen Fächern sagen: Unter-
richtsstoff und häufig auch die Unterrichtsform bahnen kein
persönliches Erleben, kein Verhältnis zum Ich des (verhältnismäßig
jungen) Kindes an, und daher bleiben diese Fächer unbetont.
d) Im Aufsatz wurden bis zu der Zeit, in der der I. Versuch gemacht wurde,
vor wiegend",, gebundene" Aufsätze geschrieben. Für manche Kinder ist es eine
Erleichterung (hierher gehören mittel und schwach begabte), wenn der Stoff ge-
boten wird; nacherzählen können sie schon etwas, selbständig bearbeiten kaum;
andere sind in Sorge, sie könnten etwas vergessen, etwas anders schreiben als
gewünscht wird; sie negieren bei der Fächerwahl. Im großen ganzen wirken aber
weder ünterrichtsform noch Themenwahl, die meist dem kindlichen Denken
wenig entspricht, wertbetonend auf das Kind.
e) In der Sprachlehre wurden in dieser Zeit die verschiedenen Wortarten und
Satzteile behandelt, der Unterricht wurde etwas formalistisch, logizistisch
gegeben. Dem Stoff konnten kaum Beziehungen zum Schüler, seiner Umgebung
und seinem Leben abgewonnen werden. Für logische Unterscheidungen und Be-
stimmungen lassen sich Kinder in diesem Alter, besonders Mädchen, kaum
erwärmen.
Diese beiden Sprachfächer blieben also indifferent, weil die Beziehung des
Unterrichtenden zur Schülerin und zu ihrem Leben fehlte.
f) Naturgeschichte wurde in dem Zeitraum, in dem der I. Versuch durch-
geführt wurde und der ihm unmittelbar voranging, nicht erteilt. Darin liegt eine
Ursache für die Unbetontheit. Die Stoffe, die vorher behandelt worden waren,
gruppierten sich um den Wald. Diese Lebensgemeinschaft liegt den Gmünder
Mädchen etwas fern. Die Beschreibung, die hier wohl stark überwog, faßt die
Kinder nicht; sie sind mehr für biologische Verhältnisse zu haben. Aber auch
dann, wenn man darauf eingeht, wird dieses Fach sich keiner besonderen Betont-
heit erfreuen; das Beobachten liegt den Mädchen nicht; die Beziehungen zum
Leben derselben fehlen häufig.
g) Naturlehre wurde erteilt. Es handelte sich um das spezifische Gewicht,
den Luftdruck usw., also um Dinge aus der Statik und Dynamik. Es sind meist
unanschauliche oder doch wenig anschauliche Dinge, die eine streng logische
Behandlang erfordern. Dafür haben Mädchen in diesem Alter kaum Sinn. An-
ders würde die Wertung wohl ausfallen, wenn mit anschaulicheren Dingen, etwa
mit magnetischen und elektrischen Vorgängen und Einrichtimgen, die darauf be-
ruhen, begonnen würde.
Wir sehen: die naturwissenschaftlichen Fächer sind indifferent — bei
Mädchen — wegen des teilweise trocken-beschreibenden — Natur-
geschichte — , teilweise unanschaulich-logizistischen Betriebs —
Naturlehre — , dem häufig die Beziehung zum Schüler und seiner
Umwelt fehlt. Anders könnte die Wertung wohl bei Knaben ausfallen.
h) Das Mädchenturnen mußte im Klassenzimmer erteilt werden. Das brachte
manche Unzuträglichkeiten. Der Unterrichtsstoff war dadurch sehr beschränkt,
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 326
esunußte häufig dieselbe Übung gemacht werden. Es wurde zwar nach Abwechs-
lung gesucht; die Hälfte durfte z, B. singen, die andere turnte darnach, es wurden
Übungen im Gleichtakt gemacht; durch das alles konnte aber keine positive
Betontheit erzielt werden. .
i) Handarbeit wurde in wöchentlich vier Stunden erteilt. Es scheint, daß
ein so umfassend erteiltes Fach ohne tiefergehende Aufgaben allmählich imbetont
wird, daß sich die Schülerinnen ihm gegenüber allmählich gleichgültig verhalten.
Ferner scheint es auch, daß der methodische Unterricht mit seinem Zwang, mit
dem gleichförmigen Fortschreiten der ganzen Klasse, mit den doch zum Teil mehr
theoretischen Betrachtungen das sicher Gefühlsbetonte des Tätigseins neutralisiert.
Dazu kommt wohl, daß die Gmünder Mädchen, die zum großen Teil Arbeiter-
familien entstammen, keinen Sinn für praktische ,, häusliche" Arbeiten haben.
Die Einreihung dieser beiden te chnis chen Fächer in die Gruppe der indifferen-
ten steht mit Ergebnissen anderer Untersuchungen im Wider-
spruch. Die Ursache davon mag zum Teil in den besonderen Verhältnissen
Gmünds liegen, teilweise ist sie in den Eigentümlichkeiten der Volksschule, viel-
leicht der Württembergs im besondern, begründet.
2) Die einseitig betonten Fächer: Hierher gehören zwei technische Fächer,
ein sprachliches, ein religiöses Fach und Geschichte, zusammen also fünf Fächer.
Es sind, verhältnismäßig viele Fächer, die einseitig betont sind.
a) Singen ist positiv. Dies hat verschiedene Ursachen: das Stimmenmaterial
war ein gutes, ebenso das musikalische Gedächtnis; es konnten daher viele Ge-
sänge eingeübt und in ansprechender Form zum Vortrag gebracht werden.
Eingeübt wurden vor allem weltliche Lieder ; in den Hintergrund traten die metho-
dischen Übungen und die Choräle. Die Umgebung der Schülerinnen ist meist
musikalisch ; es wird in Gmünd sehr viel Musik getrieben ; sie erfreut sich im Eltern-
haus einer gewissen Wertschätzung. Dies alles wirkt wertbetonend.
b) Konfirmandenunterricht wurde neu erteilt von zwei Geistlichen, also
von „fremden" Lehrern. Der eine davon erzählte viele Geschichten. Schülerinnen
anderer Klassen und anderer Anstalten beteiligten sich an diesem Unterricht.
Es ist also vor allem das Neue, das positiv wirkt. Dazu kommt der anekdotische
Einschlag des Unterrichts; man genießt mehr, als daß man produktiv tätig ist.
Die große Schülerzahl — 73 — ist die Ursache, daß die einzelne Schülerin nicht
sehr häufig zum Antworten kommt, daß sie nicht scharf beaufsichtigt werden
kann, daß sie sich gehen lassen kann. Auch dies macht das Fach beliebt.
c) Zu den negativ betonten Fächern gehört Schönschreiben. Hier ist es vor
allem das Lateinschreiben, das das Fach unbeliebt werden läßt. Das Lateinschrei-
ben setzt erst im 4. Schuljahr ein. Die Übungim Deutschschreiben ist eine größere,
man schreibt deutsch im Aufsatz, im Rechtschreiben usw. Schwächeren Kindern
macht daher das Lateinschreiben auch im 6. Schuljahr noch Schwierigkeiten.
Dazu kommt noch: Im Schönschreiben müssen die vorgeschriebenen Formen,
Wörter und Sätze peinlich genau abgeschrieben werden; dies wirkt hemmend.
d) Auch Geschichte ist negativ. Eine Ursache liegt im Unterrichtsstoff. Es
handelte sich in dieser Zeit um die Ereignisse etwa von 1793 — 1809. Es sind Stoffe,
die den Schülerinnen etwas fern liegen, deren Bedeutung sie nicht ganz erfassen.
Dazu kommt, daß in diesem Fach die Schülerinnen die ganze Stunde hindurch
aufmerken mußten, daß sie nicht abschweifen, nicht ihren Gedanken nachhängen
326 Karl Köhn
durften; jeden Augenblick kann ein Abschweifen an den Tag kommen. Das wirkt
nicht positiv auf die Wertung.
e) Im Rechtschreiben wird der höchste Grad der Betontheit erreicht. Nur ein
Teil der Schülerinnen üb3rwand die Schwierigkeiten, die um diese Zeit neu auf-
traten : die Zsichensetzung mußten die Schülerinnen selbst finden, schwierigere
Wortformen kamen vor. Es wurden von vielen Schülerinnen Fehler gemacht,
sie erhielten durch die Verb3sserung der Fehler vermehrte häusliche Arbeit, die
Minderleistung kam häufig und deutlich zum Ausdruck, das Gefühl des Nicht-
genügens entstand, und aus dem allem folgte eine entschiedene Ablehnung dieses
Faches.
Es sind also unter den einseitig betonten Fächern zwei positiv betonte, die ihre
positive Betonung ihrer Neuheit und den geringen Forderungen, die
sie an die Leistungsfähigkeit des Schülers stellen, und der Anregung
aus der Umgebung des Schülers verdanken; es sind drei negativ-betonte
Fächer, in denen besondere Anforderungen an Aufmerksamkeit und
Fleiß gestellt werden.
3) Gleichseitig betont ist Zeichnen. Auch hier kommt die Umgebung
in Betracht. In manchen Häusern erreicht die künstlerische Durchbildung eine
bedeutende Höhe. Der Vater fertigt zu Hause Entwürfe, macht Zeichnungen usw.
Daraus erhält das Kind Anregungen. Es sieht, daß man das Zeichnen wertet, es
schätzt dieses Unterrichtsfach ebenfalls. Es sieht aber auch, daß seine Leistimg
hinter der des Vaters zurückbleibt. Technische Schwierigkeiten, das Mischen der
Farb?n usw. kommen dazu und hemmen ebenfalls. Dagegen trägt wieder die
Auswahl der Untörrichtsgegenstände — Gebrauchsgegenstände, Monogramme —
zur Wertschätzung bsi. So kommt es denn zu einer zwiespältigen Wertung.
4) Zweiseitig ungleichseitig betont sind drei Fächer. Alle drei stehen
in der Betontheitsreihe weit voran.
a) Lesen ist positiv. Es ist besonders bei schwach begabten Schülerinnen be-
liebt. Die Fertigkeit des Lesens haben sie sich im Lauf der Schulzeit angeeignet;
das ist etwas, das sie können. Bei gut begabten Schülerinnen spielt der Inhalt
des Stückes und die Behandlung desselben eine Rolle. Sie möchten durch das
Lesen Neues, womöglich „etwas zum Lachen" erfahren; lesen kann man, das
ist ihre feststehende Meinung, man liest nicht mehr, um das Lesen zu lernen, das
haben höchstens die Schwachbegabten nötig; man liest, um sich zu unterhalten;
das wird erreicht, wenn ein Lesestück ein-, höchstens zweimal gelesen wird; muß
man es öfters lesen, dann ist man verstimmt,
b) Rechnen ist ebenfalls positiv. Ausgeführt wurden einfache Zinsrechnungen.
Diese sind verhältnismäßig leicht verständlich; die Beziehung zum Leben ist sehr
deutlich. Sie ließen in einer Reihe von Schülerinnen das Gefühl des Gelingens, des
Könnens entstehen. Sie werteten positiv. Es gibt aber auch eine Anzahl Nicht-
mathematiker, die auch den einfachen Schlüssen, die bei den Zinsrechnimgen
gemacht werden müssen, keine Evidenz abgewinnen können. Sie lehnten das
Fach ab. Zu ihnen kamen noch diejenigen, welche Rechnen als Kopfrechnen ab-
lehnten. Ihnen fehlte der Blick für die Vereinfachung der Rechnung, durch die
sie für das Kopfrechnen leicht wurde ; ebenso das Gedächtnis mid die notwendige
Konzentration, daß die Ergebnisse der Teiloperationen schließlich zum Schluß-
ergebnis zusammengefaßt werden konnten.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern
32T
c) Erdkunde ist das einzige zweiseitig negativ betonte Fach. Behandelt wurde
Asien. Die Schilderungen von Land und Leuten, das Fremdländische, das in
mancher Richtung Anschauliche (durch die Karte unterstützt) erregte in manchen
Schülerinnen Zuneigung. Die wenigen Beziehungen, die dieser Stoff in der da-
maligen Zsit für die Hsimat der Schülerin hatte, bewirkte eine Ablehnung bei
andern. Dazu kamen die straffe Form des Unterrichts, die bedeutenden Anfor-
derungen an Aufmerksamkeit und Gedächtnis, alles das trug bei zur Ablehnung.
Unsere weitere Betrachtung bezieht sich nun wieder auf alle vier Ver-
suche.
Wir gliedern nun auch die in Tafel 10 für die Versuche II — IV gegebene zahlen-
mäßig charakterisierten Ergebnisse in unser System qualitativ unterschiedener
Begriffe ein. Wir erhalten dadurch Tafel 13.
Tafel 13: Übersicht über die Betontheit der Fächer in den 4 Versuchen^)
Versuch
Memo-
rieren
Religions-
unterricht
Sprach-
lehre
Natur-
geschichte
Biblische
Geschichte
Turnen
Handarbeit
Konfir-
manden-
unterricht
_
Repe-
tieren
I
II
III
IV
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(2)
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(2)
') Die in Klammern gesetzten Ziffern bezeichnen den Grad der Betontheit bzw. der
Ungleichseitigkeit.
328
Karl Köhn
Es folgen zunächst einige allgemeinere Bemerkungen über diese Tafel.
Es sind vier unbetonte und ein negativ einseitig betontes Fach, in dem in der Art
der Wertbetonung keine Änderung eingetreten ist. Dies sind verhältnis-
mäßig viele Fächer, Bei den übrigen Fächern ist ein Wechsel in der Betont-
heit im Verlauf der Versuche eingetreten. Wir stellen die Fälle in Tafel 14 zu-
sammen.
Tafel 14: Konstanz und Wechsel in der Betontheit der Fächer.')
Betontheit
0 -
0: +
0:-
0: =
-:<^>
( + >:<->
+ :-=:< + >
+ : — :(->
Anzahl der
Fächer
4 1
4
•4
2
1
1
1
1
Es sind zwölf Fälle, in denen die Betontheit zwischen zwei , es ist ein Fall, in
dem sie zwischen drei, und es ist ein Fall, in dem sie zwischen vier verschiedenen
Gruppen wechselt. Man darf daher behaupten : In der Art der Wertbeto-
nung der Fächer treten im Lauf der Zeit nur verhältnismäßig
geringe Änderungen ein.
An Graden der Wertbetonung kommen in Betracht überwiegend der 0., sehr
häufig der 1., seltener der 2., nur in außerordentlichen Fällen der 3. und 4. Grad.
Die Werthaltung der Fächer ist also in der Klasse im allgemeinen
nur in niederem Grade ausgeprägt.
Über die Verteilung der Betontheitskategorien in den vier Versuchen gibt
die folgende Zusammenstellung Aufschluß (Tafel 15).
Tafel 15: Verteilung der Betontheitskategorien in den 4 Versuchen.
Versuch
0
+
—
=
<+>
<— )
I
9
2
3
1
2
1
II
7
3
6
2
1
0
III
11
2
2
2
1
1
IV
9
4
3
2
0
1
Zusammen
36
11
14
7
4
3
Von den 75 möglichen Fällen ist beinahe die Hälfte den imbetonten zuzuzählen,
ein Drittel davon entfällt auf die einseitig betonten und nur ein schwaches Fünftel
gehört zu den zweiseitig betonten Fächern. Die Mehrzahl der Fälle gehört
also den unbetonten oder einseitig betonten Fächern an.
Die Art der Verteilung ändert sich von Versuch zu Versuch we-
nig. Im II. Versuch ist die Zahl der einseitig negativ betonten Fälle verhältnis-
mäßig groß (6); die Ursache davon ist wohl die gesteigerte Anforderung, die nun
an die Leistungsfähigkeit der Kinder gestellt wurde. Im III. Versuch fällt die
Zahl der unbetonten Fächer auf (11). Die Ursache davon liegt in der Einwirkung
des Krieges . Handarbeit erreichte den 4. Betontheitsgrad ; nun sind einer Anzahl
*) 0:+ bedeutet: Wechsel zwischen ünbetontheit und einseitig positiver Betont-
heit; die andern Zeichen sind entsprechend zu deuten.
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 329
von Fächern die positiven Nennungen, teilweise auch die negativen entzogen, die
Folge davon ist das Anwachsen dieser Häufigkeitszahl.
Nun wenden wir uns noch den einzelnen Fächern zu.
1) Die unbetonten Fächer.
a) In Memorieren änderten sich die Verhältnisse über die Versuchs zeit nicht.
Das Neulernen, um das es sich beim III. Versuch handelt, bringt keine Änderung
in die Wertung. Es macht den Kindern auf dieser Altersstufe keine größere Mühe
als das Wiederholen von schon Gelerntem.
b) Im Religionsunterricht des Geistlichen blieben Lehrart und Problem-
stellung dieselben. Daß sich der Unterricht dem Neuen Testament zuwendet
und Fragen bespricht, die durch diesen Unterrichtsstoff angeregt wurden, hat
für die Wertung keine weiterreichende Bedeutung.
c) Die Stellungnahme zur Sprachlehre blieb dieselbe. Daß vom Bedeutungs-
wandel, vom Bildergehalt der Sprache, von Orts- und Personennamen usw. ge-
sprochen wurde und daß häufig der Humor zu seinem Recht kam , das führte schließ-
lich bei einigen Schülerinnen zu einer Bevorzugung; die wenigen Nennungen im
III. und IV. Versuch erreichten aber keine solche Höhe, daß das Fach in die Gruppe
der positiv betonten Fächer hätte eingereiht werden müssen.
d) Naturgeschichte wurde in der Zeit, in der die Versuche durchgeführt
wurden, nie erteilt. Dies ist ein Grund, weshalb es zu keiner Betontheit kam. Wäre
das Fach erteilt worden, dann hätte die Betontheit wohl auch keinen hohen Grad
erreicht, denn Stadtmädchen verhalten sich diesem Unterrichtsfach gegenüber
wohl meist indifferent.
2. Das einseitig negativ betonte Fach ist Rechtschreiben. Hier erreicht die
Betontheit durchgängig den höchsten Grad. Die Schwierigkeiten werden auch
im 7. Schuljahr nicht kleiner (Fremdwörter!), die Leistungen bleiben hinter den
Forderungen des Lehrers und der eigenen zurück, die Minderleistung wird deutlich
auch von schwach begabten Schülerinnen erkannt; alles dies führt vor allem bei
schwach begabten, aber auch bei einigen gut begabten Schülerinnen zu einer star-
ken Ablehnung des Faches.
3) Die unbetont-betonten Fächer.
a) Der Umschlag nach der positiven Seite trat ein
a) in der Biblischen Geschichte im II. Versuch. In allen übrigen Versuchen
war dieses Fach unbetont. Die Gefühlswirkung war im großen ganzen also gering.
Der Umschlag nach der positiven Seite ist zu erklären teilweise aus dem Unter-
richtsstoff.— Die Leidensgeschichte Jesu, die in dieser Zeit behandelt wurde, ver-
fehlte bei einigen Mädchen ihre Wirkung auf das Gemüt nicht, — teilweise aus dem
Abflauen des Interesses am Konfirmandenunterricht. M^ z. B. namite beim I.Ver-
such Konfirmandenunterricht als beliebtestes Fach, im IL Versuch war dies die
Biblische Geschichte, im III. Handarbeit (Krieg!), im IV. wieder Konfirmanden-
unterricht (zur Zeit der Konfirmation). Beide Fächer treten wohl zeitweise in
Wettbewerb.
ß) In die Handarbeit brachte der Krieg eine neue sehr stark nach der positiven
Seite gerichtete Wertung. Die Bedeutung dieses Faches für die Unterstützung der
kämpfenden Soldaten wurde sofort erkannt, teilweise auch von der Schulleitung
hervorgehoben, die Schülerinnen fühlten sich in diesem Fach als Mitkämpfer;
der Zwang des methodischen Unterrichts fiel weg, der einzelnen Schülerin wurdr^
330 Kai'J Köhn
mehr Freiheit eingeräumt. Beim IV. Versuch war der Betontheitsgrad ein be-
deutend niedrigerer als b^im III., die abschleifende Wi^ung des nun schon längere
Zsit dauernden Krieg5b3trieb3s machte sich geltend; der Konfirmandenunterricht
trat nun in Wettbawerb mit diesem Fach und nahm eine Reihe positiver Nennun-
gen weg ; immsrhin ist noch eine Nachwirkung der durch den Krieg bewirkten Ein-
stellung zu bsmerken.
y) Konfirmandenunterricht ist im I. und IV. Versuch positiv von ziemlich hohem
Grad. Während für den I. Versuch die Neuheit des Unterrichts und des Lehrers
von größter Bsdeutung ist, kommt für den IV. die Nähe der Konfirmation in
B3tracht. Das Einkaufen, Zurichten, Anprobieren der Konfirmationskleider,
das Bsschenken der Freundinnen mit Andenken, das Einladen der Paten, das
Austeilen der Konfirmationsfragen nimmt um diese Zeit das Mädchen voll in
Anspruch, hebt und bälebt die im Unterricht betonte Bedeutung des Konfirma-
tionsaktes, mit dem diese Handlungen ja alle telisch verknüpft sind. Daß diese
Dinge für die Wertung von bssonderer Bedeutung sind, folgt daraus, daß in der
Zeit, in der kein Unterricht erteilt wurde (III. Versuch), auch kein Vorzugsurteil
gefällt wurde — der Unterricht war also von keiner besonders nachhaltigen Wir-
kung — und daß in der Zeit, in der dieser Unterricht nichts ,, Neues" mehr war,
nur wenige Bsliebtheitsstimmen abgegeben wurden, obwohl in diesem Fach noch
unterrichtet wurde.
6) Singen ist in drei Versuchen positiv. Es wäre wohl im III. Versuch auch posi-
tiv, wenn nicht durch den Krieg eine Anzahl Stimmen der Handarbeit zugewendet
worden wären, z. B. bei Mig, Mig, M23. Daß in der Stadt „des Singens und Gei-
gens" (man vergleiche J. Kerner, Der Geiger zu Gmünd) dieses Fach positiv
gewertet wird, ist leicht zu verstehen. Ob die Betontheit in anderer Umgebung
dieselbe ist, kann durch diese Versuche nicht entschieden werden; daß sie nicht
dieselbe ist, darf aber wohl angenommen werden.
b) Ein Umschlag nach der negativen Seite fand statt:
a) im Turnen; dieses Fach ist dreimal unbetont und einmal negativ. Der Um-
schlag trat im II. Versuch ein, weil das Turnen intensiver als beim I. betrieben wuide.
Manche Mädchen fühlten nach dem Turnunterricht eine gewisse Ermüdung,
Schmerzen in den Gliedern usw. Die körperliche Anstrengung wujde von den etwaa
weichlichen Mädchen unangenehm empfunden, so entstand die Ablehnung. Diese
Verstimmung hielt nicht an. Im III. und IV. Versuch war der Turnunterricht
eingestellt, nun wurde das Fach wieder unbetont,
ß) Re Petitionen, d. h. Prüfung« aufgaben vor allem in Erdkunde und Ge-
schichte, waren den Schülerinnen beim I. Versuch noch nicht bekannt. Sie durften
daher dort auch nicht gezählt werden. Beim II. Versuch hatten sie stark einge-
setzt. Die Leistung der einzelnen Schülerin war nach der Zahl der richtig gelösten
Aufgaben leicht zu beurteilen ; sie blieb oft hinter den Erwartungen zurück. Die
Vorbereitung auf die Prüfung brachte manche Arbeit und Aufregung. Alles dies
machte die Repetitionen unbeliebt. Beim III. Versuch waren sie etwas Gewohntes,
sie kamen nicht mehr so zahlreich, beim IV. hörten sie ganz auf; nun wurde die
Einstellung eine indifferente.
y) In der Naturlehre wird aus der ursprünglichen Gleichgiltigkeit eine Ab-
lehnung. Die großen Anforderungen, die durch dieses Fach an die Aufmerksam.-
keit gestellt werden, das anhaltende logische Durchdenken dieser Sache machen
über Beliebtheit und Unbeliebtheit von Unterrichtsfächern 33 1
das Fach unbeliebt. Diese Unbpliebtlieit verschwindet, wenn durch den Unter-
richtsstoff (elektrische und magnetische Erscheinungen) das gegenständliche
Interesse erregt und der Anschaulichkeit mehr Rechnung getragen wird.
(5) Im Schönschreiben wird die anfängliche negative Wirkung zur indifferen-
ten. Man sieht an dem Umschlag der Wertung deutlich, wie die Fertigkeit im
Lateinschreibsn immer mehr zunimmt und schließlich als vollständig genügend
empfunden wird.
c) Zu gleichzsitig betonten wurden zwei Fächer.
a) Zeichnen wurde bsim II. Versuch indifferent. Die Schwierigkeiten, die durch
das Mischen der Farben, die Wahl des zu zeichnenden Gegenstandes usw. ent-
standen, waren nun überwunden; die negativen Stimmen fielen weg. Das längere
Verweilen bei demselben Gegenstand oder bei ähnlichen wirkte andererseits ver-
stimmend; von den positiven Stimmen fielen auch welche weg. Beim IJI. Versuch
hatte das perspektivische Zeichnen eingesetzt. Das brachte für manche Schwierig-
keiten, für andere Neues, das reizte; der Krieg ließ die ausein anderstrebende
Stimmung nicht voll zum Durchbruch kommen. Beim IV. Versuch war die
bindende Wirkung des Krieges nicht mehr so stark. Es durften nun selbstgewählte
Gegenstände (patriotische u. a.) gezeichnet werden. Diese Probe auf das Können
führte zu einer verhältnismäßig häufigen, aber auseinandergehenden Wertung.
ß) Irn Aufs atz kommt es nach dem I. Versuch zu einer gleichbleibenden gleich-
seitigen Betontheit vom 1. Grad. Ohne Zweifel ist dies die Folge des ,, freien
Aufsatzes". Nun handelt es sich nicht mehr bloß um Wiedergabe, sondern um
Gestaltung eines Stoffes, um eine gewisse Selbsttätigkeit und Freitätigkeit. Dies
ist manchen Schülerinnen erwünscht, andere aber empfinden die neuen Schwierig-
keiten und sind verstimmt. Der ,, freie Aufsatz" versucht also die Betontheit,
er trennt aber auch in der Wertung.
4) Das einzige von negativ zu positiv ungleichseitige umschlagende Fach
ist die Geschichte. Dieses Fach ist in drei Versuchen negativ, DenMädchen sind
Kriegsgeschichte (vor dem Krieg), Kulturgeschichte mit Bürgerkunde verhaßt;
sie sehen keine Beziehungen zum Leben, fühlen sich zu sehr durch den Unterricht
angestrengt. Der Krieg bringt in diese Wertung eine Änderung; auch der Unter-
richtsstoff, der Krieg 1870/71 trägt dazu bei. Beim IV. Versuch hat der Krieg
seine umwertende Kraft verloren, der Konfirmandenm terricht nimmt positive
Nennungen weg, der Unterrichtsstoff nimmt das gegenständliche Interesse nicht
mehr gefangen ; es kommt wieder zur negativen Wertung.
5) Im Rechnen wird vom III. Versuch an die negative Betonung herrschend.
Man sieht daran, wie allmählich die Anforderungen steigen, die Leistungen ent-
sprechend geringer werden. Dies hängt mit der Art der Aufgaben zusammen.
Die Teilungs- und Vielsatzrechnungen sind eben viel schwieriger als die (leichteren)
Zinsrechnungen .
6) Drei Betontsheitsgruppen gehört Lesen an. Die Betontheitszahl nimmt im
allgemeinen mehr und mehr ab. Die Schüler wenden sich im III. und IV. Versuch
anderen Fächern zu. Im II. Versuch ist die positive Betontheit von ziemlich hohem
Grad; es werden eben lange Lesestücke nur ein- bis zweimal gelesen.
7) Vier Betontheitsgruppen gehört die Erdkunde an. Sie ist im II. Versuch
nicht mehr so stark betont wie im I., denn der behandelte Gegenstand, A^ien, hat
seinen Reiz der Neuheit und das Abschreckende der Unbekanntheit und Schwierig-
332 Erich Stern
keit verloren. Im III. Versuch tritt eine Steigerung der positiven Nennungen ein;
der Krieg hat die Augen geöffnet für die Bedeutung der Erdkunde ; die deutschen
Kolonien werden als Heimatkunde im weiteren Sinn aufgefaßt; das Hemmende
wird nicht so empfunden wie b^im II. Versuch. B^im IV. handelt es sich um Wirt-
schafts-, Verkehrs- und mathematische Geographie, das sprichtMädchen nicht an,
das liegt ihnen nicht, daza kommt noch die Konfirmation, dieablenkt, so kommt es
schließlich zu einer negativen Wertung.
Bemerkungen zur Frage der „Begabtenauslese**.
Von Erich Stern.
Es liegt im Interesse einer jeden Gemeinschaft, daß jede Stellung mit einem
geeigneten Menschen besetzt wird, und daß ein jeder zu einer seinen Kräften
und Fähigkeiten entsprechenden Stellung gelangen kann : die Tüchtigsten und
Befähigtsten müssen zu den höchsten und verantwortungsreichsten Stellen
empordringen können. Nun ist aber gerade für die höheren Berufe auch
eine besondere Schulbildung erforderlich, und auch das Fortkommen in man-
chem anderen Beruf, so vor allem in Industrie und Technik, hängt in hohem
Maße von den auf der Schule erworbenen Kenntnissen ab. Es muß daher
durchaus begrüßt werden, daß eine Reihe von Städten besondere Einrichtungen
getroffen haben, um den begabten Volksschülern den Aufstieg zu ermöglichen.
Die Wege, die zu diesem Zweck eingeschlagen worden sind, sind verschieden
Handelt es sich in Berlin darum, die Kinder in das Gymnasium oder in die
Realschule überzuführen, so sollen sie in Hamburg nur in eine neunklassige
Volksschule, in der sie in den fremden Sprachen unterrichtet werden, unter-
gebracht werden. Dafür ist die Zahl der für die Begabtenschule in Hamburg
in Betracht kommenden Kinder eine wesentlich größere als in Berlin. Auf
die näheren Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden.
Es war von vornherein zu erwarten, daß die Anzahl der Bewerber die
Zahl der verfügbaren Stellen bei weitem überschreiten muß: in Berlin kann
nur ein sehr geringer Prozentsatz der Kinder aufgenommen werden, in Hamburg
ist es so geregelt, daß 2/3 der gemeldeten Kinder der erweiterten Volksschule
zugeführt werden. Daß man sich bei der Auswahl der Kinder nicht lediglich
auf das Urteil der Lehrer verlassen kann, haben Moede und Piorkowski
und ebenso auch Stern gezeigt; aber es erwies sich auch als nicht angängig,
die Aufnahme lediglich von einer gewöhnlichen Schulprüfung abhängig zu
machen. Nun hat sich die experimentelle Psychologie schon lange, seit
Binet und Simon besonders, damit beschäftigt, Methoden zur Untersuchung
der Intelligenz auszuarbeiten und es erschien daher als das Gegebenste, bei
der Auswahl der zuzulassenden Schüler sich dieser, von der experimentellen
Psychologie ausgebildeten Methoden zu bedienen. Soweit bisher bekannt
geworden ist, haben sich die angewandten Prüfungsverfahren in Berlin (Moede
und Piorkowski) aufs beste bewährt, und die Kinder, welche in der auf
Grund der Prüfungsergebhisse aufgestellten Rangordnung die ersten bezw.
letzten Plätze einnahmen, kamen auch in der Schule am besten bezw. am
schlechtesten mit, und damit ist der Beweis für die Brauchbarkeit der an-
Bemerkungen zur Frage der „Begab tenauslese" 333
gewandten Methoden erbracht. Allerdings ist die Zeit, die zwischen der
Prüfung und den Angaben der Lehrer über die Leistungen der Kinder liegt,
noch zu kurz, um ein abschließendes Urteil zu gestatten. Wir wollen uns
aber in den folgenden Erörterungen auf den Standpunkt stellen, daß die
Moede-Piorkowski'schen Methoden sich auch bei weiteren Nachprüfungen
voll bewähren. Trotzdem kann man nicht umhin, einige prinzipielle Einwände
nicht so sehr gegen ihre Methode als gegen das ganze Problem der Begabten-
auslese überhaupt zu machen.
Vergleicht man zunächst die Methoden von Moede und Piorkowski mit
denen von Stern, so scheint mir der durchgreifendste Unterschied darin zu
bestehen, daß Stern ein bedeutend größeres Gewicht auf die Beobachtungen
der Lehrer, welche die Kinder bis dahin unterrichtet haben, legt als die beiden
anderen genannten Autoren. Geschieht das nun mit Recht? Die Berliner
Untersuchungen wurden an drei aufeinander folgenden Tagen angestellt, man
kann also sagen, daß die Kinder, selbst wenn sie am ersten Tage befangen
und aufgeregt waren, sich an den folgenden Tagen den Verhältnissen der
Prüfung angepaßt haben müßten. Das erscheint aber nicht ganz berechtigt.
Wer selbst Examina gemacht hat, die sich über viele Tage, ja Wochen hin-
zogen, weiß, daß die Spannung durchaus nicht abzunehmen braucht, ja
sich sogar steigern kann. Es sind nicht immer die schlechtesten Schüler, die
wenigst Begabten, die bei Prüfungen versagen. Das Seelenleben des Menschen
verläuft, wenn wir uns so ausdrücken dürfen, nicht in einer geraden Linie;
gewisse klinisch beobachtbare psychische Störungen (ich denke hier vor allem
an die zyklotomen Seelenstörungen) stellen nur die ins Pathologische gestei-
gerte Verlaufsform des normalen Seelenlebens, das bei allen Menschen starken
Schwankungen unterliegt, dar. Was jede psychologische Untersuchung er-
gibt, ist ein Querschnitt, und da wir ja die Dispositionen (und um solche
handelt es sich doch bei der Untersuchung der Befähigung) nie direkt unter-
suchen, sondern immer nur aus den vorliegenden Leistungen erschließen
können, so entspricht das Bild, das wir uns von der Befähigung eines Schülers
nach der Prüfung machen, in gewissem Sinne stets seinen momentanen
Leistungen. Diese sind aber nicht nur durch die für sie speziell maßgeben-
den Dispositionen bedingt, vielmehr gehen in sie auch eine ganze Reihe an-
derer psychischer Funktionen mit ein, so vor allem affektive Momente, die
sich einer experimentellen Prüfung so gut wie vollkommen entziehen. Gerade
bei beson ders begabten Menschen sind nun oft die Schwankungen des Gefühls-
lebens sehr stark ausgeprägt — ich erinnere nur an Goethe, der ausgesprochen
zyklotym veranlagt war — und wenn wir nun ein Kind in einer mehr
depressiven Phase (womit nicht gesagt sein soll, daß diese krankhaft sein
muß) untersuchen, so werden seine Leistungen schlecht sein, wir werden
uns von seiner Leistungsfähigkeit ein ganzes falsches Bild machen, trotzdem
das Kind gut, ja hervorragend veranlagt sein kann. Aus diesem Grunde er-
scheint es durchaus notwendig, auch die Beobachtung der Lehrer, die das
Kind monatelang, oft jahrelang kennen, mit heranzuziehen. Allerdings er-
gibt sich hier die Schwierigkeit, wie man die Ergebnisse dieser Beobachtungs-
bogen zahlenmäßig verwerten soll. Das erscheint aber auch durchaus nicht
erforderlich; vielmehr halte ich es nur für notwendig, die Aufzeichnungen
dieses Beobachtungsbogens in den Fällen mit heranzuziehen, wo sich auf-
fallende Unterschiede zwischen dem Ausfall der Prüfung und den früheren
334 Erich Stern
Schulleistungen ergeben. Moede und Piorkowski haben sich über die
Kinder dadurch ein eigenes Urteil zu verschaffen versucht, daß sie längere
Zeit mit ihnen in dem Schülerheim Wendlitzsee verbrachten; ob diese Be-
obachtung ausreichend ist, möchte ich hier nicht entscheiden; sie wird aber
nicht in allen Fällen durchführbar sein. Übrigens sollen, wie Stern mitteilt,
in Zukunft auch in Berlin neben den Testprüfungen Beobachtungsbogen ver-
wandt werden.
Von größerer Bedeutung scheint mir ein zweiter Einwand zu sein, der sich
mehr gegen die Begabtenauslese ganz allgemein richtet. Ein französischer
Schriftsteller hat einmal gesagt, es sei doch auffallend, daß es in Paris so viele
kluge Kinder und so wenig gescheite Erwachsene gebe. Diese Bemerkung
ist meines Erachtens von prinzipieller Bedeutung. Man erlebt es ja nicht
allzu selten, daß Kinder, die sich früh entwickelt haben, die zu den Wunder-
kindern rechneten und von denen man sich ganz besonders viel versprach,
plötzlich nachlassen, versagen und auf den Durchschnitt oder unter den Durch-
schnitt herabsinken. Das Alter, in dem die untersuchten Kinder stehen, ist
noch zu jung, um irgendwelche sicheren Schlüsse auf die ganze spätere
Entwicklung zuzulassen. Mit dem Eintritt der Pubertät macht der mensch-
liche Organismus gewaltige Verändei-ungen durch, die auch auf das psychische
Verhalten und die Leistungsfähigkeit nicht ohne Einfluß sind. Das Pubertäts-
alter ist zweifellos, und zwar bei beiden Geschlechtern, ein gefährliches Alter,
eine Klippe, an der mancher hoffnungsvolle junge Mensch scheitert. Worin
die Ursache für diesen Umschwung des Näheren zu suchen ist, das entzieht
sich einstweilen unserer Kenntnis, möglich, daß es sich um Einflüsse irgend-
welcher innersekretorischer Stoffe auf das Zentralnervensystem handelt; so
viel steht aber mit Sicherheit fest, daß zur Zeit der Pubertät eine tiefgreifende
Wandlung des ganzen psychischen Verhaltens auftreten kann und in nicht
wenigen Fällen auch auftritt. Wohl jedem von uns sind aus der eigenen
Schulzeit her Mitschüler in der Erinnerung, die bis zu einer gewissen Stufe
zu den ersten gehörten, um dann plötzlich zu versagen; mancher wurde dann
noch gerade so von Klasse zu Klasse mitgeschleppt, mancher aber kam über-
haupt nicht mehr vorwärts und mußte schließlich die Schule verlassen. Hervor-
gehoben sei, daß sich auch auf dieser Altersstufe ausgesprochene geistige
Störungen entwickeln können, so vor allem die Dementia praecox, eine häufige,
in das ganze Wesen der Persönlichkeit tief eingreifende, sie erschütternde
Erkrankung. Andererseits kann man es aber auch nicht selten erleben, daß
Kinder, die schlecht gelernt haben, kaum mitgekommen sind, mit dem Eintritt
der Pubertät, die auch den Eintritt neuer Motive in das seelische Leben be-
deutet, einen bis dahin nie bewiesenen Eifer, ein Streben zeigen, das nun
auch ihre Anlagen, die bis dahin durch die Stumpfheit und Trägheit ver-
deckt waren, zum Vorschein kommen. Ich führe alle diese Dinge an, nicht
weil ich zeigen will, daß eine Auslese der Begabten falsch ist — ich möchte
nicht mißverstanden werden — sondern nur, um darauf hinzuweisen, daß
dieser Begabtenauslese schwere Mängel anhaften, die man kennen muß, wenn
man später nicht enttäuscht werden will; und das wird meiner Ansicht bei
manchen der für die Begabtenschule ausgelesenen Kinder zweifellos eintreten.
Andererseits möchte ich darauf hinweisen, daß doch manchem Kinde Unrecht
geschieht, und daß auch für das spätere Alter noch Möglichkeiten eines Auf-
stiegs geschaffen werden müssen, etwa in der Art, daß man auch den Fort-
Bemerkungen zur Frage der „Begabtenauslese" 335
bildungsschulen Förderklassen angliedert, welche besonders befähigten Hand-
werkslehrlingen und Gesellen die Möglichkeit verschaffen, sich auf den Be-
such von technischen Lehranstalten vorzubereiten, damit gerade der Technik
möglichst viele hervorragende Kräfte zugeführt werden, die ein Handwerk
von Grund auf verstehen, und mit diesen und besonderen wissenschaftlichen
Kenntnissen ausgerüstet, unseren Handel und unsere Industrie fördern können.
Und damit komme ich auf einen weiteren Einwand gegen die Begabten-
auslese. Es werden viel zu sehr allgemein logische Funktionen geprüft, und
viel zu wenig die besonderen Begabungen der Kinder. Zwar haben auch
Moede und Piorkowski einige Tests eingeschaltet, welche die technische
Begabung der Kinder zu beurteilen gestatten. Aber einmal verschwinden
diese gegenüber der großen Anzahl der anderen Tests, und dann wurde
ihnen eine besondere Bedeutung für die Beurteilung einer speziellen Befähigung
nicht beigemessen. Außerdem ist für das Fortkommen im Leben, und das
dürfen wir doch nicht vergessen, daß es sich in letzter Linie darum handelt,
nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praktische InteUigenz erforder-
lich. Deshalb sollte die Prüfung durch Methoden ergänzt werden, die auch
eine Beurteilung dieser ermöglichen. Derartige Tests können aber so gewählt
werden, daß sie gleichzeitig einen gewissen Einblick in die technische Be-
gabung der Kinder gewähren; weitere Tests müßten diese besonders zum
Gegenstand der Untersuchung machen. Es ist ja doch bekannt, daß manche
Kinder absolut keine Sprachen lernen können und deshalb in unseren höheren
Schulen vollkommen scheitern, daß sie aber ein ausgezeichnetes technisches
Verständnis besitzen. Solche Kinder könnte man dann frühzeitig besonderen
Schulen überweisen, die ihnen Gelegenheit geben, gerade diese Seiten ihrer
Befähigung weiter zu entwickeln. Das würde von allergrößter Wichtigkeit
sein ; hier läge auch eine besondere Aufgabe von Förderklassen, welche den
gewerblichen Fortbildungsschulen anzugliedern wären. Gerade jetzt nach dem
Kriege wird der Bedarf an tüchtigen Technikern besonders groß sein, und
die Bedingungen des Fortkommens sind hier sicher günstigere wie in den
meisten akademischen Berufen. Und diesen Gesichtspunkt dürfen wir nicht
unterschätzen.
Je mehr sich die Berufspsychologie, die ja gerade jetzt im Kriege, nicht
zum mindesten auch durch die Verdienste von Moede und Piorkowski
einen ungeahnten Aufschwung genommen hat und weiter nehmen wird, je
mehr wir ein Verständnis davon gewinnen, welche psychischen Funktionen
für bestimmte Berufe erforderlich sind, um so mehr können wir bei der Aus-
bildung differenzieren. Allerdings wird diese Differenzierung immer erst in
einem späteren Alter einzutreten haben, wenn die ganze Entwicklung der
Persönlichkeit schon in festere Bahnen gekommen ist. Dann werden die Erfolge
steigen ; so viel aber steht fest, daß wir trotz aller Mängel, die der Begabten-
auslese heute noch — und teilweise vielleicht überhaupt — anhaften, auf
dem einmal beschrittenen Wege fortfahren müssen. Wir wollen aber darüber
nicht die Sorge für die Minderbefähigten vergessen, die unserer Hilfe bedürfen.
Auch hier ist, wie ich an anderer Stelle zu zeigen hoffe, noch manches zu
bessern, und auch hier leistet uns die experimentelle Psychologie wertvolle
Dienste zu einer gerechten Beurteilung und zu einer richtigen Beratung und
Fürsorge, die in gleichem Maße im Interesse des Staates sowie des Indi-
viduums liegt.
336 Literaturbericht
Literaturbericht.
Die kindliche Phantasie.
Sammelbericht.
Von Ingeborg Schönfeld.
Das Problem der kindlichen Phantasie wird behandelt in Verbindung mit dem
Gesamtaeelenleben des Kindes bei Ernst Meumann*), Paola Lombroso'^), William
Stern^) und Karl Groos*). Als besonderes Kapitel der schöpferischen Phantasie
bespricht Ribot'*) die Phantasie des Kindes. Queyrat') weist den Anteil auf, den
die Phantasie am kindlichen Spiel hat. Valentiner'') und Lobsien') prüfen die
Phantasie des Kindes auf Grund seines Aufsatzes. Über die Methoden zur Er-
forschung und Beschreibung der Phantasie finden sich Angaben bei A. Fischer»)
und in der oben erwähnten Arbeit von Meumann.
Material aus neuen Untersuchungen und spezielle Problemstellungen findet
man in der Zeitschrift Kind und Kunst ^°), bei Dyroff ") und bei Giese*^). Endlich
sei noch genannt Meumann : Neuere Ansichten über die Phantasie des Kindes ")
als eine Auseinandersetzung des Verfassers mit der Auffassung, die Wundt in seiner
Völkerpsychologie von der Phantasie vertritt.
Meumann zeigt in seinem Aufsatze"), daß im heutigen wissenschaftlichen Ge-
brauche das Wort „Phantasie" in zwei Bedeutungen gefaßt wird. Für eine Gruppe
von Psychologen wird Phantasie fast synonym mit Vorstellung überhaupt, so daß
Phantasie für sie jede Art von gestaltender und bildender Tätigkeit ist, die über
das passive Reproduzieren von Sinneseindrücken herausgeht. „Für diese
Psychologen steht es dann von vornherein fest, daß die Abgrenzung eines spezielleren
Phantasiebegriffs, durch welche wir eine besondere Gruppe oder Klasse geistiger
Vorgänge innerhalb der übrigen intellektuellen Prozesse unterscheiden können,
unmöglich ist." Gerade um die Abgrenzung des Phantasiebegriffs zur Schaffung
eines wissenschaftlich brauchbaren terminus technicus bemüht sich die andere
Gruppe. Damit hängt der verschiedene Bedeutungsgrad zusammen, den die Psycho-
logen den kindlichen Phantasieleistungen zubilligen. Die einen neigen dazu, alle
Äußerungen des kindlichen Seelenlebens als Phantasie aufzufassen und dement-
sprechend der Phantasie die Hauptrolle im Seelenleben des Kindes zuzuschreiben.
Sie bezeichnen das Kindesalter geradezu als das Alter der Phantasie und sprechen
von der Unbegrenztheit und Fülle der kindlichen Phantasie, die die der Erwachsenen
weit übertreffe. Andre Forscher sind der Meinung, daß das, was man gemeinhin
Phantasie des Kindes nennt, nicht als Phantasieleistung anzusprechen sei, daß die
*) E. Meumann: Vorlesungen zur Einführung in die experimentelle Pädagogik
und ihi'e psychologischen Grundlagen. Bd. L Leipzig 1907.
^) P. Lombroso: Das Seelenleben der Kinder; deutsch von Helene Goldstein.
^) W. Stern: Die Psychologie der frühen Kindheit. Leipzig 1914.
*) Karl Groos: Das Seelenleben des Kindes. Berlin 1911.
*) Th. Ribot : Die Schöpferkraft der Phantasie (L'Imagination Cröatrice) Bonn 1901.
•^) Queyrat: Le Jeu des Enfants. Paris 1905.
'') Th. Valentiner: Die Phantasie im freien Aufsatze der Kinder und Jugend-
lichen. Beihefte zur Zeitschr. f. angewandte Psychologie. Leipzig 1916.
®) M. Lobsien: Über die Phantasie des Kindes. Pädagogisches Magazin; Heft 393.
Langensalza 1910.
*) A. Fischer: Methoden zur experimentellen Untersuchung elementarer Phan-
tasieprozesse. Zeitschr. f. pädagogische Psychologie. Leipzig.
»°) Kind und Kunst. Illustrierte Monatshefte, Bd. 1—3. Berlin 1906—1909.
") A. Dyroff: Über das Seelenleben des Kindes. 2. Aufl. Bonn 1911.
") Giese : Das freie literarische Schaffen bei Kindern und Jugendlichen, 2. Teil.
Beihefte zur Zeitschr. f. angewandte Psychologie, Leipzig 1914.
**) Zeitschrift für experimentelle Pädagogik, VI. Bd. Leipzig 1908.
") a. a. O. S. 111.
Literaturbericht 337
kindlichen Phantasievorstellungen im echten und engeren spärlich und dürftig
seien, wenn auch — das wird stets eingeräumt — die Phantasie alle übrigenSeelen—
tätigkeiten des Kindes in hohem Maße beeinflußt. Gewöhnlich findet man beide
Auffassungen mit und nebeneinander.
Meuraann grenzt in seinen Vorlesungen *) den Bereich der Phantasie ab von
der Sphäre des Erinnerungslebens. Die Phantasievorstellungen unterscheiden
sich von den Erinnerungsvorstellungen dadurch, daß sie 1. nicht dem Zwecke der
Erinnerung dienen, 2. nicht den Charakter des beziehenden Denkens besitzen.
Sondern es kommen ihnen, positiv gewandt, folgende Merkmale zu: 1. Der Vor-
stellungs- und Denkinhalt interessiert als solcher. 2. Der Vorstellungsinhalt ge-
winnt Wirklichkeitscharakter. 3. Die Phantasietätigkeit geht darauf aus, gegebene
Vorstellungs- und Denkverbindungen zu lösen und neue kombinatorisch aufzubauen.
Um die kindliche Phantasie zu beschreiben, stellt Meumann verschiedene Arten
der Phantasiebegabung zusammen, wobei er betont, daß die Unterschiede relativ
und fließend sind. Teils treten sie beim selben Individuum als verschieden be-
dingte und verschieden verlaufende Phantasieprozesse auf, teils sind sie bei einzelnen
Menschen graduell verschieden. Die Phantasie kann sein:
aktiv (planmäßig) passiv (relativ planlos)
anschaulich abstrakt
lebhaft stumpf
kombinatorisch-produzierend reproduzierend
determinierend abstrahierend
reich-produktiv arm-unproduktiv
subjektiv objektiv
• nüchtern-kritisch phantastisch-unkritisch.
Die Phantasie der Eander ist nach Meumann mehr passiv, anschaulich, sub-
jektiv, phantastisch-unkritisch. Daher ist sie scheinbar produktiv und lebhaft.
Dieser scheinbare Vorzug ist aber Schwäche. Er ist bedingt durch den kindlichen
Mangel an Kritik, Beurteilung und Bewertung des Phantasiegebildes, Unterordnung
unter Wahrnehmung und Erinnerung. Daher kann man sagen, daß das Kind mehr
phantastisch als phantasiebegabt ist. Aus Mangel an Hemmungen wird die Phan-
tasie der Kinder leicht zur Lüge. Diese ist deshalb nicht stets zu verstehen als
Mangel an sittlichem Können und sittlicher Einsicht, sondern sie hängt zusammen
mit Mangel an Kritik und Urteil, an Stärke der Richtung der Aufmerksamkeit auf
das, worauf es beim Bericht ankommt, mit Laune, Suggestibilität, besonders mit der
Absicht, durch Nachgiebigkeit . . . (Gefallen erregen zu wollen) und Gedächtnis-
schwäche.
Die kindliche Phantasie ist mehr reproduktiv-nachahmend, denn sie betätigt
sich fast ausschließlich im Anschluß an Gehörtes, Gelesenes, Gesehenes,
Erlebtes. Als besonderes Merkmal kommt ihr die große und naive Bereitschaft
zu, alle Objekte der Umgebung mit Phantasiegehalt zu erfüllen. Daher spielt die
Personifizierung eine große Rolle, so wie die Einfühlung der Kinder und die Er-
füllung der ihrer Erfahrung entrückten Dinge mit freien Zutaten, die zusammen-
geht mit der Ärmlichkeit der Vorstellungen, so daß diese Phantasiezutaten durchweg
Analogien aus dem engen Kreis der kindlichen Erfahrungen darstellen.
Wenn auch die höhere Aktivität dem kindlichen Phantasieleben fehlt, so besitzt
es dafür die niedere Aktivität, den reproduktiven Tätigkeitsdrang, der sich besonders
deutlich im Spiel kundtut. Hier zeigt sich dann auch ein allmählicher Fortschritt
zur produktiven, selbständig schaffenden Phantasie in der Einfühlung, Belebung
und Gestaltung.
Auf dem gleichen Standpunkte steht Paola Lombroso. Sie geht davon
aus, daß der Selbsterhaltungstrieb die treibende Grundkraft aller Äußerungen des
kindlichen Seelenlebens sei. Dieser Selbsterhaltungstrieb äußert sich 1. in einem
instinktiven Ausweichen vor Arbeit, Mühe, Qual, Unbequemlichkeit, Schmerz,
2. in einer wahrhaft genialen Fähigkeit, aus allen Dingen Freude und Genuß zu
') S. 239 ff.
Zeitsehrift f. pädagog. Psychologie. 22
338 Literaturbericht
schöpfen. Was wir Phantasie nennen, ist oft nichts als diese erste Betätigung
des Selbsterhaltungstriebes. Kinder haben nur eine sehr geringe Phantasie. Wir
nehmen mit Unrecht an, daß zum Beispiel die Märchen deshalb von Kindern so
geliebt werden, weil ihre Phantasie gereizt würde von den wunderbaren und aben-
teuerlichen Geschichten. Diese erschienen den Kindern ganz einfach und natürlich,
um nichts wunderbarer ale alle Geschehnisse der Wirklichkeit. Ihre Leichtgläubig-
keit sieht, in Verbindung mit der kindlichen Trägheit, die sie mit dem geringsten
Schein von Analogie mit dem, was sie schon kennen, von Logik und Vernunft,
sich befriedigen läßt, wenn sie nach Erklärung suchen, in den Märchen eine Antwort
auf viele Fragen. Und die Kinder wollen aufgeklärt sein über alles, wollen gern
alle Dinge klar und deutlich sehen, denn jeder Zweifel und jede Unsicherheit
quält sie. Diesen Wissensdrang befriedigen Märchen leichter und besser als alle
wissenschaftlichen Erklärungen es tun könnten. Märchen deuten eine Menge von
unbegreiflichen Naturgeschehnissen für kindliche Begriffe überraschend einfach
und natürlich, schon weil der Anthropomorphismus des Märchens der kindlichen
Tendenz zum Anthropomorphisieren entgegenkommt, die den Kindern deshalb so
tief eingewurzelt ist, weil sie eben die leichteste Art und Weise ist, sich die Natur-
erscheinungen zu deuten.
Die Phantasie spielt dagegen eine Rolle beim Spiele der Kinder. Sie befähigt
die Kinder, sich aus allen Dingen ein Spielzeug zu schaffen, und alle Erlebnisse,
die sie gehabt oder die sie gehört haben, alle Geschichten, die sie kennen, nach-
zuerleben und darzustellen. Und so ist das Spiel eine Quelle der Freude für die
Kinder und zugleich eine mühelose Vorbereitung auf eine künftige, ernste geistige
Tätigkeit.
