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Full text of "Zeitschrift für experimentelle Pädagogik"

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ZEITSCHRIFT  FÜR 

PÄDAGOGISCHE 
PSYCHOLOGIE 

UND  EXPERIMENTELLE  PÄDAGOGIK 


HERAUSGEGEBEN  VON 
O.  SCHEIBNER   UND   W.  STERN 

UNTER  REDAKTIONELLER  MITWIRKUNG  VON 
A.  FISCHER  UND  H.  GAUDIG 


XIX.  JAHRGANG 


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1918 
VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


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Inhaltsverzeichnis. 


A.  Abhandlungen. 

Seite 

Zum  Problem   der  Schalklasse.    Von  Oberschulrat  Prof.   Dr.   H.   Gaudig   in 

Leipzig 1 

Über  Persönlichkeitsldeale  im  höheren  Jugendalter.  Statistische  Untersuchung 
über  die  Ideale  von  Schülern  an  norwegischen  Lehrerschulen.  Von 
Dr.  M.  L.  Reymert  in  Christiana 10 

Das   musikalische  Wunderkind.      Von    Privatdozent    Dr.    G6za    Revecz    in 

Budapest 29 

Ein   unterrichtspsychologischer  Grundsatz   über   die  Aneignung   verwechselbarcr 

Begriffe.     Von  Professor  O.  Ohmann  in  Berlin 34 

Einheitskindergärten?    Von  Nelly  Wolffheim  in  Berlin 41 

Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher.    Von  Prof.  Dr.  W.  Stern  in 

Hamburg .     .       65 

Über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  bei  der  Aufnahmeprüfung 
in  ein  Lehrerinnenseminar.  Von  O.  Melchior  und  A.  Penkert  in 
Hamburg 100 

Die  psychologischen  Schüleruntersuchungen  zur  Aufnahme  in  die  Berliner  Be- 
gabtenschulen.  Von  Dr.  W.  Moede  und  Dr.  C.  Piorkowski  in 
Berlin 127 

Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg.    Von  Prof.  Dr. 

W.  Stern 132 

Kindergartenfragen  nach  dem  Kriege.  Von  Universitätsprofessor  Dr.  A.  Fi  s  c  h  e  r 

in  München 145 

Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen.  Von  Henriette  Gold- 
schmidt in  Leipzig 161 

Zur  Forderung  einer  Psychotcchnik  der  Beobachtung.   Von  Präparandenlehrer 

W.  J.  Ruttmann  in  Marktsteft 172 

Ergänzung  von  Stichworten  zu  einer  ganzen  Geschichte.  Eine  Nachprüfung  der 
Ergebnisse  E.  Meumanns  auf  Grund  seiner  „Kombinationsmethode". 
Von  Privatdozent  Dr.  G.  Weiß  in  Jena 176 

Probleme  und  Apparte  zu  einer  experimentellen  Pädagogik.    Von  Privatdozent 

Dr.  H.  Rupp  in  Berlin 179;  245;  286;  395 

Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten.  Gut- 
achtliche Äußerungen  zu  der  päd.  Konferenz  im  Preuß.  Ministerium 
der  geistl.  \ind  Unterrichts-Angelegenheiten  am  24.  u.  25.  Mai  1917. 
Vorbemerkung.    Von  der  Schriftleitung 209 

1.  Über  Ordinariate   für  Pädagogik   in   den    philosophischen  Fakultäten. 
Von  Universitätsprofessor  Dr.  E.  Becher  in  München 210 

2.  Thesen   über    pädagogische   Professuren.     Von   Universitätsprofessor 

Dr  J.  Cohn  in  Freiburg 214 

3.  Pädagogikprofessuren.  Von  Dr.  R.  Lehmann,  Prof.  an  der  Akademie 

in  Posen 219 

4.  Thesen  betr.  die  Pflege  der  Erziehungswissenschaft  an  der  Universität. 
Von  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr.  P.  Natorp  in  Marburg 222 

5.  Pädagogik   als  Unterrichtsfach.    Von   Prof.   Dr.  W.  Stern   in  Ham- 
burg  225 


IV 


Inhaltsverzeichnis 


Seite 

6.  Leitsätze  zur  Hochschulvertretung  der  Pädagogik.    Von  Universitäts- 
professor Dr.  E.  R.  Jaensch  in  Marburg 273 

7.  Zur  Frage   der  Lehrstühle  für  Pädagogilc  an  den  Uniyersitäten.    Von 
Schulrat  K.  Muth  es  ins,  Seminardirektor  in  W^eimar 275 

8.  Zum  Begriff  der  Hochschulpädagogik  nach  den  Bedürfnissen  der  Jugend- 
und  Volkserziehung.    Von  Geheimrat   A.  Sickinger,  Stadtschulrat 

in  Mannheim 279 

9.  Zur  Frage    der  Vertretung   der   Pädagogik  an   der  Universität.    Von 

Privatdozent  Dr.  M.  Brahn  in  Leipzig 417 

Anhang.    Die  Leitsätze  der  Konferenz.    Von  Geh.  Reg.-Rat  Prof.  Dr, 

E.  Troeltsch    in   Berlin,    Prof.    Dr.    J.  Ziehen   in  Frankfurt, 

Universitätsprofessor  Dr.  E.  Spranger  in  Leipzig 230 

Über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern.    Von  Prof.  Dr.  A.  Fischer  in 

München 234 

Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  und  der  experimentellen  Pädagogik.    Von 

Lehrer  Dr.  H.  Götz  in  Leipzig 257 

t]ber  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern.    Von  K.  Köhn  in 

Tübingen 296 

Bemerkungen  zur  Frage  der  Begabtenauslese.   Von  Dr.  phil.  et  med.  E.  Stern 

in  Straßburg 332 

Von  der  Denkverfassung  der  deutschen  Seele  in  der  Zeit  der  großen  Krisis.    Von 

Oberschulrat  Prof.  Dr.  H.  Gaudig  in  Leipzig 353 

Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn   als  Charaktereigenschaften  und  als 

Erziehungsziele.  Von  Universitätsprofessor  Dr.  F.  E.  O.  Schult ze  in 

Frankfurt  a.  M 360 

Über  Spielzeug  als  Erziehungsmittel  und  die  Einrichtung  öffentlicher  Spielzinmier 

und  Beobachtungsstätten.    Von  Seminaroberlehrer  Prof.  O.  Frey  in 

Leipzig 373 


Verzeichnis  der  Verfasser. 


Seite 

Becher,  Erich 210 

Brahn,  Max    > 417 

Cohn,  Jonas 214 

Fischer,  Aloys 145,  234 

Frey,  Oskar 373 

Gaudig,  Hugo 1,  353 

Goldschmidt,  Henriette       ....     161 

Götz,  Hermann 257 

Jaensch,  E.  R 273 

Köhn,  Karl 296 

Lehmann,  Rudolf 219 

Melchior,  0 100 

Moede,  Walther 127 

Muthesius,  Karl 275 


Seite 

Natorp,  Paul 222 

Ohmann,  0 34 

Penkert,  O. 100 

Piorkowski,  Gurt 127 

R6v6sz,  G6za 29 

Reymert,  L 10 

Rupp,  Hans     .     .'.     .176,245,286,395 

Ruttmann,  W.  J 172 

Schnitze,  F.  E.  Otto 360 

Sickinger,  Anton 279 

Stern.  Erich 332 

Stern,  William 65,  132,  225 

Weiß,  Georg 176 

Wolffheim,  Nelly 41 


B.  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

(Wegen  Raummangels  beschränlit  worden.)  Seite 

Die  Pädagogik  in  der  neuen  preußischen  Oberlehrerprüfung 44 

Die  Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  an  den  deutschen  Hochschulen 

im  Winterhalbjahr  1917/18 •    •    .  46 

Der  zweite  Ungarische  Landeskongreß  für  Kinderforschung 49 

Breslaucr  Begabtenauslese 143 

Förderung  begabter  Kleinstadt-  und  Landkinder  .             143 


Inhaltsverzeichnis  V 


Seite 
Entwurf  eines  psychographischen  Beobachtungsbogens  für  begabte  Volksschüler 

in  Berlin 144 

Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  an  den  deutschen  UniTersitäten  Im 

Sommerhalbjahr  1918     .    .    . 418 

Pädagogische  Abteilung  im  Niederländischen  Museum  für  Bitern  und  Erzieher   .  422 

Bajrisches  Schulmuseum  für  Zeichnen 423 

Die  Ausbildung  der  weiblichen  Jugend  in  der  Säuglings-  und  Eleinkinderpflege  425 

Sammelklassen  für  schwerschwachsinnigo  Kinder 425 

Begabungsproblem    als  Arbeitsthema  in  der   Vereinigung    für  Einderkunde   in 

Frankfurt 426 

Fragebogen  zur  Pädagogik  des  Militärs 426 

Nachrichten 50.  428 


Inhalt  der  Nachrichten. 

Seite 


Seite 
Hochschulsonderkurs  für  Jugend- 

görichtsarbeit  in  Berlin  ....       51 
Ein  Landesschulrat  für  Bayern     .       50 
Pädagogische     und     staatswissen- 
schaftliche Fortbildungskurse  für 

Lehrer  in  Düsseldorf 51 

Zulassung  studierender  Volksschul- 
lehrer zur  Promotion  an  der  Uni- 
versität Jena 51 


Ein  Preisausschreiben  zum  Problem 

der  Begabtenauslese 272 

K.  Bühler 428 

W.  Hellpach 428 

G.  Kerschensteiner 428 

Th.  Litt 428 

K.  Roller 428 

Th.  Ziegler  f 428 


C.  Literaturbericht.  1) 

1.  Sammelberichte. 

Abhandlungen  aus  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie.    Bd.  11  u.  12. 

Von  W.  J.  Ruttmann 268 

Die  kindliche  Phantasie.     Von  Ingeborg  Schönfeld 236 

n.   Einzelberichte  und  Besprechungen. 

Balsiger,  Einführung  in  die  Seelenkunde.     .     .          60 

Bernfeld,  S.,  Über  Schülervereine 269 

Blüher,  Hans,  Die  Intellektuellen  und  die  Geistigen 206 

Br ohmer,  Dr.  P.,  Seminarlehrer  in  Eilenburg,  Sexuelle  Erziehung  im  Lehrer- 
seminar       208 

Buchberge r,  Dr.,  Die  Jugendfürsorge  und  Fürsorgeerziehung 63 

Buchenau,  Dr.  Arthur,  Kurzer  Abriß  der  Psychologie 59 

Chotzen,  Dr.  med.  Mart.,  Die  Notwendigkeit  einer  häuslichen  sittlichen 

Erziehung 208 

Dessoir,  Max,  u.  Me'nzer,  Paul,  Philosophisches  Lesebuch 430 

Deuchler,G.,  Über  die  Bestimmung  von  Rangkorrelationen  aus  Zeugnisnoten  272 
Dittrich,  Dr.  phil.  Ottmar,    Prof.  an  der  Univ.  Leipzig,    Individualismus, 

Universalismus,  Personalismus .  205 

Dubois,  Paul,  Über  den  Einfluß  des  Geistes  auf  den  Körper 432 

Franken,  A.,  Bilderkombination.    Ein  Beitrag  zum  Problem  der  Intelligenz- 
prüfung          .     .  271 

Haas,  W.,  Die  Seele  des  Orients 431 

Häb erlin,  Paul,  Das  Ziel  der  Erziehung 59 

1)   Der  Literaturbericht  mußte  wegen  Raummangels  t}eschrankt  werden ;  er  erfährt  im  folgenden  Jahr- 
gang seine  Ergänzung. 


VI  Inhaltsverzeichnis 

Seite 
Hey  manns,  G.,  u.  Wiersma,  E.,  Verschiedenheiten  der  Altersentwickelung 

bei  männlichen  und  weiblichen  Mittelschülern 270 

Huth,  Albert,  Ein  Jahr  Kindergartenarbeit .  348 

Giese,  Fritz,  Deutsche  Psychologie 429 

,,            „        Neudrucke  zur  Psychologie 430 

Joteyko,  J.,  Jer  congres  International  de  Pödologie  tenu  a  Bruxelles      .     .  52 

Jaederholm,  A.,  Untersuchungen  über  die  Methode  Binet-Simon   ....  269 

Kovacs,  S.,  Untersuchung  über  das  musikahsche  Gedächtnis 269 

Kesseler,   Dr.  Kurt,    Grundlinien  einer  deutsch-idealistischen  Pädagogik  57 

L ans c hau,  Dr.  Thomas,  Deutschunterricht  als  Kulturkunde 351 

Lipmann,  O.,  Psychische  Geschlechtsunterschiede 60 

„  „    Die  Entwicklung  der  grammatisch-logischen  Funktionen  .     .271 

Lobsien,  Marx,  Die  Lernweisen  der  Schüler 61 

„               „        Einfluß  des  Tempos  auf  die  Arbeit  der  Schulkinder      .     .  271 

Meirowsky,  Geschlechtsleben  der  Jugend 208 

Moede,  Walther,  Die  Untersuchung  und  Übung  der  Gehirngeschädigten 

nach  experimentellen  Methoden 205 

Nagy,    Ladislaus,    Ergebnisse    einer  Umfrage   über    die    Auffassung    des 

Kindes  vom  Kriege '.     .    .     .    206,  270 

Pannenberg,  H.  J.  u.  W.  A.,  Die  Psychologie   des  Zeichners   und  Malers  271 
Pestalozza,  Dr.  phil.  August  Graf  von,  Aufgabe  der  geschichtlichen  Dar- 
stellung der  Pädagogik 352 

Pfeifer,  Dr.  phil.  et  med.  A.,  Das  menschliche  Gehirn 205 

Poppelreuter,    Aufgaben    und   Organisation   der   Hirnverletzten-Fürsorge  62 

Schäfer,  Wilhelm,  Lebenstag  eines  Menschenfreundes .  64 

Schmidt,  Heinrich,  Geschichte  der  Entwicklungslehre 429 

Schultze,  F.  E.  Otto,  Eine  neue  Weise  der  Auswertung  der  Intelligenz- 
tests  (Methode  der  Intelligenzzensur) 269 

Schüßler,  H.,  Das  unmusikalische  Kind .  269 

„  „     Ist  die  Behauptung  Meumanns  richtig:  Kinder   können  im 

allgemeinen  vor  dem  14.  Lebensjahre  nicht  logisch  schließen?     .     .  270 
Stern,  W.,   Der  Intelligenzquotient  als  Maß  der  kindlichen  Intelligenz,  ins- 
besondere der  unternormalen 269 

„          „    Über  Alterseichung  von  Definitionstests 269 

Verworn,  Max,  Prof.  an  der  Universität  Bonn,  Die  Frage  nach  den  Grenzen 

der  Erkenntnis 205 

»               „       Die  biologischen  Grundlagen  der  Kulturpolitik 428 

,.               „       Zur  Psychologie  der  primitiven  Kunst 432 

Warschauer,  E.,  Rechtspsychologische  Versuche  an  SchuUiindern  .     ...  270 
Warstat,   Dr.  Willi,    Oberlehrer  in  Altona-Ottensen ,  Die   Schulzeitschrift 

und  ihre   Bedeutung  für  Erziehung,  Unterricht  und  .Jugendkunde  207 
Wiese,  Anna,  Zur  Frage  nach  den  Geschlechtsdifferenzen  im  akademischen 

Studium.     Ergebnisse  einer  Studienenquete 270 

Zander,  R.,  Vom  Nervensystem,  seinem  Bau  und  seiner  Bedeutung  für  Leib 

und  Seele  im  gesunden  und  kranken  Zustand 432 


Zum  Problem  der  Schulklasse. 

Von   Hugo    Gaudi g. 

Wer  dem  Schulleben  der  Gegenwart  weder  zu  fern  noch  zu  nahe  steht, 
wird  mehr  oder  weniger  deutlich  erkennen,  daß  es  sich  in  der  Zukunft 
nicht  um  einzelne  Besserungen,  sondern  um  grundlegende  Wandlungen 
handeln  muß.  Auf  den  Kräftedurchhruch,  der  zur  Durchführung  der 
unbedingt  notwendigen  Wandlungen  des  deutschen  Schulwesens  nötig 
ist,  hätten  wir  vielleicht  vergebens  oder  jedenfalls  sehr  lange  warten  müssen, 
wenn  der  Krieg  uns  nicht  in  eine  Lage  gebracht  hätte,  in  der  wir  der  For- 
derung einer  allgemeinen  Steigerung  der  deutschen  Volkskultur  unbedingt 
genügen  müssen.  Solche  allgemeine  Steigerung  aber  ist  undenkbar  ohne 
eine  entscheidende  Steigerung  des  mächtigen  Kulturwerkzeugs  der  Schule. 
Die  Gesamtkräfte,  die  sich  an  die  Kultursteigerung  setzen  werden,  können 
unmöglich  an  der  Schule  vorbeiwirken.  Die  deutsche  Lehrerschaft  wird 
unter  die  wirkenden  Kräfte  nur  so  weit  rechnen,  als  sie  die  Schule  unter 
hohen,  allgemeinen  kulturellen  Gesichtspunkten  anzusehen  vermag.  Es 
wäre  tragisch  für  den  deutschen  Lehrerstand,  wenn  sein  Denken,  in  der 
Vergangenheit  der  deutschen  Schule  oder  in  einigen  über  Gebühr  wichtig 
genommenen  Teilfragen  befangen,  unter  der  Linie  bliebe,  bei  der  das 
Kulturdenken  und  Kulturschaffen  der  Zukunft  einsetzt. 

Unsere  Gesamtanschauung  von  der  Schule  leidet  —  das  sei  hier  nur 
kurz  gesagt  —  stark  unter  der  Auffassung  der  Schule  als  einer  ,, Anstalt". 
Wir  müssen  von  der  Zukunft  fordern,  daß  die  Schule  als  ein  kultureller 
Lebenskreis  erfaßt  und  daß  mit  der  Entfaltung  von  Schulleben  voller 
Ernst  gemacht  wird.  Der  deutschen  Schule  müssen  klare  Lebensziele 
gesteckt  werden,  und  auf  diese  Lebensziele  hin  müssen  sich  starke  Lebens- 
kräfte auswirken.  Alles,  was  innerhalb  der  bisherigen  Schule  der  Ver- 
lebendigung fähig  ist,  Menschen  und  Einrichtungen,  muß  verlebendigt 
werden  • —  zu  einem  Höchstmaß  inneren  Lebens:  Menschen  und  Einrich- 
tungen, Einrichtungen  und  Menschen,  eins  mit  dem  anderen.  So  fordert 
die  Schule  der  Zukunft  z.  B.,  wenn  ich  recht  sehe,  daß  wir  Lehrer  mehr 
als  bisher  mit  unserem  Personalleben  in  das  Schulleben  eingehen,  daß 
das  Schul  jenseits  unseres  Daseins  sich  verringert  zugunsten  unseres  Schul- 
lebens. Oder  irre  ich  mich,  wenn  ich  meine,  unser  Dasein  sei  noch  im 
allgemeinen  zu  schulfrei,  nicht  tief  genug  eingetaucht  in  das  Leben  der 
Schule  ?  Nur  eine  Gewissensfrage  an  uns :  Läßt  uns  die  Schule  nicht  noch 
zu  leicht  los  in  ganz  schulfremde  Gebiete  ?  Daß  ich  nicht  den  Nur-Lehrer 
will,  davor  schützt  mich  meine  Forderung,  der  Lehrer  solle  Vollpersönlich- 
keit sein.  Aber  ob  wir  nicht,  namentlich  mit  unserem  Gefühls-  und  Affekt- 
leben, viel  tiefer  in  die  Schule  eintauchen  müßten?  Und  unsere  Schüler  ? 
Soll  uns  auf  die  Dauer  das  Schulleben  namentlich  der  Schüler  der  höheren 
Schulen  genügen?  Tauchen  sie  tief  genug  in  das  Schulleben  ein?  Ist 
nicht  der  Mangel  wertvoller  Schulgesinnung,  wertvoller  Schulstimmung, 

Zeitschrift  f  pädagog.  Psychologie.  1 


2  Hugo  Gaudig 

wertvollen  Schulwillens  unerträglich  ?  Unerträglich  vor  allem  das  geringe 
Maß  persönlichen  Wesens,  mit  dem  sie  in  das  Schulleben  eingehen?  Wie 
die  Menschen,  so  sind  die  Einrichtungen  mit  einem  Bestmaß  von  Leben 
zu  erfüllen.  Sie  müssen  dem  Gesamtleben  der  Schule  leisten,  was  sie  nur 
irgend  leisten  können. 

Eine  der  ,, Einrichtungen",  die  m.  E.  bisher  nicht  entfernt  ihren  vollen 
Schulwert,  also  ihren  vollen  —  Kulturwert  entfaltet  hat,  ist  die  Schul- 
klasse. Man  kann  das  bereits  an  der  pädagogischen  Literatur  erkennen, 
die  das  große  Thema  Schulklasse  nur  ganz  kümmerlich  behandelt.  Mehr 
noch  leider  an  dem  Leben,  das  die  Schulklasse  im  allgemeinen  führt. 
Hier  liegen  schöne  Aufgaben  für  unser  zukünftiges  pädagogisches  Denken ; 
vor  allem  aber  für  unser  pädagogisches  Beobachten;  was  sage  ich  Be- 
obachten? Vor  allem  für  unser  pädagogisches  Erleben.  In  Wahrheit: 
Es  gibt  hier  viel  Unerlebtes  zu  erleben !   Wenigstens  für  mich. 

Aus  der  Zukunft  winken  schöne  Möglichkeiten.  Wenn  es  uns  deutschen 
Lehrern  gelänge,  das  Klassenleben  so  wachzurufen,  wie  es  mir  erreichbar 
erscheint,  so  hätten  wir  der  deutschen  Gesamtkultur  einen  wesentlichen 
Dienst  getan;  nicht  nur  der  intellektuellen  Kultur,  sondern  vor  allem 
der  sozialen  Kultur  auf  allen  Gebieten,  auf  denen  das  Leben  sich  sozial 
gestaltet;  so  auf  dem  Gebiete  der  Bildung  im  weiteren  Sinne,  auch  der 
körperlichen,  auf  dem  Gebiete  des  allgemeinen  Arbeitslebens,  auf  dem 
Gebiete  des  politischen  und  nicht  zuletzt  des  rehgiösen  Lebens. 

Bei  der  Schulklasse  denkt  man  gemeinhin  an  eine  Verknüpfung  von 
einzelnen  Schülern,  die  demselben  Bildungsziele  zugeführt  werden  sollen. 
Man  faßt  die  Klasse  als  ein  ,, Aggregat",  wobei  die  Bedeutung  von  grex 
manchmal  mehr  mitschwingen  mag,  als  es  für  die  Verknüpfungseinheit 
.gut  ist;  die  Klasse  erscheint  also  im  wesentlichen  als  ein  Mittel  der  Zu- 
sammenfassung einzelner  Schüler  zur  Erreichung  eines  Bildungsziels. 
Nun  zwingt  allerdings  die  einfache  Tatsächlichkeit  dazu,  das  klassen- 
mäßige Zusammensein  der  Schüler  in  Betracht  zu  ziehn,  da  dies  Zusammen- 
sein die  Art  des  Bildungserwerbs  gegenüber  dem  Einzelunterricht  ganz 
wesentlich  ändert.  Die  Klasse  bleibt  aber  ledighch  no^ch  Mittel,  noch 
,, Vehikel"  der  Bildungsarbeit.  Die  Frage  geht  hierbei  dahin,  wie  die  Bildungs- 
arbeit der  Klasse  organisiert  werden  muß,  damit  das  Bildungsziel  erreicht 
wird.  Dies  Ziel  kann  dann  entweder  mehr  durchschnittsmäßig  oder  mehr 
individualistisch  bestimmt  werden;  im  ersteren  Falle  wiederum  entweder 
mehr  im  Sinne  des  mittleren  Durchschnitts  oder  dahin,  daß  möghchst 
viele  auf  dieselbe  Höhe  zu  führen  sind.  Im  Falle  individualistischer  Zweck- 
setzung aber  kann  die  Klasse  mehr  als  ein  ,, Ordnungssystem",  um  einen 
Ausdruck  Euckens  zu  gebrauchen,  als  ein  System  der  Anordnung  und 
Abstufung  erscheinen,  in  dem  die  Schüler  nach  ihren  Leistungen  ge- 
ordnet sind,  oder  sie  kommen,  ohne  daß  der  Wert  der  Leistungen  als 
das  einzig  Wesenthche  betont  wird,  nach  der  Gesamtheit  ihrer  geistigen 
Wesenheit,  ihres  geistigen  Eigen wesens  in  Betracht. 

Bislang  ist  aber  die  Klasse  noch  nicht  als  eine  Form  sozialen  Lebens 
gewürdigt  worden.  Bedarf  nun  schon  die  Klasse  als  Mittel  der  Bildungs- 
arbeit eines  nachhaltigen  pädagogischen  Studiums,  so  noch  viel  mehr  die 


Zum  Problem  der  Schulklasse 


Klasse  als  Form  sozialen  Lebens.  Man  überlege  nur,  daß  die  Klassen- 
genossen nicht  selten  8  Jahr  und  mehr  derselben  Klasse  angehören;  also 
während  so  langer  Zeit  wochentäglich  einen  namhaften  Teil  des  Tages 
in  demselben  Verbände  leben,  in  einem  Verbände,  der  seine  Wirkungen 
noch  über  die  tägliche  Schulzeit  hinaus  in  das  häusliche  Leben,  namenthch 
in  das  haushohe  Arbeitsleben,  hinein  erstreckt.  Gewiß  fehlt  dem  Klassen- 
verbande  eine  starke  Naturgrundlage,  wie  sie  die  Familie  hat,  wohl  ist 
er  ein  Zwangsverband,  bei  dem  nicht  wie  bei  freundschaftlichem  Zusammen- 
schluß oder  freier  Vereinsbildung  Wahlverwandtschaft  wirksam  ist,  wohl 
grenzt  sich  der  Wirkungskreis  der  Klasse  scharf  auf  das  Schulleben  ab, 
so  daß  die  Möghchkeit  besteht,  daß  die  Klassengenossen  im  wesentlichen 
nur  mit  ihrem  Schul-Ich  im  Klassenverbande  stehen,  mit  ihrem  Haus-Ich 
aber,  vielleicht  mit  ihrem  wesenthchen  Ich,  außerhalb ;  wohl  leidet  der 
klassenmäßige  Zusammenschluß  durch  den  Ausbhck  auf  seinen  Zerfall 
nach  der  Schulzeit  usw.  usw.  Aber  immerhin!  Welche  starken  sozialen 
Kräfte  wirken  im  Klassenverbande!  Wirken  oder  können  doch  wirken, 
wenn  das  Klassenleben  im  Rahmen  des  Schullebens  zu  seiner  vollen  Lebens- 
kraft entfaltet  ist.  Die  Klasse  bedeutet  ja  eine  Gemeinschaft  des  Strebens 
auf  wertvolle  Lebensziele,  eine  Gemeinschaft  des  Arbeitens  an  wert- 
vollstem Arbeitsstoff,  eine  Gemeinschaft  lebenswichtigen  Güterbesitzes; 
und  weiter  eine  Gemeinschaft  des  Ausruhens  und  der  Erholung,  des  Spiels 
und  der  Feier,  z.  B.  der  nationalen  und  rehgiösen  Feier;  ferner  eine  Ge- 
meinschaft des  Verkehrs  und  des  Wanderns;  eine  Gemeinschaft  in  dem 
Rahmen  desselben  Schulganzen,  unter  derselben  Schulordnung;  vor 
allem  eine  Gemeinschaft  des  gleichen  Grundverhältnisses  zu  den  Lehrern 
als  den  Leitern  der  gesamten  Lebensvorgänge  der  Schule ;  auch  das  sei 
nicht  vergessen :  eine  Gemeinschaft,  in  der  an  dem  Leben  der  gi'oßen  Ver- 
bände, die  das  Schulleben  umhegen,  dem  Leben  der  Gemeinde,  des  Staates, 
der  rehgiösen  Verbände,  der  gesamten  Kulturgesellschaft,  wertvoller 
Anteil  genommen  wird;  in  alledem  eine  Gemeinschaft  des  Erlebens,  des 
Erlebens  der  Schicksale  der  einzelnen  Klassengenossen,  des  Klassen- 
verbandes, der  Schulgemeinschaft,  darüber  hinaus  der  großen  Kultur- 
verbände; dazu  eine  Gemeinschaft  des  Einlebens,  des  Miterlebens,  des 
Nacherlebens.  Es  müßte  wunderhch  zugehen,  wenn  ein  so  stark  vergesell- 
schaftender Verband  nicht  starke,  für  das  ganze  Leben  entscheidende  oder 
doch  bedeutsame  Wirkungen  ausübte.  Immer  wieder  vorausgesetzt, 
daß  die  sozialen  Kräfte  von  allen  Hemmungen  befreit  und  zur  vollen 
Wirksamkeit  entfesselt  werden.  Dazu  bedarf  es  übrigens  nicht  zum  wenig- 
sten eines  sorgfältigen  psychologischen  Studiums  —  eine  schöne  Aufgabe 
für  die  pädagogische   Psychologie. 

Soll  aber  der  soziale  Charakter  der  Klasse  recht  entfaltet  werden, 
so  sind  die  leitenden  Gesichtspunkte  hoch  hinauf,  in  allgemeinen  Kultur- 
anschauungen, zu  suchen.  Letzthch  wird  sie  der  einzelne  Pädagog  in 
seiner  Lebens-  und  Weltanschauung  zu  finden  haben.  Es  wird  einsehr 
wesenthcher  Unterschied  sein,  ob  man  eine  individualistische  Lebens- 
auffassung vertritt,  die  vor  allem  dem  einzelnen  Individuum  zum  Rechte 
schrankenloser  Selbstentfaltung  und  ungehemmten  Auslebens  verhelfen 


4  Hugo  Gaudig 

und  ihm  dazu  auch  die  Kunst  vermitteln  will,  die  Gemeinschaft,  in  der 
man  steht,  zweckentsprechend  auszunutzen,  oder  ob  man,  von  grundsätz- 
lichen soziahstischen  Anschauungen  bestimmt,  Menschen  erziehen  will, 
die  Gemeinschaftszwecke  verwirklichen,  ihre  Arbeit  und  ihr  Eigenwesen 
der  Gesellschaft  hingeben  sollen ;  vielleicht  scheut  man  sich  sogar  nicht,  um 
des  restlosen  gesellschaftUchen  Zusammenschlusses  willen  einen  Ausgleich 
der  Geistigkeit,  ein  ,,egaliser  les  intelligences",  ein  Massendenken,  -fühlen 
und  -wollen  zu  fordern.  Wie  anders,  wenn  man  —  mit  der  Persönlichkeits- 
anschauung —  zwar  seinen  Standort  unerschütterlich  fest  nicht  in  der 
Gesellschaft,  sondern  im  einzelnen  nimmt  und  als  die  eigentliche  Lebens- 
aufgabe die  Entfaltung  des  Eigenwesens  im  Sinne  seines  Ideals  hinstellt, 
dabei  vor  allem  betonend,  daß  ja  das  Leben  des  einzelnen,  zur  Vollreife 
entfaltet,  Lebensgebiete  und  Lebensbeziehungen  umfaßt,  die  höchst  wert- 
voll, aber  in  ihrem  Wesenskern  unsozial  sind,  wie  das  Berufsleben,  das 
Bildungsleben,  das  Katurleben,  das  religiöse  Leben,  wenn  man  aber  auf 
der  anderen  Seite  der  Bedeutung  der  Gesellschaft  für  den  einzelnen  grund- 
sätzlich gerecht  wird,  wenn  man  also  z.  B.  berücksichtigt,  daß  die  Gemein- 
schaft den  einzelnen  zunächst  von  seiner  Geburt  an  pflegen  und  in  der 
Richtung  seines  Eigenwesens  entwickeln  muß,  daß  ferner  die  Gemeinschaft 
ihm  die  Möglichkeit  gewährt,  an  der  Erreichung  großer  Menschheits- 
ziele, die  nur  große  Verbände  sich  stecken  können,  mitzuarbeiten  und 
zugleich  aus  dem  Leben  der  Gesamtheit  Kräfte  für  das  Eigenleben  zu 
ziehen,  vor  allem  aber,  daß  in  der  sozialethischen  Gesinnung  der  Hingabe 
an  das  Leben  einer  Gemeinschaft  ein  an  sich  für  ein  wertvolles  Personen- 
leben unentbehrlicher  Wert  liegt. 

Für  die  nächste  Zukunft  steht  vor  allem  im  deutschen  Volke  der  ge- 
Avaltige  Prozeß  ,, Gesellschaft  —  Individuum"  an.  Dieser  Prozeß  drängt, 
wenn  wir  aus  der  Zerfahrenheit  unseres  Kulturlebens  herauskommen 
wollen,  zur  Entscheidung.  Die  Entscheidung  kann  nicht  so  gefunden 
werden,  daß  man  mit  einem  unklaren  Teils  —  teils  die  berüchtigte  ,, mittlere 
Linie"  sucht;  die  Entscheidung  muß  zu  einer  höheren  Synthese  führen. 
Für  uns  liegt  diese  höhere  Synthese  in  der  Idee  der  Persönlichkeit. 

Wie  gestaltet  sich  nun  das  Verhältnis,  in  dem  sich  innerhalb  des  Schul- 
lebens das  große  kulturelle  Grundverhältnis  ,, Gesellschaft  — Individuum" 
darstellt?  Indem  ich  auf  die  Behandlung  der  Frage  in  meinem  Buche 
,,I)ie  Schule  im  Dienste  der  werdenden  Persönlichkeit"  verweise,  hebe 
ich  das  Wesentliche  heraus. 

Unser  Erziehungsziel  ist  die  Entfaltung  des  Eigenwesens  unserer  Zög- 
linge in  der  Richtung  idealer  Persönlichkeit.  Wir  fordern  somit  von  der 
Schule,  daß  sie  vom  ersten  Schultage  an  sich  bemüht,  das  Eigenwesen 
ihrer  Schüler  zu  erfassen  und  zu  entfalten,  daß  sie  sich  mit  dem  Eltern- 
hause zu  planmäßiger  Arbeit  an  der  werdenden  Persönlichkeit  zusammen- 
schließt, daß  ihre  Zöglinge  ihr  eine  höchst  persönliche  Geschichte  haben  und 
von  Tag  zu  Tage  gewinnen.  Unsere  Forderung  bezieht  sich  nicht  nur 
auf  das  geistige,  sondern  auf  das  gesamte  Eigen wesen;  wir  wollen  nicht 
nur  geistige  Eigenart,  sondern  auch  Eigenart  des  Gemütslebens  und  des 
Willenslebens,  vor  allem  aber  die  Gesamteigenart  entwickelt  haben,  wir  for- 


Zum  Problem  der  Schulklasse 


(lern  eindringendes  Studium  der  Entwicklungsmotive  und  Entwicklungsten- 
denzen, die  sich  nur  irgendwie  in  ihnen  zu  erkennen  gehen.  Wir  sind  zwar 
weit  davon  entfernt,  das  öde  Streben  nach  geistigen  Höchstleistungen  zu 
hilHgen;  aber  immerhin  —  ein  individuelles  Bestmaß  der  Leistungs- 
steigerung ist  doch  auch  für  unsere  Arbeit  Ziel.  Vor  unserem  geistigen  Auge 
steht  der  Zögling  vor  allem  als  der  auf  sich  gestellte  einzelne,  der  fähig 
werden  soll,  die  große  Verantwortung  des  Lebens  zu  tragen.  Und  eben 
diesen  Zögling  erziehen  wir  in  der  Schule  klassenmäßig?  Halten  wir 
acht  und  mehr  Jahre  in  einer  engen  Gemeinschaft  fest,  als  sollte  er  in 
und  mit  dieser  Gemeinschaft  durchs  Leben  gehen  ?  Eigenwesen  der  ver- 
schiedensten Art,  die  nicht  nur  ein  Mehr  oder  Minder  an  Begabung,  son- 
dern das  Innerste  und  Feinste  der  seelischen  Verfassung  unterscheidet, 
werden  auf  das  gleiche  Ziel  mit  den  gleichen  Mitteln  erzogen  ?  Statt  eine 
höchst  individuelle  Auswahl  des  Erziehers,  der  Mitzöghnge  zu  treffen, 
eine  höchstindividuelle  Festsetzung  des  Erziehungsideals  und  der  Er- 
ziehungsmittel zu  fordern,  begnügt  man  sich  mit  Durchschnittsmäßigkeit. 
Es  tut  wirklich  not,  daß  man  sich  an  der  Schwelle  der  großen  grundsätz- 
hchen  Schwierigkeit  bewußt  wird,  vor  die  uns  die  Klasse  stößt.  Die  Pcück- 
zugshnie:  ,,Das  geht  nicht  anders;  so  fordert  es  ohnehin  das  Leben"  sollte 
man  nicht  vorschnell  betreten.  Wir  müssen  uns  eindringhch  die  Gefahr  im 
Bewußtsein  halten,  daß  unsere  Zöglinge  unter  unserer  Hand,  indem  sie 
zu  Klassenmenschen  werden,  zu  Klassenmenschen  entarten,  daß  sie  auf 
der  Schule  für  alles  Feine  eines  eigenwesentlichen  Daseins  verdorben 
werden,  daß  sich  in  ihnen  ein  strammer  Korpsgeist  entwickelt,  nicht  aber 
Sinn,  Verständnis,  Gefühl  für  eigen wesenthche  Daseinsgestaltung,  nicht 
der  Wille  zu  einem  Eigenleben,  nicht  das  Bewußtsein  und  das  Gefühl 
der  Verantwortlichkeit  für  das  eigene  Selbst.  Die  Klasse  kann  ein  äußerst 
wirksames  Werkzeug  der   Gleichmacherei  werden. 

Was  muß  geschehn,  um  der  Gefahr  vorzubeugen?  Die  Erzieher  müssen 
die  Bäume  vor  dem  Walde  zu  sehn  vermögen,  d.  h.  die  Klasse  muß  sich 
ihnen,  wenn  es  not  ist,  immer  wieder  in  Einzelschüler  auflösen;  ja,  sie 
müssen  von  Anfang  an  und  dauernd  ein  persönhches  Verhältnis  zu  den  ein- 
zelnen werdenden  Persönlichkeiten  als  einzelnen  haben.  Sie  haben  Stellung 
zur  Klasse,  zu  den  einzelnen  Schülern  als  Klassengenossen,  aber  auch  zu 
den  einzelnen  Schülern  als  einzelnen  zu  nehmen.  In  den  einzelnen  Schülern 
anderseits  sind  alle  guten  Kräfte  einer  auf  Veredlung  ihres  Eigenwesens 
abzielenden  Entwicklung  wachzurufen ;  vor  allem  ist  im  einzelnen  Zögling 
sein  eigener  guter  Wille  für  seine  Selbstverwirkhchung  zu  gewinnen ;  der 
Wille  der  Selbstbehauptung  und  Selbstentfaltung  auf  ein  höheres  Selbst 
hin.  Vor  allem  aber  sind  die  Klassen  selbst  als  „Subjekte"  höherer  Ordnung 
so  zu  erziehen,  daß  sie  die  Entfaltung  eigenwesenthchen  Lebens  nicht 
hemmen,  sondern  fördern  (s.  u.). 

_  Die  Gefahr  der  geistigen  Gleichmacherei,  der  Abschleifung  des  geistigen 
Eigenartigen  ist  um  so  größer,  je  einseitiger  die  Schule  mit  eigentUchem 
,, Klassenunterricht",  d.  h.  mit  einem  Unterricht  arbeitet,  bei  dem  der 
Lehrer  unterrichtet  und  so  die  eigentlich  bewegende  Kraft  ist.  Die  Gefahr 
verringert  sich,  je  mehr  die  Klassen  selbsttätig  arbeiten,  weil  bei  selbst- 


6  Hugo  Gaudig 

tätiger  Klassenarbeit  dem  einzelnen  Schüler  die  Möglichkeit  freierer 
Bewegung  gegeben  ist.  Man  wird  aber  in  Zukunft  neben  den  Stunden  ge- 
meinsamer Tätigkeit  grundsätzlich  die  eigentUche  Arbeitsstunde  als  ein 
unentbehrliches  Mittel  der  Persönhchkeitserziehung  gelten  lassen  müssen ; 
man  wird  die  Schüler  wohl  in  dem  gleichen  Räume  vereinen,  die  einzel- 
nen aber  „für  sich"  arbeiten  lassen.  Ein  solches  Fürsicharbeiten  wird  sich 
als  eine  wertvolle  Stütze  des  Fürsichseins  ausweisen.  Man  muß  also  mit 
dem  Grundsatz  der  übergroßen  Betonung  der  Mündlichkeit  brechen  und 
der  reinen  Kopfarbeit,  besonders  aber  der  schriftlichen  Darstellung  viel 
mehr  Raum  als  bisher  gewähren.  Über  diesen  Arbeitsstunden,  in  denen 
der  einzelne  Schüler  auf  sich  angewiesen  ist,  darf  natürlich  nicht  Ex- 
temporalien-Stimmung liegen.  Sie  müssen  einem  stark  gefühlten  Bedürf- 
nis des  Schülers  entsprechen,  allein  zu  arbeiten,  sich  aus  der  gemeinsamen 
Arbeit,  dem  gemeinsamen  ,, Pasein"  zur  stillen  Einzelarbeit,  zum  Fürsich- 
sein zurückzuziehen.  Sache  sorgfältiger  Beobachtung  der  Klasse  und 
der  Arbeitsvorgänge  wird  es  sein,  den  Zeitpunkt  für  den  Abbruch  der 
gemeinsamen  Arbeit  und  für  den  Übergang  zur  stillen  Arbeit  zu  bestim- 
men. (Nebenher  gesagt:  So  würde  endlich  auch  die  Aufsatznot  an  der 
Wurzel  angefaßt.)  Mit  einem  solchen,  oft  auch  in  schönem  Rhythmus  ab- 
laufenden Wechsel  der  gemeinsamen  und  der  Einzelarbeit  wird  man  jeden- 
falls die  geistige  Eigenwesenheit  stark  fördern;  nicht  allein  die  der  be- 
gabten Naturen,  die  nach  der  Gebundenheit  der  Klassenarbeit  Gelegen- 
heit freier  Selbstentfaltung  ersehnen,  sondern  auch  die  zaghaften,  lang- 
samen, ,, stillen",  beschaulichen,  undialektischen,  überhaupt  die  Schüler, 
die  nun  einmal  bei  gemeinsamem  mündlichen  Unterricht  nicht  zum  Rechte 
ihrer  Natur  kommen. 

Wenn  aber  klassenmäßig  gearbeitet  wird,  so  darf  im  Interesse  allseitiger 
Pflege  der  werdenden  Persönlichkeiten  die  Gestaltung  des  gesamten  Arbeits- 
vorgangs nicht  ihren  natürlichen  Gang  gehen ;  d.h.  es  darf  nicht  dahin 
kommen,  daß  sich  —  wie  es  leider  sehr  viel  geschieht  —  eine  Art  der,, Arbeits- 
teilung" herausstellt,  bei  der  eine  kleine  Gruppe  von  Schülern  die  eigent- 
liche Trägerin  der  Bewegung  ist,  die  Mehrzahl  aber  infolge  von  geistiger 
Trägheit,  von  Schüchternheit,  Verschlossenheit,  von  schwerflüssiger 
Darstellungsweise  oder  aus  irgendwelchen  anderen  Ursachen  in  der  Rolle 
der  Geführten  verharrt.  Es  gilt,  daß  Schülern  dieser  Art  ihre  Pflicht 
und  ihr  Recht  zu  eigenthcher  Mitarbeit  gegenwärtig  bleibt.  Der  Lehrer, 
sie  selbst,  die  Klasse  müssen  in  dieser  Richtung  wirken.  Da,  wo  man  den 
Schülern  die  Regelung  des  Arbeitsverlaufs  überläßt,  werden  die  be- 
gabteren Köpfe  genug  Hemmungsenergie  besitzen  müssen,  um  die  minder- 
begabten  nicht  von  der  Arbeit  zu  verdrängen;  die  Minderbegabten  (viel- 
leicht nur  Langsameren)  aber  werden,  damit  sich  in  der  Arbeit  ihr  Eigen- 
wesen entwickelt,  zur  Entfaltung  positiver  Kraftleistung  Antrieb  und 
Raum  zu  erhalten  haben.  Wenn  jemand  8  Jahre  oder  mehr  sich  gewöhnt 
hat,  ,, führenden  Geistern"  zu  folgen,  dann  sind  in  der  Regel  die  Kräfte 
geistigen  PJigenlebens  erstorben;  dann  ist  der  ,, subalterne"  Kopf  fertig; 
der  Kopf,  der  nur  ,,nach"  zu  denken  versteht. 

Gelegenheit  zu  einer  das   Eigenwesen  berücksichtigenden  Arbeitszu- 


Zum  Problem  der  Schulklaisse 


teilung  gewährt  das  Verfahren,  das  wir  als  Arbeitsteilung  und  Arbeits- 
vereinigung bezeichnen;  dies  Verfahren,  das  um  seiner  hohen  technischen 
Schönheit,  seines  geistigen  Wertes,  seiner  sozialethischen  Bedeutung  willen 
hoffenthch  immer  mehr  Boden  in  der  deutschen  Schule  gewinnt. 

Für  unseren  gesamten  Zusammenhang  ist  dies  Verfahren  ja  von  ganz 
besonderem  Wert;  denn  durch  die  Arbeitsteilung  kann  der  einzelne  zu 
einer  seinem  Eigenwesen  gut  liegenden  Arbeit  gelangen,  während  die 
Arbeitsvereinigung  die  Klasse  zu  einer  vielleicht  hohen  Form  der  Arbeit 
aufruft,  zm*  Verbindung  reich  differenzierter  Einzelarbeiten.  Hier  aber 
handelt  es  sich  zunächst  ledighch  um  die  Förderung  der  eigenwesentlichen 
Entwicklung  durch  die  Arbeitsteilung.  Sie  gewährt  die  Möglichkeit, 
den  einzelnen  Schüler  in  der  Richtung  seiner  Stärke  und  seiner  Schwäche 
zur   Betätigung  heranzuziehen. 

Soll  der  einzelne  Schüler  nicht  in  Gefahr  geraten,  durch  die  Klasse  in 
seiner  eigenwesentlichen  Entwicklung  schweren  Schaden  zu  erleiden, 
so  muß  er  nun  ferner  in  der  Lage  sein,  zu  der  Klasse  Stellung  zu  nehmen. 
Es  ist  von  großem  Belang,  daß  er  sich  des  Rechtes  und  der  Verpflichtung 
zu  dieser  Stellungnahme  bewußt  ist  und  dies  Recht  ausübt,  diese  Pflicht 
gegen  sich  selbst  erfüllt.  Es  gibt  Schülernaturen  genug,  die  zu  solcher 
Stellungnahme  schwier  zu  vermögen  sind:  z.  B.  die  geborenen  Massen- 
menschen, die  eigenartigen  Gesellschaftsnaturen,  die  sich  gern  dem  ,, Korps- 
geist" beugen,  gern  ,, mittun",  die  in  sich  keinen  Antrieb  haben,  sich  mit 
der  allgemeinen  Meinung  auseinanderzusetzen,  oder  doch  zu  feige  oder  zu 
kraftlos  sind,  diesem  Antrieb  zu  folgen.  So  gewiß  aber  zum  Werden  der 
Persönlichkeit  die  Kunst  gehört,  sich  seiner  und  seiner  Lebensbeziehungen 
bewußt  zu  werden  und  sich  selbst  in  seinen  Lebensbeziehungen  zu  behaupten, 
so  gewiß  muß  die  Persönlichkeitserziehung  auf  die  Befähigung,  geistige 
wie  sittliche,  zur  Stellungnahme  dringen. 

Doch  die  Schule  muß  auch  eine  Pflegstätte  sozialen  Lebens  sein; 
die  Schule  als  ein  Lebensganzes,  vor  allem  aber  wieder  die  Klasse.  Je 
mehr  sie  unserer  Forderung  gemäß  ihre  Lebensmöghchkeiten  entfaltet, 
je  mehr  sie  eine  Gemeinschaft  der  Arbeit  und  der  Erholung,  der  Arbeit 
und  des  Spiels,  der  Arbeit  und  der  Feier,  der  Arbeit  und  des  Erlebens  wird, 
je  mehr  sie  geistiges  Gemeinschaftsleben  führt,  in  Gefühlen  und  Stimmun- 
gen sich  zusammenschheßt,  je  mehr  sie  den  Willen  zur  Einheit  besitzt, 
um  so  leichter  wird  sich  im  Klassenverbande  soziales  Leben  der  einzelnen 
entfalten,  um  so  leichter  wird  sich  der  einzelne  in  das  bewegte  Lebensganze 
einordnen,  ber^t,  wo  es  not  ist,  dem  Ganzen  auch  sich  unterzuordnen; 
um  so  wiUiger  wird  er  die  Zwecke  der  Gesamtheit  zu  den  seinen  machen, 
die  dem  Ganzen  förderliche  Arbeit  leisten,  am  Schicksal  der  Klasse 
Anteil  nehmen.  Wichtig  für  die  sozial-ethische  Entwicklung  des  ein- 
izelnen  ist  namenthch,  daß  er  sich  seiner  Klasse  verpflichtet  weiß;  ver- 
pflichtet nicht  nur  zu  der  üblichen  ,, anständigen"  Gesinnung  der  Klasse 
und  den  einzelnen  Klassengenossen  gegenüber,  verpflichtet  auch  z.  B. 
zum  Fleiß,  zur  geistigen  Energie,  zum  Wohlverhalten  dem  Lehrer  gegen- 
über, zur  Achtung  vor  der  Schule,  ihren  Bildungszielen  und  Bildungsein 
richtungen.    Man  beachte  wohl  —  der  Klasse  verpflichtet  zu  dem  allen, 


8  Hugo  Gaudig  ^ 

denn  wenn  z.  B.  die  Klassen  Trägerinnen  wertvoller  Schulgesinnung  sein 
sollen,  so  handelt  der  Schüler  auch  gegen  die  Klasse  pflichtwidrig,  der  in 
seinem  Klassenlehen  an  seinem  Teile  keine  wertvolle  Schulgesinnung  be- 
tätigt. Ich  habe  schon  oft  Schüler  gegen  Tadel,  wie  z.B.:  ,,Sie  haben  kein 
Recht,  die  Klasse  so  zu  langweilen",  ,,Sie  haben  kein  Recht,  durch  schlechtes 
Arbeiten  die  Klasse  am  Vorwärtskommen  zu  hemmen",  ,,Sie  begehen  durch 
ihre  Saumseligkeit  ein  Unrecht  am  Geist  der  Klasse",  empfindlich  reagieren 
sehen. 