Auch Stern') betont, daß die einzelne Phantasievorstellung der Kinder unklar
und arm an Inhalt ist. Gerade dieser Mangel aber fördert die Unbeküramertheit,
mit der die Kinder darauflos phantasieren. Stern versteht unter Phantasie kein
selbständiges, also abgrenzbares, Seelenvermögen. „Wäre die Phantasie, wie man
es wohl früher annahm, ein selbständiges Seelenvermögen, das sich scharf gegen
die anderen Vermögen der Anschauung und der Erinnerung abgrenzte, dann würde
natürlich jedem Vorstellungsinhalte sofort seine Zugehörigkeit zu diesem oder
jenem Seelenschubfach anzumerken sein; es würde die Phantasievorstellung als
subjektiver Schein, die Wahrnehmung und Erinnerung als Zeichen für objektive
Tatbestände erlebt werden." Doch ist die Durchdringung von Wirklichkeitsleben
und Phantasie eine Fundamentaltatsache des Seelenlebens. Jedoch kommen der
Phantasie bestimmte Eigenschaften zu, die sie nicht mit anderen Seelenvermögen
gemein hat: Jede Phantasievorstellung ist konkret und gleicht darin der Erinnerung
und der Anschauung, unterscheidet sich dadurch aber vom Denken mit seinen
abstrakten Inhalten. Die konkrete Bildhaftigkeit ist aber nicht wie bei Anschauung
und Erinnerung Wirkung oder Nachwirkung von Eindrücken, sondern Ergebnis
einer inneren Verarbeitung. Also ist ihr eigentümlich der Zug der Spontaneität.
Das Schöpferische besteht aber nicht im Neuschaffen, sondern in der Verwendung
gegebener Elemente. Nach dem Grade, in dem die Lösung und neue Verknüpfung
gelingt, bestimmt man die „Beweglichkeit" der Phantasie. Die „Anschaulichkeit"
richtet sich nach der Sinnfälligkeit der Phantasievorstellungen. Verschieden ist
ferner die „Reizbarkeit" der Phantasie durch Sinneseindrücke. Verwechslung von
Phantasievorstellungen und wirklichem Erleben findet auch beim Kind nicht statt,
wenn auch der Unterschied von Schein und Sein nicht immer so deutlich bewußt
ist wie bei den Erwachsenen. Das Illusionsbewußtsein ist schon früh vorhanden.
Je stärker die Illusionsfähigkeit der Phantasie ist, desto stärker ist die Lust, die
das Kind empfindet, da mit der Illusion das Gefühl des Befreitseins von Hemmungen
wächst, denen das Kind im wirklichen Leben überall unterworfen ist.
Die unterste Stufe der kindlichen Phantasie ist das mechanische Assoziieren
von Vorstellungen an gegebene Vorstellungs- und Sinnesreize, das durch die relative
Dürftigkeit des vorgestellten Inhalts gefördert wird. Eine höhere Stufe ist das
Symbolbewußtsein, d. h. das Kind hat ein Bewußtsein von der Diskrepanz zwischen
') Kap. XVI S. 184 ff.
Literaturbericht 339
Phantasievorstellung und dem Phantasiereiz, läßt sich aber dadurch nicht in seiner
Illusion stören. Auf dieser Stufe „bedeutet" das Objekt das Vorgestellte, sinkt
lediglich zum Symbol herab. Der höchste Grad der Unbekümmertheit liegt dort
vor, wo die Phantasie überhaupt auf ein gegenständliches Äquivalent verzichtet
und geradezu der Halluzination ähnliche Leistungen ermöglicht. In der Spiel-
phantasie ist eine besondere Nuance des halluzinatorischen Zuges enthalten, das
„Hantieren mit dem Nichts". (Stern gibt in seinem Werke eine große Menge von
Beispielen zur Erläuterung seiner Darlegungen.) Durch die Unbekümmertheit
ist die kindliche Phantasie grundsätzlich geschieden von der ästhetischen Phantasie
des Künstlers und des Kunstgenießonden. „Denn zum Ästhetischen gehört, daß
die Phantasievorstellung eine adäquate objektive Darstellung finde. Und weil eben
für dieses Zusammenstimmen von innerem Gehalt und^äußerer Gestalt dem kleinen
Kinde noch ganz das Organ fehlt, ist das eigentliche Prinzip der Kunst ihm noch
wesensfremd. Das muß hervorgehoben werden gegenüber einem Ästhetizismus,
der womöglich schon um diese Zeit die „Kunst im Leben des Kindes" kultivieren
will. Die wahre Ähnlichkeit der kindlichen und der künstlerischen Phantasie
liegt nicht auf dem Gebiete der Form, sondern auf dem der Illusionsfähigkeit,
des spielenden Sich-Hinwegsetzens über Zwang und Enge der Wirklichkeit. Der-
artige Phantasiebetätigungen sind aber, wie wir sehen, in den frühen Jahren ge-
rade nur durch die Unbekümmertheit um die äußere Darstellung möglich; wird
diese daher unterbunden, so findet leicht eine unerwünschte Beeinträchtigung
der Phantasie statt."
Bei der Untersuchung, wie sich die einzelnen Phantasievorstellungen zu Phan-
tasieketten zusammenschließen, fällt zunächst etwas Negatives auf: das Fehlen
einer beherrschenden und zusammenfassenden Synthese im Gegensatz zum Vor-
handensein einer „determinierenden Tendenz" bei der Phantasie der Erwachsenen,
besonders des Künstlers. Die kindliche Phantasie ist rein assoziativ bedingt und
sprunghaft. Im Gegensatz dazu scheint ein anderes Merkmal zu stehen, das der
Perseveration. Es gibt Phantasieketten, die in der eintönigen Wiederholung der-
selben Glieder bestehen. Doch auch hier fehlt die Synthese. Erst mit steigendem
Alter wird das zu Leistende als Aufgabe antezipiert, und die Determination wird
oine längere Zeit lang festgehalten, so daß nun zusammenhängende Phantasie-
komplexe zustande kommen. Diese wachsende Fähigkeit hängt aber nicht nur
von der eigentlichen Phantasieanlage ab, sondern ist letzten Endes bedingt durch
die Stärke des Willenslebens. Außer der determinierenden Tendenz gibt es noch
eine andere Bedingung, welche allmählich größere Zusammenhänge in die kindliche
Phantasietätigkeit bringt: die dauernde Einstellung. „Es können gewisse Bewußt-
seinsinhalte für einige Zeit eine Überwertigkeit gewinnen und daher in den ver-
schiedensten Situationen als richtunggebende Zielvoratellungen wirksam sein. Das
verbreitetste Beispiel hierfür ist die Auffassung der Puppe als einer bestimmten
Individualität."
Das Fabulieren zeigt uns in paradigmatischer Schärfe alle oben besprocheneu
Eigenschaften der kindlichen Phantasiekotten. Zunächst hat das Kind eine rein
stoffliche' Freude an der Fülle und dem Wechsel anschaulicher Vorstellungen, die
es an sich vorüberziehen läßt. Das Interesse an Wahrheit und Unwahrheit und
am logischen Zusammenhang tritt zunächst ganz zurück. Innerhalb der kindlichen
Fabuliererzählungen kann man mehrere Gruppen unterscheiden, 1. die fremd-
bezüglichen, die nichts mit der Person des Erzählers zu tun haben und die sich
durch Zeitlosigkeit des Inhaltes auszeichnen (z. B. erfundene Märchen, Tier- und
Puppengeschichten.) Diese Zeitlosigkeit verschwindet bei den egozentrischen
Konfabulationen, die auf die Lebenszeit des Kindes in Vergangenheit, Gegenwart
und Zukunft bezogen sind. Das Ausmalen künftiger Freuden ist jedem Kinde
eigen, beginnt aber erst mit dem 5. und 6. Jahre und bezieht sich meistens auf
die nächste Zukunft. Werden die Konfabulationen auf die Gegenwart bezogen,
so haben wir es mit dem eigentlichen Spiel zu tun. (Stern behandelt das Spiel
in einem besonderen Kapitel XVIII.) Die auf die Vergangenheit bezogenen Phan-
tasieerzählungen wirken der Form nach wie Aussagen über tatsächlich Erlebtes,
22*
340 Literaturbericht
sind aber trotz des unwirklichen Inhalts nicht für Aussagefälschungen und Lügen
zu halten, denn es fehlt ihnen der Charakter des Ernsterlebnisses. Sie sind Spiel.
Eine illusionäre Spielrolle wird als vergangen erlebt. Über die Traum ph an tasie
kann man we'nig aussagen, da man auf die Kinderträume nur schließen kann aus
dem Verhalten der Kinder während des Träumens, also nur aus Angstzuständen,
Rufen, Nachtwandeln usw. Aus den Erzählungen der Kinder über ihre Träume
kann man kein Material gewinnen, da die Erzählungen meistens in hohem Grade
verquickt sind mit Konfabulationen.
Was Groos vom Wesen der Phantasie sagt, beruht auf seiner Scheidung des
Seelenlebens in die Vorstellungsseite und die Wertungsseite. Im Vorstellungs-
leben ist zu unterscheiden das Material und die Synthesen des Materials. Das
Material sind die sensorischen und die reproduktiven Daten. Letztere können
selbständig als \ orstellungen im engeren Sinne auftreten und unselbständig in
Verwechslung mit sensorischen Daten, die uns in den Sinnesempfindungen gegeben
sind. Vorstellungen teilt er ein im Gegensatz zu der gewöhnlichen Unterscheidung
von Erinnerungs- und Phantasiebildern in Vergangenheitsbilder, Zukunftsbilder
und freie Imaginationen. Die Synthesen des Materials teilt Groos ein in zwei
Gruppen, die er Verknüpfungen und Verwachsungen nennt. „Dieser Unter-
scheidung ') liegt die fundamentale Tatsache zugrunde, daß die in einem Bewußt-
seinsfelde vereinigte Mannigfaltigkeit zeitlich-räumlich auseinandergehalten sein
kann. Wo dies der Fall ist, wo also das Mannigfaltige in einem Feld des Bewußt-
seins vereinigt und doch zugleich räumlich oder zeitlich gesondert ist, sprechen
wir im Anschluß an Külpe von Verknüpfungen." „Es gibt auch Synthesen, die
sich als die Einheit eines nicht zeitlich oder räumlich gesonderten Mannigfaltigen
darstellen. Weil diese Sonderung fehlt, handelt es sich hierbei um viel engere
Verbindungen. Wir wollen sie ... . Verwachsungen nennen. Die Verwachsung
scheint für das naive Bewußtsein gar nichts Mannigfaltiges zu enthalten, während
die aufmerksame, auf Analyse gerichtete Beobachtung entweder tatsächlich ver-
schiedene Inhalte an ihre Stelle treten sieht, oder doch mittelbar zu dem Schluß
gelangt, daß Inhalte, die gesondert erlebt werden können, hier zu einer einheit-
lichen Gesamtwirkung ineinandergefügt sind." „Es ist einleuchtend, daß auch die
Verknüpfungen und Verwachsungen nur in der Abstraktion zu trennen sind. Jede
Verwachsung schaltet sich dem zeitlichen Verlauf des Erlebens und damit zeit-
lichen Verknüpfungen ein; ebenso enthalten die Teile einer Verknüpfung immer
Verwachsungen. Eine weitere Art von Synthesen existiert auf der Vorstellungs-
seite nicht."
Die Phantasie des Kindes umfaßt die Illusionsfähigkeit und die Kombinations-
fähigkeit. Die kombinatorische Phantasie besteht in Verknüpfungen reproduktiver
Daten. Die Phantasie kann von jeder der oben erwähnten drei Gruppen repro-
duktiver Daten Gebrauch machen. Es ist möglich, ein Idealbild der Vergangenheit
zu entwerfen, aber das Hauptgebiet der kombinatorischen Phantasie ist bei den
freien Imaginationen und den Zukunftsbildern zu suchen. Die Kombinations-
fähigkeit ist ermöglicht durch die Gesetze der Assoziation. Das ordnende Prinzip
ist die Nachwirkung oder „Sekundärfunktion" der „Obervorstellungen". Was Groos
damit meint, führt er an anderer Stelle aus'^). „Auch wenn eine Vorstellung a, auf
welche assoziativ eine zweite Vorstellung b gefolgt ist, für das Bewußtsein ver-
schwindet, so wird der ihr zugrunde liegende Erregungsprozeß doch nicht sofort
zur Ruhe kommen. Es bleibt vielmehr für kürzere oder längere Zeit eine Nach-
erregung (Sekundärfunktion) bestehen, deren Vorhandensein bei absichtlich fort-
gesetzten Assoziationsketten durch das nicht seltene „unmotivierte" Wiederauf-
tauchen der Ausgangsvorstellungen erwiesen wird. (Wenn beim Experiment die
Assoziationen ins Stocken kommen, kann man das sehr häufig beobachten.) Diese
Nacherregung a wird nun nicht ohne Einfluß sein, wenn von b aus verschiedene
Wege offen stehen. Nehmen wir z. B. an, es seien drei Möglichkeiten c*, c\ c^ ge-
») S. 34—35.
^) Otto Groß: Die cerebrale Sekundärfunktion. 1902.
Literaturbericht 341
geben, die an sich alle eine gleiche Reproduktionstendenz besitzen würden, sofern
nur b in Betracht käme, von denen aber c* auch in einem Berührungsverhältnis
mit a steht, so ergibt sich von da aus die Begünstigung von c*. Und wenn wir
uns von da aus weiter Möglichkeiten d*, d^ d^ vorstellen, so wird die Nacherregung
von a, b und c* abermals diejenige unter ihnen begünstigen, die in derselben
Richtung liegt." Auf solche Weise wird die schöpferische Tätigkeit der Phantasie
erst möglich gemacht.
Die Leistungen der Phantasie sind L das Vergrößern und Verkleinern, analog
den Erinnerungstäuschungen von quantitativem Charakter, das bis zur bewußten
Übertreibung geht. 2. Das Ablösen einzelner Eigenschaften von einem Komplex
und ihre Übertragung auf ein anderes Ganzes. 3. Die assoziative Vereinigung von
ganzen Vorstellungskomplexen, die noch nicht oder nicht so vereinigt waren, als
Hauptleistung der kombinatorischen Phantasie. Auch Groos unterscheidet wie
Stern als erste Gruppe die reagierenden Assoziationen. Dann folgt das Kom-
binieren mit Attraktionszentrum, nach einer Idee, einem Einheitsprinzip. Auch
Groos geht hier auf den Unterschied der kindlichen Phantasie von de j des Künstlers
ein*). „Und wenn beim Künstler eine solche Idee nur ein schwach umrissener
Aufbau von Vorstellungen zu sein pflegt, der sich während der Ausarbeitung viel-
fach verändert, so ist das hier bei dem Kinde noch viel deutlicher zu erkennen.
Denn der Künstler arbeitet doch in viel höherem Maße aktiv und planmäßig,
während die Phantasie des jüngeren Kindes passiver ist und leichter die Richtung
ändert." Aus der Fähigkeit so zu kombinieren, entwickelt sich bei manchen Kindern
eine Fertigkeit des Erzählens. „Andere Kinder knüpfen an eine beliebige Ge-
schichte oder an einen dem Leben entnommenen Gedankenkreis an und
spinnen das Thema in einsamen Träumereien selbständig weiter, ohne ihre Er-
findungen dem Papier anzuvertrauen. Ein solches Nachträumen, das der künst-
lerischen Produktion näher steht, als das Träumen im Schlafe, ist vermutlich ver-
breiteter als man weiß. Die meisten Menschen, Kinder wie Erwachsene, verschließen
dieses verschwiegene Walten tief in der Brust, und manche mögen ihr Leben lang
in dem innigsten Verkehr der Liebe oder Freundschaft stehen, ohne je durch ein
Wort die geheime Traumwohnung zu verraten, in die sie sich täglich zurückziehen
und deren Schlüssel sie niemals ausliefern. Hier stoßen wir auf .... relativ ab-
geschlossene Erlebnissphären." Um so kecker zeigt sich eine andere Phantasie-
leistung der Kinder am hellen Tageslicht, nämlich das Lügen. Als Phantasieleistung
kommen weder die „heroische" noch die „Partei"lüge oder die „egoistische" Lüge
in Betracht, sondern die „phantastische" und die „pathologische" Lüge.'^) „Die
phantastische Lüge umfaßt die mancherlei Einbildungen und partiellen Selbst-
täuschungen, die in den Spielen des Kindes überall so deutlich hervortreten: das
Kind gibt vor, ein Bär, ein Soldat zu sein etc. Eine letzte Gruppe ist endlich
durch die pathologische Lüge vertreten, welche von der krankhaften Neigung
zum Prahlen und der Lust, Aufsehen zu erregen, bis zu der eigentlichen „Lügen-
sucht" reicht, die als ein unwiderstehlicher Trieb alle Motive der Klugheit und
des Interesses überwindet." Eine Abart der phantastischen Lüge erblickt Groos
im „erklärenden Mythus", einer phantasieraäßig erfundenen Geschichte zur Er-
klärung einer sonst unerklärbaren Tatsache.
Bei der Illusionsfähigkeit hat man es zu tun mit Verwachsungen sensorischer
und reproduktiver Daten. Nicht in Betracht kommt hier diejenige Art von Illusion,
die in einem wirklichen Getäuschtwerden besteht und keine Phantasieleistung
darstellt, sondern die „bewußte Selbsttäuschung«, bei der sich außer der unrich-
tigen Apperzeption auch die richtige Auffassung im Bewußtsein geltend macht.
Die Illusion bedeutet hier einen um seiner selbst willen freudebringenden Zustand,
„den man als ein Spiel der Phantasie bezeichnen kann", ein Aufgehen in dem
phantasiemäßig Erlebten, wobei die objektiv richtige Auffassung auf dem Grunde
») S. 16L
**) Die Einteilung übernimmt Groos von Stanley Hall: Ausgewählte Beiträge
aur Psychologie und Pädagogik. Deutsch von Stimpfl 1902.
342 Literaturbericht
der Seele liegt und ihre Wirkungen ausübt. Solche Annahmen nennt Groos nach
Meinong „Phantasieurteile", die mit gewöhnlichen Urteilen in allem übereinstimmen,
außer im Punkte der Überzeugung. Einen Unterschied, den Meinong dem analog
zwischen wirklichen Gefühlen und Phantasiegefühlen als etwas bloß Gefühlsartigem
aufstellt, will Groos jedoch nicht gelten lassen und verweist auf Meinongs Schüler
Witasek, der meint *) : „Vielleicht aber lassen sich die erfahrungsmäßig vorliegenden
Unterschiede zwischen . . . Phantasie- und Ernstgefühl nur lediglich darauf zurück-
führen, daß jenes Annahmen, dieses Urteile zur Voraussetzung hat." Die Be-
dingungen für die bewußte Selbsttäuschung sind nicht zu starke und nicht zu
schwache Nachwirkung der richtigen Auffassung und eine nicht zu große Ähnlich-
keit zwischen dem Dargebotenen und dem willkürlich Aufgefaßten. Bei der be-
wußten Selbsttäuschung kann man einen Unterschied machen zwischen dem, was
Groos der Halluzination in der unbewußten Selbsttäuschung analog nennt,
und der Illusion im engeren Sinne. Der Halluzination entspricht das Anhören
und Losen von Märchen und anderen Erzählungen, d. h. der äußere Anlaß der
Phantasievorstellungen (Stimme des Erzählers, gedrucktes Papier) kommt nicht
in Betracht. „Geht nun hierbei der Hörende oder Lesende so völlig in dem In-
halt des Erzählten auf, daß die reale Umgebung in seinein Bewußtsein immer mehr
zurücktritt, während die von dem Bericht erregten Vorstellungen, begleitet von
verschiedenartigen Wertungen und unterstützt durch hinzutretende Organempfin-
dungen, das Feld beinahe für sich allein behaupten, so nähert sich sein Zustand
unverkennbar den Halluzinationen eines Hypnotisierten an, nur daß sich die voraus-
gegangene und wiederkehrende Auffassung der realen Umgebung in der für die
bewußte Selbsttäuschung charakteristischen Weise geltend macht." Hierher ge-
hört auch das naive ästhetische Genießen. Mit Illusion im engeren Sinne haben
wir es bei den eigentlichen Illusionsspielen zu tun. „Ob nun die unbestimmtere
sinnliche Auffassung oder eine weitergehende Verengerung des Bewußtseins oder
die damit zusammenhängende schwächere Nachwirkung der objektiv richtigen
Apperzeption den Hauptgrund bildete: jedenfalls haben wir hier eine Erscheinung
vor uns, die zu dem oftgehörten und in Hinsicht auf die Kombinationsfähigkeit
irrigen Ausspruch berechtigen kann, daß das Kind „mehr Phantasie" habe als der
Erwachsene." Bei der bewußten Selbsttäuschung im Spiel handelt es sich um ein
doppeltes: Nicht nur die äußere Gestalt des Vorgestellten wird in beliebige Ob-
jekte hineingesehen, sondern es findet auch ein Hineinverlegen psychischer Vor-
gänge in den toten Gegenstand statt.
In seinem Werk über die schöpferische Phantasie behandelt Ribot die pro-
duktive Phantasie der Kinder im Zusammenhang mit der Entwicklung der Phan-
tasie.2) Der Zeitpunkt, in dem die schöpferische Phantasie beim Kinde auftritt,
ist nicht genau zu bestimmen, denn sie löst sich ganz allinählich von der produk-
tiven Tätigkeit des Geistes los. Gleichwohl ist aus organischen und psychologischen
Gründen ihre Entwicklung eine ziemlich späte. Die organischen Gründe liegen
in der erst später erfolgenden Isolierung und Differenzierung der Sinnes- und
Assoziationszentren,^) Die psychologischen Gründe leuchten ein, wenn man sich
erinnert, daß die Phantasie eine Bildung dritter Ordnung ist. „Sie setzt ein
Erstes (Empfindungen und einfache Erregungen) und ein Zweites (die Bilder und
ihre Assoziationen, gewisse logische Elementaroperationen usw.) voraus.*' Das
Kind muß nun erst volle Sicherheit erlangt haben in der Ausübung der primären
und sekundären Operationen, ehe die schöpferische Phantasie möglich ist. Ribot
sagt dann weiter: „Mit Baldwin kann man vier Epochen in der geistigen Ent-
wicklung beim Kinde unterscheiden: 1. die affektive (rudimentäre Sinnesempfindung,
Lust und Schmerz, einfache motorische Anpassungen), 2. und 3. die objektive, in
der der Verfasser zwei Stadien unterscheidet: im ersten Erscheinung der besonderen
Sinne, des Gedächtnisses, der Instinkte, besonders zu Verteidigungszwecken, der
') Grundlinien der Psychologie, Leipzig 1908. S. 331.
2) S. 72.
') Ribot stützt sich hier auf Flechsig: Gehirn und Seele, 1896.
Literaturbericht 343
Nachahmung, im zweiten ein kompliziertes Gedächtnis, komplizierte Bewegungen,
aggressive Aktionen, rudimentärer Wille. 4. Die subjektive oder endgültige Epoche
(bewußte Gedanken, fester Wille, ideale Gefühle). Wenn dies Schema der Wirk-
lichkeit entspricht, muß die Entstehung der Phantasie in die dritte Epoche (d. h.
das zweite Stadium der objektiven Epoche) verlegt werden, welche die für ihre
Entstehung und Entwicklung notwendigen und ausreichenden Bedingungen erfüllt."
Bei der Entwicklung der kindlichen Phantasie lassen sich wiederum vier Haupt-
stadien unterscheiden, deren zeitliche Reihenfolge natürlich nicht unabänderlich
feststeht. Das erste Stadium ist charakterisiert durch die langsame Entwicklung
der produktiven Phantasie aus der reproduktiven. Ihr Haupttyp ist die Illusion,
eine Zwischenform, die, ohne Schöpfung im eigentlichen Sinne zu sein, aus Er-
innerungsbildern bestehende Konstruktion ist. Ihren wirklichen Charakter zeigt
die schöpferische Phantasie im zweiten Stadium, in der Form des Animismus,
der Belebung aller Dinge, die auf einer Art Autosuggestion beruht und etwas
Wirkliches als Stütze braucht, so gering es auch sei, das der Phantasievorstellung
Objektivität gibt. Das dritte Element des Animismus ist der Glaube, d. h. die
auf rein subjektive Gründe gestützte Bejahung des Geistes, die abhängt von den
motorischen Elementen unserer Organisation. Vollständig ist diese Bejahung nicht,
denn es liegt keine Verwechslung von Phantasie und Wirklichkeit vor. Das dritte
Stadium fällt zeitlich mit dem zweiten zusammen, das Spiel, das eine Kombination
von Bewegungen und Bildern darstellt. Es beginnt mit Nachahmen und entwickelt
sich zu kühneren Versuchen, Ideen, die dem Kinde vorschweben, zu verwirklichen.
Im vierten Stadium tritt die romantische Erfindung auf, die rein innerlich und
nur mit Bildern arbeitend, ein größeres Verständnis erfordert. Sie erwacht im
dritten oder vierten Lebensjahre. Die Freude der Kinder an Geschichten und
Erzählungen ist ein Vorspiel zur Schöpfung, ein halb passiver, halb aktiver Zu-
stand. Die ersten Versuche sind mehr Ntichahmungen als Neuschöpfungen. „Die
Phantasie arbeitet in zwei Richtungen. Die eine, hauptsächliche, ersinnt Spiele,
erfindet Erzählungen und bereichert die Sprache. Die andere, nebensächliche, ent-
hält den Keim eines Gedankens und wagt eine chimärische Erklärung der Welt,
die noch nicht aus abstrakten Begriffen und Gesetzen verstanden werden kann."
Queyrat schreibt in seinem Buche über das Spiel der Kinder in Überein-
stimmung mit Ribot der kindlichen Phantasie folgende Tätigkeiten zu: I. das
phantasiemäßige Aufnehmen von Sinneseindrücken (perception illusoire), das be-
steht 1. in der Deutung von Sinneseindrücken nach der Erfahrung (einen Ton als
Glockenton), 2. im Deuten von Formen in Formlosem, 3. in der Umformung der
Wirklichkeit, 4. in der Üertreibung und Umformung auf Grund ungenauer Erfah-
rung, IL die Belebung aller Dinge, die stattfindet L im Glauben an überall ver-
breitete Naturwesen, 2. in der Personifikation von Sachen, 3. in der Personifikation
von Abstraktionen, III. das Spiel, dem die Hauptausführungen des Buches ge-
widmet sind; IV. in der romantischen Erfindung, die auftritt a) als Belebung der
wirklichen Welt mit Personen, die das Kind aus Geschichten kennt, b) als Vor-
stellung einer ganzen Begebenheit nach Anreiz eines Wortes, einer Erzählung, c) als
Selbsterfindung von Erzählungen, sei es, daß die Kinder nachdenken über das,
was ihnen auffällt und es sich zu erklären suchien, oder daß sie Gehörtes weiter-
spinnen oder ganz selbständig Geschichten erfinden.
Queyrat kommt im Verlaufe seiner Darlegungen über das Spiel noch einmal
auf die kindliche Phantasie zu sprechen und zeigt den Anteil, den die Illusion
am Spiele hat. Zunächst ist dem Kinde, so meint er, die Illusion bewußt. Dann
vergißt es, daß es „eine Rolle spielt", und scheint ganz in der Wirklichkeit zu
leben. Daher sind die Kinder gekränkt, wenn die Illusion gestört wird, wenn z. B.
ein Fremder dazukommt, oder wenn andere Kinder nicht imstande sind, sich in
die gleiche Rolle zu versetzen. Es gehört zu dem Wesen der Illusion, daß I. ein
Vorstellungskomplex in dem Kinrde vorhanden ist, daß 2. eine noch so gering«
Unterstützung von Seite der Wirklichkeit stattfindet, daß 3. der Glaube an di«
Illusion vorhanden ist. Die Stärke der Illusion erklärt Queyrat auch dadurch,
daß Vernunft, Erfahrung und Kenntnis der Naturgesetze noch nicht stark genug
344 Literaturbericht
sind, um die Illusion zu zerstören. Doch verhindern andererseits die Umstände
des Spiels selbst und das Bewußtsein seiner eigenen Tätigkeit, daß das Kind sich
nicht völlig täuschen läßt.
Lobsien und Valentiner untersuchen die Phantasie des Kindes auf Grund
seines Aufsatzes. Valentiners Untersuchung zeichnet sich durch ein besonders
reiches Untersuchungsmaterial aus. Er läßt die Kinder eines von fünf Themen
wählen und darüber einen freien Aufsatz schreiben, nachdem er einen Anfangs-
satz gegeben hat, und untersucht die einzelnen Phantasievorstelllungen des vor-
liegenden Materials auf ihre typische un d symptomatische Bedeutung hin und sucht sie
zu begreifen in Beziehung auf eine größere Einheit, eine besondere Schaffensart und
einen besonderen Schaffensgegenstand der Phantasie. Bei diesem Verfahren —
Valentiner nennt es selbst das synoptische — erhält er eine Anzahl typischer Bilder,
die jeweils einen Abschnitt aus der gesamten Phantasieleistung zusammenfassend
darstellen. Diese Bilder erscheinen einmal als geistige Produkte einer größeren
Anzahl von Schülern, die nach Alter, Geschlecht, Begabung zusammengehören.
Weiter aber erscheinen sie auch als Komplexe von Phantasieleistungen einer be-
stimmten Schaffensart. Es ergab sich nämlich, daß das eigentlich Charakteristische
in der Regel drei verschiedenen Typen angehört, dem Kindheitsty p(9 — 13 Jahre),
dem jugendlichen (14 — 15 Jahre) und dern Typ der über 15 Jahre alten Kinder.
Ferner ergab sich, daß die Phantasie der Kinder in drei Erscheinungsformen auf-
trat: 1. sie vermenschlicht leblose Dinge und Tiere, 2. sie verknüpft das Ich und
Ichbestimmungen mit Vorstellungsgrenzen, die ohne diese Beziehungen lediglich
Reproduktionen wären, 3. sie erschafft Bilder, Situationen, Szenen, ganze Erzäh-
lungen. Dazu kommen noch andere Phantasieleistungen, die mit den genannten
zusammenhängen. Am einfachsten veranschaulicht vielleicht das folgende Schema
die Art und die Ergebnisse von Valentiners Untersuchung. Es gibt zugleich eine
Übersicht über die Quellen der Phantasie. (S. Tabelle S. 345.)
Lobsien schreibt fünf Worte an die Tafel und läßt darüber freie Aufsätze
schreiben. Er untersucht das Material auf die Qualitäten der Phantasie hin, wie
sie sich in den einzelnen Gedanken äußert. Er gebraucht zur Vereinfachung der
Feststellung ein Schema, dem die von Meumann^) aufgestellten Eigenschaften der
Phantasie zugrunde liegen in Verbindung mit einem anderen Einteilungsprinzip,
auf das auch Meumann hinweist und das sich nicht ergibt aus dem Wesen der
Phantasie, sondern sich bezieht auf die Gegenstände und Richtungen der Phan-
tasie. „Darunter*) sind zwei Hauptgruppen zu unterscheiden, die Phantasie kann
gerichtet sein auf das intellektuelle Gebiet und auf Werte. Innerhalb des ersten
Gebiets ist ihre Tätigkeit gerichtet entweder auf die Lösung und Kombination
rein sinnlich anschaulicher Momente oder auf abstrakte Gedankenreihen. Innerhalb
der Werte kann die Phantasie gerichtet sein auf praktische, ethische, ästhetische
oder religiöse."
„Offenbar lassen sich zwischen diesen beiden Einteilungen, der psychologischen
und der objektiven, mancherlei Beziehungen herstellen; denn die eine weist die
Ziele, die andere die Art der Phantasietätigkeit auf. Weil aber die Form der Phan-
tasiebetätigung doch auch von ihrer Richtung abhängig ist, lassen sich bei einer
Vereinigung beider Schemen mehrere der formalen Bestimmung en streichen. In
Frage kommen die Bezeichnungen : anschaulich-abstrakt, und ab^trahierend-deter-
minierend, d. h. für das intellektuelle Gebiet der Phantasiebetätigung; für das
andere behalten sie natürlich ihren Wert. Demnach bleiben zweimal sechs und
vier mal acht, zusammen achtunddreißig Möglichkeiten verschiedener Phantasie-
betätigung bestehen, bezw. sechsundsiebzig — eine sehr große Anzahl! Die
Schwierigkeit wächst noch besonders dadurch, daß die Unterschiede alle relativer
Natur sind. Ist schon nicht einmal leicht, für die schriftliche Arbeit eines Schülers
die Abwertung vorzunehmen, so steigert sich die Schwierigkeit noch erheblich, wo
es darauf ankommt, die einzelnen Schüler gegeneinander abzuschätzen." Immer-
^) Siehe oben.
») S. 23.
Literaturbericht
346
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346
Literaturbericht
hin kommt Lobsien zu folgenden Hauptergebnissen:') ,,Die Phantasie tätigkeit hat bei
keinem der Prüflinge ganz versagt, sie ist überall nachweislieh. Als typisch gilt
für alle untersuchten Prüflinge, mit geringer Ausnahme, daß die Phantasietätigkeit
gerichtet ist auf intellektuelle Dinge und unter diesen nach der Seite der An-
schauung, Abstrakta finden wir nie, Werte höchst selten bestimmend, Das trifft
sowohl bei armer wie bei reicher Phantasiebegabung zu. Die Art und Weise der Be-
tätigung muß als nüchtern charakterisiert werden."
Phantasie.
Intellektuell
Wert
Richtungen
anschau-
lich
abstrakt
prak-
tisch
ethisch
ästhe-
tisch
religiös
aktiv
lebhaft
kombinatorisch-produk-
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reich
subjektiv
phantastisch
* anschaulich
* abstrahierend
passiv
stumpf
reproduzierend
arm
* determinierend
objektiv
nüchtern-kritisch
'
....
„Vergleicht man die einzelnen Gruppen untereinander, dann wird man zwar
sagen dürfen, daß, je umfangreicher die Phantasiebegabung ist, auch die Art ihrer
Betätigung im allgemeinen mannigfaltiger wird, man sieht sich genötigt, zur Charak-
terisierung des Individuums immer mehr Bezeichnungen zu wählen, immer mehr
Mischformen zu konstatieren Größere qualitative Mannigfaltigkeit und Umfangs-
erweiterung quantitativer Art gehen durchweg Hand in Hand. Den Grundein-
schlag bildet trotz aller Umfangserweiterung die anschauliche Richttuig der Phan-
tasietätigkeit, und diese Anschaulichkeit der Richtung ist wohl auch die Haupt-
grundlage für die nüchterne Art der Betätigung."
„Hier und dort konnte die Phantasiebetätigung als phantastisch charakterisiert
werden. Das äußerte sich teils in sprunghaften, unvermittelten Übergängen, im
Anfügen von Glückszufällen, im Drang in die Ferne und Weite — oft war es
nicht zu entscheiden, ob diese Betätigung eine natürliche oder dtu*ch Lektüre von
Märchen vmd Sagen angelernte Eigenart war. Doch war im allgemeinen die Neigung
zu Phantastereien in sehr geringem Maße vorhanden.
Ethische und ästhetische Richtungen der Phantasiebegabung waren nur in
einzelnen Fällen auffindbar und nur bei reicher Phantasiebegabung."
Wir haben in den oben besprochenen Arbeiten schon mehrere Methoden kennen
gelernt, die zur Erforschxmg der kindlichen Phantasie führen können. Die Mehr-
zahl der Forscher benützt die phänomenologische Methode. Sie beschreiben und
deuten die ihnen vorliegenden Tatsachen, die sie auf Grund von Beobachtung aa
sich selbst oder Kindern festgestellt haben oder die sie aus Erzählungen \ind Be-
richten anderer entnommen haben, eine Methode, die stets die wichtigste Aufgabe
bei der Erforschung der Phantasie zu lösen haben wird. Die beiden letzten Ver-
fasser haben die experimentelle Methode angewandt, indem sie zum Zweck der
Untersuchung Bedingungen schufen, die die Betätigung der kindlichen Phantasie
') S. 41—42.
Literaturbericht 347
zur Folge hatten. Beide gehören zu der Gruppe, die A. Fischer in seiner Be-
sprechung der Methoden') Methoden der Erfindung nennt. Die Methode der Er-
findung besteht in der Stellung von Aufgaben, deren Lösung nicht ohne Kora-
bination oder Antizipation möglich ist. Fischer schlägt folgende Arten der Methode
als brauchbar vor: Die Stichwortmethode (wie sie Lobsien angewandt hat) besteht
darin, daß den Kindern ein oder mehrere Wörter gegeben werden, über die sie
einen Aufsatz schreiben sollen. Oder man gibt ihnen einen ,, Anfang", eine Ausgangs-
situation (wie Valentiner), da es den Kindern bekanntlich am schwersten wird,
einen Anfang zu finden, so daß mitunter die ganze Phantasietätigkeit durch diese
Schwierigkeit gehemmt wird. Oder ,,man erzählt") den Kindern ein Märchen, eine
Sage oder Geschichte bis zu einem bestimmten Punkt bzw. man liest sie vor,
vielleicht bis mitten in die Verwicklung hinein, oder bis die Katastrophe in Sicht
tritt. Dann wird abgebrochen mit der Instruktion, den Schluß zu finden." Oder
das Kind wird veranlaßt, zu einer Geschichte, deren Schluß ilim nicht behagt,
einen neuen Schluß zu finden. Eine Variante dieser Methoden ist die Methode
der Parallelerfindung, d. h. ,, Kindern wird eine Geschichte erzählt mit einer be-
stimmten Lehre oder einem gewissen Schlußeffekt und daran die Axifforderung
geknüpft eine ähnliche Geschichte zu erfinden. Ein andermal ist der Ausgangs-
punkt eine zyklische Zeichnung wie in unseren Witzblättern oder bei Busch, und
die Versuchsinstruktion verlangt vom Kinde eine ähnlicherSzenenfolge. Die Methode
läßt viele Anwendungen zu, wenn man die Aufgaben enger und weiter faßt, das
Gebiet, auf dem sich die Parallelerfindung bewegen soll, bereits festlegt oder offen
läßt, die Methode erlaubt die Verwendung auch im Klassenexperiment." Grüne-
wald ^) hat diese Methode angewandt, indem er eine Anzahl Kinder im Anschluß
an Geschichten aus dem Lesebuche ähnliche Erzählungen nachbilden oder frei er-
finden ließ. Man wird bei diesen Experimenten nie reine Phantasieleistungen er-
halten. Jedenfalls darf man aber eine starke Beteiligung der Phantasie der Kinder
voraussetzen. Fischer empfiehlt ferner die Analyse der Träume, speziell der Wach-
träume für das Studium der Phantasie, obwohl der Traum auch keine reine Phan-
tasieleistung ist, sondern wesentlich eine unwillkürliche Assoziation von Bildern
und Einfällen.
Um festzustellen, wie stark eine Reproduktion vom Originaleindruck abweichen
muß oder welcher Art, wenn sie den Charakter der Phantasie annehmen soll, dienen
die Reproduktionsmethoden. „Der Methode der Reproduktion stehen heute die
günstigsten Anwendungsmöglichkeiten offen. Man kann entweder einen einzelnen
Eindruck als Reiz verwenden, diesen verschieden nach dem Sinnesgebiet und dem
Grade" der Zusammengesetztheit wählen, oder man kann kürzere und längere, nach
einem bestimmten Prinzip aufgebaute Reihen von Eindrücken als Material ver-
wenden. Variiert man Länge, Einprägezeit, Abstand, so können die einzelnen,
ursächlichen Momente einigermaßen isoliert werden.". •
Meumann empfiehlt in seinen Vorlesimgen*) als brauchbar außer den Repro-
duktionsmethoden „die Untersuchungen der Aussage des Kindes zur Kontrolle des
Verhältnisses von Phantasie, Wahrnehmung, Erinnerung, Urteil, sowie jede wirk-
liche Kombinationsmethode". Dazu gehört die Methode von Ebbinghaus, die darin
besteht, den Kindern Sätze zur Ergänzung vorzulegen, bei denen Wörter und
Silben ausgelassen sind. Meumann ändert diese Methode dahin ab, daß er die
doppelte Aufgabe stellt, 1. die Auslassungen in einem Text einmal auszufüllen,
2. die Alisfüllung mehrfach, mit synonymen Worten vorziinehmen. Er will damit
die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder von ihrer Ergänzungsgabe für seine Leistung
trennen. Ferner kommt in Betracht das Verfahren von Heilbrunner*), der stufen-
M Siehe oben. ^) S. 500.
^) Versuch einer Prüfung der kindlichen Phantasie tätigkeit. Pädag.-psyohol.
Studien 1900. S. 57 ff . *) S. 250 ff.
") Karl Heilbronner , Zur klinisch - psychologischen Untersuchungstechnik,
Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie von Wernicke und Ziehen, XVII.
Heft 2, S. 115 ff.
348 Einzelbesprechungen
weis aneinandergereihte, allmählich an Vollständigkeit zunehmende schematische
Zeichnungen wiedererkennen und interpretieren läßt.
Als Ergänzimg zu den beiden Arten der Methoden, der phänomenologischen
und der experimentellen, erwähnt Fischer noch ganz kvirz andere Möglichkeiten,
die zur Erforschung der Phantasie in besonderen Zusammenhängen dienen, die
biographische Methode, die besonders die Entwicklung der Funktion der Phantasie
in einzelnen Individuen verfolgt, die charakterologische, welche Stellung und Be-
deutimg im Zusammenhang eines Begabungs- und Charaktertypus studiert, die
völkerpsychologische, die auf den Anteil der Phantasie an den Schöpfungen der
Kultur abzielt.
Bei einer Feststellung dessen, was wir positiv von der kindlichen Phantasie
wissen, ergibt sich folgendes:
Die kindliche Phantasie ist verschieden von der Phantasie der Erwachsenen,
besonders des Künstlers. Sie nimmt im kindlichen Seelenleben eine hervorragende
Stellung ein, da sie verquickt auftritt mit Wahrnehmung und Gedächtnis, \ind auf
das Erleben und die Handlungen des Kindes einen großen Einfluß hat. Trotz dieser
großen Rolle, die die Phantasie spielt, darf man nicht jede Äußerung des Kindes
als Phantasieleistung ansprechen. Auch muß man die große Unbekümmertheit,
mit der das Kind darauf los phantasiert, nicht für einen Vorzug, sondern für eine
Schwäche halten. Das Kind ist mehr phantastisch als phantasiebegabt.
Die einzelnen Phantasievorstellungen sind dürftig und arm an Inhalt. Typus
der „nüchternen Phantasie". Die Phantasie des Kindes tritt auf als Lösen und
Verknüpfen eines gegebenen Materials. Die kindliche Phantasie hat mehr einen
reproduktiven als produktiven Charakter, doch kann man aiich beim Kind von
schöpferischer Phantasie reden. Sie ist beim einzelnen Kinde verschieden nach
Anschaulichkeit, Beweglichkeit, Reizbarkeit.
Die Leistungen der kindlichen Phantasie zeigen sich im Spiel, im Erfinden und
Ausmalen von Geschichten, im Wachtraum und erweisen sich als die Fähigkeiten
der Übertreibiing und Fälschung, Vermenschlichung, Belebung, Beseelung, Ein-
fühlung und der freien Erfindung.
Die Phantasieergebnisse sind gekennzeichnet durch die Uneigentlichkeit der
Erlebnissphäre. Die Kinder verwechseln Phantasie nicht mit Wirklichkeit, sondern
sind sich der Illiision bewußt.
Die Phantasie wächst mit zunehmendem Alter, mit der Bereicherung des
Vorstellungslebens, der Erstarkung von Intelligenz und Wille.
Einzelbesprechungen.
Albert Huth, Ein Jahr Kindergartenarbeit. Sammlung Pädagogium. Bd. VIII. Leipzig 1917.
Klinkhardt. 156 S. 4,50 M.
Huth übte seine Tätigkeit im Kindergarten des Vereins Versuchsschule aus, der verschiedene
Fragen der Schulreform untersuchen will, und faßt die Ergebnisse seiner Arbeit und seines
Denkens in einem theoretischen Teil — Kindergartenlehre — und einem praktischen Teil —
Beispiele aus dem Kindergarten — zusammen.
Die Grundidee, die Huth leitet, ist freie Selbstbetätigung der Kinder, Eingehen
auf das Wesen der Kleinen unter Vermeidung geisttötenden Drills. Huth sucht seinen Weg
aus eigenem Forschen und Beobachten heraus, stützt sich aber auch auf Kenntnis der we-
sentlichen einschlägigen Literatur. Doch läßt sich das Gefühl nicht ganz unterdrücken, als
wenn der Verfasser in die andrerorts geleistete praktische Arbeit nicht so tief eingedrungen
oder in seinem Urteil zum mindesten einseitig geblieben sei. Er bringt zwei Namen in merk-
würdige Parallele; Seite 5 seines Buches sagt er: „Durchaus neue Wege zu beschreiten haben
bisher nur zwei Pädagoginnen gewagt: Marielly Hiller in München und die römische Ärztin
Dottoressa Maria Montessori". Die Montessori- Methode wird von Huth gänzlich abgelehnt,
wobei er sich hauptsächlich auf das in den meisten Punkten treffende Urteil Saffiottis') stützt.
1) Zeitschrift für päd. Psychologie 1914.
Einzelbesprechungea 349
Aber um einer Persönlichkeit wie Montessori gerecht zu werden, müssen auch Stimmen genannt
werden, die sich lobend aussprechen. Es seien nur erwähnt:
Lisa Jaffee in: Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. XXVII, 1914 und in: Deutsche
Schulpraxis 1914.
K. Wilker in: Die deutsche Schule. XVII. 1913.
Stern in: Die Umschau. XVIII. 1914.
E. V. Sallwürk in: Pädagogisches Magazin 543.
Meines Erachtens verfällt auch Huth in den Fehler so vieler andrer, Montessori zu einseitig
nach ihren Sinnesübungen zu beiu-teilen, die hoffentlich niemals einen deutschen Kindergarten
ganz ausfüllen werden. Ihr Buch enthält aber noch sehr viel Treffendes und Gutes, daß es
hätte erwähnt werden müssen. Es ist hier nicht der Platz, selbst weiter darauf einzugehen.
Albert Huth, der mit vollem Recht die Verfrühung des Schreib-Lese-Unterrichts bei Montessori
verurteilt, hätte sich hier auch nicht die Gelegenheit entgehen lassen sollen, den gleichen Fehler
zu rügen, der im Kindergarten des Vereins Versuchsschule begangen wird, umsomehr, als die
dort übliche Methode des Biichstabenlottos mir weit unpsychologischer als Montessoris Versuch
erscheint. Dankbar wären ihm außerdem viele gewesen, hätte er hier auch ein kräftiges Wort
gefunden gegen das noch immer in diesem Kindergarten gepflegte Englischlernen. Das nur
nebenbei.
Jedenfalls ist Montessori eine wissenschaftlich ernst zu nehmende Persönlichkeit, die auf
Grund eingehender Studien einen eigenen, wenn auch vielleicht falschen Weg beschritten hat.
Wir können ruhig ihr außerordentlich fein durchdachtes System der Sinnesübung fallen lassen
und auf die überdies reichlich kostspielige Anschaffung des stark nach der experimentell-
psychologischen Seite gravitierenden Materials verzichten — dauernd Wertvolles bleibt bestehen.
Neben der sozialen Bedeutung ihres Werkes müssen wir auch bei objektiver Beurteilung Maria
Montessori dankbar sein, daß sie mit Wort und Tat gegen die Erstarrung und Mechanisierung
des Kindergartenbetriebs gearbeitet hat. Die Richtigkeit der Idee der Sinnesübung im frühen
Kindesalter wird kein Psychologe leugnen und den Wert eigner selbständiger Kinderarbeit kein
Pädagoge verkennen Gerade ihr Vorwurf, daß die Kindergärtnerin zuviel gibt, zuviel beauf-
sichtigt, zuviel befiehlt, statt zu beobachten und daraus zu lernen, trifft leider nur allzu häufig
zu. Auch A. Huth ist davon vielleicht nicht ganz frei zu sprechen, wenn er, allerdings aus
dem edlen Motiv aufopfernder Kinderliebe, nicht wie die meisten andern aus stumpfsinniger
Schulpedanterie heraus, dem Kinde zuviel sich widmet. In dieser Hinsicht möchte ich Ellen
Key's Wort verstanden wissen: „Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Ver-
brechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind." Die Freiheit innerhalb der Betätigung,
die Huth konsequent und mit viel Verständnis für die Kinderseele betont, tut's nicht allein.
Im Kindergartenbetrieb liegt die große Gefahr, daß die Kleinen, ähnlich wie unter der Obhut
einer Mutter, die immer mit ihren Kindern spielt und arbeitet, zur Bequemlichkeit des Sich-
Führen-Lassens erzogen werden, daß zarte Keime zum Selbstbeschäftigen, Selbstfinden in ihnen
durch die zu sehr im Vordergrund stehende Kindergärtnerin frühzeitig ersticken.
Auf alle Fälle hat Montessori versucht, der pädagogischen Welt etwas Ganzes und etwas
Neues zu geben. Das dürfte bei Marielly Hiller doch nicht der Fall sei. So nett einige ihrer
Versuche sind, so gut sie als erfahrene und geschickte Kindergärtnerin den Kinderton zu treffen
sucht und weiß, so wenig Geschlossenes und Positives bleibt übrig, wenn man das abzieht,
was Hut sehr treffend an ihrer Arbeit aussetzt. Wer durch viele Kindergärten beobachtend
gewandert ist, wird überall solch persönliche Ansätze gesehen haben, wo die Leiterin eben
pädagogischen Instinkt besitzt. Mit demselben Recht, wie Huth M. Hiller als neue Pädagogin
nennt, müßten dann alle jene tüchtigen Kindergärtnerinnen erwähnt werden, deren Arbeit ich
im Pestalozzi-Fröbelhaus, in Leipzig, Frankfurt u. a. und nicht zuletzt im Münchner Seminar-
kindergarten beobachtet habe. Die Artikel Hillers über den „Reformkindergarten", den ich als
solchen nicht anerkenne, mögen manchen unkritischen Leser bestochen haben.
Umsomehr Anhänger wird Huth mit seiner Forderung finden, daß Kindergärten ,über den
Standpunkt von Bewahr- und Beschäftigungsanstalten zu erheben sind" (S. 15). Vielen wird
er zu optimistisch erscheinen in der Verfechtung seiner Idee. Im wahren Kindergarten sieht
er ein „Stück der vaterländischen Einheitsschule" (S. 154) — ob er damit Recht behält, kann
nur die Zeit lehren. Er berührt damit die alte Streitfrage, ob der Kindergartenbesuch obliga-
torisch gemacht werden soll oder nicht; ich halte die Entwicklung der nach psychologischen
Gesichtspunkten orientierten Kindergartenerziehung noch nicht für so weit gediehen, um die
angeschnittene Frage nach irgendeiner Seite bestimmt zu beantworten.
Eine reine Freude bereitet Huth dem Leser durch die psychologisch und pädagogisch
begründete Auswahl des Stoffes, den er dem Kindergarten zuweist. Anschauungs-Arbeitsunter-
350 Einzelbesprechungen
rieht, unterstützt durch viele Beobachtungsspaziergänge, Sprechunterricht, Gemütsbildung, Zählen,
außerordentliche Mittel der Vorstellungsbildung durch sogenannten „Gelegenheitsunterricht*,
Körperbildung — und das alles dienstbar gemacht der gesamten Charakterbildung, das sind
Dinge, die wohl jedermann gerne im Kindergarten gelten lassen wird, zumal Huth eine Fülle
von Ausführungen und Anregungen dazu gibt. Drei Stoffkreise läßt er im Kindergarten neben-
einander herlaufen: Kindliches Leben — vom Nahen zum Entfernten — Was das Jahr bringt.
Die Grundsätze, die heute im allgemeinen maßgebend sind für die Stoff auswahl, laufen zum
Teil herzlich weit auseinander: Die einen — ich nenne sie Jünger des mißverstandenen Fröbel
— schwören auf den technischen Stufengang und sind stolz, wenn die Kinder eine fabelhafte
Gewandtheit im vielgepriesenen Karton- Ausnähen, im Falten, Flechten usw. erreicht haben; ob
damit wertvolle Erkenntnis gewonnen, Gemüt und Wille gebildet wird, ist Nebensache. Albert
Hutli geißelt diese Richtung mit erfi-ischender Offenheit. Gegenüber einer anderen Tendenz, das
kindliche Interesse mit formalen Begriffen, losgelöst von jeglichem Wirklichkeitsunterricht, zu
befriedigen, betont Huth die Notwendigkeit des Einheitsstoffes; denn die Hauptaufgabe des
Kindergartens ist, „in den Kindern Gegenstandsbegriffe des täglichen Lebens, der realen Um-
welt wirklich klar werden zu lassen." (S. 25.) Dafür bringt Huth nun eine Reihe trefflicher
Belege; das Wertvollste daran erscheint mir seine Forderung nach einem zweckmäßigen Ganzen,
das aus der gemeinschaftlichen Arbeit der Kinder erstehen soll. Damit deckt Huth einen
Fehler auf, dem fast alle Kindergärten verfallen sind: soviel Kleinzeug, soviel Nichtigkeiten,
soviel Zusammenhangloses. Will man Anfänge zu sozialer Gesinnung im Kindergarten legen,
so muß man eben dem Kinde reichlich Gelegenheit zu Arbeiten bieten, die ein Ganzes sind,
entstanden aus der Tätigkeit ^vieler Einzelner. So erzählt uns Huth, wie er durch Gruppen-
beschäftigung z. B. eine Straße entstehen läßt. Die Einheitsstoffe, die Huth nennt, sind fast
durchwegs lebensfrisch, nicht um jeden Preis ausgequetscht bis zum letzten Tropfen und in
der praktischen Durchführung sicher noch individueller zu gestalten, als sich dies in einem
Buch darstellen läßt. Allerdings werden sich manche der genannten Arbeiten nur mit großer
Aufopferungsfähigkeit einer Kindergärtnerin durchführen lassen , die in ihrem Beruf sich frisch
erhält und stets sich fortzubilden bemüht ist. Möchten Huth's Anregungen, die besonders auch
dem „Gelegenheitsstoff" in seiner großen Bedeutung gerecht werden, allen jenen in die Hand
kommen, die bereits im Besitz des „Einheitsstoffes" sind imd ihn in unglaublichem Schema-
tismus dahin auslegen, daß man sich für ungefähr einen Monat mit einem Stoff zu versehen
habe — ob das Kind gerade daraufhin eingestellt ist, ei'scheint nebensächlich — und daß man
innerhalb dieses Rahmens iftm dem technischen Stufengang mit rührender Engherzigkeit gerecht
zu werden sucht. Der Kindergarten muß sich unbedingt frei halten von jeder Angleichung an
die Schule, stofflich, didaktisch und methodisch.
Die Unterrichtsgänge und Tagesausflüge, die Huth vornimmt, bringen nicht nur Freude
und Abwechslung ins Kinderleben, dienen nicht nur dem gesundheitsfördernden Aufenthalt in
frischer Luft, sie sind auch planmäßig zusammengestellt zur systematischen Erweiterung des
kindlichen Vorstellungskreises. Wege nicht nur zu gehen, sie auch kennen zu lernen — wenn
man das Planzeichnen, selbst in Huth's primitiver Art, auch als etwas früh betrachien mag —
bedeutet eine wichtige Aufgabe der ersten Heimatkunde. Trotzdem darf auch hier nicht des
Guten zu viel getan werden; Kinderleistungen im Wandern, wie Huth sie erzielt, gehen hart
an die Grenzen der Übermüdung.
Sehr viel Beherzigenswertes bringt Huth in seinen Bemerkungen über Singen, Spielen und
Turnen. Mit Recht wendet er sich gegen die noch weit verbreitete Sitte des zeilenmäßigen
Eindrillens eines Gedichtes, das dadurch jede Kindertümlichkeit verliert. Auch die gesonderte
Darbietung von Text und Melodie verwirft Huth. Die Wirkung eines Liedes auf das Kinder
gemüt beruht sicher vor allem auf der Sangesweise ; deswegen aber muß beim Einprägen dem-
Kind ja nicht immer beides zugleich gegeben werden.
Aus Huth's Ausführungen geht klar hervor, daß Kindervers und Lied, Märchen und Er-
zählungen ihren Eigenwert im Kindergarten behalten müssen» dalS sie nie lediglich Mittel der
Sprachpflege sein dürfen, soll nicht das Kindergemüt verflachen und verkümmern. Daß eine
Sprachförderung für das Kind sich daraus von selbst ergibt, ist natürlich. Mit Recht verweist
nun !der Verfasser die reine, gewollte Sprachpflege in den Sprechunterricht, der die Mundart
des Kindes allmählich ins Hochdeutsche überführen soll. Seine praktischen Beispiele (S. 118 ff.)
lassen jedoch dieses Bestreben nicht klar erkennen ; sollte wirklich die Tätigkeil des Erziehers
sich darin erschöpfen, daß er selbst hochdeutsche Fragen stellt, die Kinderantworten weiter
aber nicht auswertet? Die wichtige Aufgabe der Sprachpflege im Volkskindergarten wird
meines Erachtens heute noch stark vernachlässigt; abgesehen vom Schreien und Leiern, das
gern durch die Masse großgezogen wird, klagt manche Mutter, mancher Lehrer mit Recht, daß
Einzelbesprechungen 351
der Kindergarten die Sprache verbildet statt gebildet hat. Die Notwendigkeit rein phonetischer
Übungen — natürlich in kindlicher Weise vorgenommen — wird in den meisten Volkskinder-
gärten gegeben sein. Das Kapitel Kindersprache und ihre Pflege umspannt ja ein weites imd
umstrittenes Gebiet. Mit den Bestrebungen Berthold Ottos kann ich mich nicht solidarisch
erklären, wie der Verfasser dies tut. Kinder wollen gehoben werden und fordern nicht vom
Erwachsenen ihre eigene Sprache, er braucht deshalb noch lange nicht reines Hochdeutsch zu
sprechen, seine Redewendungen müssen vor allem einfach sein. In den Erzählbeispielen, welche
Huth gibt und die an Lebensfrische nichts zu wünschen übrig lassen, vermisse ich jeden An-
satz zur langsamen Sprachhebung; die Kindersprache, die anfangs und in besonderen Fällen
auch Sprache des Erziehers sein muß, soll doch die Tendenz der Entwicklung zeigen ; nur so ist
eine allgemeine Hebung möglich. Erwähnen möchte ich da die feine Unterscheidung von Kl. Groth,
nach welcher Dialekt nur die Sprechweise, die verschiedene Aussprache desselben Wortstofi'es
ist, Mundart dagegen die Sprechart, die Verschiedenheit des Wortstotfes. Selbst wenn Huth
die Anwendung der Altersmundart fordert, wäre ein Dialekt in dem AusmatJ, wie er ihn in
seinen Beispielen zeigt, wohl zu weitgehend. Eine eigene Sache ist es um das Verkindlichen
der biblischen Geschichten; auch hier kann man in erster Linie den Vorwurf nicht unter-
drücken, daß Huth zu weit gegangen ist. Die prinzipielle Frage wird wohl jeder seinem
Gefühl nach anders beantworten.
München. Frieda Seh er mau.
Dr. Thomas Lenschau: Deutschunterricht als Kulturkunde. Leipzig 1917, Quelle
& Meyer. 94 S. 2,56 M.
Als der Bestand unseres Volkes bedroht war, als in den weitesten Kreisen noch nicht das
Bewußtsein des starken Eigenwertes unseres Volkstums hinter den grauen Sorgen des Alltags
zurückgetreten war, da regten sich überall Stimmen, die unser gesamtes Bildungswesen auf
eine völlig neue, vermeintlich allein völkische Grundlage gestellt wissen wollten. Zu dem
Zwecke wurden geradezu revolutionäre Änderungen verlangt, und es war wieder einmal das
hufnanistische Gymnasium, das am meisten herhalten mußte. Besonnene Schulmänner aber
legten sich die Frage vor, ob sich die notwendige Verstärkung der nationalen Bildungselemente
in unserem höheren Schulwesen nicht auch ohne Revolution erreichen ließe. Konkret aus-
gedrückt heißt das: Kann man den deutschen und den geschichtlichen Unterricht in seinen
Wirkungen verstärken, ohne an den bewährten Grundlagen unseres Bildungswesens allzusehr
zu rütteln V Da haben wir nun für den deutschen Unterricht einen schönen Lösungsversuch
in dem vorliegenden Buch. Hier liefert ein erfahrener Schulmann, der sein Gebiet mit erstaun-
licher Gelehrsamkeit beherrscht, einen wertvollen Beitrag zur Lösung dieses Problems, einen
Beitrag, der den Vorzug hat, ohne Umstura vei-wirklicht werden zu können.
Schulfi-agen regen die öffentliche Meinung eigentlich nicht auf. Höchstens finden einmal
temperamentvolle Angriffe auf unser Bildungswesen jenen lauten Widerhall, auf den revolutionäre
Schriften immer rechnen können ; aber durchgearbeitete Reformvorschläge erfordern Nachdenken,
das der moderne Leser von Zeitungsartikeln und kurzen Druckschriften nun einmal nicht liebt.
Und aufregend ist dieses Büchlein wahrhaftig nicht, aber, was unendlich viel besser ist, in
hohem Maße anregend. Und darum könnte es außerordentlich viel Segen stiften, wenn es
nicht nur in dem engeren Kreise der Fachlehrer gründlich studiert würde, sondern auch die
Beachtung aller derer fände, die an deutscher Erziehung mitwirken sollen und wollen.
Das Buch will praktische Arbeit leisten- Aber es ist kein Präparationsbuch für die einzelnen
Stunden, sondern es zeigt dem Lehrer, wie riesengroß das Gebiet ist, das er zu durchackern
hat, und gibt ihm auch Anleitung, wie er seinen Stoff auswählen und für jede Stufe fruchtbar
machen kann. Indessen zeigt es uns die Einführung in das deutsche Kulturleben der Ver-
gangenheit und Gegenwart nicht nur von ferne; es ist gerade darin eine echt philologische
Leistung, daß es. wie Goethe will, die Andacht zum Kleinen erweckt und in der Betrachtung
des Naheliegenden, des täglichen Lebens und seiner Sprache, der Namen, Sprichwörter und
Redensarten, die von Mund zu Mund gehen, unserem heranwachsenden Geschlecht gezeigt
wissen will, wie unsere Väter gedacht und gearbeitet haben. Bewußter Gebrauch der Mutter-
sprache soll das Ziel der deutschen Sprachbildung sein, dazu gehört aber nicht nur ortho-
graphische und grammatische Richtigkeit und stilistische Gewandtheit in ihrem Gebrauch, dazu
gehört auch die Einsicht, wie das ■ gesamte Leben der Vergangenheit auf den Sprachgebrauch
eingewhkt hat und noch viele Jahrhunderte nach seinem Absterben in ihm fortlebt. Aus der
Wortkunde läßt sich die ganze Geschichte der deutschen Kultur mit all ihren Verästelungen
und Verzweigungen entwickeln. So wird die oft als langweilig verschrieene deutsche Gram-
matik zu einem höchst lebensvollen und für die nationale Bildung fruchtbaren Unterrichtszweig.
352 Einzelbesprechungen
U^d je weiter diese zunächst zwanglose Betrachtung zu der Einführung in die Gesetzmäßigkeit
der Sprachentwicklung fortschreitet, desto mehr leistet sie das, was keine Übermittelimg von
Normen und Regeln leisten kann, nämlich Erziehung zu verständnisvollem Gebrauch der
Muttersprache und Einsicht in ihr organisches Leben. Jeder Unterricht aber, der nicht in die
lebendige Gegenwart hineinführt, ist überflüssig und daher schädlich. Biologie, Lebenslehre,
wollen die Naturwissenschaften sein, und darauf beruhen ihre Lehrplanerfolge in den letzten
Jahren. Wie das Kulturleben der Gegenwart geworden ist, das sollen und müssen auch die
sogenannten geisteswissenschaftlichen Fächer aufweisen, und darin liegt auch die besondere
nationale Aufgabe des deutschen Unterrichts. Als Glied des schaffenden Volkes soll sich der
Schüler fühlen und einordnen lernen, die Verpflichtung, das Erbe der Väter zu bewahren und
fortzubilden, muß ihm in Fleisch und Blut übergehen.
Doch der deutsche Unterricht ist nicht nur Sprachlehre. Freilich gilt es, hier am meisten
die bessernde Hand anzvdegen, weil abgesehen von den lateintreibenden Schulen hier häufig
eine gar zu große Belastung mit lediglich formalen Bildungselementen vorliegt. Hierfür ist
die Muttersprache eigentlich zu schade und auch viel weniger geeignet als die Fremdsprachen.
Den Mittelpunkt soll vielmehr die Lektüre bilden, die von immer umfangreicher werdenden
Lesestücken schließlich zu großen einheitlichen Kunstwerken übergeht Deutsches Leben,
Denken und Fühlen der Vergangenheit und der Gegenwart spiegelt sich in ihnen, und darauf
liegt der Hauptton bei der Behandlung und nicht etwa auf der Herausarbeitung von Dispositionen.
Je wirkungsvoller aber die Darstellung des Lebens ist, desto höher ist der Kunstwert. Und
hier liegen die ästhetischen Aufgaben des deutschen Unterrichts. Er muß zeigen, wie der
Künstler das Leben darstellt und es zugleich erhöht.
So führt das schöne Büchlein durch das ganze Arbeitsgebiet dieses wichtigsten Unterrichts-
faches hindurch, überall reiche Anregung spendend. Schließlich zeigt es die Notwendigkeit
und die Möglichkeit einer zusammenhängenden Geschichte des deutschen Geistes an der Hand
seiner hervorragendsten Erzeugnisse bis in die Gegenwart hinein. Und der Verfasser beschränkt
sich nicht auf die Dichtung, er will auch für die Betrachtung der bildenden Künste und der
Musik einen Platz in diesem großen Zusammenhang schaffen, und er tut recht daran. Denn
auch diese Gebiete sind Auswirkungen des deutschen Geistes und zeigen deutsches Leben und
Streben. Den Sinn dafür muß also auch der deutsche Unterricht erschließen.
Aber wehe, dann haben wir ja wieder das Schreckgespenst der verrufenen allgemeinen
Bildung mit ihrem enzyklopädischen Notizenwissen! Gemach, den organischen Zusammenhang
bringt schon die Kunst des Lehrers hinein, wenn er selbst nur gute Augen für die Entwickelung
und Offenbarung des deutschen Geistes hat. Aber es wäre zu wünschen, daß auch die Uni-
versitätslehrer nicht achtlos an diesem Büchlein vorbeigingen; sie könnten daraus ersehen, was
sie dem künftigen Deutschlehrer in sein Lehramt mitgeben müßten, und hier wären noch viele
Mängel abzustellen.
Berlin-Steglitz. Gottfried Brunner.
Dr. phil. August Graf v. Pestalozza, Aufgabe der. geschichtlichen^ Darstellung
der Pädagogik. Langensalza 1917. Beyer & Co. 29 S. 0, 50 M.
Pestalozza führt zwei methodologisch unterschiedene Gruppen von geschichtlichen Darstel-
lungen der Pädagogik an literarischen Beispielen vor: die diskursive und die intuitive.
Die diskursiveMethode unternimmt den Versuch, die Entwicklung des pädagogischen Denkens
darzulegen. Sie ist evolutionistisch. Die innere und äußere Organisation des Erziehungswesens
tritt bei solchem Verfahren als das Mittel entgegen, das der Realisation der pädagogischen Idee
dient. Die diskursive Methode wird daher letzthin reflektierend. In dem geschichtlichen Teil
von Rosenkranz' „Pädagogik als System" (1848) wird von Pestalozza ein Beispiel dieses Ver-
fahrens untersucht. Dagegen stellt sich nun die intuitive Methode darauf ein, den zutage treten-
den Äußerungen des pädagogischen Denkens nachzugehen. Sie bringt die Tatsachen der Er-
ziehungsgeschichte zur Anschauung, ist also nicht erörternd, sondern beschreibend. Es wird von
Pestalozza der Nachweis geführt, daß die historisch-pädagogische Literatur fast ausschließlich
die intuitive Methode, die besser als deskriptive zu benennen wäre, angewandt hat.
Über das Verhältnis beider Verfahren deutet Pestalozza an, daß keine der anderen entraten
könne: Die diskursive Methode würde in leeres Worttum ausarten, wenn sie ablehnen wollte,
sich von der intuitiven Methode das Material reichen zu lassen, und hinwiederum bedarf die
letztere der ersteren als des Kompasses, wenn sie nicht ziellos und ratlos umherschweifen will.
Stollberg. Paul Ficker.
Von der Denkverfassung der deutschen Seele in der Zeit
der großen Krisis.
Von Hugo Gaudig.
Im folgenden gebe ich etwas über die Denkverfassung der deutschen
Seele, wie ich sie in der Zeit der großen Krisis, in der Zeitstrecke von
unserer Bitte um Waffenstillstand bis zur Erklärung der sozialen
Republik, schaute und vermutungsweise erschloß. Es war eine Zeit,
die an die Seele des deutschen Volkes die nachhaltigsten Denk-
forderungen stellte und zugleich die Erfüllung der Forderungen aufs
äußerste erschwerte. Das deutsche Volk erlebte in dieser Zeit Schicksals-
wandlungen wie selten in seiner schicksalsreichen Geschichte; Wand-
lungen, die durch ihr Zeitmaß das Denken zu atemloser Hast aufriefen;
Wandlungen, denen die Zusammenhängigkeit, die Kontinuität, fehlte und
die so dem Denker besonders schwere Aufgaben stellten; Wandlungen,
die den Geist zum Weiterdenken in die Zukunft hinein zwangen und
ihm so die Forderung des vermutenden, ahnenden Denkens, so z. B. der
Schätzung latentertKräf te, auferlegten ; Wandlungen aber vor allem, die
das Gemüt aufs tiefste erregten und so dem Denkwillen und dem
Streben nach Erkenntnis alle Hemmungen der starken Gemütsbe-
wegungen, der positiven und der negativen, in den Weg warfen; end-
lich noch : Wandlungen, die zu schwerwiegenden Wertungen, zu grund-
legenden Wertentscheidungen fortrissen, so unsicher solche Wertungen
ausfallen mußten. Mir aber war diese Beschäftigung mit der Denk-
verfassung der deutschen Seele, der deutschen Menschen, ein harter
Zwang, dem ich mich fügte, weil mir das Achten auf diese Denkver-
fassung namentlich bei den Bewegungen des öffentlichen Lebens seit
Jahren eine Lebensgewohnheit war, auf die ich nicht verzichten durfte
— jetzt, wo es so schwer geworden ist, über das Denken des deutschen
Volkes zu denken.
Die Ereignisse, die schicksalsschwer unseren Zeitraum füllen, sind
sich in einem solchen Zeitmaß gefolgt, daß sie vielfach den Geist der
Volksgenossen betäubt und denkunfähig gemacht haben. Vielen war
es bei den einzelnen Phasen des Geschehens, als verlören sie den
Boden der Wirklichkeit unter den Füßen; sie büßten die Orientierung,
die Möglichkeit sich zurechtzufinden, ein; es war ihnen und ist ihnen
noch oft, als sei die Wirklichkeit ein Traum. Umgekehrt mag es denen,
die die Zeit der Erfüllung gekommen glauben, bei ihrem Denken so
sein, als wären Träume zu Wirklichkeiten geworden. Bei denen, die
das Wirklichkeitsbewußtsein und das Wirklichkeitsgefühl verloren haben,
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie. 23
354 Hugo Gaudig
konnte selbstverständlich der Denkwille, wenn er sich überhaupt regte»
nur schwer sich durchsetzen.
Naturgemäß stand die Denkverfassung der Zeitgenossen in unserer
Zeit unter dem starken Einfluß des bis in seine Tiefe aufgeregten Ge-
fühlslebens. Wie war unser Leben doch bestimmt durch die Spannungs-
und Lösungsgefühle der Erwartung, der Hoffnung, der Ungeduld, der
Enttäuschung, der Überraschung, des Zweifels; welche Unsumme
seelischer Marter haben deutsche Herzen erlitten, ehe sie zu der Ge-
wißheit kamen, daß unsere Widerstandskraft erschöpft war; welches Auf
und Ab von Hoffnung und Furcht; wie oft haben wir die Linie krampf-
haft festgehaltener Gewißheit, quälenden Zweifels, bitterer Enttäuschung
durchlaufen! Und dann wirkten auf unsere innere Gesamtverfassung
neben, in und mit den Spannungsgefühlen dank unserer Einfühlung
in unser ringendes Heer die Kraftgefühle: „die Gefühle des Gelingens,
des Vorwärtskommens", „der Erhobenheit" — und ihr Gegenteil: „die
Gefühle des Mißlingens, des Zurückmüssens", des „Abgeschlagenseins."
Weil aber unseres Volkes Ehre unsere Ehre, sein Schwert unser Schwert
ist, so war unsere Seele dem nationalen Ehrgefühl und dem nationalen
Schmachgefühl weit geöffnet. Vor allem aber erweckte doch, was ge-
schah und geschieht, unsere Zu- und Abneigung, unsere Liebe und
unseren — Haß, unsere Achtung und Verachtung, unser Vertrauen und
Mißtrauen, unsere Verehrung und unsere Abscheu, unsere Mitfreude
und vor allem unser Mitleid. Und diese Gefühle ergriffen unsere Seele
nicht vereinzelt und sauber geschieden, wie sie ein psychologisches
Lehrbuch scheidet, sondern in Verbindungen, in denen sich die gesamte
Gefühlserregung zu hohen und höchsten Graden steigerte. Naturgemäß
hatten die Gefühle an sich den Charakter der Affekte; auch die ge-
fühlsträgste Seele wird an sich erfahren haben, was diese „Chok-
gefühle" zu besagen haben, die Stärke- und Schwächeaffekte: Zorn und
Wut, Angst und Schrecken, Trauer und Kummer. Für unsere gesamte
Gefühlslage aber war kennzeichnend, daß die Gefühle den Mittelpunkt
unseres Ich, unserer Persönlichkeit angriffen und sich zu einer ausge-
sprochenen Gefühlslage, einem stark fühlbaren Lebensgefühl aus-
breiteten. In unserer Sorge, unserem Kummer, unserer Verzagtheit,
unserer Verzweiflung erlebten wir Stimmungen, „die das Ich in seiner
Tiefe berühren" i).
Gegenüber diesem Überdruck der Gefühle konnte sich in den Seelen
der Zeitgenossen der Denkwille oft nur schwer durchsetzen. Ja hier
und da dürfte die Forderung, die der Denkwille erhob, daß das Sub-
jekt „reines Subjekt des Erkennens" werde, als ein Unrecht gefühlt
sein: Denken ein Unrecht, weil die Zeit das Gefühl forderte.
Vielfach aber konnte es ja gar nicht anders sein, als daß die Zeit-
genossen trotz aller Inanspruchnahme des Gefühlslebens dem von allen
Seiten auf sie eindringenden Antriebe zum Denken Raum gaben.
Dann aber blieb zumeist ihr Denken unter der Herrschaft ihrer Gefühle:
ihre Auffassung des Geschehenden, die Auswahl dessen, was sie be-
achteten, das Maß der Wahrscheinlichkeit, das sie den Nachrichten
*) Vergl. A.. Messer, Psychologie, S. 292 fg.
Von der Denkverfassung der deutschen Seele in der Zeit der großen Krisis 355
beimaßen, ihre Stellungnahme zu Ereignissen, Personen, Ideen, ihr
Werten, ihr Ja und Nein war abhängig von ihren Affekten, ihren
Stimmungen. Nur d i e Gedanken kamen auf, die in der Richtung ihrer
Stimmung lagen. Daher auch die auffällige Erscheinung des starken
Wechsels im Urteil, besonders auch im Werturteil über Menschen und
Dinge, ein Wechsel, der immer wieder die Unruhe der Gefühlslage ver-
stärkte. Infolge der Schwankungen zwischen optimistischer und pessi-
mistischer Stimmung wurde das Denken bei der Auffassung der Lage
zwischen grellen Gegensätzen hin- und hergeworfen. Nicht selten
begegnete allerdings auch ein Denken, das dauernd unter dem Einfluß
einer unüberwindlich erscheinenden pessimistischen Grundstimmung
stand, während die Fälle optimistischer Auffassung mehr den Charakter
des Gewollten, gesteigert bis zum Krampfhaften, aufzuweisen schienen;
es war ein Nichtsehnwollen, ein Weglenken der Aufmerksamkeit von
den Momenten der Gesamtlage, die außerhalb der Richtung der be-
jahenden Lebensstimmung lagen.
Vor dem Beginn des Krieges stand bei uns als eine bedenkliche Ver-
fallerscheinung das Ästhetentum in Blüte. Der Krieg mit seiner
furchtbar harten Realität hatte dem Ästhetentum, wie es schien, ein
Ende bereitet. Am wenigsten erschienen die Tage, in denen wir uns
zu der Erkenntnis, nicht siegen zu können, durchringen mußten, ebenso
die Tage, in denen sich ein Kulturwandel ohnegleichen vollziehen
will, als ein Zeitraum, der für die Art des Ästheten, die Welt zu schauen,
günstig war. Eine reine Anschauung im Stil des Ästhetizismus mag
auch zu den Seltenheiten gehört haben. Und doch habe ich, wenn
ich recht gesehen habe, mindestens die Sehnsucht nach einer ästhe-
tischen Betrachtung des gewaltigen Zeitverlaufs beobachten können.
Da regte sich eine „ekstatische Lust" an der Bewegung, an der unge-
heuren Fülle erregter Kräfte, an den aufwühlenden Schicksalsverläufen,
denen das deutsche Volk, die europäischen Völker, die Menschheit
unterworfen ist; eine ästhetische Lust, eine Lust, wie man sie „genießt",
wenn man im Parkett Zuschauer einer Tragödie ist. „Wenn man nur
nicht drin stäke", hörte ich aber dann wohl klagen; die Ästheten-
stimmung konnte sich nicht behaupten. Jedenfalls waren Menschen,
die zu dieser Richtung neigten, in keiner guten Denkverfassung. Ein
sittlicher Entschluß, denken zu wollen, weil die denkende Erfassung
der Zeit sittliche Pflicht ist, konnte in ihnen ebenso wenig aufkommen,
wie ein lauteres Erkenntnisstreben, das seine Kraft aus dem Bewußt-
sein der Erkenntniswürdigkeit zieht, die dem großen Geschehen unserer
Zeit eigen ist. Es wird also zur Abneigung gegen das Denken, viel-
leicht zur Denkflucht kommen.
Denkflucht konnte aber auch bei einer ganz anderen Stellungnahme
zu den Zeitereignissen eintreten als der des Ästheten. „Ach könnt'
ich fliehen!" — diese Sehnsucht, aus der Wirklichkeit, die uns bannt, zu
entrinnen, mag in vielen Herzen stark gewesen sein. Menschen dieser
Art empfanden, zumal wenn sie nicht ganz unmittelbar in die Zeit-
ereignisse verflochten waren, die zurückstoßende Gewalt der Gegen-
wart; mancher aber entfloh aus der Welt der Tatsachen in die Welt
des Schönen nicht aus ästhetischer Sensationslust wie die Ästheten,
23*
356 Hugo Gaudig
sondern weil sie, die Welt des schönen Scheins, jenseits der Welt der
harten Wirklichkeit liegt, oder auch in die Welt des Überirdischen, die
erhaben ist über die Welt der menschlichen Irrungen und Wirrungen,
oder aber auch in die Enge der FamiUe, die sich gegen den Sturm „da
draußen" zu stiller Ruhe abgrenzt. Alle diese Jenseitigen brachten
nicht den Denkwillen auf, der entschlossen ist, die wirkliche, die dies-
seitige, die große Welt der Wirklichkeit zu meistern.
Die starke Seite des deutschen Bürgers war vordem das Denken über
pohtische Dinge nicht; er überiieß das Denken am liebsten seiner
Zeitung und seinen Vertretern. Als nun unsere Zeit mit ihren heftigen
Denkanstößen auf uns Deutsche wirkte, ließ sich, wenn ich recht sah,
sehr viel der Mangel an Denkgewöhnung spüren. Nicht gewöhnt,
größere, umfänglichere Ganze im öffentlichen Wesen mit dem Denken
zu umspannen, wurde nur einzelnes in dem Gegenwartsbilde zum Gegen-
stand der Aufmerksamkeit und der denkenden Erfassung; man gab
sich kaum die Mühe, den allerdings weiten Schauplatz der Ereignisse
in seinen verschiedenen Teilen zu übersehen, trotzdem z. B. das Geschehen
auf den verschiedenen Kriegstheatern im engsten Zusammenhang stand.
Ging das Denken so nicht in die Weite, so anderseits nicht in die Tiefe;
es drang nur bis zum Vordergrunde vor, etwa bis zu dem „Anstoß"
der Ereignisse, während es den Kräften, die durch die Anstöße aus-
gelöst wurden, den inneren Dispositionen der miteinander ringenden
Mächte auch nicht einmal mit den allerdings sehr durch die Unzu-
länglichkeit der Bekundung erschwerten Versuchen desErkennens gerecht
zu werden suchte. So blieb man denn bei den äußeren Symptomen
des Geschehens hängen und ermüdete leicht bei den Vorstößen zu-
gunsten einer tieferen Auffassung. So geriet man auch leicht in ein-
seitige Auffassungs- und Bewertungsrichtungen, wie sie besonders
auch das Gefühls-, Affekt- und Stimmungsleben nahelegte (s. o. S. 354);
z. B. in eine Betrachtung einseitig unter dem Gesichtswinkel des
Tragischen oder in die leidige Sucht, überall Schuld zu suchen, oder
in das Streben, überall den „Unsinn" aufzudecken.
Mangelhafte Denkverfassung stellte sich auch dar in keckem, schnellem
Hineindenken in den großen und komplizierten Zusammenhang der
Dinge, einem Denken, dem die Achtung vor der Schwierigkeit des
Gegenstandes gebrach. Mit den Mißerfolgen dieses Verfahrens, die
strenge Selbstkontrolle hätte aufdecken müssen, stand aber gern im
Widerspruch das Selbstgefühl, das in dem Kehrreim: „Das habe ich
gesagt" bei gelegentlichen „Treffern" zum Vorschein kam. Als ein
Zug minderwertiger Denkverfassung wollte mir auch das „spielende"
Denken, wie ich es nennen möchte, erscheinen; da wo es auftrat, spielte
das Denken mit dem Wirklichkeitsstoff, ohne seiner Schwere und seiner
unerbittlichen Härte, ohne'dem natürlichen Gewicht, der Schwerbeweg-
lichkeit der Dinge gerecht zu werden; die Phantasie arbeitete mit dem
Wirklichkeitsstoff, als gälte es zu dichten und nicht zu denken; die
Schnellfertigkeit, mit der man „Möglichkeiten" hinstellte, ohne ihre
Wahrscheinlichkeit ernstlich zu zeigen, ließ dieses Denkspielen besonders
in die Erscheinung treten. Eine wertvolle Denkverfassung, wie sie die
Zeit fordert, muß vor allem auch das Streben nach geschichtlicher Er-
Von der Denkverfassang der deutschen Seele in der Zeit der großen Krisis 357
fassung des Gegenwartsgeschehens als wesentlichen Zug aufweisen. Viel-
fach fehlte aber dieses Streben nach geschichtlicher Auffassung in der
Denkverfassung der Zeitgenossen; das Geschehende wurde in seiner
Gegenwärtigkeit genommen, als habe es kein Vorher und kein Nach-
her; was wunder, daß die Zusammenhängigkeit des Geschehens nicht
erkannt wurde. Dies gilt namentlich von den eingreifenden Ereignissen
auf sozialpolitischem Gebiet. Um einen gesellschaftlichen Zustand
richtig analysieren zu können, bedarf es ferner klarer und deutlicher
Begriffe der wirkenden Kräfte ; aber eben an dieser Klarheit und Deut-
lichkeit dieser Bauelemente des Denkens gebrach es sehr viel, so daß
vor allem ein gemeinsames Denken schwer möglich war und die Ge-
sprächführenden aneinander vorbei statt miteinander redeten. Man
versteht z. B. vom Sozialismus nichts, wenn man seine Idee der Ver-
gesellschaftung der Produktionsmittel nicht klar und deuthch in ihren
Merkmalen und in ihren Zusammenhängen mit dem gesamten sozia-
listischen Begriffssystem erkannt hat. Wie oft aber stieß man hier
bei den Zeitgenossen auf Undeutlichkeit und Verworrenheit der Be-
griffe, ohne die man in einer Streitverhandlung über moderne Ge-
sellschaftsfragen nicht auskommen kann. So machten Gespräche
nicht selten .den Eindruck, daß sich ungeklärte Vorstellungsmassen
gegeneinander bewegten. Die Begriffe des Gesellschaftslebens aber
zeigten ihre Natur hierbei besonders auch insofern, als in sie „unser
Eigenstes, unser Gefühlsleben" leicht und stark eindringt und so
sich „der Einfluß der individuellen Variation" aufs stärkste geltend
machte). Bei dieser Unklarheit der Begriffe versteht man eine andere
Erscheinung im Denkleben unserer Zeit, das Auftreten der schiefen
Analogie. Da die Auffassung der Dinge nach der Analogie eine
scharfe Scheidung der sonstigen zwischen ihnen bestehenden Ver-
schiedenheit und dem, worin sie zu vergleichen sind, fordert, so kann
man ermessen, wie leicht bei der überhasteten Denkweise unserer Zeit
und dem Mangel an klaren Begriffen die Schiefheit der Analogie ein-
trat ; Beispiel sei das Analogieschließen von Bolschewismus auf Sozialis-
mus und umgekehrt.
Die Denkverfassung mußte umso wertvoller erscheinen, je mehr sie
sich von dem fälschenden Einfluß der Gefühle und Affekte, von der
Einwirkung „drastischer Anschauungen", von schiefen Analogien, von
Zufallsansichten, von ungeschichtlicher Betrachtungsweise frei hielt.
Kennzeichnend für unsere Zeit als Objekt des Erkennens ist außer der
großen Gefühlsbetonung der Geschehnisse die Breite des Gesichtsfeldes
und vor allem die Verschlungenheit der Fäden; das enge Verflochten-
sein des eigenartig politischen und sozialen Geschehens ist geradezu
ein Charaktermerkmal der großen Krisis, in der wir stehen: ein Krieg
mit auswärtigen Mächten ruft nicht nur die stärksten politischen Wand-
lungen, sondern auch allem Anschein nach die wesentlichsten Ver-
änderungen in der Struktur der Gesellschaft hervor. So erwuchs hier
dem Denker die Aufgabe des Entwirrens der Fäden, die sich in dem
Gewebe des Zeitgeschehens verknüpften, besonders aber des Nach-
») Vergl. B. Erdmann, Logik I, S. 230 (2. Aufl.).
358 Hugo Gaudig
weises der Stellen, an denen sich die Fäden verschlangen und ver-
knoteten. Beobachter des Denklebens unserer Zeit mögen urteilen, ob
dieser Forderung des Auseinanderhaltens und Verknüpfens die Zeit-
genossen im allgemeinen entsprochen haben, ob sie nicht vielfach infolge
der scheinbaren Wirrnis des Geschehens verwirrt zuschauten. Ein
Merkmal des Zeitgeschehens war auch die sinnverwirrende Fülle, die
sinnlich drastische Natur des Geschehens. Es handelte sich ja um
Ereignisse auf dem „theatrum mundi", um gewaltige Massenbewegungen,
um Haupt- und Staatsaktionen erster Ordnung. Die Versuchung, an
der Außenseite hängen zu bleiben, war mithin groß. Umso wertvoller
war die Denkverfassung, die durch die anschauliche Außenseite hin-
durch auf den Kern, von den Bewegungen auf die bewegenden Kräfte
vorzudringen gestattete. Man wird nicht sagen dürfen, daß unsere
Zeit nicht bemüht war, Prinzipien zu entdecken. Nicht zuletzt waren
die Feinde Deutschlands bemüht, Prinzipien aufzuweisen, uns und sich
selbst als Vertreter großer Kulturprinzipien hinzustellen. Nur leider
hat man bei diesem Aufweis der Prinzipien nicht den Eindruck der
Klarheit und Wahrheit; im wilden Kampf der gegen uns gekehrten
öffentlichen Meinungen wurden Prinzipien aufgestellt wie das Prinzip
des Militarismus, um damit breite Komplexe von Wirklichkeiten zu
bezeichnen, die eine sorgfältige Auflösung in ihre sehr verschieden-
artigen Kräfte forderten. Hinter dem aber, was unsere Gegner als
Prinzipien ihres Handelns hinstellten, mußte man ein Vielerlei von
„Motiven" vermuten, das mindestens nur zum Teil durch die Prinzipien
(Freiheit der Völker usw.) gedeckt wurde.
Ein sehr schwerer Denkgegenstand ist unsere Zeit durch die Natur
des Kräftespiels; welche Fülle von Kräften, welches Durcheinander!
In der Schätzung der Kräfte erwies sich die Denkverfassung als wert-
voll, die sich als kritische Besonnenheit, als Mäßigung und Zurück-
haltung kennzeichnet. Immer wieder von neuem erfuhr übereiltes Ein-
schätzen der „Kräfte" nach ihrer Größe und Stärke, ihrer elementaren
Zusammensetzung, ihren Angriffspunkten, der Richtung ihres Wirkens,
vor allem aber nach ihrer Auslösbarkeit schwere Rückschläge.
Die Notwendigkeit der Zurückhaltung konnte erlebt werden bei dem
Urteil über mechanische und psychische Kräfte. Die jähe Erkenntnis
falscher Einschätzung, der Zwang zum plötzlichen Umdenken brachte
vielen z. B. die Erklärung der Obersten Heeresleitung, die Beendigung des
Krieges ohne Sieg sei eine Notwendigkeit. Andere konnten hier die
wenn auch schmerzliche Genugtuung richtiger Schätzung erleben. Eine
Frage schwerwiegender Art, bei der es sich hauptsächlich um die Mög-
lichkeit der Auslösung noch vorhandener Spannkräfte handelte, war die
Frage, ob das deutsche Volk die Kraft zu einem letzten Entscheidungs-
kampfe aufbringen werde. Wir wiesen schon darauf hin, wie sehr die
Denkverfassung der Zeitgenossen durch die Plötzlichkeit der mit dem
Charakter von Explosionen eintretenden Ereignisse unserer Zeit be-
einflußt wurde : der Zusammenbruch des Kriegswillens in weiten Kreisen
des Volkes und des Heeres, die Parlamentarisierung und Demokrati-
sierung, die Abdankung der Herrscher, die Einführung der sozialistischen
Republik — das alles waren Tatsachen, bei denen die wenigstens
Von der Denkverfassung der deutschen Seele in der Zeit der großen Krisis 359
scheinbare Plötzlichkeit vielfach die Denkfäden zerriß. Da wo man
aber tiefer in die Zusammenhänge der Dinge, in die in der Tiefe
schaffenden bejahenden und verneinenden Mächte eingedrungen war,
wich die anfängliche Gedankenstarre sehr bald dem Bekenntnis, daß
es sich hier nicht um etwas wunderhaft und unvermittelt aus dem
Schoß der Gegenwart Emporschießendes, sondern um den Abschluß
einer weitzurückreichenden Vorgeschichte handelte, der zum Teil durch
äußere Geschehnisse ausgelöst wurde. So stellte sich dann schnell
das Bewußtsein des geschichtlichen Zusammenhangs (der Kontinuität
des Geschehens) wieder her. Diese Einsicht wurde umso tiefer, die
Denkfreiheit des Geistes umso größer, je weiter die Linien zurückver-
folgt wurden, je weiter man etwa die Vorbereitung des Sozialismus
auf eine Lage zurückverfolgte, in der er die Herrschaft in die Hand
nehmen konnte. Je weiter die Rückschau (Rückwärtsperspektive), um
so freier und sicherer bewegt sich das Denken. Neue Freiheit erwächst
dem Denken auch, wenn es sich nicht auf Vergangenheit und Gegen-
wart beschränkt, sondern auch (umsichtig vorschließend) in die Zu-
kunft vordrängt. Dann wird auch eine Denklage verhindert, die einer
freien geistigen Bewegung sehr ungünstig ist — die einseitige Ein-
stellung. So könnte z. B. das Denken in dem Gegensatz der bisherigen
bürgerlichen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung befangen
bleiben. Für den seine Denkfreiheit behauptenden Kopf wird hier
neben der Möglichkeit scharfer Antithese und der Möglichkeit bedingungs-
loser Zustimmung die Möglichkeit schöpferischer Synthesen auftauchen,
etwa einer Synthese, die dem Gesellschaftssystem der Zukunft die Kräfte
einer individualistischen Organisation erhält, die „Verantwortungs-
losigkeit" der privatkapitalistischen Wirtschaft aber aufhebt und durch
gesellschaftliche Einrichtungen die Verantwortlichkeit des einzelnen
gegenüber der Gesellschaft sichert. Die kulturellen Anschauungen
sollen nach der Meinung der meisten „transzendenzlos" sein; dieser
Meinung steht die Denkrichtung entgegen, die auch für das Kultur-
denken das Forschen nach den transzendenten Hintergründen fordert.
Daß dem Kulturdenken durch das Suchen nach dem letzten „Sinn" des
Geschehens ein bedeutsamer Zwang zum Tiefdenken erwächst, kann
nicht zweifelhaft sein.
Das Denken, zu dem uns die Zeit zwang, war zum guten Teil werten-
des Denken. Besonders die Proklamierung der sozialistischen Republilc
zwang und zwingt die Anhänger der bürgerlichen Gesellschaft zu Wert-
vergleichen. Die Denkverfassung für solche Wertvergleichungen war
und ist umso günstiger, je weiter dies Denken ausgreift und je mehr
es sich, alle Nebenfragen beiseite schiebend, auf die großen Prinzipien-
fragen sammelt. Leider verweilt das Denken der Zeitgenossen vielfach
im Vordergrund als echtes „Vordergrundsdenken". Die Denkverfassung
aber ist umso günstiger, je mehr man sich auf die Würdigung
kultureller Gesamtzustände einstellt, je mehr man alle Kulturgebiete,
nicht nur das politische und wirtschaftliche, ins Auge faßt, je mehr
man die Wechselbeziehungen zwischen den einzelnen Lebensgebieten
und die Lebensgestaltungen beachtet, die der alte und der neue Zu-
stand ihrer innersten Natur nach hervorbringen. Vor allem wird man
360 Hugo Gaudig
die beiden großen Gesellschaftsformen dynamisch, d. h. auf das ge-
samte Kraftsystem hin, studieren, mit dem sie arbeiten. Ebenso wird
man sich darüber klar sein müssen, daß es sich bei einem Kultur-
wechsel vor allem um das Maß handelt, in dem das menschliche Dasein
rationalisiert, die menschliche Seele gewandelt werden kann. Eine
wichtige Denkrichtung wird auch sein die Einwirkung der Einrichtungen
auf die Menschen und der Menschen auf die Einrichtungen usw.
Zum Schluß unserer Bemerkungen noch eins: Für die gesamte Denk-
verfassung der Zeitgenossen war von großer Bedeutung die Stellungnahme
des Ich zu dem Volke. Als Grenzformen, die aber als reine Formen
schwerlich vorgekommen sein mögen, indes doch wichtige Bewegungs-
richtungen erkennbar machen, seien genannt: 1. die „egozentrische",
in der auch unsere ungeheuere Zeit und das gewaltige Volksschicksal
das denkende Subjekt nicht dazu vermocht hat, aus seinem Ichbewußt-
sein herauszutreten und sich mit den Volksgenossen im Wir-Bewußt-
sein zusammenzufasssen und 2. die »ichlose" Form, bei der das Ich
ohne Bewußtsein seiner selbst lediglich objektiv dachte. Das Wir-Bewußt-
sein war stark und bestimmt beim Beginn des Krieges; das Ende des
Krieges mit seiner entscheidenden Krisis gefährdete auf beiden Seiten,
auf der der Bürgerlichen und der der Sozialisten, das Einheitsbewußt-
sein. Es ist die große Frage der Zukunft, ob die beiden großen
„Parteien" sich auf irgend einer Grundlage zum Einheitsbewußtsein
zurückfinden. Viele Bürgerliche mögen das Einheitsbewußtsein mit
der Volksgemeinde in ihrer empirischen Form eingebüßt und sich viel-
leicht in den Gedanken einer „unsichtbaren" Gemeinschaft gerettet haben.
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charakter-
eigenschaften und als Erziehungsziele.
Von F. E. Otto Schultze.
Die Erziehungsziele sind praktisch und theoretisch von der größten Bedeutung,
da sie bei allen Erziehungsmaßnahmen entscheidenden Einfluß gewinnen. Ob
wir einen Zögling loben oder strafen, ob wir ihm etwas vorsagen oder ihn
zu selbständigem Denken führen wollen, ob wir einen Lehrplan ausarbeiten
oder eine Lehrstunde vorbereiten, ist dabei gleichgültig, stets muß einem mit
mehr oder minder großer Deutlichkeit das Erziehungsziel vor Augen stehen.
Fühlt man sich während der Durchführung einer Aufgabe unsicher, so kann
das Denken an die Ziele klärend wirken; hat man seine Aufgabe erfüllt und
prüft sie nachträglich auf ihren Wert, so werden einem Fehler und Mängel
klar, an die man vorher gar nicht gedacht hatte. Und bleiben wir bei der
Festlegung der allgemeinen Erziehungsziele stehen, so ist es gleichgültig, ob
wir ein kleines Kind oder einen Studenten, den Schüler eines Gymnasiiuns
oder einer Realschule, ja ob wir einen Knaben oder ein Mädchen, einen
Deutschen oder Franzosen, einen Amerikaner oder einen Neger vor uns haben!
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 3g 1
Es ist dai-um von grundsätzlicher Bedeutung, daß man sich immer und immer
wieder überlegt, wieweit man zumal in den Augenblicken, wo man bei seinem
Zögling Widerstand spürte, in Widerstreit mit dem Ziel der Erziehung ge-
kommen ist. Man muß wiederholt im Laufe des Schuljahres jedem einzelnen
Zögling gegenüber seine Arbeit an dessen Leistungszielen prüfen und sich
vor allem darüber klar werden: was hast du getan, um deine eigenen Zög-
linge, den Karl, den Fritz usw. zu einem ganzen Menschen heranzuziehen?
Mit dem Wort Persönlichkeit ist die Richtung bestimmt, in der das Erziehungs-
ziel, obgleich noch verschwommen, in der Ferne liegt. Es bedarf keines langen
Nachweises, daß es geradezu verwerflich wäre, die Aufgabe des Lehrers
lediglich in dem staatlich verlangten Unterrichts-Pensum zu sehen. Bedenken
wir z. B., daß von den 24 Stunden des Tages das Kind 10 Stunden schläft,
14 Stunden bleiben dann übrig, und von ihnen gehören 5 im Durchschnitt
der Schule, einschließlich der Schularbeiten mögen 6 oder 7 herauskommen,
d. h. 30, 40 oder 50*^ '0 tl^s Wachlebens -gehören im größten Teil des Jahres
der Schule. Wenn nun unser Leben überhaupt charakterbildend wirkt, so
muß der Einfluß der Schule, der gerade in die bildsame Jugendzeit einströmt,
von größter Bedeutung werden. Daß es sich nicht nur um Unterrichts-, also
um Wissenseinflüsse handelt, die wir in der Schule empfangen, zeigt auch
die Tatsache, daß ein schlechter Lehrer einem für das ganze Leben umfassende
Wissensgebiete verleiden und geradezu verekeln kann; daß einem andererseits
eine gute Arbeitsschule eine nie versiegende Freude an wissenschaftlichen
Stoffen zu schaffen vermag, die sich sonst überhaupt nicht entwickelt hätte.
Nicht minder deutlich sind die Einflüsse der Schule auf scheinbare Äußerlich-
keiten, wie Sauberkeit in der Schrift und Buchführung, sowie Peinlichkeit
und Gründlichkeit in der Arbeit, also auf Gesamtmerkmale des Denkens und
Handelns, die weit über solche des einfachen Wissens hinausgehen. Schließ-
lich sei noch auf den Unterschied der weltgewandten, eleganten Jesuiten-
erziehung und des nüchternen, aber soliden preußischen Schulmeistertums
hingewiesen, um verschiedene Weisen zu charakterisieren, in der man Arbeiten-
Anfassen lernen kann. Es dürfte eigentlich nicht nötig sein, auf diese Frage
näher einzugehen, aber die Zahl der Männer, die grundsätzlich der Schule
den Unterricht, dem Hause aber die Erziehung zuweisen wollen, ist nicht gering.
Für den Praktiker ist es nun von der größten Bedeutung, daß ihm die
Ziele des Unterrichts und der Erziehung in möglichst präziser und hand-
licher Form zur Verfügung stehen, damit sie in seinem Lebenswerk wirksam
und fruchtbringend werden können.. Versuche in diesem Sinne sind oft ge-
macht worden. Ich erinnere nur an die Begriffe des guten und schönen
Menschen bei den Griechen, an die Kardinaltugenden der Römer, an die
Gelübde der mittelalterlichen Mönche, an den homo sapiens atque eloquens
des Humanismus, an den Gentleman des Engländers und die zahllosen Wahl-
sprüche der Erziehung und des Lebens, die wir in der Literatur, an Gebäuden
und auf Wappen verstreut finden.
Es ist eine historische Notwendigkeit, daß sie von Volk zu Volk, von
Periode zu Periode wechseln. Sie können auch richtig und falsch, ja gefähr-
lich sein. Eins der schlimmsten Schlagwörter ist in diesem Sinne das von der
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit geworden. Ja wir sollten frei sein; es
wäre schön, wenn wir Brüder wären, aber ich glaube, es wäre trostlos, wenn
wir gleich wären, und undurchführbar wäre es, wollten wir uns gegenseitig
362 F. E. Otto Schultze
gleichstellen/ Die Zeitlage machte es verständlich, daß man so begeisternde
Worte in die Welt hinaus rief, aber der Nachteil aller Schlagwörter haftete
ihnen an. Die tiefen historischen und philosophischen Voraussetzungen, unter
denen allein diese Worte Wert bekommen, konnten nicht mit ihnen ausge-
sprochen werden. Was sie als Bildungsgrundlagen von Lebensgemeinschaften
tatsächlich gebracht haben, kann man darum in seiner Zerrform in mancher
modernen romanischen Republik sehen. Freiheit ist dort Hemmungslosigkeit,
jeder glaubt machen zu dürfen, was er mag, von Brüderschaft ist nicht viel
zu spüren; Oligarchien und Günstlingswesen herrschen. Die straffen preußischen
Begriffe Pflicht und Unterordnung sind als Grundlagen von Staatsgebilden
wertvoller als die begeisternden Ideale Freiheit, Gleichheit und Brüderlich-
keit, denn aus ihnen entwickeln sich Freiheit und Gerechtigkeit gleichsam
von selbst. Der Praktiker braucht darum Worte, die nicht so schweren
Mißverständnissen ausgesetzt sind. — Auf Grund von Lebenserfahrungen,
philosophischen, psychologischen und biologischen Überlegungen habe ich nun
versucht, diesem Bedürfnis entgegenzukommen und die Merkmale der Per-
sönlichkeit festzulegen, die mir für die Erziehung und das Leben am wich-
tigsten zu sein scheinen. Das hochldingende Wort Persönlichkeit, das in der
modernen Erziehung eine so enorme Rolle spielt, läßt sich schwer bestimmen,
es ist verwaschen und unklar und hat nicht viel mehr Wert, als die Worte
gut oder wertvoll. Das schlichte Wort tüchtig, das bekanntlich von taugen
herkommt und mit dem Wort Tugend zu tun hat, schiene mir noch besser
für die Praxis zu passen. Immerhin ist mit der Forderung von Persönlich-
keiten oder tüchtiger, Werte erzeugender Menschen ein brauchbarer An-
fang gemacht. Gleichzeitig ist aber auch ein neues Problem gesetzt, das
des Guten oder Wertvollen, und wir werden dadurch zu der schwierigen
Scheidung realer und normativer Probleme gedrängt. Wir werden dieser
Schwierigkeiten am besten Herr, wenn wir uns überlegen, wie das seelische
Leben sich realiter in einem unserem Ziele entsprechenden Menschen ge-
staltet, wie in ihm Werte entstehen und wie es in ihm zur Aufstellung von
Normen kommen kann.
Die seelischen Vorgänge der Werterzeugung.
Mehrere Grundgedanken müssen uns leiten, wenn wir uns über die Vor-
gänge der Werterzeugung vom psychologischen Standpunkte aus klar werden
wollen.
1. Der Mensch bildet, vom biologischen Standpunkte aus gesprochen, eine
scharf abgegrenzte Einheit von Lebenskräften. Leib und Seele sind in ihm
untrennbar vereint. Der Leib besteht aus einer Anzahl von Organen, aus
Lunge, Herz, Nieren usw., und auch bei der Seele müssen wir eine ganze
Anzahl von Organen — ich halte absichtlich an diesem Ausdruck fest — unter-
scheiden, gleichviel ob wir dafür die hirnanatomischen Grundlagen finden
oder nicht. Das Hauptorgan ist das Bewußtsein, dessen Eigenart an dieser
Stelle nicht näher erörtert weyden kann, sondern als bekannt vorausgesetzt
werden muß. Seine Arbeit wird dadurch möglich, daß andere „Organe", wie
Sinnlichkeit, Geist, Gemüt und Wille im Bewußtsein und im Körper in streng
gesetzmäßiger Weise Veränderungen hervorrufen. (Die Namen, die wir für
diese Funktionen wählen, sind verhältnismäßig gleichgültig, wenn wir sie nur
zur gegebenen Zeit psychologisch richtig bestimmen.)
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 363
2. Auf Grund der Reize der Außenwelt, der Veränderungen im Körper und
der Tätigkeit von Sinnlichkeit und Geist treten Sinneswahrnehmungen auf,
die wir mit gutem Rechte als „Produkte* dieser Vorgänge bezeichnen können.
Von den Sinneswahrnehmungen bilden sich Gedächtnisspuren, die zu gegebener
Zeit „reproduziert" werden können und als frühere Erfahrungen den Be-
wußtseinsverlauf bestimmen. Infolge des Zusammenwirkens neuer Eindrücke,
früherer Erfahrungen und angeborener und erworbener Anlagen treten — aber-
mals als „Produkte" dieser Vorgänge — Gedanken in den verschiedensten
Formen auf: Einfälle, Möglichkeiten, Wünsche, Hoffnungen, Absichten, Pläne
usw. In dem bunten Wechsel solcher mehr oder minder verschiedenartiger
seelischer Gebilde greifen schließlich die Gemütsbewegungen mehr oder
weniger tief ein und verleihen den einzelnen Bewußtseinsinhalten ihren Wert-
charakter. Die Dinge der Außenwelt sind an sich keine Werte; sie werden
es erst durch den Menschen. Ohne Repräsentation im Menschen und ohne
Fühlen gibt es keine Werte ; in ihnen aber tut sich die ganze Persönlichkeit
mit ihrem Für und Wider kund. — Werden die so entstandenen Produkte
der Seele stark genug, so beeinflussen sie unseren Bewußtseinsverlauf und
unseren Körper und mit seiner Hilfe gegebenenfalls die Außenwelt.
3. Ergänzend zum eben Gesagten sei folgendes ausgeführt: Die menschliche
Seele erweist bei diesen Vorgängen die wunderbare Fähigkeit, gewissermaßen
■die Außenwelt in sich aufzunehmen. Es treten die Reize von außen an sie
heran, und in ihr entwickeln sich Bilder von den Dingen und Gegenständen
der Umgebung, die in ihrer inneren Struktur und ihren relativen Verhältnissen
irgendwie Ähnlichkeit mit den Dingen haben müssen, die sie darstellen, ohne
daß sie jedoch mit ihnen identisch wären. Dauernd strömen solche Eindrücke
auf uns ein. Von den Eindrücken werden Gedächtnisspuren gebildet, mehr
oder minder lange bewahrt und bei neuen ähnlichen Eindrücken wieder ver-
wertet. Aus ihnen als Bewußtseinsgrundlage bilden sich in uns Begriffe oder
Repräsentanten von den Dingen, mit deren Hilfe wir die Welt beherrschen
lernen. Unter diesen Repräsentanten sind die wichtigsten diejenigen, in denen
sich unsere Mitmenschen uns darstellen. Darum besitzt jeder Mensch von
den vielen Menschen, die er kennt, ebenso viele, mehr oder weniger
entwickelte Begriffe. Mit ihrer Hilfe nimmt er zu ihnen Stellung und
beeinflußt sie.
4. Alle diese Vorsätze laufen streng gesetzmäßig und automatisch ab.
Wie wir das Flackern und Wabern der Flamme, so unberechenbar es uns
im Augenblick erscheint, stets als Äußerung strengster Naturgesetze auffassen
und auf Vorgänge der Oxydation, Wärmestrahlung und Lichtentwicklung
zurückführen, so reduziert sich für uns das seelische Leben auf das Spiel
der der Seele und dem Körper innewohnenden Kräfte. Daß sich nun Werte
im Menschenleben herausbilden, ist vom naturwissenschaftlichen Standpunkt
gleichfalls als ein kausaler Vorgang aufzufassen. Ich brauche an dieser Stelle
nicht von den vielen Arten von Werten zu sprechen, da sie sich alle auf
Gefallen oder Mißfallen seitens des Wertträgers zurückführen lassen. Nur
die spezifisch menschlichen Werte müssen besonders hervorgehoben werden.