Der  Verpflichtung  gegenüber  der  Klasse  wird  um  so  heber  genügt  werden, 
Je  mehr  der  einzelne  Schüler  sich  seiner  Klasse  freut  und  je  mehr  er  Ver- 
ständnis für  den  Wert  der  Klasse  besitzt,  besonders  für  den  Wert,  den  sie 
für  ihn  selbst  hat.  Hier  tuen  sich  weite  Ausblicke  auf  pädagogisches  Neu- 
land auf.  — 

Ein  wichtiges  Stück  sozialethischer  Verfassung  ist  die  Fähigkeit, 
mit  anderen  gleich  zu  denken,  zu  fühlen,  zu  wollen;  vor  allem  innerhalb 
eines  engeren  Lebens  verbau  des.  Wollen  wir  kein  Zerfallen  des  Gesellschafts- 
lebens, so  müssen  die  einzelnen  sich  in  großen  Grundansichten,  in  Lebens- 
gefühlen, im  Streben  nach  einheithchen  Lebenszielen,  in  Lebensanschauun- 
gen zusammenschließen  können.  Soll  uns  nicht  ein  Stück  sehr  wertvollen 
Erlebens  verloren  gehen,  so  bedürfen  wir  der  Fähigkeit,  in  eine  Gemeinschaft 
aufzugehen,  uns  von  ihrem  Gefühl  tragen  zu  lassen.  Nur  wenn  in  allen 
Verbandsgliedern  eine  gleichartige  Verfassung  herrscht,  vermag  der  Ver- 
band mit  voller  Kraft,  mit  vollem  Druck  zu  wirken.  Daß  die  Menschen 
oft  nicht  Träger  solches  Gemeinschaftsgeistes  sind,  ist  durchaus  nicht 
immer  eine  berechtigte  Auswirkung  ihres  Eigenlebens,  sondern  bald 
ein  vorsichtiges  Zurückhalten  (,, reserviertes"  Wesen),  bald  ein  ,,Tic", 
bald  sonstiges.  Die  Klasse,  in  der  die  geistige  Arbeit  in  den  Köpfen  den 
festen  Grundstock  gleicher  Anschauungen  anlegt,  in  der  sich  alle  auf 
wesentlich  gleiche  Ziele  hin  bewegen,  das  Gefühl  in  allen  gleichsinnig 
erregt  wird,  ist  eine  Schule  des  Gemeingeistes. 

Die  Klasse,  so  sahen  wir  zunächst,  erzieht  den  einzelnen  zur  Ein- 
ordnung in  eine  Gemeinschaft,  so  daß  er  als  einzelner  in  einem  Verbände  als 
Verbandsgenosse  zu  leben  vermag.  Sie  gibt  dem  einzelnen  zweitens 
Gelegenheit,  mit  seinem  Geist  in  den  Gemeingeist  einzugehen,  im  Gemein- 
geist aufzugehen.  Sie  ermöglicht  ihm  aber  auch  drittens  sich  mit  den  anderen 
Klassengenossen  in  einem  ,,Wir"  zusammenzufassen  und  durch  dies  Wir- 
Bewußtsein  der  ,, Klasse"  zu  einem  höheren  Dasein  zu  helfen;  zu  einem 
Dasein,  das  uns  berechtigt,  von  der  Klasse  als  von  einem  sitthchen  Sub- 
jekt, einer  Persönhchkeit,  zu  sprechen,  die  Selbstbewußtsein  hat,  der 
Selbstbestimmung  fähig  ist,  sich  selbst  zu  bejahen  und  zu  verneinen 
vermag  usw.  Indem  die  einzelnen  Klassengenossen  sich  in  einer  Gesamt- 
Vorstellung  („Wir",  „unsere  Klasse",  ,,die  Klasse")  zusammenfassen  und 
das  Leben  der  in  dieser  Gesamtvorstellung  erfaßten  Wesenheit  in  sich 
erleben,  gewinnt  die  Klasse  eine  Daseinsform,  bei  der  man  von  ihr  als 
einem  Subjekt  reden  darf,  das  ,, Kraftgefühle"  hat,  wie  das  des  Gelingens, 
des  Vorwärtskommens,  der  Erhobenheit,  oder  ihr  Gegenteil,  wie  das  Gefühl 
der  Schwäche,  des  Gehemmtseins,  des  Nichtemporkönnens,  ein  Subjekt, 


Zum  Problem  der  Sclmlklasse  9 

das  gespannt  erwartet  oder  enttäuscht  ist,  dem  Ehrgefühl,  Bescheidenheit 
oder  Selbstgefälligkeit  eigen  sind,  das  Liebe  und  Haß,  Verehrung  und 
Abscheu,  Neid,  Mißgunst,  Schadenfreude  fühlt. 

Wenn  sich  in  dem  einzelnen  Schüler  ein  kräftiges  Wirbewußtsein  ent- 
wickelt, so  kann  sein  Seelenleben  stark  durch  die  Gemeinschaft  in  An- 
spruch genommen  werden ;  sein  seelisches  Erleben  ist  verwoben  mit  dem 
Leben  einer  Gesamtheit,  das  sehr  kräftig  sein  kann,  das  nicht  nur  die  Denk- 
tätigkeit, sondern  vor  allem  das  Gefühlsleben  der  einzelnen  in  sich  hinein- 
reißt. Wenn  gegenwärtig  das  ,,Wir-Leben"  die  einzelnen  oft  so  wenig 
bewegt,  so  kann  das  nicht  bestimmend  sein  für  die  Zukunft,  wenn  man 
die  Klasse  für  die  soziale  Erziehung  der  werdenden  Persönhchkeit  in  An- 
spruch nimmt.  Die  Pädagogik  der  Zukunft  wird  großen  Wert  darauf 
legen,  daß  in  allen  einzelnen  Schülern  die  Hemmnisse  beseitigt  werden, 
die  einer  Entwicklung  und  Auswirkung  des  Klassenbewustseins  entgegen- 
stehen, Sie  wird  dabei  sich  bewußt  sein,  daß  es  sich  bei  der  Entwicklung 
zu  einem  reifen  Klassenleben  um  einen  feinen  und  schwierigen,  in  einer 
Reihe  von  Stadien  verlaufenden  Entwicklungsvorgang  handelt. 

Der  einzelne  im  Verhältnis  zu  der  Klasse  —  das  ist  das  für  uns  vor  allem 
wichtige  Lebensverhältnis.  Indes:  soll  sich  dies  Verhätnis  glücklich 
gestalten,  so  muß  sich  auch  das  Gegenverhältnis,  das  Verhältnis  der  Klasse 
zu  den.  einzelnen  Klassengenossen,  gut  entwickeln.  Je  mehr  sich  die  Klasse 
zu  einem  ,, Subjekt  höherer  Ordnung"  entwickelt,  um  so  mehr  wird  sie  in 
der  Lage  sein,  sich  ein  Verhältnis  zu  ihren  Gliedern  zu  geben.  Sie  wird 
sich  so  z.  B.  ihrer  Verpfhchtung  gegen  diese  Glieder  bewußt  sein  und 
handelnd  ihren  Verpflichtungen  gerecht  werden ;  ebenso  wird  sie  anderseits 
darauf  dringen,  daß  ihre  Gheder  sich  ihrer  Verpflichtungen  gegen  die  Klasse 
bewußt  werden  und  sie  handelnd  erfüllen.  Sie  wird,  je  mehr  sie  zum  sitt- 
lichen Subjekt  heranreift,  nicht  aus  Zufallsstimmungen  heraus  handeln, 
sondern  aus  einer  Grundgesinnung,  die  nicht  dem  Wandel  durch  Zufalls- 
bewegungen ausgesetzt  ist.  Anderseits  wird  es  sich  bei  dieser  Regelung  des 
wechselseitigen  Verhältnisses  nicht  um  Gelegentliches  handeln,  sondern 
um  Beziehungen  dauernder  Art.  Damit  aber  das  Verhältnis  zwischen  Klasse 
und  einzelnen  Schülern  sich  recht  gestaltet,  muß  die  Klasse  ihre  Glieder 
kennen  und  zwar  nicht  nur  obenhin ;  eine  Forderung,  die  schwer  zu  erfüllen 
ist  und  z.  B.  vom  Lehrer  ein  sehr  sorgfältiges,  bedachtes  Einwirken  auf  den 
Vorgang  der  Urteilsbildung  fordert.  Pädagogisches  Neuland,  aber  Neu- 
land, das,  in  rechte  Pflege  genommen,  reiche  Ernte  verspricht.  Pestalozzi 
meint  einmal  gelegentlich :  „Die  kollektive  Existenz  unseres  Geschlechts 
kann  dasselbe  nur  zivilisieren,  sie  kann  es  nicht  kultivieren".  Der  schwere 
Irrtum  P.'s  wird  in  der  Schule  ersichtlich  werden,  sobald  die  Klasse  sich 
zu  einem  sittlichen  Subjekt  emporgebildet  hat,  das  dann  bei  gereiftem 
,, Kollektivgewissen"  sein  Handeln  unter  sittliche  Normen  rückt.  Eine 
Klasse,  wie  sie  uns  vorschwebt  und  wie  ich  sie  nicht  selten  sich  habe  ent- 
wickeln sehen,  kann  den  einzelnen  Schüler  unter  die  segensreichen  Ein- 
wirkungen einer  sittlich  gesinnten,  sich  sitthch  regelnden  Gemeinschaft 
stellen  und  ihm  so  für  sein  sozial-ethisches  Leben  sehr  wertvolle  Erfahrun- 
gen,  z.  B.  für  sein  Werturteil  über  ethisches  Gemeinschaftsleben  sichere 


10  Hugo  Gaudig,  Zum  Problem  der  Schulklaase 

Unterlagen,  gewähren.  Zugleich  wird  er  leicht  die  Wirkungen  seines  eigenen 
auf  die  Gemeinschaft  gerichteten  sittlichen  Handelns  unmittelbar  und 
aus  den  Rückwirkungen  der  Q-emeinschaft  erfahren. 

Überschauen  wir  das  Ganze  unserer  Forderungen,  so  zeigen  sie  einen 
doppelten  Zug,  den  individualen  und  den  sozialen;  ich  hoffe  aber  so, 
daß  die  Erwartung  auf  die  Vereinigung  der  beiden  Züge  im  Personalen 
berechtigt  erscheint.  Allerdings  muß  sehr  viel  gearbeitet  werden,  wenn 
durch  die  Ausgestaltung  des  Klassenlebens  das  Ziel,  das  uns  vorschwebt, 
erreicht  werden  soll.  Die  Fülle  der  Kräfte  muß  wachgerufen  werden,  damit 
die  Klasse  wird,  was  sie  werden  soll,  ein  reich  bewegtes,  für  das  gesamte 
Erziehungsziel  der  Schule  hochwertiges  Stück  des  Schullebens.  Vor  allem 
müssen  in  unseren  Schülern  die  Gesinnungen  gepflegt,  die  Kräfte  ent- 
wickelt, die  Bewegungen  ausgelöst  werden,  die  zu  wertvollem  Klassen- 
leben führen.  Am  schwersten  ist  natürlich  die  Aufgabe  des  Lehrers.  Feinste 
Erziehungskunst  verlangt  z.  B.  die  Einwirkung  auf  das  Werden  eines 
Klassenbewußtseins,  auf  die  Entwicklung  eines  kollektiven  sittlichen  Be- 
wußtseins usw.  Es  gibt  Lehrer,  denen  fällt  es  außerordentlich  schwer, 
Klassenleben  zu  erkennen  und  vor  allem  zu  fühlen.  Was  sie  erkennen  und 
fühlen,  ist  entweder  ein  Durcheinander  von  Einzeleindrücken  oder  etwas 
schablonenhaftes  Allgemeines.  Sie  spüren  nichc,  wenn  die  Klasse  von 
Gemeingeist  ergriffen  wird  und  die  einzelnen  Klassenglieder  untertauchen 
im  Strom  eines  Allgemeinbewußtseins;  sie  unterscheiden  nicht  klar,  ob 
sie  in  PJinzelerscheinungen  Tatsachen  des  Lebens  der  Klasse  oder  individuelle 
Erscheinungen  zu  sehen  haben ;  sie  erkennen  nicht  sicher  die  Einwirkungen, 
die  bewußten  und  gewollten  Einwirkungen,  der  Klasse  auf  den  einzelnen 
Klassengenossen  usw.  Wir  Lehrer  werden  jedenfalls  um  so  mehr  Helfer 
zur  Entwicklung  wertvollen  Klassenlebens  sein  können,  je  mehr  wir  selbst 
in  einem  wertvollen  Verhältnis  zu  unseren  Klassen  zu  stehen  vermögen. 
Einzelschüler  und  Klasse,  Klasse  und  Einzelschüler,  ist  das  eine  Lebens- 
verhältnis, das  in  Zukunft  ungleich  reicher  und  feiner  als  bisher  ausge- 
staltet werden  muß,  wenn  unsere  Schulen  nicht  ,, Anstalten",  sondern 
Lebenskreise, sein  sollen.  In  Wechselwirkung  zu  diesem  Lebensverhältnis 
steht  das  andere :  Lehrer  und  Schüler,  Schüler  und  Lehrer ;  Schüler  einmal 
im  Sinne  der  Einzelschüler,  dann  aber  im  Sinn  von  Klasse.  — 

Ein  großes  Ziel  winkt  der  Schule  der  Zukunft:  die  Mitwirkung  an  der 
Lösung  des  großen  Problems  Individuum  —  Gesellschaft.  Zu  wertvoller 
Mitwirkung  aber  wird  nicht  der  ,,Iiehrer"  fähig  sein,  der  an  einer  ,, Anstalt" 
unterrichtet,  sondern  der  Erzieher,  der  in  seinem  Eigenleben  das  Leben 
des  Lebenskreises  des  Schule  mitlebt  und  mit  seinen  liebenskräften  am  Leben 
der  Schule  mitschafft. 


Über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter. 

StatistischeUntersuchung  über  die  Ideale  von  Schülern  norwegischer  Lekrerschulen. 

Von  Martin   Luther   Reymert. 

Die  Untersuchungen,  die  bisher  über  die  Ideale  bei  verschiedenen  Gruppen  von 
Personen  angestellt  worden  sind,  haben  sich  wesentlich  auf  das  7 — 14jährige  Alter 


Reymert,  Über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter  H 

bescliränkt,  und  die  Experimente  haben  zum  überwiegenden  Teil  Volksschul- 
kinder zum  Objekt  gehabt.  Nur  Goddard  hat  sich  auch  mit  Kindern  der  Mittel- 
schule beschäftigt^),  und  Barnes  mit  4 — 6jährigen  Kindern  der  Kindergärten 
New-Yorks^). 

Mit  Bezug  aber  auf  die  höhere  Jugendzeit  hat  man  sich  bis  jetzt  im  wesent- 
lichen mit  Vermutungen  begnügen  müssen.  Allerdings  hat  Barnes  eine  Probe*) 
an  38  männlichen  und  52  weiblichen  Schülern  amerikanischer  Lehrerschulen  — 
doch  natürlich  ohne  eine  Spezialisierung  der  verschiedenen  Altersstufen  - — 
angestellt,  und  Goddard  hat  710,  zwei  ganz  verschiedenen  Schulformen  ent- 
stammende junge  Leute  im  Alter  von  15 — ^28  Jahren  einer  Untersuchung  be- 
züglich ihrer  „Negativen  Ideale"  unterzogen*).  Betreffs  der  Versuchsanordnungen 
der  bisherigen  Idealuntersuchungen  liegt  oft  nur  der  Bescheid  vor,  so  und  so  viele 
Papiere  „seien  gesammelt".  Soll  man  jedoch  in  psychologischer  wie  pädagogischer 
Beziehung  zu  zuverlässigen  Ergebnissen  gelangen,  muß  man  bestrebt  sein, 
die  Aufgabe  möglichst  individuell  zu  fassen  und  gerade  die  differenzierenden 
Momente  zu  beachten^). 

Mit  Bezug  auf  die  von  Goddard  untersuchten  Altersstufen  (15 — 20  Jahre) 
meldet  sich  neben  den  sonstigen  Schwierigkeiten  auch  noch  eine  besondere, 
auf  die  Richter  aufmerksam  gemacht  hat,  und  die  darin  liegt,  daß  man  nicht 
ganz  ernstgemeinte  Antworten  erhält.  Demgemäß  verzichtete  Richter  darauf, 
seine  Idealuntersuchimgen  auch  auf  die  Fortbildungsschulen  Sachsens  zu  er- 
strecken, weil  die  Lehrer  dieser  Schulen  den  Ernst  der  Schüler  in  dieser  Beziehung 
stark  in  Zweifel  zogen.  Ich  habe  mich  nun  bemüht,  um  ein  zuverlässiges  Ergebnis 
zu  erlangen,  möglichst  günstige  Bedingungen  zuwege  zu  bringen.  Ich  wandte 
mich  an  die  Lehrerschulen,  da  ich  mich  in  bezug  auf  den  Ernst  dieser  Schüler  sicher 
fühlte,  und  durch  freundliches  Entgegenkommen  der  zuständigen  Rektoren 
gelang  es  mir,  die  Aufgabe  unter  ähnlichen  zuverlässigen  Bedingungen  wie  früher 
bei  den  Volksschulkindem")  —  in  sämtlichen  Klassen  am  nämlichen  Tage  in  der 
nämlichen  Schulstunde  —  durchzuführen.  Beeinflussungen  oder  Erläuterungen 
jedweder  Art  wurden  vermieden ;  den  Schülern  wurde  im  voraus  bekannt  gegeben, 
daß  die  Beantwortung  der  Frage  ihrerseits  durchaus  freiwillig  sei,  woraufhin 
11  von  Hundert  der  männlichen  und  14  v.  H.  der  weiblichen  Schüler  es  unter- 
ließen, eine  Antwort  niederzuschreiben.  Der  Wortlaut  der  Frage  für  diese 
Altersstufen  war  folgender: 

Welcher  Person  möchtest  du  am  liebsten  ähnlich  sein  und  warum? 

Eine  Änderung  gegen  frühere  Versuche  trat  insofern  ein,  als  man  den  Schülern 
aus  verschiedenen  Gründen  mitteilte,  Gott  und  Jesus  seien  bei  der  Beantwortung 
außer  Betracht  zu  lassen.  Um  das  Vertrauen  der  Versuchspersonen  auf 

1)  Zeitschr.  f.  exp.  Pädagogik  1907,  S.  166  ff.  (Die  Kurve  der  „öffentlichen  Cha- 
raktere" ließ  in  der  Mittelschule  eine  unverkennbare  Steigerung  erkennen.) 

*)  „Ideals  of  New- York  Kindergarten  Children",  Earl  Barnes,  Kindergarten 
Magazine,  Oktober  1903. 

»)  Studies  in  Education  II,  S.  359. 

•)  Ebenda,  S.  392,  H.  H.  Goddard:  „Negative  Ideals". 

')  Vgl.  William  Stern:  Die  differentielle  Psychologie  in  ihren  methodischen 
Grundlagen,  Kap.  VIII,  Verl.  J.  Ambr.  Barth,  Leipzig  1911. 

•)  Siehe  meinen  Artikel  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  XVII,  S.  226:  „Zur  Frage  nach 
den  Idealen  des  Kindes". 


12 


Martin  Luther  Reymert 


die  Bewahrung  strengster  Anonymität  zu  festigen,  wurde  die  wich- 
tige Maßnahme  getroffen,  daß  die  Rektoren  und  Versuchsleiter 
im  voraus  gelobten,  die  Antworten  nicht  zu  lesen,  sondern  die- 
selben zwecks  sofortiger  Weiterbeförderung  nur  einzusammeln. 
Im  ganzen  wurden  mir  nun  838  Beantwortungen  von  männlichen  (399)  und  weib- 
lichen (439)  Seminaristen  im  Alter  von  18 — ^25  Jahren  zugestellt^).  Die  Eltern 
der  Untersuchten  waren  zu  61  v.  H.  Landwirte,  die  übrigen  zum  größten  Teil 
Lehrer  und  sonstige  Angestellte,  sowie  einige  wenige  Beamte,  wesentlich  Geistliche. 
Alle  abgelieferten  Beantwortungen  tragen  ohne  Ausnahme  das  Gepräge  der 
Ehrlichkeit  und  Aufrichtigkeit,  wie  dies  auch,  meine  ich,  aus  den  unten  wieder- 
gegebenen Beispielen  hervorgehen  muß,  die,  den  niedergeschriebenen  Antworten 
aufs  Geratewohl  entnommen,  ein  richtiges  Durchschnittsbild  darbieten  sollten. 


Einige  Beantwortungen 


männlicher    Versuchspersonen. 

17   Jahre: 

Abraham    Lincoln, 
weil  er  denken,  reden,  wollen,  und  vor 
allen  Dingen  tun  konnte,  was  sein  Ge- 
wissen von  ihm  forderte, 
(unverkennbar    Ibsensche   Sprache) 


weiblicher  Versuchspersonen. 

17  Jahre: 

1.  Meinem  Vater, 
weil  er  so  gut  ist. 

2.  Meiner  Mutter, 

weil  sie  seit  dem  Tode  meines  Vaters 
das  Geschäft  geführt  hat,  trotzdem  sie 
keine  Vorkenntnisse  besaß  und  viel  Miß- 
geschick hatte  und  doch  den  Mut  nicht 
verloi. 


18  Jahre: 

Wergeland, 
weil  ,,er  für  Freiheit  kämpfte  und  der 
Kern  ihm  mehr  als  die  Form  galt". 
(Die  Anführungsstriche  besagen,  daß 
die  Wendung  einem  Verfasser  entlehnt 
ist.) 


18  Jahre: 

1.  Wergeland, 

weil  er  so  unerschrocken  und  klar  war 
und  so  gut  gegen  alle,  denen  es  schlecht 
ging. 

2.  Florence   Nightingale, 

weil  sie  voller  Güte  und  Aufopferung 
gegen  die  Kranken  war. 


19    Jahre:  _ 

I.V.  Müller,  dem  Anführer  der  ,, Em- 
den", 
weil  er  mit  kleinen  Mitteln  Großes  aus- 
richtete. 

2.  Der     biblischen    Ruth, 
ihrer  aufopfernden  Liebe  wegen. 

3.  A.  L.   (Bekannte), 
weil  sie  alle  entschuldigt  und  zu  allen 
gut  ist;  obwohl  alt  und  arm,  ist  sie  zu- 
frieden und  dankbar.    (Neunorwegisch.) 

4.  Napoleon, 
weil     er     begabt,     rasch     im     Handeln 
und  mutig  war. 

^)  Sämtliche  Lehrerschulen  des  Landes  waren  im  Jahre  dieser  Untersuchung  von 
609  männlichen  und  631  weiblichen  Schülern  besucht,  die  sich  auf  die  sechs 
staatlichen  Seminare  und  die  sechs  Privatschulen  des  Landes  verteilten;  drei  dieser 
letzteren  kommen  bei  meiner  Untersuchung  nicht  mit  in  Betracht. 


19  Jahre: 

Alle  jungen  Leute,  die  im  Leben  vorwärts 
streben,  haben  ihr  Ideal  und  befleißigen 
sich,  ihm  nachzueifern.  So  habe  auch  ich 
das  meinige,  nämlich  meinen  alten 
Lehrer  A.  M.  Was  er  hier  im  Leben  aus- 
gerichtet hat,  dünkt  mir  etwas  vom 
Größten  zu  sein,  was  Menschen  tun 
können.  Sein  ganzes  Leben  lang  hat  er 
seine  Kraft  in  den  Dienst  der  Schule 
gestellt. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter 


13 


männliche  Versuchspersonen. 

20  Jahre: 

Es  ist  schwierig,  von  einem  Mann,  dem 
man  in  jeder  Beziehung  gleichen  möchte, 
zu  lesen,  zu  hören,  oder  ihn  im  Leben  an- 
zutreffen. Jeder  Mensch  hat  ja  seine 
Fehler,  jegliche  historische  Persönlich- 
keit ihre  scharfen  Kanten,  die  der  Ab- 
schleifung  bedürfen.  Unter  den  großen 
Männern  der  Geschichte  hebt  sich  mir 
leuchtend  Olav  Haraldsön  (der  Hei- 
lige) ab.  Ihm  möchte  ich  wohl  ähnlich 
sein,  gerade  in  dem  einen,  daß  er  für  eine 
solche  Sache  kämpfte  und  für  sie  in  den 
Tod  ging.  In  seinem  großen  Gebet  vor 
der  Schlacht  bei  Stiklestad  bittet  er, 
selbst  im  Feuer  brennen  zu  müssen, 
,,wenn  die  Geschlechter  dadurch  erlöst 
würden".  Wie  sehr  gleicht  er  hierin  dem 
Erlöser  selbst!  Seine  Arbeit  wurde  von 
der  Liebe  zu  Gott  und  Volk  getragen. 
Ihm  ähnlich  zu  werden,  könnte  sich  der 
Mühe  verlohnen. 


weibliche  Versuchspersonen. 
20   Jahre: 

1.  Gunnar  paa  Lidarende*), 

weil  er  in  Wahrheit  ein  Mann  war, 
der  das  Tapfere,  Edle  und  Gute  ganz  und 
voll  in  sich  vereinte. 

2.  Rousseau, 

seiner  göttlichen  Gedanken  halber. 

3.  N.  N.  (Bekannte), 

weil  sie  gut,  ehrlich  und  wahrheitsliebend 
ist. 

4.  Meiner    Mutter, 

weil  sie  stark  und  liebevoll  ist.  Ich 
brauche  ihr  nichts  zu  verheimlichen, 
und  wie  schlimm  es  auch  stehen  naag,  so 
steht  sie  treu  zur   Seite. 

5.  Meinem   Vater, 

weil  er  im  Besitz  so  vieler  guter  Eigen- 
schaften ist,  die  mir  fehlen. 


^)  Aus  der  norwegischen  Sage. 


21   Jahre: 

L  Gladstone  (der  große  alte  Mann), 
weil  er  ehrlich,  wie  aus  einem  Guße  war. 

2.  Demosthenes, 

weil  er  ein  großer  Redner  war. 

3.  Roald  Amundsen, 

weil  er  unserm  Land  größere  Ehre  ge- 
macht hat  als  die  meisten.    (Neunorweg.) 

4.  Dem  Mathematiker  Nils  Hen- 
rik Abel, 

weil  er  so  berühmt  war. 

5.  Luther, 

er  hat  die  Sache,  die  den  höchsten 
Wert  für  uns  hat,  am  meisten  gefördert. 
(Neunorwegisch. ) 


21  Jahre: 

1.  Ole    Bull, 

er  besiegte  die  Herzen. 

2.  Ich  möchte  enn  liebsten  meiner 
alten  Großmutter  ähnlich  kein.  Bei 
ihr  fand  ich,  was  mir  den  tiefsten  Lebens- 
wert zu  haben  scheint.  Sie  war  dem 
Besten  in  sich  selbst  getreu  und  treu 
gegen  ihre  Mitmenschen.  Sie  ging  frisch 
drauf  los,  wenn  es  jemand  not  tat,  die 
Wahrheit  zu  hören,  aber  ihre  Rede  war 
nicht  kalt  vmd  scharf ,  Schonung  und  Liebe 
verrieten  sich  in  ihrer  Stimme.  Sie  fand 
bei  allen  Menschen  etwas  Gutes  und 
knüpfte  hieran  ihren  starken  Glauben 
an  das  Lichte  im  Leben;  darum  lebte 
sie,  obgleich  oft  von  Schwerem  betroffen, 
so  froh  und  sicher  iind  richtete  so  viel 
im  Hause  aus.  Sie  gab  den  Kindern  ein 
reiches  Erbe  heller  Lebenszuversicht 
und    Wahrheitsliebe.     (Neunorwegisch.) 


22   Jahre: 

Garborg, 
weil  er  nach  der  Wahrheit  im  Leben 
forschte.    „Zum  Lebensmarkte  trug  der 
Fragen  ich  zu  Ha\if,  doch  Antwort  ward 
mir  nie  —  Zweifel  nur  in  Kauf." 

(Zitat    des    Dichters.     Neunorwegisch.) 


22  Jahre: 

Es  gibt  einen  Mann  in  der  Geschichte, 
dessen  Name  mir  stets  leuchtend  vor- 
geschwebt hat  —  Arnold  Winkelried. 
Ich  kenne  niemand  in  der  Geschichte, 
dem  ich,  obgleich  eine  Frau,  lieber 
gleichen  möchte.  Ich  möchte  ihm  ähnlich 
sein,  weil  er  sich  für  andre  opfern  wollte 
und  konnte,  sich  opfern  für  Volk  und 
Vaterland ;  weil  er  nicht  das  Seine  suchte, 
sondern  alles  für  andre  dahingab. 


14 


Martin  Luther  Reymert 


männliche  Versuchspersonen. 
23  Jahre: 

Henrik  Ibsen, 
weil  er  der  Dichter  ist,  der  Wortkünstler. 
Weil  er  der  mächtige  Geist  ist,  der  mit 
des  Gedankens  Messer  Vorurteile  und 
Engherzigkeit  durchschneidet,  weil  er 
die  mächtigen  Schwingen  hat  und  hoch 
über  des  Tages  Grau  dahinsegelt.  Möchte 
wohl  seinen  Willen  besitzen,  denselben 
Willen,  der  sich  von  „Catilina"  bis  zu 
,,Wenn  wir  Toten  erwachen"  hindurch- 
arbeitete. 


weibliche  Versuchspersonen. 
23  Jahre: 

Camilla  Collet, 
Sie  besaß  nicht  allein  die  äußere  Schönheit, 
nach  der  wir  Frauen  im  Grunde  so  oft 
trachten;  sie  besaß  auch  die  Schönheit 
der  Seele.  Sie  war  klug,  geistreich  und. 
durch  und  durch  feinfühlend.  Sie  war 
eine  echt  weibliche  und  feine  Natur, 
obgleich  sie  unter  den  ersten  war,  die 
dafür  eintraten,  der  Frau  ihren  Platz 
neben  dem  Manne  in  der  Gesellschaft  an- 
zuweisen. Sie  war  mutig,  sie  bot  alten 
Sitten  und  Vorurteilen  Trotz. 


24   Jahre: 

Ich  habe  niemand  gefunden,  dem  ich 
ganz  und  gar  ähnlich  sein  möchte  — 
kein  reines  Ideal.  Den  Menschen,  von 
denen  ich  höre  und  lese  oder  die  ich  kenne, 
entnehme  ich  die  Züge,  die  mit  meiner 
Lebensanschauung  übereinstimmen. 


24  Jahre: 

1.  Meiner    Großmutter, 
Aveil  sie  ganz  Frau  ist. 

2.  Bertha  v.   Suttner, 

weil  sie  für  den  Frieden  gearbeitet  hat, 
und  dies  erscheint  mir  etwas  vom  Größten 
zu    sein,    wofür    man    arbeiten    kann. 


25    Jahre: 

1.  Leo    Tolstoi, 

weil  er  offne  Augen  besaß  für  alles,  was 
gerecht,  edel  und  schön  ist  unter  den 
Menschen  und  gleichei'weise  allesSchlechte 
haßte,  was  sich  ebenfalls  unter  ihnen, 
sowohl  im  privaten  wie  im  öffentlichen 
Leben  findet.  Doch  vielleicht  haupt- 
sächlich darum,  weil  er  selbst  lebte,  wie 
er  lehrte. 

2.  Björnstjerne    Björnsson, 
Kampflust,  Begabtheit, Rednerkunst  und 
Humor. 

3.  Professor    Birkeland, 

weil  er  eine  für  die  Menschheit  sehr 
nutzbringende  wissenschaftliche  Erfin- 
dung gemacht  hat.  Er  hat  ein  Verfahren 
erfunden,  wonach  man  den  in  der  Luft 
befindlichen  Stickstoff  so  verwenden 
kann,  daß  er  den  Pflanzen  zugute  kommt. 
Wenn  die  Bauern  das  nach  seinem  Ver- 
fahren hergestellte  Dungmittel  gebrau- 
chen, gedeihen  ihre  Felder  besser.  Dies 
bedeutet  einen  Gewinn  für  das  ganze 
Land.  Auch  ist  daraus  eine  neue  In- 
dustrie erwachsen,  die  viele  Arbeiter 
beschäftigt.  Und  die  Erzeugnisse  dieser 
Industrie  sind  ein  wichtiger  Ausfuhr- 
artikel geworden,  der  dem  Lande  viel 
Geld  einbringt.  Er  ist  einer  der  Männer, 
von  denen  Norwegen  den  größten  Nutzen 
gehabt  hat. 

4.  Meinem    Vater, 

1.  er  tat  das  Seine, 

2.  tu  ich  das  Meine  ? 
(Neunorwegisch. ) 


25    Jahre: 

1.  Ganz  und  gar  möchte  ich  niemand 
ähnlich  sein.  Ich  möchte  wohl  einem 
der  großen  Männer  der  Geschichte  darin 
gleichen,  daß  sie  nicht  nervös  waren. 

2.  Tora  (Bekannte), 

sie  will,  kann  aber  trotzdem  sagen: 
Nicht  wie  ich  will,  sondern  wie  du  willst. 

3.  Meiner    Mutter, 

sie  war  selbstlos,  gab  sich  ganz  für  andre 
und  verrichtete  ilire  Arbeit  für  ihren 
Gott.  Sie  konnte  alles  erreichen,  denn  sie 
hatte  beten  gelernt.  Sie  war  treu  im 
Kleinen  wie  im  Großen.  (Neunorwegisch.) 

4.  Meinem    Vater, 

weil  er  ehrlich  und  gut  und  natürlich  war. 

5.  Paulus, 

er  erachtete  alles  für  Tand  außer  dem 
einen  —  Christus  gleich  zu  sein.  —  Chri- 
stus war  ihm  das  Leben  und  Sterben  ein 
Gewinn. 

6.  Henrik    Ibsen, 

Weil  er  sich  selbst  treu  war. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter 


16 


Die   Wahl  des    Ideals. 

Ganz  natürlich  wird  die  reife  Jugend  bei  der  Wahl  ihrer  Vorbilder  eine  weitere 
Ausschau  halten  können  als  das  Kindesalter  mit  seinem  engeren  Erfahrungskreis. 
Die  Gesichtspunkte  mehren  sich  nicht  unbeträchtlich.  Ich  habe  die  Klassifi- 
zierung nach  sorgfältiger  Prüfung  auf  die  in  der  untenstehenden  Tabelle  ange- 
gebenen Gruppen  beschränkt,  die  allgemeines  Interesse  beanspruchen  dürften. 

Tabelle. 
Die  Zahlen  geben  den  Prozentsatz  der  verschiedenen  Altersstufen  an. 


Alter 

18 

19 

20 

21 

22 

23 

24—25 

Zusammen 

Anzahl  der  Beant- 
wortungen     .    . 

M. 
Fr. 

60 
55 

72 

78 

90 
95 

55 
65 

44 
45 

34 
45 

44 
56 

439  {    «3« 

I.  Bekanntenkreis 

M. 

Fr. 

5 

29 

7 
36 

4 
26 

6 

29 

8 
31 

30 

7 
40 

5 
32 

ft)  Eltern  .... 

M. 
Fr. 

10 

4 
13 

2 
13 

4 
12 

2 
12 

16 

3 

19 

2 
14 

b)  Verwandte    .    . 

M. 
Fr. 

6 

1 

2 

1 

1 
5 

3 

4 

2 

4 
3 

1 
3 

c)  Bekannte  .    .    . 

M. 
Fr. 

5 
13 

3 
22 

12 

1 
12 

3 
15 

12 

18 

2 
15 

II.  Öffentliche  Per- 
sonen   .... 

M. 
Fr. 

95 
71 

93 
64 

96 

74 

94 
71 

92 
69 

100 
70 

93 
60 

95 
68 

a)  Geschichte   des 
eignen    Landes 

M. 

Fr. 

5 
9 

12 
3 

11 

4 

11 
3 

6 
3 

10 

8 

9 
3 

b)  Fremde  Ge- 
schichte   .     .    . 

M. 
Fr. 

23 

20 

14 
15 

17 

18 

24 

8 

22 

15 

25 

18 

17 
14 

21 

15 

c)  Dichter  des  eig- 
nen Landes  .    . 

M. 
Fr. 

34 
20 

30 
26 

31 

28 

38 
40 

30 
23 

32 
38 

38 
21 

33 

28 

d)  Fremde  Dichter 

M. 
Fr. 

— 

4 

1 

1 

1 

4 
2 

5 
5 

8 
4 

5 

4 
2 

e)  Sonstiger  Art    . 

M. 
Fr. 

28 
22 

33 
19 

36 
23 

17 

18 

29 
23 

25 
10 

24 
25 

28 
20 

Entnehmen  wir  der  Tabelle  zunächst  das  uns  hier  besonders  interessierende 
Verhältnis  —  wie  sich  in  der  Jugendzeit  der  Übergang  vom  örtlichen  zum  weiteren 
Ideale  vollzieht  —  so  werden  wir  aus  der  Tafel  1  Seite  16  über  die  „Wahl 
aus  dem  Bekanntenkreis"  einige  Anhaltspunkte  gewinnen. 

Zunächst  fällt  uns  ins  Auge,  daß  die  Kurve  der  weiblichen  Versuchspersonen 
beträchtlich  höher  als  die  der  männlichen  liegt  und  daß  somit  das  im  Kindes- 
alter so  typische  Verhältnis  der  weit  stärkeren  Inanspruchnahme  des  persönlichen 
Bekanntenkreises  durch  die  weiblichen  als  durch  die  männlichen  Personen, 
bei  ihrem  Suchen  nach  Idealen  —  unverkennbar  im  höheren  Alter  fortgesetzt 


IQ  Martin  Luther  Reymert 


wird  (wir  finden  hier  die  Ziffern  Fr.  29  v.  H.,  M.  5  v.  H.  —  bei  Goddard  in  „Ne- 
gative Ideals"  Fr.  42  v.  H.,  M.  23  v.  H.  und  bei  Barnes  Fr.  23  v.  H.,  M.  8  v.  H.). 

Ferner  bemerken  wir,  daß  die  Kurven  der  beiden  Geschlechter  dieses  Alters  keinen 
größeren  Schwankungen  unterworfen  sind  und  daß  dabei  das  erwähnte  Verhältnis 
gleichmäßig  besteht. 

Beide  Kurven  erreichen  den  Gipfelpunkt  im  24 — 25jährigen  Alter.  Barnes 
nimmt  an,  daß  man  bei  etwaigen  Untersuchungen  erwachsener  Altersstufen  einmal 
zu  dem  Punkt  gelangen  würde,  wo  die  Bekanntschaftskurve  wiederum  einen  deut- 
lichen Anstieg  zeigt^).  Bei  den  vorgeschritteneren  Altersstufen  macht  sich  ja 
erfahrungsgemäß  die  Neigimg  bemerkbar,  wieder  zu  den  örtlichen  Idealen  im 
allgemeinen  zurückzukehren.  Ein  wichtiges  Moment  kommt  meines  Erachtens 
bei  der  Idealuntersuchung  des  erwachsenen  Alters  noch  hinzu,  die  Rolle  nämlich, 
die  während  der  Wahl  der  Wert  des  gewählten  Ideals  für  das  Individuum  spielen 
kann.    Je  nachdem  eine  Persönlichkeit  heranwächst  und  ein  immer  schärferes 

Unterscheidimgsvermögen  erwirbt,  scheint  es 
für  sie  angemessen,  sich  in  ihrem  idealen 
Streben  nachdrücklich  an  eine  handgreif- 
liche, lebende  Persönlichkeit  der  Familie  oder 
des  Umgangskreises  zu  halten,  was  sodann 
natürlich  die  Wahl  eines  örtlichen  Vorbildes 
fördern  muß.  Bei  der  Durchsicht  der  Beant- 
-vH  wortungen  des  24 — 25jährigen  Alters  habe 
ich  in  der  Bekanntschaftsgruppe  den  be- 
Tafel 1  stimmten  Eindruck  erhalten,  als  bezeichneten 
eben  die  steigenden  Kurven  dieses  Alters  eine 
Entwicklung  —  und  zwar  eine  Entwicklung  in  gesunder  Richtung,  da  nun  der 
kritische  Sinn  in  wertvoller  Weise  mit  zum  Ausdruck  kommt.  Vielleicht  könnte 
dieser  Umstand  geeignet  sein,  schulpädagogische  Konsequenzen  für  die  sittliche 
Erziehung  nach  sich  zu  ziehen.  Auch  dürften  fortgesetzte  Untersuchungen  mit 
verschiedenartigem  Material  und  unter  verschiedenen  Bedingungen  in  bezug  auf 
das  Eintreten  des  hier  besprochenen  Vorgangs  in  der  reiferen  Jugendzeit  wert- 
vollen Vergleichungsstoff  zuwege  schaffen.  ^ 

Da  die  überwiegende  Anzahl  der  hier  untersuchten  Schüler  der  Volksschule 
entstammt,  mag  es  Interesse  haben,  die  norwegische  Kurve  des  Mittelprozent- 
satzes der  Bekanntschaftswahlen  beider  Geschlechter  vom  7. — 25.  Jahre  dar- 
gestellt zu  sehen,  wobei  noch  besonders  zu  bemerken  ist,  daß  die  Versuchsper- 
sonen mit  nur  wenig  Ausnahmen  den  nämlichen  Schulgang  hinter  sich  haben^). 

Da  man  ja  davon  ausgehen  kann,  daß  man  in  den  Lehrerschulen  die  besseren 
oder  besten  Schüler  der  Volksschule  wiederfindet,  scheint  hier  eine  Normalkurve 
unsrer  Verhältnisse  vorzuliegen,  wie  sie  dem  allgemeinen  als  natürlich  angenomme- 
nen Verhalten  entspricht,  daß  nämlich  die  nordische  Jugend  auf  psychischem 
Gebiet  eine  langsamere  Entwicklung  zeigt  als  die  Jugend  der  südlicheren  Breiten- 
grade. 

^)  Studies    in   Education,    S.  360. 

*)  Nur  etwa  12  v.  H.  der  Schüler  machen  zwischen  Volksschule  und  Seminar  ihr 
Mittelschulexamen;   einzelne   besuchen  in  der   Zwischenzeit   eine  Volkshochschule. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter  17 


Was  die  Wahl  eines  Vorbildes  boim  andern  Geschlecht  betrifft,  so  wählten  in 
dieser  Studie  56  v.  H.  aller  weiblichen  Versuchspersonen  (bei  Barnes  50  v.  H.) 
ein  männliches  Ideal^),  während  nur  ein  einziger  Mann  eine  Frau  (seine  Schwester) 
erwählte  (bei  Barnes  0  v.  H.).  In  der  Kurve  des  weiblichen  Geschlechts  macht 
sich  hier  keine  merkbare  Tendenz  geltend. 


?0 

7         8 

9 

70 

7/ 

7^ 

13 

rif 

15 

16 

17 

18 

IS 

20 

27 

22 

23 

2*25 

^ 

60 

■ 

^ 

\ 

50 

- 

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h 

^ 

30 

^--- 

ZO 

10 

■-- 

•../' 

-^ 

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-- 

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Tafel  2.    Kurve  des  Bekanntenkreises 

Eine  Kurve,   deren  größerer  Teil  einen  ziemlich  ebenmäßigen  Lauf  darbietet,  was 

vielleicht  mit  der  Tatsache  versöhnen  könnte,  daß  diese  Kurve  im  Kind  es  alt  er 

höher  als  die  irgendeines  andern  Landes  liegt. 

Die  Wahl  der  Eltern. 

Diese  scheint  in  Ansehung  der  hier  untersuchten  Altersklassen  eine  weit  größere 
Rolle  bei  den  Frauen  (14  v.  H.)  als  bai  den  Männern  (2  v.  H.)  zu  spielen;  Töchter 
hängen  ja  viel  inniger  an  Vater  und  Mutter  als  Söhne,  eine  Tatsache,  die  wohl  ihre 
Erklärung  in  dem  allgemein  bekannten  Umstand  findet,  daß  der  Knabe  sich 
früher  von  der  Häuslichkeit  emanzipiert  als  das  Mädchen.  Mit  dem  Einfluß  der 
Mutter  auf  den  Knaben  ist  es  ja  baim  Eintritt  ins  Puber täts alter  nahezu  vorbei, 
von  nun  an  sucht  der  Knabe  instinktmäßig  den  Vater ;  aber  der  Vater  muß  Zeit 
und  die  glückliche  Gabe  des  Verständnisses  haben,  um  auf  den  Sohn  in  kamerad- 
schaftlich vorbildlicher  Weise  einwirken  zu  können.  Ist  vielleicht  hierin  der  Grund 
für  den  niedrigen  Prozentsatz  der  jungen  Männer  in  dieser  Gruppe  zu  suchen? 

1)  Indem  Stanley  Hall  in  „Adolescence"  (Vol.  II,  S.  391)  die  Ergebnisse  der  Ideal- 
untersuchungen und  der  sich  daran  schließenden  Studien  aufzählt,  spricht  er  unter 
anderm  aus:  „Die  traurigste  Tatsache,  die  aus  diesen  Studien  hervortritt,  ist,  daß 
beinahe  die  Hälfte  unsrer  amerikanischen  Mädchen  im  Übergangsalter  ein  männliches 
Ideal  wählt  oder  einem  Manne  gleich  sein  will".  Und  ferner:  , .Während  immer  mehr 
Frauen  niedrigere  und  höhere  Schulstufen  durchmachen,  sind  die  Ideale  des  Ge- 
schlechts noch  viel  zu  sehr  männlicher  Art.  Die  Lehrbücher  erzählen  viel  zu  wenig 
über  Frauen.  Wenn  eine  Biblische  Geschichte  der  Frau,  eine  Geschichte  für  Frauen, 
vorgeschlagen  worden  ist,  fürchtet  die  Frau  stets,  dies  müsse  zu  einem  Zurückver- 
setzen ihrerseits  in  den  alten  Sklavenstand  führen." 

Daß  56  v.  H.  unsrer  weiblichen  Versuchspersonen  ein  männliches  Ideal  wählen, 
sollte  die  Aufmerksamkeit  auch  bei  uns  in  hohem  Maße  wachrufen.  Die  strenge  For- 
derung einer  Differenzierung  der  Geschlechter  —  auf  die  Medizin  und  Psychologie 
immer  wieder  zurückkommen  —  sollten  selbst  die  Frauenrechtlerinnen  —  in  ihrem 
eignen  Interesse  —  nicht  außer  acht  lassen. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  2 


13  Martin  Luther  Reymert 


Bai  den  mannigfaltigen  „Gruppierungen"  in  statistisch-pädagogisclien  Arbeiten 
läuft  man  Gefahr,  die  Beurteilung  viel  zu  einseitig  zu  vollziehen.  Wahl  und  Be- 
gründung hängen  innig  zusammen  in  den  Idealstudien,  und  in  dieser  Gruppe  halte 
ich  es  zur  Erläuterung  der  Wahlen  für  angezeigt,  gleich  an  dieser  Stelle  auf  einen 
auffallenden  Zug  der  Begründung  aufmerksam  zu  machen.  Die  Eigenschaft 
nämlich,  die  —  ganz  besonders  von  Frauen  —  als  die  höchste,  für  die  Wahl  von 
Vater  und  Mutter  entscheidende  geschätzt  wird,  ist  das  unbedingte  Vertrauenhaben 
zu  ihnen:  ,,an  sie  oder  an  ihn  kann  ich  mich  stets  wenden,  wie  schlimm  es  auch 
stehen  mag". 

In  der  Gruppe  ,, Verwandte"  machen  sich  frühere  Generationen  (Großväter 
und  Großmütter)  in  hervorragender  Weise  bemerkbar,  so  daß  mir  der  Eindruck 
verblieb,  als  suchten  die  jungen  Leute  aus  einer  Zeit  wie  der  unsrigen,  die  mehr 
oder  weniger  voller  Bewegung  ist  und  ein  ruhiges  Überblicken  so  schwer  macht, 
in  eine  andre  Zeit  absoluteren  Gepräges  hinüber.  Dieser  Eindruck  wird 
durch  die  angeführten  Gründe  noch  in  hohem  Maße  verstärkt. 

Bekannte. 

Auch  hier  ist  die  Ziffer  der  weiblichen  Versuchspersonen  (12  v.  H.)  höher  als 
die  der  männlichen  (2.  v.  H.)  —  ein  Verhältnis,  das  zum  Nachdenken  auffordert. 
„Alles  was  Jugend  heißt,  verhält  sich  in  erstaunlichem  Maße  plastisch  und  sugge- 
stiv zu  seiner  Umgebung",  sagt  Stanley  Hall.  Diese  Studie  scheint  anzudeuten, 
daß  junge  Mädchen  von  18 — 25  Jahren  erheblich  mehr  als  junge  Männer  (in 
diesem  Fall  um  das  Sechsfache)  von  Freunden  und  Freundinnen  sogar  in  wirk- 
lichen Lebensfragen  beeinflußt  werden.  Die  von  den  weiblichen  Versuchspersonen 
angegebenen  Begründungen  für  die  Wahl  ihres  Vorbildes  im  Bekanntenkreis 
verraten  eine  Sympathie  für  den  Erwählten  so  stark,  daß  meines  Er  achtens  nicht 
angezweifelt  werden  kann,  wie  ihnen  die  Beantwortung  der  Frage :  Was  würde 
sie  oder  er  wohl  hierzu  sagen  ?  —  geradezu  eine  Lebensnorm  zu  sein  scheint. 
Wir  befinden  uns  ja  hier  im  Alter  der  Busenfreundschaften. 
Ein  seitens  der  zuständigen  Angehörigen  oder  wenn  möglich  seitens  der  Schule 
bewußtes  Überwachen,  ein  Kultivieren  der  ,, Bekanntschaftsideale"  junger  Mäd- 
chen in  diesem  Alter,  dürfte  vielleicht  eine  große  pädagogische  Aufgabe  dar- 
stellen. 

Auch  in  dieser  Gruppe  (wie  in  derjenigen  der  ,, Eltern")  spielt  das  weibliche 
Bedürfnis  nach  ,, Verständnis"  und  vertrauender  Hingabe  eine  große  Rolle.  Meist 
fällt  die  Wahl  auf  gleichalterige  oder  etwas  ältere  Freundinnen,  seltener  auf 
Männer,  die  dann  lieber  einer  etwas  höheren  Altersstufe  angehören.  Die  Lehrer 
der  Schule  waren  von  1  v.  H.  der  männlichen  und  2,5  v.  H.  der  weiblicher»  Ver- 
suchspersonen gewählt. 