Wie zu den Dingen der Umwelt nehmen wir auch zu unserem Nebenmenschen
mit Sympathie und Antipathie, Liebe und Haß, Stolz und Verachtung Stellung.
Der eine kommt leichter zu Bewunderung, zu Zuneigung, zu Achtung oder Ver-
achtung seines Mitmenschen als der andere. Der Weitherzige hat für fremdes
364 F. E. Otto Schultze
Leben mehr Sinn als der Engherzige; er kann leichter lieben und schwerer
Jiassen als sein Gegenpart. Angeborene und durch das Leben weiter ge-
bildete Anlagen, die wir, ohne uns auf besondere psychologische Theorien
zu verlegen, als Anlagen einer mehr oder minder großen sozialen Phantasie
und des Gefühlsreichtums bezeichnen können, beeinflussen so den Vorgang
der Wertung des Mitmenschen in entschiedener Weise.
5. Nehmen wir so in den Wertungsvorgängen Stellung zu unserer Umgebung
und zu unseren Mitmenschen, so sind es in den Wertungsvorgängen selbst
wieder die Gefühle, die uns entscheidend bestimmen. Wenn es auch nicht
stets lebhafte und vollständig entwickelte Gefühlserscheinungen sind, die
hierbei auftreten, sondern teilweise nur Gefühlstendenzen, deren Nachweis
nicht immer eine Selbstverständlichkeit ist, so kann ihr maßgebender Einfluß
doch nicht abgestritten werden. Er besteht darin, daß sie unter den vielen
Einfällen, die in unserem Bewußtsein auftreten, die gleichgerichteten verstärken,
die entgegengesetzten abschwächen oder unterdrücken. Der Weitherzige neigt
deshalb z. B. dazu, in seiner Mitfreude die Wünsche und Begehrungen des
gleichfalls auf Freude eingestellten Mitmenschen zu fördern und zu heben,
der Engherzige will sie dagegen angreifen und unterdrücken, denn er ver-
mag ihn nicht zu dulden und zu hegen. Ihm fehlt die Toleranz dazu; er
gönnt dem anderen nicht den Platz an der Sonne. Er ist sogar eher fähig,
sich seines Mißgeschickes zu freuen, weil die Beschränkung seines Seins der
eigenen Beschränktheit gemäß ist.
Dieser Mechanismus der Wirkung von Gefühlsreaktionen auf Begehrungen
und Wünsche ist als biologisch-psychologischer Prozeß strenger Gesetzmäßig-
keit unterworfen. Über ihm als Grundlage kann sich nun ein besonderer
seelischer Vorgang abspielen, eine Spiegelung des Geschehenen im Urteile des
Handelnden selbst. Dieser kann sich über den sozialen Wert der in ihm
ablaufenden Vorgänge klar werden und so zu einem Werturteile über sich
selbst und seine Leistungen kommen. Der Wertungsvorgang wird um so
umfassender, auf je mehr andere Menschen er Rücksicht nehmen muß; oft
genug zieht ja das Handeln das Geschick anderer Menschen in Mitleidenschaft.
Je mehr nun die Forderungen anderer in unserer Seele berücksichtigt werden,
umso höherwertig ist unser Handeln, um so mehr Kulturwert bekommt es, —
mindestens in sozialer und rein menschlicher Hinsicht. Die Begriffe „gemein-
nützlich, gemeinschädlich und gemeingefährlich" bekommen so auch durch
bestimmte seelische Mechanismen ihren Sinn.
Die in den letzten Zeilen gestreifte Gruppe reflektierender Vorgänge kann
abermals in Beziehung zu dem in der Seele gegebenen Bestände treten. Hier-
durch kommt es zur Entstehung von Begehrungen. Auch deren Wert kann
gleichfalls nach dem Maße allgemeiner Menschlichkeit gemessen werden.
6. Diese Vorgänge sind es, die wir als Reaktionen der Persönlichkeit be-
zeichnen und in denen sich ihr ganzer Besitz in mehr oder weniger vollem
Umfange geltend macht. Oft gebrauchen wir, um ihren Einfluß zu bezeichnen,
nicht das gleiche Wort. Wenn wir z. B. urteilsmäßig solche Reaktionen und
ihre Wirkungen antizipieren, so pflegen wir damit gegebene Leistungen dem
Willen zuzuschreiben, der jedoch nichts ist als die Persönlichkeit, von einer
bestimmten Seite aus betrachtet, nämlich von der der Energieentwicklung aus.
Die zahllosen Vorgänge der Reaktionen, Reflektionen und Antizipationen
laufen bei dem einen spielend, tief- und weitgreifend ab, bei dem anderen
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 366.
bleiben sie kümmerlich und mühsam. Je leichter diese Mechanismen arbeiten,
um so freier ist der Mensch oder — wie wir auch gelegentlich sagen —
unser Wille. Vorbild, Übung, Gewohnheit und natürliche Anlage haben solche
Überlegenheit geschaffen. So ist der freie Wille kein konstantes und kau-
salitätsloses Gebilde, sondern er besteht in einer mehr oder minder um-
fassenden Einheit seelischer Faktoren, die in sich verwickelte Beziehungen
aufweisen und mit ungeheurer Feinheit und Leichtigkeit, aber stets automa-
tisch den gesamten seelischen Haushalt beeinflussen. Eine nicht allzutief ein-
dringende Analyse von Einzelfällen würde auch sehr bald zeigen, daß die
mit dem Worte „Willen" bezeichneten wirksamen seelischen Faktoren von
Fall zu Fall wechseln, und daß so bald diese, bald jene Seit« der Persön-
lichkeit als Glied des Willens wirksam wird.
Es ist an dieser Stelle, wo es sich nur um Grundgedanken handelt, natürlich
ausgeschlossen, Einzelheiten näher darzustellen. Es sei nur ausdrücklich darauf
hingewiesen, daß das Handeln, wertloses wie wertvolles, so gut wie aus-
schließlich automatisch im engsten Sinne abläuft, und daß in unserem All-
tagsleben der freie Wille in dem Sinne eines bewußt wägenden und wählen-
den nur sehr selten wirksam wird.
7. Ob eine Handlung gut oder böse ist, finden wir nicht durch ihre psycho-
logische Analyse heraus. Gute und schlechte Handlungen sind als seelische
Vorgänge voneinander so wenig verschieden, wie englische und deutsche
Kreidefelsen als physische Gegenstände. Gut und böse sind keine immanenten
oder konstitutiven und darum auch keine psychologischen Merkmale, sondern
relative Eigenschaften. Gut heißt: passend zu den sozialen Entwicklungs-
tendenzen des Menschengeschlechtes oder der menschlichen Würde ; schlecht
heißt dem widersprechend. Ein gutes Handeln ist dem psychologischen
Mechanismus nach dann gegeben, wenn seine Endglieder oder seine Folgen
solchen Forderungen entsprechen. Fraglich bleibt noch: Wie wird solches
Handeln möglich? Infolge des Spieles unserer Phantasie können sich die in
den Begriffen des Menschen liegenden Forderungen zu mehr oder weniger
klaren Bewußtseinsinhalten in uns entfalten und unser Handeln bestimmen.
Je weiterblickend und je tiefer mitfühlend der Handelnde ist, und je mehr
er die Forderungen seines Mitmenschen hinsichtlich dessen materiellen Vor-
teils, seines inneren Wertes und seiner Würde berücksichtigt, um so mehr
gewinnt sein Handeln an Wert. Das Maß der Bewußtheit ist dabei für die
psychologische Struktur eines wertvollen Handelns nicht entscheidend, sondern
allein der Umfang, in dem es den eigenen Forderungen und denen der Natur
der Mitmenschen gerecht wird. Weitherzigkeit und Weitblick sowie Ein-
stellung auf kulturelle Entwicklung sind deshalb die wichtigsten psycholo-
gischen Vorbedingungen wertbildenden tüchtigen Denkens und Handelns.
Die erzieherisch wichtigen Gesamtmerkmale der Vorgänge der Wert-
erzeugung.
Die soeben entwickelten sieben Grundgedanken gehören im wesentlichen
dem Gebiete der Psychologie an, da sie Tatsachen erklären. Auf ihnen als
Grundlage bauen wir nun weiter und fragen, was soll der Mensch tun, der
wertvoll genannt sein will. Auch für diese Frage gibt uns die Biologie die
Tatsachengrundlage. Wenn wir die Entwicklung des menschhchen Geschlechtes
hernehmen, so wissen wir, daß es sich aus Tierformen herausgebildet hat und
366 F. E. Otto Schultze
in einer zwar unendlich langen, aber in wunderbarer Stetigkeit der Entwick-
lung zu der Höhe gelangt is^ die es jetzt einnimmt. Entfaltung, Evo-
lution ist das Grundprinzip dieses Vorganges : die in der Natur schlummern-
den Kräfte werden zur Ausbildung gebracht. Das Einzelleben ordnet sich
diesem Entwicklungsgange unter; beim Gebildeten unterliegt es deshalb dem
normativen Gesefz, bewußt den in ihm liegenden Schatz von Natur-
kräften zur höchstmöglichen Blüte zu bringen. Die Grundfrage bei
der Formulierung der Erziehungsziele lautet daher: Wie kann ich die in dem
Zögling schlummernden Kräfte durch meine Maßnahmen zu möglichst hoher
Entfaltung bringen?
Die Bestintnung dieses Zieles ist noch zu allgemein, um im Einzelfalle
schnell zu klaren Ergebnissen zu führen. Es müssen gewisse Gesamt-
charaktere deutlich hervortreten, die die Einzelleistung besitzen soll.
I. Selbständigkeit.
Abermals sind es biologische Analogien, die uns fördern. Das Leben ist
ein Kampf. Zwar scheint dieser Satz manchem in glücklicher Stellung Leben-
den als platte Redensart; derjenige aber, der Geld verdienen muß — und
das ist doch bei weitem die größte Anzahl von Menschen, die wir zu erziehen
haben — fühlt stets mit mehr oder weniger großer Deutlichkeit das Lastende
und Aufreibende des Lebenskampfes. Mag er es nun mit dem Neid von
Gleichgestellten, mit der Willkür oder Herrschsucht von Vorgesetzten zu tun
haben, mag der Kampf hart und leidenschaftlich geführt worden sein, oder
langsam und allmählich den Ringenden zermürben und zerreiben, stets ist
eine widerstandsfähige Natur nötig, um ihn auszuhalten. Wir brauchen des-
halb Menschen, die nicht bei dem ersten Widerstand, den sie finden, erschlaffen,
zusammenbrechen oder beim ersten Sturmeshauch gar wie ein Kartenhaus
umfallen. Wir brauchen selbstsichere Persönlichkeiten, die auf ihren Beinen
fest stehen, die ihre eigene Meinung, ihren eigenen Willen, eigenen Geschmack,
sicheres Gefühl, festes Gewissen besitzen. Die innere Schwächlichkeit des
Denkens, wie sie sich im hochgradig suggestibelen Menschen zeigt, ist uns
verächtlich. Gibt es doch Fürsten, von denen man sagt, jeder der zuletzt
bei ihm ist, hat bei ihm Recht! Was nützt ein Mensch in noch so hoher
Stellung, der dem Gerede seines Friseurs und seiner Dienstboten zugänglicher
ist, als dem der fachlich Untergebenen. Darum ist es nötig, daß der Mensch
es lerne, sich eine Meinung zu bilden. Er muß selbständig sein im Denken»
Er muß wissen, wie man für seine Ideen die Voraussetzungen sucht und
findet, wie man aus Voraussetzungen Schlußfolgerungen ableitet, wie man
sich über diese Ergebnisse und ihre Entstehung Rechenschaft gibt und sie
gegen falsche Auffassungen verteidigt und sichert. Die so erzielte Selbständig-
keit ist kritisch. Sie ist für den Gebildeten unentbehrlich und vermag auch
die natürliche Charakterschwäche der Meinungsbildung bis zu einem gewissen
Grade zu beheben. — Die Selbständigkeit des Denkens hat noch eine andere
Voraussetzung, die wir vom Gebildeten erwarten müssen. Es ist die Selbständig-
keit des fachlichen Wissens. Jeder muß die nötigen Fachkenntnisse haben,
mag es sich um Erscheinungen des Alltagslebens handeln, in denen fachliche
Beschlagenheit nicht erst stets durch hohe Studien begründet zu werden
braucht, oder mag es sich um spezifisch wissenschaftliche Kenntnisse handeln.
Blaustrumpfwissen ist um so gefährlicher, je verantwortlicher die Stellung
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 3ti7
seines Besitzers ist. Ein Kopf ohne Wissen ist — wie Napoleon sagt — eine
Festung ohne Kanonen.
Wie mit der Selbständigkeit des Denkens steht es mit der Selbständig-
keit des Fühlen s. Den Dingen der Umgebung gegenüber erweist sich unser
Gefühl als leistungsfähig im Geschmack. Der Geschmack aber kann und muß
erzogen werden. Zwar findet sich Selbständigkeit dieser edlen menschlichen
Fähigkeit selten. Dies ist jedoch nur eine Folge unserer einseitigen Er-
ziehung. Die meisten Menschen brauchten in ihren Gefühlen durchaus nicht
so konventionell zu sein, wie sie es fast stets sind. Sie haben es nicht ge-
lernt, auf die Stimme ihres Gefühles zu horchen, und bleiben so abhängig
von dem, was sie hören. Gute Gefühlserziehung kann aber schon von früher
Jugend an einsetzen und in strenger Folgerichtigkeit das ganze Leben hin-
durch weitergeführt werden; sie hat dann sicher erfreulichen Erfolg.
Was von den Gefühlsreaktionen den Dingen gegenüber gesagt wird, gilt
in gleicher Weise von unserem Fühlen den Mitmenschen gegenüber. Dieses
Fühlen erscheint der oberflächlichen Betrachtung von jenem so verschieden,
daß der Sprachgebrauch dafür ein anderes Wort gebildet hat und von Gemüt
redet. Nur gelegentlich sagen wir z. B., daß jemand in der Auswahl seines
Verkehres guten Geschmack beweist; aber dann meinen wir schon wieder
etwas anderes als das Fühlen von Mensch zu Mensch. Über der Erziehung
von Geschmack und Gemüt steht das große Wort von Schopenhauer: „Man
muß vor einem Kunstwerk stehen wie vor einem Könige und warten, bis es
einen anspricht." Es treten dann Regungen in uns auf, die rein durch die
Sache bedingt und zu starker ursprünglicher Wirkung fähig sind; erst sie
weisen den Dingen in unserer Seele die Stellung an, die sie ihrer Natur nach
verdienen. Lernt man das Fühlen vielleicht besonders gut an Kunstwerken,
so heißt es doch vor allen Dingen dem Mitmenschen unbefangen und mit
voller Hingabe gegenübertreten und spüren, was in ihm an Wert und Un-
wert liegt. Die Gefühle sind keine bloße Konvention, wenn sie auch von
Sitte und Rede auf das Stärkste beeinflußt werden können. Für den, der
sich von beiden frei zu machen versteht, sind sie das feinste und sicherste
Reagens der Seele auf die Eindrücke, die an sie herantreten; ja, im Grunde
sind sie eines Irrtums nicht fähig! Am deutlichsten zeigt sich das auf
einem Gebiet seelischen Lebens, das besonders empfindlich ist, im Gewissen,
das nur eine, aber die feinste Gruppe von Bedingungen seelischer Reaktionen
ins Auge faßt. Allgemein läßt sich sagen: tritt ein positives Wertgefühl
in uns auf, so sagt es uns, der neue Eindruck findet Übereinstimmung mit
unserem Innern; tritt ein negatives Gefühl ein, so liegt ein Widerspruch
vor. Urteilsfehler können nur da zustande kommen, wo nicht alle Seiten
des betrachteten Gegenstandes und alle in uns liegenden Anlagen zur Sprache
kommen.
Die dritte Seite der Selbständigkeit ist die höchste. Sie hat die des Denkens
und Fühlens zur Voraussetzung und setzt ein neues Moment hinzu, die Selb-
ständigkeit der Energie, es ist die Selbständigkeit des Willens. Die Alten
haben die Tapferkeit so hoch gestellt, weil sie die Selbständigkeit des Willens
in der wichtigsten Lebensaufgabe, in der Selbstbehauptung im Kampfe sahen.
Es scheint aber, daß Tapferkeit im Wetlkampfe leichter zu bewähren ist als
Mut in dem unblutigen stillen Existenzkampf des Alltagslebens, der nichts
mit Schwertern und Kugeln zu tun hat. Es scheint, daß der innere Mut, für
368 F. E. Otto Schultze
den Bismarck den kräftigen Namen Zivilkurage gefunden hat, eine seltenere
Tugend ist als der äußere, physische. Psychologisch ist das nicht unverständ-
lich, denn im Kampfe herrscht der Affekt, und die Gefahr ist groß; in solcher
Lage Energie aufzubieten, ist leichter als in der ruhigen Überlegung, wo der
trieb der Leidenschaft fehlt und die Macht nachteihger Folgen für Besitz,
Ehre und Vorteil sich leichter, nachhaltiger und stärker geltend machen können.
Sophokles hat sehr treffend gesagt: „Auch der Freigeborene wird in der Nähe
des Königs schnell zum Sklaven."
IL Sachlichkeit.
In der Selbständigkeit erweisen sich die seelischen Leistungen als trieb-
kräftig und widerstandsfähig. Triebkräftig folgen sie dem inneren Drang und
den äußeren Anreizen, und widerstandsfähig müssen sie sich den störenden
Reizen des eigenen Innenlebens und den Hemmungen und Stürmen der
Außenwelt gegenüber bewähren. Ist die Selbständigkeit hierbei ein formales
Gesamtmerkmal der Leistungen, so kommt es nun darauf an zu sehen, welches
die materialen Merkmale der seelischen Vorgänge sind. Zur Beantwortung
dieser Frage müssen wir daran denken, daß der Mensch, wie bereits gesagt,
auf Grund seiner Organisation in der Lage ist, die Außenwelt gleichsam in
sich aufzunehmen. Er bildet in sich Repräsentanten von ihr und verarbeitet
mit ihrer Hilfe].die Gegenstände, oder wie der Sprachgebrauch sich ausdrückt,
die „Sache". Der materiale Inhalt wird deshalb von der Frage aus verständ-
lich : wie können wir uns auf die Sache einstellen, wie können wir im vollsten
Sinne sachlich sein, sachlich denken, fühlen und wollen? Welche Merk-
male und Tugenden zeigt der Mensch, der sich am besten und vollsten der
Sache widmet und ganz in ihr aufgeht?
Die Antwort auf diese Frage finden wir gleichfalls vom Evolutionsprozesse aus.
Die „Sache" muß zur höchsten „Entfaltung" gebracht werden!
D. h. zunächst: alle Einzelheiten müssen herausentwickelt werden. Die
Tugenden der Peinlichkeit, der Sorgfalt werden damit selbstverständlich als
Tatsachen und Forderungen. Weiter ist es eine psychologische Notwendig-
keit, daß wir bei der Verarbeitung des gegebenen seelischen Materiales alle
Beziehungen herstellen, die zwischen den Gegenständen selbst und zwischen
ihren Teilen und Merkmalen bestehen. Aus diesen Relationen ergeben sich
jeweils neue Gedanken und Gefühle, bis schließlich alle Einzelheiten mehr
oder weniger eng mit einander verwoben sind. Bilden sich dabei zunächst
auch manche überflüssigen Einfälle, so sorgt doch die Fülle der Beziehungen
dafür, daß Unnötiges abgestoßen wird, und daß die Beziehungen, die mehr-
fach fundiert sind, mit besonderer Eindringlichkeit und Triebkraft sich heraus-
heben. So ergibt sich ganz von selbst auf der einen Seite die Einfachheit
und Schlichtheit als Merkmal hoher Leistungen, auf der anderen Seite ein
Zug und ein Bedürfnis nach Wahrscheinhchkeit, Wahrhaftigkeit, Notwendig-
keit, nach Logik, Stil und Pflicht. Für das Gebiet des Menschlichen hat
auch hier der Sprachgebrauch besondere Begriffe geschaffen. Berücksichtigen
wir die Forderungen, die die Mitmenschen auf Grund der ihnen innewohnen-
den Eigentümlichkeiten und Merkmale an uns stellen, ihre Bedürfnisse und
Rechte, ihre PfUchten, den in ihnen liegenden Wert und ihre Würde, so er-
füllen wir damit von selbst die Pflichten der Liebe, Gerechtigkeit, Treue
und Dankbarkeit. Dabei ist es gleichgültig, ob wir einen einzelnen Menschen
Ssibständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 359
oder Menschengruppen vor uns haben. Was vom Einzelnen gilt, gilt von der
Einheit, der Familie, der Freundschaft, von der Arbeitsgemeinschaft, dem ge-
schäftlichen Verkehr, von den Gemeindebildungen in Stadt, Staat und in der
Welt. Damit haben die zwar vagen, aber ungeheuer wichtigen und wertvollen
Begriffe Menschlichkeit und Humanität ihren Sinn erhalten. Siebezeichnen
psychologisch bedingte Notwendigkeiten oder m. a. W. Tatsachen bezw.
Forderungen, die sich unter der Voraussetzung voller Empfänglichkeit und
Differenziertheit der menschlichen Anlage ganz von selbst ergeben.
So wertvoll sich hiernach ohne weiteres die Organisation der menschlichen
Seele als Grundlage hochwertiger Sachlichkeit erweist, so müssen wir doch
auch in Rechnung ziehen, daß gleichzeitig der Trieb zur Macht in den ein-
zelnen Individuen mit verschiedener Stärke entwickelt ist. Der Durchschnitts-
mensch, wenigstens alle starken Naturen, setzen in die Sache, die sie ver-
treten, ihre ganze Persönlichkeit. Diese muß sich geltend machen. Dies
geschieht aber meist im Streben zur Macht. Psychologisch — im Sinne der
oben kurz entwickelten Lehre von den Begriffen — heißt das: der Begriff des
Ichs soll und muß sich unter den zahllosen Begriffen, die jedes Individuum
von anderen Menschen besitzt, innerhalb der Einzelseele zur Herrschaft er-
heben. Der Grund dazu liegt darin, daß er sowohl von selten der Sinnes-
werkzeuge als von Seiten des Gemüts und der mit diesem Worte mitbezeich-
neten angeborenen Anlage am meisten Nahrung und Triebkraft erhält. E»
ist dies eine der wesentlichsten Seiten in der psychologischen Grundlage dessen,
was wir als Raubtiernatur des Menschen zu bezeichnen pflegen. Daß wir
körperlich Eckzähne haben, ist nicht so wesentlich, als daß wir Ellenbogen,
Herrschsucht, Geldgier und Ehrgeiz besitzen. Das sind Organe oder Kräfte
dei; Seele, Mächte, die bei vielen Individuen leider ungleich stärker wirksam
sind, als die Sache im engsten Sinne. Um den enormen Einfluß dieser und
ähnlicher subjektiver Momente zu kennzeichnen, müssen wir uns die Menschen
vergegenwärtigen, in denen geringer seelischer Besitz und wenig differenzierte
Eigenart mit hoch entwickelter Macht gepaart sind. —
Der Typus des Feldwebels sei zunächst in diesem Sinne genannt. Naturgemäß ist hier
der Durchschnittsfeldwebel gemeint, wie ihn der Sprachgebrauch kennt. Die Tatsache, daß viele
solcher Männer Väter der Kompagnie im besten Sinne des Wortes sind, und daß zumal dem
preußischen Feldwebel eine ungeheure Sachlichkeit eigen ist, schließt eine wenig erfreulicho
Häufigkeit der Zerrforra des Machtgefühles nicht ans, wie sie vom großen Durchschnitt her
bekannt sind Die Neigung zum Befehlen und zu geringschätziger Behandlung, das Schikanieren,
ja das Bedürfnis, die Leute zu schinden, liegt ungeheuer tief in derartigen Charakteren begrün-
det. Dazu kommen Gereiztheit, gewohnheitsmäßiges Schimpfen und unerzogene Rücksichts-
losigkeit. Naturgemäß finden sich derartige Züge auch in anderen Beamten- und Berufsstellen,
denn hohe Organisationen der Seele sind selten, und unsere Ausbildung legt auf die Entfaltung
der rein menschlichen Anlagen wenig Wert. Im Heeresdienst ist wegen der scharfen Ai»beit8-
teilung und der besonders hohen Machtstellung des Vorgesetzten dieser Typus nur besonders
ausgeprägt. Eine zweite Gruppe von Fällen von gewisser seelischer Armut und unverfiftltnis-
mäßig großer Macht ist in dem jetzt so bekannten Typus des Munitionsarbeiters und Empor-
kömmlings überhaupt zu sehen. Auch hier darf natürlich nicht kraß verallgemeinert werden.
Tausende von Menschen sind durch die Munitiousarbeit vorangekommen und haben durch ihre
Sparsamkeit die Grundlage, zu einem bescheidenen Wohlstande gelegt, aber ein beängstigend
großer Teil ihrer Masse gibt sich so gut wie schrankenlos dem Lebensgenuß hin und denkt nicht
einmal an die Gefahren der eigenen Zukunft, sonst wäre ja nichts selbstverständlicher, als daß
man erst einmal sich selbst gegen diese Gefahren der Krankheit, des Alters und der Arbeits-
losigkeit sicherte, anstatt daß man die eigenen Bedürfnisse in luxuriöser Weise befriedigte. Es
bewährt sich damit die alte Erfahrung, daß derjenige, der keine Tradition in der Sparsamkeit
Zeitschrift f. pädagog. Psychologie 24
370 F- ^- ^^^^ Schultze
und im Geldzußammenhalten kennt, das Sparen nicht allzu leicht lernt, und daß andererseits
wohlhabende Familien, in denen die Sparsamkeit Gewohnheit ist, unverhältnismäßig einfacher
leben, als etwa gleichgestellte Familien ohne solche Sitte. — Als dritte Gruppe von Fällen müssen
wir an die Frau im allgemeinen denken. Bei ihr tritt die Sachlichkeit hinter dem Gemütsleben
leicht zuiück. Das Gefühl ist bei der Frau bekanntlich im großen und ganzen wesentlich reicher
entfaltet als beim Manne. Die Frau ist lebhafter in Zuneigung und Abneigung, in Liebe und
Haß, sie bringt leichter Opfer, ist aber auch viel leichter ungerecht, gehässig und überhaupt un-
sachlich.
Volle Sachlichkeit unterdrückt darum mit psychologischer Notwendigkeit
die subjektiven Neigungen, mögen diese herkommen wo sie wollen; strenge
Sachlichkeit ordnet sich der Sache vollständig unter und sieht in ihrer Ent-
faltung die unbeugsame Pflicht. Sachlichkeit wird damit die Grundlage der
inneren Freiheit, der höchsten sittlichen Forderung, die wir stellen können.
III. Frohsinn.
Würden wir uns mit der Erfüllung der beiden Forderungen: Selbständig-
keit und Sachlichkeit begnügen, so könnten wir es sicher leicht zu einer
hohen Leistungsfähigkeit bringen. Es bleiben aber zwei grundverschiedene
Lösungen des Lebensproblems möglich, die eine der puritanisch strengen
Sittlichkeit und Härte, die andere der sieghaften, freiwilligen, frohsinnigen
Kräfteentfaltung. Ja selbst eine finstere, harte, nüchterne Lebensführung
-wäre bei solchen Voraussetzungen nicht ganz ausgeschlossen. Von diesen
Möglichkeiten scheint uns die zweite, die hedonistisch-optimistische Form, die
wesentlich wertvollere zu sein, denn sie läßt das Leben nicht nur in sitt-
licher, sondern zugleich auch in rein menschlicher Beziehung wertvoll er-
scheinen. Dabei ist sie wesenthch leichter und angenehmer durchzuführen,
als die andere. V/eshalb soll man daher nicht den Frohsinn gleichfalls zu
seinem Rechte kommen lassen? Ich weise auf sehr einfache Erlebnisse hin:
Wenn man in monatelanger Pflichterfüllung die Tretmühle des Alltagslebens
hat klappern lassen und dann an dem ersten schönen freien Tage seiner
Ferien sorgenlos und hoffnungsfreudig in die langentbehrte Natur hinaus-
wandert, wie atmet man dann auf! Man freut sich seiner Freiheit und der
Schönheit der Welt und sagt schließlich: Warum nimmt man das Leben so
nüchtern und ernst? Weshalb genießt man es nicht öfters? Und wie anders
leistungsfreudig fühlt sich der Abgeschaffte nach einer wohlverdienten Arbeits-
unterbrechung! Ja noch mehr: der Mensch braucht Feste zur rechten Zeit,
wenn er sich jung und elastisch erhalten will; sie müssen auf unserem Lebens-
programm stehen. Darum ist der Frohsinn nicht nur schön, sondern auch
lebenswichtig.
Abermals sind es die Gefühle, die mit der Forderung des Frohsinns ent-
scheidende Bedeutung in unserem seelischen Haushalt gewinnen.
Wir hatten gesagt, daß sich in uns rein gesetzmäßig Einfälle, Gedanken,
Begehrungen und Absichten bilden. Wir können uns nicht verschweigen,
daß unsere Gedanken oft wunderlich und nicht selten geradezu töricht sind.
Darum muß zwischen ihnen eine Auswahl stattfinden. Am glücklichsten und
erfolgreichsten wird sie sein, wenn sie durch Weitherzigkeit und Gefühle der
Lust und des Glückes begünstigt wird. Dem Frohen und Weitherzigen wird
es leichter als dem Engherzigen, dem Neidischen und Mißgünstigen, andere
Menschen glücklich zu sehen und ihnen zur Freude zu verhelfen; dem Eng-
herzigen dagegen wird es schwer, ja oft unmöglich; er ist darirni gewisser-
Selbständigkeit, Sachlichkeit und Frohsinn als Charaktereigenschaften usw. 37^
maßen der Typus des Bösen: seine Freude ist Freude am Mißergehen und
Unglück des anderen. Dieses negative Moment, das Mißgeschick und Un-
glück des Anderen, darf nicht über unsere Seele Gewalt gewinnen. Seine
Ausschaltung kann aber nur da erfolgen, wo Weitherzigkeit und die Fähig-
keit, anderen Gutes zu tun, besteht. Das reichste Maß sich zu freuen und
anderen Freude zu gönnen, ist also der Prüfstein höchster Leistungsfähigkeit
auf menschlichem Gebiet. Der Engherzige ist in diesem Sinn ein beschränkter
Mensch; er kann sich nicht mehr freuen, wo anderen dies noch in reichem
Maße vergönnt ist. Könnte er das, so stände er auf einer wesentHch höheren
Stufe der allgemeinen Menschlichkeit. Reichtum an Freude ist somit
neben Weitherzigkeit ein Zeichen hoher seelischer Organisation
und Grundlage für Liebe, Güte und Menschlichkeit.
Auch auf anderen Gebieten geben uns die positiven Gefühle einen Hinweis
auf unsere innere Struktur. Der gesunde Mensch befindet sich wohl; er neigt
dazu, sein körperliches Befinden, soweit er sich darauf einstellt, angenehm
zu spüren. Wer am Morgen wohlausgeruht erwacht und Herr seiner Kräfte
ist, ist ein anderer als der, der sich am Abend übermüdet auf sein Lager
wirft, jener ist glücklich, dieser gleichgültig oder unlustig. Die Kinder, die
übermüdet sind, besitzen noch nicht die Hemmungen des Erwachsenen und
weinen und schreien darum in der Übermüdung grundlos, ein nicht mißver-
ständlicher Ausdruck ihres Mißbefindens. GeHngt es deshalb, unser Leben
so zu gestalten, daß es körperlich und seelisch von glücklichen Gefühlen
durchzogen und durchwoben ist, so ist damit die Gewähr gegen Griesgram,
Neid, Mißgunst und gegen körperliche Leishingsherabsetzung geschaffen. Und
so will es uns scheinen, daß der Mensch, der im Lebenskampf steht, sich immer
und immer wieder zu prüfen hat, ob er körperhch und seehsch froh und
glücklich ist.^) Darum frage man sich von Zeit zu Zeit:
Sag', bist du froh?
Und kann man nicht freudig ja sagen, so besinne man sich nicht lange,
sondern spreche, sich selbst anspornend, weiter:
Und bist du's nicht, so sorge, daß du's seist!
Jean'Paul hat diese Weisheit in einem unendlich feinen Spruch zum Aus-
druck gebracht, als er sagte: „Heiterkeit ist der Himmel, unter dem alles ge-
deiht, außer den Giften."
Unser Gefühlsleben hat mannigfaltige Seiten. Lust und Unlust sind die
bekanntesten und auffälHgsten Momente, aber es gibt noch einen anderen
Gegensatz der positiven und negativen Gemütsbewegungen, der damit nicht
•) Ein Mißverständnis muß an dieser Stelle sofort ausgeschlossen werden. Wir reden in diesem
Aufsatze nur von den Zielen der Erziehung und nicht von ihren Wegen und Mitteln. Man könnte
darum meinen, wir zielten auf eine Behandlung der Zöglinge ab, in der alles von Lustigkeit
überströmt und in der alles Unangenehme erleichtert und alles Bittere überzuckert würde. Keines-
falls! Sachlichkeit und Selbständigkatt müssen stets stark und hart sein können. In dieser Be-
ziehung bleibt die preußische Willenskraft unentbehrlich. Die bekommt man aber nur durch harte
Arbeit, straffe Zucht und Gewöhnung an Entbehrung. Man muß Hartholz bohren lernen ! Oder
um ein anderes Bild zu gebrauchen, sei es gestattet, eine Stelle zu zitieren, nach der Carneades
von Cirene und nach ihm Montaigne die Bemerkung gemacht haben, daß die Fürstensöhne, unter
deren Berührung sich alles binsenhaft biege und beuge, nur von den Pferden, die sie bestiegen,
rücksichtslos abgeworfen würden und daher meistens nur das Reiten grümllich lernten. — Preußischer
Drill ißt bei jeder vollwertigen Erziehung unentbehrlich!
24*
372 F. E. Otto Schul tze
gleich ist. Das Gefühl der Bewunderung und die Gefühle des Großen auf
der einen Seite und das Gefühl des Kleinmutes unä der Schwäche auf der
anderen Seite stehen sich mit der gleichen Deutlichkeit wie jene gegenüber;
beide Gefühlsreihen können unabhängig voneinander im Bewußtsein auftreten.
Die sachliche Betrachtung der Welt und ihres Baues führt, je tiefer sie greift,
ganz von selbst zu Gemütswirkungen. Wir freuen uns ihrer Schönheit, wir
bewundern ihre Unendlichkeit und stehen still vor ihrer Macht. Das Erklärungs-
bedürfnis leitet uns in der gleichen Richtung weiter und findet hinter der
Welt, wenn auch nicht auf wissenschaftlichem Weg, so doch mit dem Glauben,
noch etwas stehen, das zwar nicht der Verstand, wohl aber die Vernunft und
das Gemüt erfassen kann. Durch Sachlichkeit und tiefes Gefühl kommen
wir ganz von selbst zu einer rehgiösen Auffassung. Mag man das Göttliche
im Sinne des alten Griechentums, des Christentums, des Islams oder philo-
sophischer Spekulationen auffassen, der große Grundzug auf das Heilige ist
allen gemeinsam. Er ist wie alle Tugend eine psychologische Notwendig-
keit vollster innerer Entfaltung und umfassender Verarbeitung der Welt und
des Seins.
Fügen wir unsere Überlegung zusammen, so erhebt sich von selbst als Ziel
unserer Entwicklung und Erziehung das Bild eines Menschen von einfacher,
klarer Gestaltung vor unseren Augen. Es ist uns fast gleichgültig, ob er
intellektuell hochbegabt, mittelgut oder schwach veranlagt ist. Wichtiger
ist, daß er gesund ist und seine Kräfte entfaltet, die die Natur und seine
Umgebung von ihm fordern. Er ist kraftvoll und selbstsicher, läßt sich nicht
von jedem Windstoß umblasen, ändert nicht von AugenbUck zu Augenblick
seine Meinung, hat einen ausgeprägten Geschmack und ein sicheres Mit-
gefühl und besitzt einen starken zielsicheren Willen. Der Sache ordnet er
sich unter, in welcher Gestalt sie kommen mag. Er verarbeitet sie gründlich,
bis sie ihm einfach, klar und notwendig erscheint. Er bleibt ihr gegenüber
mit seinem Gehirn nicht kalt stehen, sondern erfaßt sie auch gefühlsmäßig.
Empfänghchkeit und Weitherzigkeit, Gesundheit und Tatkraft lassen ihn die
an sich lebenskräftigen Seiten der Sache angreifen, denn diese entsprechen
seinen gesunden Anlagen. Herrschsucht, Eitelkeit, Gehässigkeit und Gefühls-
überschwang und schließhch all die kleinlichen Süchte kann er durch seine
Sachlichkeit leicht unterdrücken. Dabei durchzieht sein ganzes Wesen ein
alles versöhnender Frohsinn, und im Stillen schlummert und wacht stets ein
tiefreligiöses Gefühl.
Haben wir einen Menschen zu beurteilen, so fragen wir: Ist er selbständig?
Ist er sachlich? Ist er froh?
Haben wir einen Menschen zu erziehen, so richten wir an uns, so oft wir
pflichtgemäß unsere Leistungen prüfen und unsere Aufgaben vorbereiten,
Fragen wie diese: Was hast du bisher getan, um alle Kräfte, die in deinem
Zögünge liegen, zu entfalten? Hast du dazu beigetragen, ihn selbständig,
sachlich und froh zu machen? — So führen v^r langsam und sicher ihn und
auch uns selbst zu den Zielen der Selbständigkeit, der SachUchkeit und des
Frohsinns.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 373
Ober Spielzeuge als Erziehungsmittel
und die Einrichtung öffentlicher Spielzimmer und Beobachtungsstatten.
Von Oskar Frey.
Was mich veranlaßt, in dieser schwierigen, oft erörterten, kaum an-
nähernd gelösten Frage das Wort zu ergreifen, sei zugleich Erklärung der
Abgrenzung, die in der Aufschrift liegt und der besonderen, auf praktische
Resultate zugespitzten Behandlung.
Es ist leider eine merkwürdige Tatsache, daß wir eine fast unüberseh-
bare Literatur über das Spiel und eine täglich wachsende Literatur über
neue Spielmittel besitzen — besonders solche, die von Kindern selbst her-
gestellt werden sollen — , aber keine entsprechende Organisation, die plan-
mäßige Erfahrungen sammeln könnte über die Berechtigung der vielen aus
biologischen und psychologischen Theorien abgeleiteten Beurteilungen der
Spiele und Spielmittel.
Die Kindergärten können nicht in Frage kommen, da sie nicht das
ganze spielfähige Alter umfassen. Die Bestrebungen, das körperliche Spiel
zu fördern, stellen berechtigte Forderungen der körperlichen Ertüchtigung
so einseitig in den Vordergrund, daß nach Spieltrieb und seiner Berück-
sichtigung fast nicht mehr gefragt und das Spiel in solchen Übungen von
der Zielstrebigkeit derselben ganz erdrückt wird.
Eine wichtige Bestrebung unserer Pädagogik trägt — aber wohl gegen
den Willen der meisten Führer derselben — dazu bei, daß der Spieltrieb
unserer Jugend in seinen edelsten und wertvollsten Äußerungen in den Dienst
der geistigen Selbsterziehung gestellt wird. Ich meine die Bewegung zur
werktätigen und auf eigenes Experimentieren hinstrebenden Ausgestaltung
des naturwissenschaftlichen Unterrichts: die naturwissenschaftlichen Schüler-
übungen der Höheren Lehranstalten und das, was sich unter dem Schlag-
worte „Arbeitsschule" in der Didaktik des Sachunterrichts geltend macht.
Es wäre eine verhängnisvolle Selbsttäuschung, wollten wir auf diesem
Gebiete uns in den Gedanken einwiegen, daß wir's schon „herrlich weit
gebracht" haben, da Lehrmittel für viele Experimente aus fast allen Diszi-
plinen erfunden und handelsfähig gemacht sind, einige Schulen oder Schul-
kategorien auch die neuen Forderungen in Einklang gebracht haben mit dem
Kunstwerke ihrer Lehrpläne. Die Tatsache, daß mit diesen Arbeitsmethoden»
mit dem Streben durch Eigenarbeit und Selbsterlebnis wirklich erzieherisch
zu individualisieren, das organisatorische Rückgrat unserer Schulen, der
Klassenunterricht mit seiner gleichmäßigen Bewältigung eines vorgeschriebenen
Arbeitspensums zertrümmert wird, darf nicht übersehen werden.
Wollen wir aber wissen, was wir eigentlich an seine Stelle setzen
können, so gilt es, unsere Erfahrungsgrundlage darüber, wie das Kind
reagiert, wenn es nicht dem Zwange der Organisation gehorcht, sondern
dem eigenen, wertvollen Triebe folgt, bedeutend zu ei-weitern und planmäßig
zu vertiefen.
Eine vielversprechende Möglichkeit solcher Kinderforschung scheint mir
im kindlichen Spiel zu liegen. Ich weiß, daß damit kein neuer Gedanke
ausgesprochen wird. Der Gedanke gewinnt aber erst Wert, wenn eine
374 O. Frey
brauchbare Organisation gezeigt wird, dje zu einer wenigstens teilweisen
Verwirklichung der Idee führen kann.
Untersuchungen mit größerer Kinderzahl über Spiel und Spieltrieb sind
nicht zu machen, ohne bestimmte Berücksichtigung der Spielzeugindustrie
und ihrer Erzeugnisse. Soweit mir Ausführungen der pädagogischen Presse
über die Bedeutung der Spielzeugindustrie bekannt sind, erschöpfen sie sich
in der Kritik einzelner Spielmittel oder bestimmter Gruppen derselben. Das
unendlich mannigfaltige Angebot der Spielzeugindustrie wird verurteilt und
die Qualität der Spielmittel wird in Gegensatz gestellt zu den Forderungen
der „Kunsterziehung" usw. Ich bin weit davon entfernt, die Schwierigkeiten
zu unterschätzen, die durch die ungeheure Vielgestaltigkeit des Angebotes
in bezug auf seine pädagogische Beurteilung entstehen, will durchaus nicht
den Schund als berechtigt hinstellen, bin aber der Überzeugung, daß das
Überbieten durch Abänderungen desselben Spielmittels und das Unterbieten
im Preise und der Qualität notwendige Entwicklungsstufen der Spielzeug-
industrie sind, über die sie in einigen Zweigen schon hinausgewachsen ist.
Wir haben eine weltumspannende Spielzeugindustrie oder hatten sie vor
dem Kriege. Die Vertreter derselben wissen sehr wohl, daß sie nach dem
Kriege einen schweren Kampf zu kämpfen haben, um deutschem Spielzeuge
den Markt wieder zu erobern, sie wissen ebenso, daß dies nicht möglich
sein wird mit Marken, die das Urteil herausfordern: „billig und schlecht".
In der Spielzeugindustrie ist aber die Materialfrage, d. h. die Frage
nach dem gediegenen Material und der materialgerechten Ausführung nicht
die einzige Qaalitätsfrage. Das Urteil über „gut und schlecht" ist auch nicht
nur von einer Steigerung der künstlerischen Qualitäten abhängig, wenn auch
durch die Mitarbeit der Künstler eine allgemeine Veredelung des Angebotes
erreicht worden ist.
In gutem Spielzeug wird immer mehr oder weniger bewußt eine er-
ziehende Kraft gesucht. Spielzeuge werden von den Eltern in allen Kultur-
ländern — um einen brauchbaren Ausdruck der philanthropischen Pädagogik
zu benutzen — als „Miterzieher" gewertet. Die Spielzeugindustrie wird
von der pädagogischen Befähigung der Erfinder mindestens ebenso abhängig
sein wie von ihren Künstlern und Technikern. Man kann aber leider nicht
sagen, daß sie sich nach modernen pädagogischen Ideen orientieren könnte.
Selbst der allgemein Orientierte wird die Orientierung in pädagogischen
Fragen verlieren, wenn er ein bestimmtes Spielmittel nicht nur allgemein
beurteilen, sondern Gedanken zu seiner technischen und pädagogischen Ver-
besserung äußern soll.
Uns fehlt doch zu sehr die Kenntnis der Resonanzbedingungen, die das
Spielzeug im Geistes- und Triebleben vor allen der höheren Altersstufen
findet. Diese für die Spielzeugindustrie ebenso wie für die Pädagogik
wertvollen Kenntnisse können nur durch planmäßige Beobachtungen ge-
wonnen werden.
Grundsätze einer Organisation, die solche Beobachtungen ermöglichen
wiU, müssen natürlich unter vollwertiger psychologischer Beratung aufgestellt
werden. Es darf aber die Absicht der Beobachtungen nicht den Charakter
des Spieles zerstören.
Die Beobachtung des einzelnen spielenden Kindes müßte mit der Beob-
achtung von Spielgemeinschaften so verbunden werden, daß Vergleiche
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 375
möglich sind. Gleichaltrige verschiedener Familien und Lebensverhältnisse,
Geschwister verschiedener Altersstufen, verschiedenen Geschlechts müßten
mit demselben Spielzeuge unter gleichen und planmäßig abgeänderten Be-
dingungen spielen.
Die Spielzeuge dürften auch nicht den Charakter von Apparaten für
Reaktionsversuche annehmen. Trotzdem müßten die Spielbedingungen so
beeinflußt werden, daß vergleichbare Resultate erwartet werden dürfen.
Im einzelnen die Möglichkeiten aufzuführen, wie sich diesen Schwierig-
keiten begegnen läßt, ist unmöglich. Hier hilft nur die Tat, und das Urteil
wird zu fällen sein, wenn bestimmte Berichte vorliegen.
In Leipzig, der Stadt der Spielzeugmesse, ist es gelungen, während der
Kriegsjahre im Anschluß an das auch im Kriege entstandene Schulmuseum
eine derartige Organisation zu gründen. Wir haben Spielzimmer eingerichtet,
von der Industiie die dankenswerteste Unterstützung erhalten und bemühen
uns, Knaben und Mädchen des schulpfUchtigen Alters in besonders dafür
eingerichteten Zimmern ein Spielparadies zu schaffen. Daß die Kinder,
denen die Spielzimmer bis jetzt zugänglich gemacht werden konnten, diese
Einrichtung als die schönste Frucht der Kriegszeit bezeichnen und ständig
um die Erweiterung der bis jetzt möglichen Spielstunden bitten, ist aller-
dings bisher das einzige Ergebnis, über das ohne Bedenken berichtet werden
kann und das uns in der Überzeugung festigt, die Organisation sei in ihren
Grundzügen gelungen.
Die Vorarbeiten, die nötig waren, um die Bereitwilligkeit der Industrie
und der Verwaltung des Schulmuseums zu erreichen, haben mich aber ver-
anlaßt, das Angebot an Spielzeug, über das die Mustermesse einen einzig-
artigen Überblick ermöglicht, zu prüfen und zu sichten. Die Ergebnisse
scheinen mir wert, daß sie der Öffentlichkeit übergeben werden. In der
bewußten Beschränkung auf die industriellen Spielmittel ist die Möglichkeit
eröffnet, daß Elternbeobachtungen herangezogen werden können. Die Not-
wendigkeit, eine gemeinverständliche Darstellung der psychologischen Auf-
fassung zu geben, erschwerte jene Arbeit nicht unbedeutend, und ich kann
mir die Bitte an die Kritik nicht versagen, daß jene doppelte Abhängigkeit
dieser Psychologie des Spieles mit Spielzeug berücksichtigt werden möchte ').
L Zur Psychologie des Spiels.
Die Industrie unterscheidet konsequent Spiele und Spielzeug. Zu den
Spielen gehören unsere Brett-, Karten-, Würfel-, Lottospiele, also alle jene
Spielmittel, die nicht auf Erwecken oder Verstärken einer Spielillusion ein-
gestellt sind, daher auch nicht eigentlich „Kinderspielzeug" sind.
Uraltes Kulturgut der Menschheit findet sich unter diesen Spielen. Um
wenige gute alte Formen hat sich ein Gerank neuer Erfindungen geschlossen,
die die alte Spielform nach irgendeiner Seite übertreffen sollen. Im all-
gemeinen stammen die Neuerungen selten von solchen, die Meister der alten
Form sind. Eines dieser Spiele — und sei es nur eines der bekannten
') Zur Orientierung über die Probleme und die Hauptformen der Auffassung des Spieles
als einer Erscheinung des kindlicben Seelenlebens kommen hauptsächlich in Frage : Karl Groß,
Die Spiele der Menschen. Jena, Gustav Fischer, 1898; W. Stern, Psychologie der frühen
Kindheit. Quelle & Meyer, 1^14.
376 O. Frey
Familienbrettspiele — gut spielen, heißt, sich angenehm und anregend
imterhalten, bedeutet für viele Menschen Erholung und Sammlung.
Was sind aber diese Spiele unseren Kindern ? Ist jbs wirklich so, daß in
den Brettspielen die nie versagenden Erzieher zu Scharfsinn, schnellem Urteil,.
Übersicht über komplizierte Zusammenhänge gegeben wären? Sind die
kindertümlichen Formen der Kartenspiele wirklich die besten Rechenmeister,
die nicht nur das Addieren bis zum halb unbewußten Mitzählen und gleich-
zeitigem Ablauf mehrerer Reihen nebeneinander üben, sondern auch die
wirklich wertvollen Grundlagen aller Wahrscheinlichkeitsrechnung? Sind
die Brettspiele wirklich die unersetzlichen Übungsstätten des Raumsinnes,
die Karten-, Würfel-, manche Lottospiele die kindertümlichsten Formen für
das Sich tummeln im begrenzten Zahlenraum? Wer Kinder verschiedenen
Alters in ihrer Unterhaltung mit solchen Spielen beobachtet, wird wohl
erstaunt sein, wie wenig zuverlässig das Urteil über die Begabung der
Kinder ausfällt, das aus ihrem Auffassen und Beherrschen der Spielregeln
sich ergiebt. Ein Sichversenken in das Spiel, die volle Konzentration der
Aufmerksamkeit auf die in der Spiellage vorhandenen Möglichkeiten, ist bei
Kindern recht selten zu finden. Das Kind achtet zunächst sehr auf den
Mitspielenden, ist meist von der Richtigkeit seiner Maßnahmen z. B. beim
Brettspiel durchaus nicht so überzeugt, wie es glauben machen möchte. Die
Spiele könnten also den Erfolg erstreben, Sicherheit im Handeln nach Über-
zeugung zu wecken. Wäre das möglich, so wäre ihre erzieherische Be-
deutung hoch anzuschlagen.
Der Verlauf einer Entwicklung, wie ihn das Erlernen eines Spieles
darstellt, ist aber meist so, daß man feststellen muß, das Kind sucht die
Spielregeln nicht nur zu erlernen, sondern sehr bald nach seinen Wünschen
abzuändern. Kinder finden oft an dem Erfinden neuer Spielformen und
Regeln mehr Vergnügen als an dem Sichmessen mit dem Gegner nach den
Gesetzen der alten Regeln.
Nur durch regelmäßiges Mitspielen der Erwachsenen kann das Spiel mit
mit diesen Spielmitteln allmählich den Charakter einer anregenden Unter-
haltung gewinnen. Unterweisung in möglichst raffinierter Ausbeutung der
Spielregeln überschreitet offenbar die Grenzen der erzieherischen Bewertung.
Wer aber solche Spiele kauft in der Erwartung, die Kinder würden sich
nun ganz für sich recht angenehm unterhalten, verfährt so wie einer, der
ein Wörterbuch kauft und erwartet, daß das Kind nun die Anfangsgründe
der fremden Sprache aus Liebe zum neuen Buche selbst lernen werde.
Spielmittel, die nur für Kinder erdacht und geschaffen sind und die
ohne Erläuterung vom Kinde verstanden und benützt werden, bezeichnet die
Industrie als Spielzeuge.
So vielgestaltig die Welt der Spielzeuge ist, sie kennt nur drei Grund-
formen, nämlich Puppen, Baukästen, Mechanismen. Diese Grundformen
weist auch das Spielzeug alter Zeit und das primitiver Völker auf. Alle alt-
eingesessenen Spielzeuge haben sich eine Menge von Mischformen geschaffen.
Puppenstuben und eine Menge alles Puppenkrames sind die Baukästen des
Puppenspiels. Das Soldatenspiel ist nicht mehr denkbar ohne die Bau-
klötzchen, die das Gelände darzustellen erlauben und ohne die Mechanismen
(Kanonen, Wagenpark usw.).
Daß die Spielzeugindustrie trotz ihrer Bemühungen keine wesentliche
über Spielzeuge ala Erziehungsmittel 377
Erweiterung der Spielforraen gefunden hat, ist ein bündiger Beweis dafür,
daß diese Grundformen in der Eigenart des kindlichen Geisteslebens und in
der Entwicklung desselben eine Erklärung finden, Sie sind als Anpassungs-
formen an das kindliche Ausdrucksleben, die kindliche Ausdrucksfähigkeit
aufzufassen. *^
Im Laufe der Jahrhunderte haben sich die Formen, mit denen Kinder
am liebsten spielten, nicht nur erhalten, sondern auch dem Zeitgeschmacke
entsprechend gewandelt. Aber ihr Einfluß auf das kindliche Geistesleben
ist derselbe geblieben. Untersuchungen darüber, ob der Spieltrieb unserer
Kinder ein anderer ist als der Kinder früherer Jahrhunderle, sind offenbar
verfehlt, weil die Themenstellung unzulänglich ist.
Spielzeuge wenden sich vornehmlich an das Vorslellungsleben. Es
wäre also zu fragen, ob vom Spielzeug eine eigenartige Beeinflussung des
Vorstellungslebens ausgeht und ob das kindliche Spiel auch in bezug auf
den Zustand des Vorstellungslebens beim Spiel besondere Kennzeichen besitzt.
Man hat die Struktur des kindlichen Geisteslebens beim Spiel als Spiel-
illusion bezeichnet. Spielzeuge sind alle jene Dinge, die eine Spielillusion
hen'orrufen oder verstärken. Mit den Spielmitteln baut das Kind seine
Scheinwelt auf, in der Beschäftigung mit denselben schließt es sich gegen
die Außenwelt ab und arbeitet mit einem durch die Spielmittel charakteri-
sierten Vorstellungsschatze. Die Tätigkeit, die das Kind im Spiel entfaltet,
ist ein Nacherleben.
So sehr der Vorstellungsinhalt bestimmend sein mag für die Wahl und
Ausgestaltung des Spieles, es darf doch nicht übersehen werden, daß in
dem Nacherleben nicht nur der Ablauf der Vorstellungsreihen und nicht
nur der mit ihnen verschmolzenen Bewegungen und Tätigkeiten gegeben ist,
sondern daß die innige Verbindung beider psychischer Äußerungen Voraus-
setzung für den Zustand der Spielillusion ist.
Das Kind erlebt im Puppenspiel alles das wieder, was als vorwiegend
körperliches Erleben sein Vorstellungsleben stark beeinflußt, ja beherrscht.
Es objektiviert mit seinen Puppen all den Zwang der frühesten körperlichen
und geistigen Erziehung. Die Puppe muß genau so artig sein, muß ihr
Süppchen essen, sich waschen und kämmen lassen, ruhig sitzen usw., wie
das Kind es soll. An und mit den Puppen werden aber auch die Höhe-
punkte des kindlichen Erlebens nachgekostet. Die Puppe soll das ganz feine
Kleid anziehen, soll in der Puppenküche die leckersten Bissen zubereitet
bekommen, soll eine Puppenstube ihr eigen nennen, die alle Freude des
Besitzes an gutem Hausrate nacherleben läßt. Und wenn das Nacherleben
den Kreis der häuslichen Verhältnisse überschreitet, wenn Formen des Ver-
kehrs nachgebildet werden — Eisenbahn, Elektrische, Auto — , wenn die
Mitspielenden selbst die Rolle von Puppen übernehmen, immer sind Puppen
die unentbehrliche Voraussetzung, ohne die das Spiel nicht in Gang kommt.
Mit zunehmendem Alter werden die äußeren Bedingungen des Nach-
erlebens zahlreicher. Die Nachahmung muß vollkommener gelingen, wenn
die Spielillusion erreicht werden soll. Je weniger sich die äußeren Be-
dingungen meistern lassen, desto sorgfältiger werden die Nachahmungen
verbessert, die offenbar für das Nacherleben, für das Zustandekommen der
Spielillusion besonders wichtig sind : Bewegung und Sprache. Mimische und
sprachliche Nachbildungen gelingen im Spiel den Kindern viel besser, als
378 O. Frey
wenn sie nach Aufforderung sich die größte Mühe geben, die im Zustande
der Spielillusion vortrefflich gelungene Nachbildung zu wiederholen. In
dieser Anregung, mimisch und sprachhch zu gestalten, ist jedenfalls die
wichtigste und für alle Stufen des spielfähigen Alters bleibende Wirkung
gegeben, die von Puppen ausgehen kann. Aus derrT* Streben, das Nach-
erleben der Stufe der erreichten Beobachtungsfähigkeit anzupassen, entsteht
ein Schaffen, das man als „Dramatisieren" bezeichnen kann. Es ist nicht
ein Dichten von Handlungen, sondern trägt den Charakter des Nacherlebens.
In der Spielillusion ist aber ein Zustand der Konzentration, des Sichversenkens
in eine Situation gegeben, der zum sprachlichen und mimischen Schaffen
befähigt. Vom Spiel mit Puppen, wie man es bei älteren Mädchen beob-
achten kann, bis zum Puppentheater ist nur ein Schritt, allerdings verbunden
mit einer Einstellung auf eine völlig andre Technik, die Anweisung und
v>^ohl auch besondere Veranlagung verlangt^).
Die Eigenart der Spielillusion, w^ie sie das Puppenspiel braucht und
weckt, erfährt eine interessante Beleuchtung durch die Tatsache, daß Tier-
puppen sowohl als Puppen an sich behandelt werden können — anderen
Puppen durchaus gleichwertig — als auch zu einem ganz anderen Spiele
anregen können. Tierformen, wie sie die alten Häuser- und Tierschachteln
anbieten, wie sie neuerdings für zoologische Gärten und Tierparke angeboten
werden, veranlassen ganz andere Spielformen.
Das Spiel mit Soldatenpuppen besitzt wieder seine Eigenheiten. Zu-
nächst sind Soldaten immer als Massen angeboten worden. Der Einzel-
soldat könnte höchstens Denkmalfigur werden. Das Aufbauen der Soldaten
war und ist immer ein wesentlicher Bestandteil dieser Spielform. Die Illusion
steigert sich aber bis zur Lebhaftigkeit des Erlebens. Unentbehrlich scheinen
dabei die Mechanismen des Soldatenspiels, Kanonen und Wagenpark usw.
Im Spiel mit Zinnsoldaten wird immer mehr oder weniger bewußt das
Soldatenspiel im Freien, das Wett- und Kampfspiel mit den Spielgenossen nach-
erlebt. Spielsoldaten und Soldatenspiel sind die beiden Voraussetzungen für
die Spielillusion.
Das Heer der Baukästen ist mindestens ebenso groß und vielgestaltig
wie das der Puppen. Von vornherein scheint es fraglich, ob beim Bauen
mit den Baukästen das, was oben Spielillusion genannt wurde, überhaupt
entstehen kann. Das Bauen kann nicht als Nachahmung der menschlichen
Arbeit bezeichnet werden. Das Kind vermag die Arbeitsvorgänge kaum mimisch
nachzubilden, hat für die Zweckmäßigkeit in der Aufeinanderfolge der Be-
wegungen kein Verständnis. Und doch kann wohl von einem Nacherleben
gesprochen werden.
Das Kind erschöpft in seinem Nacherleben den Gefühlsinhalt der Arbeit
nach der Seite des Schaffens, des Bildens neuer Werte. Die KausaUtät der
Materialbewältigung bleibt ihm verschlossen, aber das Erlebnis des Entstehens
neuer Werte wird nachgebildet.
Baukästen scheinen doch in erster Linie Arbeitskästen zu sein. Die
Technik ist auf die einfachsten Formen, die des Legens und Stellens, ge-
bracht, die Materialfragen sind ausgeschaltet. Sowohl die Sorge um die
Beschaffung des Materials als das mit der Bearbeitung verbundene Kennen-
•) s. Stern, Psychologie der frühen Kindheit, S. 233 ff.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 379
lernen eines bestimmten Materials fällt weg. Darin liegt offenbar ein wesent-
liches Merkmal aller Baukästen.
Ist nun das Bauen weiter nichts als das Nachahmen des im Bilde
gegebenen Bauwerkes — der Vorlage — .im Räume, ein Üben jener durch
das Bild angeregten Raum Vorstellungen? Wäre das der Fall, so wären die
geometrischen Baukästen die besten, ließe sich nur durch Bauklötzchen der
Zweck des Spieles erreichen, die einen planmäßigen Aufbau der Raumformen
enthalten.
Viel wichtiger als jene Auffassung des ruhenden Raumes ist aber das
Bauen, die Tätigkeit, das Ausfüllen der Raumform, und für diese Tätigkeit
ist der Baukasten nicht nur deshalb ein geeignetes Mittel, weil er die ein-
fachsten Techniken voraussetzt, sondern vor allen Dingen, weil er die Er-
fatirungen mit Werkzeugen an bestimmtem Material ausschaltet.
Gewöhnlich werden die Schwierigkeiten, die das Kind findet, wenn es
gegebenes Material mit gegebenem Werkzeuge nach bestimmten Vorbildern
bearbeiten soll, unterschätzt. Es wird nur auf jenen Vorgang geachtet, der
sich in einer allmählichen Beherrschung des Werkzeuges, also in einer
immer bestimmteren Herausarbeitung der beabsichtigten Form ausspricht.
Die Bearbeitung auch eines leicht zu bewältigenden Materials ist aber für
das Kind nicht nur die willkürliche Darstellung einer bestimmten Form,
sondern gleichzeitig ein Zustand intensivster Aufmerksamkeit, gerichtet auf
die beiin Bearbeiten sich äußernden Eigenschaften des Materials. Das Be-
arbeiten ist ein Kampf mit dem Material, und das Kind beobachtet instinktiv
alle Äußerungen des zu bewältigenden Gegners. Vom Material geht eine
suggestive Wirkung aus, die das Kind mehr als den Eirwachsenen zwingt,
auf das fortwährende Geschehen zu achten.
Das liegt begründet in der Fähigkeit der kindlichen Psyche zur moto-
rischen Aufmerksamkeit, die als eines ihrer wesentlichen Merkmale doch
meist in den fortwährend auftretenden Auswirkungen übersehen wird. Auf
die Abhängigkeit der Sprachbildung von der Ausbildung der motorischen
Organe wird immer hingewiesen. Das Kind findet sich aber bei allen Nach-
ahmungen, bei all seinem Nacherleben im Spiel in ähnlichen Verhältnissen
zum Erstrebten wie bei seinen Sprechversuchen.
Jeder, der Kindern das Bauen mit einem Baukasten, das Formen mit
plastischem Material, die Handhabung einfacher Werkzeuge gezeigt hat, wird
das „Spannen" der Kinder, diese Aufmerksamkeit, die zu höchst unzweck-
mäßigem Anspannen der Muskeln des Körpers führt, beobachtet haben. Das
Kind sieht nicht nur, wie etwas gemacht wird, es empfindet das mit seinem
ganzen Körper. Und diese Spannung der motorischen Aufmerksamkeit ist
die Wurzel der Spielillusion für alles Spiel mit Baukästen.
Bei den ersten Schreibversuchen krampfen die Kinder nicht nur die
Hände sehr unzweckmäßig zusammen, sie krümmen auch Bein- und Rücken-
muskeln, arbeiten mit dem ganzen Körper und können in Schweiß geraten
durch die Aufgabe, mit der leichten Feder einen bestimmten schwachen
Linienzug nachzumachen. Auch an dem kleinen Baumeister, der seine
Klötzchen recht genau aufeinandersetzen will, kann man beobachten, daß
er die Beine anzieht, den Rücken krümmt, den Atem verhält, um die Ab-
sicht zu erreichen. Jeder neue Angriff erzeugt die neuen Spannungsgefühle,
und jede Erfüllung einer kleinen Teilaufgabe bringt die Lösung der Span-
380 O. Frey
nungen. Mit zunehmender Geläufigkeit der Bewegungen erstreckt sich der
Wechsel der Spannung und Lösung auf ganze Gruppen von Bewegungen,
und man geht wohl nicht fehl, wenn man in diesem durch Übung erzeugten
Wechsel des Rhythmus der Gefühlswellen die Grundlagen des ersten ästhe-
tischen Urteils sieht. Daß eine Beziehung von Muskelerap findungen und
bestimmten Vorstellungen bestehen und unter Umständen durch keine
Willensanstrengung beseitigt werden kann, hat neuerdings Graßberger, Wien
durch seine Untersuchungen über die Wünschelrute bestätigt. Nach Aus-
schaltung der Bewegungen seiner SchuHer-Ellbogen-Handgelenke gelangen
Graßberger schließlich Drehungen der Rute mit nicht sichtbaren kleinsten
Bewegungen der Hände und der Nachweis, daß dabei ganz unscheinbare
Fingerbewegungen entscheidend mitwirken. Triebhafte, ursprüngliche unbe-
wußte Greifbewegungen riefen die Ausschläge hervor. Außerdem gelang
der Nachweis, daß in den Fällen, in denen die Ausschläge der Rule ohne
ersichtlichen Grund erfolgt waren, Vorstellungen, die im Unterbewußtsein
geblieben waren, solche Kausalbeziehungen zum Sinne der Rutenausschläge
hatten, daß man annehmen muß, diese Vorstellungen haben jene Ruten-
bewegungen zu Willenshandlungen gemacht. Das kindliche Vorstellungs-
lebeji ist gekennzeichnet durch einen Mangel an logischem Zusammenhange.
Das Kind ist aber den Erwachsenen überlegen in der motorischen Empfind-
lichkeit. Dann liegt der Schluß nahe, daß im Spiel mit Baukästen alle jene
Vorstellungsverbindungen sich ausleben wollen, die nur motorisch erfaßt
Bind und die einer sprachlichen Gestaltung zunächst gar nicht zugänglich
Bind. Das Bauen ist nicht nur ein Nachahmen von Bewegungen, sondern
ein Nachahmen, ein Nacherleben einer Kausalität, die als intuitive Kausalität
bezeichnet werden kann. Die unendlich vielgestaltigen Verbindungen der
Empfindungen und Vorstellungen, die hauptsächlich nach ihrem motorischen
Gehalte aufgenommen sind, finden eine ihrer Kausalität entsprechende Aus-
drucksform im Bauen.
Baukästen sind im allgemeinen als erziehende Spielzeuge anerkannt
worden. Die große Literatur über Bauen und Baukästen, die im Anschluß
an die Arbeit im Fröbelschen Kindergarten mit den Fröbelschen Spielgaben
entstanden ist, kann aber nur zum Teile als einschlägig gelten. Die Grund-
anschauung, daß man durch eine geometrische Synthese des Raumes auch
den kürzesten Weg für die Ausbildung des Raumsinnes angeben könne, daß
die Sicherheit der pädagogischen Wirkung des Spieles mit Baukästen von
einer normalen Gestaltung und Auswahl der Bauklötzchen abhinge, wird
der oben gegebenen Auffassung von der Bedeutung des Spielmittels beim
Bauen nicht gerecht.
Ebenso liegt in jenen Bestrebungen, die das Bauen mit der Bildung
des Geschmackes, mit einer ästhetischen Erziehung unmittelbar zu verbinden
trachten, mindestens eine Unterschätzung der motorischen Elemente beim
Zustandekommen einfachster ästhetischer Urteile.
Sowohl die pädagogisch gerichtete als besonders die ästhetisch ge-
richtete Kritik sind einig gewesen in der Ablehnung des mechanischen Spiel-
zeuges. Man hat in allen Stanzartikeln billigen Schund gesehen, hat die
Mechanisierung eine Erziehung zur Gedankenlosigkeit genannt. In dieser
Ablehnung kommt aber nicht mehr zum Ausdruck als die Tatsache, daß die
verbreitetsten Auffassungen über die Spielillusion und die unmittelbare Wirkung
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 381
des Spielzeuges auf das kindliche Geistesleben überhaupt keine Deutung
eines Einflusses von Mechanismen auf die Förderung des Vorstellungslebens
zulassen.
Die Kritik, die Jenen Standpunkt konsequent vertritt, wird durch die
Entwicklung der Spielzeugindustrie in die sehr undankbare Rolle des Propheten
gedrängt, der nur noch Klagelieder über die Verflachung anstimmen kann,
aber keinen Anschluß findet und schließlich auf die Deutung des Fortschrittes
verzichtet. .
Durch Vergleich mit den Spielformen und der Wirkung anderer Spiel-
mittel ist die Spielillusion der Mechanismen nicht zu fassen. Man muß ihr
schon eine selbständige Existenz zuerkennen. Und nicht nur durch die
Tatsache, daß die Spielzeugindustrie durch die Entwicklung der Technik in
eine Art Notlage versetzt sei, die zur Herstellung mechanischen Spielzeuges
zwinge, ist die stetige Zunahme des Angebotes zu erklären. Man muß an-
erkennen, daß in dem einzigen Prinzip, das die Spielzeugindustrie für die
weitaus meisten Neuheiten kennt, die Verkleinerung, das Handlichmachen
und die Verbilligung von Nachahmungsformen dessen, was das Kind sieht,
womit es in Berührung kommt, auch wenn man es als pädagogisch blind
bezeichnet, die einzige Möglichkeit liegt, eine Anpassung der Spielmittel an
immer neu entstehende Bedürfnisse zu versuchen. Dem Techniker, der seine
Maschinen für Massenherstellung eines solchen Gegenstandes einstellt, muß
die Freiheit des Künstlers zugesprochen werden, der, wenn er für Kinder
kindertümliche Entwürfe macht, trotz aller Entwicklung der Kinderpsychologie
doch in erster Linie auf seinen pädagogischen Takt, auf sein Mitfühlen mit
dem Kindergemüt angewiesen ist.
Es ist nicht leicht, den Begriff des mechanischen Spielzeuges in feste
Grenzen einzuschließen. Ist nicht die Gelenkpuppe, sind die alten Häuser-
schachteln mit beweglichen Windmühlflügeln und Wasserrädern, sind nicht
alle Puppenwagen und -schaukeln, die Nachbildungen von Zeppelinen und
Flugzeugen ohne Uhrwerk mechanisches Spielzeug?
Gewiß, die Puppe mit den Schlafaugen kann wohl einmal das Spiel-
mittel sein, an dem das Wunder eines geheimnisvollen Mechanismus erlebt
wird. Der in der Luft pendelnde Zeppelin, an dem sich im Luftzuge die
beweglichen Flügel drehen, kann den Mechanismus vortäuschen. Der Unter-
schied zwischen diesen Spielmilteln und der so sehr beliebten Eisenbahn
mit Uhrwerk ist aber offensichtlich. Es muß aber ja nicht der geheimnis-
voll eingebaute Federmotor im mechanischen Spielzeuge enthalten sein. Auch
der Kreisel ist ein mechanisches Spielzeug. Man möchte sagen, ein echtes
mechanisches Spielzeug.
Berechtigte Angriffsflächen für eine Kritik scheint das Streben der In-
dustrie zu geben, alle Nachbildungen mit Federmotor herzustellen. Die
Eisenbahn, die mit Uhrwerk oder Elektromotor getrieben wird und doch die
Nachbildung des Gestänges an den Rädern, die „Scheinzylinder" an der
Seite besitzt, die für den Dampfantrieb nötig sind und diesen vortäuschen,
ist ja wohl der Gipfel des Huuibugs, der auf diesem Gebiete üblich ist. Eine
ausgesuchte Art der Vorspiegelung falscher Tatsachen! — Eine bewußte Er-
ziehung zur Unwahrhaftigkeit !
Schhmmer als alle die neueren mechanischen Spielzeuge ist aber in
dieser Beziehung die uralte Sandmühle. Ein Wasserrad, das mit Sand ge-
382 O. Frey
trieben wird, bewegt vier Flügel, und das Ganze täuscht eine durch den im
Zimmer nicht vorhandenen Wind bewegte Windmühle vor. Ja, ist aber nieh
die Sandmühle ein köstliches Spielzeug? Ihre Rechtfertigung durch den
Physiker wollen wir jetzt übergehen. Sie hat als eines der ältesten und
verbreitetsten mechanischen Spielmittel ihre Existenz genügend gerechtfertigt.
Entscheidungen aller dieser Streitfragen sind nicht nur vom grünen
Tisch des schriftstellernden Pädagogen aus möglich. Wenigstens muß er
sich herbeilassen, die Kinder beim Spiel zu beobachten und muß es über
sich gewinnen, den pädagogischen Unsinn geschehen zu lassen, ohne hinein-
zureden.
Er muß außerdem noch verschiedene Kinder mit demselben Spielmittel
spielen sehen, Kinder verschiedenen Alters und verschiedener Veranlagungen.
Man kommt leicht zu der Meinung, daß eine Neigung zum Stiunpfsinn
befördert wird, wenn man sieht, wie die Kleinen mit einer Uhrwerkeisen-
bahn spielen. Sie kennen nichts Schöneres, als den Mechanismus immer
wieder aufzuziehen und in Gang zu setzen, können nicht genug bekommen
von dem Erleben des Wunders, daß die Eisenbahn lebendig wird, sobald
man sie „aufgezogen" hat. Unter „Aufziehen" wird sich der Kleine zu-
nächst sehr wenig vorstellen. Und wenn er schließlich erkannt hat, daß er
mit dem Schlüssel eine Feder spannt, wird er immer noch nicht erklären
können, wie es kommt, daß die Räder wie rasend laufen, wenn sie sich in
der Luft drehen, wird aber ganz von selbst die Räder beim Aufziehen fest-
halten und erst loslassen, wenn er die Maschine auf die Schienen gesetzt
hat. Das Spielzeug gibt durch seinen Mechanismus Anregungen zu Beob-
achtungen. Es will richtig bedient sein und gibt dafür das Gefühl der
Herrschaft über den Mechanismus').
Damit ist aber die Wirkung des Mechanismus nicht erschöpft. Von den
Arbeiten an dem Maschinchen geht der Knabe über zu Arbeiten mit demselben.
Eine Steigerung erfährt jenes Herrschergefühl offenbar, wenn es dem kleinen
Ingenieur gelingt, seinem Maschinchen angemessene Aufgaben zu stellen,
die es nach seinen Einstellungen erfüllen muß. Die Eisenbahn muß z. B.
Bauklötze herbeischaffen, muß richtig rangieren, d. h. die auf verschiedenen,
durch Weichen verbundenen Gleisen stehenden Wagen abholen.
Dasselbe Spiel läßt sich auch mit Streichholzschachteln durchführen, die
an Fäden über den Tisch oder die Diele gezogen werden. Es dürfte aber
kaum ein Kind geben, das die Verwendung des Mechanismus nicht als Er-
höhung der Spielillusion empfindet.
All die Spiele mit der Eisenbahn sind in erster Linie ein Bauen mit
den Elementen, die von der Industrie ausgearbeitet worden sind. Bei dem
Aufbau steht aber im Hintergrunde die Erwartung auf den Augenblick der
Erfüllung, wenn das Maschinchen selbständig seine Arbeit tut. Darin liegt
eine eigenartige Lösung der Spannungsgefühle, die durch den Aufbau erzeugt
werden. Die oft nicht unbedeutende Reihe von Handgriffen und Über-
legungen, die nötig sind, ehe die Spannung sich löst, gibt dem Gefühls-
verlauf einen anderen Rhythmus. Was aber die Hauptsache ist, die Lösung
der Spannung ist nicht direkt von dem Willen des Spielenden abhängig,
') Stern a. a. 0. S. 294 ff.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 333
sondern eben vom Mechanismus. Nur wenn dieser richtig „geht", ist ein
normaler Verlauf des Spieles möglich.
Die wichtigste Art des Spieles mit Mechanismen ist aber noch nicht
gegeben, wenn das Kind den Mechanismus in seine Puppen- und Bauspiele
eingliedert. Erst, wenn so viel Klötzchen aufgeladen werden, als die Eisen-
bahn noch eben schleppen kann, wenn die Schienenbahn so schräg gelegt
wird, daß sie eben noch fährt, oline zu „trommeln", ist die Aufmerksamkeit
unmittelbar auf die Entscheidung gerichtet : wenn ich das und das tue, bleibt
die Eisenbahn gewiß stehen. Es wird also probiert, welche Veränderungen
der Bedingungen möglich sind, unter denen ein Ereignis eintritt. In diesem
Sinne behalten die Mechanismen ihren Wert als Spielzeug weit über die
Zeit hinaus, die man gewöhnlich als das spielfähige Alter bezeichnet. Durch
Umfrage kann jeder Lehrer an höheren Schulen einmal feststellen, bis zu
welchem Alter die Schüler mit ihrer Eisenbahn spielen, wenn sie den
Wunsch haben, daß der ührwerksbetrieb in elektrischen umgewandelt werden
möchte, wenn sie selbst versuchen, solche Verbesserungen des Betriebes
durchzuführen. Er wird nicht nur erstaunt sein darüber, bis zu welch reifem
Alter dieses Probieren seine Macht über die Jugend behält, sondern auch,
welch selbstsicheres Urteil in solchen Fragen Schüler entwickeln, die bei
ähnlichen Gelegenheiten im physikalischen oder überhaupt naturwissen-
schaftlichen Unterrichte solche Urteilskraft vermissen lassen.
Das Probieren zeigt offenbar alle Eigenschaften eines selbständigen
Experimentierens. Die Frage nach dem Warum ? ist nicht an den Vater oder
den Lehrer gerichtet, sondern in jene Abänderungsversuche eingekleidet, und
der Mechanismus gibt die Antwort darauf.
In den physikalischen Schülerübungen können inhaltlich ganz dieselben
Aufgaben auftreten, wie sie der Knabe in der oben angedeuteten Weise mit
seiner Eisenbahn sich stellt. Der Lehrer kann an Spiralfedern und Gummi-
fäden untersuchen lassen, bis zu welcher Grenze belastet werden darf, ehe
die dauernde Deformation eintritt. Wenn er aber die Experimentiermittel
ohne jede Erläuterung den Schülern in die Hand gibt, würden selbst reifere
Kinder kaum andere Proben damit anstellen, als die Federn und Fäden aus-
dehnen, bis sie verdorben sind. Auf keinen Fall aber würde von diesen
Experimentiermitteln derselbe Reiz zum selbständigen Experimentieren aus-
geübt wie von jenem Spielmittel.
Durch diese Parallele soll ja nicht empfohlen werden, die Spielzeug-
eisenbahn in den physikalischen Schülerübungen zu benützen. Wohl aber
taucht die Frage auf, ob bei näherem Betrachten nicht schließlich die
„Spielerei" mit den mechanischen Spielmitteln eine wertvolle Unterstützung
für den Unterricht werden könnte. Über diese Frage der experimentellen
Hausaufgabe wird an anderer Stelle noch zu sprechen sein.
Zunächst noch ein Wort über das Erleben am Mechanismus.
Kein Deutscher wird den stolzen Augenblick vergessen, da er zum ersten-
male die schlanke Form eines Zeppelin am Horizonte erscheinen sah, als
er erlebte, wie ein schweres Flugzeug nach kurzem Anlauf sicn von der
Erde löste und flog. An diesen Ereignissen gemessen, verstehen wir erst
den Eindruck, den die erste Lokomotive, ja alle epochemachenden Erfindungen,
durch die unser technisches Zeitalter vorbereitet wurde, auf die Menschen
jener Zeit machten.
384 O. Frey
Von den allermeisten Menschen werden und wurden diese Erfindungen
überhaupt nur in diesem Sinne des „Wunders der Technik" erlebt. Und sie
nehmen zu diesem Erleben wieder Stellung, wienn ihnen durch irgendwelche
Erfahrungen die wirtschaftlichen Folgerungen dieser Erfindungen evident
werden. Dann setzt die „rechnende" Kausalität ein und verdrängt jenes Erlebnis.
Das Kind erlebt in seinem mechanischen Spielzeuge alle jene Wunder
der Technik und trotz der Kleinheit der Effekte vielleicht intensiver als der
Erwachsene. An der kleinen Eisenbahn wird nicht nur das Fahren der
kleinen Wagen auf der beschränkten Schienenbahn erlebt, sondern auch
jene Freude, die beim Fahren auf der „richtigen" Eisenbahn ausgelöst wurde.
Diese Fülle des Erlebens muß berücksichtigt werden, wenn man den
Wert des mechanischen Spielzeugs beurteilt. Wie feinfühlig ist dabei die
motorische Aufmerksamkeit, das motorische Empfinden des Kindes! Wie so
ganz anders ist das Erleben, wenn das stolze Segelschiff auf dem Teiche
seine Bahn zieht, wenn der „Uhrwerkdampfer" trotz Wind und Wellen die
ihm durch das Steuer vorgeschriebene Reise vollendet! Welch eine neue
Welt schließt der Mechanismus im Wasser auf! Wenn aber die Spielzeug-
industrie nach dem Kriege den Mechanismus für die Bewegung in der Luft
gemeistert haben wird, wenn also das Luftschiff und das Flugzeug in Formen
auf dem Markte erscheinen werden, die dem großen Fortschritte entsprechen,
den wir im Baue dieser Mechanismen im Kriege gemacht haben, dann wird
sowohl die Zeit des spielfähigen Alters eine ganz andere Abgrenzung er-
fahren, als auch die Anregung zum Probieren, zum Experimentieren mit
den Dingen, die von der Spielzeugindustrie angeboten werden, viel inten-
siver sein. Die notwendige Folge ist nach zwei Richtungen für die Schule
bedeutungsvoll.
Zunächst wird die Verbreitung dieser Spielmittel sehr viel größer werden.
Es wird keinen Knaben geben, der seine Jugend ohne ein Flugzeugmodell
und dem heißersehnten Spiel mit demselben „vertrauern" will. Die Schule
hat daran nicht nur das Interesse, daß sie nachrechnet, wieviel Stunden die
Kinder dadurch von ihrer eigentlichen Lebensaufgabe, z. B. dem Vokabel-
lemen, abgehalten werden. Sie wird versuchen müssen, diese Zeit des Spieles
durch Anregungen fruchtbar zu gestalten. Ja man wird von ihr erwarten,
daß sie Mittel und Wege findet, Begabungen, die sich gerade im Spiel mit
diesem Spielzeuge der Zukunft zeigen können, zu erkennen und entsprechend
zu fördern.
Außerdem entsteht aber überhaupt die Frage, ob mechanisches Spielzeug
ein notwendiges Hilfsmittel ist, um das Ausdrucksleben unserer Kinder in
Beziehung zu bringen zu den Erscheinungen, die nicht nur unser Verkehrs-
leben beherrschen, sondern in ihrer Gesamtheit einen immer größer werdenden
Einfluß auf unsere gesamte Lebensführung haben. Ist der große Unterschied,
der zwischen der Auffassung, die Knaben im physikalischen Unterrichte für
solche Fragen haben und dem vöUigen Versagen, das bei gleichaltrigen
Mädchen zu beobachten ist, letzten Endes auf den Mangel an solchem Er-
leben zurückzuführen, zu dem die Mädchen infolge unseres Urteils über
Mädchenspielzeug bisher verurteilt sind? Steht das im Einklänge mit unserer
Reform der Mädchenerziehung, die ja doch ohne entsprechende Steigerung
dieser Urteilskraft öder Verbalismus bleiben muß ? ')
>) Vgl. Stern, 8. 228/29, '23 1/32.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 335
Und nicht nur die Frage nach der Bereicherung des persönlichen Er-
lebens durch solche Spielmittel, sondern vor allen Dingen die Tatsache, daß
durch das Spielzeug dieses Erleben in viel frühere Lebensalter verlegt wird,
in denen eine auf logisches Verstehen der Vorgänge aufbauende schul-
mäßige Behandlung ausgeschlossen ist, gibt zu denken. Es entsteht die
Frage, ob das Probieren mit solchem Spielzeuge in einem Alter, in dem
das Abstraktionsvermögen nicht ausreicht, um die sprachliche Formulierung
der für die unterrichtliche Behandlung notwendigen Begriffe durchzuführen,
eine im besten Sinne des Wortes als Erziehung zum kausalen Denken zu
bezeichnende Entwicklung angebahnt wird, die wir bei der Schularbeit und
ihren modernen Zielen stillschweigend voraussetzen. Es ist so oft gesagt
worden, daß vor allem die Kinder der Großstadt dadurch im Nachteile sind,
daß sie nicht, wie die Kinder im kleinen Orte, die einfachsten, leichtver-
ständlichen Arbeiten der Handwerker fortgesetzt beobachten können. Für
die Lehraufgabe des Rechenunterrichtes wie für Aufgaben des naturwissen-
schaftlichen Unterrichts ist das bedeutungsvoll.
Ich habe schon viele Knaben kennen gelernt, die über die Zusammen-
hänge, die im Ohmschen Gesetz ausgesprochen sind, richtige Urteile an einem
kleinen, ihnen vertrauten Mechanismus durch die Tat geben konnten (An-
passung eines Widerstandes, Mittel zur Erzielung einer größeren Strom-
stärke usw.), ohne daß ihnen bis dahin der einfache logische Zusammenhang
oder die für die Formulierung notwendigen Maßbegriffe klar gewesen wären.
Andrerseits kenne ich eine sehr große Zahl von Menschen, die das Ohmsche
Gesetz „gelernt" haben und doch durch den einfachsten Anwendungsfall in
Verlegenheit kommen. Ich kenne Betriebe, in denen der nichtstudierte
Techniker für die Abnahme großer, komplizierter Maschinen unentbehrlicher
ist als der leitende Diplomingenieur, habe versucht, solche technische Intelli-
genzen über ihre Auffassung auszufragen und durchaus den Eindruck ge-
wonnen, daß sie nicht das Bedürfnis haben, ihre persönliche Auffassung
durch die wissenschaftliche Darstellung zu vertiefen. Sie fühlten sich
durchaus der Situation gewachsen und bilden sich ihre eigene, meist auf
Analogien beruhende Kausalreihe, wenn sie überhaupt das Bedürfnis einer
logischen Formulierung ihres Könnens fühlen.
Mit solchen Beispielen kann und soll natürlich der Wert der logischen
Kausalität nicht herabgesetzt werden. Es ließen sich mindestens ebensoviele
Beispiele aus der Geschichte der Technik finden, die da zeigen, wie ein
Fortschritt nach langer Stagnation in einer Entwacklungsreihe erzwungen
wurde, nachdem die logische Formulierung gelungen war. Andrerseits
sprechen solche Beispiele doch für einen gewissen Wert der intuitiven Er-
kenntnis, die aus dem Erleben gewonnen wird. In bezug auf das Ver-
ständnis elektrischer Vorgänge und Mechanismen kann geradezu behauptet
werden, daß das logische Erfassen auf der Stufe des leeren Begriffsschemas
bleibt, wenn nicht voll empfundene Anschauung, subjektives Erleben des
Vorganges hinzukommt. Und solches Erleben geben unsere Demonstrations-
experimente, wie sie heute sind, nur zum kleinen Teil.
Spielzeuge und die Beobachtung des Kindes beim Spiel sind von jeher
die Hilfsmittel gewesen, mit denen die Eltern sich ein eigenes Urteil über
die Veranlagung ihrer Kinder zu bilden suchten. Zwei an sich richtige
Gedanken kommen dabei mehr oder weniger be^Änißt zum Ausdrucke. Man
Zeitschrift f. pUdagog. Psycliologi« • '23
386 O- Frey
glaubt, im Spiel gibt sich das Kind, wie es ist, also unbeeinflußt durch seine
Umgebung, und meint, wenn überhaupt Spuren von besonderen Kräften
und Neigungen im Kinde schlummern, so müßten sie sich im unbeeinflußten
Spiele verraten. Ohne Zweifel wird in unserer Zeit besonders das mecha-
nische Spielzeug vielfach mit dem stillen Wunsche gekauft, dieses Spiel
möchte im Kinde Neigung zur Beschäftigung mit Dingen wecken, die dem
Kinde im Lebenskampfe Vorteile sichern. Die Eltern formulieren ihre Über-
zeugung gewöhnlich in die Worte : „wie anders wäre ich vorwärts ge-
kommen, wenn ich als Kind solches Spielzeug gehabt hätte und wenn die
Schule uns nachher die Sache näher erklärt hätte". Sie fassen also das
Lernen durch „belehrendes Spielzeug" als eine Vorstufe der Lernarbeit der
Schule.
Wären diese Schlüsse in dem Umfange richtig, wie sie gezogen werden,
so müßten 90 Proz. unserer Jungens Ingenieure werden. Andrerseits wäre
es unverständhch , wie das Spielzeug unserer Mädchen immer „mädchen-
hafter" wird, während den Eltern doch sehr viel daran liegt, eine Neigung
für irgendeine Berufsarbeit in ihnen zu entdecken.
Und doch hegt in der Stellung, die gerade die nachdenklichen Eltern
zum Spiel ihrer Kinder einnehmen, die wichtigste Wurzel für die Über-
zeugung, daß Erziehung nach psychologischen Gesichtspunkten geregelt
werden muß. Sowohl die Bestrebungen der Schule, mit den Eltern Fühlung
zu bekommen und Aussprachen über Erziehungsfragen auf eine gemein-
verständliche Basis zu stellen, als auch alle Stellen für Berufsberatung könnten
aus dieser Tatsache Vorteil ziehen, wenn es gelänge, eine Psychologie des
Spiels nicht nur in ihren Grundzügen zu geben, wenn wenigstens einige
bestimmte Züge der Entwicklung der Spielfähigkeit unserer Kinder bis an
die Grenze des spielfähigen Alters sich als typisch aufstellen ließen.
Solche Versuche würden sicher nicht durch noch so tiefgründige Ver-
gleichung der Spielformen aller Zeiten und Völker gefördert, sondern nur
durch planmäßige Beobachtung des Spieles, wie es sich in der weitaus
größten Zahl der Familien vollzieht, wie es also nach einer Seite begrenzt
und charakterisiert wird durch das Angebot an Spielmitteln der Industrie.
Soll aber für solche Versuche eine Art Arbeitsplan gewonnen werden,
so ist eine gewisse Sicherheit über die Beurteilung des psychischen Zu-
standes bei solchem Spiel Voraussetzung. Wenn auch nur ein Teil der
vorausgegangenen Ausführungen über die Spielillusion vor der Kritik be-
steht, so würde dieser Teil doch wahrscheinlich schon geeignete Grundlagen
für die Organisation der Spielzimmer abgeben, das Beobachtungsmaterial für
die Aussagen über individuelle, schließlich auch typische Entwicklungsformen
der Spielillusion oder der Spielfähigkeit der Kinder beiderlei Geschlechts von
Kindern im schulpflichtigen Alter würde sich sichten lassen, die schwere
Frage der Auswahl der Spielmittel wäre erleichtert.
Ein Versuch, Gedanken über solche Entwicklungen zu geben, müßte
sich eigenthch mit den wichtigen Problemen unserer Kinderpsychologie:
Begabung und Begabungstypen einerseits, Entwicklung des Normalkindes
andrerseits auseinandersetzen. Aber auch ohne diese Klarstellung werden
wohl folgende Ausführungen sich aus dem Gesagten ableiten lassen.
Die Unterscheidung von Formen der Spielillusion in der Reihe: Puppen-
spiel, Baukästen, Mechanismen als Spielen, Bauen, Probieren ist eine Ent-
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 387
Wicklungsreihe. Die frühesten Formen einer Fähigkeit zur Spielillusion sind
offenbar mit dem Puppenspiel gegeben. Im Puppenspiel haben wir die
elementarsten Formen einer Ausdrucksfähigkeit der kindlichen Psyche zu
erblicken. Die Puppe ist aber nicht nur ein Übungsmittel für die Greif-
. bewegungen, nicht nur ein Hilfsmittel für den erwachenden Intellekt, an
dem und mit dem er die Erfahrungen seiner Sinneswelt objektiviert, lange
ehe die Sprache weitere Möglichkeiten zur Vorstellungsarbeit gibt, sie bleibt
während der ganzen Kindheit ein Ausdrucksmittel, das gegenüber allen
anderen Formen, in und mit denen das kindliche Geistesleben sich äußert
und entwickelt, gewisse Vorzüge besitzt. Wenn man das Puppenspiel als
die anschaulichste Form der Ausdrucksmittel bezeichnet, so wird der
Anteil der Vorstellungsarbeit zu sehr hervorgehoben. Wenn mit der Spiel-
illusion ein besonderer Zustand des kindlichen Geisteslebens gekennzeichnet
ist, so darf jedenfalls nicht übersehen werden, wie sehr beim Zustande-
kommen desselben der von den motorischen Empfindungen stark abhängige
Gefühlston der Vorstellungen ausschlaggebend ist. Was die Kinder weder
durch Sprache noch durch Zeichnung auszudrücken vermögen, das stellen
sie im Puppenspiel dar. Die wachsende Sprach- und Sprechfähigkeit ver-
ändert Spielbedürfnis und Spielillusion. Die zunehmende Verfeinerung des
motorischen Empfindens wirkt aber nach derselben Richtung. Die Ausdrucks-
mittel müssen vollkommener gerade diesen Bedürfnissen der motorischen
Empfindung entsprechen. Die Spielform des Bauens enthält in gewissem
Sinne einen Verzicht auf die Illusion, die in der Vollständigkeit des Erlebens
besteht (Puppenspiel) zugunsten einer Befriedigung der gesteigerten An-
sprüche an den motorischen Gehalt der Ausdrucksmittel und des damit ver-
bundenen Erfassenn kausaler Vorstellungsverbindungen.
Wenn man das Bauen als eine Stufe der Ausdrucksfähigkeit des kind-
lichen Geisteslebens faßt, so ist diese Steigerung des Kausalwertes der Vor-
stellungsverbindungen der wichtigste Punkt für eine Abgrenzung gegen das
Puppenspiel. Natürlich darf dann das Bauen nicht nur als die Beschäftigung
mit dem Ankersteinbaukasten gelten. Das Kind baut auch mit seinen Puppen,
kann umgekehrt die Bauklötzchen als Puppen werten. Aber wenn es baut,
so drückt es ganz andere Zusammenhänge seines Vorstellungslebens aus, als
wenn es „spielt" (mit Puppen). Das Bauen bleibt auch eine besondere Form
der Ausdrucksfähigkeit des kindlichen Vorstellungslebens. Wenn im Spiel
mit den Baukästen nur die Beziehungen des Vorstellungslebens zum Raum
(Raumvorstellen-Raumsinn) erblickt werden, so muß wenigstens hinzugefügt
werden, daß unsere Raumvorstellung auf den motorischen Elementen des
Vorstellungslebens in erster Linie fußt.
Rückblick und Ausblick.
Spielillusion ist ein Zustand der kindlichen Psyche, den man, soweit er
Sache des Vorstellungslebens ist, als Aufmerksamkeit bezeichnen kann.
Wenigstens hat er mit dieser die Konzentration auf eine bestimmte Aus-
wahl von Vorstellungen gemeinsam. Diese Aufmerksamkeit ist aber wesent-
lich mitbestimmt durch die körperliche Disposition des Kindes. Die Ent-
wicklung des motorischen Empfindungs- und VorsteUungslebens spiegelt sich
ab in den Formen der Spielillusion, die bezeichnet werden können als ein
Spielen, ein Bauen, ein Probieren.
25*
388 Ö. Frey
Spielzeuge sind für das Zustandekommea der Spielillusion unerläßlich.
Den Namen eines Spielzeuges werden diejenigen Gegenstände verdienen, die
den Zustand der Spielillusion hervorrufen oder begünstigen.
Der ersten und frühesten Form der Spielillusion entsprechen als Spiel-
mittel die Puppen. Die Eigenart der Spielillusion alles Puppenspieles ist
ein Nacherleben. Zur Totalität des Nacherlebens sind die Spielmittel unent-
behrlich.
Die Entwicklung der Spielillusion des Puppenspiels ist wesentlich ab-
hängig von der Entwicklung der Sprachfähigkeit. Wie das Puppenspiel
diese Entwicklung fördern kann, wird besonderen Untersuchungen vorbe-
halten bleiben. Sicher liegt in den mimischen Ausdrucksformen des Spiels
nicht nur eine Ergänzung der jeweiligen Sprachfähigkeit, sondern eine Ver-
tiefung, ein für das Erfassen der Muttersprache unentbehrliches Mitwirken
des motorischen Bewußtseins.
Die Vervollkommnung der mimischen und sprachlichen Ausdrucksfähig-
keit durch das Puppenspiel läßt sich bezeichnen als eine wachsende Fähigkeit
zum „Dramatisieren". Das Nacherleben steigt von bloßen Formen der äußeren
Nachahmung zu Formen, die den psychischen Inhalt des Erlebnisses dar-
zustellen versuchen.
Das Bauen, als Form des kindlichen Ausdruckslebens gefaßt, ist mehr
als Nachahmung von Formen mit gegebenen Darstellungsmitteln. Beim
Bauen stellt das Kind fortgesetzt einfachste Kausalbeziehungen her. Die
Zweckmäßigkeit des Nebeneinander, Übereinander, des Legens, Stollens, aller
jener einfachen motorischen Begriffe wird beim Spiel mit Baukästen erlebt.
Das Bauwerk ist nicht nur die nachgeahmte Form, sondern die in der
Form bei ihrer Herstellung empfundene Zweckmäßigkeit.
Die Spielillusion, die durch Bauen geweckt und gefördert wird, zeichnet
sich aus durch ruhige Gleichmäßigkeit. Bauende Kinder zeigen nicht jene
lebhafte Neigung zur sprachlichen Gestaltung wie diejenigen, die Puppen-
spielen sich hingeben. Sie stellen Zusammenhänge dar, deren Kausalität
empfunden, aber nicht sprachlich formuliert werden kann.
Im Bauen mit Baukästen werden wichtige Seiten des Raumsinnes, so-
weit er einer motorischen Wertung bedarf, ausgebildet. Von ästhetischer
Bildung kann zunächst nur gesprochen werden, als wiederholte Gruppen
von Bauelementen als Einheit aufgefaßt, also die motorische Summe über
eine größere Zahl von Einzelempfindungen gezogen wird. Die Auffassung
der Symmetrie ist daher für den Bauenden eine Vereinfachung des Bau-
werkes, ermöglicht eine höhere Art der Zweckmäßigkeit.
Baukästen sind alle jene Spielmittel, durch welche die Ansprüche an
Materialkenntnis und Werkzeugbeherrschung ausgeschaltet oder auf ein
Mindestmaß herabgesetzt werden.
Alle höheren Formen einer motorischen Kausalität leben sich aus und
finden ihre Entwicklung im Spiel mit Mechanismen. Die dritte Form der
Spielillusion ist als „Probieren" bezeichnet worden. Darin liegt, daß das
Kind im Spiel mit Mechanismen motorische Erfahrungen erwartet und macht,
die durch die Bewegungen beim Spiel nicht entstehen, die aber mitklingen
und für das Erfassen der Kausalität unentbehrlich sind. Solche mitklingen-
den Empfindungskomplexe sind die in und am Wasser gemachten Erfahrungen,
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 389
die motorißchen Empfindungen, die durch das Fahren, Schaukeln, Schwingen
u. a. ausgelöst werden.
Die Mechanismen bedeuten für das Kind „lebendiges" Spielzeug. Es
ist wesentlich, daß das Kind den Zustand des Lebendigseins nach seinem
Willen hervorrufen und abändern kann. Die suggestive Wirkung des Be-
wegungszustandes auf die Aufmerksamkeit, das Mitklingen der Empfindungs-
komplexe gleicher oder ähnlicher Bewegungsvorgänge sind Ursache, daß
fortgesetzt geändert wird. In dem Probieren ist ein Zustand der Spannung
der Aufmerksamkeit eingeschlossen auf die Ereignisse, die den abgeänderten
Bedingungen entsprechen. Das Probieren entwickelt sich zu einem elemen-
taren Experimentieren.
Spielzeuge sind nicht nur Anregung, sondern auch Beschränkung der
Spielillusion. Man gibt den Kindern wenige, meist nach technischen Gfe-
sichtspunkten ausgewählte Hilfsmittel für ihr Spiel und will durch die Spiel-
gaben erreichen, daß das Spiel der Kinder „stubenrein" bleibt. Ganz allge-
mein wird in Elternkreisen die Grenze zwischen kindhchem Spiel und kind-
licher Arbeit oder Beschäftigung so gezogen, daß man das Spiel als die
salonfähige Arbeit auffaßt, und all die Beschäftigungen, bei denen Späne
und Abfälle entstehen, in die Werkstatt verweist und als Anfänge einer
zunftmäßigen Arbeit, als Nachahmungsformen der Handwerke hinstellt.
Die . Entwicklung des Handfertigkeitsunterrichtes ist ein fortwährender
Kampf gegen diese Oberflächlichkeit gewesen. Man hat erkannt, daß alles Spiel-
zeug arm sein und bleiben muß in seinen Möglichkeiten, eine gesunde
Materialkenntnis zu vermitteln, und man hat weiter richtig gesehen, daß sich
diese Materialkenntnis mit keinen anderen Mitteln als mit den Werkzeugen
gewkinen läßt, die der Mensch erfunden hat. In der Auswahl von Werk-
zeugen, wie sie in einer Tischlerwerkstatt zu finden ist, ist eine bewährte
Ausstattung gegeben, um Kenntnis der Hölzer und ihrer zweckmäßigen Ver-
wendung zu sammeln. Damit ist aber noch gar nicht gesagt, ob es nicht
noch zweckmäßigere Auswahl von Werkzeugen, ob es vor allen Dingen
durch entsprechende Wahl der Arbeiten eine Anpassung an die Bedürfnisse
des Kindes gibt. Ein Versuch, kindertümlich auszuwählen, liegt offen-
bar in den weitverbreiteten Bestrebungen, die Selbstanfertigung von
Spielzeug in die Kurse aufzunehmen. Die Mechanismen, die gebaut wer-
den, nehmen vielfach die Gestalt und den Charakter von physikahschen
Apparaten an.
Eine Frage, die gegenwärtig viel erörtert wird, ist die nach der Ab-
grenzung der Werkzeuge und Hilfsmittel der Handarbeit nach der Seite der
maschinellen Hilfe. Sind die sogenannten Werkzeugmaschinen in ihrer ein-
fachsten Form, ist z. B. die Drechsel- und Drehbank kindertümlich, d. h. das
für die Hand der Kinder und für das motorische Verständnis geeignete Hilfs-
mittel? Ist es richtiger, für die Hilfsmittel den motorisch wertvolleren Fuß-
antrieb oder Motorantrieb zu wählen?
Alle diese Fragen haben nicht nur Interesse für die Bestrebungen, die
nach stärkerer Betonung des Handfertigkeitsunterrichts in den Schulen tätig
sind. Aus den oben gegebenen Zusammenhängen geht wohl mit Sicherheit
hervor, daß ein großer Teil dieser Fragen die eigentliche Domäne der Haus-
erziehung, das Spiel mit Spielzeug, seine Beurteilung und Entwicklung
betreffen.
390 ' O- Frey
Das Bauen kann bei geeigneter Spielleitung unmittelbar übergehen in
ein Schaffen mit Werkzeugen. Die in den Baukästen ausgedrückte Resig-
nation in bezug auf Materialkenntnis und Ausschaltung von Werkzeugen
muß ja dazu führen, daß der Gegensatz zwischen Spielbetätigung und zweck-
mäßiger, zielsicherer Arbeit nicht nur am Unterschiede der Ergebnisse er-
kannt wird, sondern daß man ein Schaffen mit Werkzeugen als die motorisch
reichhaltigere, befriedigendere Tätigkeit empfindet. Spielzeuge sind Dinge,
die überwunden werden wollen und sollen. Sie sind aber nicht überwunden ,
wenn die Fähigkeit der Spiehllusion infolge zu starker Anstrengung des
Geistes durch Schularbeit oder durch verfrühte Entwicklung des logischen
Denkens eintrocknet. Sie werden in normaler Weise überwunden, wenn die
Entwicklung des motorischen Empfindens, die durch das Spiel gefördert
wird, zum vollen Verstehen derjenigen Vorgänge führt, die wir als Arbeit
bezeichnen. Dann wird oder ist der Tätigkeitstrieb in Bahnen geleitet, auf
denen die Spielillusion ihre Bedeutung als Führer und Förderer der Selbst-
erziehung unmöglich wird. Das logische Denken übernimmt die Führung.
An Stelle des Bedürfnisses nach Illusion tritt das Bedürfnis nach Wahrheit
und Brauchbarkeit (Zweckmäßigkeit).
Es scheint aber doch, daß nicht nur die Spielillusion des Bauens jener
Entwicklung fähig ist und bedarf, sondern auch die des Probierens. Nicht
nur die Sehnsucht unserer Jugend nach Beherrschung und Bewältigung des
Stoffes muß erkannt und gefördert werden, ebenso wichtig und wertvoll für
Haus und Schule ist ihr Streben, durch Beschäftigung mit geeigneten Hilfs-
mitteln Stellung zu nehmen zu den Vorgängen, die zunächst nicht als mensch-
liche Arbeit erscheinen, in denen aber das Streben der Menschheit nach Be-
herrschung der Naturkräfte, wenn nicht klar erkannt, so doch geahnt wird.
Charakteristische Züge der Entwicklung unserer Spielzeug-
industrie.
Die Darstellung der Beziehungen des Spielzeuges zum Geistesleben
unserer Kinder hat mehrfach Veranlassung gegeben, auf die Bedeutung des
Angebotes der Spielmittel durch die Industrie hinzuweisen. Man muß sich
vergegenwärtigen, welche Rolle im Gemütsleben der Kinder die Weihnachts-
freude spielt, wie sehr diese von der Freude am Spielzeuge abhängt, um zu
ermessen, welche Summe von Kräften, die auf das Geistesleben des Kindes
starken Einfluß ausüben, mit dem Spielzeuge gegeben ist.
Die Spielzeugindustrie ist eine pädagogische Macht, deren Bedeutung in
ihren Einflüssen auf das Geistesleben der Kinder aber noch nicht erschöpft
ist. Sie schafft auch wichtige ideelle Werte durch die Freude der Eltern an
der spielenden Kinderschar, durch die glücklichen Stunden, die im gemein-
samen Spiel mit Puppen, Soldaten, Baukästen und mechanischem Spielzeuge
verbracht wurden. Sie ist die pädagogische Macht, die viel mehr Zugänge
zu den Herzen der Eltern besitzt als alle auf Elternaufklärung gerichtete Be-
strebungen der Schule und als alle Organisationen, die Interesse an Erziehungs-
fragen und eine Vertiefung des Verantwortlichkeitsgefühles der Eltern in
irgendeiner Form erstreben.
Die Spielzeugindustrie erfindet nicht nur immer neue Formen für die
Anregung der Spielillusion, sie wertet durch ihr Angebot auch die Spielformen
ständig um. Sie schafft Spielmoden, und kein Pädagog vermag durch noch
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 391
SO tiefschürfende oder volkstümliche Aufklärung ein Spielzeug zu erhalten,
wenn es von der Industrie nicht mehr angeboten wird. Volkskundliche
Forschung interessiert sich für die Spielmittel der Kinder vergangener Zeiten.
Man hat den kulturgeschichtlichen Wert der Puppensammlung des Ger-
manischen Museums sehr hoch eingeschätzt. Es wäre wohl an der Zeit, die
Bedeutung des Spielzeuges unserer Tage für unsere Jugend nicht nur zu
erkennen, sondern die Mittel zu weitgehenderer Auswertung der erziehenden
ICräfte anzugeben, die in unserem Spielzeuge schlummern. Spielzeug ist
ein pädagogischer Volksschatz, der wie die volkstümliche Literatur ständig
vermehrt und Zeitforderungen angepaßt wird, der aber auch in seinen
bleibenden Teilen eine fortgesetzte Umwertung erfährt. Im Spielzeuge offen-
bart sich eine gewisse Seite der pädagogischen Produktivität eines Volkes.
Die mit dem Spielzeuge gleichsam im Grundrisse gegebene Spieltradition ist
Ausdruck sowohl der Spielfreudigkeit der Kinder, ihrer geistigen Regsam-
keit, als auch der Erzieherfreudigkeit der Eltern.
Ein noch so vollständiges Verzeichnis der industriellen Spielzeuge würde
allerdings noch kein naturgetreues Bild der Spieltradition einer Zeit geben.
Es fehlten die oft sehr wertvollen Spielmittel, die in der Familie erfunden
werden, die besonders in gewerblichen Kreisen aus Elternhand hervor-
gehen. In steigendem Maße aber hat die Industrie solche Anregungen schon
gesammelt und daraus handelsfähiges Spielzeug gemacht. Ob immer mit
ganz glücklicher Hand, mag dahingestellt bleiben.