Geschichte  des  eignen  Landes^), 

Dieser  Studie  zufolge  wenden  sich  9  v.  H.  der  männlichen  und  3.  v.  H.  der  weih- 
lichen  jungen  Leute  dieses  Alters  bei  ihrem  Suchen  nach  einem  Vorbilde  in  un- 
mittelbarer Weise  der  vaterländischen  Geschichte  zu.    Die  Wahlen  fallen  sehr 


*)  Vgl.  meine  Studie  über  norwegische  Volksschulkinder. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter  19 

zerstreut  aus;  von  beiden  Greschlechtern  am  höchsten  geschätzt  sind:  1.  Tordens- 
kjold,  2.  Olav  der  Heilige,  3.  Olav  Trygvason.  Von  Männern  allein  erhielt  die 
höchste  Stimmenanzahl  Haakon  Haakonson^),  sodann  mehrere  (meist  radikale) 
Politiker.  Von  norwegischen  historischen  Persönlichkeiten  der  Jetztzeit  nimmt 
Roald  Amundsen  den  ersten  Platz  ein,  während  auf  Chr.  Michelsen  und  Lövland 
(das  Ministerium  der  ünionsauflösung  1905)  je  eine  Stimme  entfiel. 

Das  höherstehende  weibliche  Ideal  norwegischer  Geschichte  ist  auch  für  diese 
Altersstufe  Anna  Kolbjörnsdatter,  sie,  die  sich  hauptsächlich  durch  typisch 
männliche  Tugenden  auszeichnete !  Wie  beredt  wiederum !  Abermals  drängt  sich 
uns  die  Frage  auf:  Müßte  man  nicht  in  die  Schulen  (zumal  in  die  Lehrers  chulen) 
vaterländisch  historische  Biographien  in  vertiefter  Behandlung  einführen  und 
zwar  derart,  daß  in  ihnen  die  historische  Persönlichkeit  sowie  ihr  national-sozialer 
Hintergrund  gleich  bewertet  werden? 

Fremde    Geschichte. 

Die  Geschichte  fremder  Länder  zeigt  sich  hier  reicher  an  vorbildlichem  Stoff 
als  unsre  eigne,  denn  20  v.  H.  der  Männer  und  14  v.  H.  der  Frauen  finden  hier 
ihr  Ideal.  Die  auf  diesem  Gebiete  gewählten  Personen  dürften  vielleicht  für 
spätere  Vergleichszwecke  allgemeines  Interesse  haben. 

Der  Reihenfolge  nach  erhielten  die  meisten  Stimmen  beider  Geschlechter 
folgende  Persönlichkeiten:  1.  Sokrates,  2.  Washington,  3.  Napoleon,  4.  Cäsar, 
5.  Gladstone,  6.  Livingstone^). 

Nur  von  Männern  wurden   gewählt : 

1.  Lincoln,  2.  Demosthenes,  3.  Bismarck. 

Je  eine  Stimme  erhielten  hier:  Kaiser  Wilhelm,  Friedrich  der  Große,  Epa- 
minondas,  Aristides,  Aristoteles,  Diogenes,  Alexander  der  Große,  Karl  XII., 
Gustaf  Adolf,  Lloyd  George,  Nobel,  H.  Dunnant,  Lavas6,  Karl  Marx.  Jean  Jaurös. 

Nur  Frauen  wählten: 

1.  Florence  Nightingale  (die  weitaus  größte  Stimmenanzahl),  2.  Jeanne  D'arc, 
3.  Königin  Elisabeth. 

Je  eine  Stimme  entfiel  auf:  Königin  Luise,  Königin  Margreta,  Königin  Victoria, 
Arnold  Winkelried,  Benjamin  Franklin,  William  Pitt  (der  Ältere),  Cornelia  (die 
Mutter  der  Gracchen),  Eleonora  Ulfeldt^). 


^)  Der  König,  welcher  in  Henrik  Ibsens  „Die  I^onprätendenten"  den  Königs- 
gedanken hat:  alle  einander  widerstrebenden  Strömungen  in  einem  geeinten 
Norwegen  zu  sammeln. 

*)  Am  eingehendsten  beschäftigt  man  sich  mit  Sokrates  im  Fach  „Pädagogik  mit 
Seelenlehre".  Den  für  diese  Wahl  angegebenen  Gründen  aber  läßt  sich  entnehmen, 
daß  er  den  Schülern  geschichtlich  der  glänzendste  Vertreter  moralischen  Mutes 
und  Wahrheitsforschens  ist.  Als  Pädagog  mit  der  „sokratischen  Methode"  kommt  er 
nicht  zur  Erwähnung. 

')  Die  auf  Florence  Nightingale  entfallende  große  Stimmenanzahl  der  Frauen 
läßt  sich  zvmi  Teil  daraas  erklären,  daß  in  einer  der  Schulen  über  sie  Vorträge  gehalten 
worden  waren.  Sollte  denn  aber  nicht  die  Begierde,  mit  der  die  Frauen  dies  weib- 
liche Ideal  ergriffen,  uns  eine  Weisung  sein,  Frauenideale  zu  finden  tmd  auszunutzen  ? 
Gerade  für  das  plastische  Alter  von  18 — 25  Jahren  dürfte  dies  tiefgehendste  Bedeutung 
haben. 


20 


Martin  Luther  Reymert 


Ein  Zusammenfassen  der  Gruppen  „Vaterländische  Geschichte"  und  ,, Fremde 
Geschichte"  gibt  für  diese  Altersstufen  folgende  Kurven, 


Alter 

l-ä       9  10  77  72  73  7»  /S  16  17  18  1.9         20         27         22         23        Z-t.  aS 


6eschic/)te  überhdupf 

"       des  eignen  Ldndes 

Nicht  untensuc/it 

Tafel  3.     Die  Wahl  geschichtlicher  Ideale 


die  darzutun  scheinen,  daß  sich  der  typische  Unterschied  zwischen  den  Geschlech- 
tern im  Kindesalter  auch  in  diesen  Jahren  wiederfindet,  in  dem  historisches  In- 
teresse bei  jungen  Männern  weit  stärker  vertreten  zu  sein  scheint  als  bei  jungen 
Mädchen.  Es  mag  wohl  sein,  daß  wir  es  hier  mit  einer  fundamentalen  Verschieden- 
artigkeit zu  tun  haben,  die  seinerzeit  pädagogische  Konsequenzen  zeitigen  dürfte. 


Dichter   des   eignen   Landes. 

Dieser  Gruppe  läßt  sich  die  weitaus  größte  Zahl  der  erwählten  Vorbilder  (M. 
31  V.  H.,  Fr.  24  v.  H.)  einordnen,  und  diesen  Vorzug  mag  sie  zum  Teil  dem  Um- 
stand verdanken,  daß  mehrere  unsrer  großen  Dichter  sich  neben  einem  Weltruf 
große  nationale  und  soziale  Verdienste  erworben  haben.  Stanley  Hall 
sagt  in  ,,Adolescence"  über  das  reifere  Jünglingsalter i) :  ,,He  is  bemastered  by  the 
style  of  great  authors  he  has  read  and  is  an  adept  at  dialect  and  the  personation 
of  national  types".  Wort  für  Wort  kann  ich  dies  Urteil  gemäß  der  von  mir  ge- 
machten Erfahrungen  in  dieser  Gruppe  miterschreiben.  Wa^die  Liebe  zum  Dia- 
lekt betrifft,  so  tritt  dieselbe  in  dieser  Studie  in  der  recht  ansehnlichen  Wahl  von 
Dichtern  zutage,  die  sich  der  ,, neunorwegischen",  auf  verschiedenen  Dialekten 
aufgebauten  Sprache")  bedienen. 

Die  von  beiden  Geschlechtern  bevorzugtesten  Dichter  sind : 
Henrik  Wergeland  (M.  66,  Fr.  50  v.  H.),  Björnstjerne  Björnson  (M.  15,  Fr.  5  v.  H.), 
Ivar  Aasen  (neunorwegischer  Dichter)  M.  11,  Fr.  6  v.  H.),  Arne  Garborg  (neunor- 
wegisch) (M.  11,  Fr.  2  V.  H.),  Henrik  Ibsen  (M.  9,  Fr.  3  v.  H.),  Aasmund  Vinje 
(neunorwegisch)  (M.  7,  Fr.  4  v.  H.),  Per  Sivle  (M.  3,  Fr.  1  v.  H.),  je  eine  Stimme 
haben  Welhaven,  Ivar  Mortensen,  Sven  Moren. 

Von  Männern  allein  entfielen  die  meisten  Stimmen  auf  Ludwig  Holberg,  von 
Frauen  allein  die  meisten  auf  Camilla  Collet,  demnächst  auf  Hulda  Garborg  und 
Barbra  Ring.    Jörgen  Moe  und  Sigrid  Unseth  erhielten  je  eine  Stimme. 


^)  Vol.  II,  S.  316. 

*)  Mit  Bezug  hierauf  herrscht  hier  im  Lande  ein  scharfer  Sprachkampf. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter 


21 


Fremde    Dichter, 
wurden  hinsichtlich  der   Stimmenzahl  in  folgender  Reihenfolge  gewählt: 

Von    beiden    Geschlechtern :    Oehlenschläger. 

Von  Männern  allein:  Leo  Tolstoi,   Goethe,  Fröding^)  (schwedisch),  Homer. 

Von  Frauen  allein:  Bertha  v.  Suttner. 

Fassen  wir  die  Gruppen  eigne  und  fremde  Dichter  für  das  Alter  18 — 25  Jahre 
zusammen,  so  entstehen  folgende  Kurven  der  Tafel  4. 


50% 
ifO 
30 
ZO 


78 

13 

Alter 
ZO        ZI        zz 

Z3         Z''.Z5 

■ 

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,./M 

y 

X/"/- 

^0% 
30 
20 
10 


7B        79 

ZO 

zr      zz      Z3      z'f.zs 

.      N 

-^ 

\/      ^'^'^ 

Tafel  4 


Tafel  5 


umfaßt : 


Die  männliche  Kurve  verrät  steigende  Tendenzen.  Der  starke  Fall  der  weib- 
lichen Kurve  im  24 — 25jährigen  Alter  läßt  sich  durch  die  reiche  Wahl  persön- 
licher  Bekannter  in  diesen  Jahren  (40  v.  H.)  erklären. 

Das  nebenstehende  Diagramm  (Tafel  5)  stellt  dar,  wie  sich  das  Interesse  für 
nationale  Dichter  zum  Interesse  für  nationale  Geschichte  und  für  Geschichte 
überhaupt  verhält.  Da  meine  beiden,  an  dieser  Stelle  bekanntgegebenen  Studien 
zu  bestätigen  scheinen,  daß  die  Schule  (besonders  offenkundig  bei  den  Schülern 
des  Jugendalters)  in  hohem  Maße  verantwortlich  ist  für  den  den  Schülern  darge- 
botenen „vorbildlichen"  Stoff,  so  könnte  vielleicht  das  Diagramm  einen  Einblick 
in  die  Rolle  gewähren,  die  die  obengenannten  Gruppen  in  der  norwegischen 
Schule  spielen. 

Eine    Gruppe    sonstiger    Art 

M. 
v.  H. 

Die  Wahl  von  Künstlern 2 

,,         ,,        ,,     Männern  der  Realwissenschaft •    •    •      2 

,,     Personen  der  Dichtung 1 

vom  Gesichtspunkt  aus :  Niemand,  da  alle  Fehler  haben     'i 

öffentlicher,  rein  religiöser  Charaktere 8 

öffentlicher,  rein  pädagogischer  Charaktere 6 

andrer    Persönlichkeiten     (Vorkämpfern     der    Enthalt- 
samkeit u.  ä.) 6        — 

Von  Künstlern  wurden  von  beiden  Geschlechtern  gewählt:  1.  Ole  Bull  (der 
Meister  Norwegens  auf  dem  nationalen  Instrument,  der  Geige),  2.  Edvard  Grieg 
(der  berühmte  norwegische  Komponist). 

Von  Männern  der  Realwissenschaften  :  1.  Darwin,  2.  Nils  Henrik  Abel. 

Von  öffentlichen,  rein  religiösen  Charakteren:  1.  Luther^),  2.  H.  Nielsen  Hange. 

Aus  der  Biblischen  Geschichte  (M.  3  v.  H.,  Fr.  3  v.  H.) :  von  beiden  Geschlechtern 
Paulus,  Johannes  der  Täufer, 


Fr. 
v.H. 
3 
1 
1 
2 
9 
5 


*)  Fröding  war  kürzlich  Vortragsweise  behandelt  worden. 

")  Den  von  allen  betreffenden   Personen    angegebenen   Gründen    zufolge    gehört 
Luther  dieser  Gruppe  an,  als  Pädagog  findet  er  nicht  Erwähnung. 


22 


Martin  Luther  Reymert 


Von  Männern  allein :  Joseph,  Abraham,  Moses. 
Von  Frauen  allein:  Maria  (die  Mutter  Jesu),  Ruth. 
Von  öffentlichen,  rein  pädagogischen  Charakteren: 

Gewählt  von  bsiden  Geschlechtern:  1.  Bekannte,  um  die  Schule  verdiente 
Norweger,  2.  Kr.  Kold,  dänischer  Volkshochschullehrer,  Pestalozzi  3  (2), 
Rousseau  2  (2),  Grundtvig  2  (2). 

Gewählt  von  Frauen  allein :  Ole  Vik,  Henrik  Rytter. 


Die    Gründe. 


Betrachtet  man  die  Gründe,  die  die  Wahl  des  Vorbildes  bestimmen,  so  gewinnt 
man  in  mancher  Beziehung  einen  wertvollen  Einblick  in  das  innere  Leben  der 
jugendlichen  Personen.  Den  Stoff  genau  zu  klassifizieren,  ist  allerdings  nicht 
leicht,  da  hier  gleichzeitig  mehrere  Gesichtspunkte  zur  Geltung  kommen;  jedoch 
habe  ich  nach  mehrmaliger  sorgfältiger  Prüfung  einige  Prozentzahlen  heraus- 
gefunden, die  alle  Glieder  mit  in  Betracht  kommen  lassen.  Hierbei  trat  mir 
klar  vor  Augen,  daß  die  rein  individuell  ethischen  Eigenschaften  sowohl  von 
Männern  wie  Frauen  am  höchsten  geschätzt  werden. 


Rein  ethisch 

betonte   G 

runde 

Alter 

18 

19 

20 

21 

22 

23 

21—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 
Fr. 

44 

66 

58 
63 

51 

68 

63 
73 

66 
63 

40 
52 

54 

68 

54 
65 

>      60 

In  dieser  Gruppe  sind  die  für  die  Wahl  einer  Person  abgegebenen  ethischen 
Gründe  religiöser   Art  nicht  mit  einbegriffen.  ^ 

Ausgesprochen  religiöse  Gründe  wurden  ziffernmäßig  wie  folgt  angegeben: 


Alter 

18 

19 

20 

21 

22 

23 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 
Fr. 

15 
9 

18 
15 

25 
16 

20 
16 

16 
22 

23 

28 

13 
30 

19 

20 

l  16  V.  H. 

Wir  sehen,  daß  auf  dieser  Altersstufe  ethische  Eigenschaften  von  Frauen 
höher  als  von  Männern  eingeschätzt  werden,  während  ein  Wesensunterschied  der 
Geschlechter  in  bezug  auf  die  religiöse  Bewertung  —  wenn  man  nicht  etwa  den 
mit  den  Jahren  raschen  und  gleichmäßigen  Anstieg  der  weiblichen  Kurve  in 
Betracht  ziehen  will  —  nicht  nachweisbar  ist.  Goddards  Annahme,  daß  die 
Frau  von  Natur  aus  religiöser  veranlagt  sei  als  der  Mann,  ließe  sich  vielleicht 
dahin  begrenzen,  daß  bei  der. Frau  religiöser  Sinn  und  religiöses  Gefühl  oft  mit 
den  Jahren  wächst,  während  dem  Manne  seine  praktische  Tätigkeit,  die  stärker 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter  23 


differenzierten  weltlichen  Interessen  oft  Hemmnisse  für  das  Zustandekommen 
eines  allgemein  religiösen  Verhältnisses  sind. 

Die  Mittel  der  ethischen  Eigenschaften  beziffern  sich  auf  60,  die  der  religiösen 
aber  nur  auf  16:  Das  Verhältnis  der  beiden  Werte  gibt  zu  mancherlei  Erwägungen 
Anlaß.  Daß  bei  den  ethischen  Gründen  oft  der  religiöse  Hintergrund  durchschim- 
mert, ist  nicht  in  Abrede  zu  stellen;  aber  im  ganzen  wirkte  das  Ergebnis  nach  mei- 
nen in  der  Volksschule  gemachten  Erfahrungen  etwas  überraschend. 

Die  Schüler  treten  im  18.  Lebensjahre  mit  verhältnismäßig  geringen  Kennt- 
nissen und  mit  einem  recht  beschränkten  Gesichtskreis  in  die  Lehrerschule  ein, 
welche  nun  diesen  jungen  Gemütern  im  Laufe  von  drei  Jahren  durch  viele 
„Fächer"  hindurch  die  Welt  der  Vergangenheit  und  Gegenwart  so  vollständig 
wie  nur  möglich  erschließen,  aber  auch  zugleich  Erzieher  und  Lehrer  aus  ihnen 
machen  soll^). 

Das  eine  Wunder  nach  dem  andern  sehen  die  jungen  Leute  nun  leuchtend  vor 
sich  stehen  —  sie  sehen  Sokrates  im  neuen  Licht,  Darwin  und  alle  die  andern, 
die  menschliches  Denken  in  neue  Bahnen  leiteten.  Es  wird  gerüttelt  an  den 
bisher  in  Heim  und  Schule  erworbenen  Dogmen  und  Anschauungen.  Ein  beun- 
ruhigendes Gefühl  von  der  Mannigfaltigkeit  des  Lebens,  von  der  Unzahl  der  Pro- 
bleme ergreift  sie.  Mit  erwachender  Kritik  und  neu  entstehendem  Forscherdrang 
suchen  sie  nach  Anhaltpunkten  —  suchen  dieselben  bei  den  großen  Geistern  aller 
Zeiten,  forschen  in  Religion  xmd  Literatur  —  und  finden  meist  scharf  voneinander 
abweichende  Standpunkte.  Eine  allgemeine  Unsicherheit  des  Gemütes,  ein 
Schwanken  des  Urteils  wird  die  Folge  dieser  inneren  Erfahrungen.  In  dieser 
Weise  erkläre  ich  mir,  daß  die  jungen  Leute  vorläufig  auf  einer  allgemeinmensch- 
lichen Grundlage  der  Ethik  Ruhe  suchen,  in  einem  Streben  nach  und  einem  Fest- 
haltenwollen an  den  besten  Eigenschaften,  die  den  meisten  großen  Geistern  imd 
den  besten,  ihnen  im  Leben  entgegentretenden  Menschen  gemein  zu  sein  scheinen. 
Hier  bewegen  sie  sich  auf  neutralem  Boden,  ohne  in  ein  gegensätzliches  Verhältnis 
zur  —  Religion  zu  geraten,  die  in  diesen  Jaliren  wohl  der  Anlaß  so  mancher  inne- 
rer Kämpfe  ist.  Die  hohe  Prozentzahl  der  „ethischen  Gründe"  scheint  darum 
anzudeuten,  daß  das  ethische  Streben  in  praktischer  Beziehimg  stärkeren  Beschlag 
auf  die  reifere  Jugend  legt  als  das  religiöse,  und  daß  bei  uns  ein  abgeklärter  Stand- 
punkt auf  diesem  letzteren  Gebiete  einem  noch  reiferen  Alter  angehört.  Hiermit 
sei  aber  nichts  gesagt  über  die  Rolle,  welche  die  Religion,  religiöser  Sinn  und  reli- 
giöses Fühlen  als  Hintergrund  alles  ethischen  Strebens  spielt.  Daß  die  Gruppe 
,,rein  religiöse  Gründe"  keine  höhere  Prozentzahl  aufweist,  dürfte  teilweise  in 
der  oben  dargelegten  Entwicklung  eine  Erklärung  finden,  auch  mag  dem  durch 
die  physische  Entwicklung  dieser  Jahre  stark  geförderten  ,, Ich  "-Gefühl  eine  ge- 
wisse Bedeutung  beigelegt  werden.  Man  vergesse  auch  nicht,  daß  die  Gottheit 
bei  dieser  Studie  außer  Betracht  gesetzt  wurde,  und  ferner,  daß  wir  uns  beim  Be- 
treten des  religiösen  Gebiets  auf  einem  Grund  befinden,  wo  viele  eine  natürliche 
Scheu  haben,  auch  sich  selbst  Rechenschaft  zu  geben. 


^)  Man  kann  sich  nicht  genug  wundern,  daß  der  Schule  diese  Aufgabe  so  weit  wie 
bisher  geglückt  ist.  Es  ist  schwer  begreiflich,  wo  in  unsern  Tagen  die  Zeit  dazu 
herkommt  —  man  hat  auch  eben  jetzt  in  Erwägung  gezogen,  die  Schulen  zu  vier- 
jährigen zu  machen. 


24 


Martin  Luther  Reymert 


Unter  den  ethis  chen  Ei  genschaften  sehen  wir  Opferwilligkeit  und  das  Ver- 
langen, andern  zu  helfen,  vor  allen  andern  geschätzt^).  Die  Zahlen  hierfür 
lauten  wie  folgt: 


Alter 

18 

19 

20 

21 

22 

23 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 
Fr. 

12 
42 

12 

39 

14 
43 

20 

47 

25 

40 

17 
32 

13 

48 

16 

42 

J    29  V.  H 

„Edel",  ,, selbstlos",  „opfert  sich  für  andre",  „denkt  mehr  an  andre  als  an  sich 
selbst",  sind  die  Gründe,  die  wir  am  häufigsten  antreffen.  Frauen  scheinen  in 
diesem  Alter  altruistischer  als  Männer  veranlagt  zu  sein.  Moralischer  Mut 
scheint  für  dieses  Alter  eine  begehrenswerte  Eigenschaft  zu  sein.  ,, Hielt  an  seiner 
Sache  fest,  was  auch  die  andern  darüber  meinten",  ,,wich  nicht  von  dem,  was 
er  als  Recht  erachtete",  ,,ging  für  seine  tJberzeugung  sogar  in  den  Tod"  sind  oft 
wiederkehrende  Gründe.  Vergleichshalber  seien  hier  auch  die  Prozentzahlen  derer 
angegeben,  die  dem  physischen  Mut,  der  Tapferkeit  huldigen: 


Alter 

18 

19 

20 

21      22 

23 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

Physischer  Mut  .  . 
Moralischer  Mut   . 

M. 

Fr. 

M. 
Fr. 

2 
2 

22 
2 

3 
4 

18 
10 

G 
3 

12 
2 

7  3 

8  — 

23      24 
12      13 

7 
4 

25 

4 

12 

13 

5 

6 
3 

20 

7 

1  „ 

l      13.3 

Wie  wir  sehen,  scheint  der  Mut  in  beiderlei  Gestalt  (vgl.  Lehmann)  viel  höher 
von  den  jungen  Männern  als  von  den  jungen  Mädchen  geschätzt  zu  werden. 
Pädagogisches  Interesse  dürfte  es  vielleicht  haben  —  als  Hintergrund  jeder  Moral- 
erziehung in  diesen  Jahren  —  den  ,,Mut"  zu  betonen.  Stehen  wir  hier  nicht  vor 
Eigenschaften,  deren  unsre  Zeit  mit  ihren  vielen  verschwommenen  Tendenzen 
besonders  bedürftig  wäre? 


^)  In  der  Übersicht  über  ,,Det  Kgl.  Danske  Videnskabernes  Selskabs  Forhand- 
linger"  1916,  Nr.  2,  hat  der  bekannte  Kopenhagener  Professor  Alfr.  Lehmann 
soeben  eine  Studie  über  mehrere  tausend  dänische  Kinder  („Om  Borns  Idealer") 
veröffentlicht.  Eine  besondere  Bedeutung  kommt  der  Arbeit  dadurch  zu,  daß  sie 
meines  Wissens  die  erste  ist,  die  Vergleiche  einerseits  z^\dschen  Stadt-  und  Landkin- 
dern, und  anderseits  zwischen  Schulen  für  beide  Geschlechter  zusammen  und  Knaben- 
und  Mädchenschulen  zu  ziehen  versucht. 

Professor  Lehmann  äußert  sich  in  seiner  Studie  (S.  92)  in  folgender  Weise:  , .Zärt- 
lichkeit ist  meines  Brach tens  das  typisch  weibliche  Gefühl,  das  in  seiner  höchsten  Aus- 
drucksform gewöhnlich  Mutterliebe  genannt  wird  und  im  Beschützungsinstinkt 
wvirzelt.  Da  dieser  Instinkt  bei  allen  höheren  Tieren,  zumal  bei  den  Weibchen  und 
nur  ausnahmesweise  bei  den  Männchen  vorhanden  ist,  wäre  anzunehmen,  etwas 
Ähnliches  mit  Bezug  auf  das  demselben  entspringende  Zärtlichkeitsgefühl  des  Men- 
schen zu  finden.  Und  da  dieses  gerade  das  kennzeichnende  Gefühl  der  Frau  sein  soll, 
müßte  es  um  so  stärker  werden,  je  mehr  die  Entwicklung  des  Kindes  sich  dem  ,, Weib- 
werden" nähert." 

Die  Vermutung,  die  durch  den  Befund  Lehmanns  für  das  8 — 16jährige  Alter 
erhärtet  wird,  findet,  wie  man  sieht,  eine  CNÜdent«  Bestätigung  durch  die  von  mir 
untersuchten  Alterstufen  18 — 25  Jahre. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter 


26 


In  welchem  Umfang  Jugendschulen  berechtigt  sind,  ,, Überzeugungen"  zu 
schaffen,  wozu  sie  mir  sehr  wohl  fähig  zu  sein  scheinen,  darüber  könnte  gestritten 
werden.  Das  berührt  aber  nicht  die  Frage  von  der  pädagogischen  Heranleitung 
zu  p'-inzipiellen,  ethischen  Grundsätzen.  Und  gibt  man  dies  zu,  so  wird  in  erster 
Linie  der  moralische  Mut  sich  als  Ideal  aufdrängen ;  diese  Eigenschaft  ist  in  keiner 
dogmatischen  Überzeugung  verkapselt.  Die  starke  Opferwilligkeit  der 
Frauen,  die,  recht  oft  etwas  verschwommen,  als  das  Bedürfnis  „den  Menschen 
zu  helfen"^)  empfunden  wird,  sowie  auch  die  von  den  jungen  Männern  vorge- 
zogenen mehr  energisch  ausgeprägten  Ideale,  scheinen  mir  in  den  Jugendschulen 
im  hohen  Maße  aufmerksamer  Beachtung  zu  bedürfen.  Ich  erinnere  hierbei  an 
den  Ausspruch  Stanley  Halls:  Youth  is  peculiarly  prone  to  enthuse  for  great 
and  distant  causes  and  grow  myopic  for  homely  every  day  social  duties",  und: 
„The  social  instincts  of  girls  are  perhaps  still  more  in  danger  of  to  wide  irradiation, 
for  their  normal  sphere  of  influence  is  more  personal".  (Adolescence,  Vol.  II, 
S.  431.)  Es  scheint  mir  klar  zu  sein,  daß  die  pädagogische  Richtmig,  deren 
hauptsächlichste  Verfechter  auf  deutschem  Boden  wohl  R.  Lehmann  und 
Fr.  W.  Förster^)  sind,  \md  welche  die  Erörterung  ethischen  Stoffs  in  der  Schule 
fordert,  im  Recht  ist  —  wenigstens  insofern  man  diese  Altersstufen  berück- 
sichtigt. Allerdings  muß  das  Ziel  hierbei  nicht  das  sein,  eine  allumfassende  Lebens- 
anschauung zu  bilden,  sondern  nur  den  jungen  Menschen  möglichst  gute 
Bedingungen  zu  schaffen,  um  ihren  selbstgewählten  Weg  zu  finden. 


Intellektuelle    Gründe. 
Diese  kommen  ziffernmäßig  in  folgender  Weise  zum  Ausdruck ; 


Alter 

18 

19 

20 

21 

22         23 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 
Fr. 

25 
25 

34 
17 

35 
25 

21 
20 

40         17 
22         20 

12 
13 

23 

20 

1  23  v.  H. 

„Dem  klaren  Gedanken"  scheinen  beide  Geschlechter  in  überwiegender  Weise 
zu  huldigen,  ebenso  behauptet  der  ,,zähe  Wille"  einen  ansehnlichen  Platz,  während 
die  Phantasie  in  klar  ausgesprochener  Weise  nur  eine  unbedeutende  Rolle  spielt. 

^)  Die  meisten  werden  wohl  die  bittre  Tragödie  erleben:  Erst  die  hohen  Ziele  der 
Jugendzeit  gepaart  mit  dem  Verlangen,  der  Welt  einen  neuen  Lauf  zu  geben  —  und 
dann  die  lähmenden  Forderungen  der  Selbsterkenntnis  und  des  praktischen  Lebens. 
Gar  mancher  mag  hierbei  den  „Willen  zum  Leben"  eingebüßt  haben.  Um  nun  wenig- 
stens die  pessimistische  Reaktion  dieser  Tragödie  kürzer  und  leichter  ertragbar  zu 
machen  —  und  um  die  Sturm-  und  Drangperiode  möglichst  in  ein  frohgesinntes, 
handlungsfähiges  ,, Mannesalter"  auslaufen  zu  sehen,  dürfte  es  ratsam  sein,  der  Jugend 
in  den  Schulen  Beispiele  aus  Geschichte  und  Literatur  vorzuführen.  Diese  müßten 
in  der  Weise  zugänglich  gemacht  werden,  daß  sie  ohne  jegliches  ,, Moralisieren"  und 
ohne  den  Schülern  ihre  jugendliche  Lebensfreude  zu  benehmen,  kraft  ihres  eignen 
Wertes  wirkten.  Ihre  Herzen  dürften  sich  nicht  abgestoßen  fühlen  bei  dem  Bestreben 
der  Erzieher,  ihrer  Intelligenz  —  auch  auf  ethischem  Gebiete  —  habhaft  zu  werden. 
Man  könnte  ihnen  z.  B.  Goethes  Weg  vom  „Jungen  Werther"  bis  zu  den  großen  Wer- 
ken seiner  Mannesreife  vorzeichnen. 

*)  R.  Lehmann:  „Erzieher  und  Eriiehung".  Fr.  W.  Förster:  ,, Schule  und  Cha- 
rakter", sowie  „Jugendlehre". 


26 


Martin  Luther  Reymert 


Ein  nennenswerter  Unterschied  in  bezug  auf  die  intellektuelle  Idealität  läßt 
sich  den  hier  vorliegenden  Aussagen  nicht  entnehmen. 

Ehre   und   Ruhm 

als  eigens  hervorgehobene  Werte  erschienen  bei  6  v.  H,  der  Männer  und  1  v.  H. 
der  Frauen,  ein  Verhältnis,  das  wohl  zum  großen  Teil  auf  den  Einfluß  der  Schule 
zurückzuführen  ist. 

Künstlerische   Eigenschaften. 

Unter  diesen  ist  vor  allem  die  Lust  zum  Schriftstellern  ausgeprägt,  sodann  zur 
Beredsamkeit  und  zur  Musik. 

Dies  der  Kunst  gewidmete  Interesse  kommt,  wie  die  untenstehenden  Ziffern 
zeigen,  bei  beiden  Geschlechtern  in  gleicher  Weise  zum  Ausdruck: 


Alter 

18 

19 

20         21 

22         23 

1 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 

Fr. 

4 

8 

14 
19 

9 

4 

17 

20 

10 
13 

17 
12 

10 

8 

12 

12 

l  12v.  H. 

Daß  12  V.  H.  b3i  der  Wahl  ihres  Vorbildes  unmittelbar  die  künstlerische  Be- 
gabung mit  in  B?tracht  ziehen,  scheint  mir  ein  Zeichen  dafür  zu  sein,  daß  die 
unter  den  intellektuellen  Gründen  nicht  klar  als  begehrenswert  aufgeführte 
Phantasie  hier  zu  ihrem  Rechte  gelangt  und  daß  sich  die  Jugend  dieser  Jahre 
stark  zur  Kunst  hingezogen  fühlt. 

Klar  zum  Ausdruck  kommende  nationale  Gründe 
bestimmen  die  Wahl  von  Vorbildern  in  folgender  Weise: 


Alter 

18 

19 

20 

21          22 

23 

24—25 

Zusammen 

Mittel 

M. 

Fr. 

42 

8 

30 
19 

36 
21 

50         40 
13          13 

40 

8 

33  " 

18 

39 
14 

].  27  V.  H. 

Diese  Zahlen  lassen  deutlich  erkennen,  wie  viel  früher  und  wieviel  stärker  die 
jungen  Männer  die  nationale  Idee  ergreifen.  Während  sie  bei  den  Frauen  mehr 
die  Gestalt  allgemeiner  Vaterlandsliebe  annimmt,  ist  sie  den  jungen  Männern 
in  viel  stärkerer  Weise  politisch  differenziert^).  Der  Sinn  für  national-politische 
Fragen  ist  bei  den  jungen  Männern  sehr  ausgeprägt,  und  zwar  scheint  die  un- 
mittelbare Begeisterung  für  politische  Vorbilder  in  diesen  Jahren  ent- 
scheidender zu  wirken  als  logische  Gründe.  Wie  die  Begeisterimg  in  diesen 
Jahren  gepflegt  und  ermuntert  wird,  dürfte  daher  vielleicht  sehr  entscheidende 
Bedeutung  gewinnen.  Der  Radikalismus  tritt  —  wie  es  in  diesen  Jahren  begreif- 
lich ist  —  stark  hervor.  Das  nationale  Sinn  scheint  größtenteils  von  nationalen 
Dichtern  eingehaucht  und  genährt  zu  werden. 

^)  Staatsbürgerliches  und  kommunales  Stimmrecht  genießen  beide  Geschlechter 
vom  vollendeten  25.  Jahre  an. 


über  Persönlichkeitsideale  im  höheren  Jugendalter  27 

In  pädagogischer  Bsziehimg  ist  es  wolil  nur  freudig  zu  begrüßen,  wenn  das 
Nationalitätsgefühl  beiden  angehenden  Volkserziehern  eine  so  große  Rolle  spielt; 
doch  dürfte  ein  Hinweis  von  den  weiteren  Zielen  auf  die  engeren  hin,  ein 
Fingerzeig,  daß  diese  jungen  Menschen  dem  Vaterland  besonders  in  der  Schul - 
Stube  dienen  sollen,  wohl  am  Platze  sein,  und  zwar  umsomehr,  wenn  man  berück- 
sichtigt, welch  niedrige  Prozentzahl  beider  Geschlechter  hier  bei  der  Wahl  von 
Vorbildern  ihren  künftigen  Beruf  praktisch  ins  Auge  faßt. 

Das   internationale   Interesse 

findet  seine  Betonung  in  den  großen  Programmen :  international  soziale  Samm- 
lung, Friedenssache  u.  ä.,  für  die  7  v.  H.  der  Männer  und  4  v.  H.  der  Frauen  ihre 
Stimme  abgeben.  Auch  hier  wie  sonst  in  dieser  Studie  scheint  das  Jugendalter 
die  Zeit  der  hohen  idealen  Ziele  zu  sein. 

Für  8  V.  H.  aller  Frauen,  die  ihre  Stimmen  abgaben,  war  das  ,, Frauenrecht*' 
höchste  Richtschnur  bei  der  Wahl  ihres  Vorbildes,  ein  Umstand,  der  in  einem  Land 
der  Frauenemanzipation  wie  dem  unsrigen  wohl  begreiflich  ist^). 

Hier  tritt  mir  die  Bedeutung  des  Vorbildes  recht  klar  ins  Licht,  denn  in 
jeder  einzelnen  dieser  Beantwortungen  spürt  man  den  Einfluß  der  Dichterin 
Camilla  Collet  —  dieser  selten  feinen  Persönlichkeit,  für  die  das  „Frauenrecht" 
nicht  wesentlich  politische  Bedeutung  hatte. 

Zusammenfassung. 

Zur  Übersicht  folgt  hier  schließlich  eine  Zusammenfassung  der  wichtigsten 
Ergebnisse,  die  sich  meines  Er  achtens  der  vorliegenden  Studie  entnehmen  lassen. 

1.  Die  Schule  scheint  als  Quelle  des  vorbildlichen  Stoffes  für 
die  imtersuchten  Altersstufen  (18 — ^25  Jahre)  eine  beherrschende  Rolle  zu 
spielen,  denn  95  v.  H.  der  Männer  und  68  v.  H.  der  Frauen  suchen  ihr  Ideal 
unter  den  lehrplanmäßig  in  der  Schule  behandelten  öffentlichen  Charakteren. 
Vonden  verschiedenen  Fächern  scheint  der  Unterricht  in  derMuttersprache 
in  dieser  Beziehung  am  fruchtbringendsten  zu  sein,  danach  der  Geschichts- 
unterricht.   Die  Biblische  Geschichte  liefert  sehr  wenige  Vorbilder. 

2.  Mehr  Frauen  als  Männer  wählen  ihr  Vorbild  unter  persön- 
lichen Bekannten  (Männer  5  v.  H.,  Frauen  32  v.  H.).  Das  Verhältnis  zwischen 
der  Wahl  „persönlicher  Bekannter*'  und  „öffentlicher  Charaktere"  kann  —  bei 
diesen  Schülern  nur  bedingungsweise  —  als  ein  Maßstab  persönlicher  Ent- 
wicklung gelten. 

3.  Eltern  scheinen  ein  weit  höheren  Platz  bei  den  weiblichen,  als  bei 
den  männlichen  Schülern  des  Jugendalters  einzunehmen :  die  weibliche  Kurve 
zeigt  hier  einen  mit  zunehmenden  Jahren  erfolgenden  Anstieg. 
Die  bei  Eltern  am  höchsten  geschätzte  Eigenschaft  ist  Vertrauens-  und 
verständnisvolle   Kameradschaftlichkeit. 


*)  Die  norwegischen  Frauen  genießen  nunmehr  allgemeines  staatsbürgerliches  und 
kommunales  Stimmrecht.  Bei  der  letzten  Wahl  (1915)  zum  Storting  (der  norwegi- 
schen Reichs  Versammlung)  machten  die  Frauen  58,09  v.  H.  der  gesamten  Wähler- 
masse aus.  —  In  den  Städten  stimmten  65  v.  H.  aller  Frauen,  auf  dem  Lande  43.  v.  H. 
Keine  Frau  wvirde  in  das  Storting  gewählt. 


28  Martin  Luther  Reymert 


4.  Freundscliaft  scheint  in  diesen  Jahren  weit  größere  Bedeutung  für 
Frauen  als  für  Männer  zu  haben.  Das  Bedürfnis  nach  Verständnis  und 
Vertraulichkeit  dürfte  hier  den  Hauptpunkt  bilden.  Das  19jährige  Alter  bezeichnet 
für  Frauen  den  Gipfel. 

5.  Unt^r  Verwandten  stehen  die  Großeltern  am  höchsten. 

6.  Die  Lehrerpersönlichkeiten  der  Schule  werden  von  1  v.  H.  der  Männer 
und  3  V.  H.  der  Frauen  hoch  eingeschätzt ;  sie  sind  demnach  nicht  sonder- 
lich  bevorzugt   als  Vorbilder. 

7.  Große  Schriftsteller  und  Dichter  scheinen  in  charakterbilden- 
der   Beziehung    den    größten    Einfluß   auf  das   Jugendalter   zu  haben. 

8.  Die  von  Schülern  norwegischer  Lehrerschulen  bevorzugtesten  öffentlichen 
Charaktere  sind:  1.  Henrik  Wergeland  (norwegischer  Dichter),  2.  Sokrates, 
3.  Luther,  4.  Björnstjerne  Björnson. 

9.  Der  Sinn  für  Geschichte  scheint  für  Männer  und  Frauen  dieser  Alters- 
stufen im  Verhältnis  *5 : 3  zu  stehen. 

10.  Aus  den  Gründen  für  die  Wahl  der  Vorbilder  sieht  man,  daß  sowohl  von 
Männern  wie  Frauen  die  rein  ethischen  Eigenschaften  am  höchsten  ge- 
schätzt werden  (betont  von  54  v.  H.  der  Männer  und  65  v.  H.  der  Frauen). 

Opferwille  und  Hilfsbereitschaft  sind  stark  hervortretende  ethische  Eigen- 
schaften, doch  in  viel  stärkerem  Maße  bei  Frauen  als  bei  Männern  (Männer  16  v.  H., 
Frauen  42  v.  H.).  Ein  bevorzugter  Platz  kommt  dem  ,, moralischen  Mut"  zu,  der 
aber  von  Männern  viel  höher  als  von  Frauen  geschätzt  wird  (Männer  20  v.  H., 
Frauen  7  v.  H.). 

IL  Die  Kurve  der  rein  religiösen  Gründe  zeigt  bei  den  Frauen  einen 
gleichmäßigen  Anstieg.  Es  scheint,  als  griffe  das  ethische  Streben  in  diesen 
Jahren  stärker  in  die  praktische  Wirklichkeit  ein  als  das  rein  religiöse.  Das 
rein  religiöse  Streben  wird  von  19  v.  H.  der  Männer  und  20  v.  H.  der  Frauen 
betont. 

12.  Reinen  Geisteseigeuschaften  wird  der  höhere  Tribut  von  Männern  ge- 
zollt (Männer  26  v.  H.,  Frauen  20  v.  H.).  ^ 

13.  Ehre  und  Ruhm  werden  wenig  genannt,  aber  sechsmal  so  oft  von  Männern 
als  von  Frauen. 

14.  Hohen  Wert  besitzen  künstlerische  Eigenschaften  und  zwar  gleicherweise 
für  Männer  wie  für  Frauen  (Männer  12  v.  H.,  Frauen  12  v.  H.);  obenan  steht  die 
Lust  zum  Schriftstellern. 

15.  Ein  starker  Sinn  für  das  Nationale  offenbarte  sich  durchweg  bei 
den  Untersuchten,  mehr  bei  Männern  als  bei  Frauen.  Dabei  macht  sich  ein 
starker  Radikalismus  geltend.  Der  nationale  Geist  scheint  meist 
durch  nationale  Dichter,  sehr  wenig  durch  die  nationale  Geschichte  ange- 
regt und  gestärkt  zu  werden. 

16.  Was  die  Wahl  von  Vorbildern  des  andern  Geschlechts  betrifft,  so 
wählen  56  v.  H.  der  Frauen  männliche  Ideale;  die  Kurve  der  Jahre  18 — ^25 
für  das  weibliche  Geschlecht  verrät  keine  merkbare  Tendenz. 
Nur  ein  Mann  wählte  ein  weibliches  Ideal. 


Geza  R^vösz,  Das  musikalische  Wunderkind  29 


Das  musikalische  Wunderkind. 

Von  Geza  Revesz. 

Heute,  wo  in  Deutschland  eine  Anzahl  von  begeisterten  Psychologen  und 
Pädagogen  das  Ziel  ihrer  wissenschaftlichen  Bestrebungen  in  der  Aus- 
arbeitung von  Methoden  und  Regeln  und  in  der  Vorbereitung  neuer  Ein- 
richtungen erblickt,  die  eine  systematische,  auf  wissenschaftlichen  Prinzipien 
gegründete,  und  nicht  vom  Zufall  abhängige  Entfaltung  der  geistigen  Kräfte 
der  deutschen  Nation  ermöglichen  soll,  wird  es  von  Interesse  sein,  wenn 
ich  hier  ein  besonderes  Thema  behandle,  dem  derselbe  Gedanke  zugrunde 
liegt,  wie  dieser  sozial-pädagogischen  Strömung. 

Es  ist  endlich  zur  Überzeugung  geworden,  daß  man  sich  von  höherem 
kulturellen  und  sozialen  Standpunkte  aus  nicht  damit  zufrieden  geben  darf, 
nur  einfach  zuzusehen,  wo  die  Begabten  zufällig  einen  der  Betätigung  ihrer 
Fähigkeiten  angemessenen  Platz  finden  möchten;  es  ist  klar  geworden,  daß 
man  Auslese,  Auswahl,  Richtung  und  Entfaltung  der  Begabten  des  Volkes 
nicht  dem  Spiel  der  launischen  Willkür  und  des  blinden  Zufalls  überlassen 
darf,  was  zur  Vergeudung  der  unersetzlichen  Kräfte  der  Nation  führt, 
sondern  am  Ausbau  einer  Organisation  mitwirken  soll,  deren  Aufgabe  es 
ist,  das  Begabungsproblem  in  seinem  ganzen  Umfang  zu  untersuchen,  die 
Prinzipien  und  Methoden  dieses  Unternehmens  festzustellen  und  über  die 
Auswahl  und  geregelte  Entfaltung  der  Begabten  konkrete  Vorschläge  zu 
machen.  ^) 

Zum  Problem  des  Aufstiegs  der  Begabten  gehört  selbstverständlich  auch 
das  Problem  der  höchstbegabten,  das  der  genial  veranlagten  Kinder.  Daß 
solche  Kinder  in  der  Tat,  und  nicht  einmal  so  selten,  vorkommen,  lehrt 
vor  allem  die  Musikgeschichte.  Der  eigentliche  Grund,  warum  hochbegabte 
Kinder  eben  besonders  auf  dem  Gebiete  der  Musik  auftauchen,  wie  es 
kommt,  daß  ein  Kind  zu  so  früher  Zeit,  da  seine  Kräfte  noch  der  geistigen 
und  körperlichen  Entwicklung  dienen  müssen,  trotz  ungenügender  Schulung 
in  der  Musik,  durch  seine  schöpferische  oder  reproduktiv -interpretative 
Fähigkeit  uns  in  Erstaunen  setzen  kann,  ist  noch  nicht  erforscht  worden. 

In  einer  vor  kurzem  von  mir  veröffentlichten  Arbeit,  die  der  syste- 
matischen Untersuchung  des  kleinen  ungarischen  Komponisten  und  Pianisten 
Erwin  Nyiregyhäzi  gewidmet  ist,  habe  ich  die  Frage  etwas  eingehender 
besprochen  und  ihre  Lösung  in  der  Natur  der  Musik  selbst  gesucht.  2) 
Wenn  auch  diese  Frage  noch  nicht  endgültig  beantwortet  ist,  steht  doch 
die  Tatsache  fest,  daß  wir  in  unserem  ungarischen  Volke  eine  niemals  versiegende 
Quelle  besitzen,  aus  der  immerfort  hervorragende  künstlerische  Talente 
hervorgehen.  Aber  wir  dürfen  den  Reichtum,  der  uns  so  zufällt,  nicht 
einfach  hinnehmen  und  genießen,  sondern  er  verpflichtet  uns  zugleich,  diese 
Hoffnungskinder  zu  pflegen,  zu  bilden  und  uneigennützig  der  großen  Welt 
zu  schenken.     Von  diesem  Schatz,  der  es  uns  möglich  macht,   mit  eigenen 

^)  über  dieses  Problem  siehe  besonders  die  Abhandlung  von  W.  Stern:  Die 
Jugendkunde  als  Kulturforderung.     Diese  Zeitschrift,  Bd.  17,  S.  273. 

2)  G.  Rövesz:  Erwin  Nyiregyhäzi:  Psychologische  Analyse  eines  musikalisch 
hervorragenden  Kindes.     Leipzig.     Veit  u.  Co.     1916.     S.  14  ff. 


30  G6za  Rövesz 


Augen  zu  schauen  und  selbst  zu  sammeln,  habe  ich  den  Antrieb  empfangen, 
mich  mit  der  Frage  des  musikalischen  Talentes  wissenschaftlich  seit  längerer 
Zeit  zu  beschäftigen,  und  so  komme  ich  dazu,  meine  Ansichten  über  das 
musikalische  Talent  im  allgemeinen,  über  sein  Vorkommen  im  jugendlichen 
Alter,  über  die  Prinzipien  seiner  Vorausbestimmung  und  endlich  über  das 
erwünschte  Verhalten  der  Gesellschaft  den  großen  Talenten  gegenüber  schon 
an  diesem  Ort  kurz  auszusprechen,  bevor  ich  Gelegenheit  nehme,  meine  An- 
sichten über  diese  Fragen  in  weiterem  Rahmen  ausführlicher  zu  entwickeln. 

Das  erste,  was  uns  bei  dieser  Frage  auffällt,  ist  das  Merkwürdige,  daß 
nur  Kinder  mit  außerordentlich  musikalischer  Begabung  Wunderkinder 
genannt  werden.  Wird  man  aber  diesen,  nur  auf  das  musikalische  Gebiet 
bezogenen  Begriff  des  Wunderkindes  auch  wissenschaftlich  rechtfertigen 
können  oder  wird  es  sich  nicht  vielmehr  ergeben,  daß  dieser  Begriff  sich 
nur  aus  oberflächlichen  Betrachtungen  herausgebildet  hat  und  daher  für 
eine  wissenschaftliche  Begriffsbestimmung  unbrauchbar  ist? 

Leicht  wird  es  nun  zu  zeigen  sein,  daß  in  der  vorwissenschaftlichen  Form 
des  Begriffes  Wunderkind  doch  schon  der  Kern  der  Wahrheit  liegt,  wie 
ja  so  oft  im  Sprachgebrauch  sich  der  eigentliche  Sinn  eines  Wortes  findet. 

Es  muß  nämlich  als  eine  fast  ohne  Ausnahme  geltende  Regel  angesehen 
werden,  daß  Kinder  im  frühesten  Alter  mit  bemerkenswerten  künstlerischen 
Leistungen  ausschließlich  auf  musikalischem  Gebiete  hervortreten,  während 
es  uns  nicht  bekannt  ist,  daß  Kinder  auf  anderen  Kunstgebieten  schon 
vor  der  Zeit  der  körperlichen  Reife  etwas  Hervorragendes  zu  leisten 
imstande  gewesen  wären.  Raffael,  dessen  künstlerische  Begabung  —  wie 
die  zeitgenössischen  Quellen  berichten  —  ganz  ungewöhnlich  früh  erwacht 
ist,  entwirft  seine  ersten  bedeutenderen  Bilder  erst  im  15.  und  16.  Lebens- 
jahre. Ahnliches  kann  von  anderen  Künstlern  gesagt  werden,  die  durch 
ihr  frühzeitig  entwickeltes  Talent  die  Aufmerksamkeit  ihrer  Zeitgenossen 
erregten,  wie  z.  B.  Michelangelo,  Rembrandt,  Van  Dyck,  Dürer,  Holbein  der 
jüngere,  Velasquez  u.  a.  m.,  die  aber  alle  erst  in  ihrem  17.  bis  19.  Lebens- 
jahre ihr  echtes  Talent  zum  Ausdruck  brachten.  —  In  der  Geschichte  der 
Wissenschaft  kommt  es  noch  viel  seltener  vor,  daß  die  Begabung  in 
unverkennbarer  Weise  schon  zu  einer  Zeit,  wo  die  geistige  Entwicklung 
eigentlich  noch  recht  weit  von  ihrer  vollen  Entfaltung  steht,  ihr  Leben  an- 
gekündigt hätte.  Nur  die  Mathematik  macht  hiervon  eine  Ausnahme,  da 
in  den  Jugendarbeiten  der  meisten  berühmten  Mathematiker  nicht  nur  der 
mathematische  Sinn,  sondern  schon  reifes  Talent  sich  kundgibt  (Gauß,  Abel, 
Galois,  Bolyai). 

Die  Richtigkeit  der  aufgestellten  These,  daß  unter  allen  Künsten  die 
Musik  es  ist,  die  ihre  Talente  so  früh  offenbart,  kann  durch  eine  große 
Anzahl  von  Beispielen  aus  der  Musikgeschichte  belegt  werden.  Hält  man 
das  vor  Augen,  so  ist  es  nicht  verwunderlich,  daß  man  von  musikalischen 
Wunderkindern  zu  sprechen  pflegt.  Man  hat  diesem  entsprechend  ein  Kind 
dann  als  Wunderkind  bezeichnet,  wenn  es  auf  irgendeinem  Gebiete  der 
musikalischen  Betätigung,  sei  es  auf  künstlerisch-reproduktivem  oder  auf 
dem  schöpferischen  für  seine  jungen  Jahre  Außergewöhnliches  leistete.    Ganz 


Das  musikalische  Wunderkind  31- 

unberechtigerweise  pflegen  manche  unter  sie  auch  solche  Kinder  einzumischen, 
die  nur  mit  einem  seltenen  musikalischen  Gedächtnis  oder  musikalischen 
Gehör  ausgestattet  sind. 

Dennoch  ist  das  Wort  Wunderkind  auch  in  der  ersten  Bedeutung  ge- 
nommen nicht  untadelig.  Denn  was  man  beim  Beurteilen  der  Begabung 
eines  Kindes  festzustellen  sucht,  ist  ja  seine  Leistung  im  Verhältnis  zum 
Alter.  Überragt  sie  die  durchschnittliche  ihres  Alters  wesentlich,  so  hat 
man  ein  solches  Kind  wohl  ein  Wunderkind  genannt.  Allein  was  sich  in 
einer  solchen  relativ-großen  Leistung  äußert,  ist  zunächst  nur  ein  Vorsprung, 
und  begründet  als  solcher  jene  Bezeichnung  noch  nicht.  Denn  daß  ein  Kind 
nach  gewissen  musikalischen  Fähigkeiten  den  Anforderungen  entspricht,  die 
an  ältere  musikalisch  veranlagte  Kinder  gestellt  werden,  hat  mit  über- 
normaler Begabung  nichts  zu  tun.  Und  sogar  wenn  ein  Kind  in  seinea 
musikalischen  Leistungen  nicht  nur  seinen  Altersgenossen,  sondern  auch 
den  normal  begabten  Erwachsenen  gegenüber  Überlegenheit  beweist,  weist 
noch  nicht  auf  eine  besonders  ausgeprägte,  nur  hochpotenzierte  Be- 
gabung. Es  kann  aber  weder  die  Vorentwicklung  noch  die  relative  Über- 
normalität das  bedeutende  Attribut  Wunderkind  rechtfertigen. 

Das  Wunderbare  liegt  weder  darin,  daß  sich  die  musikalische  Begabung 
in  der  zarten  Jugend  äußert,  noch  in  dem  raschen  Tempo  ihrer  Entwick- 
lung; das  Wunderbare  liegt  allein  in  der  schöpferischen  Entfaltung 
des  Geistes;  wir  bewundern  an  Gott  und  an  Menschen  nur  die 
Schöpfung.  —  Die  Grundvoraussetzung  ist  also  stets  die  schöpferische 
Gestaltungskraft,  gleichviel  ob  diese  sich  in  künstlerisch-reproduktiver 
oder  in  kompositorischer  Richtung  äußert.  Da  aber  das  Wunderbare  der 
Leistung  nicht  darin  liegt,  daß  ein  Kind  sie  vollführt,  sondern  darin,  daß 
sie  überhaupt  erscheint,  so  muß  das  Wunderbare  in  der  Ursprünglichkeit 
des  Talentes,  in  der  Empfindung,  im  künstlerischen  Willen  und  Schaffeilis- 
trieb  gesucht  werden.  Ob  ein  musikalischer  Gedanke  von  einem  Kinde 
oder  von  einem  Erwachsenen  genial  ausgeführt  wird,  bleibt  sich  vom  rein 
künstlerischen  Standpunkte  aus  gleich.  Ein  künstlerisch  begabtes  Kind  am 
Klavier  kann  auf  uns  wohl  einen  Zauber  ausüben,  wir  können  an  ihm 
seine  Virtuosität,  seinen  Ernst,  seine  Hingebung,  seine  reiche  Anlage  be- 
wundern, aber  das  eigentlich  Wunderbare  bleibt  doch  allein  seine  künst- 
lerische Leistung,  wozu  ihm  alle  die  Qualitäten  dienen.  Also  von  einem 
Wunderkind  sprechen  wir  da,  wo  wir  das  Wunderbare  in  einem  Kinde 
finden.  Damit  ist  zugleich  gesagt,  daß  ein  Kind  mit  besonderen  technischen 
Fertigkeiten  ebensowenig  Wunderkind  genannt  werden  darf,  wie  jemand 
mit  großem  Zahlengedächtnis  und  mit  hervorragender  Leistungsfähigkeit 
in  arithmetischen  Operationen  den  Titel  eines  bedeutenden  Mathematikers 
verdient. 

Es  erhebt  sich  nun  die  wichtige  Frage,  wie  ein  musikalisch  anscheinend 
besonders  begabtes  Kind  nach  der  Bedeutung  seines  Talentes  zu  be- 
urteilen sei. 

Kann  man  die  Leistungen  eines  Kindes  ohne  jegliche  Rücksicht  auf  das 
Alter  mit  den  Kunstleistungen  der  großen  Künstler  vergleichen,  wie  man 
das  bei  dem  kleinen  Mozart  und  Liszt  konnte,  —  so  hat  man  zur  Bestim- 


32  Geza  Revesz 


mung  des  Talentes  keine  besondere  Methode  nötig,  man  mißt  es  mit  dem 
Maßstabe,  nach  dem  man  Meister  beurteilt. 

Ganz  anders  müssen  wir  jedoch  vorgehen,  wenn  es  sich  um  Jugend- 
leistungen handelt,  die  den  Forderungen,  die  wir  an  eine  Arbeit  von  echtem 
künstlerischen  Wert  zu  stellen  haben,  noch  nicht  in  vollem  Maße  ent- 
sprechen. Bei  solchen  Fällen  kommt  der  musikverständige  Psychologe 
zuerst  zu  Wort,  hier  muß  der  Musiker  die  Beurteilung  des  Talentes  dem 
Psychologen  überlassen.  Denn  der  Kunstkritiker  wird  bei  Beurteilung 
künstlerischer  Betätigungen  ausschließlich  durch  ästhetische  Prinzipien  ge- 
leitet, die  zum  größten  Teil  auf  Anschauung  und  Studium  von  Meister- 
werken gegründet  sind.  Bei  dieser  Wertung  ästhetischer  Gegenstände 
können  oder  vielmehr  dürfen  psychologische  oder  gar  psychogenetische 
Motive  nicht  mitreden.  Sollen  aber  Jugendwerke  und  durch  Kinder  aus- 
geführte musikalische  Interpretationen  nicht  nach  dem  absoluten  Werte, 
sondern  nach  der  Größe  und  Bedeutung  der  darin  zum  Ausdruck  kommenden 
Keime  beurteilt  werden,  dann  rücken  mannigfache  andere  Gesichtspunkte 
in  den  Vordergrund. 

Bei  Beurteilung  kompositorischer  Fähigkeit  müssen  Umstände  berück- 
sichtigt werden,  auf  welche  bei  einem  erwachsenen  Komponisten  niemals 
zu  achten  nötig  ist.  Man  wird  sich  zu  einem  Kinde  ganz  anders  stellen 
müssen,  als  zu  einem  Fertigen,  wenn  es  aus  einer  fremden  Quelle  schöpft, 
wenn  es  in  der  Auswahl  und  Umformung  bekannter  Elemente  nicht  immer 
selbständig  verfährt,  wenn  es  gegen  die  konventionellen  Regeln  der  Schule 
verstößt.  Denn  die  Fehler,  die  aus  Mangel  an  Kenntnissen  entstehen, 
haben  mit  dem  Talent  eines  Kindes  nichts  zu  tun.  Wir  müssen  die  Ge- 
dankenfülle, die  Erfindung,  den  Schaffensdrang  würdigen.  Denn  reine 
Harmonie,  durchsichtige  Form,  korrekter  Satz,  kontrapunktische  Sicherheit 
können  erlernt  werden;  ein  reiches  musikalisches  Gemüt  aber,  Erfindungs- 
gabe, Kunstgeschraack,  poetischer  Schwung  sind  Vorzüge  des  großen  Talentes, 
die  nicht  angeeignet  werden  können.  Daraus  ergibt  sich,  daß  Jugendwerke 
stets  im  ganzen  behandelt  und  beurteilt  werden  müssen,  und  besonderes 
Gewicht  auf  den  Vergleich  von  Werken  verschiedener  Epochen  zu  legen 
ist,  um  auch  den  Fortschritt  erkennen  zu  können. 

Ähnlich  müssen  wir  bei  einem  Kind  als  Virtuosen  vorgehen.  Nur  darf 
man  sich  hier  niemals  von  der  technischen  Fertigkeit,  von  der  oft  unglaub- 
lichen Beherrschung  instrumentaler  Schwierigkeiten  bestimmen  lassen.  Die 
Hauptsache  ist  auch  hier  der  Stil,  die  Ruhe,  die  Überlegtheit,  das 
Schöpferische  in  der  Interpretation,  die  Musikalität  und  die  Be- 
ziehung zu  der  Musik  und  zu  den  Meisterwerken,  die  das  Kind  bei  der 
Auffassung  und  Darstellung  von  Tonwerken  zum  Ausdruck  bringt.  Nicht 
die  Virtuosität,  sondern  die  allumfassende  Musikalität  muß  bei  der  Be- 
urteilung des  ausübenden  Künstlers  den  Ausschlag  geben. 

In  einer  Zeit  jedoch,  wo  die  kompositorische  und  reproduktive  Fähigkeit 
eines  Kindes  noch  auf  der  Stufe  der  beginnenden  Blüte  steht,  und  in  Fällen, 
wo  die  gegenwärtigen  künstlerischen  Leistungen  weder  eine  zureichende 
Grundlage  für  die  Begabungsbestimmung,  noch  genügende  Bürgschaft  für 
die  Prognose  bieten  können,  müssen  noch  andere  musikalische  Eigenschaften 


Das  musikalische  Wunderkind  33 

und  soweit  es  möglich  auch  diese  in  ihrer  Entwicklung  zur  Untersuchung 
herangezogen  werden.  —  Vor  allem  ist  es  notwendig,  das  musikalische 
Gehör  in  allen  seinen  Äußerungen,  das  musikalische  Gedächtnis,  die  Fähig- 
keit in  Transponieren,  Improvisieren,  Modulieren,  und  Vom -Blatt- 
Spielen  genau  zu  studieren.  Wenn  man  nun  zu  diesen  großenteils  exakt 
durchführbaren  Untersuchungen  noch  die  Beobachtung  des  psychischen  Ver- 
haltens bei  musikalischer  Betätigung  hinzufügt,  ferner  des  Kindes  Beziehung 
zu  den  großen  Meistern  der  Musik  zu  erkennen  sucht,  dann  erst  kann  man 
aus  all  diesen  Qualitäten  das  Bild  der  musikalischen  Persönlichkeit 
des  Kindes  entwerfen.  —  Ob  nun  gleich  für  die  Bestimmung  der  musi- 
kalischen Begabung  dadurch  das  meiste  schon  gewonnen  ist,  sollen  wir 
doch  nicht,  bevor  wir  einen  Blick  auf  die  Persönlichkeit  im  allgemeinen 
geworfen  haben,  ein  endgültiges  Urteil  über  das  Wunderkind  abgeben. 
Dazu  müssen  Beobachtungen  gesammelt  werden  über  Intelligenz,  Lernbe- 
dürfnis, Auffassung  und  Bildungsfähigkeit,  Interesse,  und  vor  allem  über 
die  Künstlernatur  des  Kindes,  die  doch  den  am  meisten  charakteristischen 
Zug  der  Persönlichkeit  bildet. 

Nun  zuletzt  noch  einige  Worte  darüber,  wie  sich  die  Gesellschaft  den 
Wunderkindern  gegenüber  zu  verhalten  hätte. 

In  jeder  beobachtenswerten  Begabung,  die  ein  Mensch  mit  auf  die 
Welt  bringt,  liegt  —  wie  Stern  es  betont  —  ein  Anspruch,  daß  ihm  zur 
Entwicklung  und  zur  Verwertung  der  Begabung  alle  angemessenen  Mög- 
lichkeiten gewährt  werden.  Bei  einem  ganz  hervorragenden  Talent  gilt  das 
noch  in  ganz  besonderem  Maße.  Die  Verpflichtung  der  Gesellschaft  soll 
aber  auf  Grund  ethischer  und  pädagogischer  Prinzipien  erfaßt  werden. 
Die  Gesellschaft  ist  keineswegs  nur  dazu  verpflichtet,  die  materielle  Lage 
des  Kindes  zu  sichern,  auch  hat  sie  keineswegs  die  Aufgabe,  mit  einer 
nervösen  Peinlichkeit  immer  darauf  zu  achten,  daß  das  Kind  mit  der  harten 
Seite  des  Lebens  niemals  in  Berührung  komme:  sie  ist  vor  allem  dafür 
verantwortlich,  ob  dem  Kinde  die  moralische  und  menschliche  Er- 
ziehung zuteil  wird,  die  von  der  höheren  Kulturgemeinschaft  gefordert 
und  von  einer  dahin  zielenden  Erziehung  erreicht  werden  kann. 

Wenn  man  die  Entwicklung  der  musikalischen  Wunderkinder  und  sogar 
die  der  Musiker  überhaupt  verfolgt,  so  enthüllen  sich  die  richtigen  Er- 
ziehungsmaßnahmen für  genial  veranlagte  Kinder  von  selbst.  Vor  allem 
darf  die  geistige  Entwicklung  des  Kindes  nicht  zu  rascherem  Tempo  an- 
getrieben werden,  damit  daraus  kein  Kückschlag  auf  das  körperliche  Wachs- 
tum erfolge,  was  wieder  eine  unheilvolle  Rückwirkung  auf  die  psychischen 
Funktionen  ausüben  müßte.  Ferner  darf  man  nicht  dazu  beitragen,  daß 
das  ursprünglich  einseitige  Interesse  für  die  Musik  noch  absichlich  einge- 
engt werde;  vielmehr  ist  es  im  Interesse  der  gleichmäßigen  Entfaltung  aller 
geistigen  Qualitäten  sogar  vorteilhaft,  das  musikalische  Interesse  bisweilen 
zurückzudrängen. 

Ein  Kind  muß  sich  normal  entwickeln.  Jede  Periode  der  Kindheit  hat 
ihre  eigene  Aufgabe,  ihr  eigenes  Ziel,  ihre  eigenen  Anforderungen.  Alle 
Abschnitte  des  kindlichen  Lebens  normal,  unbeschleunigt  zu  durchlaufen 
und  in  jeder  Früchte  zu  ernten,  ist  deshalb  die  wesentliche  Bedingung  für  die 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  3 


34  G6za  Rövösz,  Das  musikalische  Wunderkind 

harmonische  Entfaltung  der  geistigen  Kräfte  des  Menschen.  Dazu  gehört 
aber,  daß  die  eigentliche  künstlerische  Erziehung  nicht  allzufrüh  ihren  An- 
fang nehme  und  auf  die  Aneignung  nichtmusikalischer  Kenntnisse  keinen 
hemmenden  Einfluß  ausübe.  Denn  Geist  und  Gemüt  des  Künstlers  müssen 
behutsam  und  sorgfältig  gebildet  werden,  und  die  Bildung  eines  Künstlers 
muß  von  mannigfacher  Art  sein.  Darum  muß  neben  der  ernsten,  strengen 
künstlerischen  Erziehung  auch  für*  Aneignung  spezieller  und  allgemeiner 
sonstiger  Bildung  Sorge  getragen  werden;  denn  der  Künstler  ist  nur  eine 
Offenbarungsweise  des  Menschen.  Darum  ist  es  der  Mensch,  der  in  ihm 
gebildet  werden  muß. 


Ein  unterrichtspsychologischer  Grundsatz  über 
die  Aneignung  verwechselbarer  Begriffe. 

Von  Otto    Ohmann. 

In  verschiedenen  Unterrichtsfächern,  besonders  in  der  Mathematik  und  den 
naturwissenschaftlichen  Lehrfächern,  bringe  ich  seit  mehr  als  zwei  Jahrzehnten 
ein  Prinzip  zur  Anwendung,  das  sich  in  mnemotechnischer  Hinsicht  als  sehr 
nützlich  erwies.  Ursprünglich  war  es  meine  Absicht,  dieses  didaktische  Prinzip 
im  Zusammenhang  mit  einer  physiologisch  gearteten  Theorie  der  für  den  Unter- 
richt wichtigsten  psychischen  Erscheinungen  zu  geben  und  es  so  als  einen  Unter- 
fall eines  allgemeinen  Gesetzes  darzustellen,  —  der  Umstand  jedoch,  daß  diese 
Arbeit  unter  den  Händen  bedenklich  anwuchs  und  sich  von  dem  geplanten 
Abschluß  eher  entfernt  als  sich  ihm  nähert,  sowie  der  weitere  Umstand,  daß 
inzwischen  von  anderer  Seite  Untersuchungen  veröffentlicht  wurden,  die  mit 
jener  geplanten  Theorie  gewisse  Berührungspunkte  haben  —  wir  denken  ins- 
besondere an  die  Arbeiten  von  R.  Semon  und  M.  Verworn  — ,  veranlassen  mich, 
das  Prinzip  einstweilen  abzutrennen  und  es  ohne  jene  physiologische  Begründung 
oder  nur  unter  kurzer  Andeutung  einzelner  Punkte  derselben  zu  bringen. 

Bei  dem  heutigen  Stande  der  Gehirnforschung  kann  man  sich  nicht  mehr  dem 
Verdachte  einer  mechanistischen  Weltauffassung  aussetzen,  wenn  man  aner- 
kennt, daß  mit  jedem  geistigen  Vorgang  ein  bestimmter  physischer,  der  Haupt- 
sache nach  chemisch  gearteter  Vorgang  verknüpft  ist.  Die  Grundanschauung 
des  sog.  ,,psycho-physischen  Parallelismus"  wird  jetzt  wohl  kaum  noch  in  Zweifel 
gezogen.  Dementsprechend  ist  auch  bei  der  Aneignung  eines  neuen  Begriffes 
—  denken  wir  der  Einfachheit  halber  nur  an  eine  fremdsprachliche  Vokabel  — 
eine  bestimmt  umschriebene  Neubildung  im  Gehirn  anzunehmen.  Der  Sitz 
solcher  Neubildungen  ist  unzweifelhaft  die  Großhirnrinde.  Das  Resultat  des 
abgeschlossenen  Vorganges,  bei  dem  ein  neuer  Begriff  in  unserm  Gedächtnis 
zur  Aneignung  und  dementsprechend  zur  Ausbildung  in  unserem  Gehirn  gelangt, 
nenne  ich  eine  Akkreszenz.  Es  ist  für  die  Sache  selbst  nicht  von  Belang, 
ob  man  annimmt,  daß  es  sich  bei  dem  Vorgange  um  eine  Neubildung  im  Sinne 
einer  bloßen  Umformung  der  dafür  prädestinierten  Nervenelemente  im  Ge- 
hirn handelt  oder  ob  man  eine  Neubildung  im  Sinne  einer  Umformung  nebst 
Vermehrung  —  also  etwa  umgeformte  Nervenelemente  plus  festgehaltenen 


Otto  Ohmann,  Ein  unterrichtspsychologischer  Grundsatz  usw.  35 

und  mitverarbeiteten  Blutbestandteilen  —  als  vorliegend  erachtet.  Im  ersteren 
Falle  —  den  ich  für  den  unwahrscheinlicheren  halte,  der  aber  dem  üblichen 
Bilde  des  „Einprägens"  oder  des  „Eindrucks"  mehr  entsprechen  würde  —  wäre 
der  Ausdruck  „Inkreszenz"  geeigneter.  Ohne  Zweifel  dürfen  wir  den  erwähnten 
Vorgang,  besonders  in  Anbetracht  der  dazu  erforderlichen  Energie,  den  Wachs- 
tumsvorgängen zurechnen;  denn  es  findet,  zumal  wenn  wir  die  ontogenetische 
wie  auch  die  phylogenetische  Entwicklung  des  Gehirns  bedenken,  ein  wirkliches 
crescere  statt.  Und  da  es  sich  bei  dem  Vorgange  um  ein  Hinzukommen  von 
etwas  Neuem  zu  bereits  Vorhandenem  handelt,  so  ist  sprachlich  auch  das  ad 
wohl  auf  alle  Fälle  gerechtfertigt.  Wir  haben  es  also  bei  einer  solchen  Akkreszenz 
mit  einer  spezifischen  Neubildung  in  dem  betreffenden  Gehirnteile  zu  tun, 
die  wir  trotz  des  unlösbaren  Zusammenhanges  mit  dem  übrigen  doch  in  ilirer 
Isolation  auffassen  können.  Des  weiteren  ist  sicherzustellen,  daß  eine  solche 
Aklo-eszenz  nach  ihrem  Entstehen  beliebig  oft  erregt  werden  kann,  um  da- 
mit, je  nach  dem  Grade  der  Erregung  ins  Unterbewußtsein  oder. als  Vorstellung 
ins  eigentliche  Bewußtsein  zu  treten.  Schließlich  ist  aus  der  erwähnten  Theorie 
vorwegzunehmen,  daß  zeitlich  ziemlich  weit  auseinanderliegende  Einwirkungen 
der  geschilderten  Art  auch  räumlich  getrennt  sind,  d.  h.  zu  verschiedenen, 
räumlich  mehr  oder  weniger  getrennten   Akkreszenzen  führen. 

Es  sei  noch  einmal  betont,  daß  wir  mit  diesen  Anschauungen  und  Vergleichungen 
nicht  den  Boden  der  Erfahrung  verlassen,  sofern  wir  uns  bewußt  bleiben,  daß  wir 
damit  nur  nach  einem  Hilfsmittel  zum  besseren  Verständnis  der  psychischen  Er- 
scheinungen ausschauen  und  nur  das  bestimmte  Korrelat  eines  geistigen  Vor- 
ganges zu  erfassen  suchen,  und  sofern  wir  uns  von  der  materialistischen  Ansicht, 
das  Gedankliche  aus  dem  Materiellen  ableiten  zu  können,  entschieden  fernhalten. 

Vielfach  habe  ich  nun  —  sowohl  durch  Erfahrungen  an  der  eignen  Psyche, 
aber  noch  in  viel  höherem  Maße  durch  Erfahrungen  an  anderen,  zumal  im  Unter- 
richt an  den  Schülern  —  die  Beobachtung  gemacht,  daß  eine  solche  Akkreszenz 
sicherer  entsteht,  vor  allem  später  sicherer  wiedererregt  wird,  wenn  sie  in  mög- 
lichster Einfachheit  und  Klarheit  für  sich  allein  bewirkt  wird,  d.  h.  also, 
wenn  ein  sonst  naheliegender  Begriff,  sei  es  ein  gleichartiger  oder  gegensätzlicher, 
nicht  gleichzeitig  oder,  genauer,  nicht  unmittelbar  danach  zur  Ausbildung 
gebracht  wird.  Es  möge  dies  an  einigen  Beispielen,  zunächst  aus  dem  mathemati- 
schen und  naturwissenschaftlichen  Unterricht,  näher  erläutert  werden. 

Handelt  es  sich  im  ersten  geometrischen  Unterricht  um  die  Einprägung 
der  Namen  für  die  Seiten  des  rechtwinkligen  Dreiecks,  so  werde  einstweilen  nur 
festgesetzt:  ,,Die  den  rechten  Winkel  einschließenden  Seiten  werden  Katheten 
genannt."  Allein  von  diesem  Namen  läßt  man  also  die  Akkreszenz  sich  bilden, 
den  Namen  der  Hypotenuse  schaltet  man  ganz  aus;  bedarf  man  seiner,  etwa 
bei  einer  Konstruktionsaufgabe,  so  heißt  sie  einfach  „die  Seite  c"  oder  „die  dem 
rechten  Winkel  gegenüberliegende  Seite".  Erst  nach  Wochen,  gegebenenfalls 
erst  nach  Monaten,  nachdem  mit  dem  Begriff  Kathete  wiederholt  operiert 
worden  ist,  wird  die  Akkreszenz  für  den  Begriff  Hypotenus  e  gebildet.  Auf 
diese  Weise  habe  ich  es  bei  mehr  als  einer  Generation  erreicht,  daß  diese  sonst  von 
den  Schülern  so  häufig  verwechselten  Namen  niemals  einer  Unsicherheit  bei 
der  Reproduktion  unterlagen.  —  Ein  mehr  beiläufiger,  aber  immerhin  schätzens- 
werter Vorteil  dieses  Verfahrens  besteht  in  diesem  besonderen  Falle  noch  darin, 


36  Otto  Ohmann 


daß  man  so  die  Orthographie  des  Namens  Kathete  fest  zur  Einprägung  bringt; 
die  leidigen  Verwechslungen  hinsichtlich  des  ,,t"  und  ,,th"  kommen  gar  nicht 
in  Frage,  da  der  Name  der  Hypotenuse  noch  gar  nicht  berührt  worden  ist.  — 
Etwas  Ähnliches  ist  es  mit  den  Begriffen  Supplementwinkel  und  Komple- 
mentwinkel. Werden  beide  zugleich  im  Zusammenhange  erörtert,  so  gibt  es 
ewige  Verwechselungen.  Wird  dagegen  erst  nur  der  im  Lehrgange  zunächst 
gelegene  Begriff  des  Supplementwinkels  —  als  des  Winkels,  der  einen  gegebenen 
Winkel  zu  2  Rechten  ergänzt  —  erörtert,  imd  der  andere  Begriff  peinlich  vermie- 
den, so  wächst  sich  die  zugehörige  Akkreszenz  mit  umso  größerer  Sicherheit  aus, 
je  länger  man  mit  diesem  Begriff  allein  arbeitet.  Wird  später  der  Begriff  Komple- 
mentwinkel gelegentlich  hinzugenommen,  so  bildet  der  zuerst  eingelernte  Begriff 
immer  eine  sichere  Stütze,  und  Verwechslungen  sind  so  gut  wie  ausgeschlossen. 
— -  Beiläufig  sei  bemerkt,  daß  man  über  die  Berechtigung,  diese  Fremdwörter 
überhaupt  beizubehalten,  natürlich  verschiedener  Meinung  sein  kann.  Es  ist 
aber  mißlich  und  schleppend,  das  Wort  Supplementwinkel  durch  ,, Ergänzungs- 
winkel zu  zwei  Rechten"  oder  „E.  zu  einem  Gestreckten"  oder  „E.  zu  180°*' 
zu  ersetzen;  das  Wort  ,, Ergänzungswinkel"  allein  reicht  auf  keinen  Fall  aus. 
Das  Substantiv  „Supplement"  halte  ich  daher,  besonders  auch  wegen  des  Ad- 
jektivs „supplementär"  für  entschieden  nützlich,  z.  B.  auch,  wenn  in  Kopfrechen- 
aufgaben zu  einem  nach  Winkelgraden  gegebenen  Winkel  die  erwähnte  Ergänzung 
aufgesucht  werden  soll,  die  dann  zuletzt  zu  dem  allgemeinen  Ausdruck  ,,2  R  —  a'* 
führt.  Wir  wollen  überhaupt  in  der  Mathematik  und  auch  in  den  Fachwissen- 
schaften mit  dem  Ausmerzen  der  oft  so  inhaltreichen  imd  ins  Schwarze  treffenden 
Fremdwörter  recht  vorsichtig  sein.  Es  wäre  falsch,  sie  einem  Prinzip  zuliebe, 
das  hinsichtlich  der  allgemeinen  Umgangssprache  seine  volle  Berechtigung  hat 
und  in  dem  gegenwärtigen  Weltkriege  mit  Recht  bei  uns  wieder  neu  belebt  wird, 
auch  dort  ausmerzen  zu  wollen,  wo  sie  wegen  ihrer  Kürze  oder  wegen  ihres  Inhalts 
zu  größerer  Klarheit  und  zu  erwünschter  Einfachheit  im  Ausdruck  und  damit 
auch  zu  größerer  Leichtigkeit  bei  der  Reproduktion  führen. 

In  der  Physik  geben  die  Begriffe  konvex  und  konkav,  bzvV.  plankonvex,  bi- 
konkav usw.  häufig  zu  Verwechselungen  Anlaß.  Hier  lasse  man  zuerst  nur  von 
der  konvexen  bzw.  bikonvexen  Linse  die  Akkreszenz  sich  bilden  und  vermeide 
peinlich  die  Erwähnung  des  gegensätzlichen  Begriffes.  Erst  wenn  lange  Zeit 
nur  mit  dieser  Akkreszenz  gearbeitet  ist,  gehe  man  zur  Ausbildung  der  Akkreszenz 
,, konkav"  über.  Nunmehr  prägt  sich  diese  als  Gegensatz  gleichsam  von  selbst 
ein.  Und  wenn  jetzt  gelegentlich  einer  von  beiden  Begiiffen  auftritt,  so  bietet 
jene  zeitlich  zuerst  gebildete  Akkreszenz  einen  ganz  sicheren  Anhalt.  Auf  diese 
Weise  sind  Verwechselungen  leicht  auszuschließen,  zumal  wenn  man  die  Bildung 
der  Akkreszenz  konkav  durch  Einlernen  der  Vokabel  cavus  =  hohl  noch  zweck- 
mäßig verstärkt.  Nicht  selten  glaubt  man  aber  recht  anschaulich  mid  systematisch 
zu  verfahren,  wenn  bei  der  Behandlung  der  Linsen  im  Anfang  der  Satz  aufgestellt 
wird  „man  unterscheidet  zwei  Hauptarten  von  Linsen,  konvexe  und  konkave" 
und  wenn  nun  durch  Zeichnungen  beide  Arten  nebeneinander  gestellt  imd  weiter 
erläutert  werden.  Durch  solches  Verfahren  wird  den  Verwechslungen  Tür  und 
Tor  geöffnet. 

In  der  Chemie  werden  anfänglich  oft  die  Umfärbungen,  die  man  mit  den 
Ausdrücken  „saure"  und  „basische"  Reaktion  bezeichnet,    miteinander  ver- 


Ein  unterrichtspsychol.  Grundsatz  über  die  Aneignung  verwechselb.  Begriffe      37 

wechselt.  Auch  hier  erweist  es  sich  als  sehr  nützlich,  möglichst  lange  nur  die 
methodisch  zimächst  gelegene  „saure"  Reaktion,  die  Umfärbung  des  käuflichen 
blauen  Lackmusfarbstoffes  in  Rot,  als  Versuch  vorzimehmen,  bzw.  in  Schüler- 
übungen vornehmen  zu  lassen.  Ist  diese  Reaktion  durch  wiederholte  Versuche 
genügend  anschaulich  erfaßt,  so  führt  die  Hinzunahme  der  entgegengesetzten, 
der  alkalischen  Reaktion,  zu  keinerlei  Schwierigkeiten,  zumal  wenn  man  sie  nur 
als  eine  restitutio  in  integrum,  also  als  bloße  Rückfärbung,  oder  als  Aufhebung 
der  sauren  Reaktion  hinstellt^).  Dieses  Verfahren  fühlt  selbst  dann  nicht  zu  Ver- 
wechselungen, wenn  man  alsbald  eine  zweite  charakteristische  alkalischeReaktion, 
die  Umfärbung  der  farblosen  Phenolphthalein] ösung  in  Rot  dazunimmt. 

In  den  Sprachen  spielen  die  Verwechselungen  zwischen  ähnlich  klingenden 
Wörtern  eine  ziemlich  große  Rolle,  und  mancher  stille  Seufzer  entsteht  dabei 
sowohl  bei  den  Extemporale- Schreibenden  wie  auch  beim  Korrigierenden.  Metior 
undmentior,  cado  und  caedo,  Tpe7rwundTp£90),  ou  und  oüsind  ein  paar  Beispiele. 
Auch  hier  ist  es  immer  nützlich,  einstweilen  nur  von  der  einen  der  beiden  irgendwie 
zusammengehörigen  Vokabeln  die  Akkreszenz  zu  erzeugen  —  man  wird  dazu 
die  wichtigere,  die  häufiger  gebrauchte  wählen  —  und  längere  Zeit  nur  sie  in  den 
Übungen  zu  verwenden.  Tritt  dann  nach  einem  angemessenen  Zeitraum  der 
andere  Teil  des  Wortepaares  hinzu,  so  bietet  wiederum  die  zeitlich  zuerst  gebildete 
Akkreszenz  den  sicheren  Anhalt  und  schützt  vor  der  Verwechselung.  Dieses 
Verfahren  empfiehlt  sich  auch  dann  noch,  wenn  es  zu  dem  einen  Teil  des  Worte- 
paares eine  mnemotechnische  Hilfe  gibt,  in  ähnlicher  Weise  wie  oben  bei  den  Be- 
griffen konkav  und  konvex.  Bei  dem  ersterwähnten  Wortepaar  z.  B.  ist  solche 
Hilfe  darin  gegeben,  daß  man  beim  Einlernen  des  Wortes  metior  an  das  beim 
Messen  verwendete  Meter  erinnert  (oder  auch  noch  an  Dimension,  falls  dieser  Be- 
griff in  der  Mathematik  bereits  aufgetreten  ist) ;  bei  cado  und  caedo  liegt  die  Hilfe 
in  dem  Gleichklang  mit  den  Worten  „ich  falle"  und  „ich  fälle".  Bei  vielen  Woite- 
paaren  existiert  aber  eine  solche  Hilfe  nicht,  bei  diesen  wird  dann  das  empfohlene 
Verfahren  besonders  wichtig.  Von  vornherein  das  Wortepaar  aufzustellen,  ist 
jedenfalls  durchaus  zu  widerraten. 

Diese  Beispiele  genügen  wohl,  um  das  dem  Verfahren  zugrundeliegende  didakti- 
sche Psinzip  genauer  zu  formulieren.  Es  möge  in  zwei  Fassungen  aufgestellt 
werden : 

„Prinzip  der  zeitlichen  Trennung  zweier  verwechselbarer  Begriffe. 
„Zwei  Begriffe,  die  in  einem  derartigen  Zusammenhange  zueinander  stehen, 
daß  bei  der  Reproduktion  des  einen  eine  Verwechselung  mit  dem  anderen  naheliegt, 
dürfen  nicht  gleichzeitig,  d.  h.  nicht  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mitgeteilt 
werden,  sondern  müssen  einzeln  und  zeitlich  ziemlich  weit  voneinander  getrennt 
zur  Ausbildung  gelangen. 
Oder: 

Prinzip    der    primären    Akkreszenz. 
Bei  der   Übermittelung  zweier  ähnlich  klingender  oder  sonstwie  zusammen- 
gehöriger und  verwechselbarer  Begriffe  ist  zunächst  immer  nur  die  Akkreszenz 


^)  Diese  Art  der  Behandlung  ist  durchgeführt  in  des  Verf.  „Leitfaden  der  Chemie 
und  Mineralogie"  (Berlin,  Verlag  von  Winckelmann  u.  Söhne,  6.  Aufl.,  1916),  der  auch 
im  übrigen  nach  einem  streng  aufbauenden  Lehrverfahren  angelegt  ist. 


38  Otto  Ohmann 


des  einen  —  und  zwar  des  dazu  am  meisten  geeigneten  —  Begriffes  und  erst 

nach  längerer  Zeit  die  des  anderen  zu  bewirken. 

Nun  glaubs  ich  —  zumal  hinsichtlicli  der  gleichklingenden  Wörter  —  ver- 
schiedene Stimmen  zu  vernehmen:  ,,Wie  bringen  die  verwechselbaren  Dinge 
absichtlich  gleichzeitig;  dadurch  daß  wir  die  Schüler  zwingen,  sie  nun  doch  aus- 
einanderzuhalten, üben  wir  ihr  Gedächtnis  mid  schärfen  wir  ihren  Verstand." 
Diesen  Stimmen  halten  wir  entgegen:  Den  Verstand  der  Schüler  schärfen  wir 
hauptsächlich  durch  Übungen  in  der  Wiedergabe  klar  umgrenzter  Begriffe  und 
durch  Auf  suchen  logischer  Beziehungen,  aber  nicht  durch  mühsameUnterscheidung 
von  Begriffen  und  Worten,  die  durch  Gleichklang  nur  eine  Beziehung  vortäuschen, 
und  bei  deren  Aufstellung  der  Zufall  eine  mehr  oder  minder  große  Rolle  spielte ; 
das  gleichzeitige  Einprägen  und  dann  folgende  mühsame  Unterscheiden  bedeutet 
ferner  nur  eine  Belastung  des  Gedächtnisses,  keine  Übung.  Bei  der  heutigen, 
so  unermeßlich  angewachsenen  Fülle  des  wirklich  Wertvollen  müssen  wir  aber 
möglichst  auf  Entlastung  bedacht  sein. 

Id  einem  neueren  Lehrbuch  der  französischen  Sprache  findet  sich  z.B.  folgende 
Zusammenstellung : 

le  memoire,  die  Denkschrift  la  memoire,  das  Gedächtnis 

le  voile,  der  Schleier  la  voile,  das  Segel 

le  manche,  der  Stiel  la  manche,  der  Ärmel 

le  tour,  der  Umgang,  der  Streich  la  tour,  der  Turm 

h  page,  der  Edelknabe  la  page,  die  Seite. 

Diese  kleine  Tabelle  wurde  natürlich  den  Schülern  (der  Untertertia)  mit  einem 
Male  zur  Einprägung  aufgegeben  —  gewiß  ganz  in  Übereinstimmung  mit  den  Ab- 
sichten des  Lehr  buch  Verfassers.  Es  ist  aber  klar,  daß  bei  diesem  Verfahren 
allen  Verwechselungen  Vorschub  geleistet  wird,  daß  bei  der  Reproduktion  Un- 
sicherheit die  Regel  bildet,  wenigstens  daß  wirkliche  Sicherheit  nur  mit  erhöhtem, 
der  ziemlich  belanglosen  Sache  nicht  entsprechendem  Energieaufwand  erreicht 
wird. 

Soll  nun  das  doch  immerhin  Zusammengehörige  ganz  getrennt  werden?  — 
Durchaus,  wenigstens  sofern  es  sich  um  die  erste  Einprägung  handelt.  Da  sind 
zunächst  die  wenigen  wirklich  wichtigen  Vokabeln  für  sich  mit  ihrem 
Genus  zu  lernen,  wie  irgendwelche  anderen  Teile  des  Vokabelschatzes.  Da- 
nach, aber  ziemlich  viel  später,  mögen  sie  mit  der  zweiten  Bedeutung  imd  dem 
anderen  Genus  ruhig  tabellarisch  nebeneinander  gestellt  werden.  Wie  das  im 
einzelnen  und  in  ähnlichen  Fällen  auf  sprachlichem  Gebiet  durchzuführen  ist, 
dürfen  wir  getrost  den  philologischen  Verfassern  überlassen.  Wer  von  der  Richtig- 
keit des  Prinzips  überzeugt  ist,  wird  unschwer  Mittel  und  Wege  finden,  es  in  der 
Grammatik  und  anderen  Lehrbüchern  angemessen  zur  Geltung  zu  bringen.  Einst- 
weilen wird  es  genügen  —  im  Vertrauen  darauf,  daß  der  Schüler  von  seinem  an- 
geborenen Rechte,  nicht  mehr  zu  lernen  als  verlangt  ist,  schon  ausreichenden  Ge- 
brauch machen  wird  —  von  solchen  Wortepaaren  nur  die  einzelnen  wichtigeren 
Vokabeln  mit  ihrem  Genus  unterstreichen  und  lernen  zu  lassen.        * 

Man  wende  nicht  ein,  daß  in  diesen  und  ähnlichen  Fällen  die  Schüler  sich 
doch  so  viel  mit  den  Dingen  beschäftigen  müssen,  daß  sie  schließlich  die  genügende 
Sicherheit  von  selbst  erwerben.  Für  viele  Schüler,  nicht  einmal  immer  für  die 
Mehrzahl,  soll  das  zugegeben  werden.  Das  Prinzip  soll  aber  gerade  über  die  ersten. 


Ein  unterrichtspsychol.  Grundsatz  über  die  Aneignung  verwechselb.  Begriffe      39 

sich  so  häufig  einstellenden  Unsicherheiten  hinweghelfen,  es  soll  hier  einer  Energie- 
verschwendung vorbeugen,  es  soll  den  Zeitraum  des  Schwankens  abkürzen  oder 
überhaupt  auf  Null  reduzieren.  —  Es  sei  hier  eine  Reminiszenz  eingeflochten, 
die  vielleicht  besser  als  manches  andere  den  Wert  des  Prinzips  zu  illustrieren 
vermag.  Es  war  in  der  Untertertia  eines  Gymnasiums;  ich  unterrichtete  Geo- 
metrie und  hatte  die  Jungen  in  das  rechtwinklige  Dreieck  mit  seinen  Benennun- 
gen dem  Prinzip  entsprechend  so  eingeführt,  wie  es  oben  bereits  näher  dargelegt 
wurde—  als  eines  Tages  der  Direktor  (ein  klassischer  Philologe)  unerwartet  eintrat. 
Nach  längerem  Zuhören  ergriff  er  selbst  das  Wort.  Wie  schreibst  du  das  Wort 
Kathete  ?  Der  gefragte  Junge  buchstabierte  es  richtig.  Schreibe  du  es  mal  an 
die  Tafel,  befahl  er  einem  anderen  Schüler.  Der  Junge  schrieb  es  richtig.  Wie 
schreibst  du  das  Wort,  fragte  er  einen  anderen  Schüler,  gleichsam  als  ob  es  sein 
Vorgänger  falsch  geschrieben  hätte.  Auch  dieser  Schüler  schrieb  es  richtig.  Das- 
selbe Manöver  wurde  mit  der  Hypotenuse  durchgeführt.  Immer  machten  es 
die  JungeD  richtig,  und  der  Direktor  schien  keineswegs  darüber  erfreut  zu  sein. 
Da  ich  mit  den  Jungen  aber  auch  noch  die  Regel  repetiert  hatte,  daß  die  mit 
der  gesprochenen  Silbe  „lieh"  endigenden  Adjektiva  mit  ,,ig"  geschrieben 
werden,  sobald  das  ,,1"  dem  Stammwort  angehört  —  eine  Regel,  die  den  meisten 
gänzlich  entfallen  war  —  und  nun  der  Direktor  einen  Schüler  aufforderte,  das 
Wort  ,, gleichschenklig"  an  die  Tafel  zu  schreiben,  was  ohne  Fehler  geschah, 
richtet3  er  nur  noch  die  Frage  an  den  Schüler,  ob  er  ,,es  auch  genau  wüßte", 
daß  das  Wort  so  geschrieben  werde,  und  verließ,  als  der  Schüler  auch  dies  be- 
jahte, statt  mit  Befriedigung,  mit  einem  deutlichen,  mir  ganz  unerklärlichen 
Unmut,  um  nicht  zu  sagen,  mit  Enttäuschung,  das  Zimmer.  Erst  viel  später 
wurde  mir  klar,  daß  ich  bei  ihm  ein  Dogma  zerstört  hatte;  nämlich,  als  er  mir 
gelegentlich  mitteilte,  daß  er  wiederholt  bei  Mathsmatikern  dieselbe  Probe 
im  Unterricht  vorgenommen  hätte  und  niemals  eine  durchgängig  richtige 
Schreibweise  dieser  Worte  erlebt  hätte. 

Wer  sich  mit  dem  oben  formulierten  didaktischen  Prinzip  vertraut  macht, 
wird  eine  erhebliche  Zahl  von  Anwendungen  in  allen  Unterrichtsfächern  auffinden. 
Wir  wählten  hier  absichtlicl» recht  elementare  aus,  weil  sich  an  ihnen  die  An- 
wendbarkeit am  einfachsten  darlegen  läßt.  Auch  weiterhin  beim  wissenschaftlichen 
Lehren,  auch  baim  Abfaisen  jedweden  Lehrbuches-,  nicht  zuletzt  hinsichtlich 
der  Ausbildung  der  eigenen  Psyche,  kann  es  zam  nützlichen  Wegweiser  werden. 
Insbesondere,  so  hoffen  wir,  wird  es  dazu  beitragen,  dem  Faktor  Zeit  im  Unter- 
richt mehr  zu  seiner  Bedeutung  zu  verhelfen.  Bei  allem  Lehren  handelt  es  sich 
um  den  richtig  vollführten  Anbau  der  jugendlichen  Psyche,  die  wie  ein  aufnahme- 
bereites Feld  vor  uns  liegt.  Bei  diesem  Anbau  handelt  sich  es  aber  nicht  nur 
um  ein  bloßes  Ausstreuen  von  Samenkörnern.  Das  Bild  des  Säemanns  —  so 
sympathisch  es  uns  Unterrichtenden  auch  sein  mag  —  paßt  melir  für  den  Vortrags- 
redner und  den  Pfarrer,  weit  weniger  für  den  Unterrichtenden.  Auf  ihn  paßt 
mehr  das  Bild  des  Forstmannes  oder  Gärtners,  der  nicht  schnell  Samen  in  die 
Furchen  einstreut,  sondern  junge^  bereits  angekeimte  Pflanzen  einzeln,  langsam 
und  mit  Bedacht  einpflanzt.  Denn  jedweder  Begriff,  der  für  wertvoll  genug 
befunden  wird,  um  im  Unterricht  übermittelt  zu  werden,  ist  schon  etwas  derartig 
Zasammengesetztes.  Der  Unterrichtende  hat,  um  im  Bilde  zu  bleiben,  genau 
auszulesen,  was  er  pflanzt,  und  hat  genau  zu  bedenken,  wann  und  wo  er  es 


40  Otto  Ohmann,  Ein  unterrichtspsychologischer  Grundsatz  usw. 

pflanzt.  Gerade  auf  den  richtigen  Zeitpunkt  kommt  es  zuweilen  entscheidend 
an.  Besonders  beim  Beginn  eines  neuen  Unterrichtsgebietes  ist  die  Ausbildung 
der  ersten  Akkreszenzen  mit  peinlicher  Sorgfalt  vorzunehmen.  Denken  wir 
etwa,  hinsichtlich  des  mathematischen  Unterrichts,  an  die  Trigonometrie,  vor- 
erst an  die  goniometrischen  Formeln,  so  entspricht  es  dem  Sinn  c'es  aufgestellten 
Prinzips,  nicht  gleich  die  vier  gewöhnlichen  Winkelfunktionen,  sinus,  cosinus, 
tangens  imd  cotangens,  aufzustellen  —  häufig  genug  findet  man  in  Lehrbü- 
chern gleich  im  Anfang  diese  Zusammenstellung  —  auch  nicht  einmal  zwei, 
den  sinus  und  cosinus,  sondern  sich  längere  Zeit  nur  mit  der  Sinusfunktion  eines 
Winkels  zu  beschäftigen.  Der  damit  verknüpfte  kleine  Zeitverlust  wird  durch 
die  damit  gewonnene  größere  Sicherheit  reichlich  aufgewogen.  Es  entspricht 
weiter  dem  Sinn  des  Prinzips,  diese  ersten  Akkreszenzen  —  sobald  nämlich  noch 
die  Cosinusfunktion  hinzugenommen  ist  —  auch  nach  der  historischen  Seite  hin 
zu  vervollständigen  und  damit  lebensvoller  zu  gestalten,  was  durch  die  Durch- 
nahme der  großartigen  Aufgabe  des  Aristarch  von  Samos  —  die  im  Unterricht 
bei  weitem  nicht  genügend  ausgewertet  wird  —  fruchtbringend  geschehen  kann. 
Dieser  geniale  Kopf  konzij)ierte  bekanntlich  das  bei  Vollendung  der  ersten  Mond- 
phase bestehende  rechtwinklige  Dreieck  Erde  —  Mond  —  Sonne,  mit  dem 
rechten  Winkel  beim  Monde  und  dem  von  dem  Erdstandpunkt  aus  meßbaren 
Winkel,  dessen  Schenkel  nach  Mond  und  Sonne  weisen ;  und  Aristarch  vermochte 
durch  Messung  dieses  Winkels  nicht  nur  die  relativen  Entfernungen  Erde — Mond 
und  Erde — Sonne  festzustellen,  sondern  auch  —  da  Sonnen-  und  Mondscheibe 
bei  gewöhnlicher  Betrachtung  ungefähr  gleichgroß  erscheinen  —  bereits  einen 
Schluß  über  das  relative  Größenverhältnis  von  Sonne  und  Mond  zu  ziehen. 
Bin  glänzendes  Beispiel  der  Leistungsfähigkeit  Antiken  griechischen  Geistes. 

So  wird  man  bei  weitergehender  praktischer  Anwendung  des  aufgestellten 
didaktischen  Prinzips  erkennen,  daß  dasselbe  oder  vielmehr  die  damit  zusammen- 
hängenden, hier  nur  im  vollkommen  angedeuteten  physiologischen  Anschauungen 
allmählich  die  gesamte  didaktische  Tätigkeit  zu  beeinflussen  vermögen.  Mich 
begleiten  wenigstens  diese  Anschauungen  mit  ihren  weiteren  Folgerungen  un- 
aufhörlich beim  Unterricht,  und  sie  geben  mir  in  allen  auftretenden  Fragen  fast 
regelmäßig  den  richtigen  Fingerzeig.  Der  Zweck  dieser  Zeilen  ist  erreicht,  wenn 
sie  dazu  beitragen,  daß  diese  Anschauungen  auch  in  anderen  beim  Unterricht  zur 
lebendigen  Wirkung  gelangen. 