Ein Versuch, wichtige Züge der Entwicklung unserer Spielzeugindustrie
zu zeichnen, kann sich natürlich nicht mit der technischen und kauf-
männischen Entwicklung befassen. Es läßt sich aber zeigen, daß in der
durch die Konkurrenz geschaffenen Notwendigkeit, für jede Messe wenigstens
eine oder einige Neuheiten zu bringen oder vorhandene Spielmittel zu ver-
bessern, nicht nur Änderungen des Angebots erreicht wurden, sondern Er-
weiterungen und Vertiefungen der pädagogischen Wertung dieser Spielmittel.
Die Puppenindustrie hat eine bedeutende Verbesserung der Qualität
ihrer Erzeugnisse aufzuweisen. Eine große Zahl auserlesener Künstler hat
sich bemüht, die Puppe lebensvoller, wahrer im Ausdrucke, richtiger in der
Proportion und Beweglichkeit zu machen. Die Schlagwörte „Künstlerpuppe,
Charakterpuppe" haben ja in erster Linie kaufmännische Bedeutung. Es
wäre aber böswiUige Verkennung, wollte man diesen Begriffen, soweit sie
bestimmte künstlerische Intuition bezeichnen, nicht die Bedeutung zuerkennen,
daß sie zu pädagogischer Beurteilung der Puppenspielmittel anregen.
Wertvolle Erweiterungen der Spielillusion versprechen die vielen künst-
lerischen Durchbildungen der Tierpuppe, sowohl die wunderbar heraus-
gearbeiteten Tierpuppen der Firma Steiff als auch die gut raodelherten
Formen der Tiere für zoologische Gärten, Tierparke usw.
Interessant ist es, zu beobachten, wie das neue Puppenmodell auch
Einfluß hat auf die seinem Charakter entsprechende Umgestaltung des zu-
gehörigen Puppenkrams. Das Angebot auf diesem Gebiete hat sehr an Ge-
diegenheit gewonnen. Wie die Spielzeugindustrie auf diesem Gebiete nicht
nur Neuheiten schaffen, sondern auch dazu helfen kann, daß wertvolles
Volksgut erhalten und Geschmack für landschaftliche Eigenheit schon im
Kinde gebildet wird, zeigen die Puppenstuben der Dresdner und Darmstädter
Werkstätten und deren Häuserbaukästen. Der Künstler hat z. B. an Stelle
392 O. Frey
des allgemeinen, charakterlosen Bauernhauses das typische niedersächsische,
hessische Bauernhaus, den Heidehof gestellt, hat den gedrungenen, malerischen
Aufbau der heimatlichen Kleinstadt festgehalten. Darin sprechen sich Ideen
aus, die alle Herstellerkreise zu weiterer Vertiefung ihrer Angebote zwingen
und nicht nur in der Jugend, sondern auch in Elternkreisen den Sinn fili
Erhaltung wertvollen Volkstums wecken und fördern.
Eine bedeutsame Wandlung der Puppenstube liegt in dem Angebot an
Puppenkram für „Puppengesellschaften", wie sie die großen Spielwarenhand-
lungen in ihren Weihnachtsausstellungen seit Jahren zeigen. In der großen
Auswahl an Puppentypen gleicher Größe liegt eine Anregung zur Steigerung
der Spielillusion nach der Seite des Dramatisierens. In derselben Richtung
wirken die neuen Angebote an Puppen für Puppentheater, die neben dem
Streben, von der schematischen Gestalt zur charakteristischen zu gelangen,
auch Versuche erkennen lassen, das Puppentheater durch kindertümliche
Typen zu bereichern.
Die Kriegsjahre haben natürlich unsere Soldatentypen vollständig um-
gebildet. Aber nicht nur die Notwendigkeit, mit anderem Material zu arbeiten,
nicht nur die Umwandlung ins Feldgraue hat neue Typen ergeben, sondern
auch die einzelne Figur ist vielgestaltiger geworden. Zusammengehörige
Gruppen werden angeboten, die eine bestimmte Kampfhandlung oder Szenen
des Verpflegungs- und Sanitätsdienstes sinngemäß darzustellen erlauben.
Wenn man bedenkt, welcher suggestive Zwang für die Ausgestaltung
des Spieles in diesen Änderungen gegeben ist, wird man sie vielleicht höher
einschätzen als die geradezu wunderbare Durchbildung der zum Soldaten-
spiel gehörigen Mechanismen: Kanonen, Fahrpark, Eisenbahnmaterial usw»
Zur Würdigung der letzterwähnten Spielgaben muß aber hinzugefügt werden,
daß sie nach anderer Richtung wertvolle Anregung geben. Die Vorstellung
von der Kampfhandlung wird großzügiger, wenn die Knaben mit diesen
Mitteln ihre Pläne aufbauen. Die räumliche Vorstellung gewinnt an Tiefe,
das Bedürfnis, Terrain darzustellen, die Kampfhandlungen zu begründen,
wird geweckt.
Die Neuheiten auf dem Baukastenmarkte haben in den letzten Jahren
vor dem Kriege und noch im Kriege für die Beurteilung der Baukästen als
Spielmittel eine ganz neue Lage geschaffen. Der Baukasten ist zum Spiel-
mittel für die reifere Jugend geworden. Dieser Fortschritt ist sowohl in
einigen Formen der Stein- und Holzbaukästen erreicht, die nicht nur durch
Menge der Bausteine und Kompliziertheit der Vorlagenwerke zur Auffassung
von Querschnitten zwingen, sondern durch neue, konsequent durchgeführte
Aufteilung der Raumelemente erreichen, daß auch bei der Darstellung ein-
facher Formen höhere Ansprüche an die Raumvorstellung erhoben werden.
Der Richtersche Festungsbaukasten stellt z. B. Anforderungen, denen 13 bis
14 jährige Knaben erst nach einiger Übung genügen.
Die eigentlichen Repräsentanten des Fortschrittes sind aber die Kon-
struktionskästen. Die Idee lebt schon in den vor Jahrzehnten auftauchenden
Versuchen, Fachwerkhäuser, Holzbrücken, Puppengeräte aller Art, also Bau-
werke der Zimmermannstechnik mit Stäbchen von gegebener Länge und
gleichförmigem oder wenig verschiedenem Querechnitt nachzubilden. Der
Kreis der nachzubildenden Gegenstände blieb aber klein, solange man sich
auf starre Konstruktionen beschränkte.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 393
Mit der Aufnahme der Achse als Bauelement wird die Zahl der Gegen-
stände, die das Kind nachbilden möchte, riesengroß. Die Konstruktions-
kästen sind deshalb so sehr begehrt, weil sie sämtlich Maschinenbaukästen
sind. Sie ermöglichen den Übergang von der Spielforra des Bauens zu der
des Probierens, sie sind Baukästen und gleichzeitig mechanisches Spielzeug.
Selbstgebaute Mechanismen werden in ganz anderer Weise „verstanden"
als fertiggekaufte. Die Funktion der einzelnen Teile, ihr Zusannnenhang
wird, wenn er aus dem Vorbilde (Vorlage oder Wirklichkeitsform) noch nicht
ganz erkannt wurde, beim Zusammensetzen erfaßt. Das Zusammenfügen
bedeutet meist nicht nur, daß Einsicht in den einzelnen Fall erlangt wird.
Das Typische in der Lösung technischer Probleme wird wenigstens geahnt.
Es bilden sich motorische Begriffe, auch wenn der technische Name dafür
fehlt. Die Funktion wird als selbständiges Glied des technischen Zusammen-
hanges empfunden, und damit gibt seine Schöpfung dem Knaben selbst die
Antwort auf seine Fragen nach dem Warum?
Man kann den Fortschritt, den der deutsche Ingenieur durch die Aus-
arbeitung dieser Spielmittel angestrebt hat, nicht leicht überschätzen. Ihre
Eigenart wird in dem oben gekennzeichneten Sinne gefaßt, wenn man sie
als belehrendes Spielzeug bezeichnet. Ihre Bedeutung für die Schulung des
Raumsinnes in bestimmter Richtung wird vielleicht noch deutlicher erkannt,
wenn der Aufbau von Maschinenraodellen in Beziehung gebracht wird zu
den Aufgaben, wie sie in den technisch gegliederten Fortbildungsschulen
auftreten. Technische Zeichnungen werden im allgemeinen nm* von Modellen
gemacht, die bis in ihre Einzelheiten bekannt sind. Das technische Zeichnen
soll aber durch die verhältnismäßig wenigen Beispiele, die in der zur Ver-
fügung stehenden Zeit „durchgezeichnet" werden können, die Fähigkeit
wecken, Wirklichkeitsformen zu analysieren, deren Elemente zu erkennen.
Der Aufbau soll schließlich zeichnerisch festgehalten werden. Dabei kann
der Konstruktionskasten wesentliche Hilfe geben. Er ermöglicht jene Dar-
stellung des räumlichen Nebeneinander, von der der Schüler eine richtige
Vorstellung haben muß, wenn er einen Querschnitt -vviedergeben soll. Der
spielende Knabe wird kaum das Bedürfnis haben, das Verständnis für die
erkannten Zusammenhänge durch Zeichnung zum Ausdruck zu bringen. Es
genügt ihm, wenn das Maschinchen „geht". Die Vorlagenhefte, die von den
Firmen herausgebracht worden sind, enthalten aber auch dafür Anregungen
und unterstützen wesentlich ein Wachstmn der Ausdrucksfähigkeit auf einem
Gebiete, auf dem der Anfänger Beschreibungen so auffaßt, als wären sie in
einer ihm unverständlichen Sprache abgefaßt. Man hat der Spielzeugindustrie
den Vorwurf gemacht, daß sie alles Spielzeug mechanisiere. Die Mechani-
sierung des Baukastens wird man aber als berechtigt anerkennen. Die
Spielform des Bauens erweitert den Kreis der Vorstellungen, die eine
motorische Wertung besitzen, die erlebt sind.
In derselben Richtung arbeiten mit ganz anderen Mitteln Bestrebungen,
die einfache Techniken, die als Basteln bezeichnet werden, zur Selbst-
herstellung von Mechanismen anregen. Diese Anregungen erscheinen in
Form von kleinen Schriftchen, die den Gang der Herstellung eines Maschinchens
so ausführhch beschreiben, daß der geschickte, mit der Handhabung der
einfachsten Werkzeuge vertraute Knabe imstande sein soll, dasselbe nach
den gegebenen Maßen und Grundrissen herzustellen.
394 O. Frey
Eine Reihe von Firmen bieten die beliebtesten Mechanismen (Feder-
und Gewichtsmotor, Dampfmaschine, Elektromotor) als Halbfabrikate in
einer Form an, daß in der Hauptsache nur noch die Arbeit des Zusammen-
bauens zu leisten ist.
So auffallend der erzieherische Wert oder die belehrende Absicht dieser
Spielmittel übereinstimmt, so erfahren sie doch in Elternkreisen noch eine
ganz verschiedene Wertung. Die Industrie bezeichnet diese Dinge als „Spiel-
und Lehrmittel". Sie empfindet, daß mit diesen Dingen die Grenze für die
Bezeichnung als Spielzeug in vielen Fällen überschritten wird.
Eine ähnhche Grenzüberschreitung liegt in dem vor, was die Spielzeug-
industrie als Experimentierkästen bezeichnet. Man hat versucht, für physi-
kalische, auch für bestimmte Gebiete der Chemie Baukästen zu schaffen.
Nach den Gliederungen, die diese Gebiete in bewährten Lehrbüchern erfahren,
sind die Bausteine so ausgeführt, daß Nachbildungen bewährter Demon-
strationsmittel zusammengestellt werden können. Das Bauen mit diesen
Hilfsmitteln soll in die Technik des Laboratoriums einführen, soll aber gleich-
zeitig Naturerscheinungen in der Art hervorrufen, daß dieses Erleben zum
Erfassen der ihnen innewohnenden Kausalität führt. Das erläuternde Wort
des demonstrierenden Lehrers soll durch die gedruckte Anleitung ersetzt
werden.
Solche Versuche müssen zu unüberwindlichen Schwierigkeiten führen,
sobald sie das Gebiet der Statik fester Körper rerlassen. Schon die Dynamik
fordert die Beobachtung des Geschehens in der Zeit. Das Spiel ist zeitlos.
Die Zeit als Funktionsbegriff eröffnet sich dem motorischen Verständnis in
den Arbeitsvorgängen. Würden die Bausteine der Experimentierkästen so
gewählt, daß sie zur Nachahmung solcher Arbeitsvorgänge anregen, deren
motorischer Gehalt erfaßt werden kann, dann würde ein Selbsterarbeiten des
Verständnisses in das Bereich des Möglichen rücken. Die sprachliche Formu-
lierung des allgemeinen Falles, das Herausarbeiten des qualitativen Experi-
mentes würde in vielen Fällen wegfallen, aber jeder ähnliche Fall, der im
praktischen Leben beobachtet wird, würde aufs neue zum Probieren anregen,
ein Beurteilen herausfordern. Es scheint nicht unmöglich, daß die Schwierig-
keit, die der physikalische Unterricht von heute meist kaum überwindet (die
quantitative Auffassung der Erscheinung, das unmittelbare Schätzen der
arbeitenden Kräfte), viel geringer wird, daß ein solcher Selbstunterricht
eine intuitive Sicherheit in der Beobachtung und Beurteilung von Natur-
erscheinungen leichter ausbildet als ein Unterricht, der auf dem Umwege
über die logische Formulierung sich an das motorische Verständnis wendet.
Mit dem Begriffe eines planmäßigen Unterrichts ist uns untrennbar ver-
bunden das widerspruchslose Zusammenfügen der Erscheinungen, das Streben
nach System. Systematisierung der Erkenntnisse ist nicht nur Ausdruck
eines logischen Bedürfnisses, sondern auch eine ökonomische Forderung
alles Unterrichtes. Will man Berechtigung und Wert der belehrenden Spiel-
mittel gerecht abwägen, so muß man betonen, daß jene beiden Gründe für
diesen Selbstunterricht des Spieles wegfallen. Das Spiel hat durchaus nicht
darnach zu streben, daß in möglichst kurzer Zeit und auf bequeme Weise
Erkenntnisse gewonnen werden, es würde sich mit solchen Grundsätzen selbst
aufheben. Ihm kann es nur darauf ankommen, daß der Spielende sein
persönliches Erleben mit diesen Erscheinungen verknüpft.
über Spielzeuge als Erziehungsmittel 395
Man kann auf dem Standpunkte stehen, daß solches Erleben zwecklos,
eben eine Spielerei sei. Damit wird man aber die Tatsache nicht aus der
Welt schaffen, daß das Bedürfnis nach solchem zwecklosen Erleben gerade
in unserer Zeit sehr stark ausgebildet ist. Ganz besonders gilt das von den
elektrischen Erscheinungen. Die Sehnsucht nach elektrischem Spielzeug ist
in unserer Jugend sehr lebendig. Das industrielle Angebot bevorzugt durch-
aus solche Spielmittel, die für ein Verständnis der Zusammenhänge wenig Be-
deutung haben, aber einzelne auffällige Erscheinungen zeigen. Induktions-
apparat und Elektrisiermaschine sind die Kernpunkte, um die sich die
Auswahl gruppiert. Geschickte Vereinfachungen der Apparatur für Funken-
telegraphie, kleine Ausführungen der Hilfsmittel für Strahlungserscheinungen,
die in eben noch erkennbarer Weise die überraschenden Effekte darstellen,
sind die gesuchten Neuheiten.
Die Nachfrage reguliert auch hier das Angebot. Das hauptsächlichste
Verdienst der Spielzeugindustrie besteht darin, daß sie diese Hilfsmittel eines
geistigen Genießens zu einem Preise anbietet, der erschwinglich ist.
Pädagogische Vertiefung ihres Angebots ist noch nicht allgemeines
Prinzip der Spielzeugindustrie. Wohl aber läßt sich zeigen, daß alle tief-
gehenden Bestrebungen der pädagogischen Praxis sich auch in Anregungen
für die Spielzeugindustrie ausleben. Die Parallele zwischen Kunsterziehung
und künstlerischer Ausgestaltung des Puppenspiels und der Baukästen ist
offensichtlich. Wenn die Umwertung, die sich in der Auffassung von Weg
und Ziel des naturwissenschaftlichen Unterrichts vollzogen hat und noch im
Werden begriffen ist, auch im Spielzeugangebot zum Ausdrucke kommen
sollte, so müßten neben den physikalischen Spielmitteln solche der chemischen
und biologischen Wissensgebiete entstehen. Die oben erwähnten chemischen
Experimentierkästen können nicht als verheißungsvoller Anfang angesprochen
werden. Die Technik des Photographierens bringt aber so vielseitige An-
regungen, daß von ihrer Verbreitung viel erwartet werden darf. Die
Dunkelkammer ist zwar ein einseitiges, aber jedenfalls das verbreitetste
Chemische Laboratorium. Mit den als Schülerkameras angebotenen Apparaten
ist der Jugend ein Werkzeug in die Hand gegeben, das zu selbständiger
Natm-beobachtung reizt.
Probleme. und Apparate zur experimentellen Pädagogik.
Von Hans Rupp.
(Schluß.)
VIII. Gruppe: Zeitmessung.
(Chronoskopie, Chronographie, Kymographie.)
Die Zaitmessung spielt in der experimentellen Psychologie und Pädagogik eine
große Rolle.
Wir brauchen sie, um den Verlauf psychologischer und physiologischer Vorgänge
zu beschreiben. Wie schnell entsteht ein Gedanke, wie schnell reift ein Ent-
schluß? Welche Zsit baanspruchen die einzelnen Teile, Stadien einer längeren
396 Hans Rupp
Überlegung, Arbeit ? Wie sclmell oder langsam steigt ein Affekt an, wie echnell
klingt er ab? Wie rasch führen wir Bewegungen aus, wie lange halten wir bei
Kjaftleistungen aus ? U. dgl. m. Zeiten in großem Maßstabe brauchen wir,
wenn wir Entwicklungsfortschritte im Laufe der Lebensiahre oder der Schul-
jahre beschreiben, wenn wir das allmähliche Verblaßsen und Entschwinden V-on
Erinnerungen verfolgen usf.
Wir beschreiben den zeitlichen Verlauf nicht nur, um uns überhaupt einmal
ein Bild von der Schnelligkeit eines Gedankens, eines Entschlusses, der Lösung
einer Aufgabe zu machen, um festzustellen, wer schneller, gewandter denkt, schnel-
ler arbeitet, schneller sich entwickelt, sondern wir suchen vor allem gesetzliche
Zus ammenhänge , suchen die Ursachen und Wirkungen verschiedener Schnellig-
keiten. Unter welchen Bedingungen wird eine Aufgabe schneller gelöst, welche
M3thoden der Lösung, des Arbeitens führen schneller zum Ziel ? Oder umgekehrt :
Welche Wirkung hat es, wenn man in schnellerem Tempo lernt, rechnet usw.?
Wieviel erfaßt man bei flüchtiger, wieviel bei längerer Betrachtung?
Diese Verwendungsweisen der Zeit sind uns aus dem täglichen Leben be-
kannt. Wir halten eine Methode für besser, die eine schnellere Lösung der Auf-
gabe bewirkt, oder die Aufgabe für leichter^ die schneller gelöst wird; bei Eigen-
schaften wie Gewandtheit, Schlagfertigkeit, Geistesgegenwart verlangen wir nicht
nur richtiges, sondern auch schnelles Urteilen und Handeln.
Die experimentelle Psychologie und Pädagogik gehen jedoch insofern über den
Gebrauch der Zeit im täglichen Leben hinaus, als sie die Zeiten sorgfältig messen
und dadurch oft zuErgebnissen kommen, die der unmittelbaren Beobachtung ent-
gehen, und insofern, als sie sich der Zeitmessung in ihren verschiedenen Formen
(wie ich sie gleich besprechen werde) viel bewußter und in viel größerem Umfange
bedienen. Nach den bisherigen Erfolgen kann man sagen, daß sich die Zeit-
messung meistens lohnt, daß sie meistens neue und wertvolle Ergebnisse zutage
fördert.
Eine bsf ondere Stellung nimmt die Zeitmessung ein bei der Untersuchung der
subjektiven Zeit- und Bewegungseindrücke. Wir können Zeiten,
Schnelligkeiten von Bewegungen und anderen Veränderungen subjektiv schätzen
und vergleichen. Stimmt unser Urteil mit den wirklichen Verhältnissen überein ?
Welche Zeitsn und Schnelligkeiten nehmen wir unmittelbar wahr, welche er-
schließen wir ? und auf Grund welcher Kriterien erschließen wir sie ?
Von Zeitbestimmung handeln diese und die nächste Gruppe. In dieser Gruppe
VIII bespreche ich solche Versuche, in denen die Vorgänge, wie sie sich f ben ab-
spielen, in ihrem zeitlichen Verlauf bestimmt werden. Bei den Versuchen der näch-
sten Gruppe werden die Zeiten künstlich geregelt, z. B. die Dauer oder das Tempo
des Arbeitens vorgeschrieben oder ein bestimmter Takt, Rhythmus vorgegeben,
oder Eindrücke von sehr kurzer Dauer, wie beim flüchtigen Hinblicken, erzeugt.
Ich spreche im ersten Falle von Zeitmessung, im zweiten von Zeitrege-
lung. Man kann oft dasselbe Problem auf beide Weisen untersuchen.
Man kann drei Arten von Zeitmessung scheiden, die namentlich ihrer
technischen Ausführung nach sehr verschieden sind.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 397
A. Wir bestimmen die Dauer eines einzelnen Vorganges oder
einer einzelnen Pause, oder den Zeitpunkt eines einzelnen Vor-
ganges. Nach den typischen Zeitinstrumenten für diese Zwecke, den Chrono-
skopen oder Chronometern, kann man die Problem^ als die der Chronoskopie
oder Chronometrie bazeichnen.
Hierfür gibt es viele B3i3piele. Wie lange brauchen wir zur Erkennung
von Farben, Tönen, Gewichten usw.? wie lange bei verschiedenen (z. B.
selbständigen, ausgeprägten und unselbständigen) Farben ? Sind die Eindrücke
der Gsdächtnisfarbs, der ,, scheinbaren Größe" und die analogen Eindrücke auf
anderen Sinnesgebieten, die alle als Produkt geistiger Verarbeitung des unmittel-
bar gegebanen Rsizes anzusehen sind, sofort vorhanden oder verursacht die Ver-
arb3itung eine Verzögerung ? Wie bsim Erwachsenen, wie beim Kinde ? Ähnliche
Fragen ergeban sich für die räumliche Auffassung. Wird die zusammen-
gesetzte Form (z. B. ein Gesicht) ebenso schnell erkannt wie eine geometrisch ein-
fache (z. B. eine Gerade) ? Ist die Plastik, die sinnfällige Tiefe eines Körpers, eines
Stereoskopbildes sofort beim Hinsehen vorhanden oder entwickelt sie sich erst ?
Ähnlich bei Tast-, Gelenk-, Gehörsempfindungen, deren Lokalisation im Leben
umgelernt (der optischen angepaßt) oder ganz neu gelernt werden muß.
Natürlich ist in allen diesen Fällen wie auch in den folgenden Beispielen zu
beachten, ob man nur die Zeit der Erkennung mißt, oder ob auch die Zeit der Be-
nennung, z. B. des Findens der richtigen Farbennamen, enthalten ist.
Wie nach Erkennung sinnlicher Qaalitäten oder Eigenschaften, so kann man
nachder Erkennung irgendwelcher Gegenstände fragen und wieder die Zeit
messen. Wenn die Zeitmessung auch nichts über die Hauptfrage sagt, woran,
an welchen Kriterien wir den Gegenstand erkennen, so macht doch die längere oder
kürzere Erkennungsdauer darauf aufmerksam, ob eine Erkennung schwieriger,
oder ob sie leichter, geläufiger ist. Die Frage ist noch wenig bearbeitet.
Mehr Untersuchungen liegen vor über die Schnelligkeit des Lesens.
Welche Buchstaben werden schneller, welche langsamer erkannt ? Wie bei ver-
schiedener Schrift (Fraktur, Antiqua) ? Wie bei verschiedener Größe, verschiede-
ner Dicke der Linien, bei verschiedenen Maßverhältnissen (Länge : Breite,
Mittel- : Oberzeiler)? Wie — was man bisher kaum berührt hat — bei ver-
schiedenen Handschriften ?
Aber nicht nur auf einzelne Buchstaben, auf das Lesen der Wörter und Phrasen
kommt es an ! Braucht man zum Lesen eines Wortes von vier Buchstaben vier-
mal so viel Zeit wie zu einem einzelnen Buchstaben ? Bei welcher Schrift werden
die Worte imd Phrasen schneller erfaßt ?
Ähnliche Fragen wie über die Lesezeit bestehen über die Schreibezeit.
Welche Schrift kann schneller geschrieben werden (bei gleicher Lesbarkeit!),
einerseits in einzelnen Buchstaben, andererseits und vor allem in ganzen Wör-
tern ? Welche Buchstaben oder Zusammensetzungen von solchen bieten besondere
Schwierigkeit ? Diese Fragen haben besonders für die Stenographie praktische
Bedeutung.
In ähnlicher Weise kann man die Lesbarkeit und Schrei bbarkeit von
Zahlen prüfen. Man stellt die Zahlen durch Ziffern, im ersten Unterricht durch
Punktgruppen dar. Welche Anordnung der Punkte ist günstiger, welche Anzahlen
werden schneller erkannt?
398 Hans Rupp
Übergehend zu zusammengesetzteren Vorgängen, sei zunächst auf die Messung
der Lernzeit unter Anwendung verschiedener Lernmethoden und
auf die Messung der Besinnungszeit (Trefferzeit) hingewiesen, die in der
vorigen Gruppe (VII) besprochen wurden.
Ferner hat die Zeitmessling bei Rechenaufgaben Wertvolles geleistet.
Welche Aufgaben werden schneller gelöst, sind schwieriger (z. B. größere Zahlen,
Addition mit Überschreiten eines Zehners)?
Ähnlich kann man logische und grammatikalische Fragen stellen
und die Schnelligkeit der Beantwortung bestimmen. Zum Beispiel: Welches
Verhältnis besteht zwischen zwei vorgegebenen Begriffen (Unter-, Über-, Neben-
ordnung, Ganzes — Teil, Art — 'Individuum, usw.)? Welche grammatische Form
hat ein vorgegebenes Wort (z. B. des Vaters) ? Es ist zu einer Form eines Wortes
(z. B. Singular oder Präsens) eine bestimmte andere Form (z. B. Plural oder
Perfektum) anzugeben.
Diese Fragen sind eindeutig. Vielfach stellt m an ganz analoge Fragen mehr-
deutig. Zum Erfassen der logischen oder grammatischen Kategorie kommt dann
noch das Suchen des besonderen Falles hinzu. Maij suche zu einem bezeichneten
logischen Verhältnis ein Beispiel (Ganzes : Teil — x:y). Oder zu einem bezeichne-
ten logischen Verhältnis und einem gegebenen Begriff , einen zweiten Begriff,
der zu dem ersten in dem bezeichneten Verhältnis steht (Ganzes : Teil = Baum : x).
Oder man bezeichnet das gewünschte Verhältnis nicht abstrakt, sondern selbst
wieder durch ein Beispiel (Baum : Wurzel = x:y', Baum : Wurzel = Haus :x).
Ähnlich bei grammatikalischen Formen. Man suche zu einer abstrakt bezeich-
neten Form ein Beispiel (Hauptwort schwacher Biegung). Oder zu einer kon-
kreten Form (gehen) eine andere abstrakt bezeichnete Form desselben Wortes
(Partizipium des Perfekts). Oder zu einem konkreten Form Verhältnis ein anderes
Beispiel derselben Art (Hauptwort mit ähnlicher Biegung wie : der Bär, des Bären).
Ähnliche Aufgaben wie bei logischen und grammatikalischen Verhältnissen
kann man bei sachlichen Verhältnissen (Ursache, Wirkung, äußerliche
Ähnlichkeit, äußerlicher Zusammenhang, Verwandtschaft, usw.) stellen. Die
Fragen können wieder ein- oder mehrdeutig sein. ;•
Endlich gibt es noch tausenderlei andersartige Fragen: Erraten von Gegen-
ständen oder abstrakten Begriffen nach Beschreibungen, Andeutungen (Rätsel),
Erkennen von Bildern aus unvollkommenen Formen, oder Aufgaben wie diese:
Was könnte diese (unvollkommene) Form (z. B. Rechteck) alles vorstellen?
Was würdest du in dieser oder jener Situation tun ? Und vieles andere.
Immer wird die Zeitmessimg mehr oder weniger wertvolle Dienste leisten,
indem sie auf Unterschiede in der Leichtigkeit oder Geläufigkeit der Aufgaben
hinweist. Natürlich ist die Dauer, wie schon erwähnt, nur eine äußerliche Seite;
sie sagt nichts darüber, wie die Lösung gefunden wurde, und nichts über die Güte
der Lösung. Es sollten, soweit möglich, stets Selbst- oder Fremdbeobachtung»
Studium der Fehler uff. hinzutreten. —
Bisher war von Denkaufgaben die Rede. Zeitmessung kommt auch bei den
gewöhnlichen Reaktions versuchen vor, bei welchen auf ein Zeichen hin mit
einer Bewegung zu antworten ist. Die Versuche sind in Gruppe VI (Punkt e)
erwähnt worden. —
Bei längeren Zeitstrecken messen wir vielfach nicht unmittelbar die Dauer,
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 399
sondern den Zeitpunkt in einem festen Zeitsystem. So bestimmen wir das Alter,
in dem die erste absichtliche Handlung, die erste Lüge, der erste Nebensatz,
auftritt, u. dgl. Wir halten uns an das Alter, Schuljahr oder Kalenderdatum.
B. Im Falle A konnte nur eine einzelne Zeit, die Dauer eines abgeschlcssenen Vor-
ganges bestimmt werden. Das hängt mit der technischen Natur der dort verwen-
deten Uhren zusammen. Sie müssen nach Ablauf der Zeit angehalten und abge-
lesen werden. Vor der neuen Messung sind vielfach noch vorbereitende Griffe
(z. B. auf Null Zurückstellen der Uhr) nötig. Es vergehen also eine Reihe von
Sekunden, ehe die neue Messung beginnen kann.
Vielfach aber will man fortlaufend Zeiten messen. Dies ermöglichen die
Chronographen, die natürlich auch einzelne Zeiten zu messen gestatten. Ich
bezeichne die Probleme als die der Chronographie.
Baispiele sind: Man bestimmt die Dauer der einzelnen Abschnitte einer Rech-
nung oder anderer längerer und zusammengesetzter Denkaufgaben. Man mißt
die Schnelligkeit, mit der die einzelnen Teile eines eingeprägten Stoffes (z. B. einer
Silbanreihe) reproduziert werden. Man läßt eine größere Anzahl gleichwertiger,
kleiner Aufgaben, z. B. kleine Additionen, ausführen, läßt fortlaufend lesen,
schreiben und mißt, wie schnell anfangs, wie schnell später gearbeitet wird,
um den Einfluß von Übung, Ermüdung usw. zu bestimmen. Oder man mißt
beim Musizieren die Dauer der Töne und der Pausen, den zeitlichen Rhythmus.
Oder man läßt möglichst schnell trillern und bestimmt das Tempo und das all-
mähliche Nachlassen der Geschwindigkeit. Und vieles andere.
C. Bei den Versuchen B werden in der eindimensionalen Zeitlinie Marken ver-
zeichnet. Was die Marken bedeuten, muß separat notiert werden. Die Versuche C
bringen einen weiteren Fortschritt. Sie geben nicht nur Zeitpunkte, sondern
auch den Grad einer Veränderung in den Zeitpunkten. So wird beim Heben von
Gewichten nicht nur angegeben, wann gehoben wird, ob das Tempo z. B. allmäh-
lich langsamer wird, sondern auch wie hoch, ja sogar wie schnell gehoben wird.
Oder es wird beim Aufschreiben von Atem und Puls nicht nur das Tempo, sondern
auch die Tiefe des Atems, die Stärke "des Pulses bestimmt. Man erhält zwei-
dimensionale Kurven: Die Abszissen geben die Zeitpunkte, die
Ordinaten geben den Grad der Änderung an. Man bezeichnet die Pro-
bleme am besten nach den Apparaten als die der Kymographie, der Wellen-
oder Kurvenschreibung,
Andere Beispiele sind: Wie schnell wird eine Linie in den einzelnen Teilen ge-
zeichnet ? Wie schnell werden die einzelnen Striche beim Schreiben eines Buch-
stabens geschrieben, wie schnell die einzelnen Buchstaben ? wie schnell die Zahlen
bei einer Rechnung ? wie schnell die Teile einer Zeichnung ? Wie stark ist der
Druck der Feder oder des Stiftes bei den einzelnen Strichen eines Buchstabens
{Schriftdruck)? wie beim Zeichnen? Usw.
Eine Einrichtung für die Versuche C läßt sich natürlich auch für die einfacheren
Aufgaben B und A verwenden.
Ich bespreche nun die Apparate. Die Zeitmeßinstrumente für die Versuche A
heißen Chronoskope oder Chronometer oder auch einfach Uhren; die für
B und C Chronographen und Kymographien.
400 Hana Rupp
Bei den Versuchen A reichen für größere Zeitmessmigen gewöhnliche Uhren
aus. Vielfach absr sind Messungen auf Bruchteile von Sekunden (bis auf ^/loo Se-
kunden) nötig. Dazu sind natürlich feinere Instrumente erforderlich. Eine ähn-
liche Genauigkeit wird gelegentlich bei B und C verlangt.
Nicht nur das Zsitinstrument muß bsi genauen Messungen Bruchteile von Se-
kunden anzeigen, sondern es muß auch die Markierung der Zeitpunkte ent-
sprechend exakt sein. Will man z. B. die Dauer der Lösung einer Aufgabe genau
bastimmen, so muß die Uhr genau zu B3ginn des Lösungsversuches anlaufen und
genau am Ende der Lösung stehen bleiben. Bei den Chronoskopversuchen nach
Art der Reaktions versuche, bsi denen eine Aufgabe (Reiz) gestellt wird, mißt
man die Zeit vom Stellen der Aufgabe an. Man verwendet Apparate, die zugleich
die Aufgabe (möglichst plötzlich) stellen, z. B. ein Wort exponieren, und die
Uhr (mechanisch oder elektromagnetisch) in Gang bringen. Sie heißen Reie-
ap parate. Die Beendigung der Lösung muß sofort durch eine Bewegung (z. B.
Drücken auf eine Taste) kundgegeben werden, durch die die Uhr angehalten
werden kann. Die hierzu dienenden Apparate heißen Reaktionsapparate.
Bsi den Versuchen B und C sind Apparate nötig, die die zu registrierenden Be-
wegungen aufnehmen und direkt oder mittels eines separaten Schreibers auf
den Chronograph oder das Kymographion übertragen. Ich bezeichne sie als
Aufnahmeapparate. Ferner sind, wie eben angedeutet, vielfach Schreiber
erforderlich mit entsprechenden Stativen. Endlich Zeitmarkierapparate,
die je nach Bedarf Minuten oder Sekunden oder Bruchteile von Sekunden auf-
zeichnen (s. Gruppe IX).
Zeitmeßinstrumente,
i^'i. 1 Stoppuhr für 1/5, i/m, i/go oder 1/50 Sekunden mit 1 Zeiger und
1 Drücker. Wie der Sekundenzeiger der Taschenuhr alle Sekunden einen
Strich weiterrückt, so b^W3gt sich um Teilstriche der Zeiger der Stoppuhr 5, IG,
20, 50 Rucke in der Sekunde weiter. Er wird dadurch in Gang gesetzt, daß
man auf den oben an der Uhr bsfindlichen Knopf drückt; er bleibt stehen,
wenn man ein z wetes Mal drückt; er springt in die Nullstellung zurück, wenn
man ein drittes Mal drückt. Die Uhr mißt die Zeit zwischen dem ersten und
zweiten Drücken.
N«'. 2 Man hält die Uhr sicher in der rechten Hand und drückt mit dem Zeigefinger
oder Daumen. Der Finger liegt schon vorher auf dem Knopf und drückt ihn so
weit, daß für die eigentliche Reaktion nur mehr das letzte Stück der Bewegung
auszuführen bleibt (man ,, nimmt den Druckpunkt").
Doppelstoppuhr für ^/g, ^/^o, 720 ^^^^ Vso Sekunden mit awei Zeigern
und zwei Drückern. Man kann ztmächst die zwei Zeiger zugleich laufen
lassen, wie wenn man nur einen Zeiger und einen Druckknopf hätte. Der Apparat
wird dann benützt wie der vorige.
Oder man benützt beide Zeiger. Man kann dann zwei aufeinanderfolgende
Zeiten messen. Beim Druck auf den einen Knopf beginnen beide Zeiger zu
laufen, beim Druck auf den zweiten bleibt ein Zeiger, beim Druck auf den ersten
Knopf bleibt der zweite Zeiger stehen.
Ni • 3 Hebeleinrichtung zur Doppelstoppuhr (Tasterstoppuhr) nach
Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Die Uhr ist auf einem Holzblock sehr
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
401
sicher gelagert. Auf die zwei Druckknöpfe legen sich zwei Hebel HH. Man
drückt nicht direkt auf die Knöpfe, sondern auf die Hebel. Abgesehen davon, daß
dies namentlich für ungelenkige
Hände viel bequemer ist, können- bei
dieser Einrichtung verschiedene Per-
sonen auf die Uhr wirken. Wird z.
B. von der einen durch Schlag
auf den einen Hebel ein Schallreiz
erzeugt, so kann die andere ihren Hebel als Reaktionsinstrument benutzen
und reagieren, sobald sie den Reiz hört.
Übt man sich darauf ein, genau mit dem Aussprechen eines Wortes den Hebel
niederzudrücken, so kann man die vielen Reaktionsversuche mit sprachlichem
Reia und sprachlicher Reaktion anstellen.
Dieselbe, mit Kon takten (Kontakt- Taster« toppuhr) nachRupp(Me- i
chaniker Marx, Berlin). Im Augenblick,
wo die Drücker auf die Zeiger wirken,wird
ein Kontakt geschlossen. Das hat z. B.
den Vorteil, daß man die Uhrzeit mittel»
eines Chronographen kontrollieren kann,
ferner daß man andere als akustische,
elektrisch auslösbare Reize geben kann.
Chronoskop nach Vernier-San- -
ford (Mechaniker Spindler und Hoyer,
Göttingen; Mechaniker Zimmermann,
Leipzig). Das Instrument vereinigt, wii
die eben beschriebene Tasterstoppuhr,
Zaitmeßinstrument, Reiz- und Reaktions-
apparat. An einem Galgen hängen zwei
Pendel von etwas verschiedener Länge.
Ihre Schwingungsdauern unterscheiden sich
um 1/50 Sekunde. Jedes Pendel wird durch
Druck auf einen Taster losgelassen. Der
eine Taster dient für den Reiz, der andere
für die Reaktion; das erste Pendel wird
also im Augenblick des Reizes, das zweite
im Augenblick der Reaktion losgelassen. Da aber das eine etwas schneller
schwingt, so holt es nach einer Anzahl von Schwingungen das zweite ein. Eine
einfache Überlegung zeigt, daß die Reaktionszeit so viel 1/50 Sekunden beträgt,
:als man Schwingungen bis zum Einholen gezählt hat. (Näheres über Apparat
und Handhabung ist im Katalog des Mechanikers Spindler und Hoyer zu finden).
Das Zählen der Schwingungen ist umständlich und mühsam, das genaue Er-
kennen des Einholens erfordert Übung. Dennoch empfiehlt sich das Instrument
'durch seine Einfachheit.
Neben den imter Nr. 3 angeführten Versuchen kann man auch optische Reize
und Reizwörter exponieren. An dem Reiztaster ist ein Stab mit einem Schirm
;angebracht. Drückt man auf den Taster, so verschiebt sich der Schirm und
►deckt ein dahinterstehendes Wort, eine Rechenaufgabe u. dgl. auf.
Zeitschrift f. päd»gog. Psychologie 26
402
Hans Rupp
Kr. 6
Kr. 7
Kr 8
Bandchronograph mit 2 Schreibern, nach Rupp (Mechaniker Marx,
Berlin). Der Apparat ist ein typischer Apparat für die Versuche B. Die Kon-
struktion ist ähnlich der bei den Morsetelegraphen. Der Apparat kann an den
Li pmann -Gedächtnisapparat angeschraubt werden. Die Rolle B, welche das
Band weiter zieht und welcher die Friktionsrolle r entgegenwirkt, wird durch den
Motor des Gedächtnisapparates b3wegt. Infolge der konstanten Geschwindigkeit
dieses Motors braucht man für
die meisten Fälle keine Zeitmarke.
Die Abstände der aufgeschrie-
benen Marken sind genau den
Zeiten, die zwischen den Auf-
schreibungen lagen, proportional.
Stellt man den Motor z. B, so
ein, daß der Streifen in der
Sekunde 5 cm zurücklegt, so be-
deutet jeder mm Y50 Sekunde.
Der Streifen kommt von der
Speicherrolle Sp, biegt ziemlich
scharf um den Stab St, damit
das Schreibrädchen T, das in ein Gefäß mit Tinte taucht, trotz seines relativ
großen Durchmessers mit einem kleinen Teil seines Umfanges schreibt.
Wenn man Reaktionszeiten bestimmen will, läßt man entweder den einen der
zwei Schreiber den Reiz, den andern die Reaktion schreiben, oder man läßt einen
beides aufzeichnen und verwendet den zweiten zum Schreiben einer Zeitmarke.
Man braucht eigene Reiz-, Reaktions- bzw. Aufnahmeinstrumente, die elektrisch
arbeiten (vgl. unten).
Bandchronograph mit mehr als zwei Schreibern, nach Rupp (Me-
chaniker Marx, Berlin). Der vorige Apparat kann auch für mehr Schreiber ge-
baut werden. Mechaniker Marx hat z. B. einen Apparat für 12 Schreiber gebaut.
Die Konstruktion der Schreiber ist eine andere als bei No. 6. Man kann dann mit
mehreren Personen zugleich Versuche anstellen, was für Übungen sehr vorteilhaft
ist. Oder man kann die zeitlichen Verhältnisse beim Spielen einer Melodie auf-
zeichnen, wenn jede Taste einen Kontakt erhält mid mit einem Schreiber ver-
bunden wird. U. dgl. m.
Studentenkymographion nach Petzold (Mechaniker Petzold, Leipzig).
Einfaches Kymographion, vertikal und horizontal zu stellen, mit oder ohne Uhr-
werk. Die Geschwindigkeit kann durch eine Regulierung des Federmotors oder
durch Verschieben der Mitnehmerrolle an der Friktionsscheibe in üblicher Weise
variiert werden.
Damit die Schreiber nach einer Umdrehung der Trommel nicht wieder in die
frühere Kurve hineinschreiben, muß man sie nach jeder Umdrehung, oder besser
schon während der Umdrehung entsprechend verschieben. Dazu dient das Stativ
mit Trieb Nr. 27. Dieses muß so aufgestellt werden, daß die Schreiber genau
parallel zur Trommelachse verschoben werden. (Näheres über die Schreibung
siehe im Hauptkatalog des Mechanikers Spindler &, Hoyer, Göttingen.)
tTber die Verwendung des Kymographions als Gedächtnisapparat vgl. Gruppe
VII, Nr. 7.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 403
Federkymographion nach Scliulze (Mechaniker Petzold, Leipzig). Den Nr. e
Grundbestandteil bildet das vorerwähnte Studentenkymographion, und zwar
das ohne Uhrwerk. Dazu treten eine Schleudereinrichtung und verschiedene
Kontakte.
Eine Uhrfeder S ist mit dem einen Ende an der Trommelachse befestigt, während
das andere gegen das Widerlager W aufgesetzt wird. Die Feder sucht sich von
dieser Lage aus ruckartig zusammenzuziehen
und reißt dabei die Trommel einmal herum.
Zunächst aber wird die Trommel in der Aus-
gangslage festgehalten durch den nach oben
federnden Drücker F, der einen Einschnitt be-
sitzt, in denein an der Trommelachse , befestigter
Zahn Z eingreift. Drückt man also F nieder, so
wird die Trommel frei und wird durch die Spi-
ralfeder herumgeschleudert. Am Ende einer
Umdrehung schnappt der Zahn Z wieder in
den Einschnitt ein.
Um die Spannung der Uhrfeder und damit
auch die Schnelligkeit der Drehung der Trommel
nach Bedarf ändern zu können, ist die Feder
nicht unmittelbar an der Achse befestigt, sondern
an einer Rolle R, mit der sie um die Achse ge-
dreht werden kann. Ein Sperrad Sp hält die
Rolle in den einzelnen Lagen fest. Man regelt
die Spannung der Feder, indem man die Rolle
dreht.
Die durch die Feder erzeugte Bewegung der
Trommel steigt schnell bis zum Maximum an und
bleibt dann fast gleichmäßig während der ganzen Drheung.
Unterhalb der Spiralfeder sind an der Achse zwei verstellbare Arme angebracht,
die an dem äußeren Ende nach unten stehende Federn tragen. Die Federn
berühren Kanten oder Streifen aus Metall, die auf dem Fuß des Apparates be-
festigt sind, und erzeugen dadurch an bestimmten, beliebig zu wählenden Stel-
lungen der Trommel kurze oder dauernde Kontakte.
Die Schleudereinrichtung dient zur Messung einzelner kurzer Zeiten", die klei-
ner sind als die Dauer einer Trommelumdrehung. Sie dient also für die Versuche A,
vor allem für Reaktions versuche.
Als akustischen Reiz kann man das Geräusch beim Loslassen der Trommel ver-
wenden. Um dieses zu verstärken, kann man z. B. mit einem Fingerhut auf den
Drücker F schlagen. Einen optischen Reiz kann man ebenfalls in einfacher Weise
mit dem Apparat selbst erzeugen. Man steckt z. B. oben an den Trommelrand
eine kräftige Klammer, die eine kleine schwarze Karte trägt. Davor wird ein
weißer Schirm aufgestellt, der in der Höhe der Karte einen vertikalen Schlitz hat.
Kurz nach Beginn der Drehung erscheint hinter dem Schlitz die schwarze Karte
als optischer Reiz. Die Stellung des Auges soll dabei immer dieselbe sein ; man
bedient sich z. B. des Kopfhalters Gruppe II, Nr. 90.
Die Reizmarke kann schon vor dem Versuch gezeichnet werden, da mim
26*
404
Hans Rupp
)tr. 10
Rr
RA.
-K^
die Ausgangslage der Trommel, bzw. die Lage, in welcher der Reizkontakt er-
folgt, kennt.
An Stelle dieser unmittelbar durch den Apparat zu erzeugenden Reize kann man
die oben erwähnten Kontakteinrichtungen benutzen und durch die Kontakte
Reize erzeugen, z. B. Telephon knalle oder elektrische Funken eines Induktors.
Zur Reaktion verwendet man irgendeines der elektrischen Reaktionsinstrumente.
Man kann auch Aufnahmeapparate mit Luftübsrtragung verwerten. Auf dem
Kymographion schreibt ein elektromagnetischer oder Luftschreiber, der die
Reaktionsmarke aufzeichnet.
Die Geschwindigkeit der Drehung ist bei allen Versuchen, sofern an der Feder-
spannung nichts geändert wurde, genau dieselbe. Es genügt also für alle unter-
einandergeschriebenen Versuche (z. B. 40) eine einzige Zeitkurve (z. B. die V20 Sek.-
Wellen der Feder Gruppe IX No. 8 oder die ^/g Sek. -Marken der Uhr No. 5).
Bei jedem folgenden Versuch muß der Schreiber ein wenig nach oben oder unten
verschoben werden, damit die nächste Kurve nicht die frühere überdeckt. Dazu
dient das Stativ mit Zahntrieb No. 27. Die Reizmarken stehen dann alle genau
untereinander (ein vertikaler Strich), die Reaktionsmarken zeigen übarsichtlich
und anschaulich die Schwankungen der aufeinanderfolgenden Reaktionszeiten,
Die Versuche sind für Übungen sehr zu empfehlen.
Schul-Kymographion nach Rupp, mit Schleudervorrichtung nach
Schulze (Mechaniker Marx, Berlin).
Das Kymographion imterscheidet sich
von No. 8 und 9 hauptsächlich da-
durch, daß gewissermaßen das Stativ
mit Trieb fest mit dem Kymo-
graphion verbunden ist. Das ge-
naue Einstellen des Stativs fällt daher
weg, und es können keine Störungen
durch Verschiebungen des Kymogra-
phions oder des Stativs entstehen.
Der zweite Hauptunterschied besteht
darin, daß die Verschiebung der Schrei-
ber am Stativ automatisch gleichzeitig mit der Drehung der Trommel ausgelöst
werden kann.
Die Trommel Tr wird durch einen getrennten Motor bewegt, der an der Stufen-
rolle R^ angreift. Von derselben Rolle aus wird durch zweifache Schnurübersetzung
B.^ B^ die Spindelachse Sp gedreht. Auf ihr und auf der Führungsstange St be-
wegt sich der Schlitten Seh mit den Schreibern. Er kann frei mit der Hand ver-
schoben oder durch die Spindel fortbewegt werden. Im letzteren Falle wird er je
nach der gewählten Schnurübersetzung während einer Trommelumdrehung
ca. 4 — 40 mm weitergeschoben. Die automatische Verschiebung durch die Spindel
hat den Vorzug, daß man die Schreiber nicht beständig mit der Hand zu ver-
schieben braucht, wie es z. B. beim Kymographion No. 8 nötig ist.
Die Schulzesche Schleuder einrichtung S ist rechts an die Ti'ommel angesetzt.
Die Kontakthebel iC reichen unmittelbar an die Trommel heran. Wenn man daher
auf dem Rande der Trommel eine Zeitkurve, z. B. mittels der schwingenden Feder,
Gruppe IX, No. 8, aufschrauBt, so kann man die Hebel auf bestimmte Punkte der
Tr
O
Sf
Sp
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 405
Zeitkurve einstellen und auf diese Weise Kontakte in bestimmten, bekannten
Zeitabständen erzeugen. Diese Anordnung gehört zu den Versuchen der nächsten
Gruppe.
Der Apparat ist wie No. 8 außer für chronographische' und kymographische
Versuche auch für Gedächtnisversuche verwertbar (vgl. Gruppe VII, No. 7,
Bemerkimg).
Zum Schulkymographion : Schirm zur Exposition sehr langer
Reihen nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Man will manchmal sehr lange
Reihen von Wörtern, Zahlen, Zeichen, kleinen Rechenaufgaben in bestimmtem
Tempo nacheinander exponieren, z. B. um die allmähliche Ermüdung zu prüfen.
Zu dem Zwecke schreibt man die Reihen entweder ähnlich wie bei Gedächtnis-
versuchen in mehreren getrennten Ringen oder spiralenartig fortlaufend um die
Trommel herum auf (siehe Figur). Vor der Trommel wird ein Schirm mit einem
horizontalen Schlitz
aufgestellt, der nur eine
Zeile sichtbar werden
läßt. In dem Schlitz
ist ein Schieber mit
TT
einem zweiten Schlitz \ 1
L
i
am verschieben, der von " getrennte Ringe Spirale
den verschiedenen Wör-
tern einer Zeile nur eins herausgreift. Wird die Reihe in mehreren getrennten
Ringen aufgeschrieben, so verschiebt man die Schieber nach jeder vollen Um.-
drehung mit der Hand bis vor den nächsten Ring. Verwendet man aber die spi-
ralige Anordnung, so wird der Schieber an dem früher erwähnten Schlitten be-
festigt und durch diesen allmählich verschoben.
Die Wörter usw. bewegen sich bei dieser Anordnung in dem Schlitz mit gleich-
förmiger Geschwindigkeit vorbei. Man sieht die Schrift sich bewegen. Will man dies
vermeiden, so wird man zu Konstruktionen wie bei den Gedächtnisapparaten mit
ruck weiser Bewegung geführt. Eine derartige einfache Konstruktion ist auch hier
in Arbeit.
übrigens lassen sich die Gedächtnisapparate selbst für diesen Zweck verwerten, so-
fern nur die Anzahl der Wörter usw., die die Trommel faßt, ausreicht. (Beim Apparat
Gruppe VII, 1 oder 2, faßt die größere Trommel 40 Wörter. ) Zur Not könnte auch nach
Verbrauch eines Trommelstreifens jedesmal eine Pause eingeschaltet werden, um einen
neuen Streifen aufzuziehen.
Zum Schul-Kymographion : Expositionsapparat nach Duchessi-
Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Der Apparat dient dazu, längere Reihen von
Lese- und Rechenaufgaben u. dgl. zu exponieren, aber nicht wie beim eben
beschriebenen (No. 11), in bestimmtem, gegebenem Tempo, sondern in der Weise,
daß ein Gehilfe oder der Rechnende oder Lesende selbst durch Druck auf einen
Taster die Exposition der nächsten (Aufgabe bewirkt, sobald die vorhergegangene
gelöst ist. Gleichzeitig mit jeder Exposition wird ein Kontakt erzeugt und auf
eine Lufttrommel gedrückt, so daß man die Zeitpunkte auf einem Chronographen
oder Kymographion aufzeichnen kann.
An die Trommelachse des Kymographions ist ein Zahnrad von 32 (auf Wunsch
auch mehr oder weniger) Zähnen angesetzt. Ein Gewicht sucht die Trommel in
bestimmtem Sinne zu drehen. Eine einfache Sperrvorrichtung bewirkt, daß die
406 Hans Rupp
Trommel sich nur dann, wenn man auf einen Knopf drückt, weiterbewegt, und
zwar jedesmal um einen Zatn.
Die zu exponierenden Wörter, Zahlen usw. werden wieder (vgl. No. 11) ent-
weder in mehreren getrennten Ringen oder spiralenartig um die Trommel herum
aufgeschrieban. Und man verwendet Schirm und Schiebsr in denselben zwei Wei-
sen, wie es unter No. 11 bsschrieben ist.
Ziim Gedächtnisapparat nach Lipmann-Marx (Griippo VII, Nr. 1) hat Lewin Vor-
richtungen für mechanische xmd für elektrische Auslösimg der Rucke konstruiert
(Mechaniker Marx, Berlin), ßo daß der Apparat auch für die eben erwähnten Versuche
verwertet werden kann, sofern die Anzahl der Wörter, die auf die Trommel aufge-
schrieben werden können, ausreicht. Zur Not könnte auch, ähnlich wie bei den unter
Nr. 11 Anmerkung angeführten Versuchen, nach Verbrauch eines Streifens jedesmal
eine Paixse eingeschaltet werden, urai einen neuen Streifen avifzuziehen.