Noch  eine  kurze  Bemerkung  sei  zum  Schluß  gestattet.  Der  Titel  der  vorliegen- 
den Arbeit  sollte  eigentlich  lauten  ,,Uber  ein  vernachlässigtes  didaktisches  Prin- 
zip usw.",  indem  ich  von  der  Meinung  ausging,  daß  dieses  Prinzip  irgendwo 
—  bei  Herbart,  Jean  Paul  oder  anderen  —  schon  einmal  ausgesprochen 
sein  müßte ;  ich  habe  aber  bis  jetzt  darüber  nichts  auffinden  können.  Vielleicht 
wird  ein  anderer  durch  die  vorliegenden  Zeilen  angeregt,  danach  zu  spüren. 
Verfasser  will  gern  auf  denRuhm  der  Priorität  verzichten  und  sich  damit  begnügen, 
das  Prinzip  unabhängig  wieder  aufgestellt  und  dadurch  in  Erinnerung  gebracht 
zu  haben. 


Nelly  Wolffheim,  Einheitskindergärten?  41 


Einheitskindergärten  ? 

Von  Nelly  Wolffheim. 

Der  Kindergarten  ist  in  den  letzten  Jahren  nicht  nur  als  soziale  Einrichtung 
mehr  zur  Anerkennung  gekommen,  sondern  auch  seine  pädagogische  Würdigung 
ist  gewachsen.  Wohl  als  Folge  dieser  Erscheinung  werden  (wenigstens  meinen 
Beobachtimgen  nach)  aus  den  Kreisen  der  gebildeten  und  besser  gestellten 
Familien  häufiger  als  früher  die  Kinder  einem  Kindergarten  anvertraut;  viel- 
fach sprechen  naturgemäß  auch  äußere  Gründe,  besonders  die  zunehmende  be- 
rufliche oder  soziale  Tätigkeit  der  Mütter,  hierbei  mit.  Es  fragt  sich  nun,  in  welche 
Art  der  Kindergärten  diese  Kinder  geschickt  werden  sollen.  Neben  den  Volks- 
kindergärten hat  man  für  die  sozial  gehobeneren  Stände  vielfach  Mittelstands- 
kindergärten eingerichtet  und  kleine  private  Kindergärten  und  Familienzirkel 
begründet;  häufig  finden  sich  auch  —  besonders  seit  der  Mädchenschulreform 
—  den  höheren  Mädchenschulen  Kindergärten  angegliedert.  An  manchen  Plätzen 
scheint  mir  ein  Mangel  an  derartigen  Einrichtungen  zu  bestehen,  und  ihre  Ver- 
mehrung wäre  zu  befürworten.  Man  muß  bei  der  Behandlung  dieser  Frage  aber 
auch  der  Richtung  Aufmerksamkeit  schenken,  die  es  für  wünschenswert  hält, 
die  Kinder  aller  Stände  dem  Volkskindergarten  zuzuführen.  Von  äußerst 
schätzenswerter,  auf  diesem  Gebiet  autoritativer  Seite  wurde  erst  kürzlich 
öffentlich  hervorgehoben,  wie  sehr  es  zu  begrüßen  sei,  wenn  gebildete  Familien 
dadurch,  daß  sie  ihre  Kinder  in  den  allgemeinen  Kindergarten  schicken,  den 
breiteren  Volksmassen  zeigen,  für  wie  wertvoll  sie  die  Institution  an  sich  ein- 
schätzen. Man  muß  anerkennen,  daß  es,  besonders  auf  dem  Lande,  unbedingt 
für  den  Kindergarten  wirkt,  wenn  der  Pastor,  der  Lehrer  oder  eine  als  wohl- 
habend bekannte  Familie  ein  Kind  in  den  öffentlichen  Kindergarten  schickt. 
Es  wird  auch  damit  zu  rechnen  sein,  daß  diese  Kreise,  wenn  sie  durch  die  per- 
sönlichen Beziehungen  an  dem  Kindergarten  interessiert  sind,  die  Einrichtung 
durch  ihre  Fürsorge  fördern  werden.  Dies  wäre  im  titeresse  der  Kindergarten- 
idee, vor  allem  aber  im  Hinblick  auf  die  kleinen  Zöglinge  erfreulich,  und  wenn 
man  die  Sache  vom  sozialen  Standpunkt  aus  betrachtet,  wird  man  noch  manche 
andere  Vorteile,  vor  allem  solche,  die  dem  Gerechtigkeitsgedanken  entspre- 
chen, herausfinden.  Wer  in  der  sozialen  Arbeit  steht,  hat  meist  die  Neigung, 
alles  in  erster  Linie  vom  volkserzieherischen  Gesichtspunkt  aus  und  im  Sinne 
der  unteren  Volksschichten  zu  beurteilen,  und  von  hier  ausgehend,  kann  man 
den  Einheitskindergarten  in  vielfacher  Hinsicht  gutheißen.  Wer  aber  die 
pädagogische  Arbeit  in  verschiedenen  Bevölkerungskreisen  ausgeübt  hat,  weiß, 
daß  man  auch  die  Kehrseite  solcher  Anschauungen  nicht  außer  acht  lassen  darf; 
man  läuft  sonst  Gefahr,  einen  Teil  der  Kinder  ohne  durchaus  zwingenden 
Grund  zu  benachteiligen.  Daß  die  Mehrzahl  der  Familien,  die  es  nicht  aus 
äußeren  Gründen  tun  müssen,  sich  auch  schwer  dazu  entschließen  würden,  ihre 
Kinder  in  einen  Volkskindergarten  zu  schicken,  ist  sicher. 

In  erster  Linie  sind  da  Gesichtspunkte  der  Gesundheitspflege  von  Bedeutung. 
Volkskindergärten  sind  fast  immer  Massenanstalten,  die  eine  Anzahl  von  vierzig 
(in  sehr  günstigen  Fällen!)  bis  zu  hundert  und  mehr  Zöglingen  aufnehmen. 
Die  wenigen  Einrichtungen,    die  in   der    glücklichen  Lage   sind,    die  Kinder 


42  Nelly  Wolffheim 


innerhalb  dieser  größeren  Gemeinschaft  in  kleinere  Gruppen  zu  teilen,  die 
sich  in  familienhaften  Zimmern  für  sich  aufhalten,  sind  Ausnahmen,  Daß 
es  an  sich  nicht  wünschenswert  ist,  ein  kleines  Kind  der  Unruhe  und  der 
bei  der  Masse  notwendigen  schulmäßigeren  Disziplin  auszusetzen,  daß  es  nicht 
günstig  sein  kann,  wenn  die  Kleinen,  die  bei  einem  Zusammensein  vieler 
naturgemäß  wenig  gute  Luft  einatmen,  muß  jeder  zugeben;  man  sieht  daher 
auch  von  Seiten  der  Kindergartenvertreter  die  Massenanstalten  immer  nur 
als  einen  durch  äußere  Umstände  bedingten  Notbshelf  an  und  strebt  mehr 
und  mehr  einem  Kindergarten  zu,  der  den  Charakter  einer  Familienkinder- 
stuba  trägt.  Warum  will  man  es  dann  aber  aus  einseitig  sozial-ethischen  Prin- 
zipien befürworten,  daß  wir  Kinder,  die  nicht  darauf  angewiesen  sind,  einen 
Kindergarten  zu  besuchen,  den  zugegebenen  und  so  allgemein  bekämpften 
Nachteilen  aussetzen  ?  Aber  rechnen  wir  hier  einmal  mit  einem  Idealkinder^ 
garten,  in  dem  nach  Möglichkeit  alle  die  hervorgehobenen  Schädlichkeiten  be- 
seitigt sind :  Im  Kindergarten  selbst  ist  alles  schön  und  gut,  die  Käume  sind 
hygienisch  einwandfrei,  das  Zusammensein  der  Kleinen  wird  in  bester  familien- 
hafter  Art  ausgestaltet,  die  pädagogische  Leitung  ist  eine  rechte,  kurz,  der  Kin 
dergarten  ist  so,  wie  er  uns  allen  als  wünschenswert  vorschwebt  und  wie  er  an 
manchen  Plätzen  annähernd  zu  finden  ist.  Und  trotzdem  halte  ich  es  nicht  für 
empfehlenswert,  Kinder  aus  einer  sorgfältigen  Kinderstube  der  oberen  Schich- 
ten dorthin  zu  schicken !  Wie  dies  im  Zusammenhang  mit  den  Wohnverhältnis- 
sen, mit  den  Arbeitsanforderungen,  die  an  die  Mütter  gestellt  werden,  ganz 
natürlich  ist,  kann  die  Körperpflege  bei  den  Kindern  des  einfachen  Volkes  nur 
eine  primitive  sein ;  der  Kleidung  der  Kleinen  hängt,  selbst  wenn  sie  sauber  ge- 
halten wird,  die  Atmosphäre  der  engen,  oft  ungesunden  Wohnungen  an,  und 
die  Ausdünstungen  sind  häufig  recht  unangenehm  bemerkbar.  Die  besten  hygieni- 
schen Einrichtungen  des  Kindergartens  (Kinderbäder)  können  dies  nicht  aus- 
schalten. Die  obhutgewährende  Aufgaba  des  Volkskindergartens  macht  es  außer- 
dem unmöglich,  mit  starken  Erkältungen  oder  leichten  Ausschlägen  behaftete 
Kinder  vom  Kindergarten  fern  zu  halten,  und  Isolierzimmer  sind  bisher  an  den 
wenigsten  Plätzen  eingerichtet.  Daß  dies  alles  der  Ausbreitung  von  Krankheits- 
keimen günstig  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Man  rechne  hierzu  die  Unkenntnis  und 
Unbedachtsamkeit  ungebildeter  Leute,  denen  ärztliche  Beratimg  nicht  immer 
zur  Seite  steht,  imd  bringe  hiermit  die  vermehrte  Möglichkeit  einer  Krankheits- 
übsrtragung  in  Zusammenhang.  Mögen  die  Verordnungen  der  Anstalten  noch 
so  strenge  sein  und  der  Einschleppung  von  Kinderkrankheiten  entgegenzuwirken 
suchen;  wer  bürgt  dafür,  daß  die  Erkrankungen  bei  der  Arztscheu  jener  Kreise 
rechtzeitig  erkannt  werden  ?  Wer  will  es  einer  Mutter,  die  mit  Heimarbeit  über- 
lastet ist,  verdenken,  wenn  sie  einen  Krankheitsfall  innerhalb  der  Familie  ver- 
heimlicht, um  wenigstens  die  gesunden  Kinder  tagsüber  in  den  Kindergarten 
schicken  zu  können  ?  Warum,  so  ist  auch  hier  zu  fragen,  Kinder,  die  in  päda- 
gogischer Hinsicht  die  Vorteile  des  Kindergartens  auf  eine  andere  Art  genießen 
können,  dem  aussetzen  ? 

Man  nehme  dazu  die  nach  meiner  Erfahrung  durchschnittlich  größere  Sensibili- 
tät und  nervöse  Disposition  der  oberen  Schichten,  die  bsreits  in  der  frühen  Kind- 
heit bemerkbar  wird.  Wozu  diese  Kleinen  dem  großen  Betriebe  einreihen  und 
sie  dort  tädich  für  viele  Stunden  festhalten  ? 


Einheitskindergärten?  43 


Neben  den  Fragen  der  Gesundheitspflege  muß  in  diesem  Zusammenhange  der 
geistige  Standpankt  der  Kinder  bei  der  Beurteilung  herangezogen  werden.  Es 
ist  kein  Zweifel,  daß  die  Kinder  verschiedener  Bildungs-  und  Lebenskreise  auch 
durch  den  Kindergarten  verschiedenes  zu  empfangen  haben.  Ich  kann  an  dieser 
Stelle  auf  die  Unterschiede  nur  andeutend  eingehen.  Es  sei  hervorgehoben,  daß 
ich  bei  Beginn  meiner  Tätigkeit  an  Kindern  der  oberen  Schichten,  vom  Volks- 
kindergarten kommend,  wesentlich  umlernen  mußte.  Es  soll  hiermit  in  keiner 
Weise  ein  Werturteil  nach  irgendeiner  Seite  hin  abgegeben  werden,  nur  liegt 
mir  daran,  das  Vorhandensein  bestimmter  Unterscheidungen,  die  von  manchen 
geleugnet  werden,  zu  betonen.  Manches,  was  man  bei  Kindern,  die  viel  allein 
sind,  oder  deren  baide  Eltern  weder  die  Zeit  noch  das  Wissen  haben,  um  den 
Kleinen  geistige  Anregungen  und  Belehrungen  zu  bieten,  bewußt  fördern  muß, 
bedarf  im  Kindergarten  für  die  basser  gestellten  Kreise  nicht  der  Pflege.  Man  täte 
unrecht,  diesen  Kindern  die  gleichen  Anregungen  zu  bieten  wie  jenen;  während 
bei  den  Volkskindern  gerade  der  Denkanregung  besondere  Aufmerksamkeit 
zu  schenken  ist,  wird  man  die  Kleinen  aus  der  modernen  gebildeten  Großstadt- 
familie meist  geistig  zu  schonen  haben  und  ihnen  statt  vielem  Denkinhalt,  der 
ihnen  anderweitig  mehr  als  wünschenswert  ist,  zugeführt  wird,  nur  Gelegenheit 
zur  ruhigen  konzentrierten  Beschäftigung  geben.  Die  Tätigkeit  dieser  Kinder  muß 
der  Verarbeitung  der  vielen,  allzuvielen  Eindrücke  und  der  Klärung  des  erstaun- 
lich größenWort  Wissens  dienen.  Im  Volkskindergarten  ist  der  Pflege  der  Sprache 
besondere  Aufmerksamkeit  zu  schenken ;  die  Kinder  müssen  häufig  erst  lernen, 
ihre  Gedanken  wiederzugeben  oder  sie  in  eine  möglichst  gute  Form  zu  kleiden; 
dieses  der  Schule  vorarbeitende  Bemühen  wird  in  den  meisten  Fällen  bei  Kindern 
aus  gebildeten  Familien  fortfallen.  Hier  wird  es  sich  hingegen  mehr  darum  han- 
deln, die  Kleinen  zu  gewöhnen,  von  einer  ihnen  durch  stete  Unterhaltung  mit 
Erwachsenen  (besonders  bsi  Einzigen!)  und  durch  die  zu  eingehende  Frage- 
beantwortung anerzogenen  Vielgeschwätzigkeit  abzulassen.  Die  Kinder  des 
einfachen  Volkes  sind  von  Hause  aus  selbständiger;  die  oft  recht  verwöhnten 
Kinder  begüterter  Kreise  müssen  in  vielen  Fällen  im  Kindergarten  zu  Eigen - 
handlungen  geführt  werden,  die  ihnen  die  häusliche  Kinderstube  nur  zu  willig 
abzunehmen  geneigt  ist.  Oft  gilt  es,  zuerst  das  Selbstvertrauen  nach  dieser 
Richtung  hin  zu  wecken  imd  dem  Kinde  zu  zeigen,  was  es  zu  leisten  vermag. 
In  allen  praktischen  Lebensfragen  sind  die  Kinder  der  unteren  Schichten  meist 
denen  der  oberen  Klassen  überlegen ;  die  Anleitung  zu  den  im  modernen  Kinder- 
garten gern  gepflegten  hauswirtschaftlichen  Beschäftigungen  wird  je  nach 
der  Art  der  kleinen  Zöglinge  eine  andere  sein  müssen,  ebenso  wie  sie  meines 
Erachtens  von  verschiedenen  Gesichtspunkten  ausgehen  wird. 

Man  kann  natürlich  diese  hier  hervorgehobenen  Unterschiede  nicht  als  allge- 
meingültige hinstellen;  sie  sollen  nur  einzelne  Hinweise  auf  das  geben,  was  mir 
im  Laufe  meiner  Praxis  als  bemerkenswert  und  unterscheidenswert  aufgefallen 
ist.  Es  sei  hierbei  bemerkt,  daß  in  einem  Mittelstandskindergarten  der  inneren 
Stadt  die  Kontraite  zum  Volkskindergarten  weniger  schroff  fühlbar  sein  werden, 
als  ich  sie  bei  der  Beschäftigung  mit  Kindern  aus  vermögenden  Kreisen  des  Berliner 
Westens  empfinde.  —  Die  Eigenart  des  einzelnen  Kindes  wird  sich  naturgemäß 
in  jedem  Kindergarten  bemerkbar  zu  machen  suchen,  und  Unterschiede  werden 
innerhalb  der  jeweiligen  Volksschichten  unbedingt  hervortreten.  Aber  in  der  Masse 


44  Nelly  Wolffheim,  Eihheitskindergärten  ? 

wird  ein  Generalisieren  nie  zu  vermeiden  sein,  und  wir,  die  wir  —  unter  Aus- 
schluß der  zu  Zeiten  befürworteten  Übertreibungen  auf  diesem  Gebiet  —  für 
ein  rechtes  Individualisieren  bei  der  Erziehung  eintreten,  müßten  es  schon 
aus  diesem  Grunde  vermeiden,  Kinder  ohne  äußere  Notwendigkeit  einer 
allzu  großen  Allgemeinheit  einzuordnen.  Die  pädagogische  Bedeutung  des 
Zusammenlebens  der  Kinder  in  einem  vergrößerten  Kinderkreise  soll  deshalb 
nicht  etwa  in  Abrede  gestellt  werden. 

Für  die  erziehlichen  Aufgaben,  die  der  Kindergarten  an  den  Kindern  aus 
gebildeten  Familien  zu  erfüllen  hat,  genügen  auch  weniger  Tagesstunden,  als 
sie  für  eine  obhutgewährende  Anstalt  als  zweckmäßig  zu  erachten  sind.  Ich  per- 
sönlich bin  sogar  der  Ansicht,  daß  ein  täglicher  Besuch  des  Kindergartens,  wenn 
nicht  äußere  Gründe  es  erforderlich  machen,  für  diese  Kinder  nicht  nötig,  ja  nicht 
einmal  unbedingt  wünschenswert  ist.  Als  nicht  sehr  wesentlich  schätze  ich  die 
von  manchen  Seiten  ausgesprochenen  Bedenken  gegen  eine  Gemeinschafts- 
erziehung ein,  die  sich  auf  die  Befürchtung  gegenseitiger  ungünstiger  Beeinflussung 
stützen.  Der  Einfluß  der  Kinder  auf  einander  ist,  soweit  ich  meinen  Erfahrungen 
trauen  kann,  auf  der  frühen  Altersstufe  nicht  sehr  groß,  was  ich  in  dieser  Zeit- 
schrift bereits  einmal  nachzuweisen  suchte.  Die  Befürchtung,  daß  die  Kinder 
unbemittelter  Familien  durch  ein  Zusammensein  mit  den  verwöhnteren  Kindern 
zu  Neid  und  Eifersucht  kommen  würden,  ist  nicht  allzu  schwer  zu  nehmen,  da 
doch  dieser  Neid  bei  entsprechender  Veranlagung  oder  häuslicher  Beeinflussung 
der  Kinder  überall  auf  Schritt  und  Tritt  Nahrung  findet. 

Nicht  ganz  unbedenklich  scheint  mir  die  ästhetische  Seite  der  Frage  zu  sein. 
Wie  der  Körperpflege  wird  den  gesamten  äußeren  Formen  der  Kinder  in  gebil- 
deten Kreisen  viel  Aufmerksamkeit  geschenkt,  und  wenn  man  auch  den  Übertrei- 
bungen auf  diesem  Gebiet  nicht  das  Wort  zu  reden  braucht,  so  ist  doch  eine 
gewisse  Lebenskultar  als  Wertfaktor  einzuschätzen,  und  ich  weiß  nicht,  ob  es 
wünschenswert  ist,  diese  Kinder  in  eine  dauernde  und  enge  Berührung  mit 
Kindern  zu  bringen,  die  auf  einem  weitabliegenden  Boden  aufwachsen. 

Wenn  es  auch  als  das  Ideal  zu  gelten  hat,  allen  Volksschichten  Gleichwertiges 
zu  bieten,  so  sehe  ich  doch  keine  Veranlassung,  solchen  Kindern,  die  es  besser 
haben  können,  das  ihnen  weniger  Zuträgliche  zu  geben.  Solange  wir  eine  ver- 
schiedene Lebensführung  der  einzelnen  Volksschichten  haben,  werden  wir  auch 
den  Kindern  eine  verschiedene  Lebensbildung  übermitteln  müssen.  Jedenfalls 
aber  ist  es  zu  vermeiden,  aus  sozialer  Gleichmachungsidee  heraus  Kinder  in 
hygienischer  und  erziehlicher  Hinsicht  zu  schädigen. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Die  Pädagogik  in  der  neuen  preußischen  Oberlehrerprüfung.  Am  1.  April 
1918  tritt  eine  neue  Prüfungsordnung  für  das  Lehramt  an  den  höheren  Schulen 
Preußens  in  Kraft.  Sie  enthält  sehr  wichtige  Bestimmungen  hinsichtUch  der 
Pädagogik  und  ist  in  dieser  Hinsicht  auch  von  allgemeinem  Interesse.  Das 
grundsätzlich  Wichtigste  an  ihr  ist  die  Trennung  der  theoretisch-päda- 
gogischen Ausbildung  und  Prüfung  von  der  fach  wissen  schaftlichen 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  45 

Ausbildungund  Prüfung.  Die  preußische  Oberlehrerprüfung  ist  in  Zu- 
kunft eine  zweifache;  sie  zerfällt  in  die  wissenschaftliche  (fach wissen- 
schaftliche) und  pädagogische  Prüfung.  Die  fachwissenschaftUche  Prüfung 
wird  nach  Ablauf  eines  mindestens  vierjährigen  Studiums  vor  einem  Wissen- 
schaftlichen Prüfungsamte  abgelegt,  das  aus  Universitätsdozenten  und  Schul- 
männern zusammengesetzt  ist.  Die  pädagogische  Prüfung  wird  am  Schlüsse 
einer  an  das  Universitätsstudium  sich  anschließenden  zweijährigen  praktischen 
Ausbildung  vor  einem  Pädagogischen  Prüfungsamte  abgelegt,  dem  der  zustän- 
dige Provinzialschulrat,  der  Direktor  und  die  mit  der  Vorbereitung  des  Kan- 
didaten beauftragten  Lehrer  angehören.  Die  Pädagogik  kommt  als  Prüfungs- 
gegenstand für  die  fachwissenschaftliche  Prüfung  in  Wegfall;  an  ihre 
Stelle  tritt  Philosophie,  insbesondere  Psychologie,  Ethik,  Logik  und  Erkennt- 
nislehre. In  der  pädagogischen  Prüfung  können  Geschichte  des  Erziehungs- 
und Unterrichtswesens  und  Didaktik  einzelner  Unterrichtsfächer  auftreten ;  ob 
sie  geprüft  werden,  hängt  von  der  Entscheidung  des  Provinzialschulrates  ab. 
Wie  die  Prüfung,  so  wird  auch  die  Ausbildung  in  der  theoretischen  Päda- 
gogik von  der  Universität  losgelöst.  Vor  der  Zulassung  zur  Prüfung  muß 
der  Kandidat  nachweisen,  daß  er  die  notwendigen  Fachvorlesungen  besucht 
und  an  wissenschaftlichen  Übungen  mit  Erfolg  teilgenommen  hat;  hinsichtlich 
der  Pädagogik  wird  nur  allgemein  gefordert,  daß  er  überhaupt  Vorlesungen 
gehört  hat.  Die  Einführung  in  einzelne  Gebiete  der  theoretischen  Pädagogik 
erfolgt  erst  während  der  praktischen  Ausbildung;  zu  den  zahlreichen  Verhand- 
lungsgegenständen der  wöchentlich  mindestens  zwei  Stunden  umfassenden 
Sitzungen  gehören  neben  Psychologie  und  Ethik,  die  bereits  in  der  wissen- 
schaftlichen Prüfung  berührt  worden  sind,  auch  die  Geschichte  des  Erziehungs- 
und Unterrichtswesens  und  die  Unterrichtslehre  der  einzelnen  Lehrfächer. 

Was  nun  die  Trennung  der  beiden  Prüfungen  anbelangt,  so  ist  diese  zwei- 
fellos gut  und  richtig  und  insbesondere  für  die  bisher  sehr  »tiefmütterhch  be- 
handelte Pädagogik  von  großem  Vorteil.  Die  preußische  Unterrichtsverwaltung 
hat  damit  einen  wichtigen  Schritt  nach  vorwärts  getan.  Mit  schwerem  Herzen 
aber  und  mit  ernsten  Befürchtungen  wird  man  der  Loslösung  der  theoretisch- 
pädagogischen Ausbildung  von  der  Universität  gegenüberstehen.  Zwar 
ist  der  Gedanke  ganz  richtig,  daß  ein  tieferes  Verständnis  für  die  Pädagogik 
nur  möghch  ist  in  engster  Fühlung  mit  der  Unterrichtstätigkeit,  und  mit  Recht 
legt  die  pädagogische  Prüfungsordnung  großen  Wert  auf  die  Feststellung,  ob 
der  Kandidat  durch  die  praktische  Vorbereitung  einen  klaren  Einblick  in  die 
Aufgaben  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  gewonnen  hat.  Aber  darüber 
kann  kein  Zweifel  bestehen,  daß  die  wissenschaftliche  Voraussetzung 
für  das  verständnisvolle  Erfassen  der  Erziehungsprobleme  nur  auf  der  Uni- 
versität gewonnen  werden  kann  und  zwar  nicht  bloß  durch  die  Einführung 
in  Psychologie  und  Ethik,  sondern  in  erster  Linie  durch  die  planmäßige  Ein- 
führung in  die  pädagogische  Systematik  und  die  historische  Pädagogik.  Die 
Aufgabe  der  praktischen  Vorbereitung  kann  in  bezug  auf  die  theoretische 
Pädagogik  lediglich  darin  bestehen,  die  erlangten  Kenntnisse  und  Erkenntnisse 
anzuwenden,  zu  prüfen,  zu  erweitern  und  zu  vertiefen.  In  der  Ansicht,  daß 
die  Universität  nur  die  fachwissenschaftUche,  nicht  aber  die  erziehungswissen- 
schaftliche Ausbildung  zu  übernehmen  habe,  liegt  eine  Mißachtung  der 
Pädagogik  als  Wissenschaft  ausgesprochen,  wie  man  sie  kaum  schärfer 
erwarten  kann.     Mit  der  neuen  Prüfungsordnung  ist  für  die  Pädago- 


46  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


gik  als  Lehrfach  der  Universität  die  letzte  Stunde  gekommen. 
Zwar  kann  die  Prüfung  in  Philosophie  auch  Problemkreise  der  philosophischen 
Erziehungslehre  in  sich  schließen,  und  der  Kandidat  hat  das  Recht,  die  Lehr- 
befähigung in  Pädagogik  zu  erwerben ;  aber  durch  diese  Bestimmungen  wird 
das  drohende  Unheil  kaum  aufgehalten  werden.  Sollen  Erziehung  und  Unter- 
richt in  Zukunft  nicht  zum  bloßen  Handwerk  herabsinken,  so  wird  man  hin- 
sichtlich der  Handhabung  der  neuen  Prüfungsordnung  folgende  dringenden 
Wünsche  äußern  müssen :  §  5  (Zulassung  zur  wissenschaftlichen  Prüfung)  ist 
dahin  zu  ergänzen,  daß  der  Kandidat  in  jedem  Semester  mindestens  eine 
pädagogische  Vorlesung  gehört  haben  und  an  Übungen  der  pädagogischen 
Seminarien  und  psychologischen  Institute  mit  Erfolg  teilgenommen  haben  muß ; 
in  §  9  (Prüfung  in  Philosophie)  ist  die  philosophische  Erziehungslehre,  die  in 
die  pädagogische  Prüfung  gehört,  in  Wegfall  zu  bringen  und  dafür  die  Psy- 
chologie zum  Hauptgegenstand  der  Prüfung  zu  machen;  in  §  50  (Pädago- 
gisches Prüfungsamt)  ist  zu  verfügen,  daß  jedem  Prüfungsamt  auch  mindestens 
ein  Vertreter  der  Pädagogik  oder  Psychologie  an  der  Universität  angehören 
muß;  in  §  54  (mündliche  Prüfung)  ist  anzuordnen,  daß  Systematik,  Geschichte 
und  Psychologie  mindestens  eines  Faches,  für  das  der  Kandidat  die  Lehrbe- 
fähigung besitzt,  sowie  Systematik,  Geschichte  und  Psychologie  der  ethischen 
Erziehung  (die  wegen  der  Schulzucht  und  der  Handhabung  der  Zensuren  in 
Betragen  und  Fleiß  für  jeden  Lehrer  in  Betracht  kommt)  geprüft  werden 
müssen;  auch  muß  der  Kandidat  zeigen,  daß  er  befähigt  ist,  die  einzelnen 
Schüler  nach  einfacheren  psychologischen  Methoden  richtig  zu  beurteilen 
und  im  Einzelfalle  die  den  Anforderungen  des  Unterrichts  und  der  sittlichen 
Bildung  gegenüberstehende  Begabung  zu  erkennen. 

Leipzig.  Johannes  Kretzschmar. 

Die  Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  an  den  deutschen 
Hochschulen  im  Winterhalbjahr  1917/18.  Berlin.  Lüttge  (theoL  F.): 
Religionspsychologie  (2).  —  Forster  (med.  F.):  Psychiatrie  des  Kindes- 
alters (1).  —  Ludwig  Jacobsohn  (med.  F.):  Das  geistig  normale,  das 
schwachsinnige  und  das  psychopath.  Kind  (1).  —  Karl  Schaefer  (med.  F.): 
Mediz.  Psychologie  (2).  —  Stier  (med.  F.):  Psychopathologie  des  Kindes- 
alters (1).  —  Stumpf:  Psychologie  mit  Demonstr.  (4),  Übungen  im  psycho- 
log.  Institut  (1).  —  Dessoir:  Allg.  Psychologie  (2).  —  Vierkandt:  Entwick- 
lungspsychologie (2).  —  Wertheimer:  Experim.-psycholog.  Übungen  (2).  — 
Mahling  (theoL  F.):  Katechet.  Sem.  (2).  —  Fabricius  (theolog.  F.):  Päda- 
gogik (2).  —  Adolf  Baginsky  (med.  F.):  Einfluß  des  modernen  Schul- 
unterrichts auf  den  kindL  Organismus  (1).  —  Ferd.  Jacob  Schmidt: 
Geschichte  der  Pädagogik  (4).  Pädagog.  Sem.:  Übungen  über  die  pädagog. 
Theorien  des  19.  Jahrh.  (IV2).  Bonn.  Dyroff:  Psychologie  (4).  —  Eris- 
mann:  Einführungskurs  in  die  experim.  Psychologie  (2).  —  Störring: 
Selbständige  Arbeiten  im  psychologischen  Laboratorium  täglich.  —  Pfennigs - 
dorf  (ev.-theoL  F):  Katechetisches  Seminar  (2).  —  Hübner  (med.-F.):  Geistig 
abnorme  Kinder  (1).  —  Dyroff:  Geschichte  der  Pädagogik  (2).  — 
Kutzner:  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik  (1).  Breslau.  Hönigs- 
wald:  Im  psycholog.  Seminar:  Übungen  zur  Denkpsychologie  und  Phä- 
nomenologie.   —    Steinbeck    (ev.-theoL    F.):    Katholisches    Seminar    (2). 


Keine  Beiträge  und  Mitteilungen  47 

Pädagogik  und  Volksschulkunde  (2).  —  Gercke:  Bildungsziele,   für  Hörer 
aller  Fakultäten   (1).    —  Hönigswald:   Die  theoretischen   Grundlagen   der 
Pädagogik  (2).     Kolloquium  der  philosophischen  Pädagogik  (2).  —  Müller; 
Das  höhere  Schulwesen  in  seiner  geschichtlichen  Entwicklung  (2).    Übungen 
zur  Geschichte  des  höheren  Schulwesens,  privatissime  (1).    Erlangen.    Cas- 
pari   (theol.   F.):  Allgem.   Pädagogik,  mit  besonderer  Berücksichtigung  der- 
Volksschule  (4).     Katechet.  Seminar  (2).     Pädagog.  Praktikum,  mit  Schulrat 
Hedenus  (2).  —  Weichardt  (med.  F.):   Schulhygiene  (1).  —  Leser:  Die 
Lebensanschauungen  der  großen  Pädagogen  der  Neuzeit  (2).    Frankfurt,  a.  M. 
Schumann  (naturw.  F.):  Psychologie  (mit  Demonstr.)  3.  —  Hennig  (naturw. 
F.):   Gedächtnis  und  Denken  (mit  Demonstr.)  (2).  —  Schumann  (naturw. 
F.):  Einführungskursus  in  die  experim.  Psychologie  (2).    Wissenschaf tl.  Ar- 
beiten Fortgeschr.   (täglich   n.  Bedarf).   —   Schumann   (naturw.  F.):   Philo- 
sophisches  Seminar:    Bespr.   psycholog.   Arbeiten   (1).   —   Hahn   (med.   F.): 
Psychopathologie    des   Kindes    mit  Krankenvorstellungen   (1).    —    Ziehen: 
Literaturpädagogik  (2) ;  Bilder  aus  der  Geschichte  der  Monarchie  vom  Stand- 
punkt der  Volkserziehung  (1).  —  Schnitze:  Charakterpsychologie  und  Er- 
ziehung (3);    Katechet.  Übungen    im    Anschluß    an    die    Vorlesungen    über 
Charakterpsychologie   und    Erziehung    (2).    —   Ziehen:  Übungen    zur   Ein- 
führung in  die  Kartographie  des  Bildungswesens  (1).  —  Pape  (Wirtschafts- 
u.  sozialwissenschaftl.  F.):  Geschichte  und  Organisation  des  kaufm.  Bildungs- 
wesens in   Deutschland   (1).  —  Seminar    für  Handelsschulpädagogik:    Lehr- 
übungen und  Besprechungen   (3).  —  Lühr  (Wirtschafts-  und  sozialwissen- 
schaftl.   F.):    Einführung  in  die  Handelsschulpraxis,    Hospitierübungen    und 
Besprechungen  (2).    Freiburg  i.  B.    Kehr  er  (med.  F.):  Kriminalpsychologie 
und  Psychologie  der  Aussage.  —  Cohn:  Psychologische  Arbeiten.  —  Cohn: 
Geschichte   der  Pädagogik.     Gießen.     Sommer   (med.    F.):    Experimentelle 
Psychologie  und  Psychopathologie  (für  Studierende  aller  Fakultäten)  (1).  — 
Koffka:  Psycholog.    Kolloquium  (1).    —  Siebeck:  Geschichte  der  Bildung 
und  der  Pädagogik  seit  Ausgang  des  Mittelalters  (3).  Göttingen.  G.  E.  Müller: 
Psychologie  (4);  Psychophysische  Methodik  und  Korrelationslehre   (1);   Ex- 
periment.-psychol.  Arbeiten  (36).   —   Baade:    Deskriptive    Psychologie    und 
Psychographie  (2);  Übungen  zur  Psychologie  des  Denkens  (1).  —  J.  Meyer 
(theol.  F.):    System    der    evang.    Pädagogik   (2).  —  Rosenthal   (med.   F.): 
Schulhygiene  (1).    Greifswald.     Schwarz:    Philosophisches  Seminar:    Über 
die  Lehre  vom  Willen.  —  Schmecket:  Experimentelle  Psychologie  (2).  — 
V.  d.  Goltz  (theol.  F.):  Katechet.  Seminar  (1).     Halle.     Kauf f mann  (med. 
F.):  Psychologie  des  Verbrechens,  mit  Lichtbildern  (1).  —  Menzer:  Psycho- 
logie (4).  —  Eger  (theol.  F.):  Katechetik  (2).  —  von  Drigalski  (med.  F.): 
Gesundheitspflege,  für  Mitgheder  des  pädagog.  Seminars  und  für  Hörer  aller 
Fakultäten  (1).  —  Fries:   Pädagogische  Übungen  über  Comenius  (2);    Ge- 
schichte der  Pädagogik  seit  dem  Beginn  des  Mittelalters  (2);  Besichtigungen 
und  Probestunden,  an  noch  zu  bestimmenden  Tagen  und  Stunden.  —  Frisch- 
eisen-Köhler:   Das   Bildungsideal   der  Klassiker  (1);    Die  psychologischen 
und    ethischen    Grundlagen    der   Erziehung    (2);    Übungen    zur   Begabungs- 
forschung  (2).     Heidelberg.     Nißl    (med.    F.):    Psych.    Klinik   (3);    Forens. 
Psychiatrie  (2).  —  Homburger  (med.  F.):  Allgemeine  Psychopathologie  des 
Kindesalters  (1).   —  Jaspers:  Allgemeine  Psychologie  (2);    Psychologische 
Übungen  (2).  —  Niebergall  (theol.  F.):   Unterricht  und  Erziehung  (2).  — 


48  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Rohr  hurst  (theol.  F.):  Kat.  Übung  (IV2);   Geschichte  der  bad.  Volksschule 
(1).  —  Nieb ergall  (nat.-math.  F.):   Pädagogik  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
körperliche  Erziehung  (1).   Jena.    Schultz  (med.  F.):  Med.  Psychologie  (1). 
—  Thümmel  (theol.  F.):  Katechet.  Seminar  (2).  —  Rein:  System  der  Päda- 
gogik (2);  Pädag.  Seminar  mit  praktischen  Übungen.  —  Weiß:  Die  Grund- 
lagen des  Unterrichtsverfahrens  (2);    J.  Fr.    Herbarts  pädagogische  Lebens- 
jahre mit  Erklärung  seiner  pädagogischen  Jugendschriften.    Kiel.    Martins: 
Psychologie  (4);  Psycholog.  Seminar  (2).  —  Baron  von  Brockdorf f:   Ge- 
schichte der  Pädagogik  seit  Luther  (2);   Entwicklung  des  Schulwesens  unter 
Kaiser  Wilhelm  II.  (1);  Übung  im  Anschluß  an  Herbarts  Schriften  (1).    Königs- 
berg.    Ach:  Experimentell-psychologische  Übungen  (1);   Psychologie  (4).  — 
Uckeley  (theol.  F.):  Katechetisches  Seminar  (1).  —  Kowalewski:  Kollo- 
quium über  experimentelle  Pädagogik  il^J2).     Leipzig.     Frenz el  (theol.  F.): 
Psychologie    des  Religionsunterrichts.   —  Gregor  (med.  F.):  Med.   Psycho- 
logie. —  Krueger:  Einführung  in  die  Psychologie.     Einführungskursus  zur 
experimentellen  Psychologie.     Leit.  selbständ.  Arb.  —  Wirth:  Übungen  zu 
den  psychophys.  Maßmethoden.   Selbständ.  experiment.  Arbeiten.  —  Brahn: 
Psychologie   des    Aberglaubens   und    der  Zauberei.      Didaktik   des    Lesens, 
Schreibens,   Zeichnens  und  Rechnens.     Wiss.   Arb.  über  experiment.   Päda- 
gogik und  angew.   Psychologie.  —  Frenzel  (theoL  F.):  Seminar  für  Päda- 
gogik:  Prakt.-pädagog.   Übungen  und  Besuche  von   Lehr-  und  Erziehungs- 
anstalten.  —    Spranger:    Pädagogik  I.    —    Jungmann:    Geschichte   der 
Pädagogik  seit  der  Reform.   Praktisch-pädag.  Seminar.  —  Barth:  Erziehungs- 
und   Unterrichtslehre.  —   Wagner:    Chem.    Übungen    für  Lehrer.     Didakt. 
Besprechungen   zu    den    chem.  Übungen  für  Lehrer.  —  John:  Unterrichts- 
lehre für  Landwirtschaftslehrer.     Theoretische  Seminarübungen.    Experiment. 
Vorbereitung  für  den  Unterricht.     Unterrichtserteilung  in  der  Übungsschule. 
Marburg.     Bornhausen    (theoL  F.):   Religionspsychologie.    —   Jaensch: 
Psychologie  (4).     Philosophisches  Seminar:   Aufbau    des   Bewußtseins   (IV2). 
Experimentell  -  psychologische    Untersuchungen.       Psychologische    Versuche. 
—   Natorp:   Geschichte  der  Pädagogik  (3).     München.     Goett  (med.  F.): 
Nervenkrankheiten  und  Psychopathologie  des  Kindesalters  mit  Demonstr.  (2). 
Die  körperliche  und  geistige  Entwicklung  des  Kindes  (für  Hörer  aller  Fak.) 
(1).    —   Becher:   Einführungskurs  zu  experiment.   Psychologie   (mit  Pauli) 
(2).    Experimentell-psychol.  Arbeiten  für  Fortgeschrittene  (mit  Prof.  Bühler), 
täglich.  —  Bühl  er:  Psychologie  (4);  Experimentell-psycholog.   Arbeiten  für 
Fortgeschrittene    (mit    Prof.   Becher),    täglich.    —    Pauli:   Psychologie    der 
Empfindung  (1).     Einführungskurs  in  die  experiment.  Psychologie  (mit  Prof. 
Becher)    (2).    —    Gallinger:   Psychologie  der  Verleumdung  (1).     Übungen 
über  das  Wesen    des  Mutes    und   der  Freiheit  (1).    —    Heinrich   Meyer 
(theol.  F.) :  Religionspsychologie  als  Grundlage  der  religiösen  Entwicklung  und 
Erziehung.     Katechet.  Praktikum.  —  Göttler  (theol.  F.):   System  der  Päda- 
gogik I.   (4).      Didakt.    Praktikum  (2).      Katechet.    Praktikum    (mit   Mayer) 
(1).  —  Uffenheimer  (med.  F.):   Soziale  Jugendfürsorge  mit  Besichtigung 
der  einschlägigen  Institutionen    (für  Hörer  aller  Fak.)  (1).    —   Rehm:   Die 
pädagog.    Theorien    der   Aufklärung  und  der  Romantik.  —  Joachimsen: 
Übungen   zur  Didaktik   des  Geschichtsunterrichts    (IV2).    —    AI.   Fischer: 
Grundzüge    der   Erziehungs-   und    Unterrichtslehre.     Münster.      Brunswig 
(philos.   und  nat.  F.):  Psychologie  (4).  —  Ettlinger  (philos.  und  nat.  F.): 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  49 

Psychologie  (4).  —  Goldschmidt  (philos.  und  nat.  F.):  Philosophisches  und 
Seelenkundliches  vom  Gemütsleben  und  dessen  Äußerungen  in  Sprache  und 
Pantomimik.  Kursus  der  experimental-psychol.  Methoden  (2).  Psychologische 
Übungen  und  Anleitung  zum  selbständigen  psychologischen  Arbeiten,  nach 
Vereinbarung.  —  Smend  (ev.-theol.  F.):  Katechetisches  Seminar  (1).  — 
Hüls  (kath.-theol.  F.):  Katechetische  Pädagogik  (2).  —  Lauer  (philos. 
und  nat.  F.):  Über  pädagogische  Zeit-  u.  Streitfragen  (1).  Rostock.  Walter 
(med.  Wissenschaft) :  Einführung  in  die  allgemeine  und  pathologische  Psycho- 
logie. —  Utitz  und  Walter:  Einführung  in  die  allgemeine  und  patho- 
logische Psychologie.  —  Hubert  (theol.  Wissenschaft):  Praktisches  Seminar, 
Katechet.  (2).  Straßburg.  Schneider:  Psychologie.  —  Naumann  (ev.- 
theol.  F.):  katechet.  Seminar.  —  Simmel:  Pädagogik.  —  Messer- 
schmidt (med.  F.):  Hygiene  d.  Schule.  Tübingen.  Spitta:  Untersuchung 
zur  vergleichenden  Psychologie.  —  Groos:  Psychologie.  —  v.  Wurster 
(ev.-theol.):  Katechet.  Sem.  mit  Übungen  in  der  Volksschule.  —  Sägmüller 
(kath.  Theol.):  Theoret.  Pädagogik.  —  Schilling  (kath.  Theol.) :  Katechetik. 
—  Deuchler:  Die  pädagogischen  Ideen  und  das  Bildungswesen  der  Neu- 
zeit. Pädag.  Sem. :  Erziehungswissenschaftliche  Übungen  über  die  Unterschiede 
der  beiden  Geschlechter.  Würzburg.  Marbe  (philos.-hist.  Abt.):  Experi- 
mentelle Übungen  zur  Einführung  in  die  Psychologie,  Pädagogik  und 
Ästhetik  (3).  —  Peters  (philos.-hist.  Abt):  Psychologie  des  Kindes  (2). 
Experiment.  Übungen  zur  Einführung  in  die  Psychologie,  Pädagogik  und 
Ästhetik.  —  Stölzl e  (philos.  Abt.):  Allgemeine  Unterrichtslehre  1.  Seminar  A, 
Philosoph,  u.  päd.  Übungen  (1).  Anleitung  zu  wissenschaftlichen  Arbeiten 
auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  und  Pädagogik. 

Der  zweite  Ungarische  Landeskongreß  für  Kinderforschung  fand  zu 
Anfang  November  1917  in  Budapest  statt.  Veranstaltet  hatte  ihn  die  rührige 
Ungarische  Gesellschaft  für  Kinderforschung.  In  der  vorangestellten 
Jahresversammlung  dieser  großen  Arbeitsgemeinschaft  wurde  hervorgehoben, 
daß  nunmehr  die  Zeitschrift  der  Gesellschaft  („Das  Kind*)  bereits  ein  Jahrzehnt 
hinter  sich  habe  und  in  ihrer  deutschen  Sonderausgabe  durch  die  ganze  Welt 
bekannt  sei.  Eine  Festnummer  überreichte  man  dem  Grafen  Alexander 
Teleki,  der  in  begeisterter,  selbstloser  Hingabe  seit  dem  Bestehen  der  Gesell- 
schaft —  es  sind  15  Jahre  —  den  Vorsitz  führt  und  es  erzielt  hat,  daß  die 
Gemeinschaft  jetzt  über  2000  Mitglieder  umfaßt  und  bei  allen  wichtigeren 
Unterrichts-  und  Erziehungsangelegenheiten  des  Landes  mitwirkt. 

Die  Verhandlungen  des  Kongresses  beschäftigten  sich  in  Vorträgen  und  an- 
schließenden lebhaften  Aussprachen  mit  sechs  bedeutsamen  Gegenständen. 

1.  Sehr  ergiebige  Darlegungen  bot  Dozent  Geza  Revesz,  der  aus  seinem 
besonderen  Forschungsgebiete  das  Thema  „Die  frühzeitige  Erkennung 
der  Begabung"  behandelte.  Noch  ehe  besondere  schöpferische  Leistungen 
eine  ausgesprochene  Begabung  einwandfrei  erweisen,  bekundet  sie  sich  schon 
frühe  im  Denken  wie  im  Handeln,  im  intellektuellen  wie  im  willenhaften  Ver- 
halten des  Kindes.  Ein  bestimmter  Interessenzug  ist  ein  sicheres  Begabungs- 
symptom, wenn  er  ausschließlich,  besonders  stark,  ausdauernd  und  spontan 
auftritt.  Die  Forschung  muß  drei  Fragen  nachgehen:  Welche  Begabungen 
äußern  sich  frühzeitig  (es  sind  dies  vor  allem  die  künstlerischen  und  tech- 
nischen) ;  in  welchem  Lebensalter  geschieht  dies ;  welche  Methoden  der  Fest- 
zeitschrift f.  pädageg.  Psychologie.  4 


50  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

Stellung  sind  brauchbar?    Der  Vortragende  gab  zu  jedem  dieser  Punkte  viele 
wertvolle  und  neue  Aufschlüsse. 

2.  Der  Vortrag  von  Professor  Bela  Plichta,  Szeged,  über  „Die  Erziehung, 
den  Unterricht,  die  gesellschaftliche  und  behördliche  Fürsorge 
der  begabten  Kinder"  führte  zu  folgenden  Anträgen:  a)Die  Gesellschaf t möge 
zur  Förderung  einer  Ermittlung  und  Erziehung  der  Begabten  einen  Entwurf 
ausarbeiten  und  an  zuständiger  Stelle  ein  Gesetz  zur  Fürsorge  für  begabte 
Kinder  anregen,  b)  Die  Gesellschaft  möge  einen  Zusammenschluß  aller  Ver- 
eine veranlassen,  die  am  Aufstiege  der  Begabten  ein  Interesse  haben. 

3.  Auch  der  bekannte  Seminardirektor  LadislausNagy,  der  einen  theoretisch 
weit  ausgeführten,  mit  reichem  praktischen  Material  ausgestatteten  Vortrag  über 
„Gesichtspunkte  bei  der  Abfassung  von  Individualitätsbogen"  bot, 
verdichtete  seine  Darbietungen  zu  Anträgen-  Sie  lauteten :  a)  In  allen  Schulen 
ist  für  jeden  Schüler  die  Führung  von  Individualbogen  höchst  wünschenswert, 
b)  Bei  ihrer  Abfassung  müssen  psychologische,  pädagogische,  hygienische  und 
soziologische  Gesichtspunkte  zur  Geltung  kommen,  c)  Die  Gesellschaft  stelle 
einen  möglichst  für  alle  Schulen  verwendbaren  Individualbogen  her.  d)  Sie 
rege  die  Schulbehörden  zur  amtlichen  Einführung  an, 

4.  Dr.  Margarete  Revesz  befaßte  sich  mit  „Leitsätzen  zur  Fürsorge 
und  heilpädagogischen  Behandlung  sittlich  gefährdeter  Kinder." 
Eingehend  wurden  von  ihr  die  sozialen  und  naturwissenschaftlichen  Grund- 
lagen der  Verwahrlosung  behandelt,  ferner  das  Verhältnis  der  Degeneration 
und  Variation,  das  Ausscheiden  neuer  Elemente  aus  der  entwicklungsfähigen 
variablen  Schicht,  die  Typen  verwahrloster  Kinder  —  psychographisch  ge- 
kennzeichnet — ,  die  allgemeinen  pädagogischen  Grundsätze,  die  Einübung  des 
Guten  durch  Gewöhnung,  die  Ableitung  der  antisozialen  Gefühle. 

5.  Der  praktischen  Seite  des  gleichen  Themas  wandte  sich  Josef  Sändor, 
Richter  am  Gerichtshof  in  Brassö  zu.  Er  sprach  über  „Gesellschaftliche 
und  behördliche  Einrichtungen  zur  Rettung  und  Erziehung  der 
sittlichgefährdetenJugend."  Schon  bei  den  vorschulpf  hchtigen  Kindern , 
so  fordert  er,  hat  die  Öffentlichkeit  einzugreifen.  Dabei  bedarf  es  aber  gründ- 
licherer Studien  über  die  Soziologie  des  Kindes.  Im  fortgeschrittenen  Grade 
sind  die  Verwahrlosten  der  Zwangserziehung  zu  überweisen  („Stigmatische 
Schulen").  Ältere  gefährdete  Jugendliche  müssen,  ohne  daß  aber  die  persön- 
liche Freiheit  beschränkt  werde,  unter  behördUcher  Aufsicht  bleiben.  Für 
abenteuerlustige  Knaben  könnte  in  Fiume  eine  besondere  Anstalt  errichtet 
werden,  die  im  Rahmen  der  allgemeinen  Erziehungsschulen  für  den  Marine- 
beruf ausbildet. 

6.  Im  letzten  Vortrag,  den  Richter  Dr.  K  arm  an  bot  und  der  über  „Päda- 
gogische Gesichtspunkte  in  der  Erziehung  der  Kriegswaisen"  han- 
delte, wurde  eine  Pädagogik  gefordert,  die  ihre  Grundsätze  durch  Anwendung 
der  Beobachtung  und  des  Experiments  gewinnt  und  für  die  besondere  Pfleger 
und  Lehrer  auszubilden  seien. 

Nachrichten.  1.  Ein  Landesschulrat  für  Bayern  ist  durch  königliche 
Verordnung  vom  29.  Juli  v.  J.  ins  Leben  getreten.  Er  setzt  sich  zusammen 
aus  Beamten  des  Ministeriums  für  Kirchen-  und  Schulangelegenheiten  und  einer 
Anzahl  vom  König  auf  die  Dauer  von  fünf  Jahren  ernannter  Mitglieder,  als 
welche  Personen,  die  sich  imUnterrichts-  und  Erziehungswesen  besondere  Kennt- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  61 


nisse  und  Erfahrungen  erworben  haben,  in  Betracht  kommen.  Zweck  des  Landes- 
schulbeirates  ist  die  Beratung  wichtiger  Angelegenheiten  der  höheren  Lehr- 
anstalten, der  Lehrer-  und  Lehrerinnenbildungsanstalten,  der  höheren  weiblichen 
Unterrichtsanstalten,  der  Volkshauptschulen  und  Volksfortbildungsschulen  und 
der  Berufsfortbildungsschulen.  Nach  diesen  Schulgebieten  gliedert  sich  der  Lan- 
desschulrat  in  vier  Abteilungen,  die  gemeinsam  oder  einzeln  beraten  können 
und  die  nach  Erfordernis  vom  Ministerium  einberufen  werden. 

2.  An  der  Universitätjena  ist  von  der  philosophischen  Fakultät  beschlossen 
worden,  studierende  Volksschullehrer,  die  in  der  höheren  pädagogischen 
Prüfung  mit  I bestanden  haben,  zur  Promotion  zuzulassen. 

3.  Vom  Winterhalbjahr  1917  an  haben  die  akademischen  Kurse  für  allge- 
meine Fortbildung  und  Wirtschaftswissenschaften  (Leiter:  Prof.  Dr.  Kumpmann) 
an  der  Akademie  für  kommunale  Verwaltung  in  Düsseldorf  eine  weitere  Aus- 
gestaltung durch  pädagogische  und  staatswissenschaftliche  Fort- 
bildungskurse für  Lehrer  erfahren.  Im  Einvernehmen  mit  den  Fach- 
verbänden der  Lehrerkreise  und  den  entsprechenden  Fachvertretern  ist  bis 
jetzt  für  etwa  vier  Halbjahre  ein  Plan  aufgestellt  worden,  von  dem  im  laufen- 
den Halbjahre  folgende  Vorlesungen  gehalten  wurden  :  1.  Grundlegung  der 
Pädagogik  und  Gegenwartsprobleme  in  Erziehung  und  Unterricht.  (Gymnasial- 
direktor Erythropel,  Düsseldorf.)  2.  Allgemeine  Psychologie  auf  experi- 
menteller Grundlage.  (Privatdozent  Dr.  Kutzn er,  Bonn.)  3.  Verfassung  und 
Verwaltung  des  Deutschen  Reiches  und  des  preußischen  Staates.  (Dr.  Her  ring, 
Düsseldorf).  4.  Die  Auswahl  der  Begabten.  (Stadtschulrat  Co  nradi,  Düsseldorf). 

4.EinHochschulsonderkursfür  Jugend  gerichtsarbeit  wird  vom  31. 
Januar  bis  10.  Februar  1918  in  Berlin  durch  das  Kriminalistische  Institut  der 
Kgl.  Friedrich- Wilhelms-Universität  und  die  deutsche  Zentrale  für  Jugendfür- 
sorge veranstaltet.  Leitend  ist  der  Gedanke,  daß  die  Bekämpfung  der  Krimi- 
nalität der  Jugend  eine  Aufgabe  sei,  die  von  der  Gesamtheit  des  deutschen 
Volkes  zu  leisten  ist.  Alle  Kreise  sind  verantwortlich  und  zur  Mitarbeit  berufen. 
Um  aber  diese  Arbeit  erfolgreich  leisten  zu  können,  ist  es  notwendig,  daß 
der  einzelne  Helfer  die  gesetzlichen  Grundlagen  der  Jugendgerichtsarbeit  kennt. 
D  er  H  ochse  hui  sonderkurs  solldiese  Kennt  nisse  vermitteln,  zugleich 
auch  Gelegenheit  bieten,  einen  Einbhck  in  die  praktische  Arbeit  der  Berliner 
Jugendgerichtshilfe  zu  gewinnen  und  einige  der  wichtigsten  Anstalten  kennen 
zu  lernen.  Er  ist  bestimmt  für  Leiter  und  Mitglieder  von  Jugendfürsorge- 
vereinen und  Jugendgerichtshilfen,  für  Studierende  aller  Fakultäten,  für  Geist- 
liche, Lehrer,  Vertreter  der  freiwilhgen  Liebestätigkeit,  der  Frauenvereine,  der 
Arbeiter-  und  Berufsorganisationen,  kurz  für  alle  sozial  interessierten  Kreise. 
Geplant  sind  folgende  Vorlesungen  und  Führungen :  Strafrecht  (Professor  Dr. 
von  Liszt).  —  Psyciiiatrie  in  der  Jugendgerichtsarbeit  (Professor  Dr.  Kramer). — 
Gerichtsverfassung  und  Strafprozeß  (Professor  Dr.  Goldschmidt).  —  Jugend- 
gerichtswesen (Amtsgerichtsrat  Dr.  Friedeberg).  —  Fürsorge  -  Erziehung 
(Geheimer  Justizrat  Dr.  A  s  c h  r  o  1 1).  —  Gefängniswesen  (Direktor  H  ö  1  s b  e r g).  — 
Besichtigung  der  Anstalt  Struveshof  mit  anschließendem  Vortrag :  Ausführung 
der  Fürsorge- Erziehung.  (Erziehungsdirektor  Knaut).  —  Besichtigung  des 
Wilhelmsstifts  in  Potsdam  und  der  Strafanstalt  Plötzensee.  —  An  den  Vor- 
mittagen findet  eine  Einführung  in  die  Arbeit  der  Deutschen  Zentrale  für 
Jugendfürsorge,  insbesondere  in  die  Tätigkeit  der  Berliner  Jugendgerichtshilfe, 
statt;  außerdem  sind  Besuche  der  Verhandlungen  des  Jugendgerichts  und  der 


52  Literaturbericht 


Jugendstrafkammern  vorgesehen.  Anmeldungen  sind  an  die  Deutsche 
Zentrale  für  Jugendfürsorge,  Ausschuß  für  Jugendgerichte  und 
Jugendgerichtshilfen,  Monbijouplatz  3,  erbeten. 


Literaturbericht. 

J.  Joteyko,  I®''  congres  International  de  P^dologie  tenu  ä  Bruxelles, 
du  12.  au  IS.  Aoüt  1911.  Volume  I:  Comptes  rendus  des  Seances  480  p,  Vo- 
lume II:  Rapports  600  p.     Brüssel  1912.     Librairie  Misch  et  Thron. 

Der  Bericht  über  den  ersten  internationalen  Kongreß  für  Jugendkunde  —  so 
möchte  ich  das  französische  pödologie  des  offiziellen  I'rogramms  übersetzen  —  ist  seit 
Anfang  1913  erschienen.  Der  Kongreß  selbst  und  die  Gegenstände  wie  die  Artseiner 
Verhandlungen  bieten  gegenwärtig  vielfach  ein  beinahe  geschichtliches  Interesse; 
zeugte  er  doch  von  einer  Arbeitsgemeinschaft  und  sachlichen  Interessengleichheit 
der  europäischen  Völker,  auf  die  wir  fast  wie  auf  eine  Tatsache  fernster  Vergangenheit 
zurückschauen.  Und  doch  wird  er  als  Erlebnis  allen  Teilnehmern  unvergeßlich  ge- 
blieben sein,  und  doch  verdient  der  europäische  Gedankenaustausch,  von  dem  er 
erfüllt  war,  wärmste  Beachtung,  kann  der  jugendkundliche  Forscher  an  dieser 
ersten  Zusammenfassung  der  über  die  Kulturländer  der  Erde  zerstreuten  Arbeit 
auf  seinem  Gebiete  unmöglich  vorübergehen.  In  welchem  Maß  die  Arbeit  an  der 
Jugend  der  Völker  der  Annäherung  dieser  selbst  zugute  kommt,  wage  ich  augen- 
blicklich nicht  zu  entscheiden,  aber  daß  unmittelbar  vor  der  jetzigen  Krisis  der 
Welt  die  friedliche  Durchdringung  der  Völker  auf  dem  Marsche  war,  ist  mir  ge- 
rade unter  dem  Eindruck  der  Brüsseler  Tage  deutlich  geworden;  und  daß  ihre 
künftige  Wiederkehr  zum  glorreichen  Erfolg  niir  werden  kann,  wenn  die  jungen 
Generationen  aus  gleichheitlicherer  Erziehung  heraus  die  Fremdheit,  Mißverständ- 
nisse, Haß-  und  Rachegefühle  überwinden  lernen,  ist  eine  Überzeugung,  die  in  mir 
durch  das  pädagogische  Denken  gerade  in  der  Kriegszeit  bestärkt  wird. 

So  mag  es  erlaubt  sein  und  richtig  verstanden  werden,  wenn  ich  unter  Hin- 
weis auf  die  von  J.  Joteyko  redigierten  Kongreßverhandlvmgen  und  gestützt  auf 
eigene  Erinnerungen  und  Aufzeichnungen  hier  einen  kurzen  Bericht  gebe;  für  die 
jugendk\indliche  Arbeit  bleibt  er  doch  eine  erste  Selbstbesinnimg  auf  den  Stand 
der  Fragestellvingen  und  Methoden;  und  wer  sonst  nichts  aus  ihm  lernen  kann 
oder  will,  mag  wenigstens  ermessen  und  prüfen,  ob  die  wissenschaftliche  Erforschung 
der  Kinder  und  Jugendlichen  seitdem  wesentlich  weiter  gekommen  ist. 

Die  Vorgeschichte  des  Kongresses  reicht  bis  auf  das  Jahr  1909  zvoräck,^)  in 
welchem  bei  Gelegenheit  des  VI.  internationalen  Kongresses  für  Psychologie  in 
Genf  sich  ein  Komitee  konstituierte  mit  der  Absicht,  auch  die  Sache  der  exakten 
Jugendkunde  durch  internationalen  Gedankenaustausch  und  Zusammenschluß  der 
Interessenten  zu  fördern.  Die  Vorbereitung  und  Durchführvmg  lag  in  den  Händen 
eines  Arbeitsausschusses,  der  aus  Decroly,  Joteyko,  Menzerath  in  Brüssel,  Schuyten 
und  Günzburg  in  Antwerpen  gebildet  war  und  von  einzelnen  Vertretern  der 
Wissenschaft  vom  Kinde  sowie  von  pädologischen  Gesellschaften  unterstützt  wurde. 
Eine  größere  Anzahl  nationaler  Ausschüsse  haben  sich  in  ihren  Ländern  für  die 
Sache  des  Kongresses  bemüht,  so  besonders  in  England,  Ungarn,  Polen,  Italien, 
Spanien.  Avis  Deutschland,  Österreich  und  der  Schweiz  war  die  Beteiligung  eine 
verschwindend  geringe.  Es  lag  das  zum  Teil  sicher  daran,  daß  für  Deutschland 
ein  Kongreß  mit  ähnlicher  Tendenz  in  Aussicht  stand :  der  erste  deutsche  Kongreß 
für  Jugendkunde  und  Jugendbildung,  der  inzwischen  vom  Bund  für  Schulreform 
in  Dresden  abgehalten  worden  ist;  allein  man  wird  auch  tief  erliegende  Ursachen 
nicht  verkennen  dürfen,  und  dazu  rechne  ich  zu  allererst  das  noch  weitverbreitete 
Mißtrauen  gegen  die  Sammeldisziplin,  wenn  ich  mich  so  ausdrücken  darf,  die  in 
den  Publikationen  der  romanischen  und  amerikanischen  Wissenschaft  vinter  dem 


')  Vergl.  dazu:  E.  Claparede.    Kinderpsycholcgie  und  experimentelle  Pädagogik. 
35. 


Literaturbericht  53 


Namen  Pädologie  ging  und  noch  geht.  Ich  sage  nicht,  daß  dieses  Mißtrauen  in 
seinem  ganzen  Umfang  begründet  ist,  ich  meine  sogar,  daß  eine  aufmerksame  Teil- 
nahme an  der  Literatur  des  Auslandes  und  eine  stärkere  Beteiligung  an  inter- 
nationalen Verhandlimgen  als  Gegenmittel  gegen  wissenschaftlichen  Chauvinismtis 
notwendig  sind;  ich  weise  lediglich  auf  das  noch  bestehende  Mißtrauen  hin,  um 
die  geringe  Teilnahme  gewisser  Länder,  in  denen  die  Kinderforschung  sehr  ernsthaft 
betrieben  wird,  an  dem  Kongreß  in  Brüssel  aus  einer  größeren  Tiefe  zu  erklären, 
als  es  manche,  zweifellos  auch  wirksame  äußere  Umstände  und  Verhältnisse  tun 
können. 

Der  äußere  Verlauf  des  Kongresses  war  recht  gelvmgen,  dank  der  Gastfreund- 
schaft der  Städte  Brüssel,  Antwerpen,  Charleroi,  der  Teilnahme  der  Behörden  und 
der  vielen  Anregvmgen,  welche  die  Städte  neben  dem  Kongreß  geboten  haben. 
Die  Kongreß  Verhandlungen  selbst  geben  jedoch  kein  vollständiges  Bild  des  gegen- 
wärtigen Standes  der  Wissenschaft  vom  Kinde  und  ihrer  Anwendxmg  auf  die 
Praxis  des  Unterrichts  und  der  Erziehung;  eine  Reihe  wichtiger  Vorträge,  um 
deretwillen  vielleicht  mancher  überhaupt  zur  Tagung  gekommen  war,  mußte  unter- 
bleiben, weil  die  Autoren  nicht  erschienen  waren,  —  es  felilten  z.  B.^)  Bechterew, 
Bertier,  Claparede,  Stern,  Meiunann,  Griesbach,  Ranschburg,  Spearman,  G.  della 
Valle.  Die  große  Hitze,  imter  welcher  die  Verhandlungsfreudigkeit  anfänglich  ge- 
litten hat,  mag  manchen  abgehalten  haben;  aber  ich  kann  doch  die  Bemerkung 
nicht  vmterdrücken ,  daß  die  Verantwortvmg  für  die  Höhe  eines  Kongresses  auch 
diejenigen  mitzutragen  haben,  die  durch  ihre  vielleicht  doch  vermeidliche  Ab- 
wesenheit weniger  bedeutenden  Kräften  ein  Übermaß  von  Raum  gelassen  haben. 
Weiter  beeinträchtigten  die  überladenen  Tagesordnungen  die  Ergiebigkeit  der 
Verhandlungen,  teilweise  sogar  in  den  Sektionssitzungen.  Und  schließlich  muß 
auch  dies"  ausgesprochen  werden,  daß  die  tolerante  Kongreßleitvmg  manches  zu- 
gelassen hat,  was  mehr  als  Entartungserscheinung  der  damals  hochflutenden  Schul- 
reformbewegung Interesse  verdiente.  Ich  kann  die  Absicht  der  Kongreßleitung 
wohl  vei stehen;  es  gibt  in  jeder  großen  Zeitbewegung  Unterströmungen,  die  aus 
unzufriedenem  Dilettantismus  gespeist  werden  und  sich  gerne  als  zu  Unrecht 
übersehen  fühlen,  wenn  man  sie  nicht  zu  Worte  kommen  läßt.  Trotzdem  glaube 
ich,  der  Kongreß  hätte  an  Erfolg  gewonnen,  wenn  weniger  Rücksicht  genommen 
worden  wäre.  Ein  Verdienst  darf  ihm  nicht  bestritten  werden:  er  hat  die  inter- 
nationale Ausbreitung  der  Schulreformbewegung  dokumentiert,  die  internationale 
Gleichförmigkeit  der  pädologischen  Forschimg  gezeigt,  ein  Bild  von  ihrer  Flächen- 
entfaltung gegeben,  kein  vollständiges  freilich  von  ihrer  dritten  Dimension.  Ob 
diesem  ersten  Versuch  weitere  folgen  werden,  ist  heute  ungewiß;  sollte  es  der 
Fall  werden,  so  dürften  diese  nachfolgenden  Kongresse  der  organisatorischen 
Schwierigkeiten  des  erfahrungslosen  ersten  Anfangs  überhoben  sein  und  nach 
größerer  Konzentration  und  Vertiefung  streben  können;  wenn  es  ihnen  besser  ge- 
lingt, sollen  sie  jedoch  des  Dankes  nicht  vergessen,  der  denen  gebührt,  die  Mut 
und  Mühe  des  ersten  Schrittes  auf  dem  Wege  zu  einer  zeitweisen  Arbeitsgemein- 
ßchaft  der  pädagogisch  interessierten  Welt  gehabt  haben. 

Mit  dem  Kongreß  war  eine  kleine  Ausstellung  verbimden  in  der  Halle  und  in 
vier  Parterreräumen  der  13.  städtischen  Schule  in  Brüssel.  Das  Verdienst  ihrer 
Anordnung  gebührt  in  erster  Linie  Paul  Menzerath,  dann  der  Firma  für  Präzisions- 
mechanik E.  Drosten  in  Brüssel  tmd  der  Opferwilligkeit  der  Aussteller  selbst.  Die 
Ausstellung  umfaßte  eine  schulhygienische,  psychologische  vmd  pädagogische  Ab- 
teilung und  wurde  ergänzt  durch  eine  Kollektion  technischer  Hilfsmittel  für  das 
pädologische  Experiment  und  eine  freilich  ungleichmäßige  pädologische  Bibliothek. 

In  der  Abteilimg  für  Schulhygiene  sah  man  Modelle  und  Abbildungen  der 
Sinnesorgane,  die  herrlichen  Demonstrationspräparate  der  Gesellschaft  Natura  docet 
(Naiinhof  bei  Leipzig),  Abbildungen  über  richtige  tmd  falsche  Haltung  und  Ver- 
teilung der  Kinder  im  Schulraum,  Tabellen  über  die  Gesundheitsverhältnisse  der 

*)  Man  vergleiche  dazu  das  in  Ntunmer  7/8  des  Jahrgangs  1911  dieser  Zeit- 
schrift S.  429 — 431  veröffentlichte  Programm  des  Kongresses,  um  die  Bedeutvmg 
dieser  Ausfälle  richtig  zu  bevirteilen! 


64  Literaturbericht 


belgischen  Schuljugend  —  hervorheben  möchte  ich  eine  instruktive  Tafel  über  die 
Verteilung  der  Ursachen  des  Schwachsinns  und  der  Zurückgebliebenheit  —  und 
schliefilich  das  gesamte  Untersuchungsbesteck  eines  modernen  Schularztes:  anthro- 
pologische Zirkel  und  Meßbänder,  Linsensatz,  Schriftproben  und  Augenspiegel, 
Dynamometer,  Spirometer,  Hygrometer  usw.  Beachtung  verdiente  ein  nach  An- 
gaben Dufestels  gearbeiteter  Apparat  zur  graphischen  Registrierung  der  Verände- 
rungen des  Brustumfangs  durch  die  Atmung. 

Den  Hauptstock  der  psychologischen  Abteilung  bildeten  die  bekannten  Apparate 
zu  physiologischen  und  psychologischen  Untersuchungen  und  Experimenten,  wie 
sie  von  den  Firmen  G.  Boulitte  (Paris),  W.  Petzold  (Leipzig),  Spindler  und  Hoyer 
(Göttingen),  M.  Sendtner  (München),  E.  Tainturier  (Paris)  und  E.  Zimmermann 
(Leipzig)  hergestellt  und  in  Handel  gebracht  werden.  Eine  spezielle  Auslese  der 
für  kinderpsychologische  und  pädagogische  Zwecke  brauchbaren  Instrumente  und 
Apparate  wäre  zweckmäßiger  gewesen  als  diese  allgemeine  Heerschau  über  lang 
bekannte  und  der  Praxis  des  Laboratoriums  geläufige  Hilfsmittel ;  ich  halte  es  für 
überflüssig,  sie  aufzuzählen;  ein  Blick  in  die  Verlagskataloge  der  betreffenden 
Firmen  orientiert  klarer  und  gründlicher  als  es  meine  Beschreibung  könnte.  Neu 
waren  lediglich  das  von  Menzerath  ausgestellte  Modell  eines  Wahlreaktionstasters 
mit  doppelter  Bezeichnung  der  Taster  und  ein  nach  seinen  Angaben  kombiniertes 
tragbares  Reiselaboratorium  mit  den  wesentlichen  Vorrichtungen  für  Gedächtnis-, 
Assoziations-  und  Reaktionsversuche,  einem  Chronoskop  nach  d'Aisonval,  Karten- 
wechsler, Schalltrichter,  Relais  und  einem  ergiebigen  Akkumulator.  Es  waren  noch 
mehrfache  Verbesserungen  in  Aussicht  genommen,  insbesondere  der  Ersatz  des 
Lippenschlüssels  durch  einen  Kinnschlüssel;  solange  der  Apparat  nicht  seine  de- 
finitive Gestalt  besitzt  und  ich  mit  ihm  gearbeitet  habe,  möchte  ich  mein  End- 
urteil zurückhalten.  So  verdienstlich  und  begrüßenswert  eine  bequeme  Zusammen- 
stellung der  wichtigsten  Apparate  wäre,  die  kleinen  Dimensionen  und  Steck- 
konstruktionen lassen  mich  glauben,  daß  das  Modell  Menzerath  noch  nicht  die 
vollständige  Erfüllung  dieses  Bedürfnisses  ist,  vielleicht  es  werden  kann. 

In  der  pädagogischen  Abteilung  fanden,  wie  verdient,  die  Stichproben  aus  dem 
pädologischen  Museum  in  Budapest  die  meiste  Beachtung;  es  handelte  sich  um 
eine  große  Serie  von  Zeichnungen  von  Kindern  und  Analphabeten,  um  ornamentale 
farbige  Entwürfe,  um  Spielzeuge  und  Musikinstrumente  aus  Stroh  und  Rohr,  um 
Schriftproben  imd  ähnliche  meist  spontan  geschaffene  Zeugen  des  geistigen  Besitzes 
und  der  Ausdrucksfähigkeit.  Ich  möchte  es  besonders  betonen,  daß  L.  Nagy,  der 
verdienstvolle  Urheber  dieser  Sammlungen,  nach  einem  weitschauenden  Plane 
verfuhr.  Seine  Absicht  war:  die  faktische  Bedeutung  des  Schulunterrichts  für 
den  Stand  von  Kenntnissen,  Fähigkeiten  und  Ausdrucksmöglichkeiten  zu  zeigen; 
sein  Weg  bestand  darin,  die  Geistesprodukte  solcher  Erwachsener  zu  sammeln, 
die  entweder  keine  Schulbildung  genossen  haben,  oder  in  denen  die  kümmerlichen 
Anfänge  derselben  vollständig  verwittert  und  verfallen  sind.  Er  wandte  sich  des- 
halb an  die  Militärverwaltung,  um  diesbezügliche  Erhebungen  an  einer  größeren 
Anzahl  von  Analphabetea  durchzuführen.  Mit  ihren  Leistungen  vergleicht,  kon- 
frontiert er  dann  themagleiche  Erzeugnisse  von  Kindern  der  verschiedenen  Schul- 
stufen und  bereitet  so  die  Möglichkeit  vor,  einmal  genauer  bestimmen  zu  können, 
auf  welcher  Stufe  des  unterrichteten  Kindes  dieser  oder  jener  ununterrichtet  ge- 
bliebene Erwachsene  stehen  geblieben  ist.  Das  in  Brüssel  gebotene  Material  war 
in  dieser  Hinsicht  sehr  lelirreich,  freilich  nicht  ausgiebig  genug,  um  einen  Ent- 
scheid darüber  zu  gestatten,  ob  die  theoretischen  Endabsichten  Nagys  damit  be- 
wiesen werden  können.  Das  Material  bot  aber  auch  unabhängig  von  dieser  Frage- 
stellung einen  hohen  Wert  für  die  Kenntnis  des  ungarischen  Schulkindes  und  des 
Kindes  überhaupt.  Ich  möchte  die  herrlichen  farbigen  Entwürfe  von  „Braut- 
kleidern" nicht  unerwähnt  lassen,  die  —  wie  die  ungarische  Keramik,  Tracht, 
Leinwandstickerei,  Lederarbeiten  und  andere  Zweige  des  Kunstgewerbes  —  einen 
hohen  eingeborenen  dekorativen  Farbengeschmack  dieser  Nation  beweisen.  Es 
scheint  überhaupt,  als  ob  der  dekorative  Farbensinn  zunehme,  je  mehr  man  sich 
dem  Osten  nähert. 


Literaturbericht  55 


Die  größte  Kollektion  nach  der  ungarischen  waren  Kipianis  Belege  für  den 
Einfluß  der  Rechtshändigkeit  und  Rechtsseitigkeit  auf  Raumorientierung  und 
Gegenstandsauffassung  überhaupt,  zur  Veranschaulichung  des  Einflusses  der  Beid- 
händigkeit  und  eine  größere  Anzahl  von  Proben  sowohl  linkshändiger  wie  beid- 
händiger  Ausdruckserzeugnisse.  Die  Würdigung  dieses  Materials  ist  in  dem  Bericht 
über  die  größere  Reihe  von  Vorträgen  vmd  Mitteilungen  enthalten,  welche  sich  mit 
den  Grundlagen,  der  Bedeutung  und  der  Erziehung  der  Ambidextrie  beschäftigt 
haben  —  ein  Thema,  das  seitdem  jeden  Reiz  verloren  zu  haben  scheint. 

In  der  pädagogischen  Abteilung  befanden  sich  dann  noch  kleinere  Kollektionen 
von  Slöjdarbeiten  aus  polnischen  Schulen,  von  Veranschaulichungsmitteln  für 
Kindergarten-  und  Elementarunterricht,  einige  Tafeln  mit  statistischen  Erhebungen 
über  die  Privatlektüre  der  Kinder  in  Moskauer  Schulen.  Die  Tafeln  zur  Erleichte- 
rung der  unbewußten  Einprägung  einer  Buchstabenform  durch  schematische  Zeich- 
nung eines  Gegenstandes,  der  mit  dem  betreffenden  Buchstaben  anfängt  und 
dessen  Grundgestalt  soweit  als  möglich  der  Buchstabenform  angeglichen  wird, 
waren  sehr  anfechtbar;  das  Problem  ist  seither  in  gründlicher  Weise  behandelt 
durch  F.  E.  Otto  Schultz  in  seiner  Untersuchung  über  Gedächtnishilfen  bei  der 
Satzlesemethode  (Frankfurt  a.  M.  1914.  M.  Diesterweg).  Aus  den  Tabellen  über 
Privatlektüre  ergeben  sich  die  Prozentsätze  der  Kinder,  die  selber  lesen,  derer, 
die  sich  lieber  vorlesen  lassen,  die  Prozentsätze  der  auf  den  verschiedenen  Alters- 
stufen bevorzugten  Stoffe  usw. ;  zu  tiefer  dringender  Analyse  der  Wirkung  der 
Privatlektüre  ist  die  statistische  Erhebung  kein  Weg.  Auch  in  Antwerpen  und 
Charleroi,  wohin  der  Kongreß  je  eine  Exkiirsion  unternahm,  wurden  kleine  A\is- 
stellungen  gezeigt;  ich  habe  nur  diejenige  in  Antwerpen  gesehen;  sie  umfaßte 
Lehrmittel  und  Lehrergebnisse  der  Knaben-  und  Mädchenschulen  und  einige 
Hilfsmittel  für  schulärztliche  und  schulpsychologische  Untersuchvmgen  aus  dem 
Laboratorivun  des  Schularztes  Dr.  Günzburg.  Unter  den  Dokumenten  der  kind- 
lichen Entwickelung  befand  sich  wenig,  was  nicht  bei  den  vielen  Schulausstel- 
lungen, die  wir  in  Deutschland  infolge  des  Kampfes  um  die  Arbeitsschule  all- 
jährlich haben,  auch  oder  noch  besser  gesehen  werden  kann.  Am  Ausflug  nach 
Charleroi  habe  ich  nicht  teilgenommen;  wie  mir  berichtet  wvirde,  erhielten  die 
Kongreßmitglieder  dort  einen  sehr  instrviktiven  Einblick  in  die  Organisation, 
Unterrichtsmethodik  und  Lehrerfolge  der  Universit6  du  travail  und  der  Fürsorge- 
anstalt  für  Elrüppel  der  Provinz  Hennegau. 

Nach  diesem  Überblick  über  den  äußeren  Verlauf  und  die  besonderen  Veran- 
staltungen wende  ich  mich  zvu*  Darstellung  der  Kongreßverhandlungen  selbst. 
Es  sind  hauptsächlich  die  Fragen  der  Jugendkunde  (speziell  der  Psychologie  xxnd 
Physiologie  des  Kindes)  und  der  Reform  des  Unterrichts  und  der  Erziehung 
(namentlich  durch  die  Schule),  die  heute  im  Vordergrund  des  pädagogischen 
Interesses  stehen;  es  war  nur  der  Ausdruck  der  Zeitlage,  wenn  diese  beiden 
Themata  auch  in  den  Verhandlungen  des  Brüsseler  Kongresses  den  breitesten 
Raum  einnahmen.  Das  Streben  nach  exakter  Kenntnis  der  Kindesnatur  und 
nach  feinfühliger  Anpassung  der  Unterrichtsmethodik  an  ihre  Entwickelung  ist 
jedenfalls  eines  der  wesentlichen  Momente  in  dem  Unterschied  zwischen  ,, alter" 
und  , .neuer"  Richtung  in  der  Pädagogik.  Ich  habe  früher  ausführlich  begründet,  ^) 
inwiefern  diese  gegenwärtige  Konstellation  die  Gefahr  der  Verengung  und  Ver- 
flachung pädagogischer  Fragestelltmg  einschließt;  keine  Erziehung  kann  aufhören, 
den  wertvollen  Inhalt  unserer  Kultur  als  Norm  vorauszusetzen,  die  Entwicklung 
zu  beeinflussen,  zu  dirigieren,  dabei  außer  den  psychologischen  Tatsachen  in  Kind 
und  Lehrer  die  Logik  der  Sachen  und  die  Berechtigvmg  der  Ziele  zu  prüfen  und 
zu  berücksichtigen.  Ein  Kongreß  für  Pädologie  ist  ja  freilich  dxirch  seinen  Titel 
berechtigt,  solchen  Problemen  aus  dem  Wege  zu  gehen;  ich  hätte  auch  kein  Recht, 
auf  sie  zu  verweisen,  wenn  nicht  immer  wieder  die  Tendenz  zutage  getreten 
wäre,  von  jugendkundlichen  Feststellungen  aus  ohne  weiteres  zu  pädagogischer 
Nutzanwendung  und  Reformfordervmg  überzugehen,  ohne  an  die  Fülle  berechtigter  ; 


^)  Vergleiche  meine  Ausführungen  in  dieser  Zeitschrift  XII,  2,   S.  81  f. 


56  Literaturbericht 


anderer  Faktoren  auch  nur  zu  denken.  In  diesem  Punkt  läßt  sich  die  Verschie- 
bung der  pädagogischen  Lage  seit  dem  Jahr  1911  sozusagen  mit  Händen  greifen. 

Auf  kvirze  Titel  gebracht  lassen  sich  die  psychologischen  Themata  des  Kongresses 
in  zwei  Gruppen  zusammenfassen:  Wie  entwickeln  sich  die  einzelnen 
geistigen  Fähigkeiten  beim  Kinde?  und:  Wie  hängen  die  einzelnen 
geistigen  Fähigkeiten  miteinander  zusammen  ?  In  der  ersten  Gruppe 
wiu*den  ausführlicher  behandelt  —  auf  Grund  von  Umfragen,  Laboratoriums- 
versuchen imd  Schulbeobachtungen  —  die  Entwicklimg  der  Sprache  (von  Gheorgov) 
mit  Einschluß  der  kindlichen  Definitionen  (von  Frl.  Szyc),  bei  denen  auch  die 
Kenntnisse,  Erkenntnisse  und  logischen  Fähigkeiten  neben  den  sprachlichen  eine 
Rolle  spielen,  die  Entwicklxmg  der  Merkfähigkeit  und  des  Gedächtnisses  (F.  Raalten) 
mit  Einschluß  der  Aussage  und  Zeugnisfähigkeit  des  Kindes  (von  W.  H.  Winch, 
Margit  Il6v6sz  und  M.  Fiore),  die  Entwicklung  der  motorischen  Funktionen,  unter 
Berücksichtigtmg  der  Fragen  einer  rhythmischen  Gymnastik,  der  Rechts-  und 
Linkshändigkeit  (von  R.  Guilliaume,  Joteyko,  Kipiani,  Nayrac,  A.  Ley)  die  Ent- 
wicklung des  Farbensinnes  (von  J.  Degand),  die  Entwicklung  der  Mengen-  und 
Zahlvorstellungen  und  Zahlbegriffe  (von  Decroly,  Degand,  Monchamps),  der 
Phantasie  (von  Persigout),  der  ästhetischen  Empfänglichkeit  (von  Hösch-Ernst),  der 
moralischen  imd  religiösen  Gefühle  ( Ghidionescu,  Klootsema,  Ugerto  de  Ercilla 
S.  J.),  der  Typen  des  Denkens  (Schuyten,  Nogrädy,  verlesen  durch  Braimshausen), 
der  sozialen  Gefühle  (A.  Fischer,  Varendonck),  des  Schlafes  und  Traumlebens 
(Deutsch,  mitgeteilt  von  Nagy). 

Aus  dem  Problemkreis  der  im  engeren  Sinn  pädagogischen  Psychologie,  speziell 
der  seelischen  Entwicklung,  soweit  sie  mit  dem  Unterricht  in  Zusammenhang 
steht,  verdienen  Hervorhebung  die  Mitteilungen  über  Zerstreutheit,  Ablenkbarkeit, 
Aufmerksamkeit  (Lipska-Lirbach),  über  Intelligenzentwicklung  vmd  Intelligenztests 
(Saffioti). 

In  diesen  Vorträgen,  Mitteilimgen  imd  der  Aussprache  über  sie  kam  die  for- 
schende Arbeit  in  ihrer  Vielgestaltigkeit  zum  Ausdruck,  in  den  großen  Sammel- 
referaten die  Zusammenfassung  des  Standes  unserer  Methoden  und  Kenntnisse. 
Von  diesen  allgemeinen  Vorträgen  verdienen  Hervorhebung  und  Beachtung  auch 
heute  noch  der  von  Joteyko  über  die  Terminologie  in  der  Kinderforschung,  von 
S.  dei  Sanctis  über  abnorme  Kinder,  von  J.  C.  Jung  über  die  Bedeutung  der 
Psychanalyse.  Von  den  sehr  zahlreichen  anthropometrischen  und  sinnesphysio- 
logischen Mitteilungen  und  Vorträgen  sehe  ich  hier  ab,  obgleich  ihr  Interesse  für 
den  Erzieher  wie  für  den  Kinderforscher  ein  hohes  ist. 

Von  der  zweiten  Kardinalfrage  nach  den  Korrelationen  kamen  ausführlicher  zxir 
Behandlung  die  Zusammenhänge  zwischen  Intelligenz  und  Gedächtnis  (Ransch- 
burg,  verlesen  durch  die  Kongreßleitung,  F.  van  Raalten),  zwischen  Intelligenz 
und  Sinnesschärfe  (Ferreri),  zwischen  Intelligenz,  Aufmerksamkeit  und  Gedächtnis, 
zwischen  Körpermaßen  und  geistigen  Fähigkeiten  (Manouvrier,  Gray),  zwischen 
technischer  und  geistiger  Entwicklung  des  Kindes,  mit  Rücksicht  auf  die  Grund- 
lagen des  Schulunterrichts  (Lorent,  Schreuder).  Die  von  Spearman  versprochene 
prinzipielle  Behandlimg  des  Korrelationsproblems  und  der  Methoden  zur  Fest- 
stellung A  on  Korrelationen  ist  leider  ausgefallen  (im  gedruckt  vorliegenden  Bericht 
ist  ein  klares  Referat  desselben  über  den  damaligen  Stand  der  Frage  enthalten); 
ich  habe  das  um  so  mehr  bedauert,  als  Spearman  mit  F.  Krüger  große  Verdienste  in 
der  Korrelationsforschung  besitzt  und  die  Literatur  dieses  Gebietes  zweifellos 
beherrscht;  ich  bin  auch  der  Moinxing,  daß  die  Klärung  der  grundlegenden  Be- 
griffe avif  dem  Gebiete  der  Begabungsforschung  nicht  länger  mehr  umgangen  oder 
aufgeschoben  werden  kann. 

Relativ  einheitliche  Problemgruppen  in  der  psychologischen  und  anthropologischen 
Sektion  bildeten  dann  noch  die  Test-  und  Ermüdungsfrage,  mit  Einschluß 
der  in  der  romanischen  Pädologie  ja  noch  immer  blühenden  Ästhesiometrie. 

Auf  pädagogischem  Gebiete  waren  es  alle  wichtigen  und  viele  imwichtigen 
Vorschläge,  Reformen  und  Versuche,  die  den  Gegenstand  der  Verhandlung  tmd 
meist  auch  des  Streites  gebildet  haben:  die  Frage  der  Koedukation  wurde  prin- 


Literaturbericht  57 


zipiell  und  an  der  Hand  von  Erfahrungen  ventihert  (Badley,  Rouma);  die  unter- 
richtliche und  erzieherische  Wirkung  der  Handarbeit,  das  Problem  der  Schul- 
gemeinden und  das  Seif  governement,  die  ganze  über  die  Handarbeit  hinaus- 
drängende Bewegung  der  Arbeitsschule  bildeten  einen  Hauptinhalt  der  Education 
nouvelle,  zu  deutsch  Reformpädagogik.  Eine  Vereinheitlichung  auf  gewisse  Grund- 
fragen ist  hier  weniger  leicht,  doch  heben  sich  als  solche  heraus:  1)  das  Problem 
der  Ermüdung,  an  der  Grenze  zwischen  Physiologie,  Psychologie  und  Pädagogik, 
und  von  allen  Seiten  behandelt  (individuelle  und  kollektive  Ermüdung  von  Wayen- 
burg,  Schreibermüdung,  Maß  der  Ermüdung,  Mittel  zu  ihrer  Verhütung  (G.  Rouma), 
2)  das  Problem  der  Koedukation  (Badley),  3)  das  Problem  der  modernen  Methodik; 
Arbeitsschule  und  Selbsttätigkeit  (A.  Ferriere),  4)  die  Frage  der  Handarbeit  im 
engeren  Sinn  (Lorent),  5)  die  modernen  Schwierigkeiten,  Ziele  und  Methoden  der 
Charakterbildung  im  engeren  Sinn.  Die  Zurückführung  der  Verhandlungen  auf 
diese  großen  Linien  gibt  freilich  kein  Bild  mehr  von  der  Fülle  der  Einzelanregvmgen ; 
es  gehörte  zu  den  größten  geistigen  Reizen  der  Tagung,  von  geistreichen  Beobach- 
tungen, z.  B.  über  den  Wert  der  Stimme  im  Unterricht  oder  von  der  Muskel- 
trägheit  des  zurückgebliebenen  Schülers  oder  von  einer  anderen  Einzelheit  aus  immer 
wieder  Perspektiven  auf  die  entscheidenden  Fragen  sich  öffnen  zu  sehen,  in  der 
Diskussion  zugleich  das  Gemeinsame  und  das  Verschiedene  der  Nationalitäten, 
ihrer  Denkweise  und  demgemäß  auch  ihrer  pädagogischen  Ideen,  Einrichttmgen 
und  Persönlichkeiten  zu  beobachten. 

Wirft  man  jetzt  einen  Bick  auf  diese  Tagung  zurück,  so  erstaunt  man  vor  allem 
über  die  Weite  des  Abstandes,  die  uns  von  der  Buntheit  und  Zersplitterxing,  der 
Unsicherheit  und  teilweise  Ziellosigkeit  der  Fragestellung  und  Methodik  trennt. 
Durch  den  Ausbau  des  Schularztwesens  ist  in  Deutschland  die  anthropologische, 
medizinische  und  hygierüsche  Seite  der  Kindesfor schling  wie  der  Erziehung  und 
Kinderfürsorge  außerordentlich  gefestigt  und  gefördert  worden;  manche  Fragen 
wie  die  nach  Beidhändigkeit,  nach  der  ästhesiometrischen  Methode,  auf  dem 
Kongreß  1911  lebhaftest  erörtert,  muten  uns  wie  überholte  und  kaum  verständ- 
liche Sonderbarkeiten  an.  Auch  die  psychologische  Kinderforschung  hat  an 
Sicherheit  der  Methode  erheblich  gewonnen.  Am  größten  ist  aber  der  Abstand 
zwischen  Einst  vmd  Jetzt  auf  dem  Gebiet  des  pädagogischen  Denkens  im  engeren 
Sinn.  Der  Dilettantismus  und  der  Doktrinarismus  (namentlich  der  neueren  Denk- 
weisen) haben  einer  gesunden  Selbstkritik  Platz  gemacht,  die  Grundfragen  der 
Erziehvmg  werden  immer  reiner  und  einheitlicher  gesehen;  der  Fortschritt  der 
Arbeit  und  das  große  Erlebnis  haben  gleichmäßig  dazu  beigetragen,  den  Blick  von 
Nebensachen  abzuziehen  und  die  Problematik  der  menschlichen  Dinge  auf  ihre 
großen  Grundlinien  zu  vereinfachen.  Ein  internationaler  Jugendkunde-  und  Er- 
ziehungskongreß der  Zukunft  wird,  wenn  er  einmal  kommt,  größere  Schwere  be- 
sitzen. Dem,  der  die  Brüsseler  Tage  1911  miterlebt  hat,  wird  der  gedruckte 
Bericht  die  farbige  Erinnerung  an  eine  Versammlung  sachlich  verbundener 
Menschen  und  an  strahlend  schöne  Tage  lebendig  werden  lassen. 

München.  Aloys  Fischer. 

Dr.  Kurt  Kesseler,    „Grundlinien   einer  deutsch-idealistischen  Päda- 
gogik."    Larfgensalza  1916.    J.  Beltz,     41  S.     1  M. 

Um  einen  festen  Standpunkt  inmitten  der  Strömungen  der  Gegenwart  zu 
gewinnen,  gründet  K.  seine  Pädagogik  auf  die  Philosophie  des  deutschen  Idealis- 
mus, als  dessen  Wesen  er  das  Bekenntnis  zum  Geist  hinstellt.  Das  Bildungsideal 
ist:  „Erhebung  des  Menschen  in  die  geistige  Welt  durch  humane  und  national© 
Bildung,  durch  Persönlichkeitsbildung  und  Nationalerziehung  (S.  7).  Bei  der  Ver- 
standesbildung sucht  K.  über  die  Einseitigkeit  des  Intellektualismus  hinauszukommen 
und  fordert  Rückkehr  zu  Pestalozzi.  Die  formale  Bildung  hat  Aufmerksamkeit, 
Gedächtnis,  Phantasie,  Denken  und  Sprechen  zu  schulen;  für  die  materiale  Bildung 
gilt  als  oberster  Gesichtspunkt,  „daß  die  Kenntnisse  der  Begründung  und  dem 
Ausbau  einer  deutsch-idealistischen  Weltanschauung  dienen"  (10).  Daher  stehen 
im  Mittelpunkt  des  Unterrichts  Deutsch,  Geschichte  und  Religion  bei  allen  Schul- 


58  Literaturbericht 


gattungen;  bei  den  höheren  tritt  mit  zwei  Wochenstunden  ab  OII,  spätestens  UI 
der  philosophische  Unterricht  hinzu,  umfassend  Logik,  Pädagogik,  Geschichte  der 
Philosophie  und  Philosophie  des  deutschen  Idealismus.  Latein  soll  Grundlage 
des  Sprachunterrichts  werden,  Griechisch  wahlfrei;  von  modernen  Sprachen  wird 
besonders  Englisch  gefordert,  das  zur  Einführung  in  einen  fremden  Kulturkreis 
dienen  soll.  Dazu  treten  dann  Mathematik  und  die  Realien.  Die  technischen 
Fächer  stehen  im  Dienste  der  Kunsterziehung.  Als  wichtigste  Grundgesetze  der 
Methode  gelten  ihm  Induktion  und  Selbsttätigkeit.  Jede  Unterrichtsstunde  muß 
methodisch  den  Dreischritt  Anschauen,  Denken,  Handeln  erkennen  lassen.  Hinter 
der  Bildung  des  Verstandes  darf  die  Willensbildung  nicht  zurücktreten.  Ihr  Ziel 
ist  Bildung  zur  sittlichen  Persönlichkeit  und  Eingliederung  dieser  in  die  sozialen 
Verbände.  Diesem  doppelten  Ziele  entsprechen  zwei  Gruppen  von  Tugenden: 
a)  Besonnenheit,  Tapferkeit,  Einsichtigkeit,  b)  Gerechtigkeit,  Treue,  Liebe.  Die 
Methode  der  Willensbildung  hat  die  rechte  Mitte  zwischen  zu  großer  Freiheit  und 
Drill  zu  wahren,  sie  ist  lockend  durch  Beispiel,  anregend  durch  Betätigung 
{Selbstregierung)  und  Unterricht,  bestimmend  durch  Aufsicht,  Gebot,  Ermahnung, 
Lohn  und  Strafe.  —  Die  Kunst  führt  uns  aus  der  kühlen  Welt  des  Verstandes 
und  der  oft  herben  Welt  der  Pflicht  in  die  Sphären  der  Harmonie  und  des 
Friedens;  sie  führt  zur  Humanitäts- Aufgabe  der  Kunsterziehung,  ist  Pflege  des 
aesthetischen  Sinnes,  des  Sinnes  für  die  Form,  des  Interesses  an  der  Idee.  Besonders 
interessant  sind  Ks,  Ausführungen  über  die  religiöse  Pflege.  Das  Kind  hat  ein 
Recht  darauf,  daß  man  in  ihm  den  Sinn  für  die  Welt  der  Religion  nicht  ver- 
kümmern läßt;  darum  wird  die  Verschiebung  der  religiösen  Bildung  auf  spätere 
Zeit  (Rousseau)  verworfen,  ebenso  aber  auch  die  dogmatisch-kirchliche  Erziehung. 
Als  Mittel  der  religiösen  Pflege  werden  Vorbild,  Übung  und  Lehre  bezeichnet, 
gewarnt  wird  vor  Häufung  der  Schulandachten,  die  Teilnahme  daran  soll  ganz 
freiwillig  sein.  „Der  Religionslehrer  kann  (und  darf!)  den  Kindern  nur  den  Weg 
zu  Gott  zeigen,  die  Entscheidung  darüber,  ob  sie  ihn  gehen  wollen,  müssen  sie 
selber  treffen,  denn  religiöser  Glaube  ist  stets  Freiheitstat"  (25).  (Es  erhebt  sich 
die  Frage,  ob  eine  solche  Entscheidung,  nämlich  im  positiven  Sinne,  überhaupt 
noch  möglich  ist,  wenn  der  Religionsunterricht  so  früh  beginnt.  Der  Ref.).  Der 
Katechismusunterricht  gehört  in  den  historischen  Teil  des  Religionsunterrichts, 
der  auch  nichtchristliche  Religionen  zu  berücksichtigen  hat.  Auf  den  höheren 
Schulen  soll  der  Religionsunterricht  mit  der  philosophischen  Propädeutik  zu- 
sammenarbeiten. Die  kirchliche  Beaufsichtigung  des  Religionsunterrichts  verträgt 
sich  nicht  mit  dem  protestantischen  Gedanken  des  allgemeinen  Priestertums  der 
Gläubigen,  weshalb  völlige  Trennung  von  Schulreligionsunterricht  und  Kirche  ge- 
fordert wird.  —  Bei  der  Nationalerziehung  kommt  es  weniger  auf  staatsbürger- 
liches Wissen  als  auf  staatsbürgerliche  Gesinnung  an.  Die  beste  Grundlage  dafür 
bietet  die  Mutterstube.  Hieran  hat  die  Schule  anzuknüpfen,  die  Jugendpflege 
fortzusetzen  und  die  militärische  Dienstzeit  den  Abschluß  zu  geben.  Für  die 
Frau  wird  ein  weibliches  Dienstjahr  gefordert.  Es  ist  daher  selbstverständlich, 
daß  K.  die  Familienerziehung  ganz  besonders  hervorhebt.  Die  Familie  ist  die 
Grundlage  aller  Menschenbildung  und  übertrifft  alle  anderen  Erziehungsorgani- 
sationen an  Unmittelbarkeit  und  Lebensfrische.  Daher  Förderung  des  päda- 
gogischen Sinnes.  In  den  Oberklassen  der  höheren  Schule  und  in  den  Fortbildungs- 
schulen sollen  pädagogische  Fragen  zur  Erörterung  kommen,  für  die  Erwachsenen 
Vorträge  über  Erziehung  gehalten  werden.  Die  soziale  Lage  der  Eltern  muß 
verbessert  werden.  Schaffung  staatlicher  Kinderhorte,  deren  Besuch  in  den 
letzten  zwei  vorschulpflichtigen  Jahren  für  jedes  Kind  obligatorisch  ist.  Planmäßig 
durchgeführte  Säuglingspflege  und  Fürsorgeerziehung.  —  K.  verwirft  die  Einheits- 
schule mit  gemeinsamer  Grundstufe  mit  Rücksicht  auf  die  bessere  Vorbildung 
der  Kinder  sozial  besser  gestellter  Kreise.  Er  fordert  eine  vier-  und  eine  drei- 
klassige  Grundstufe.  An  die  vierklassige  schließt  sich  die  Volksschulbildung 
an,  die  bis  zum  15.  Jahre  zu  verlängern  ist,  daran  vom  15. — 18.  Jahre  die  Pflicht- 
fortbildungsschule, an  die  dreiklassige  Grundstufe  schließt  sich  das  Real -Gymna- 
sium, die  höhere  Einheitsschule  der  Zukunft  an.    Volksschülern,  die  sich  als  ge- 


Literaturbericht  69 


eignet  für  die  höhere  Schule  erweisen,  soll  nach  Kieler  Muster  ein  späterer 
Übergang  in  die  höhere  Schule  ermöglicht  werden.  Da  durch  die  Schule  die 
Bildung  nicht  abgeschlossen  werden  kann,  hat  der  Staat  für  die  Möglichkeit  der 
Weiterbildung  zu  sorgen.  (Volksbildungsvereine,  Bibliotheken,  Lesehallen,  Volks- 
hochschulen). 