NMii Kymographion nach Minnemann (Mechaniker Marx, Bariin). Der Apparat
ist bsreits in Gruppe VI, Nr. 14, bsschrieben worden. Außer den dort angeführten
Versuchen lassen sich z. B. folgende Versuche mit ihm ausführen. Man läßt
Buchstabsn, Wörter, Sätze, Zahlen schreiban, während der Kymographstreifen
unter dem Papier, auf dem geschrieben wird, vorbaizieht. Dann kann man aus
dem Maßa, in dem die Schrift auseinandergezogen wird, erkennen, welche Buch-
staben oder Teile von Buchstaban schneller, welche langsamer geschrieben wer-
den, an welchen Stellen des Wortes oder Satzes abgesetzt wurde u. dgl. m.
Läßt man eine Rechnung schreiben, so zeigt die Schreibung, bei welchen Ziffern
länger nachgedacht wurde, welche schneller hingeschrieben wurden. Läßt man
eine Zeichnung ausführen, so zeigt die Schreibung, welche Teile zuerst, welche
später gezeichnet wurden, wann eine Pause, wann eine Skizze eingeschaltet, wann
nachgebessert wurde usw.
Der Apparat wird meist für rohere Zeitmessungen verwendet werden. Für die-
sen Zweck ist er außerordentlich vielseitig verwertbar. Er gehört ohne Zweifel
zu den brauchbarsten und empfehlenswertesten Apparaten der experimentellen
Psychologie und Pädagogik.
Reiz-, Reaktions- und Aufnahme-Apparate.
Kp. 14 Elektrischer Taster (Mechaniker Marx, Bariin). Der Taster ist bereits
in Gruppe III, Nr, 18 angeführt worden. Er dient zur Reaktion bei Reaktions-
versuchen, zum Markieren von Zeitpunkten bei den Versuchen B (z. B. dazu, den
Zeitpunkt der Lösung jeder Aufgabe oder Teilaufgabe zu markieren oder zur
Registrierung eines geklopften Rhythmus). Er kann auch als Reizinstrument ver-
wertet werden, entweder in der Weise, daß das Geräusch beim Niederschlagen des
Tasters als akustischer Reiz gebraucht wird, oder so, daß man sich darauf einübt,
genau gleichzeitig mit dem Aussprechen des Reizwortes oder der Aufgabe auf den
Taster zu drücken oder den Taster loszulassen.
Kr. 15 Taster für Luftübertragung (Mechaniker Marx, Berlin). Unter dem
Tasterhebsl ist eine Lufttrommel aus Gummi eingesetzt, welche beim Tasten ein-
gedrückt wird und dadurch eine Bewegung des Luftschreibers (Nr. 26) auf dem
Chronograph oder Kymograph bewirkt. Der Taster hat entweder einen festen
Anschlag, so daß der Schreiber immer um den gleichen Betrag ausschlägt (a).
Oder er hat keinen Anschlag; dann ist der Ausschlag je nach der Stärke des
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
407
Druckes verschieden (b). Der Taster dieser letzteren Art ist bareits in Gruppe III,
Nr. 19 erwähnt worden.
Elektrischer Lippenschlüssel nach Miiller-Pilzecker (Mechaniker Spind-
ler und Hoyer, Göttingen). Da3 Instrumentchen dient für sprachliche Reize
und Reaktionen bei den Versuchen A. Es
wird an einem Stativ befestigt. Man drückt
den unteren, mit einem auswechselbaren Bein-
Mundstück versehenen Hebel mit der Unter-
'lippe nach oben und läßt ihn beim Sprechen
wieder los. Beim Hinaufdrücken ist der Kon-
takt bsi Ki geschlossen, der bei ^3 geöffnet;
beim Loslassen wird der erstere geöffnet, der
letztere geschlossen. Man muß sich darauf
einüben, genau gleichzeitig mit dem Sprechen den Schlüssel loszulassen, imd
muß schnell, stoßartig sprechen, damit die Zeitmessimg genau wird. Das Ver-
fahren ist genauer und sicherer als das oben erwähnte Ver-
fahren, gleichzeitig mit dem Sprechen einen Taster loszu-
lassen.
Einfacher elektrischer Zahnschlüssel nach Rupp
(Mechaniker Marx, Berlin). Der Zahnschlüssel wird ähnlich
gebraucht und verwertet wie der Lippenschlüssel. Eine
schraubsnartig gebogene Feder drückt die zwei Hebel aus-
einander. Man beißt diese bei ZZ mit den Zähnen zu-
sammen und läßt sie beim Aussprechen des Reiz- oder
Reaktionswortes los. Dabei wird der Kontakt bei K ge-
öffnet.
Das Instrument hängt lose an dem Griff Gr, damit man,
während man es im Munde hält, nicht mittels des Griffes
einen Druck ausübt und ein krampfhaftes Zusammenbeißen
des Schlüssels hervorruft.
Einfacher Zahnschlüssel für Luftübertragung
nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Derselbe Apparat wie der vorige, nur
ist an Stelle des elektrischen Kontaktes eine kleine Gummitrommel zwischen
den Hebeln eingesetzt, welche beim Zusammen-
beißen des Schlüssels eingedrückt wird und einen
Ausschlag des Luftschreibers (vgl. Nr. 26) ftuf dem
Chronograph oder Kymograph bewirkt.
An Stelle der in den Mund zu nehmenden Lippen-
oder Zahnschlüssel kann man auch Schallschlüssel
verwenden, bei denen in einen Schalltrichter gesprochen
wird. Die Apparate sind empfindlich, weshalb ich sie
hier nicht anführe. Eine sehr gute Form des Schall-
schlüssels hat Lewin konstruiert (Mechaniker Marx,
Berlin).
Einfacher elektrischer Expositionsschirm
(Mechaniker Marx, Berlin). Das Objekt wird erst
durch den Schirm S verdeckt, dann plötzlich durch Wegziehen desselben auf-
gedeckt. Bei Beginn der Expasition wird ein Kontakt geöffnet, indem die
j^^-A^-^*-^
Nr.
408 Hans Rupp
Feder F am unteren Rande des Schirmes, die vorher durch das Aufsetzen des
Schirmes auf den Tisch (u. dgl.) niedergedrückt war und den Kontakt bei K
geschlossen hatte, nimmehr beim Wegziehen des Schirmes zurückschnellt.
Je größer das Objekt, desto länger dauert die Exposition. Bei kleinen Objekten^
z. B. bei dem kleinen Loch in einem Schirm des Nuancierungsapparates {Gruppe I,.
Nr. 20 und 21), ist die Zeitmessung daher genau, bei Exposition von großen
Bildern, plastischen Objekten ist sie ungenau.
Elektrische Schreibfeder nach Kraepelin - Rupp (Mechaniker Spindler
und Hoyer, Göttingen). In der (stark gezeichneten) Griffhülse ist, um die Achse
A drehbar, ein Doppel-
hebel eingesetzt , der
vorne einen Bleistift (für
Tastreize einen gebo-
genen Hartgummistift)
trägt. Die Feder F
drückt den hinteren He-
belarm nach oben.
Drückt man aber, z. B. beim Schreiben oder bei einem Tastreiz, den Bleistift
nieder, so wird der hintere Arm nach unten gedrückt und der Kontakt 1 — 2 ge-
öffnet, der Kontakt 2 — 3 geschlossen.
Der Apparat dient für Tastreize und für die Registrierung fortlaufender Schrift-
marken, So kann man z. B. eine Reihe einfacher Rechenaufgaben vorlegen imd
nach Lösung jeder Aufgabe einen Strich machen, oder das Ergebnis hinschreiben
lassen. Der Chronograph zeigt die Zeit des Striches oder des Schreibens.
sr. 21 Telephon, als akustischer Reizapparat. Es gibt beim öffnen oder Schließen
des Stromes ein schlagartiges Geräusch, das als akustischer Reiz für Reaktions-
versuche verwendet werden kann.
"*'• ^^ Schallhammer. Er dient wie das Telephon als akustischer Reizapparat.
Ein kleiner Hammer schlägt, durch einen Elektromagneten angezogen, auf einen
Amboß. Dabei wird ein Kontakt geschlossen, der zur Registrierung des Zeitpunk-
tes des akustischen Reizes dient. Der Reiz ist stärker als im Telephon.
AkTistische Reize mit gleichzeitigem elektrischen Kontakt kann man auch einfach
durch Aufschlagen eines Hammers auf eine metallische Unterlage erzeugen. Nur ist
die Stärke auch bei guter Übung nicht so gleichmäßig wie bei elektromagnetischer
Anziehung das Hammers.
Cr. 2j Einfacher Pulsschreiber (Mechaniker Petzold, Leipzig). Ein auf einer
verstellbaren Feder sitzender Hartgummiknopf drückt auf die Pulsader am Hand-
gelenk und folgt ziemlich genau den Hebungen und Senkungen der Haut. Durch
Luftübsrtragmig wird die Bewegung einem Luftschreiber (vgl. Nr. 26) mitgeteilt.
Jr. 2i Einfacher Atemschreiber (Mechaniker Zimmermann, Leipzig). Ein luft-
gefüllter Schlauch wird um Brust oder Bauch gebunden und mit einem Luft-
schreiber gekoppelt. Wenn sich die Brust beim Atmen ausdehnt, wird der Schlauch
zusammengedrückt und ein Ausschlag des Schreibers erzeugt.
Über weitere Aufnahmeapparate zur Bestimmung des Sclu-iftdruckes, von Augen-
bewegungen (z. B. beim Lesen), der Stärke des Atems, der Volimiänderung des Airmes,
infolge des Pulses, der Bewegungen beim Betasten von Strecken visf . vergleiche man die
KÄtaloge der Mechaniker Marx-Berlin, Petzold-Leipzig, Spindler und Hoyer- Qöttingen
und Zimmennann-T-«ipzig.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 409
Schreibvorrichtungen u. dgl.
Einfacher elektrischer Schreiber (Mechaniker Petzold, Leipzig). Nr. 2ä
Einfacher Luftschreiber {Mechaniker Petzold, Leipzig), mit Marey- Nf. aß
Trommel für Luftübertragung.
Stativ mit Zahntrieb (Mechaniker Petzold, Leipzig). Durch Drehen einer Kr.i^
Kordelschrauba wird der Schlitten mit den Schreibern nach oben oder unten
bewegt. Das Stativ ist so aufzustellen, daß die Verschiebung genau parallel
zur Trommelachse erfolgt (vgl. den Hauptkatalog des Mechanikers Spindler und
Hoyer, Göttingen).
Berußungseinrichtung (Mechaniker Petzold, Leipzig). nv. öm
Die Apparate zum Auslösen oder immittelbaren vSchreiben von Zeitmarken (Minuten,
Sekunden, ^'5 Sekunden, V20 Sekimden visw.) sind in Gruppe IX. angeführt.
Apparate anderer Gruppen, die auch hier verwertbar sind.
Als optische Reizapparate für Reaktionsversuche sind folgende Apparate zu
verwerten.
Die Gedächtnisapparate mit Ruckbewegung , Gruppe VII, Nr. 1, 2
und 6, sofern im Augenblick, wo der Ruck erfolgt nnd das Reizwort erscheint,
ein Kontakt geöffnet oder geschlossen wird. Die Kontakteinrichtung ist bei allen
Apparaten vorgesehen.
Bei der Ruckbewegung sieht man das Wort in dsts Feld hineinrücken. Das wird
vermieden bei dem Expositionsapparat. Gruppe VII, Nr. 5 zu den Gedächtnis-
apparaten 1 — 4. ^
Die in der letzten Gruppe IX zu beschreibenden Tachistoskope sind mit Kon-
takten versehen, die im Augenblick der Exposition geschlossen oder geöffnet werden,
sodaß die Apparate als Reizapparate dienen können. Die Exposition braucht dabei
nicht tachistoskopisch zu sein; der Spalt kann meistens so weit gewählt werden, daß
dauernd exponiert wird.
Wie die Gedächtnisappate mit Ruckbewegiuig, so ist auch der oben erwähnte
Expositionsapparat nach Duchessi - Rupp Nr. 12 als Reizapparat für optische
Reaktions versuche zu verwerten.
Endlich gehört das Stereoskop für plötzliche Exposition nach Rupp,
Gruppe II, Nr. 70 hierher, sofern man einen Kontakt anbringt, der bei der Ex-
position geschlossen wird.
Als Tast- und Gewichts-Reizapparate sind zu verwerten:
Das einfache Gewichtsästhesiometer nach Rupp, Gruppe IVA, Nr. 2, vmd
die Gewichtsvariationen, Gruppe IVB, Nr. 12 und 13, wenn man Kontaktvor-
richtungen anbringt, die im Augenblick des Reizes geöffnet werden.
An Reaktionsinstrumenten früherer Gruppen ist das Tasterklavier, Gruppe VL
Nr. 10 zu erwähnen. Man kann auf das Vorzeigen versclüedener Noten, Buclistaben,
Ziffern usw. verschiedene Taster mederdrücken lassen (analog dem Klavier und analog
der Sclireib- \ind Rechenmaschine) und die Reaktionszeiten und ihre allmähliche Ver-
kürzung studieren. Wie die einfachen Taster kann auch das Klavier mit elektrischen
KontakteiT oder für Luftübertragung eingerichtet werden.
An Aufnahmeapparaten sind in Gruppe VI beschrieben:
Dynamograph nach Smedley JN^r. 3; Dynamograph nach Weyler Nr. 5, die
Ergographen nach Mosso vmd Dubois, Nr. 6 und 7; die Kontaktapparate Nr. 8
bis 13 und 16 bis 21; endlich der Tremograph nach Vierordt Nr. 15.
Auch der Phonograph Gruppe III, Nr. 17, gehört zu den kymographischen Auf-
«ahmeappar a ten .
410 Haois Rupp
IX. Gruppe: Zeitregelung.
(Arbeitunterbrechende, reizunterbrechende oder tachistoskopische
und Zeitsinn-Versuche).
Bei der Zeitmessung werden die Vorgänge in den zufälligen Längen und
Pausen, in denen sie sich eben abspielen, gemessen. Hier wird, wie schon früher
auseinandergesetzt, die Zeit geregelt; man gibt z. B. eine bestimmte Zeit vor
imd prüft, was in dieser Zeit geleistet wird, oder prüft, wie diese Zeit beurteilt
wird. Dort wird die Zeit, hier der Erfolg, die Arbeit, das Urteil bestimmt.
Die Regelung der Zeit kann verschiedene Zwecke haben; ich führe die wich-
tigsten an.
1. Früher b :!Z8ichneten wir diejenige Aufgabe als leichter oder geläufiger, welche
in kürzerer Zeit gelöst wurde. Hier vergleichen wir die Aufgaben dadurch, daß
wir die Arbeitszeit beschränken und fragen, welche Aufgabe in dieser Zeit gelöst
wird, welche nicht; welche besser, welche schlechter gelöst wird; von welcher
ein größerer, von welcher ein kleinerer Teil gelöst wird. In ähnlicher Weise wie
die Aufgaben vergleichen wir Arbeitsmethoden, Individuen, Übungs- und Er-
müdungsstadien, usw.
Wir müssen die Arbeitszeit so beschränken, daß die Aufgaben im allgemeinen
nicht vollständig gelöst werden ; denn sonst würden die Unterschiede zwischen den
Lösungen der Aufgaban wegfallen. Wir müssen vielmehr die Arbeit vor der Voll-
endung imterbrechen. Ich will die Versuche als Versuche mit Arbeits-
unterbrechung bezeichnen.
Bei kurzen Arbeiten, z. B. beim Lesen einzelner Worte, beim Auffassen einzelner
Bilder, Gegenstände müßte der Vorgang durch sehr schnell und sicher wirkende ab-
lenkende Reize künstlich unterbrochen werden. Die Technik solcher Versuche ist
noch wenig entwickelt.
So hat man in der Gedächtnislehre untersucht, welche Stoffe in einer bestimm-
ten, gegebenen Zeit besser gelernt werden, welche Lernmethoden, welche Arten
der Darbietung eine bessere Einprägung ergeben. Auch Individuen und verschie-
dene Altersstufen hat man auf diese Weise verglichen.
Die erwähnten Baispiele entsprechen den Versuchen A der vorigen Gruppe:
es wird ein einzelner Vorgang unterbrochen. Ebenso gibt es zu den Versuchen B
analoge Versuche in dieser Gruppe. Man unterbricht eine länger dauernde Arbeit
oder eine Reihe gleichartiger Aufgaben (z. B. Rechnungen, Unterstreichen aller e
in einem Text, Druckfehlerkorrektur) in bestimmten Zeitpunkten, etwa alle Minu-
ten, und stellt den Erfolg in jeder Minute fest. Früher wurde bestimmt, wieviel
Zeit die einzelnen natürli chen Abschnitte der Arbeit beanspruchen. Hier werden
künstliche Einschnitte gemacht, und es wird der Erfolg in jedem Abschnitt
bestimmt. Man kann auch hierbei einigermaßen entnehmen, welche Teilaufgaban
langsamer, welche schneller gelöst werden. Vor allem aber erfährt man, wie in-
folge der Übung, des In -Zug -Kommens usw. in gleichen Zeiten allmählich
mehr, zufolge Ermüdung, Abstumpfung usw. allmählich weniger Aufgaben gelöst
werden.
Die Versuche C sind für die «ettmessenden und «eitregelnden Versuche meist gleich.
Gewöhnlich wird nämlich bei den kymograplüschen A\if nahmen der Erfolg kontinuier-
lich fortlaufend, also für jeden Zeitpunkt aufgeschrieben ^ In einer solchen Kurve
Problem© und Apparate zur experimentellen Pädagogik 4.XI
ist ebensowohl der Erfolg in künstlich gewählten Zeitpunkten (z. B. am Ende jeder
Minute) wie in den natürlichen Abschnitten enthalten. —
Sind solche Versuche mit Zeitregelung nicht überflüssig? Ist es nicht einfacher
und natürlicher, die Zeit jeder einzelnen Aufgabe und Teilaufgabe zu messen,
also zeitmessende Versuche anzustellen? Die Versuche mit Zcitregelimg bieten
manche Vorteile, die ihre Verwendung neben den zeitmessenden Versuchen recht-
fertigen. Man kann ohne Vermehrung der Apparate Massenversuche an-
stellen; denn das unterbrechende Zeichen gilt für alle Beobachter, während bei
Zeitmessung die zufällige Arbeitszeit jedes einzelnen Beobachters bestimmt wer-
den muß. Zweitens ist die Technik insofern einfacher, als die Beschränkung
der Arbeitszeit auch für verschiedene Versuche mit ein und demselben Be-
obachter die gleiche bleibt, während die volle Arbeitszeit, die bei den zeit-
messenden Versuchen bestimmt wird, beständig wechselt.
Arbeitsunterbrechung kann auch andere als die oben angegebenen Zwecke
haben. Man unterbricht einen geistigen Vorgang an verschiedenen Stellen, ledig-
lich um die einzelnen Entwicklungsstadien besser beobachten zu können oder
um aus den Fehlern auf die Stadien schließen zu können. Ferner kann die
Unterbrechung bezwecken, den Vorgang zu erschweren und damit zu verzögern,
80 daß er wieder leichter zu beobachten ist. —
2. Wie die Arbeit, so kann man auch den Reiz unterbrechen. Man kann solche
Versuche als Versuche mit Reizunterbrechung bezeichnen; gewöhnlich
nennt man sie tachistoskopische, d. h. Kurzseher-Versuche.
Eine Farbe, ein plastischer Eindruck oder sonstige Eindrücke müssen eine ge-
wisse Zeit wirken, damit sie erkannt werden. Ebenso muß ein Wort, eine Zahl,
ein Bild eine gewisse Zeit gegeben sein, damit sie voll erfaßt werden können.
Je schwieriger, zusammengesetzter der Eindruck ist, eine je genauere Erfassung
verlangt wird, desto länger muß der Reiz wirken. Man kann von Zeitschwelle oder
von minimaler Reizdauer sprechen.
Eine erste Aufgabe der reizunterbrechenden oder tachistoskopischen Versuche
ist, die minimale Reizdauer zu bestimmen. Wir machen den Reiz syste-
matisch länger und kürzer und suchen die kürzeste Dauer heraus, bei welcher
der Reiz vollständig erfaßt wird. So hat man die Schwelle verschiedener Farben
für Normal- und für Schwachsichtige bestimmt.
Ähnlich könnte man bei Arbeitsunterbrochung verf ahpen, um die Zeitdauer einer Auf-
gabe oder der einzelnen Teile einer zusammengesetzten Aufgabe zu bestimmen. Man
müßte die Arbeit zu verschiedenen Punkten unterbrechen und die kürzeste Zeit
suchen, bei welcher sie gelöst wird. Allein meistens steht lüer der viel einfachere Weg
zur Verfügung, daß man den Zeitpunkt, in dem die Arbeit vollendet ist, direkt markiert,
z. B. mittels einer Reaktion, und so die Arbeitsdauer schon aus einem einzigen Ver-
«uch bestimmt. Zur Bestimmung der minimalen Reizdauer ist dieses letztere zeit-
messende Verfahren wegen der kurzen Reizdauer nicht zu gebrauchen.
Die wichtigste Aufgabe der reizunterbrechenden Versuche ist ganz analog der
Aufgabe der unter 1 beschriebenen arbeitunterbrechenden Versuche. Man ver-
gleicht verschiedene Aufgaben, Individuen usf., indem man die Reizdauer be-
schränkt, so daß die Aufgaben im allgemeinen nicht vollständig gelöst werden.
Diejenige Aufgabe ist leichter, geläufiger, die besser, mit weniger Fehlern, voll-
ständiger, oder — bei Wiederholung derselben Aufgabs — die häufiger gelöst
wird.
412 Hans Rupp
Auf diese Weise kann man die Erkennbarkeit verschiedener Buchstaben, Wör-
ter, Zahlen, vön verschiedenen Schriften, Zahlenbildern (beim ersten Rechen-
unterricht), Gegenständen, Bildern usf. vergleichen, indem man bestimmt, welche
Objekte bei kurzer Exposition erkannt werden, welche nicht, welche besser erkannt
werden, welche schlechter, welche bsi Wiederholung der Versuche häufiger richtig
erkannt werden, welche seltener. So konnte man feststellen, daß kurze Wörter
bei ebenso kurzer Exposition erkannt werden wie einzelne Buchstaben, zwei-
und dreistellige Zahlen in ebenso kurzer Zeit wie einstellige. Ähnlich werden
Figuren, Gestalten vielfach bei ebenso kurzer Exposition erfaßt werden wie ein-
fache Linien, die als Teile in ihnen vorkommen usf.
Reizunterbrechung kann, ähnlich wie die Arbeitsunterbrechung, auch ledig-
lich den Zweck haben, über die Natur des Vorganges der Erkennung usw. Auf-
schluß zu geben, indem sie die Beobachtung erleichtert und charakteristische
Fehler erzeugt. Wenn der Vorgang infolge des zu kurzen Reizes imvollkommen
ist, kommen die Entwicklungsstadien klarer zum Bewußtsein, oder er wird
länger auseinander gezogen, was wieder die Beobachtung fördert. Ferner ent-
stehen Fehler, aus denen man auf die Entwicklungsstadien schließen kann.
Die reizunterbrechenden Versuche haben ebenso wie die arbeitunter brechenden
den Vorzug, daß man Massen versuche anstellen kann, und daß die Technik relativ
einfach ist.
3. Die zeitregelnden Versuche werden vielfach zur Bestimmung des sogenannten^
„Umfanges der Aufmerksamkeit" benützt. Man will feststellen, wieviel
Arbeit, geistige Energie zu gleicher Zeit geleistet werden kann.
Man hoffte durch einen fast momentanen Reiz auch eine fast momentane Arbeit
zu erreichen. Was aber fast in einem Zeitpunkt geschieht, kann nicht aus mehreren
aufeinanderfolgenden Vorgängen bestehen ; wenn also überhaupt mehrere Leistun-
gen enthalten sind, müssen sie gleichzeitig nebeneinander herlaufen.
Diese Folgerungen treffen allerdings nicht zu. Dem momentanen Reiz entspricht,
namentlich bei chemischen Sinnen wie dem Auge, keineswegs eine ebenso momen-
tane Empfindung; dazu kommt, daß der Eindruck durch das Gedächtnis fest-
gehalten werden kann. Vor allem aber dauert die Verarbeitung, Auffassung, Be-
nennung usw. wesentlich länger als der tachLstoskopische Reiz, Es sind Fälle
sicher beobachtet, wo ein Wandern der Aufmerksamkeit, ein sukzessives Durch-
arbeiten verschiedener Teile stattgefimden hat. Immerhin kommt man dem
Ziel näher als bei längeren Reizen.
Es liegt nahe, die Arbeitsdauer statt der Reizdauer zu beschränken. Solche Ver-
suche sind noch nicht ausgeführt; es fragt sich, ob es hinreichend sicher ablenkende
Reize gibt.
Die üblichen Versuche zur Bestimmung des Aufmerksamkeitsumfanges werden
so ausgeführt, daß man feststellt, wieviel Buchstaben, Ziffern u. dgl. bei sehr kurzer
Expositionszeit (z. B. Ics = Vioo Sek.) entweder deutlich gesehen oder gezählt
oder gelesen werden können, indem angenommen wird, daß infolge der kurzen
Exposition die Erfassung aller Buchstaben usw. gleichzeitig stattfindet. Die Zu-
sammenstellimg der Buchstaben soll sinnlos und ungewohnt sein, damit jeder ein-
zelne Buchstabe für sich erfaßt werden muß. Es soll ja durch die Zahl der Buch-
stabenerfassungen der Umfang der Energie gemessen werden. Man darf also
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik
41S
nicht sinn volle Wörter oder selbst aussprechbare Zusammenstellungen von Buch-
staben wählen,
4. Zeitregelnde Versuche sind endlich zur Untersuchung des Zeitsinns nötig.
Man gibt Töne, Geräusche, Lichtreize usf. von verschiedener Dauer oder klopft
oder gibt Lichtblitze in verschieden schneller Folge und läßt Dauer imd Zeitfolge
beurteilen und mit anderen vergleichen. Weitergehend kann man fortlaufende
Tempi und kompliziertere Rhythmen beurteilen und vergleichen lassen. Wer
kann fester, richtiger beurteilen, genauer vergleichen ? Von praktischem W^ert
sind auch Versuche mit längeren Zeiten von Minuten, Stunden, Tagen usf.
Zu den Zeitsinnversuchen gehören auch die sog. Komplikations versuche.
Es ist zu bsurteilen, ob zwei verschiedenartige Reize gleichzeitig erfolgen oder
nicht, und welcher früher kommt. Die Durchgangsbeobachtmigen der Astronomen
bieten ein Baispiel.- Je nachdem die Aufmerksamkeit mehr dem einen oder andern
Reiz zugewendet ist, entstehen Zeittäuschungen. Der mehr bsachtete Reiz
scheint früher zu kommen.
Kr.
Ich führe nun die Apparate an: Tachistoskope (Kurz- Seher), Kontaktapparate
zur Herstellung von Zeiten verschiedener Länge; Zeitmarkierer, die fortlaufend
Kontakte in schnellerem oder langsamerem Tempo erzeugen, z. B. für die Zeitkurve
bei chronoskopischen und kymographischen Versuchen. Zum Schluß einige Reiz-
serien für bestimmte Versuche.
Einfaches Falltachistoskop (Mechaniker Zimmermann, Leipzig). Das »t. t
Prinzip des Apparates ist hinreichend bekannt. Maximale Feldgröße
15 X 6 cm. Größere Änderungen der Ge-
schwindigkeit des Fallschirmes S werden durch
entsprechende Gegengewichte G erzeugt, die
feinere Regulierung durch Verengen und Er-
weitern des Spaltes. Die Klappe D dient dazu,
das Reizobjekt zu verdecken, während der
Fallschirm hochgezogen wird (z. B. vor Wie-
derholung eines Versuches).
Schul -Falltachistoskop (Mechaniker Zim-
mermann, Leipzig). Der vorige Apparat ist ver-
einfacht. Fallschirm ohne Gegengewicht, Spalt-
öffnung nicht verstellbar. Die Fallgeschwin-
digkeit wird durch eine Feder verändert, die
durch eine Regulierschraube mit Ablesung
mehr oder weniger an den fallenden Schirm
angedrückt wird und dadurch die Bewegung
mehr oder weniger dämpft. Ausführung mög-
lichst einfach in Holz.
Rotationstachistoskop nach Netschajeff
(Mechaniker Zimmermann, Leipzig). Die Figur
zeigt den Apparat von hinten gesehen. Der Beobachter hat die Vorderseite,
ein gleichmäßig schwarzes Brett mit dem Ausschnitt D (65 x 50 mm) vor
sich, durch welches er das Reizobjekt 0 sieht, das in der Figur nach links
zurückgeklappt gezeichnet ist.
Nr. S
414
Hans Rupp
Nr. 4
Spa/r
Die tachistoskopische Exposition wird dadurch bewirkt, daß die zwei
Flügel F und N durch die Kraft des Gewichtes G an der Öffnung D vor-
beibewegt werden. In der Ausgangslage
deckt der untere Flügel N, in der End-
lage der obere, verstellbare Flügel F die
Öffnung. In der Zwischenzeit ist das
Objekt so lange sichtbar, als der freie,
zwischen den Flügeln liegende Sektor an
D vorbeizieht. Diese Zeit beträgt je
nach der Stellung des Flügels F 0 — 15
CS (es = i/ioo Sek.).
Pendeltachistoskop nach Rupp (Me-
chaniker Marx, Berlin). Der Apparat hat,
ähnlich dem vorigen Apparat (mit dem
er ungefähr gleichzeitig entstanden ist)
zwei gegeneinander verstellbare Sektoren
S1S2. Die Bewegung wird jedoch durch
ein Übergewicht (geschrafft) erzeugt, das
die Sektoren in eine Pendel-Bewegung
versetzt. Das zweite Gewicht (schwarz) hat nur den Zweck, das Gewicht
des verstellbaren Sektors S2 auszugleichen, so daß der Schwerpunkt des
Pendels durch Verstellen des Sektors
nicht wesentlich verschoben wird.
In der Ausgangslage, wie sie die
Figur zeigt, deckt der untere Rand
von Si die Öffnung eines davorste-
henden Schirmes und damit das Reiz-
objekt. Dieses letztere wird sichtbar,
wenn das Pendel seine tiefste Lage,
also die größte Geschwindigkeit — be-
sitzt. Beim Weiterschwingen deckt
der zweite Sektor S2 das Objekt ab.
Nahezu am Ende der Schwingung,
also wenn das Pendel fast still steht,
wird es von einer federnden Nase
aufgefangen. Man kann den Sektor
S2 so weit nach unten schieben, daß er auch bei der Endlage des Pendels
die Öffnung noch nicht verdeckt. In diesem Falle wird das Objekt nicht
tachistoskopisch (d. h. kurze Zeit), sondern dauernd exponiert, wie bei
den meisten Reizapparaten für Reaktionsversuche (vgl. Gruppe VII, Nr. 5,
Gruppe VIII, Nr. 12 und 19).
In den Momenten, in denen die Mitte des Objektes 0 abgedeckt und ver-
deckt wird, wird je ein Kontakt erzeugt. Dadurch kann man die Exposi-
tionszeiten mittels eines Chronographen bestimmen, ferner kann der erste
Kontakt für Reaktionsversuche verwertet werden (mit tachistpskopischer
oder Dauerexposition, vgl. Gruppe VIII).
Zum Unterschied von anderen Apparaten sind hier die Sektoren so ge-
Pende/tac/j/s/os/cop 6ec/äc/?/-msspp.
Probleme und Apparate zur experimentellen Pädagogik 415
arbeitet, daß man sie dicht vor irgendwelchen Objekten vorbeischwingen
lassen kann, ohne daß Teile des Apparates im Wege stünden. Insbesondere
läißt sich der Apparat mit den Gedächtnisapparaten Gruppe VII, 1—4, ver-
binden (vgl. die Figur).
Die Sektoren sind weiß, damit beim Erscheinen der meist auf weißes
Papier geschriebenen oder gedruckten Reizzeichen kein störender Lichtwechsel
entsteht.
Da das ursprüngliche Modell für pädagogische Zwecke zu teuer wäre, so ist ein
einfacheres und dennoch für unseren Zweck ausreichendes Modell vorbereitet
worden.
Momentverschlußtachistoskop nach Minnemann (Mechaniker Marx, Ni-s
Berlin). Der übliche Jalusieverschluß der photographischen Kamera ist in größe-
ren Dimensionen ausgeführt, so daß ein horizontales Objekt von ca. 40 cm Breite
und 10 cm Höhe exponiert werden kann. Kontakte ermöglichen die Messung der
Expositionszeit mittels eines Chronographen. Der Jalusieverschluß funktioniert
nicht so exakt wie die übrigen Tachistoskope.
Vor den Tachistoskopen Nr. 1—3 hat der Apparat den Vorzug, daß er trotz des
größeren Expositionsfeldes weniger Raum einnimmt und bequemer zu trans-
portieren ist.
Zum Gedächtnisapparat nach Lipmann-Marx (Gruppe VII, Nr. 1 und 2): sr.ts
Schleudertachistoskop nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Zwei inein-
andergesteckte Kymographiontrommeln, an der
rechten Seite offen; beide haben einen horizon-
talen Schlitz von mehr als einem Viertelkreis
Höhe. Der Schlitz der äußeren Trommel reicht k
von a bis a', der der inneren von i bis i' . Die ^-
innere Trommel ist an der Achse A befestigt.
Die äußere wird durch die innere getragen und
kann um sie gedreht werden. Durch diese
Drehung kann der Spalt a i weiter oder enger
gemacht werden.
Die Doppeltrommel wird durch eine Feder ganz ähnlich wie das Federkymo-
graphion nach Schulze (Gruppe VII, Nr. 9) einmal herumgeschleudert. Dabei
zieht der Spalt a i' vor der Trommel des Gedächtnisapparates innen vorbei und
läßt Worte (u. dgl.) nur einen Augenblick sehen. Damit nur ein Wort expo-
niert wird, wird der Schirm des Gedächtnis apparates vor dem Tachistoskop be-
festigt. Je nach der Größe des Spaltes a i' ist die Expositionszeit länger oder
kürzer. Bei der größten Öffnung wird das Objekt dauernd exponiert.
An der Achse t sind zwei verstellbare Stäbe angebracht, welche bei der Drehung
Kontakte auslösen. Stellt man sie so ein, daß die Kontakte im Augenblick be-
tätigt werden, wo das Objekt sichtbar wird bzw. verschwindet, so kann man die
Expositionszeit für jede Spaltweite bestimmen.
Einfaches Kontaktpendel nach Rupp (Mechaniker Marx, Berlin). Das Nr. 7
untere Ende der Pendelstange schwingt an einem Kreisbogen vorbei, der mit einer
Teilung versehen ist, und auf dem Kontakte an bsliebigen Stellen aufgesetzt
werden kann. Das Pendel löst bsim Vorb^ischwingen Kontakte aus.
Die Schwingungsdauer des Pendels kann durch Verschieben des unteren Pendel-
416
Hans Rupp
Nr. 8
Nr. 9
Mr. 1«
gewichtes G nach unten und des obsren Gewichtes G' nach oben stark verlängert
werden. Sie ist bei gleicher Stellung der Gewichte sehr konstant, wird auch (in-
folge der relativ großen Masse des Pendels)
durch das Auslösen der leichten Kontakte
nicht merkbar beeinflußt.
Man bestimmt, nachdem man die Stellung
der Gewichte gewählt hat, die Zeitpunkte,
in welchen das Pendel bei der Hin-, event.
auch Rückschwingung an mehreren Stellen
des Bogens vorbeischwingt, indem man meh-
rere Kontakte auf den Bogen verteilt und sie
mit einem elektromagnetischen Schreiber
eines Chronographen verbindet. Durch Inter-
polation (am einfachsten zeichnerisch) er-
hält man auch für die übrigen Stellen der
Kreisteilung die Zeitpunkte, und hat somit-
die Teilung geeicht.
Man kann nunmehr durch entsprechendes
Einstellen der Kontakte sofort jedes bäliebige Zeitintervall zwischen zwei oder
mehreren Kontakten herstellen, durch Telephon- oder Klingelzeichen usw. ent-
sprechende Reize geben und die Zeiten und Rhythmen vergleichen und be-
urteilen lassen.
Einfacher Zusatz für Komplikationsversuche nach Rupp (Mecha-
niker Marx, Bariin). Unter dem Bogen mit der Kreisteilung wird ein ähnlich
gebogener Blechstreifen mit einer deutlich sichtbaren Teilung befestigt. Davor
wird ein Schirm aufgesteckt, welcher alles Übrige verdeckt. Ferner wird an
das Pendel ein Zeiger befestigt, welcher vor der eben erwähnten Teilung spielt,
ManJäßt nun den Zeiger an der Teilung vorbeischwingen und zugleich an irgend-
einer Stelle einen Kontakt imd durch diesen ein Klingelzeichen u. dgl. auslösen.
Der Beobachter soll angeben, bei welchem Teilstrich der Zeiger war, als er das
Zeichen hörte.
Chronometer nach Jaquet. Der Schreibhebel d wird entweder alle Sekunden
oder alle Vs- Sekunden em-
porgeschnellt. Man kann
also auf Rußpapier eine
Zeitmarke schreiben.
Gleichzeitig wird bei e
alle Sekimden oder Vs" Se-
kunden ein Kontakt ge-
öffnet. Man kann also die
2Seitmarke auch durch
einen elektromagnetischen
Schreiber schreiben.
Die Uhr geht sehr exakt und konstant etwa 6 Stunden.
Die genauere Beschreibung und Handhabung siehe im Katalog des Mechanikers
Spindler und Hoyer (Göttingen).
Kontaktmetronom. Die Stift« Ss' tauchen am Ende jeder Schwingung de^
Probleme und Apparate zur exporimentellen Pädagogik
417
Mstronompendsls in die der Höhe nach verstellbaren Qaecksilb^.niäpfe Q. Man
kann also neb2n dan gewöhnlichen M itronomschlägen auch elektrische Kontakte
auslösen und dadurch z. B. eine Zeitmarke auf einem
•Chronographen schreiben lassen.
Man achte darauf, daß das Metronom nicht schräg
steht und achte auf die Einstellung der Stifte und Queck-
silbsrnäpfe. Nur so erhält man gleichmäßige Schläge und
Kontakte.
Das Metronom steht an Genauigkeit hinter Pendel
und Chronometer zurück; die Schwingungen sind nicht
ISO regelmäßig und werden allmählich langsamer.
Signal- Uhr nach Fischer (Mechaniker Sendtner, Mün-
ohen). Wecker-Uhr, die alle Minuten ein Glockenzeichen
gibt.
Läßt man z. B. bei längeren Arbeiten bei jedem Klingelzeichen einen Strich
oder ein sonstiges Zeichen in das Heft, in das geschrieben wird, machen, so kann
man verfolgen, wieviel jeder einzelne in jeder Minute geleistet hat.
Schwingende Feder von 20 Schwingungen in der Sekunde (M'^chani-
ker Patzold, Leipzig), zur direkten Schreibung einer Zeitmarke auf dem Kymo-
graphion. Die Feder wird mechanisch angeregt und schwingt daher nur kurze
Zeit, reicht aber für Reaktionsversuche (z. B. mittels des Schulzeschen Feder-
kymographions) aus.
Zur Frage der Vertretung der Pädagogik an der Universität.
Von Max Brahn.
Über die Frage, ob Professuren der Pädagogik an den Universitäten zu
errichten sind, sollte eine Aussprache nicht mehr nötig sein. In keiner Be-
ziehung hat die Pädagogik einen Anlaß, sich hinter die anderen Geisteswissen-
schaften zu stellen, und wenn ihre Methoden noch nicht so entwickelt sind,
80 kann darin kein grundsätzlicher Einwand liegen. Auch darüber, ob es
sich mehr um geschichtlich-systematische oder um psychologisch-empirische
Professuren handeln sollte, dürften die Akten wohl geschlossen sein. Es
liaben sich so viel Stimmen dafür erhoben, daß beide Richtungen nötig sind,
daß zwischen den beiden durchaus kein unauflöslicher Streit herrscht und
daß es schließlich immer nur darauf ankommt, die richtigen Persönlichkeiten
zu bekommen, um das Studium der Pädagogik fruchtbar zu machen. Sowohl
<üe Dozenten wie die Studenten sind in ihrer Anlage darin grundverschieden:
die Einstellung auf die pädagogischen Fragen ist bei dem einen mehr von
gewissen Idealen, bei dem andern mehr von Tatsachen bestimmt, und jede
Richtung muß zu ihrer Vertretung kommen, schon damit den verschiedenen
Schülertypen Recht geschieht. Die Personenfrage kann unmöglich als ernstes
Hindernis gelten. Nimmt man die beiden Richtungen zusammen, so dürften
sich schon heute genügende Kräfte finden; sonst aber werden sie eben all-
Zfilschrii't f. püdagog Psychologie 27
418 Max Brahn, Zur Frage der Vertretung der Pädagogik a. d. Universität
mählich an den Stätten sich entwickeln, an denen heute Lehrkräfte vorhanden
sind, und es kann ja nur eine Frage von wenigen Jahren sein, wann die
Zahl der notwendigen Dozenten vorhanden ist.
Drängend aber wird die Frage, ob es weiterhin möglich ist, sich mit diesen
beiden Richtungen zu begnügen, und ob nicht immer mehr an jeder Universität
darauf gesehen werden muß, daß die Pädagogik als Lehre von der Volks-
erziehung und Volksbildung im weitesten Sinne vertreten ist. Selbst die
längsten Vorlesungen über Geschichte der Pädagogik, systematische Pädagogik,
über Jugendkunde und Psychologie, über Didaktik und Methodik genügen
heute diesem Bedürfnis nicht. Sieht man die Interessen der weitesten päda-
gogisch interessierten Kreise, die ja nicht mehr nur Lehrerkreise sind,
{Tenauer an, so findet man, daß sie immer mehr in sehr vielen Strahlen nach
der Seite der über die Schule herausgreifenden bildenden Erziehungseinflüsse
gehen. Diese ganze Richtung, die sich heute noch nicht einmal mit einem
Worte umschreiben läßt, die von dem Kindergarten und dem Hort über Jugend-
fürsorge und Wandervogel zu Volksbibhothek und Volkstheater führt, bedeutet
für Erziehung und Unterricht die umfassendsten und zukunftsreichsten Probleme.
Die deutsche Universität darf sich die Führung in diesen für jeden wahren
Pädagogen so schönen und wissenschaftlich so fruchtbaren Problemen nicht
nehmen lassen.
Am schwierigsten aber, wenn man die Frage Pädagogik an den Universitäten
ganz ernst fassen will, ist die Organisation des pädagogischen Unterrichtens
an der Universität selbst, und die richtige Einführung der Pädagogen in ihr
Amt. Die Hochschulpädagogik ist ja viel behandelt worden, aber bisher ist
das Lehren an der Universität selbst sozusagen ein wilder Beruf, für den
es keinerlei Vorbildung gibt und für den auch keine verlangt wird. Zum Teil
daher, geschichtlich aber natürlich auch aus anderen Quellen, stammt die viel
schlimmere Tatsache, daß die Wissenschaften selbst an der Universität so
gelehrt werden, daß ihre Übertragung auf das Lehramt dabei kaum berück-
sichtigt wird. Die Mathematiker und Naturwissenschaftler haben sich der
Frage bereits angenommen, und es gibt schon einige wenige Lehraufträge
für Pädagogik der Chemie usw. In den Geisteswissenschaften wird dagegen
so unterrichtet, daß irgend eine Rücksicht darauf, wie der Student das Lehr-
gut später einmal als Lehrer braucht, nicht genommen wird. Als Beispiel
dafür möchte ich nur die berüchtigt gewordenen Aufsatzthemata angeben, die
in der Volksschule nicht viel vorkommen, wohl aber in den höheren Schulen,
weil der ganze germanistische Unterricht das Wort „Aufsatz" wohl garnicht
kennt. Hier entsteht die schwierige Frage: Wie wird der Universitätsunter-
richt selbst für den Pädagogen pädagogisch gestaltet?
Kleine Beiträge und Mitteilungen.
Die Vertretung der Psychologie und Pädagogik an den deutschen Uni-
versitäten im Sommerhalbjahr 1918*). Berlin: Mahling (theol. F.): Katech.
Semin. (2). Forster (med. F.): Psychiatrie des Kindesalters (1). — Stier
*) Erklärung der Abkürznngen: med. F. == medizinische Fakutät, theol. F. == theolo-
giedie FakiiltJ't. naturw. F. = natnrwissenschafO. Fakultät, jur. F. = juristische Fakultät.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 419
(med. F.): Psychische und nervöse Störungen des Kindesalters (1). — Karl
Schaefer (med. F.): Physiol. Psychol. (2). — Moeli (med. F.): Die Be-
ziehungen geist. Abnormität zur Rechtspflege (1) — Jacob söhn (med. F.):
Über die Kriminalität der Jugendlichen, für Mediz., Jurist, und Pädag. (1). —
Erdmann: Psychologie (4). — Vierkandt: Allgem. Psychol. (2). — Ferd.
Jakob Schmidt: Pädagog. Ethik (4). Pädag. Sem.: Übungen über Fichtes
Reden an die deutsche Nation (l'/a). — Wertheimer: Im psychol. Institut:
Experiment, psychol. Übungen (2), Pädagog. Übungen (2). — Stumpf: Im
psychol. Inst.: Theoret. Übungen (1) — Sa. == 24'/2 Std. — Bonn: Lauscher
(kaih.lheol. F.): Katechetik (4). Katech. Semin. (1). — Pfennigsdorf (ev.-
theol. F.): Katech. Sem. (1). — Hübner (jur. F.): Forensisch -psychol. Praktikum
(1). — Störring: Psychologie (4). Im psychol. Laborat.: Selbst, experiment.
Arbeiten für Vorgeschr. gemeinsam mit Erismann und Kutzner. Täghch vor-
und nachm. — Wentscher: Pädagogik (2). Im philos. Semin.: Grundpro-
bleme der Pädagogik(l 1/2). — Erismann zus. m. Kutzner: Im psychol. Labor. :
Einführungskursus in die experiment. Psychol. mit Übungen (2). — Kutzner:
Ausgew. Kapitel aus der experiment. Didaktik (1). Sa.= 17^2, dazu die experim.
Arbeiten bei Störring. Breslau: Steinbeck (ev.-theol. F.): Katech. Semin.
(2). — Schaeder (ev.-theol. F.): Hauptprobleme der Rehgionspsychol. (2). —
Koenig (kath.-theol- F.): KirchL Pädag. und Rhetorik (2). — Baumgartner:
Psychologie (4). — Hönigswald: Grundprobleme der Denkpsychol. und
Phänomenologie (2). Kolloquium der philos. Pädag. (2). Im psychol. Sem.:
Übungen zur Denkpsychol. und Phänomenologie (Vli). — Miller: Das höhere
Schulwesen im 19. Jahrh. und in der Gegenw. (2). Übungen über Organisation
des höheren Schulwesens (1). Sa. = 18'/'2. Erlangen: Caspari (theol. F.):
Katechetik und Pastoraltheol. (4). Katechet. Behandlung der Grundbegriffe
des Katechism. (2). Katech. Sem. (2). Pädag. Repetitorium (1). — Stählin:
Gesch. der Erzieh, und des Unterr. von der Renaissance bis zur Gegenw.
(4). — Leser: Pestalozzi und Herbart (1). — Sa. == 14. Frankfurt a. M.:
Hahn (med. F.): PsychopathoL des Kindes (1). — Schultze: Gesch. der
pädagog. Probleme (2). Grundfragen der modernen Erziehung (1). — Ziehen:
Gesch. der preußischen Unterrichtsverwaltung von 1817 bis zur Gegenw. (2).
Methodik des akadem. Studiums mit bes. Berücksichtigung der philos. Fakult.
(1). Pädag. Sem.: Übungen zur Einführung in das Verständnis der kommunalen
Erziehungs- und Schulpolitik (1). — Schumann (naturw. F.): Experim.-psychol.
Praktikum mit Gelb (2). — Henning (naturw. F.): Massenpsychologie (1).
— Klumker (Wirtschafts- und sozialwissenschaftl. F.): Jugendfürsorge und
Kinderschutz (1). Prakt. Übungen mit Anstaltsbesichtigungen (Mittw. nachm.).
Pape (Wirtschafts- u. sozialwissenschaftl. F.): Grundzüge der Erziehungs-
und Unterrichtslehre für Kandidaten des Handelslehramts (1). Sem. für Han-
delsschulpädag. (3). — Lühr (Wirtschafts- und sozialwissenschaftl. F.): Ein-
führung in die Handelsschulpraxis: Hospitierübungen und Besprechungen (3).
Sa. = 14, außer Klumkers Übungen. Freiburg i. B.: Künstle (theol. F.):
Pädagogik (2). — Kehrer (med. F.): Physiol. Psychol. (1). — Cohn: Pädag.
Zeitfragen (2). — Sa. = 4. Gießen: Sommer (med. F.): Experim. Psychol.
und Psychiatrie (für Studierende aller Fakult.) (1). — Koffka: Psychol. Kollo-
quium (1). — Sieb eck: Grundlinien der Didaktik und Methodologie des
Unterrichts (2). — Strecker: Staat und Erziehung in Vergangenh. und Gegenw.
(2). Übungen über Fichte als Pädagogen (2). — Cermak: Physik. Hand-
27*
420 Ivleine Beiträge und Mitteilungen
fertigkeitspraktikum (3). — Sa. = 11. Göttingen: Eicheberg (med. F.): Psycho-
pathol. des Kindesalters (für Hörer aller Fakult.) (1). — G. E. Müller: Psychol.
der Willenserscheinungen (2). Experim.-psychol. Arbeiten. — Baade: De-
skriptive Psychologie und Psychographie (2). Übungen zur Psychologie des
Denkens (1). — Rosen thal (med. F.): Schulgesundheitspflege für Lehramts-
kandidaten (1). — Meyer (theol. F): Katechet. Übungen (1). — Windhaus:
Chem. Semin. für Lehramtskandidaten (nach Verabredung). — Sa. = 8, außer
den Übungen bei Müller und Windhaus. Greifswald: v. d. Goltz (theol. F.):
Katechet. Semin. (2). — Rehmke: Psychologie (3). — Schwarz: Gesch.
der Pädag. (2). Ethik und systemat. Pädag. (4). Philos. Semin.: Über Bildungs-
probleme. (2). — Sa. = 13. Halle: Eger (theol. F.): Katechet. Abteilung (2).
— Kau ff mann (med. F.): Über psych. Veränderungen durch den Krieg (1).
— Ziehen: Psychologie (4). Experimentelle psychol. Übungen (2). — Frisch-
eisen-Köhler: Das deutsche Unterrichtswesen der Gegenw. und die Grund-
fragen der Schulorganisation (2). Pädag. und Politik (1). Übungen über
Schleiermachers Pädag., in noch zu verabr. Stunden. — Menzer: Im pädag.
Semin.: Ethik (2). — Lütgert (theol. F.): Im Pädag. Semin.: Übungen der
systemat. Abteilung (B) des TheoL Semin. (2). — Wigand: Physikal. Hand-
fertigkeitspraktikum (in noch zu best. Zeit). — Sa. = 16; außerdem die
Übungen bei Frischeisen-Köhler und Wigand. Hamburg: Prof. Stern: Pädag.
Psychologie des Schulkindes II. (1). — Übungen zur Jugendpsychologie.
(2). — Werner: Einführung in die Völkerpsychologie (2). — C laßen:
Weltanschauungsarbeit unter der reifenden Jugend (1). — Sommer: Ge-
schichte des Seelenbegriffs (1). — Sa. = 7. — Heidelberg: Niebergall
(theol. F.): Modern-pädag. Fragen (2). — Frommel (theol F.) Katechet.
Übungen über den Unterrichtsstoff der Oberst. (1). — Stadtschulrat Rohr hur st:
Katechet. Übungen über den Unterrichtsst. der Mittelsch. (1^2). — Jaspers:
Psychol. des abnormen Seelenlebens (2i. Psycholog. Übungen über Nietzsche
(2). — Rissom: Über Methodik und Systematik der Spiele, über Spielgeräte und
Spielplatzkunde (8). Jugendpflege (4). — Baisch: Physiologie und Hygiene
der Spiele und volkstüml. Übungen (6). — HogenmüUer: Prakt. Übungen
und Lehrproben im Turnen (45). — Sa. = 26 '/2, außerdem 45 Std. Übungen
bei HogenmüUer. Jena: Staerk (theol. F.): Probleme der unterrichtl. Be-
handlung des Alten Testam. (1). — Glaue (theol. F.): Katechetik (2.) --
Thümmel (theol. F.): Katechet. Semin. (2). — Schultz (med. F.): Psycho-
therapie (2). Was lehrt die Psychiatrie für die allgem. Psychologie (1). —
Eucken: Allgem. Psychol. (im Umriß) (2). — Rein: Empir. Psychol. mit
Beziehung auf die pädag. Probleme (2). Allgem. Didaktik (2). Mit Weiß:
Pädag. Seminar. — Nohl: Einführung in die Gesch. der Pädag. (1). — Weiß:
Begabung und Schule. (2) Ziel und Aufgaben der Jugendpflege (1). — Sa =» 18,
außerdem Päd. Semin. bei Rein. Kiel: Baumgarten (theol. F.): Katechet.
Übungen (2). — Weinreich (theol. F.) Katechet, (2). — Martius: Psychol.
Semin. (2). — Baron von Brockdorff: Die Anfangsgründe der Pädag. (1).
Interpretation klassischer pädagog. Quellenschriften (2). — Sa. = 9. Königs-
berg: Uckeley (theol. F.): Deutsches Volksschulwesen I. Teil (Gesch. und
Schulkunde) (2). Katechet. Semin. (1). — Falken heim (med. F.): Hygiene
des Kindes (1). — Ach: Psychologie (3). Experimentell - psychol. Übungen
(2). — Kowalewski: Ethik (mit Anwendung a. pädagog. Probleme (2).
Kolloquium über neuere Ajbeiten auf dem Gebiete der pädag. Psychol. (1'/«)-
Kleine Beiträge und Mitteilungen 421
— Sa. = 121/2. Leipzig: Frenz el (theol. F.) Prakt. Theol. II (Katechetik und
Poimenik) (4). Serain. für prakt. Theol., katechet. Abteilung (Religionsunterr.
lind relig. Erziehung) (2). Semin. für Pädag. für Studierende der Theol. : Prakt.-
päd. Übungen und Besuche von Lehr- und Erziehungsanstalten (2). —
Gregor (med. F.): Diagnose psychischer Störungen (1). Psychologie der
Persönlichkeit. (1). — Lange (med. F.): Schulhygiene und Schulkrankheiten
(1). — Bergmann: Gesch. der Psychol. im Überblick (1). — Krueger:
Einführung in die Völkerpsychol. (Besprechungen und Übungen) (2). Psycho-
logie der Gefühle (2). Experim. Übungen für Fortgeschrittene (mit Kirsch-
mann) (2). Leitung selbständ. Arbeiten (mit zwei Assistenten) (21). Bespr.
und Übungen zur Einführung in die Völkerpsychol. (2). — Wirth: Psycho-
physik der Sinneswahrnehmung mit experiment. Demonstr. (2). Übungen
zur experiment. Methode, zugleich zur Einführung in die Psychophysik (Zeit
nach Vereinbarung). Leitung selbständ. Arbeiten (15). — Spranger: Pädag.