Bonn  Oskar  Kutzner. 

Häberlin,  Paul,  Das  Ziel  der  Erziehung.   Kober.   Basel  1917.    171  S.   4,80  M. 

H.  stellt  sich  zur  Aufgabe  die  Besinnung  auf  das  Ziel  der  Erziehung.  Zu 
diesem  Zwecke  erörtert  er  zuerst  die  Frage,  ob  es  objektiven  oder  nur  subjektiven 
Wert  gibt  und  kommt  zu  dem  Ergebnis,  daß  „wer  je  Wahrheit  schlechthin  ge- 
sucht hat  ....  auch  objektiven  Wert  anerkannt  hat"  (24).  Der  objektive  Wert 
gründet  sich  auf  den  Überzeugungscharakter.  Die  Erziehung  hat  nun  objektiven 
Sinn,  wenn  sie  von  objektiv  Geltendem  aus  gefordert  ist.  Nun  gibt  es  nicht 
mehrere  objektive  Werte,  sondern  nur  einen,  den  H.  die  Idee  nennt;  sie  muß 
zur  Darstellung  gebracht  werden  und  fordert  darum  grundsätzliche  Hingabe  an 
sich,  d.  i.  Frömmigkeit.  Die  Darstellung  der  Idee  ist  zugleich  unsere  einzige 
objektive  Aufgabe,  der  Sinn  unseres  Daseins.  Die  Realisierung  der  Idee  in  der 
Menschheit  ist  die  Kultur.  Unter  Kultur  versteht  H.  aber  auch  richtiges  Ver- 
halten des  Menschen,  wobei  er  wieder  zwei  Richtungen  und  zwei  Formen  unter- 
scheidet: a)  Verhalten  gegenüber  der  Idee  und  gegenüber  der  Wirklichkeit, 
b)  das  theoretische  und  praktische  Verhalten.  Daraus  ergeben  sich  vier  Grund- 
formen der  Kultur:  Norm  -  Einsicht,  fromme  Hingabe,  Wirklichkeits-Einsicht, 
rechtes  Handeln  gegenüber  der  Wirklichkeit  (74).  Der  Einzelne  hat  gemäß  seiner 
individuellen  Besonderheit  die  Aufgabe,  die  Idee  zur  Darstellung  zu  bringen. 
Das  kann  er  immer  nur  selber  tun,  aber  ich  kann  ihm  dabei  helfen  in  indirekter 
oder  direkter  Form,  indem  ich  entweder  auf  seine  Umwelt  oder  auf  ihn  selbst 
einwirke.  Diese  innere  Förderung  des  andern  auf  dem  Wege  zur  Erfüllung  seiner 
Bestimmung  nennt  H.  Erziehung  (90,  99).  Da  es  in  Wirklichkeit  keine  allgemein 
menschlichen  Pflichten  gibt,  sondern  nur  Verwandtschaften  und  Ähnlichkeiten 
größeren  und  geringeren  Grades,  muß  eine  inhaltliche  Bestimmung  dessen,  wofür 
Erziehung  den  Einzelnen  vorbereiten  soll,  im  Erziehungsziel  —  soll  dieses  all- 
gemein gelten  —  unterbleiben.  Entsprechend  den  vier  Grundformen  der  Kultur 
läßt  sich  das  Erziehungsziel  näher  charakterisieren.  Das  erste  Teilziel  besteht 
in  der  Fähigkeit  des  Zöglings,  sich  der  Idee  gegenüber  praktisch  richtig  zu  ver- 
halten: der  rechte  Wille  (113  ff.),  das  zweite  in  der  richtigen  Norm-Einsicht  (126  ff.), 
das  dritte  in  der  rechten  Urteilsfähigkeit  (143  ff.)  und  das  letzte  in  der  Berufs- 
tüchtigkeit (158  ff.).  H.  erinnert  in  seinen  Anschauungen  und  Ausführungen  sehr 
an  Fichte. 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Dr.  Artur  Buchenau,  Kurzer  Abriß  der  Psychologie.  Für  den  Unterricht  an  höheren 
Schulen,  an  Lehrer-  und  Lehrerinnen-Bildungsanstalten,  sowie  für  das  eigene  Studium.  Berlin 
1917.  Reimer.  64  S.  0,80  M. 
Die  kleine  Schrift  verdankt  unterrichtlicher  Tätigkeit  ihres  Verfassers  die  Entstehung  und 
bietet  auch  weiterhin  dem  Schulfache  „Psychologie"  ihre  Dienste  an.  Sie  verzichtet  mit  Recht  auf 
eine  didaktische  Formung  des  Stoffes  —  eine  solche  muß  gerade  in  der  schwierigen  psychologischen 
Unterweisung  immer  persönliche  Leistung  des  Lehrers  bleiben  —  und  reicht  nur  in  knapper, 
u.  E,  allzu  knapper  Bemessung  das  wissenschaftlich  einwandfreie,  nach  dem  gegenwärtigen 
Stande  der  Forschung  ausgewählte  und  formulierte  Lehrgut  dar.  Dabei  ist  mit  Geschick  viel- 
fach der  Blick  auf  die  großen  Fragen  der  Weltanschauung  eingestellt,  die  in  die  Psychologie 
80  reich  hereinspielen.  Durchweg  wird  erkenntlich,  wie  Buchenau,  dessen  reiche  schriftstel- 
lerische und  lehrende  Tätigkeit  früher  eine  einseitige  erkenntnis- theoretische,  von  Natorp  be- 
einflußte Orientierung  zeigte,  neuerdings  der  empirisch  forschenden  Psychologie  ihr  Recht  werden 
läßt  und  wie  er  so  —  was  er  im  Vorworte  auch  selbst  bekennt  —  zu  einer  Synthese  von  Kant 
und  Wundt  kommt. 

Hervorgehoben  sei,   daß  Buchenau   in  solcher  Bahn   in  entschiedener  Weise  einen  Stoff- 
wechsel in  der  Seminarpsychologie,  die  vielfach  immer  noch  auf  die  überholte  Lehre  Herbarts 


60  Literaturbericht 


die  neuen  Anschauungen  aufpfropft,  entschlossen  wagt.     Eine  zweite  Auflage  wird  nicht  umbin 
können,  sich  mit  Bildern  und  graphischen  Darstellungen  auszustatten. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Ed.  Balsiger,  Einführung  in  die  Seelenkunde.  Psychologie  auf  physiologischer  Grund- 
lage für  den  Unterricht  am  Seminare  und  die  Selbstbelehrung.  Beml913.  A.Franke.  101  S.  2,20  M. 

Als  Schullehrbuch  muß  dieser  Versuch  einer  kurzen  Darstellung  des  seelischen  Lebens  außer 
seiner  Beurteilung  des  Inhaltes  (gegen  den  mancherlei  einzuwenden  wäre,  vergl.  z.  B.  die  Er- 
klärung des  Gedächtnisbegriffes)  eine  Prüfiuig  auf  die  Formung  des  Stoffes  erfahren.  Sie  ent- 
spricht in  manchem  nicht  den  Forderungen  der  in  jüngerer  Zeit  wesentlich  geförderten  Methodik 
des  psychologischen  Unterrichts.  (Vergl.  z.  B.  0.  Scheibner,  Zur  Gestaltung  des  psychologischen 
Unterrichts  in  der  Lehrerbildung.  Diese  Zeitschrift  Jahrg.  1917).  Ganz  verfehlt  erscheint  die 
Gliederung  in  „Erster  Teil:  Physiologische  Grundlegung"  und  „Zweiter  Teil:  Seelenleben*.  Der 
psychologische  Unterricht  wird  so  auf  langer  Strecke  eingeleitet  mit  Betrachtungen  rein  natur- 
wissenschaftlicher Art,  die  übrigens  der  Seminarunterricht  in  der  Anthropologie,  Zoologie  und 
Biologie  viel  ausführlicher  ohnedies  behandelt,  so  daß  sie  bei  der  psychologischen  Unterweisung 
vorauszusetzen  und  dann  nur  so  weit  heranzuziehen  sind,  als  es  die  Vertiefung  der  psychologischen 
Einsicht  durchaus  erfordert.  Auszugehen  ist  dabei  immer  von  den  seelenkundlichen  Erlebnissen 
und  nicht,  wie  dies  ein  verbreiteter  Fehler  in  den  gebräuchlichen  psychologischen  Lehrbüchern 
ist,  von  physikalischen  und  physiologischen  Tatsachen.  Ein  seltsamer  Teil  des  Buches  ist  auch 
der  Schlußabschnitt,  der  „Ergebnisse  der  experimentellen  Forschung"  in  recht  zufälliger  Auswahl 
und  ungenügender  Ausbreitung  zusammenstellt.  Es  mußte  dieser  Stoff  in  die  verschiedenen  Kapitel 
des  Buches  organisch  hineingearbeitet  werden,  wie  dies  tatsächlich  vom  Verfasser  auch  in  einigen 
Fällen  vorgenommen  worden  ist,  wenn  auch  zumeist  nicht  in  der  Art,  wie  wir  uns  die  Ein- 
gliederung des  psychologischen  Versuchs  ausgiebiger  und  methodisch  herzhafter  angefaßt  denken 
und  selbst  betreiben.  Dagegen  empfehlen  wir  eine  Herausnahme  des  kinderpsychologischen 
Stoffes  aus  den  einzelnen  Abschnitten  und  seinen  Zusammenschluß  zu  einer,  den  Entwicklungs- 
zug deutlich  herausarbeitenden  eigenen  Darstellung.  Daß  wiederholt  pädagogische  Gedanken- 
gänge sich  in  die  psychologischen  Ausführungen  einschleichen,  nimmt  in  einem  Seminarlehrbuch 
nicht  Wunder.  Geschieht  es  nur  bei  dazu  drängender  Gelegenheit,  so  mag  wenig  dagegen  ein- 
zuwenden sein.  Im  allgemeinen  aber  sollte  der  psychologische  Unterricht  im  Seminare,  der  bei 
der  Fülle  und  Bedeutung  des  sich  anbietenden  Stoffes  seine  Zeit  für  seinen  Stoff  ausnützen  muß, 
der  Pädagogik,  der  er  allerdings  in  letzter  Absicht  dienen  soll,  nicht  vorgreifen :  es  entwickelt 
sich  in  den  Schülern  sonst  nur  allzu  leicht  der  gefährliche  pädagogische  Psychologismus,  der  die 
Normierung  des  unterrichtlichen  und  erziehlichen  Tuns  einzig  und  allein  aus  seelischen  Erkennt- 
nissen gewinnt. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Lipmann,  O.,  Psychische  Geschlechtsunterschiede.  Ergebnisse  der  diffe- 
rentiellen  Psychologie  statistisch  bearbeitet.  2  Teile.  IV,  108  und  172  S,;  9  Kurven. 
Leipzig  1917.  Beiheft  14  zur  Zeitschr.  f.  angew.  Psychol.  Barth.  1916.  12.—  M. 
Die  Problemstellung  —  Koedukationsfrage  —  war  für  L.  durch  jenen  bekannten 
Breslauer  Kongreß  des  Bundes  für  Schulreform  1913  gegeben,  und  bereits  damals 
haben  L.s  umfassenden,  mühevollen  und  exakten  Forschungen  gebührende  Anerken- 
nung gefunden.  Umso  wertvoller,  daß  die  Ergebnisse  seiner  statistischen  Zusammen- 
fassung in  Buchform  auch  weiteren  Kreisen  zugänglich  werden,  daß  sie  sich  nach- 
prüfbar stabilisierten.  Die  Enge  der  zeitlich  bedingten  Problemstellung  kann 
dabei  wissenschaftlich  nur  von  Vorteil  sein.  Der  erste  Teil  gibt  den  zusammen- 
hängenden Text;  der  zweite  die  Tabellen  und  die  Bibliographie.  Fünf  Hauptkapitel 
gliedern  den  Textteil:  Methodik,  die  Einzelergebnisse,  systematische  Übersicht 
über  die  Einzelergebnisse,  Vergleich  des  Geschlechts  Verhältnisses  auf  den  ver- 
schiedenen Altersklassen,  Gesamtstatistik.  Wertvoll  sind  schon  die  methodischen 
Erörterungen,  deren  reiche  mathematische  Grundgebung  den  Exaktheitsgrad 
anlegen  soll,  der  bei  der  experimentellen  komplexen  Psychologie  denkbar  und 
wünschenswert  ist.  Im  ganzen  kommt  L.  zur  Aufteilung  der  Versuchsergebnisse 
nach  der  Alternativ-  und  der  Klassifikationsmethode.  Die  eine  gilt  für  Resultate 
mit  bipolarem  Ergebnis  (richtig,  falsch;  Voll-  oder  Fehlleistung  usw.);  die  andere 
dehnt  ihr  Geltungsbereich  über  solche  Ergebnisse  aus,  deren  variables  Leistungs- 
moment  mannigfach  gestreut  und  wesentlich  nach  drei  Klassen,  den  mittleren. 


Literaturbericht  Q1 


den  oberen  und  den  minderen  Leistungen,  gestaffelt  werden  kann.  L.  hat  über 
diese  Dinge  bereits  vordem  sich  verschiedentlich  geäußert;  hier  findet  sich  der 
Gesamtgesichtspunkt  in  guter  Synthese.  Die  Kapitel  über  die  Einzelergebnisse 
umfassen  eine  reiche  Fülle  der  Arbeiten  anderer,  die  L.  auf  Grund  seiner  strengen, 
methodischen  Auswahl  für  verwendbar  erachtete  und  deren  Resultate  er  statistisch 
zusammenstellt,  vergleicht,  auswertet.  Die  Sinnespsychologie,  die  Vorstellungen, 
sämtliche  experimentell  greifbaren  Bewegungsvorgänge,  Rechnen  und  mathema- 
tische Anlage,  Begabungserscheinungen  auf  bestimmten  Kulturgebieten  (z.  B. 
Zeichnen,  Technik,  Geschichte  usw.),  sprachliche  Veranlagung,  alle  emotionalen  und 
voluntativen  Faktoren,  die  so  prekäre  Intelligenz-  und  Schulleistung,  die  Aufmerk- 
samkeit, Suggestibilität :  alle,  soweit  bisher  experimentell  fruchtbar  untersucht, 
werden  statistisch  verglichen  und  auf  Endergebnisse  hinsichtlich  der  Geschlechts- 
unterschiede formuliert.  Eine  Gesamtübersicht  gibt  hinsichtlich  der  Verteilung 
dieser  Einzeleigenschaften  im  Rahmen  der  Geschlechterleistung  Aufschluß;  ein 
Annexus  bezieht  sich  —  übrigens  eine  fruchtbare  Ausbaumöglichkeit  —  auf  paar- 
weise Eigenschafts-  bezw.  Leistungsvergleichung  in  ihrer  Beziehung  zur  psychischen 
Geschlechterdifferenz.  Ein  neuer  Aufriß  im  vierten  Kapitel;  Vergleich  der  Ge- 
schlechtsverhältnisse nach  den  Altersstufen  (3  -  17jährige  wurden  berücksichtigt). 
Er  ergibt  im  allgemeinen:  Zunahme  der  Divergenz  mit  Anstieg  des  Alters; 
Entwicklungsbeschleunigung  in  der  Präpubertät  beim  Manne;  größere  Konstanz  der 
Mädchen,  Frühjahrsanstieg  der  Knaben  im  Jahresablauf.  Endlich  im  zusammenfas- 
senden Schlußkapitel  als  allerwichtigstes  das  klare  Überwiegen  der  männlichen 
Vpp.  im  oberen  und  unteren  Leistungsviertel,  die  Angleichung  der  weiblichen 
Leistung,  die  größere  Konstanz  derselben  um  sämtliche  Mittelwerte,  Durchschnitts- 
maße. Die  Frau  arbeitet  konstanter,  der  Mann  extremer,  M.  hat  eine  größere 
Intervariabilität,  andererseits  hatte  M.  eine  höhere  mittlere  Variation  beim  selben 
Versuch.  (L.  hätte  dieses  Paradoxon  noch  mehr  betonen  können,  er  ging  auf  die 
m.  V.  nur  ganz  nebenher,  S.  70,  ein).  Hierin  liegt  zweifellos  das  fruchtbarste 
aller  seiner  Ergebnisse  und  die  größte  Anregung  zum  Weiteren.  Denn  alles  andere 
sonst  —  einschließlich  der  Anwendung  auf  eine  Koinstruktion  —  ist  trotzdem 
letzten  Endes  ein  Ignorabimus.  Die  experimentelle  Psychologie  hat  (außer  obigem) 
kaum  etwas  erbracht,  was  man  nicht  gewußt  hat,  andererseits  meist  da  versagt,  wo 
man  Aufschluß  erwartete.  L.  kommt  zum  Endergebnis,  daß,  nach  dem  bisherigen 
Stande  der  Wissenschaft,  empirisch  eine  Nivellierung  der  Geschlechterdifferenzen 
eigentlich  herauskommt.  Praktisch  (und  das  ist  leider  etwas  anderes)  dürften 
dagegen  die  Differenzen  viel  erheblicher  sein,  weil  da  Strukturzusammenhänge 
mitsprechen,  komplexe  Bindungen,  die  kein  Versuch  mehr  fassen  wird.  Es  gehört 
mit  zu  den  anerkennenswertesten  Leistungen  L.s,  daß  er  vor  dieser  Resignation 
—  die  übrigens  keinem  aufrichtigen  Forscher  unerwartet  sein  konnte  —  nicht 
zurückschreckt,  und  die  experimentellen  Gewohnheitspädagogen  mögen  sich  dieses 
Ergebnis  besonders  notieren.  —  Der  zweite  Teil  ist  zum  eigentlichen  Studium 
bestimmt.  Die  Tabellen  sind  vortrefflich  und  in  dieser  Form  in  keiner  ähnlichen 
Zusammenstellung  auffindbar.  Daß  die  umfängliche  Bibliographie  erstklassig  ist, 
versteht  sich  bei  L.  von  selbst.  Im  ganzen  methodisch,  des  Resultats  und  der 
Nachwirkung  wegen  eine  vorzügliche  Studie,  ganz  abgerechnet  den  bewunderungs- 
würdigen Fleiß  bis  zum  Ziel. 

z.    Zt.  Mülheim  (Ruhr)  Fritz  Giese. 

Marx  Lobsien,  Die  Lernweisen  der  Schüler.  Psychologische  Beiträge  zur  geistigen  Öko- 
nomie des  Unterrichts.  Mit  zwei  Figuren  und  einer  Tafel  im  Text.  Leipzig  1917.  Wimderlich. 
89  S.  1,60  M. 

In  den  Forderungen  und  Anweisungen,  die  auf  Grund  der  experimentellen  Analyse  der  Ge- 
dächtnisleistungen aufgestellt  worden  sind,  findet  sich  zumeist  die  persönliche  Eigenart  des  Ler- 
nenden in  ihrer  Bedeutung  für  die  Wirtschaftlichkeit  des  Lernens  nicht  berücksichtigt  oder 
unterschätzt.  Man  übersieht,  wie  die  letzthin  unveränderliche  Wesenheit  des  Lernenden  in  die 
scheinbar  so  mechanische  Leistung  des  Einprägens  eingeht  und  wie  von  hier  aus  ein  durchaus 
individueller  Lernvorgang  bedingt  ist,  mit  dem  die  Hinleitung  auf  ein  ökonomisches  Verfahren 
zu  rechnen  hat.  Hierzu  nuji  bieten  die  Untersuchungen  Lobsiens,  dem  die  experimentelle  Pädagogik 


62  Literaturbericht 


schon  manche  schöne  Gabe  dankt,  ein  doppeltes:  sie  erweisen  einmal  die  große  Mannigfaltigkeit, 
in  der  die  naturgemäß  gegebenen  Lernweisen  tatsächlich  auftreten,  und  sie  geben  dem  Lehrer 
zwei  Wege  an,  zur  Kenntnis  des  persönlichen  Lernens  seiner  Schüler  zu  gelangen. 

In  einer  ersten  Untersuchung,  die  sich  auf  eine  Klasse  des  vierten  Schuljahres  erstreckte,  be- 
diente sich  Lobsien  des  einfachen  Verfahrens  der  Umfrage.  Die  ihr  anhaftenden  Unzulänglich- 
keiten versuchte  er  nach  Kräften  einzuschränken.  Er  ließ  verschiedene  Texte,  die  im  Unterricht 
zuvor  erläutert  worden  waren,  als'  Hausaufgabe  einprägen  und  stellte  dann  die  Schüler  vor  eine 
Reihe  von  Fragen.  So  gewann  er  in  der  Verarbeitung  eine  Übersichtstafel,  die  Auskunft  gibt 
über  Art,  Anzalü  und  Umfang  der  Lesungen,  über  den  Ursprung  des  Lemverfahrens  (Einfluß  der 
Schule,  des  Hauses),  über  Ort  und  Art  der  Überprüfung,  über  die  Beurteilung  der  Schwierigkeit 
des  Textes  durch  den  Schüler.  In  den  Psychogrammen  der  Klassen,  um  die  sich  heute  schon 
viele  Schulen  bemühen,  darf  eine  solche  Tabelle,  wie  sie  Lobsien  bietet,  wegen  ihrer  Bedeutung 
und  auch  wegen  des  verhältnismäßig  leichten  und  sicheren  Weges  der  Gewinnung,  nicht  fehlen. 

Neben  ihrem  selbständigen  Werte  sollte  die  Umfrage  auch  die  Bedeutung  einer  Vorunter- 
suchung haben  für  eine  methodisch  gründlich  ausgeführte  Hauptuntersuchung.  In  ihr  wurden 
für  den  Einzelversuch  die  Prüflinge  von  einer  anderen,  doch  gleichaltrigen  SchuMasse  gestellt. 
Die  Lernaufgaben  umfaßten  sehr  mannigfaltige  Texte ;  sinnvolle  und  sinnlose,  solche  gebundener 
und  ungebundener  Form,  längere  und  kürzere,  gegliederte  und  ungegliederte,  Zahlen-  und  Wörter- 
reihen. Dargeboten  wurden  sie  an  einem  verstellbaren  Lesepult,  das  zur  Beobachtung  der 
Augenbewegungen  mit  einem  Spiegel  ausgestattet  war.  Die  Prüflinge  waren  angewiesen,  die  vor- 
liegenden Texte  in  Gegenwart  des  Lehrers  nach  ihrer  Gewohnheit  laut  oder  leise,  schnell  oder 
langsam,  im  Ganzen  oder  in  Teilen  zu  lernen.  Alles  irgend  Beobachtbare  und  besonders  Zähl- 
bare ist  von  Lobsien  in  ausführlichen  Protokollen  niedergelegt  woi'den,  von  denen  dreizehn,  die 
typisch  für  besondere  Lernweisen  erscheinen,  in  seiner  Schrift  abgedruckt  sind.  Bei  dem  Mangel 
ähnlichen  Untersuchungsmaterials  und  bei  der  offenbar  sehr  geschickten  und  gewissenhaften 
Beobachtung  Lobsiens  wäre  die  Veröffentlichung  der  gesamten  Niederschrift  von  wisssenschaft- 
lichem  Interesse  gewesen.  Leider  ist  auch  auf  eine  tabellarische  Zusammenstellung  aller  Lei- 
stungen, wie  dies  schätzenswert  beim  Vorversuche  geschah,  verzichtet  worden.  Dafür  geht  Lobsien 
aber  in  ausführlichen  Erörterungen  und  Berichten  den  einzelnen  Seiten  des  Lernvorganges  nach. 
Insbesondere  bringt  er  dabei  über  die  Art  des  Einlesens  reichlich  Beobachtungen,  die  das  in 
Laboratoriumsversuchen  reich  ausgebaute  Gebiet  der  Psychologie  und  Technik  des  Lernens  sehr 
willkommen  ergänzen  und  zu  neuen  Problemstellungen  anregen. 

Die  pädagogischen  Praktiker  haben  wiederholt  zu  übereilt  und  übereifrig  die  Untersuchungen 
der  experimentellen  Pädagogik  in  das  unterrichtliche  Tun  hinübergeleitet  und  mit  solcher  Ver- 
frühung  der  Bewegung  einer  empirisch  forschenden  Erziehungswissenschaft  wider  Willen  ge- 
schadet. Lobsien  selbst,  dessen  Verdienste  wir  keineswegs  unterschätzen,  haben  wir  bei  der  Be- 
sprechung seines  Buches  ^  „Experimentelle  Schülerkunde"  den  Vorwurf  nicht  ersparen  können, 
daß  er  im  unterrichtlichen  Betriebe  zu  einer  reicheren  Anwendung  des  Experiments  auffordert  und 
anleitet,  als  es  die  Technisierung  der  Methoden  heute  schon  erlaubt  und  als  es  zum  Teil  die  näch- 
sten Aufgaben  der  Schule  überhaupt  zulassen.  Seine  neue  Schrift  aber,  die  übrigens  erweist,  daß 
eine  auf  wissenschaftlicher  Höhe  stehende  psychologische  Untersuchung  auch  annähernd  fremd- 
wortfrei geschrieben  sein  kann,  verdient  die  weiteste  Verbreitung  und  die  nachdrücklichste  Wir- 
kung unter  der  Lehrerschaft. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Poppelreuter,  Aufgaben  und  Organisation  der  Hirnverletzten- 
Fürsorge.  Heft  2  der  Deutschen  Krüppelhilfe.  Ergänzungshefte  der  Zeit- 
schrift für  Krüppelfürsorge,  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Konrad  Biesalski 
und  Erziehungsdirektor  Hans  Würtz.  Leipzig  1916.  Leopold  Voß.  40  Seiten. 
1,50  M. 

Untersuchung  mit  speziellen  Methoden,  Behandlung  in  Übungsschulen  und 
Werkstätten,  sowie  soziale  Versorgung:  das  sind  die  Grundgedanken,  denen  die 
Hirngeschädigtenfürsorge  nach  P.  nachzugehen  hat.  Er  selbst  hatte  das  große 
Glück,  für  seine  Ideen  die  Unterstützung  maßgebender  Zivil-  und  Militärbehörden 
zu  erlangen  und  wurde  durch  das  Wohlwollen  seiner  Vorgesetzten  zum  Leiter 
einer  militärischen  Nervenstation  für  Kopfschüsse  im  Festungslazarett  Köln  be- 
rufen, wo  er  reiche  Erfahrung  auf  dem  neuen  Gebiete  erwerben  und  segens- 
reiche Tätigkeit  entfalten  konnte. 


>)  Diese  Zeitschr.  XH  Jahrg.  1916.  S.  399/400. 


Literaturbericht  55 


Der  Unterricht  wird  teils  in  Gruppen  oder  Klassen  erteilt,  in  schweren 
Fällen  aber  auch  als  Einzelunterweisung  gepflogen.  An  Lehrkräften  sind  Gym- 
nasial- und  Volksschullehrer  vorhanden,  sowie  auch  einige  Laien.  Lesen,  Schreiben, 
Rechnen,  Sprechen,  Aufsatzschreiben  nach  dem  Film  sind  die  Hauptgebiete 
der  Übungen,  die  durchgeführt  werden. 

Die  körperliche  Übung  kommt  gegenüber  der  Übung  der  psychischen  Funk- 
tionen keineswegs  zu  kurz  weg.  Hier  sind  mittelschwere  Fälle  das  eigentliche 
Feld  der  Übungsbehandlung,  während  bei  schweren  Defekten  vor  Optimismus 
gewarnt  wird.  An  Stelle  der  Übung  mit  orthopädischen  Apparaten  wird  Werk- 
stattbetätigung vorgezogen,  wo  komplexere  Ziel-  und  Gebrauchshandlungen  zu- 
grunde gelegt  werden.  P.  hält  eine  Hand  für  berufsbrauchbar,  wenn  der  dyna- 
mometrische Druck  8 — 10  Kilogramm  beträgt. 

Als  bewährte  Untersuchungsmethoden  werden  bekannte  Verfahren  der  ex- 
perimentellen Psychologie  und  Psychiatrie  angeführt:  Fortlaufendes  Addieren 
nach  Kräpelin,  Kombinationstexte  nach  Ebbinghaus,  Merkfähigkeitsprüfungen, 
tachistoskopische  Aufmerksamkeitsuntersuchungen.  Besonders  empfiehlt  P.  als 
neue  Proben  das  Eimerheben  nach  vorgeschriebenen  Zeiten  bei  bestimmter 
Schwere  des  Eimers,  Stanzen  nach  aufgegebenem  Programm  und  Knöpf esortieren. 
Die  Feststellung  der  körperlichen  Arbeitsfähigkeit  ist  wichtig,  da  Bücken,, 
schwere  körperliche  Arbeit  usw.  meistens  vom  Hirnverletzten  gar  nicht  oder  nur 
schlecht  vertragen  werden  können.  Die  Webersche  pletysmographische  Ab- 
nahme wird  in  Köln  leider  nicht  angewandt,  trotzdem  sie  große  Aufhellung 
bringt  über  die  körperliche  Arbeitsfähigkeit  eines  Patienten. 

Sonderbarerweise  werden  hysterische  Propferscheinungen  nur  nebensächlich 
von  P.  berührt.  Die  Ärmlichkeit  dieser  angewandten  Untersuchungsmethodik 
dürfte  sehr  bald  beseitigt  werden,  falls  es  P.  gelingt,  einen  erfahrenen 
Experimental-Psychologen  für  seine  Kopfschußstation  zu  gewinnen,  der 
Arbeitsfähigkeits-  und  Eignungsprüfungen  neben  eingehenden  speziellen  Unter- 
suchungen ausführt. 

Die  Leistungen  der  Kopfschüßler  sind  im  Gebiete  des  früheren  Wissens  und 
der  gelernten  Fertigkeiten  immer  noch  am  besten,  die  Übungserfolge  sind  aber 
auch  beträchtlich,  zumal  vernünftige  Grundsätze  die  Übungstherapie  beherrschen, 
so  daß  die  soziale  Prognose  nach  P.  nicht  ungünstig  ist.  Die  Frage  der  allmäh- 
lichen intellektuellen  Verkümmerung  durch  die  Verletzung  kann  bei  der  Kürze 
der  Zeit  noch  nicht  erörtert  werden,  wohl  aber  die  Bedeutung  der  Rinden- 
epilepsie für  die  Berufstüchtigkeit.  P.  rät  auf  Grund  seiner  Erfahrung  von  einer 
Überweisung  in  Epileptikeranstalten  ab;  er  spricht  sich  für  eine  besonders 
sorgfältige  Berufsberatung  und  pflegliche  Unterbringung  in  geeigneten  Betrieben 
aus,  zumal  die  Anfälle  selten  sind  und  die  Epilepsie  der  Hirnverletzten  nicht 
erblich  ist. 

In  einem  Nachwort  ruft  Dr.  Preysing  zur  Gründung  neuer  Zentralinstitute 
auf,  wo  Chirurg  und  Nervenarzt,  Psycholog  und  Lehrer  einträchtig  zusammen- 
arbeiten zum  Wohle  der  Hirnverletzten.  Möge  seine  Mahnung  nicht  ungehört 
verklingen,  sondern  von  reichen  Erfolgen  gekrönt  sein,  da  hier  noch  unsäglich 
viel  nützliche  und  wertvolle  Arbeit  zu  leisten  ist,  wie  das  treffliclie  Beispiel 
der  Kölner  Station  beweist. 

Berlin.  Walther  Moede. 

Dr.  Buchberger,  Die  Jugendfürsorge  und  Fürsorgeerziehung.     2.  Heft 
Verlag  Jos.  Kösel.     Kempten -München  1916.    60  S.    1  M. 

Die  Schrift  enthält  vier  Aufsätze,  die  ein  Bild  geben  von  der  gut  organisierten 
Münchner  Jugendfürsorgearbeit.  Amtsgerichtsrat  Riss- München  spricht  zunächst 
über  die  Bedeutung  der  Vormundschaft  in  der  Jugendfürsorge  und  hebt  mit 
Recht  hervor,  daß  es,  zumal  im  Kriege,  das  eigenste  Interesse  des  Staates  sei, 
auf  eine  gute  Erziehung  der  Jugend  mit  allem  Eifer  bedacht  zu  sein.  Die  Ge- 
winnung guter  Vormünder  war  schon  im  Frieden  nicht  so  leicht;  ihre  Auffindung 
und  Ausbildung  ist  jetzt  mehr  als  je   allerwichtigste  Aufgabe  jeder  Jugendfür- 


■ß4  Literaturbericht 


Sorgevereinigung.  Landgerichtsrat  K.  Rupprecht  gibt  eine  Darstellung  der 
Fürsorgeerziehung  in  Bayern,  die  durch  Gesetz  vom  21.  August  1914  neu 
geregelt  ist.  Das  Gesetz  ist  am  1.  Januar  1916  in  Kraft  getreten  und  bringt  in 
manchen  Punkten  beachtenswerte  Fortschritte.  Der  Erfolg  der  Fürsorgeerziehung 
wird  sich  noch  steigern  lassen  dadurch,  daß  sie,  immer  mehr  als  Vorbeugungs- 
maßnahme angewendet,  den  individuellen  Verhältnissen  der  Zöglinge  angepaßt 
und  lange  genug  ausgedehnt  wird,  und  daß  nach  ihrer  Aufhebung  für  genügende 
Beaufsichtigung  gesorgt  wird.  Jugendrichter  Botzong -München  behandelt  die 
Arbeit  des  Fürsorgers  vor  und  während  der  Fürsorgeerziehung,  neben  und  nach 
der  Anstaltserziehung.  Wie  notwendig  eine  eingehende  Beaufsichtigung  durch 
beamtete  Personen  und  deren  inniges  Zusammenarbeiten  mit  den  Jugendfürsorge- 
organisationen gerade  während  des  Krieges  ist,  zeigt  Verfasser  an  der  Statistik  des 
Münchner  Jugendgerichts;  die  Kriminalität  nahm  ganz  erheblich  zu:  es  wurden 
verurteilt  1914:  370,  1915:  734  Jugendliche.  Frau  Landgerichtsdirektor  Pfeil- 
schifter  berichtet  ausführlich  und  mit  besonderer  Wärme  über  die  praktische 
Tätigkeit  des  Fürsorgers  und  der  Fürsorgerin  in  Ausübung  der  „Schutzaufsicht" 
über  straffällig  gewordene  und  verwahrloste  Jugendliche,  über  einen  Teil  der  aus  der 
Anstalt  entlassenen  Zöglinge,  über  Jugendliche,  deren  Verwahrlosung  vorgebeugt 
werden  soll.  Amtsrichter  J.  Marschall-München  hat  ein  Merkblatt  für  den 
Vormund,  Pfleger  und  Beistand  beigefügt. 

Kleinmeusdorf  bei  Leipzig.  Fritz  Knauthe. 

Wilhelm  Schäfer,  Lebehstag  eines  Menschenfreundes.  München  1916.  G.  Müller. 
410  Seiten.    4  M. 

Wenn  ich  hier  das  Werk  eines  Dichters  anzeige,  so  geschieht  es  nicht  wegen 
neuer  wissenschaftlicher  Ergebnisse  der  Pestalozziforschung,  sondern  weil  ich 
glaube,  daß  jeder  Erzieher  ein  lebhaftes  Interesse  haben  soll,  die  inneren  Schick- 
sale und  Wandlungen  eines  Mannes  einheitlich  nachzuerleben,  der  zu  den 
wenigen  pädagogischen  Genien  des  Menschengeschlechts  gehört,  und  weil  die 
dichterische  Gestaltung  allein  wie  das  Recht  so  auch  die  Kraft  hat,  ein  solches 
Einheitsbild  zu  schaffen.  Mit  verhaltener  Leidenschaftlichkeit  erzählt  W.  Schäfer 
die  Lebensgeschichte  des  Landwirts,  Armennarren,  Schriftstellers,  Waisenvaters, 
Winkelschulmeisters  und  Schloßherrn  Heinrich  Pestalozzi  und  läßt  aus  ihm  das 
Bild  des  Ehrenbürgers  der  französischen  Nation,  Sozialreformers,  Denkers,  Pro- 
pheten der  Menschenerziehung  erblühen.  Der  Glanz,  der  seine  franziskanische 
Gestalt  umleuchtet,  ist  in  dieser  Dichtung  aufgefangen,  darum  mögen  ihre  tiefen 
Worte  und  überlegt  geformten  Deutungen  äußerer  und  innerer  Schicksale  ein- 
dringlicher lehren,  welch  ein  Geist  es  war,  der  sich  sein  Leben  lang  mühte,  „in 
das  Haus  des  Unrechts  die  Treppe  der  Menschenbildung  zu  bauen."  Wie  Person 
und  Erlebnis,  Erlebnis  und  Werk  zusammenhängen,  das  aufzuhellen,  ist  die  Auf- 
gabe aller  Biographie;  in  W.»Schäfers  Pestalozzibuch  wird  diese  Aufgabe  verständlich 
gelöst:  wir  sehen,  wie  sich  die  Folge  der  Begebenheiten  und  Personen,  die  „Un- 
brauchbarkeit"  für  das  Leben  und  die  höchste  Leistung  dafür,  der  Konflikt 
zwischen  Gewissen  und  Geschäft,  Mittel  und  Zweck  zu  der  sinnvollen  Lebens- 
einheit eines  Führers  der  Welt  webt.  Und  wir  werden  von  neuem  überzeugt 
von  der  leicht  vergessenen  Wahrheit,  daß  der  pädagogische  Genius  in  der  Liebe 
liegt,  nicht  in  der  Erkenntnis.  In  vieler  Hinsicht  ist  ein  solches  Lebensbild  erst 
wegeweisend  für  die  Erarbeitung  auch  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis. 

München.  Aloys  Fischer. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (August  Pries)  in  Leipzig. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher. 

(Aus  dem  psychologischen  Laboratorium  in  Hamburg) 
Von  ■William  Stern. 

Mit  3  Figuren  im  Text. 

Einleitung. 

1.  Sprachliche  Intelligenztests. 

I.  Bindewortergänzung.  IL  Bilderbogenbeschreibung.  III.  Tests  zur  Prüfung 
der  Kritikfähigkeit.  IV.  Begriffserklärungen.  V.  Der  Fabeltest.  VI.  Satz- 
bildung aus  Stichwörtern. 

2.  Sprachlose  Tests. 

I.  Einreihige  Ordnungen.  II.  Mehrdimensionale  Ordnungen.  III.  Logische 
Ordnungen.    IV.  Zuordnungstests. 

Einleitung. 

Als  die  Methoden  der  Intelligenzprüfung  von  Bin  et  und  anderen  aus- 
gebildet wurden,  stand  im  Vordergrund  des  Interesses  die  Feststellung 
intellektueller  Schwäche  auf  frühen  Stufen  der  Kindheit,  um  die  recht- 
zeitige Erkennung  und  angemessene  Unterbringung  unternormaler  Kinder 
zu  ermöglichen.  Zwar  wurden  die  Intelligenzprüfungen  auch  zu  anderen 
Zwecken  verwendet;  aber  es  überwog  doch  die  Rücksicht  auf  die  besonders 
Schwachen  und  auf  die  ersten  Schuljahre.  Die  Folge  war,  daß  die  Tests 
für  die  niederen  Entwicklungsstufen  der  Intelligenz  besonders  gründlich 
ausgearbeitet  und  durchgeprobt  wurden,  während  die  Aufgaben,  die  eine 
höhere  Denkbetätigung  verlangten,  stark  in  den  Hintergrund  traten.  So 
sind  auch  die  Staffelserien  Binets  und  seiner  Nachfolger  eigentlich 
brauchbar  nur  für  die  Intelligenzjahre  4 — 10,  während  die  für  11-,  12- 
und  15  jährige  bestimmten  Tests  zum  Teil  den  Eindruck  nachträglich 
angefügten  Plickwerkes  machen  und  den  Benutzer  recht  unbefriedigt  lassen. 

Eine  Beseitigung  dieses  Mangels  ist  nun  um  so  nötiger,  als  die  neueren 
praktischen  Bedürfnisse  immer  mehr  neben  der  Erkennung  der  früh- 
kindlichen und  der  zurückgebliebenen  Intelligenzen  auch  die  Intelligenz- 
diagnose der  höheren  Jugendjahre  und  der  besonders  Befähigten 
fordern.  Im  gegenwärtigen  Augenblick,  da  vielfach  Klassen  und  Schulen 
für  besonders  Begabte  gegründet  werden,  tritt  an  den  Psychologen  die 
Aufgabe  heran,  mitzuwirken  an  der  so  schwierigen  und  so  verantwortungs- 
vollen Auslese  der  dazu  geeigneten  Schüler.  Die  Beteiligung  der  Psychologie 
an  der  Berufsberatung,  bei  Aufnahmeprüfungen,  am  Jugendgericht,  an  der 
Jugendpflege  macht  brauchbare  psychodiagnostische  Hilfsmittel  für  die 
höheren   Jugendjahre   erwünscht.     So   sah   sich   z.   B.   das   hamburgische 

Zeitschrift  f.  pUdagog.  Psychologie.  5 


6ß  William  Stern 


psychologische  Institut  in  jüngster  Zeit  zweimal  vor  solche  Anforderungen 
gestellt:  einmal  wurde  von  der  Leitung  eines  Lehrerinnenseminars  der 
Wunsch  geäußert,  die  Aufnahmeprüfung  (die  aus  200  Bewerberinnen  nur 
die  25  geeignetsten  auswählen  sollte)  durch  eine  psychologische  Intelligenz- 
prüfung zu  ergänzen  —  hierüber  wird  an  anderer  Stelle  dieser  Zeitschrift 
berichtet  werden.  Sodann  ist  in  Hamburg  die  Schaffung  verschiedener 
Übergangsklassen  beabsichtigt,  durch  welche  gutbegabte  Volksschüler  nach 
abgeschlossenem  4.  Schuljahr  sowie  auch  Absolventen  des  8.  Schul- 
jahres von  der  Volksschule  zu  höheren  Ausbildungsgängen  übergeführt 
werden  sollen;  zur  Unterstützung  der  Auslese  sind  psychologische  Test- 
prüfungen dringend  erwünscht,  die  aber  genau  vorbereitet  sein  müssen. 
Das  Laboratorium  ist  zur  Zeit  mit  der  Ausarbeitung  und  Eichung  der 
Tests  beschäftigt. 

Im  Folgenden  seien  nun  einige  neue  Prüfungsmethoden  kurz  geschildert, 
die  sich  auf  schwerere  Aufgaben  beziehen  als  die  meisten  bisher  angewandten 
und  daher  in  der  einen  oder  anderen  Form  für  die  oben  genannten  ver- 
schiedenen Aufgaben  verwendet  werden  könnten.  Größtenteils  handelt  es 
sich  um  Testmethoden,  die  während  der  letzten  Jahre  unter  meiner  Leitung 
in  den  psychologischen  Seminaren  in  Breslau  und  Hamburg  ausgearbeitet 
worden  sind;  daneben  werden  auch  einige  soeben  von  anderen  Seiten  ver- 
öffentlichte Methoden  erwähnt  werden,  i) 

Bezüglich  der  in  Breslau  ausgebildeten  Methoden  liegen  die  Anfänge 
zum  Teil  schon  weit  zurück;  der  Krieg,  der  die  hoffnungsvoll  begonnenen 
Arbeiten  jählings  unterbrach,  und  der  frühe  Tod  eines  eifrigen  und  be- 
gabten Schülers,  des  Breslauer  Kandidaten  W.  Minkus,  der  einen  groß 
angelegten  Massenversuch  mit  neuen  Tests  durchgeführt  und  seine  Ver- 
arbeitung begonnen  hatte,  haben  bisher  eine  Veröffentlichung  unmöglich 
gemacht.  Nun  aber,  da  die  praktischen  Kulturaufgaben  gebieterisch  die 
Anwendung  neuer  Methoden  fordern,  entschließe  ich  mich,  einen  kurzen 
vorläufigen  Bericht  über  jene  Verfahrungsweisen  zu  veröffentlichen;  die 
ausführliche  Darstellung  bleibt  Berichten  in  der  Ztschr.  f.  angew.  Psycho- 
logie vorbehalten. 

Am  Hamburger  psychologischen  Laboratorium  habe  ich  im  Winter 
1916/17  und  Sommer  1917  seminaristische  Übungen  über  Intelligenzprüfung 
abgehalten.  Hierbei  bildete  sich  erfreulicherweise  ein  fester  Stamm  von  Mit- 
arbeitern und  Mitarbeiterinnen  aus,  welche  die  Ausarbeitung  und  Erprobung 
bestimmter  Tests  an  den  ihnen  zur  Verfügung  stehenden  Schulen  über- 
nahmen. Es  ist  später  aus  deren  Feder  eine  Reihe  von  monographischen 
Darstellungen  zu  erwarten;  auch  hier  kann  der  gegenwärtige  Aufsatz  nur 
eine  vorläufige  Übersicht  über  die  leitenden  Gesichtspunkte  gewähren. 

Die  Tests  werden  hier  noch  unabhängig  von  den  speziellen  praktischen 
Aufgaben  geschildert,  denen  sie  dienstbar  gemacht  werden.  Jede  solche 
praktische  Aufgabe  zeigt  ihr  besonderes  Gesicht  und  wird  deshalb  in  der 


^)  Die  in  meinem  Buch  „Die  Intelligenzprüfung  an  Bändern  und  Jugendlichen" 
(2.  Auflage  1916)  ausführlich  geschilderten  Methoden  werden  hier  natürlich  nicht 
wiederholt.  Es  kann  also  der  folgende  Bericht  als  Fortführung  und  Ergänzung 
der  dort  gegebenen  Methodendarstellung  gelten. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  67 

Zusammenstellung  der  Tests  zu  Serien,  in  den  Versuchsbedingungen,  in 
der  Bewertung  der  Testergebnisse,  in  der  Verbindung  der  experimentellen 
mit  der  beobachtenden  Methode  usw.  ihre  speziellen  Wege  gehen  müssen. 
Eine  derartige  besondere  Nutzanwendung  zeigt  die  schon  erwähnte  Auf- 
nahmeprüfung am  Lehrerinnenseminar,  über  die  in  diesem  Heft  berichtet 
wird.  Die  Schaffung  von  Serien  für  die  Begabtenauslese  wie  für  die  Be- 
rufsberatung wird  demnächst  in  Angriff  zu  nehmen  sein;  der  heutige  Be- 
richt dient  vor  allem  dazu,  einiges  Material  hierfür  bereit  zu  stellen. 

Allen  Mitarbeitern  an  den  Arbeitsgemeinschaften  der  Seminare  in  Breslau 
und  Hamburg,  die  —  zum  Teil  mit  hingebendem  Interesse  und  großem 
Zeitaufwand  —  an  der  Ausbildung  und  Verarbeitung  der  Methoden  mit- 
gewirkt haben,  sei  an  dieser  Stelle  herzlich  gedankt. 

Gegen  die  von  Binet  und  seinen  Nachfolgern  aufgestellten  Tests  wird 
mit  Recht   der  Vorwurf   erhoben,   daß   sie   nur   zum  Teil   die   eigentliche 
Intelligenz  treffen,  zum  Teil  aber  noch  vom  Schulwissen,  von  Gedächtnis- 
funktionen,  von   der  Geschicklichkeit,  von  der  Sprachfähigkeit   abhängig 
sind.     Die   höheren  Intelligenztests   müssen   nun,    soweit  irgend  möglich, 
gegen  solche  Einwände  geschützt  sein;  ihre  Lösung  muß  im  wesentlichen 
eine  echte  Denkleistung  sein,  bei  der  —  entsprechend  der  Definition  der 
Intelligenz   —   der  Prüfling  sich  mit  neuartigen  geistigen  Anforderungen 
in  sinnvoller  Weise  abzufinden  hat.    Man  muß  also  versuchen,  die  Tests 
so  zu  gestalten,  daß  sie  keiner  in  der  Schule  ausgeübten  Aufgabe  ähnlich 
sind  und   auch   nicht  positive,   von   Unterricht   oder  Umwelt  bestimmte 
Kenntnisse  fordern  (soweit  solche  nicht  —  wie  Lesen,  Schreiben,  Verständnis 
des  Wortlautes  der  Aufgabe  —  als  völlig  selbstverständlich  zu  gelten  haben). 
Diese  methodische  Forderung  ist  nie  ganz  vollkommen  zu  erfüllen,   und 
wir  müssen   uns   damit  begnügen,   wenigstens  eine  möglichst  große  An- 
näherung an  das  Ziel  zu  erreichen.     Besonders  schwer  ist  es  hierbei,  den 
Anteil  des  sprachlichen  Faktors  zu  bestimmen.    Denn  überall  da,  wo 
die  Aufgabe  vom  Prüfling  eine  sprachliche  Formulierung  seiner  Denkarbeit 
verlangt,  kann  eine  Unstimmigkeit  eintreten,  indem  bald  sprachliche  Un- 
beholfenheit oder  mangelnde  Sprachkultur  die  eigentliche  Intelligenzleistung 
nicht  recht  zur  Äußerung  kommen  lassen,  bald  eine  mehr  äußerliche  Sprach- 
gewandtheit eine  zu  hohe  Denkleistung  vortäuscht.    Immerhin  wird  gerade 
da,  wo  nicht  geläufige  Redewendungen  verwendet  werden  dürfen,  sondern 
eine  Anpassung  des  Ausdrucks  an  die  besondere  Aufgabe  nötig  ist,  eine 
ziemlich  hohe  Korrelation  zwischen  Denken  und  Sprechen  zu  erwarten  sein, 
wenigstens  dann,  wenn  es  sich  um  Individuen  einer  in  sich  einigermaßen 
homogenen  Bevölkerungsschicht  handelt.    Außerdem  ist  ja  die  sich  sprach- 
lich äußernde  Intelligenz  eine  im  Leben  so  wichtige  Eigenschaft,  daß  deren 
Prüfung  unbedingt  erforderlich  ist.     Andererseits  freilich  ergibt  sich  aus 
solchen    Betrachtungen,    daß    die    sprachlichen    Intelligenztests    ergänzt 
werden  müssen  durch  Tests  für  stumme  Intelligenzleistungen,  also 
solche,  bei  denen  die  Lösung  nicht  durch  mündlichen  oder  schriftlichen 
Ausdruck,   sondern   durch  Vollziehung  einer  überlegten  Handlung  zu  er- 
folgen  hat.     Diese   Gruppe    von   Prüfungsmitteln    ist  bisher  recht   stief- 


68  William  Stern 


mütterlich  behandelt  worden;  wir  werden  mehrere  solcher  stummen  Tests 
besprechen. 