IL Teil (Gesch. des Erziehungswesens und der päd. Theorien von Rousseau
bis zur Gegenw. (3). Im philos. päd. Sem.: Pestalozzi, „Wie Gertrud ihre
Kinder lehrt." Nur für Studierende der Päd. (2). Herbarts Pädag. (2). —
Jungmann: Einführung in die Gesch. der Pädag. (2). Übungen im praktisch-
pädag. Semin. mit Hünlich und Hartmann (4). — Brahn: Übungen zur ex-
periment. Methode: PersönL Begabung und Berufswahl (IV2). Wissenschaf tl.
Arbeiten über experiment. Pädag. und angew. Psycho!. (15). — Seydel:
Pädagogisch-technische Korrektur von Sprachfehlern, Sprachgebrechen usw.
(1). — John: Die histor. und pädag. Grundlagen der landwirtsch. Unterrichts-
anstalten (2). Theoret. Seminarübungen (2). Experiment. Vorbereitung für
den Unterr. (2). Unterrichtserteilung in der Übungsschule (16). — Wagner:
Chemische Übungen für Lehrer (Schulversuche, Analyse, Präparate) (44).
Didakt. Bespr. der ehem. Übungen (1). — Sa. = 60 '/2, außerdem 95 Std. Übungen.
München: Göttler (theol. F.): System der Pädag. (4). Bayerisches Volksschul-
wesen (2). Katechet. Praktikum (IV2). — Mayer (theol. F.): Pestalozzi und
seine Zeit (1). — Baeumker: Psychologie (4). — Rehm: Das höhere Schul-
wesen Deutschlands in Vergangenheit und Gegenwart (3). Die polit. Erziehung
der deutschen Jugend (1). — Becher und Bühler: Psycholog. Kolloquium
(nach Übereink.). Experiment. -psychol. Arbeiten (tägl. nach Bedarf) —
Joachimsen: Methodik und Technik des Geschichtsunterr. (2). Foerster:
Gesch. der Pädag. im Zusammenhang mit der allgem. Kulturentw. (4). Päd.
Semin: Schulgeraeinden und Selbstregierung der Schüler (2). — Fischer:
Psychol. und Soziologie der Geschlechter (2). Über Psychologie und ihre
Anwendungen (1). Bühler: Denken und Sprechen, eine philos. Einführung
in die Geisteswissenschaften (2). Einführungskursus in die experim. Psycho!.
(2). — Pauli: Psychol. der Empfindung (1). — Sa. = 36V2, außerdem Kollo-
quium und Arb. bei Becher und Bühler. Münster: Smend (ev.-theol. F.):
Katechet. Semin. (1). — Rosenfeld (jur. F.): KriminalpsychoL (1). — Gold--
Schmidt: Grundfragen der Psychol. mit bes. Berücks. der Jugendkunde (4).
Allgem. philos.-psychol. Übungen (nach Vereinb.) Spezielle psychol. Übungen
(nach Vereinb.). — Koppelmann: Grundfr. der Psychol., Logik und Ethik
in ihrem Zusammenhange (3). — Braun: Gesch. der neueren Pädag. (3). —
Sa. = 9, außerdem Übungen bei Goldschmidt. Tlostock: Hilbert (theoLF.):
Katechet. Semin. (2). — Erhard t: Psychologie (4). — Utitz: Psychol. der
Lüge und Verstellung (1). — Schlick: Psychol. des Fühlens und Wollens (1).
422 Kleine Beiträge und Mitteilungen
— Sa. — 8. Straßburg: Naumann (ev.-theol. F.): Katechetik (3). Katechet.
Semin. (1). — Schneider: Psychologie (3 1. — Spahn: Aufgaben und Prob-
leme des Geschichtsunterr. (2). — Sa. = 9. Tübingen: v. Wurster (ev.-theol. F.):
Katechet. Semin. mit Übungen in der Volkschule (2). — Sägmüller (kath.-
theol. F.): Prakt. Pädag. (3). — Spitta: Psychologie (4). — Oesterreich:
Religionspsychologie (2). Demonstr. zur Einführung in die experim. Psychol.
(1^/2). — Deuchler: Wirtschafts- und beruf spsychol. Fragen der Gegenw. (1).
Psycho]. Untersuchungen an Normalen und Hirnverletzten (1). Reform der
höh. Schulen (1). Päd. Sem.: Übungen zur pädag. Psychol. (2). — Sa. = 17i/2.
Würzburg: Stölzle: Allgem. Erziehunglehre (1). Semin. zurPhilos. und Päd. (1).
Anleitung zu wissensch. Arb. in Philos. und Pädag. (nach Bedarf j. — Marbe,
mit Peters: Experiment. Übungen zur Einführung in die Psychol., Pädag. und
Ästhetik (3). Anleitung zu wissensch., auch pädag. und ästhet. Arbeiten (48).
— Peters: Psychol. und pädag. Besprechungen (1). — Sa. == 6, außerdem
Arb. bei Marbe 48 Std., bei Stölzle nach Bedarf.
Leipzig. Hermann Götz.
Die Pädologische Abteilung im Niederländischen Museum für Eltern
und Erzieher. Die Pflege der Jugendkunde hat sich neuerdings auch in
Holland erfreulich entwickelt. So besteht u. a. eine eigene Zeitschrift für
jugendkundliche Forschungen, und so ist seit 1911 ein „Museum für Eltern
und Erzieher" im Ausbau begriffen, wie ein solches früher schon Ladilaus
Nagy für Ungarn begründet hatte. Seinen Sitz hat das Unternehmen in
Amsterdam. Von Zeit zu Zeit aber tut es sich, zumeist nur in Teilen, in
den größeren Städten des Landes auf. Diesen Wanderausstellungen bringt
die Bevölkerung das regste Interesse entgegen. Vorwiegend werden sie von
Vätern und Müttern der Arbeiter- und Bürgerkreise besichtigt. Während
des November stieg z. B. in Harlem die Zahl der meist zahlenden Besucher
auf 26800 Personen.
Der Plan des Museums ist entworfen worden von der Freifrau Sandberg-
Geisberg van der Netten in Assen, die in hingebender Arbeit sich auch an
der Verwirklichung vornehmlich betätigt hat.
Das Museum gliedert sich in folgende Abteilungen, deren jeder ein sach-
verständiger Leiter mit einem Ausschuß vorsteht.
1. Körperliche Entwicklung des Kindes. 2. Kleidung des Kindes. 3. Er-
nährung des Kindes. 4. Umgebung des Kindes. 5. Kinderforschung und
geistige Entwicklung. 6. Fürsorge für anormale Kinder. 7. Hilfe bei Un-
fällen. 8. Spiel, Musik, Handarbeit. 9. Jugendschriften. 10. Kinderpflege
in Indien. 11. Geschichtliche Abteilung. 12. Bücherei.
Über die pädologische Abteilung berichtet ihr Vorsitzender A. J. Schreuder
ausführlich in der Zeitschrift für Kinderforschung (XXIII. Jahrg., Heft 1,
S. 31 ff.). Er verfolgt zum Teil die gleichen Aufgaben, die Joh. Prüfer
dem „Institut für Erziehungserfahrungen" in Leipzig gesetzt hat.
Gegliedert ist die pädologische Abteilung folgendermaßen:
1. Beobachtungen durch Erzieher. 2. Äußerungen von Kindern. 3. Jugend-
erinnerungen. 4. Völkerkundliches. 5. Das Kind in der Kunst. 6. Die
Kinderforschung.
In der ersten Gruppe werden die Erfahrungen aus der Wirkhchkeit des
Kleine Beiträge und Mitteilungen 423
Erziehens gesammelt. Es kommen in Betracht a) biographische Berichte über
die gesamte geistige Entwicklung eines bestimmten Kindes oder von Ge-
schwistern derselben Familie, b) fortlaufende Beobachtungen über eine
einzelne psychische Erscheinung (Entwicklung des Sprechens, des Spieles,
der Religiosität usw.), c) Aufzeichnungen über besondere Vorfälle und Aus-
sprüche. Erwünscht sind u. a. besonders auch vergleichende Darstellungen
von Geschwistern und Zwillingen. Anleitungen zum Beobachten, Aufzeichnen
und Sammeln beabsichtigt das Museum noch auszuarbeiten. Wie in Leipzig so
wurde auch in Holland die Erfahrung gemacht, daß die Eltern meist nur
ungern ihre Aufzeichnungen der öffentlichen Sammlung überweisen, daß aber
gelegentlich Material von hohem wissenschaftlichen Wert von den Erziehern
zu erlangen ist.
Die zweite Gruppe vereinigt a) Kindertagebücher und Gedichte von
Kindern, b) freie Kinderbriefe, c) Kinderzeichnungen, d) Erzeugnisse kind-
licher Handbetätigung. Das Museum verfügt u. a. hier schon über eine
gute Reihe von Zeichnungen aus sechs aufeinander folgenden Volksschul-
klassen, in denen ohne vorangegangene Einübung aus dem Gedächtnis
gezeichnet wurden : ein Männlein, ein Weiblein, ein Knabe, ein Mädchen —
ein Pferd, eine Katze, ein Hund — ein Haus, ein Baum, ein Schiff.
Die dritte Gruppe will u. a. auch eine methodische Aufgabe lösen. Sie
erstrebt die Entscheidung darüber, ob für die wissenschaftliche Forschung
die Veröffentlichung von Jugenderinnerungen wirklich Wert hat, und in
welcher Art sie dann erwünscht wäre.
Die ethnographische Gruppe dient vor allem vergleichenden Betrachtungen.
Sie stellt gegenüber die phylogenetische und ontogenetische Entwicklung, das
Kind der niederen und der höheren Völker, das Kind der Gegenwart und
früherer Zeiten. Aus den niederländischen Kolonien ist hier dem Museum
schon viel vorzügliches Material zugeflossen, so z. B. die Sammlung von
Prof. Jonker, die Märchen, Lieder und Erzählungen von der Insel Rotti
umfaßt und die viele übereinstimmende Züge mit dem kindlichen Singen
und Sagen aufweist.
Die Gruppe „das Kind in der Kunst" will mit ihrer Bildersammlung
weniger wissenschaftlichen Zwecken als vielmehr der Unterhaltung dienen.
Auf die Zusammenstellung der wissenschaftlichen Literatur über das Kind
ist die fünfte Gruppe bedacht. Für sie hat Scheurmann ein fast voll-
ständiges Verzeichnis der in niederländischer Sprache verfaßten Schriften
und Abhandlungen angelegt und veröffentlicht. Es zählt auf 24 Seiten
350 Nummern.
Außer diesen sechs Gruppen besteht in der pädologischen Abteilung
dann noch eine Sonderbücherei, die sorgfältig katalogisiert ist und bei
jeder Ausstellung in einem Lesesaal zur Verfügung gestellt ist.
Das Bayrische Schularchi? für Zeichnen (Geschäftsstelle in München-
Pasing) will der Förderung des Zeichenkunstunterrichts an allen Schulen
aller Gattungen dienen und hofft damit in dem heranwachsenden Geschlecht
die erhöhte Pflege des Geschmacks zu fördern. Es stellt sich im einzelnen
als besondere Aufgaben: -vorbildliche Schüler-Arbeiten für eine Geachichbe
424 Kleine Beiträge und Mitteilungen
des neuzeitlichen Zeichenunterrichts zu sammeln, Lehrstoff für den Zeichen-
und Kunstunterricht in Einzeldarstellungen zu liefern, eine Bücherei für
das gesamte Fachschrifttum anzulegen, ferner durch Ausstellungen, Vorträge,
Führungen durch Galerien, Sammlungen, Kunstwerkstätten, sowie Lichtbilder-
vorführungen Sinn und Verständnis für Kunst und Handwerk bei dci-
Schuljugend zu wecken und zu bilden und endlich die Verbreitung der
besten Lehrmittel und bewährtesten Schuleinrichtungsgegenstände seinem
Gebietes zu fördern, sowie deren Anschaffung zu erleichtern.
Das Archiv umfaßt vorerst folgende Abteilungen:
L Die Zeichen-Sammlung: Vorbildliche Schülerarbeiten aus Freihand-,
Linearzeichnen und Schriftunterricht (gute Durchschnittsarbeiten, nicht nur
Leistungen besonders Begabter) werden gesammelt für eine Geschichte den
Zeichenunterrichtes; sie dienen auch zu kunstpädagogischen Studien, Unter-
richts- und Ausstellungszwecken.
IL Die Lehrstoffsammlung: Sie enthält kurze Abhandlungen und
Monographien über Künstler, Kunst und Kunstgeschichte, Kunstgewerbe
und Handwerk, Zeichen- und Schriftunterricht, ferner Aussprüche über
Kunst, Zeichnen und Geschmacksbildung und endlich Reproduktionen nach
Photographien, Gemälden und Zeichnungen, die die praktische Anwendung
der Gesetze aus Perspektive, Projektions- und Schattenlehre zeigen, und
speziell für Lebrzwecke Verwendung finden. Auch ist ihr eine Aufgaben-
sammlung aus dem Gebiete des Freihand- und Linearzeichnens angegliedert.
IIL Die Vorbildersammlung: Hier werden Bilderreihen aus dem
Gebiete der freien und angewandten Kunst angelegt (Gegenüberstellung
von Beispiel und Gegenbeispiel).
IV. Die Lichtbildersammlung: Vorführungen.
V. Die Bücherei mit Leseraum: Sammelstelle der gesarrten Fach-
literatur, ferner einschlägiger Bilderwerke und Ausschnitte aus Zeitungen
und Zeitschriften, die im Lesesaal zur Benützung aufliegen.
VI. Die Modellsammlung: Sie umfaßt ausgewählte Natur- und Ge-
brauchsgegenstände für Zwecke des Freihand- und Linearzeichnens.
VII. Die Schulgerätsammlung: Geräte.
VIII. Muster-Schulmuseum: Es gibt Richtlinien für die Ausgestaltung
von Schulmuseen in Verbindung mit den Zeichenraodellsammlungen, wie
deren Errichtung an größeren Anstalten in Aussicht steht.
IX. Vermittlungsstelle: Sie erteilt Aufschlüsse und Auskunft in allen
einschlägigen Fragen und übernimmt die Vermittlung von Aufträgen bei
Anschaffung der in Abteilungen II, III, IV, V, VI, VII und VIII genannten
Gegenstände.
X. Archiv-Ausstellung: In Wochenausstellungen sollen die Neu-
erwerbungen der verschiedenen Abteilungen vorgeführt und belehrende Dar-
bietungen aus den Abt. I, II und III veranstaltet werden.
Ständige Fühlung mit allen Interessentenkreisen wird die vom Bayer.
Schularchiv herausgegebene und von L. M. K. Capeller geleitete reich
illustrierte Monatsschrift (vierteljährlich 2,50 M.) «Zeichen- Archiv» aufrecht
erhalten.
Kleine Beiträge und Mitteilungen 425
Die Ausbildung der weibliclien Jugend in der Säuglings- und Kloiu-
kinderpflege wird in Preußen künftig nicht mehr ausschließlich der Vereins-
arbeit überlassen bleiben, sondern unter der Mitwirkung der amtlichen Kreise
erfolgen. Ein darauf gerichteter Erlaß des Ministers des Inneren (vom 3. Ok-
tober 1916) besagt u. a, das Folgende:
„Die Bekämpfung der Säuglingssterblichkeit und die Gesunderhaltung
der heranwachsenden Jugend hat durch den infolge des Krieges entstandenen
Verlust von Hunderttausenden blühender Männer größte Bedeutung gewonnen.
Unter den zur Besserung dieser Verhältnisse erforderlichen Maßnahmen, die
gegenwärtig von der Staatsregierung beraten werden, ist die Ausbildung der
weiblichen Jugend in den Grundsätzen der Säuglings- und Kleinkinderpflege
von besonderer Wichtigkeit, da gerade die mangelhaften Kenntnisse vieler
Mütter hinsichtlich zweckmäßiger Ernährung und Pflege die Ursache für den
Tod von Tausenden von Kindern bilden. Eines der Mittel, um hierin Wandel
zu schaffen, ist die Belehrung der schulentlassenen weiblichen Jugend
und der jungen Mütter durch öffentliche Vorträge und ähnliche Veranstaltun-
gen, wie dies in vielen Orten schon vor dem Kriege mit Erfolg versucht
worden ist. Angesichts des Ernstes der Stunde müssen diese Bestrebungen
nunmehr ohne Zögern und in allen Bezirken aufgenommen und mit Nach-
druck verfolgt werden."
Sammmelklassen für seh werscli wachsinnige Kinder wurden in Berlin
durch die städtische Schulverwaltung eingerichtet. Sie stehen unter den folgen-
den Bestimmungen: „Die Sammelklasse ist eine Hilfsschulklasse, vereinigt
in sich aber nur schwer -schwachsinnige Kinder, die das Ziel der Unter-
stufe der Hilfsschule nicht erreichen und deren Eltern sich zur Unterbringung
in einer Anstalt nicht entschließen können. An einer Hilfsschule soll nur
eine Sammelklasse bestehen. Sie ist der Hilfsschulleitung mit unterstellt,
nimmt aber zu dem Schulkörper der Hilfsschule eine selbständige Stellung
ein. Die Überweisung eines Kindes in die Sammelklasse erfolgt in der Regel
nach einem ergebnislosen zweijährigen Besuch der Hilfsschulunterstufe und
äxd Grund eines besonderen pädagogischen und psychiatrischen Gutachtens.,
In jedem Falle ist vor der Überweisung den Eltern die Zweckmäßigkeit der
Unterbringung des Kindes in eine Anstalt klar zu machen. Nach der Über-
weisung sind die Eltern anzuhalten, ihr Kind regelmäßig in den der Sammel-
klasse angeschlossenen Hort zu schicken. Die bereits aus der Schulpflicht
entlassenen und zurzeit im Elternhause weilenden, noch nicht vierzehnjäh-
rigen Kinder können auf Wunsch der Eltern in die Sammelklasse nach Maß-
gabe der vorhandenen Plätze aufgenommen werden. Bevor künftig ein Kind
seiner großen geistigen Schwäche wegen von der Schulpflicht völlig ent-
bunden ist, ist es, falls sich die Eltern nicht zur Aufnahme in eine Anstalt
verstehen, einer Sammelklasse zu einem letzten Unterrichtsversuch zu über-
weisen. Vom Besuch der Sammelklasse und damit auch der Schule über-
haupt ausgeschlossen werden nur die völlig bildungsunfähigen oder dauernd
pflegebedürftigen Kinder, für die dann unter Umständen auf Grund des Für-
sorgeerziehungsgesetzes Anstaltszwang erwirkt w^erden müßte. Die Sammel-
klasse soll höchstens 15 Kinder umfassen. Sie ist eine einklassige Schule.
426 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Da die schwer- schwachsinnigen Kinder niemals so weit zu fördern sind, daß
sie die im Deutschen und im Rechnen erreichbaren Fähigkeiten in den Dienst
ihrer Person zu stellen vermögen, so wird auf diese Fächer in der Sammel-
klasse nicht mehr das Hauptgewicht gelegt. Neben der Pflege des Gemütes
wird die Entwicklung und Ausbildung der körperlichen Geschicklichkeit als
das Hauptziel des erziehlichen Unterrichts angesehen und der körperlichen
Betätigung des Kindes der breiteste Raum zugewiesen. Die Hälfte der täg-
lichen Unterrichtszeit wird auf Handarbeitsunterricht verwendet und im
übrigen dem Turnen und Spielen ein angemessener Raum gewährt.
Das Begabungsproblem als Arbeitsthema in der Vereinigung für Kinder-
kunde in Frankfurt. Die rührige Arbeitsgemeinschaft hatte für das laufende
Jahr folgenden Plan aufgestellt: A. Kennzeichen der Begabung.
1. Bericht über Stern, Die Jugendkunde als Kulturforderung. 2. Die Intelligenz-
prüfungen bei Kindern und Jugendlichen. 3. Verhandlungsbericht des 3. Kon-
gresses für Jugendkunde zu Breslau über die Begabungsunterschiede der
Geschlechter. 4. Über das Verhältnis der Jugendbegabung zur Begabung Er-
wachsener. 5. Genie und Talent und Schulbegabung. 6. Ist die Testdiagnose
zur Ermittelung besonderer Begabung geeignet? 7. Einfluß der Herkunft und
Kindheitsentwicklung auf die Begabung. 8. Jugendbegabung und Rasse.
9. Das Wunderkind und das frühreife Kind. 10. Psychoanalyse und Begabungs-
fragen. 11. Die Ausdrucksmöglichkeiten der jugendlichen Begabung. 12. Hand-
schrift und Begabung. 13. Der Schulpsychologe. 14. Gehirnforschung und
Begabung. 15. Eigene Beobachtungen über die Entwicklung hervorragend
Begabter. — B. Förderung der Begabung. 16. Der Bildungswert der
fremden Sprachen. 17. Die Förderung Begabter innerhalb der verschiedenen
Schulgattungen. 18. Die Mädchenerziehung und der Aufstieg der Begabten.
19. Arbeitsschule und Begabungsförderung. 20. Einheitsschule und Begabungs-
förderung. 21. Das Berechtigungswesen und die Begabungsförderung. 22. Sind
Vorschulen nötig? 23. Der psychologische Ertrag der Grafschen „Schülerjahre".
24. Neuere Schuleinrichtungen zur Förderung der Begabten. — C. Verwertung
der Begabung. 25. Bericht über Petersen, Der Aufstieg der Begabten.
.26. Bericht über Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben. 27. Bericht
über Münsterberg, Psychotechnik. 28. Bericht über Piorkowski, Beitiäge zur
psychologischen Methodologie der wirtschaftlichen Berufseignung. 29. Die
Begabungsverwertung im Handwerk. 30. Die Begabungsverwertung im Kauf-
mannsstand. 31. Die Begabungsverwertung in der Technik. 32. Die Begabungs-
bewertung in den gelehrten Berufen. 33. Begabungsverwertung und soziale
Schichtung.
Ein Fragebogen zur Pädagogik des Militärs wird von Dr. W. A. Lay der
Öffentlichkeit unterbreitet. Manche der darin aufgeführten Gesichtspunkte
haben durch die Ereignisse der jüngsten Zeit die dringende Notwendigkeit
ihres gründlichsten Durchdenkens auf Grund persönlicher Erfahrungen ver-
loren. Es wird aber auch ihre Erörterung, wenn ihnen auch, als bereits über-
holt, nunmehr keine unmittelbar praktische Bedeutung mehr zukommen kann,
nicht ohne wissenschafthchen Wert sein. Vieles aus der Fragenreihe aber
muß in der Verarbeitung der Erfahrungen am alten System für die Neugestaltung
der Dinge, gleichgültig wie sie sich wenden möge, von Nutzen werden. Giiind-
^CIK (KU)
Kleine Beiträge und Mitteilungen 427
Satz für Lay ist, daß die soldatische Ausbildung nicht eine Unterbrechung,
sondern eine Weiterführung der Jugendbildung darzustellen habe. Er bittet
um Tatsachen und Gedanken für die folgende Fragenreihe:
,A. Welche körperlichen und geistigen Fähigkeiten machen den Soldaten aus und bedürfen
der Fort- und Ausbildung?
B. Welche Sonderzwecke und Teilziele muß also die Militärpädagogik innerhalb der Gesamt-
pädagogik verfolgen?
C. Wie kann die Kaserne zu einer Lebensgemeinschaft gestaltet werden?
D. Von dem oben gekennzeichneten erziehungswissenschaftlichen Standpunkte aus zeigt die
heutige militärische Ausbildung sich nicht frei von Mängeln und Gefahren in Einrichtungen
und Maßnahmen für die Pflege, Zucht und Unterricht:
a) Welche Mängel kennen Sie? Schildern Sie die Mängel an typischen Einzelfällen.
b) Welche Vorschläge machen Sie zugleich angesichts der angegebenen Mängel, damit die
Militärbehörden ihre Ziele leichter und vollkommener erreichen? Beachten Sie jeweils I.Pflege,
2. Zucht, 3. Unterricht, und ordnen Sie Kritik und Vorschläge nach den Werten folgender
Kulturgebiete :
I. Hygiene: 1. Kräftige Menschen, leiblich und seelisch gesundes Volk; 2. Körperpflege ;-
3. Verletzungen und Krankheiten durch Verschulden von Vorgesetzten, Soldatenkrank-
heiten; 4. Geschlechtskrankheiten.
II. Volkswirtschaft: Wie kann Kraft, Zeit und Geld gespart, der Sinn für Sparsamkeit im
ganzen Militärwesen ausgebildet werden zur Wohlfahrt des einzelnen und des Vaterlandes?
(Behandlung von Waffen, Geräten, Bekleidung us#.). Inwiefern kann Zeit gewonnen werden
für Fortbildungskurse?
UI. Ästhetik: Wo und wie kann das Häßliche vermieden und der Sinn für das Schöne aus-
gebildet und die volkstümliche Kunst gefördert werden? Eigene künstlerische Darstellungen
und Aufführungen. Gelegenheit zu künstlerischer Weiterbildung.
IV, Wissenschaft: 1. Welches sind die Mängel der militärischen Belehrung? (Instruktions-
stunde.) 2. Pädagogisch-methodische Einführung in das Verständnis militärischer Gegen-
stände, Vorgänge, Handlungen. 3. Anwendung der experimental-pädagogischen Forschungs-
methode (Beobachtung, Statistik, Experiment) zur Auffindung der besten Methoden, zur
Erlangung der einzelnen militärischen Fertigkeiten. 4. Militärpädagogische Versuchsstätten,
geleitet von entsprechend vorgebildeten Offizieren (Lehroffizieren). 5. Herstellung der An-
lagen für die einzelnen Waffengattungen und einzelnen militärischen Fähigkeiten und
Fertigkeiten. 6. Gruppenbildung für ihre Einübung. 7. Wie kann Lust und Liebe zur
Sache (statt Langeweile und Widerwillen) erzeugt und erhalten werden? 8. Experimental-
pädagogische Feststellung und Ausscheidung der geistig Minderwertigen.
V. Sittlichkeit (und Sozialctbik): 1. Verstöße gegen die Idee des VoJksheeres : Der Einjährige ;
Standeshochmut und Absonderung; „vornehme" Regimenter 2. Protektion und Beförde-
rung. 3. Die Macht der Unteroffiziere, insbesondere des Feldwebels; ihre Überwachung.
4. Mißbrauch der Macht. 5. Mängel des Beschwerdeweges. 6. „Schmieren". 7. Bös-
willige „Schinderei" und ihre Folgen. 8. Roheiten in Wort und Tat. 9. Bedeutung,
Grenzen und Gefahren des psycho-physischen Mechanismus („Drill"). 10. Schmutz und
Schund in Heer und Marine. 11. Zersetzung gesunder Volkssitten und Volksgebräuche:
„Aufklärung". 12. Feststellung und Ausscheidung des sittlich Abnormen. 13. Massen-
suggestion und Gemeinschaftsgeist. 14. Gute und schlechte Vorbilder, namentlich bei
Vorgesetzten. Förderung des Pflichtbewußtseins; einer für den anderen, alle für das
Ganze der Truppe, der Kaserne und für das Vaterland als Lebensgemeinde. 16. Befehle,
die bis ins einzelne vorgeschrieben werden, und Aufgaben, die Interesse, Verständnis,
Selbständigkeit, Verantwortlichkeit und Pflichtgefühl entwickeln. 17. Falsche Autorität und
Disziplin und ihre Folgen: passiver Widerstand, innere Auflehnung, geheimer Groll und Haß.
VI. Religion. 1. Wie entsteht religiöse Gleichgültigkeit beim Militär, und wodurch wird vor-
handene gefördert? 2. Wie sind Verächter und Spötter der Religion zu behandeln? 3. Wie
ist Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen und Heiligen zu pflegen? 4 Wie gegenseitige
religiöse Duldsamkeit? 5. Wie kann die Eigenheit deutscher Frömmigkeit in Heer und
Marine gefördert werden?
E. 1. Welche Anforderungen muß die zu begründende Militärpädagogik an die Offiziere und
Unteroffiziere stellen? Abstammung, Anlagen, Vorbildung und militärpädagogische Ausbildung.
2. Direkte Kurse fürdie Unteroffiziere. 4. Verwendung der pädagogisch gebildeten deutschen Lehrer."
428 Kleine Beiträge und Mitteilungen
Nachrichten. 1. Als Nachfolger des verstorbenen Professors Theodor
E 1 s e n h a n s ist der bisherige außerordenthche Professor der Universität München,
Dr. Karl Bühl er, zum ordentlichen Professor für Philosophie und Pädagogik
an die Technische Hochschule zu Dresden berufen worden.
2. Dr. Karl Roller, früher Privatdozent an der Technischen Hochschule
in Darmstadt, seit 1. August 1917 Direktor der Höheren Mädchenschule (Lyzeum)
zu Gießen, wurde als Privatdozent für Pädagogik in der Gießener philo-
sophischen Fakultät zugelassen.
3. Prof. Dr. W.Hellpach an der Technischen Hochschule in Karlsruhe hat
einen Lehrauftrag für Psychologie unter Einschluß der Wirtschaftspsychologie
und Pädagogik erhalten. Er liest im 1. Winterhalbjahr: Allgemeine Seelenkunde
mit Übungen (3 Std.), die Grundfragen des höheren Unterrichts (1 Std.), im
1. Sommerhalbjahr: Sozialpsychologie (2 Std.); im 2. Winterhalbjahr: Psychologie,
der Arbeit und Wirtschaft, der Berufs- und der Betriebsführung, mit Übungen
(4 Std.); im 2. Sommerhalbjahr: Allgemeine Erziehungslehre (2 Std.).
4. Der Oberlehrer am Friedrich- Wilhelm-Gymnasium in Köln, Dr. Theodor
Litt, ist zum a. o. Professor der Pädagogik an der Bonner Universität er-
nannt worden.
5. Der frühere Straßburger Universitätsprofessor Dr. Theobald Ziegler,
der seine eifrige Arbeit im Gebiete der pädagogischen Wissenschaft bis in
die jüngste Zeit weiterführte, ist auf einer Vortragsreise in einem Feldlazarett,
71 Jahre alt, vom Tod ereilt worden.
6. Oberstudienrat Georg Kerschensteiner wiu'de zum Honorarprofessor
an der Universität München ernannt.
Einzelbesprechungen.
Max Verworn, Die biologischen Grundlagen der Kulturpolitik. 2. Aufl.
Jena 1916. Gustav Fischer, 60 S. 1,20 M.
Ziel dieser kleinen sehr interessanten Schrift ist: „die kulturgeschichtlichen
Probleme, welche der Ausbruch des Krieges bei uns ausgelöst hat, vom Stand-
punkte der Physiologie und Psychologie zu betrachten (3). Zunächst erörtert
V. das Wesen der objektiven Erkenntnis, das in einer widerspruchslosen Über-
einstimmung unsers Denkens mit den Objekten gelegen ist" (6). Diese Über-
einstimmung ist aber nur auf dem Wege einer fortschreitenden Anpassung zu
erreichen, weshalb die Vervollkommnung des Denkens das oberste Ziel einer
politischen Gemeinschaft sein sollte, auch die ethischen Begriffe und Handlungen
werden dann immer mehr der Wirklichkeit angepaßt sein. Nach Erörterung
des Begriffes Kultur wird die Frage aufgeworfen, ob der Krieg unvermeidlich ist
und welche Bedeutung ihm für die Kultur zukommt. Prinzipiell sind Kriege
nicht unvermeidlich, sie sind die direkte Form des Kampfes ums Dasein, aber
in ihrer Bedeutung für die Förderung der Kultur der indirekten — der fried-
lichen Konkurrenz der Individuen — bei weitem unterlegen, denn durch sie
wird sowohl die Gesamtheit der inneren, wie die der äußeren Kulturwerte ver-
ringert. Das einzige Rezept zur Vermeidung des Krieges ist die intensive und
extensive Hebung des kritisch-experimentellen Denkens und eines widerspruchslos
daran angepaßten Handelns (27), dann wird nämlich auch ein politisches System
imstande sein, einzusehen, daß der Krieg ein durchaus untaugliches Mittel ist,
den Konkurrenzkampf mit anderen aufzunehmen, wie es England in diesem
Weltkriege versucht hat, daß ferner ein Weltreich mit Unterdrückung der
Einzelbesprechungen 429
nationalen Selbständigkeit — ebenfalls Englands Ziel — ein biologischer Wider-
spruch ist, daß vielmehr ein solches Weltreich — ein Kulturorganismus dritter
Ordnung — nur das Produkt einer sehr allmählichen organischen Entwicklung
ist, zu der erst die Anfänge vorliegen. Auch in der inneren Politik zeige Eng-
land Fehler im Denken.
Bonn. Oskar Kutznor.
Dr. Heinrich Schmidt, Geschichte der Entwicklungslehre. Leipzig 1918. Kröner.
549 S. 12 M.
Durch die Hand seines Schülers und Freundes, des Verwalters im Haeckelarchiv der
Universität Jena, verwirklicht sich in diesem Werke eine Sehnsucht Ernst Haeckels : der Ver-
such einer geschichtlichen DarsteUung von dem Eindringen des Entwicklungsgedankens in alle
Gebiete des menschlichen Denkens — eine Aufgabe, die angesichts des zu verarbeitenden
ungeheuren Materials die Kraft des einzelnen Forschers wohl zu übersteigen scheint. So kann
nur in gedrängter Darstellung eine Übersicht erwartet werden, zumal sehr wichtige Teilgebiete
vorerst noch der erforderlichen monogi-aphischen Behandlung harren. Den Ausgang nimmt das
Werk von der Schöpfungslehre. Es verfolgt dann, beginnend mit altindischen Lehren, den Ent-
wicklungsgedanken im philosophischen Denken und im besonderen die Herausarbeitung des Ent-
wicklungsbegriffes. Damit ist der Boden bereitet, die Gebiete der Kosmologie, der Chemie,
Geologie, Biologie und Anthropologie zu betreten. Es ist aus der Sache heraus verständlich,
w^enn dabei die biologischen Teilgebiete und Sonderfragen eine gründlichere Darstellung er-
fahren haben. Psychologie und Pädagogik, für die der Entwicklungsgedanke von ganz ent-
scheidender Bedeutung geworden ist, w^erden beide nicht behandelt; doch rückt das Vorwort
weitere Bände in Sicht, in denen sie zu ihrem Rechte kommen sollen.
Wir sind zu unserem Bedauern aus äußeren Gründen gezwungen, uns nur mit dieser
kurzen Anzeige des bedeutsamen Werkes begnügen zu müssen. Es mag aber eine ausführ-
lichere Würdigung günstigeren Zeiten noch vorbehalten sein.
Leipzig. Rieh. Tränkmann.
Deutsche Psychologie, herausgegeben von Fritz Giese. Verlag Wendt & Klauwell.
Langensalza 1916 — 18: 1. Band.
Die stattliche Reihe fachpsychologischer Zeitschriften, die wir besaßen, hat im Laufe der
Kriegsjahre eine bedeutende Verringerung erfahren und die noch erscheinenden Fachschriften
sind an Umfang sehr schmächtig geworden. Das ist kein guter Stand für eine Wissenschaft
die mehr als je vom praktischen Leben in Anspruch genommen wird und auf einmal Dienste
leisten soll, die sich im Frieden niemand im Traume zu erhoffen wagte. Um so freudiger muß
man den nicht beengten Unternehmungsgeist des neuen Verlegers und Herausgebers der
„Deutschen Psychologie" begrüßen. Es möge der Titel der Zeitschrift, die sich der reinen und
angewandten Seelenkimde dienstbar macht, ein gutes Zeichen für die weitschichtige Entfaltung
der im Kriege recht beträchtlich gewachsenen deutschen Psychologie sein.
Der stattliche 1. Band, der abgeschlossen vorliegt, bringt eine Anzahl großer und wertvoller
Arbeiten, die infolge ihrer gründlichen Durchführung größtenteils auch weitere Kreise inter-
essieren werden. Insbesondere werden Pädagogen, Ärzte, Juristen nicht daran vorbeigehen
dürfen. Die gründliche Berichterstattung über Neuerscheinungen ist uns besonders lieb ge-
worden, und die neue Art der Bibliographie zu den Hauptarbeiten erscheint sehr praktisch,
insofern der Leser nicht durch die tausenderlei Anmerkungen gestört und der Forscher dort
auf die ihn interessierenden Grundlagen der behandelten Probleme aufmerksam gemacht wird.
Die psychobiologischen Grenzgebiete fanden durch eine Abhandlung Austens Berück-
sichtigung „über die Beeinflußiing der arteigenen Entwicklung durc!» die Nervendrüsen und durch
das Nervensystem" (S. 193 ff.). Kretzschmar legt die Beziehungen zwischen „Psychologie
der Kulturgeschichte und Völkerpsychologie* kritisch auseinander (S. 30 ff.). Die durchaus
bündigen Anschauungen eines Ludwig Klages finden eine glänzende Zusammenfassung in
seiner Arbeit über „Geist und Seele" und erläutern die Eindringung in das nicht leichte System
des rasch namhaft gewordenen Charaklerologen (S. 281, 361). Willi Neff bringt einen experi-
mentellen Beitrag „zur Psychologie des unmittelbaren Behaltens und des Wiedererzählens'
(S. 109); Else Voigtländer „über einen bestimmten Sinn des Wortes „unbewußt" (S. 63).
Die psychologisch-ästhetische Seite der Psychologie-Forschung ist durch Müller-Freientels'
Studie „zur Psychologie des Komischen" vertreten (S. 20, 145). Insbesondere widmet sich die
Zweitschrift den okkulten Grenzfragen, worüber auch in der Bibliographie Berichte gegeben sind.
430 P^inzelbesprechungen
Die „Kriegsfrömmigkeit" analysiert A. Messer (S. 201). K. Jagow bringt interessante Auf-
zeichnungen über „Fische im Aberglauben früherer Zeiten" (S. 50). Mela Escherich stellt
„das Visionenwesen in den mittelalterlichen Frauenklöstem" dar (S. 153). Und schließlich muß
der umfangreichen Studie des Erforschers der emotionalen Ichwelt und des Religionspsychologen
K. Oesterreich über „den Besessenheitszustand, seine Natur und seine religions- und volks-
psychologische Bedeutung" (S. 1, 123, 214, 441, 481) gedacht werden. Der experimental-
pädagogische Reichtum des 1. Bandes ist in drei umfangreichen Untersuchungen begründet.
M. Kesselring bringt seine längst erwarteten Untersuchungen über „die Stellung der Schüler
zu den Unterrichtsgegenständen" (S. 313, 416), Frau Hösch-Ernst einen „Beitrag zur Psycho-
logie der Schulkinder beim Betrachten von Bildern" (S. 233) und J. Schrenk eine Unter-
suchung über „die kategoriale Beschaffenheit der Schüleraussagen" (S. 397).
So ist aus dem Unternehmen eine vielseitige Beachtung des weiten Feldes ersichtlich, wio
sie dem Fachpsychologen und insbesondere dem Praktiker und gebildeten Laien kaum besser
in der Zeit der Papiernot geboten werden kann. lu unseren periodischen Sammelberichten
werden wir auf die pädagogisch wichtigen Arbeiten noch zurückkommen.
Marktsteft i. B. W. J. Ruttmann.
Neudrucke zur Psychologie, herausgegeben von Fritz Gie.se, Verlag von Wendt & Klauwell.
Langensalza 1917/18.
1. Band: W. v. Humboldt, Über den Geschlechtsunterschied. Über die männliche und weib-
liche Form.
2. Band: Materialien zur Blindenpsychologie. Zu.sammengestellt und bearbeitet von Dr. Ferdi-
nand V. Gerhardt.
3. Band: Der Krieg und die komplementäre Kulturpsychologie.
1. Heft: K. Wittig, Die ethisch minderwertigen Jugendlichen und der Krieg.
Wie die „Deutsche Psychologie", so wenden sich auch die im gleichen Verlage heraus-
gegebenen „Neudrucke" an Fachgelehrte und gebildete Laien zur Vertiefung des psychologischen
Wissens. Die in neuerer Zeit eifrig gepflegte Sexualpsychologie, die bekanntlich O. Lipmann
im ersten die jugendjiche Seite zusammenfassenden Beitrag in seinen „Psychischen Geschlechts-
unterschieden" geliefert hat (Lpzg. 19071, findet eine eingehende historische Begründung in den
verstreuten Einsichten W. v. Humboldts. Die bis in jüngste Zeit so vernachlässigte Psycho-
logie des Minderwertigen wird durch den Sammelband v. Gerhardts weitschichtig angeregt,
sofern auf Probleme hingewiesen wird, die im allgemeinen (identisch dem Versuche Bürklens)
nur durch die Blinden selbst aufgeklärt werden können. Die nicht weniger zeitgemäßen Be-
richte und Urkunden des Strafanstaltslehrers Wittig geben einen wichtigen Eindruck von der
Gefahr der Verwahrlosung in der Kriegszeit und tragen bereits zahlreiche pädagogische Keime,
die der Praktiker hegen und entwickeln muß. Die Fortsetzung der komplementären Kultur-
psychologie mit Bezug auf den Krieg wird die Zeitfragen des höheren imd niederen Seelen-
lebens in vielseitiger Weise zu erörtern suchen. Das Arbeitsziel Gieses und seiner Mitarbeiter
darf als ein sehr wertvoller Beitrag zum Verständnis der dem Kulturmenschen von ehedem so
unnatürlich scheinenden Ereignisse und Erscheinungen betrachtet werden. Die Beseitigung von
ehemals unterbewußten und nunmehr sich aufdrängenden Schäden am Volkskörper kann durch
wissenschaftliche Bloßlegung der Zusammenhänge nur gefördert werden.
Marktsteft i. B. W. J, Ruttmann.
Max Dessoir und Paul Menzer, Professoren der Philosophie an den Universitäten zu Berlin,
und Halle, Philosophisches Lesebuch. 4, AufL Stuttgart 1917. Enke. 321 S. 6,00 M.
Das philosophische Lesebuch von Dessoir und Menzer, erstmals 1903 erschienen und in den
folgenden Auflagen mannigfach verbessert und vor allem bereichert, will didaktischen Zwecken
dienen, sowohl dort, wo mit ernstem Willen auf eigenem Wege der Zugang zu den großen
Denkern gesucht wird , als auch in der geordneten Unterweisung auf den Universitäten , in
der es mehr oder minder einer Ergänzung zu den Vorlesungen bedarf, die den Studenten an
die philosophischen Klassiker führt. Auch an die philosophische Propädeutik in den höheren
Schulen, was wir unterstreichen möchten, ist gedacht. Es heißt darüber bemerkenswert im
Vorwort: „Wie die Dinge sich jetzt gestaltet haben, werden Elemente der Philosophie den
Schülern der obersten Klassen zum Ersatz für andere, ihnen verlorene Bildungsbestandteile dar-
geboten werden müssen; im Grunde kann nur fraglich sein, ob eine historische oder syste-
matische Unterweisung vorzuziehen ist. Mit Hilfe dieses Werkchens kann beides miteinander
verbunden und das Selbstdenken des Jünglings, das hitzig zur Weltanschauung emporstrebt, aul
die bestimmten Probleme hingeleitet werden. Selber denken lernt man am besten an einem
Einzelbespreohungen 4g j^
Stolfe, der durch und durch Gedanke ist, und dieser Stoff kann nicht anders als durch Eigen-
tätigkeit wahrhaft aufgenommen werden."
Auf solchen Zweck hin haben die Herausgeber 23 Philosophen der Vergangenheit, zeitlich
geordnet, das Wort gegeben. Vielleicht fügt eine neue Auflage zu ihnen noch Lipps und Wundt.
Die Auswahl der Texte ist teils nach geschichtlicher und sachlicher Wichtigkeit, teils nach
schöner Darstellung und der kennzeichnenden Kraft geschehen. Vornehmlich sind neben er-
kenntnistheoretischen Grundfragen die allgemeinen Denkprobleme berücksichtigt; unter den
fehlenden Gebieten dürfte die Psychologie besonders ungern vermißt werden. Wenn vor größerer
Schwierigkeit nicht ausgewichen ist, so wird dies damit gerechtfertigt, daß eben Vertiefung in
philosophische Texte eine ernste, kraftfordernde Angelegenheit sei und daß ein Lesebuch, das mit
der Einstellung auf geistige Erholung diesen Sachverhalt verdeckt, nur schaden dürfte. Immerhin
würde sich — besonders für die Verwendung im Schulunterrichte — , ohne die Höhenlage des
Ganzen herabzudrücken, die Auswechselung einiger besonders schwieriger Abschnitte empfehlen.
Eine gewiß angebrachte Handführung ist übrigens durch nicht zu sparsam angefügte Erläute-
rungen gegeben. Diese selbst aber rechnen auch schon mit einem nicht geringen Grade philo-
sophischer Schulung; sie wollen wohl aber auch zumeist weniger Verständnishilfen geben, als
vielmehr das Denken zu weiterem Ausgreifen ermuntern und anleiten. Die kleine Äußerlichkeit
eines Verweises inmitten des Textes auf die jeweils betreifende Erläuterung würde den prak-
tischen Gebrauch fördern, auf den sonst die äußere Form des Buches in jeder Weise, so durch
Zeilenzählung, durch gelegentliche freie Einfügung von Überschriften, durch Übersetzung der
fremdsprachigen Texte, durch Anwendung der jetzt geltenden Rechtschreibung und Zeichen-
setzung vorsorglich Bedacht genommen hat.
Im Lehrerinnenseminar haben wir in Ermangelung eines Lehrbuches, das sich auf die dort
in Verbindung mit der Psychologie und Pädagogik zu betreibende philosophische Propädeutik
einstellt, versuchsweise das Dessoir-Menzersche Lesebuch in einzelnen Teilen benützt und
schätzen gelernt. Wir brauchen dort dringend ein eigens für die besonderen Zwecke der
heute so bedeutend wissenschaftlich vertieften Lehrerbildung eingerichtetes Buch, das die
Schwierigkeit etwas mindert und inhaltlich noch anders auswählt.
Leipzig. Otto Scheibner.
W. Haas, Die Seeledes Orients. Grundzüge einer Psychologie des orientalischen Menschen,
Jena 1916. E. Diederichs. 46 S. 1,00 M.
Eine derartig anerkennende Beurteilung der Studie zuteil werden zu lassen, wie es im
Theol. Lit.-Ber. 1916, 11. Heft, S. 272 Simon-Barmen vermochte, ist mir leider versagt. Das
Buch ist im wesentlichen reinste konstruktive Psychologie, die mit der Wirklichkeit oft in
härtestem Widerspruch steht. Wenn man die Definition des okzidentalen Menschen-Typus, wie
ihn der Verf. annimmt, nämlich als stetig apperzipierendes, die Mannigfaltigkeit der Eindrücke
vereinheitlichendes Ich, in sein logisches Gegenteil verkehrt, ergibt sich der orientalische
Menschentyp, wie ihn d«r Verf. schildert, so daß man den Eindruck gewinnt, der Verf. hat
zum abendländischen Menschen das Gegenteil entwerfen wollen. Ein völlig vager, abstrakter
Begriff des Orientaliechen liegt so dem Buch zugrunde, das in der Wirklichkeit nicht von ferne
eine derartige persönliche Vereinheitlichung zuläßt. Wie soll man in einem buddhistischen
Mönch ein Beispiel für das orientalische Nebeneinander der seelischen Inhalte sehen können?
Wie würde wohl der Verf. die Polarvölker oder die amerikanischen Völker psychologisch ein-
ordnen, da es doch eigentlich andere Menschheitstypen neben den beiden Haas'schen, wenn
man sie akzeptiert, kaum geben dürfte?
Insofern man aber von den Begriffen des Orients und Okzidents absieht, könnte man in
des Verf.s Skizze die Ansätze zu einer allgemeinen Kulturpsychologie finden, insofern sich
offenbar in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit eine immer größer werdende Intensität
des seelischen Lebens nach Inhalt und Umfang herausgebildet hat. Diese größere Intensität des
seelischen Lebens würde man mit der Terminologie des Verf. als die (okzidentalische) ver-
einheitlichende Kraft des Ich bezeichnen können , während das Primitive die seelischen Inhalte
mehr oder minder „unverknüpft" nebeneinander zeigt. Fernerhin finden sich neben vielen
übertriebenen Sätzen auch manche brauchbare Bemerkungen, besonders über die indischen
Religionsformen, die aber durchaus nicht neu sind. Trotz aller behaupteten einheitlichen Kon-
zeption des seelischen Typus des orientalischen Menschen kann ich aber das Gefühl nicht los
werden, daß dem Verf. bei den verschiedenen Abschnitten seines Buches verschiedene orien-
talische Typen, allerdings recht anschaulich, vor Augen gestanden hätten ; so z. B. bei der Schil-
derung der verhaltenen Rache eben ein chinesischer Kuli, oder bei der Schilderung der oriön-
432 Einzelbesprechungen
tauschen Würde ein Beduine, oder bei der Schilderung der Monotonie dea Lebens ein indischer
Jogin oder ein buddhistischer Asket.
Leipzig. Rudolf Lehmann.
Max Verworn, Zur Psychologie der primitiven Kunst. Ein Vortrag mit 33 Ab-
bildungen im Text. Zweite Aufl. Jena 1917. Gustav Fischer. 48 S. 1,00 M,
Max Verworn meint in seiner Schrift, daß die physioplastische Kunst, d. h. die naturgetreue
Darstellungsweise der alten Mammut- und Bisonjäger der Renntierzeit, wie diese an den b&-
rühmten nordspanischen und südfranzösischen Fundstellen , den Höhlen von Altamira , La
Mouthe usw. , zu beobachten ist , der historische Anfang der Kunst überhaupt sei. Die Kon-
zeption verkehrter Vorstellungen, wie der Seelenidee und der darauf beruhenden Spaltung des
menschlichen Wesens in Leib und Seele, hätten diese schöne und reine naturwahre Kunst
mehr und mehr zur ideoplastischen entstellt, so daß Schöpfungen einer zügellosen, bizarren,
auf Schritt und Tritt von Geisterfurcht erfüllten Phantasie schließlich daraus gefolgt wären, die
von der Natur sich völlig entfernt hätten. An den ideoplastischen Zeichnungen der Kinder wie
fast aller heutigen Naturvölker, mit Ausnahme der Buschmänner Südafrikas, könne man diese
traurige Entwicklung, die nun zum Erbfehler der Menschen geworden ist, noch unmittelbar
konstatieren.
Dieser „entwicklungsgeschichtliche" Versuch des als Physiologen berühmten Verfassers
ist eine weder psychologisch noch historisch haltbare Konstruktion. Erstens ist die Frage, ob
die Kunst der einstigen Höhlenbewohner Südfrankreichs und Nordspaniens der Diluvialzeit über-
haupt als Anfang einer kulturgeschichtlichen Entwicklung angesehen werden darf, oder nicht
viel mehr als der Abschluß einer vorausgehenden, unserer Kenntnis bis jetzt entzogenen Ent-
wicklung. Damit wird das wichtigste historische Argument Verwoms völlig schwankend.
Zweitens vergißt V. ganz und gar, daß das Zeichnen eine Kunst ist, die trotz aller angeborenen
Fähigkeiten dazu erlernt bzw. geübt sein will. Nach V. müßte der Mensch als vollkommener
Physioplastiker geboren werden, und je älter er wird und je mehr er Vorstellungen und Ge-
danken bildet, um so mehr setzt er sich dann der Gefahr aus, der er auch wie V. im all-
gemeinen unterliegt, zum ideoplastischen, naturwidrigen Darsteller zu werden! Hier zeigt sich
die eigentümliche philosophische Auffassung des V. vom Seelenleben ebenso deutlich wie in
dem Versuch, das Geheimnis des künstlerischen Schaffens durch Anatomie der Gehirnvorgänge
zu lösen, wie er es S. 15 f. seiner Schrift unternimmt.
Leipzig. Rudolf Lehmann.
Paul Dubois, Professor an der Universität Genf, Über den Einfluß des Geistes auf
den Körper. 7. Aufl. Bern 1918. A. Francke. 108 S. 1,80 M.
Jeglicher Erörterung metaphysischer, psychologischer und physiologischer Fragen aus-
weichend, geht die Schrift auf die praktische P'orderung einer geistigen Hygiene aus. Sie belegt
mit anschaulichen Beispielen — teils dem Alltag, teils der ärztlichen Praxis entnommen — die
bekannte Tatsache, daß sich viel körperliches und seelisches Mißbehagen von suggestiver Be-
einflussung herleitet und daß ein fester und starker Wille zu leibgeistiger Gesundheit manchem
inneren und äußeren Übel vorbeugt oder es verscheucht. In solcher Einstellung entpuppt sich
die Schrift schließlich entgegen den Vermutungen, die ihr Titel aufkommen lassen muß, als ein
pädagogischer Vortrag in volkstümlicher Form. Verkündet sie in der Forderung einer auf das
Gesunde, Frische, Herzhafte, Frohe zielenden Selbsterziehung auch keine neue Weisheit, so
doch eine solche, die in der Stimmungslage unserer Zeit nicht oft genug gepredigt werden kann.
Leipzig. Otto Scheibner.
F'roL Dr. R. Zander, Vom Nervensystem, seinem Bau und seiner Bedeutung für
Leib und Seele im gesunden und kranken Zustande. (Natur u, Geisteswelt Nr. 48.)
3. Aufl. Mit 27 Abb. Leipzig 1918. Teubner. 134 S. 1,50 M.
Der Ausgang vom tierischen Nervensystem, die Ausmündung in gesundheitliche An-
weisungen, die Einbeziehung psychologischer Gebiete, die Berücksichtigung von Nervenkrank-
heiten, femer die fast überreiche Angabe von Quellenliteratur sind Vorzüge dieses Bändchens,
die es vor andereir volkstümlichen Darstellungen des wichtigen Gegenstandes nicht zurück-
treten lassen. Die bildliche Ausstattung macht nicht die üblichen Anleihen aus anderen Werken,
ivät aber unseres Erachtens zu spärlich. Tr.
Druek von 3. B. Hirschfeld (A. Pries) in Lsiptüg.
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