Es  darf  freilich  nicht  unerwähnt  bleiben,  daß  der  praktischen  An- 
wendung sprachloser  Tests  gewisse  Grenzen  gesetzt  sind,  die  für  Sprach- 
tests nicht  in  gleichem  Maße  bestehen.  Letztere  sind  nämlich  fast 
immer  durch  schriftliches  Verfahren  zu  lösen  und  dadurch  im  Massen- 
oder Gruppenversuch  anwendbar,  während  bei  den  stummen  Tests  meist 
nur  der  Einzelversuch  in  Frage  kommt.  Denn  hier  ist  nicht  nur  das 
Endergebnis,  sondern  auch  das  individuelle  Verhalten  während  der 
Durchführung  der  geforderten  Handlung  von  Wichtigkeit,  und  dies  Ver- 
halten kann  im  Massenversuch  nicht  beobachtet  und  festgehalten  wer- 
den; außerdem  würden  sich  die  Prüflinge  hierbei  aufs  stärkste  gegen- 
seitig beeinflussen.  Diese  Grenze  ist  sehr  bedauerlich.  Denn  da  man 
sich  oft  aus  Gründen  der  Zeitersparnis  und  Bequemlichkeit  auf  schrift- 
liche Massenprüfungen  beschränken  wird,  so  werden  sprachlose  Tests 
nicht  in  wünschenswertem  Maße  zur  Geltung  kommen.  Ich  erblicke 
darin  eine  gewisse  Gefahr;  denn  die  Auslese  der  Begabten  oder  die 
Aufnahmeprüfung  mit  Hilfe  psychologischer  Methoden  ist  eine  so  ver- 
antwortungsvolle Aufgabe,  daß  man  sich  nicht  mit  einer  relativ  ein- 
seitigen —  nämlich  mit  Sprachfertigkeit  unlöslich  verbundenen  —  Fähig- 
keitsprüfung begnügen  sollte.  Die  stummen  Tests  geben  zum  Teil  über 
so  ganz  andersartige  Seiten  geistiger  Fähigkeit  Rechenschaft,  daß  für 
die  hierzu  erforderlichen  Einzelprüfungen  so  weit  als  irgend  möglich  Zeit 
und  Gelegenheit  geschaffen  werden  müßte. 

1.  Sprachliche  Intelligenztests. 

I.  Die  Bindewortergänzung. 

Eine  der  ältesten  Methoden  der  IP  ist  die  Ergänzung  von  Textlücken 
nach  Ebbinghaus.  Früher  wurden  wahllos  beliebige  Stellen  des  Textes 
ausgelassen;  doch  war  dadurch  die  Denkschwierigkeit  für  die  einzelnen 
Lücken  so  verschieden  groß,  daß  eine  exakte  Bemessung  der  Leistung 
nicht  möglich  war.  Man  ging  deshalb  dazu  über,  die  Ergänzung  be- 
stimmter Wortkategorien  zu  fordern.  A.  Mayer  ließ  stets  die  Verben  fort 
und  verlangte  somit,  daß  innerhalb  der  Gedankeneinheit  des  einzelnen 
Satzes  die  tragende  Handlung  richtig  erkannt  werde;  aber  diese  Aufgabe 
ist  für  das  höhere  Jugendalter  zu  leicht.  Weit  schwerer  ist  es,  das  lo- 
gische Verhältnis  zweier  Gedankeneinheiten  zueinander  richtig 
zu  erfassen;  und  da  dies  Verhältnis  durch  die  nebenordnenden  und  unter- 
ordnenden Konjunktionen  ausgedrückt  ist,  so  kam  Otto  Lipmann  auf 
den  Gedanken,  in  einem  zusammenhängenden  Text  nur  diese  Wörter  weg 
zulassen  und  vom  Prüfling  die  Ergänzung  zu  fordern.  Die  von  L.  ge- 
leitete Arbeitsgemeinschaft  für  exakte  Pädagogik  im  Berliner  Lehrerverein 
hat  einen  solchen  Text  1912  benutzt;  soeben  ist  eine  vorläufige  Mitteilung 
von  L.  darüber  erschienen.^) 

*)  Otto  Lipmann,  Die  Entwicklung  der  grammatisch -logischen  Funktionen. 
Zeitschrift  f.  angew.  Psychol.  XII,  S.  347—371. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  69 

Eine  Durchprüfung  des  mir  schon  früh  bekannt  gewordenen  Lipmannschen 
Textes  am  Breslauer  psychologischen  Seminar  führte  hier  zu  einem  syste- 
matischen Ausbau  der  Methode,  die  hauptsächlich  durch  W.  Minkus  ge- 
leistet wurde.  Hierbei  war  folgender  Gedankengang  maßgebend.  Durch 
die  Bindewörter  können  alle  Hauptgruppen  logischer  Denkbeziehungen 
überhaupt  dargestellt  werden;  sie  drücken  temporale,  kausale,  finale, 
steigernde,  kontrastierende  und  andere  Beziehungen  aus.  Um  nun  fest- 
zustellen, wie  die  Denkfähigkeit  des  Jugendlichen  sich  zu  den  verschiedenen 
Beziehungskategorien  verhält,  galt  es,  den  Text  so  zu  gestalten,  daß  alle 
Kategorien  darin  enthalten  sind  und  zwar  jede  mehr  als  einmal,  damit 
die  Lösung  nicht  nur  von  der  zufälligen  Konstellation  des  Wortes  im  Satz- 
zusammenhang abhinge.  M.  schuf  nun  einen  Text,  der  Jede  Kategorie  je 
zweimal  in  nebenordnenden  (Hauptsatz-)  Verbindungen  und,  wo  es  an- 
ging, auch  in  zwei  unterordnenden  (Nebensatz-)  Verbindungen  vorkommen 
ließ.  So  wird  z.  B.  für  die  „folgernde"  Satzverbindung  zweimal  die  Er- 
gänzung „so  daß",  zweimal  die  Ergänzung  „daher"  gefordert  usw.  Welche 
Schwierigkeiten  bei  der  Herstellung  eines  solchen  Textes  vorliegen,  kann 
man  sich  vorstellen;  doch  hat  M.  die  Aufgabe  ohne  allzu  große  Künstlich- 
keit gelöst.  M.  hat  mit  seinem  Text  einen  Massen  versuch  veranstaltet 
an  den  vier  oberen  Jahrgängen  von  Volksschulen  und  an  Fortbildungs- 
schulen und  zwar  bei  beiden  Geschlechtern  und  innerhalb  jedes  Geschlechts 
an  Schulen  aus  besseren  und  aus  schlechteren  sozialen  Schichten.  Somit 
ist  sein  Material  zu  vergleichenden  Untersuchungen  über  die  Alters-,  Ge- 
schlechts- und  soziale  Differenzierung  der  Denkleistung  vorzüglich  geeignet. 
Besonders  verdienstlich  ist  die  Heranziehung  der  Fortbildungsschulen;  ist 
doch  hierdurch  —  meines  Wissens  zum  erstenmal  —  die  psychologische 
Prüfung  der  Volksjugend  über  das  Volksschul alter  hinaus  fortgesetzt  worden. 

Minkus  hatte  die  Verarbeitung  dieses  Versuchs  in  ständiger  Aussprache 
mit  mir  eingeleitet;  als  besonders  schwierig  erwies  sich  die  Bewertung 
der  Ausfüllungen,  weil  hier  zwischen  der  ausgesprochen  zutreffenden  und 
der  zweifellos  falschen  Ausfüllung  eine  ganze  Stufenleiter  von  Möglichkeiten 
besteht.  Eine  Gruppe  von  Breslauer  Seminarteilnehmerinnen  war  unter 
seiner  Leitung  mit  der  Auswertung  beschäftigt,  als  Minkus  selbst  durch 
einen  unerwarteten  Tod  dahingerafft  wurde.  Aber  die  wertvolle  Arbeit 
des  so  früh  Verstorbenen  sollte  nicht  umsonst  getan  sein;  seine  Helferinnen 
führten  die  Auswertung  der  Lücken  in  pietätvoller  Treue  zu  Ende,  und 
ich  habe  nunmehr  das  ganze  Material  übernonamen,  um  es  statistisch  und 
psychologisch  zu  verarbeiten.  2) 

Aus  den  zurzeit  vorliegenden  Teilergebnissen  der  Lipmann'schen  wie  der 
Minkus'schen  Versuche  kann  bereits  so  viel  mit  Sicherheit  festgestellt  werden, 
daß  die  Fähigkeit,  den  Test  zu  lösen,  sich  erst  gegen  das  Ende  der  Volks- 
schulzeit zu  bemerkenswerter  Höhe  entwickelt,  daß  er  demnach  gerade 
für  die  Prüfung  von  12 — 16jährigen  in  Betracht  kommt.  Entsprechendes 
ergab  sich  auch,  als  der  Test  bei  der  Aufnahmeprüfung  an  einem  Lehre- 


')   Der  Bericht  wird  hoffentlich  in  nicht  allzu  ferner  Zeit  in  der  Zeitschrift  für 
angew.  Psychologie  erscheinen  können. 


70  William  Stern 


rinnenseminar  benutzt  wurde,  wo  sogar  noch  manche  viel  ältere  Bewerbe- 
rinnen eine  größere  Anzahl  von  Fehlern  begingen. i) 

Der  Minkus'sche  Text  ist  beträchtlich  schwerer  als  der  Lipmann'sche  und 
daher  für  höhere  Altersstufen  geeignet. 

Die  in  der  Einleitung  gemachten  Bemerkungen  über  die  Verbindung 
von  Denk-  und  Sprachfertigkeit  gelten  ganz  besonders  für  diesen  Test. 
Größere  oder  geringere  Sprachgewandtheit  und  vor  allem  Umfang  des 
Wortschatzes  spielen  zweifellos  bei  dem  Ausfall  eine  Rolle  —  was  be- 
sonders bei  Vergleichung  von  Prüflingen  verschiedener  sprachlicher  Kultur, 
z.  B.  von  Schülern  der  Volks-  und  der  höheren  Schule,  hervortritt.  Man 
wird  ihn  zu  eigentlichen  Intelligenzprüfungen  daher  nur  dort  benutzen 
können,  wo  die  Prüflinge  aus  einer  einigermaßen  gleichartigen  sozialen 
und  sprachlichen  Umwelt  stammen. 

Wir  geben  im  folgenden  den  Wortlaut  beider  Texte  und  die  geforderten 
Ausfüllungen  wieder. 

Der  Lipmann'sche  Text  lautet: 

,^ls  wir  am  Sonntag  morgen  aufwachten,  fragte  ich  gleich  meinen  Vater,  ob 
die  Sonne  scheint  (1)  ob  es  regnet.  (2)  das  Wetter  sehr  schön  war,  und  es  (3) 
regnete  (4)  schneite,  so  wollten  wir  einen  Ausflug  machen.  Ich  sprang  (5)  schnell 
aus  dem  Bett  und  zog  mir  Schuhe  (6)  Strümpfe  an.  Wir  mußten  uns  sehr  be- 
eilen, (7)  wir  den  Zug  noch  erreichten.  Beinahe  wären  wir  zu  spät  gekommen. 
(8)  wir  den  ganzen  Weg  bis  zum  Bahnhof  rannten.  (9)  der  Zug  abgegangen  war, 
fingen  wir,  (10)  wir  fuhren,  zu  singen  an.  Dann  stiegen  wir  aus  und  marschierten 
ab.  Die  Mutter  hatte  einen  Schirm,  (11)  nicht  der  Vater.  Nun  fing  es  an  zu 
regnen.  Die  Mutter  machte  ihren  Schirm  auf;  (12)  sie  wollte  nicht  naß  werden; 
(13)  hatte  sie  ihn  ja  auch  mitgenommen.  Aber  ich  und  mein  Vater,  die  wir  keine 
Schirme  hatten,  wurden  naß;  (14)  waren  wir  sehr  vergnügt.  Als  wir  angekommen 
waren,  durfte  ich  mit  meinem  Bruder  spielen;  (15)  unterhielten  sich  der  Vater 
und  die  Mutter  und  bestellten  etwas  zu  essen.  Als  das  Essen  kam,  sagte  die 
Mutter  zu  mir:  „  (16)  du  etwas  essen  willst,  so  mußt  du  dir  (17)  noch  die  Hände 
waschen."  Ich  wusch  mich  also;  (18)  die  Hände  waren  (19)  schmutzig,  (20)  sie 
nicht  ganz  sauber  wurden.  Dann  aßen  wir  und  gingen  wieder  zum  Bahnhof. 
Wir  waren  so  müde,  daß  wir  (21)  einschliefen,  (22)  wir  wieder  zu  Hause  waren. 
(23)  die  Eltern  schliefen  nicht,  obwohl  sie  (24)  müde  waren;  (25)  ich  am  nächsten 
Morgen  aufwachte,  hatte  ich  (26)  nicht  ausgeschlafen;  (27)  konnte  ich  in  der 
Schule  nicht  gut  aufpassen;  (28)  (29)  in  der  Pause  hatte  ich  Lust,  zu  spielen; 
am  liebsten  hätte  ich  geschlafen;  (30)  das  Turnen,  das  ich  sonst  so  gern  habe, 
machte  mir  diesmal  keine  Fr^de.  Ich  war  froh,  als  die  Schule  zu  Ende  war, 
und  ging  schnell  nach  Hause,  (31)  Mittagsbrot  (32)  essen;  (33)  schlief  ich  noch 
ein  Stündchen;  (34)  hätte  ich  die  Kaffeezeit  verschlafen." 

Die  Ziffern  waren  im  eigentlichen  Versuchstext  nicht  enthalten;  sie  ver- 
treten die  Lücken  im  Text  und  sollen  dem  Leser  nur  die  Feststellung  der 
Ausfüllungen  erleichtern.  Diese  lauten:  1  oder,  2  da,  3  weder,  4  noch,  5  daher 
6  und,  7  damit,  8  obgleich,  9  als,  10  während,  11  aber,  12  denn,  13  deshalb 
(darum),  14  trotzdem,  i5  inzwischen  (unterdessen),  16  wenn,  17  vorher,  18  aber, 
19  so,  20  daß,  21  schon,  22  bevor,  23  aber,  24  auch,  25  als,  26  noch,  27  deshalb, 
28  29  nicht  einmal,  30  auch,- 31  um,  32  zu,  33  vorher,  34  beinahe  (fast). 

Natürlich  müssen  auch  andere  Wörter,  wenn  sie  die  gleiche  Bedeutung  haben, 
als  richtig  gelten. 


*)  Vgl.  den  Bericht  von  Melchior  in  diesem  Heft. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  71 

Der  Minkus'sche  Text  lautet: 

Der  Freund  aus  der  Unterwelt. 

(Ein  chinesisches  Märchen).') 

In  einer  größeren  Stadt  Chinas  lebte  einst  ein  strebsamer  Beamter,  namens  Tien.    ') 

sein  Gehalt  für  ihn  und  seine  junge  Frau  kaum  ausreichte,  hätte  er  sich  gern  eine  besser  be- 
soldete Stellung  erworben.     ') er  hatte  wenig  Hoffnung,  die  hierzu  nötige  Prüfung 

zu  bestehen,  ^) ihm  nicht  geradezu  ein  Wunder  zu  Hilfe  kam.     Oft  war  er  nahe 

daran,  zu  verzweifeln,  *) er  sich  alle   erdenkliche  Mühe    gab,  wollte    in  seinem 

armen  Kopfe  nichts  haften  bleiben:  stets  vergaß  er  das  mühsam  Gelernte  *) über- 
haupt  wieder   völlig, er   behielt    es  nur   unklar    und  verworren    im  Gedächtnis. 

*) glaubten  seine  Freunde,  die  sich  '') für  diese  Prüfung  vorbereiteten, 

er  werde  nichts  erreichen,  und  redeten  oft  lange  auf  ihn  ein,  *) ihn  endlich  ein- 
mal von  der  Aussichtslosigkeit  seiner  Anstrengungen überzeugen.  Aber  ^) 

ihn  seinem  Vorhaben  abspenstig  ...#....  machen,  spornten  ihn  solche  Reden,  weit  entfernt, 
ihren  Zweck  zu  erreichen,  gerade  an,  und  gegen  aller  Erwarten  erreichte  er  trotz  seines 
schlechten  Gedächtnisses  auch  wirklich  sein  Ziel.  Er  bestand  schließlich  die  Prüfung 
*°)  .  .  .  .  als  Bester  von  allen  und  mit  großer  Auszeichnung.  Das  ist  eine  wunderliche  Ge- 
schichte.   ")....  ihr  mir  zuhören  wollt,  erzähle  ich  euch,  wie  es  sich  zugetragen  hat.    Aber 

glauben  werdet  ihr  mir  wohl  kaum,  so  seltsam  klingt  alles.       Und  doch  ist   '^) 

irgend    etwas    übertrieben hinzugedichtet.      Also    so   war   es:    In    einer    schönen 

Sommernacht  kehrten  Tien   und  seine  Freunde   einst  zu   später  Stunde  in  die  Stadt  zurück, 

*^ sie  einen  herrlichen  Abend  in  der  freien  Natur  verlebt  hatten.     **) 

sie  ihres  Weges  zogen,  erfüllten  sie  die  stillen  Straßen  mit  fröhlichem  Lachen  und  Gesang, 

**) sie  waren  draußen  bei  einem  Glase  Wein  in  eine  recht  ausgelassene  Stimmung 

geraten.    '*) jeder  Nachtwächter,  dem  sie  begegneten,  sie  zur  Ruhe  ermahnte,  ließen  sie  sich 

in  ihrem  lärmenden  Übermut  durch  sie  nicht  im  geringsten  hindern.  Plötzlich  aber  verstummte 
einer  nach  dem  andern  und  blickte  scheu  nach  dem  verrufenen  düsteren  Tempel  des  soge- 
nannten „unterweltlichen  Gerichts",  an  dessen  finster  drohendem  Riesenbau  sie  eben  vorüber 
mußten.     In  seinen  Kellern  wurden  die  Todesurteile  vollzogen,  und  zum  Überfluß  erzählte  man 

von  dem  Gebäude  auch  noch  die  unheimlichsten  Gespenstergeschichten,  *^) schon 

deshalb  jeder  gern  einen  großen  Bogen  um  diesen  Ort  des  Grauens  machte. 

**) am  hellen  Tage  sollte  es  hier  so  ganz  geheuer  sein,  und  jetzt  war  es  stock- 
dunkle Nacht.     Tien  aber  war  ein  unerschrockener  Mensch,  den  niemals  etwas  in  Furcht  jagen 

konnte:    Jetzt  fürchtete  er  sich  daher  '^) ,  und  plötzlich,  ^°) ihn  einer 

hindern  konnte,  stand  er  auf  den  Stufen  zum  Eingang  des  Tempels.  Alle  redeten  ihm  zu, 
lieber  mit  ihnen  ins  Gasthaus   „zur  trauten  Teetasse"  zu  gehen,  statt  hier  Unfug  zu  treiben. 

Er    solle   vernünftig  sein  und   herunterkommen,     ^i) stieg   er  währenddem  auch 

noch  die  letzten  Stufen  hinan  und,  weit  entfernt  zu  hören,  rief  er  ihnen  lachend  zu,  er  komme 

auchhin^^^) aber  wolle  er  sich  da  drinnen  ein  bißchen  umsehen.    ^^) sollten  sie 

daher  ruhig  dorthin   vorausgehen   und  einstweilen  Wein   bestellen.     Und   als  einer  meinte,  er 

werde  sich  ja   schön  hüten,  hineinzugehen,   setzte  er  noch  hinzu:    „^*) ihr  seht, 

daß  ich  wirklich  drin  gewesen  bin,  werde  ich  euch  den  ,, Schreiber  Lu"  mitbringen!"  Mit  dem 
Schreiber  Lu  meinte  er  ein  lebensgroßes  Götzenbild,  das  allen  wegen  seiner  furchtbaren  Häß- 
lichkeit bekannt  war.    Bei  seinen  Worten  winkte  Tien  seinen  Freunden  noch  einmal  lustig  zu, 

**) verschwand  er  in  dem  Dunkel  des  hohen  Tores.    Die  übrigen  gingen  in  die 

„traute  Teetasse"  und  saßen  bald  fröhlich  beim  Weine.  Nach  einer  Weile  erhob  sich  der  reiche 
Li    und   bat   bedeutungsvoll   um  Ruhe.      In   freudiger  Erwartung  wandte    sich  alles    ihm   zu, 

**) Li   so    umständlich  tat,   gab   er  gewöhnlich   etwas    zum  Besten.     Und  richtig: 

*') er   sich  mehrmals  wichtig  geräuspert  hatte,  verkündete  er  feierlich,  er  wolle 

die  ganze  Zeche  bezahlen,  ^^) Tien  sein  Wort  wirklich  halte.     Habe  er  aber  bloß 

geprahlt,  dann  solle  er  zur  Strafe  dafür  ^^) ihren  ganzen  Wein  bezahlen 

wenigstens  aus  seinem  eigenen  Keller  ein  paar  Flaschen  herausrücken.  In  diesem  Augenblicke 
flog  plötzlich  die  Tür  auf,  und  herein  keuchte  Tien,  mit  der  großen  schweren  Tempelfigur  auf 
dem  Rücken.  Jählings,  ^'') die  Gläser  wie  aufgescheuchte  Frösche  durcheinander- 
hüpften,   stieß    er    zunächst    seine    Last    mit    lautem    Krach     mitten    auf    den    Tisch    nieder. 

')  Nach  einem  Stücke  der  Sammlung  chinesischer  Märchen  von  Gustav  Gast:  „So  war  es!" 
(Pien  pa!)    Verlag:  Herm.  J.  Meidinger-Berlin. 


72  William  Stern 


^') schenkte  er  sich  zuerst  rasch  ein  Glas  Wein  ein,  das  er  hastig  hinunterstürzte, 

^^) er  von  der  Anstrengung   heftigen  Durst    bekommen    hatte.      ^^) 

starrten  die  andern  zunächst  lange,  wie  gelähmt  vor  Schreck  und  Entsetzen,  ununterbrochen 
auf  den  giftgrün  bemalten,  unheimlichen  Gast  in  ihrer  Mitte,  der  sie  mit  seinen  roten  Glotz- 
augen  tückisch  anfunkelte.     3*) ihnen  Mut machen,  stieg  Tien  zu 

ihm  hinauf  und  bot  ihm  übermütig  auch  einen  Weinbecher  an.  Da  aber  durch  die  Erschütterung 
der  bewegliche  Kopf  ins  Wackeln  kam,  war   die  Wirkung   eine  ganz   unerwartete.     Die  ganze 

Gesellschaft  schrie  entsetzt  auf,  ^') das  von  ihm  erhoffte  Gelächter erheben,  und 

stob   in  wilder  Flucht  zur  Tür  hinaus,  weit  entfernt,   auf  Tiens   beruhigende  Worte   zu  hören. 

^^) soviel  Zeit  nahmen  sie  sich,  ihre  Hüte  und  Stöcke  aufzuraffen,  sondern  ließen 

alles  hängen  und  stürzten  so  davon.     Über  ihre   Furcht  lachend,  verließ   nun   auch  Tien  das 

Gasthaus,   ^') aber  stellte    er  vorsichtigerweise  die  Figur  hinter    einen  Vorhang, 

^*) sie  nicht  noch  anderen  einen  ebensolchen  Schrecken  einjagte.  Zu  Haus  an- 
gelangt, trat  er,  noch  immer  lächelnd,  in  sein  Arbeitszimmer,  als  ihn  jählings  ein  eisiger 
Schreck  durchfuhr:  Mitten  in  der  Stube  stand  da  im  fahlen  Mondlicht:  der  „Schreiber  Lu". 
Und  plötzlich  fing  die  Figur  an,  sich  langsam  zu  bewegen,  gerade  auf  ihn  zu.  Da  vermochte 
er  vor  Grauen  sich  ^'^) von  der  Stelle  zu  rühren ein  Wort  hervorzu- 
bringen. Glaubte  er  doch  bestimmt,  Lu  werde  ihn  nun  beim  Kragen  nehmen  und  ihm  kurzer- 
hand den  Hals  umdrehen.     **') begann  da  dieser,  mit  einem  Male,  weit   entfernt 

von  solcher  Gewalttat,  wider  Erwarten  ganz  gutmütig  zu  lachen,   sprach  ihm   *') 

mit  freundlichen  Worten  Mut  zu.     ^^) konnte  der  sonst  so  mutige  Tien  nur  sehr 

langsam  seine  Furcht  überwinden.     ^^) auch  für  den  Mutigsten  ist  es  schließlich  eine  heikle 

Geschichte,  sich  in  tiefer  Nacht  mit  lebendig  gewordenen  Tempelfiguren  zu  unterhalten.  Er 
mußte  nun  Wein   holen  und  mit  Lu  anstoßen.     „Deine  unerschrockene  Tat",   sagte  dieser   zu 

ihm,  „hat  mir  gefallen,  imd  ich  möchte  sie  gern  belohnen.     ''") .   du  irgend  einen 

Wunsch  auf  dem  Herzen  hast,  will  ich  ihn  dir  gern  erfüllen,  soweit  es  in  meiner  Macht  steht !" 
Da  dachte  Tien  an  die  bevorstehende  Prüfung  und  klagte  dem  neuen  Freund  sein  Leid.  Frei- 
lich, fügte  er  hinzu,  helfen  könne  ihm  da  kein  Mensch,  und  Lu  werde  es  wohl  *^) 

können.     Der  meinte,    er  werde    sich  die   Sache  beschlafen   und  ließ    sich   auf    das    Ruhebett 

nieder,  und  an  seiner  Seite  befahl  erdarauf  Tien,  sich ''^) hinzulegen.     Der  schlief  auch  bald 

ein,  *^) ihm  alle  Müdigkeit  vergangen  war.     Nach  einer  Weile  erwachte  er  von  einem  leisen 

Stich  im  Kopfe  und  sah  Lu  mit  einem  blutigen,  spitzen  Messer  in  der  Hand  neben  sich  sitzen. 
Er  glaubte  zuerst,  Lu  habe  es  sich  anders  überlegt,   und   es   solle   ihm   nun  doch  noch  an  den 

Kragen  gehen.     ^^) begann  er  nun  sofort   aus  Leibeskräften  und  voller  Entsetzen 

zu  schreien,  worüber  Lu  jedoch  herzlich  lachen  mußte.     „Sei  doch  nur  still",  sagte  er  zu  ihm, 

ich    habe  dir    ja    bloß    ein    besseres    Gehirn    eingesetzt,    '*^) du    in    friedlichem 

Schlummer  lagst.  Nun  wirst  du  dir  alles  ganz  mühelos  merken  und  infolgedessen  eine  vor- 
zügliche Prüfung  machen.     Jetzt  aber  lebe  wohl!     Ich  muß  rasch  in  meinen  Tempel  zurück, 

^°) die  Sonne  völlig  aufgeht!''     Weg  war  er,  und  Tien  glaubte  zu  träumen.   Aber 

schon  am  nächsten  Tage  merkte  er,  wie  ausgezeichnet  das  neue  Gehirn  arbeitete.  Er  behielt 
sich  alles  spielend,  und  so  kam  es,  daß  er  die  gefürchtete  Prüfung  als  Bester  bestand. 

Bei  diesem  Text  waren  die  Lückennummem  auch  im  Original  mitgedruckt. 

Die  geforderten  Ausfüllungen  lauten  : 

1  da,  2  aber,  3  wenn,  4  denn  obgleich,  5  entweder  —  oder,  6  daher,  7  gleichfalls,  8  um 
—  zu,  9  anstatt  —  zu,  10  sogar,  11  wenn,  12  weder  —  noch,  13  nachdem,  14  während,  15  denn, 
16  obgleich,  17  sodaß,  18  nicht  einmal,  19  ebensowenig,  20  ehe,  21  statt  dessen,  22  vorher, 
23  währenddessen,  24  damit,  25  dann,  26  denn  wenn,  27  nachdem,  28  wenn,  29  entweder  — 
oder,  30  sodaß,  31  dann  (hierauf),  32  da  (weil),  33  währenddessen,  34  um  —  zu,  35  anstatt 
zu,  36  nicht  einmal,  37  vorher,  38  damit,  39  weder  —  noch,  40  statt  dessen,  41  sogar, 
42  trotzdem,  43  denn,  44  wenn,  45  ebensowenig  fauch  nicht),  46  auch  (ebenfalls),  47  obgleich, 
48  daher,  49  während,  50  ehe. 

Nach  dem  gegenwärtigen  Stand  unserer  Berechnungen  aus  dem  Min- 
kus'schen  Versuch  läßt  sich  wenigstens  die  folgende  Tabelle  aufstellen. 
In  ihr  sind  die  Ergebnisse  von  4  Klassenstufen  enthalten  (die  beiden 
oberen  Klassen  der  Volksschule  und  die  Unter-  und  Mittelstufe  der  Fort- 
bildungsschule)   und   zwar   getrennt   einerseits    nach    den    Geschlechtern, 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher 


73 


andererseits  nach  den  Schulleistungen.  Jede  Ziffer  ist  aus  den  Leistungen 
von  je  8  Prüflingen  abgezogen.  Die  Ziffern  drücken  aus:  wieviel  Prozent 
der  Lücken  richtig  ausgefüllt  sind  („Treffer"),  und  bei  wievielen  die  Aus- 
füllung gänzlich  unterblieben  ist  („Auslassungen").  Die  übrigen  hier  fort- 
gelassenen Kategorien  (halb  richtige,  fragliche,  falsche  Ausfüllungen)  sind 
nur  mit  relativ  kleinen  Prozentsätzen  vertreten  und  zeigen  auch  keine 
eindeutigen  Unterschiede  nach  Altersstufen  und  Schulleistungen. 


Volksschule 

Fortbildungsschule 

Klasse  11 
gute   schlechte 

Klasse  I 
gute   schlechte 

Unterstufe 
gute   schlechte 

Mittelstufe 
gute   schlechte 

Weiblich 

Treffer 

Auslassungen   .  . 

4972% 
17% 

29% 
42% 

6572% 
10% 

3873% 
2172% 

70% 

9V2% 

513/4% 

20  7»% 

62% 

15% 

56  72% 
19  72%, 

Männlich 

Treffer 

Auslassungen   .  . 

47% 
18% 

34% 
40% 

68% 
7% 

46% 
18  74  % 

55% 

123/4% 

45% 
28% 

6372% 

1572% 

5172% 

22% 

Die  Tabelle  zeigt:  1.  Eine  besonders  starke  Zunahme  der  Leistungen 
(Vermehrung  der  Treffer,  Verringerung  der  Auslassungen)  findet  von  der 
TL.  zur  L  Volksschulklasse  statt,  während  bei  den  Fortbildungsschülern 
keine  eindeutige  Steigerung  der  Leistungen  zu  bemerken  ist  (zum  Teil 
sogar  eine  Abnahme!).  2.  Der  Unterschied  der  „guten"  und  „schlechten" 
Schüler  ist  sehr  bedeutend.  Er  fehlt  auf  keiner  Jahresstufe,  ist  aber  am 
weitaus  stärksten  auf  den  beiden  oberen  Volksschulstufen.  So  haben  in 
Klasse  II  die  guten  Schülerinnen  fast  doppelt  soviel  Treffer  wie  die 
schlechten  Schülerinnen,  dagegen  nicht  einmal  halb  soviel  Auslassungen 
wie  diese.  Zwischen  guten  und  schlechten  Knaben  ist  der  Unterschied 
der  Treffer  nicht  ganz  so  groß,  aber  noch  bedeutend  genug,  der  der  Aus- 
lassungen ebenso  groß  wie  bei  den  Mädchen.  Die  schlechten  Schüler  der 
I.  Klasse  stehen  den  guten  der  11.  Klasse  bei  den  Knaben  gleich,  bei  den 
Mädchen  sind  sie  noch  weiter  hinter  diesen  zurück.  Nach  diesen  Er- 
gebnissen liefert  also  der  Minkus'sche  Lückentext  für  Schüler 
des  14.  Lebensjahres  besonders  charakteristische  Ausschläge. 


n.  Bilderbogenbeschreibung. 

Die  Inhaltsangabe  eines  vorgelegten  Einzelbildes  gehört  zu  den  wichtigsten 
Bestandteilen  der  Binetschen  Serie,  da  hier  das  Verhalten  verschiedener 
Intelligenzstufen  gegenüber   dem  gleichen  Reizkomplex  besonders  deutlich 


74  William  Stern 


in  die  Erscheinung  tritt.  Erhöht  wurde  die  Brauchbarkeit  dieses  Tests 
durch  Bobertag,  der  an  die  Stelle  der  ziemlich  nichtssagenden  Binetschen 
Bilder  solche  mit  einer  scharfen  Pointe  setzte;  die  Auffassung  dieses  poin- 
tierten Bildzusammenhanges  soll  vom  9jährigen  auf  äußeren  Anstoß  (pro- 
vozierte Bilderklärung),  vom  11jährigen  ganz  aus  eigenem  Antrieb  geleistet 
werden  (spontane  Bilderklärung),  während  die  bloße  Aufzählung  von 
Gegenständen  für  den  3jährigen,  die  Nennung  der  Handlungen  einzelner 
Bildpersonen  für  den  6jährigen  charakteristisch  ist. 

Die  Fortbildung  dieses  Tests  zu  noch  höheren  Intelligenzanforderungen 
erschien  nun  dadurch  möglich,  daß  man  an  die  Stelle  des  einen  Bildes 
eine  Bilderreihe  setzte,  die  eine  in  sich  zusammenhängende  pointierte 
Handlung  darstellt.  Wie  bei  der  Bindewortergänzung  soll  also  auch  hier 
nunmehr  von  der  Auffassung  einer  einzelnen  Gedankeneinheit  zur  Ver- 
knüpfung mehrerer  Einheiten  übergegangen  werden. 

Als  geeignetes  Prüfungsmaterial  bieten  sich  manche  Münchner  Bilder- 
bogen dar,  in  denen  eine  fortlaufende  Geschichte  illustriert  ist;  denn  diese 
sind  der  jugendlichen  Auffassungsfähigkeit  angepaßt,  setzen  meist  kein  be- 
sonderes positives  Wissen  voraus  und  besitzen  eine  Pointe.  Von  solchen 
Bilderbogen  wird  der  gedruckte  Text  fortgeschnitten;  der  Prüfling  hat 
nun  selbst  Inhalt  und  Bedeutung  der  dargestellten  Handlung  mündlich 
oder  schriftlich  wiederzugeben. 

Vorversuche  mit  Bilderbogen  wurden  bereits  seit  ungefähr  1910  im 
Breslauer  Seminar  von  Bobertag  und  Moskiewicz  gemacht,  die  aber  nicht 
veröffentlicht  worden  sind.  Im  Winter  1911/12  veranstaltete  die  von  mir 
beratene  psychologische  Arbeitsgemeinschaft  des  Breslauer  Lehrervereins 
einen  Massenversuch,  bei  dem  u.  a.  auch  ein  Bilderbogenexperiment  an- 
gewandt wurde.  Die  Lehrergruppe  kam  selbst  nicht  zur  Ausarbeitung 
der  Ergebnisse,  doch  wurde  ein  Teil  des  Materials  für  die  im  Jahre  1913 
in  Breslau  stattfindende  Ausstellung  zur  vergleichenden  Jugendkunde  der 
Geschlechter  von  Studenten  meines  Seminars  provisorisch  bearbeitet, 
worüber  ganz  kurz  in  dem  Ausstellungskatalog  berichtet  ist.i)  Erneut 
wurde  dann  der  Test  benutzt  von  W.  Minkus,  der  ihn  in  seinem  Massen- 
versuch an  denselben  Volks-  und  Fortbildungsschülern  prüfte,  die  er  auch 
dem  Bindeworttest  unterworfen  hatte.  M,  kam  nur  noch  dazu,  ein  Schema 
der  Wertung  für  die  erzielten  Niederschriften  aufzustellen;  jetzt  ist  das 
Material  dem  Hamburger  Seminar  überwiesen  worden  und  wird  von  einem 
Seminarteilnehmer  bearbeitet. 

Im  Herbst  1916  ist  dann  der  Bilderbogentest  bei  der  mehrfach  erwähnten 
Aufnahmeprüfung  zum  Lehrerinnenseminar  mit  verwandt  worden,  worüber 
Herr  Penkert  in  diesem  Heft  berichten  wird.  Ferner  fand  ein  Massen- 
versuch an  sieben  Klassen  einer  höheren  Mädchenschule  in  Hamburg  statt. 

Bei  näherer  Prüfung  der  Münchner  Bilderbogen  stellte  es  sich  doch  heraus, 
daß  die  Auswahl  der  für  unseren  Zweck  geeigneten  Blätter  nicht  leicht  ist; 
bald  bot  der  Inhalt,  bald  die  Zeichnung  allerlei  Bedenken.    Das  Idealste 

')  Die  Ausstellung  zur  vergleichenden  Jugendkunde  der  Geschlechter  auf  dem 
3.  Kongreß  für  Jugendbildung  und  Jugendkunde  in  Breslau  im  Oktober  1913. 
Arbeiten  des  Bundes  für  Schulreform  Nr.  7.    Teubner  1913.     S.  7—10. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher 


76 


76  William  Stern 


wäre  zweifellos,  von  einem  geschickten  Zeichner  eigens  Bilderserien  her- 
stellen zu  lassen,  die  von  vornherein  den  psychologischen  Absichten  an- 
gepaßt sind;  dann  sind  auch  exakte  Abstufungen  der  Schwierigkeit  möglich. 
Zunächst  aber  müssen  wir  uns  mit  dem  vorhandenen  Material  begnügen, 
und  da  stellten  sich  doch  einige  als  ganz  brauchbar  heraus.  Bei  sämt- 
lichen oben  erwähnten  Versuchen  wurde  der  Bilderbogen  „Das  Wieder- 
sehen"!) angewandt,  den  wir  in  verkleinerten  Massen  wiedergeben;  außer- 
dem verwandte  W.  Minkus  den  Bilderbogen  „Der  sparsame  Hausvater". 
„Das  Wiedersehen"  ist  für  die  höheren  Volksschuljahrgänge  eigentlich 
etwas  zu  leicht,  wenigstens  was  die  entscheidende  Leistung,  das  Verständnis 
des  Zusammenhangs  angeht  2);  feinere  Intelligenzbekundungen  allerdings 
—  wie  Reflexionen  über  die  „Moral"  der  Geschichte,  über  das  Verhältnis 
von  Schuld  und  Strafe,  ferner  Deutungen  von  den  dargestellten  Ausdrucks- 
bewegungen auf  die  seelischen  Eigenschaften  und  Verhaltungsweisen  der 
handelnden  Personen,  ja  auch  der  Pferde  —  zeigen  gerade  innerhalb  der 
Altersstufen  von  10 — 14  Jahren  so  deutliche  Fortschritte,  daß  hieraus  sehr 
wohl  Schlüsse  auf  die  geistige  Entwicklungsstufe  gezogen  werden  können. 

Neben  der  eigentlichen  Intelligenz  aber  sind  gerade  bei  diesem  Test 
noch  außerordentlich  viel  andere,  den  Pädagogen  und  Psychologen  inter- 
essierende Funktionen  feststellbar:  die  Beobachtungsfähigkeit,  die  Phantasie, 
die  sprachliche  Ausdrucksfähigkeit;  auf  diese  Vielseitigkeit  weist  besonders 
der  Bericht  des  Herrn  Penkert  über  die  Aufnahmeprüfung  im  Lehrerinnen- 
seminar hin. 

Durch  verschiedene  methodische  Mittel  ist  es  möglich,  den  Test  schwerer 
zu  gestalten,  so  daß  er  für  die  eigentliche  Intelligenzprüfung  höherer  Jugend- 
jahrgänge noch  geeigneter  wird.  Dies  kann  geschehen  durch  folgende 
Mittel:  1.  Auswahl  von  Bilderbogen  schwierigeren  Inhalts;  2.  Auslassung 
einzelner  Zwischenbilder,  so  daß  der  Beschauer  wichtige  Phasen  der  zu- 
sammenhängenden Handlung  ergänzen  muß  (Anklang  an  den  Textlücken- 
versuch); 3.  Portlassung  nicht  nur  des  Textes,  sondern  auch  der  Über- 
schrift; Aufforderung,  diese  selbst  kurz  und  treffend  zu  formulieren  (so 
wurde  bei  der  Aufnahmeprüfung  verfahren);  4.  Aufforderung,  die  all- 
gemeine „Moral"  der  Geschichte  zu  finden  (Anklang  an  den  unten  zu 
besprechenden  Fabeltest). 

Eine  ganz  andersartige  Benutzung  des  Bilderbogens  zu  einer  „stummen" 
Intelligenzprüfung  findet  später  Besprechung. 

Nebenbei  sei  bemerkt,  daß  der  Test  der  Bilderbogenbeschreibung,  ab- 
gesehen von  seiner  Bedeutung  zu  Zwecken  der  Intelligenzprüfung,  in  der 
Lehrerschaft  auch  pädagogisches  Interesse  erweckt  hat.  Es  scheint, 
daß  hier  eine  neue  Art  des  Aufsatzthemas  gefunden  ist,  die  so 
manche  bei  anderen  Themenformen  weniger  beanspruchten  seelischen  Funk- 
tionen des  Schülers  in  Bewegung  setzt  und  zugleich  dem  Lehrer  neue 
Einblicke  in  die  Schülerindividualitäten  gewährt. 


*)  Münchner  Bilderbogen  Nr.  915. 

2)  Dies  geht  schon    aus   der   vorläufigen  Tabelle   im  Ausstellungskatalog  S.  9 
hervor. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  77 

Das  Versuchsverfahren  ist  das  folgende: 

DerBilderbogen  wird  zerschnitten  und  die  Bilder  werden  ohne  Text  in  richtiger 
Abfolge  in  zwei  bis  drei  Reihen  auf  Pappe  geklebt.  Jeder  Prüfling  erhält 
(auch  im  Massenversuch)  ein  Blatt  für  sich.  Er  hat  es  mit  der  Bildseite  nach 
unten  vor  sich  hinzulegen,  bis  die  Anweisung  seitens  des  Versuchsleiters 
erfolgt  ist.  Im  Minkus'schen  Massenversuch  wurden  die  Schüler  darauf  hin- 
gewiesen, daß  es  sich  nicht  um  einen  „Schulaufsatz"  im  gewöhnlichen 
Sinn  handle,  daß  der  Klassenlehrer  die  Niederschrift  nicht  zu  sehen  be- 
komme und  daß  es  nichts  schade,  wenn  Fehler  begangen  würden.  Der 
Wortlaut  der  Aufforderung  lautete:  „Seht  Euch  den  Bilderbogen  erst 
ordentlich  an  und  dann  schreibt  die  ganze  Geschichte,  die  darauf  dar- 
gestellt ist,  einmal  auf  —  alles,  was  Ihr  davon  zu  erzählen  wißt  und  so, 
wie  Ihr  es  am  schönsten  findet."  Über  die  etwas  anders  lautende  In- 
struktion bei  der  Hamburger  Aufnahmeprüfung  berichtet  Herr  Penkert. 

Als  Dauer  des  Versuchs  werden  wohl  40—45  Minuten  stets  genügen. 
Beim  Massenversuch  muß  dafür  gesorgt  werden,  daß  keine  Verbindung 
zwischen  den  Schülern  besteht.  Minkus  fand  hierfür  den  —  auch  für 
andersartige  Versuche  sehr  zu  empfehlenden  —  Ausweg,  daß  er  zwei 
verschiedene  Bilderbogen  benutzte;  diese  werden  so  verteilt,  daß  die 
nebeneinander  sitzenden  Schüler  stets  verschiedene  Themen  zu  bearbeiten 
hatten. 

m.  Tests  zur  Prüfung  der  Kritikfähigkeit. 

Daß  das  Kritisieren  eine  ausgesprochene  Intelligenzleistung  darstellt,  ist 
schon  stets  bemerkt  worden.  So  unsympathisch  derjenige  Mensch  sein 
mag,  dessen  Intelligenz  sich  vorwiegend  im  Herausfinden  von  Mängeln 
und  Schwächen  bekundet,  so  ist  es  doch  zweifellos,  daß  innerhalb  der 
Gesamtheit  geistiger  Fähigkeiten  auch  diese  ihren  Platz  haben  und 
deshalb,  wenn  möglich,  auch  in  einer  Intelligenzprüfung  festgestellt  werden 
muß.  Das  Kritisieren  ist  eine  höhere  Stufe  des  Verstehens;  denn  jetzt 
genügt  es  nicht,  das  Gegebene  in  seinem  positiven  Inhalt  aufzufassen; 
man  muß  es  auch  messen  an  einer  im  Bewußtsein  bereit  liegenden  Norm, 
die  sich  in  dem  dargebotenen  Stoff  nicht  befriedigt  findet. 

Bei  Intelligenzprüfungen  kann  die  Kritikfähigkeit  in  drei  verschiedenen 
Entwicklungsstufen  festgestellt  werden. 

Ihre  einfachste  Leistung  liegt  dort  vor,  wo  die  Kritik  als  Reaktion 
auf  einen  einfachen  Reiz  verlangt  wird;  es  ist  das  Bemerken  einer 
einzelnen  Absurdität.  Der  Reiz  kann  in  einer  sprachlichen  Formulierung 
oder  einer  bildlichen  Darstellung  bestehen,  die  einen  Widersinn  enthält;  der 
Prüfling  wird  befragt:  kann  man  so  sagen?  bzw.:  ist  an  dem  Bilde  etwas 
nicht  richtig? 

Höher  steht  die  geforderte  Leistung  schon  dort,  wo  die  zu  kritisierenden 
Reize  eingestreut  sind  in  einen  größeren  textlichen  oder  bildlichen  Zu- 
sammenhang; es  wird  dann  nur  die  allgemeine  Aufgabe  gegeben,  die  zu 
bemängelnden  Widersinnigkeiten  herauszufinden.  War  im  ersten  Falle 
durch  den  Reiz  schon  die  eindeutige  Einstellung  der  Aufmerksamkeit  auf 
die  darin  enthaltene  Absurdität  gegeben,   so  muß  im   zweiten  Fall  bei 


78  William  Stern 


jedem  Gliede  des  größeren  Reizzusammenhangs  erst  die  Entscheidungs- 
frage gelöst  werden:  liegt  hier  eine  Absurdität  vor  oder  nicht?  Erst  nach 
deren  Entscheidung  kann  _  zur  näheren  Feststellung  ihres  Inhalts  über- 
gegangen werden.  Es  ist  also  ein  Verhalten  ähnlich  dem  des  Lehrers, 
der  eine  schriftliche  Arbeit  zu  korrigieren  hat. 

Die  höchste  Stufe  erreicht  die  Kritikfähigkeit  dort,  wo  sie  gar  nicht 
mehr  als  Reaktion  auf  eine  dahingehende  Anforderung,  sondern  ganz 
spontan  bei  andersartigen  Aufgaben  arbeitet.  Es  sei  z.  B.  die  Aufgabe 
gegeben,  irgendeine  Darstellung  (über  ein  gesehenes  Bild,  ein  Erlebnis, 
ein  gelesenes  Werk)  zu  liefern;  der  kritische  Geist  wird  sich  dann  nicht 
mit  bloßer  Berichterstattung  begnügen;  er  wird  von  selbst  darauf  kommen, 
Mängel  und  Unstimmigkeiten  anzumerken  oder  auch  seine  subjektive 
Mißfälligkeit  über  diese  oder  jene  Einzelheit  auszudrücken. 

Die  bisher  bei  Intelligenzprüfungen  geforderten  Kritikleistungen  waren 
fast  ausschließlich  solche  der  ersten  Stufe.  Beispiele  hierfür  sind  die 
bekannten  Sätze  von  Binet:  „Ich  habe  drei  Brüder:  Paul,  Ernst  und  ich." 

—  „In  einem  Walde  fand  man  eine  Leiche,  die  in  18  Teile  geteilt  war; 
man  nimmt  an,  daß  Selbstmord  vorliegt."  Beispiele  widersinniger  Bilder: 
Darstellung  einer  Baumallee,  in  der  ein  Baum  vom  Sturm  ganz  zur 
Seite  gebogen  erscheint,  während  die  anderen  Bäume  gerade  stehen.  Dar- 
stellung einer  Bäuerin,  die  an  einem  über  die  Schulter  gelegten  Querholz 
auf  der  einen  Seite  einen  Eimer  trägt,  während  an  der  anderen  Seite 
nichts  hängt;  dennoch  steht  das  Querholz  wagerecht.  Derartige  eindeutige 
Absurditätenreize  sind  für  unsere  Zwecke  zu  leicht,  i) 

Kritikleistungen  der  dritten  Stufe,  also  ganz  spontane  Äußerungen 
kritischen  Sinnes,  sind  zuweilen  mit  überraschender  Deutlichkeit  bei  Auf- 
satztests hervorgetreten,  so  z.  B.  bei  der  oben  besprochenen  schriftlichen 
„Bilderbogenbeschreibung".  Hier  fanden  gewisse  Versuchspersonen  an  der 
Handlung,  an  den  dargestellten  Menschen,  auch  an  der  Technik  oder 
Ästhetik  der  Zeichnungen  allerlei  auszusetzen,  wobei  es  sich  bald  um 
objektiv  berechtigte  Einwände,  bald  um  subjektive  Geschmacksäußerungen, 
zuweilen  um  bloße  Nörgelsucht  handelte.  Aber  eben  diese  Willkür  ganz 
spontaner  Kritikleistungen  macht  es  schwer,  sie  als  Bekundungen  der 
Intelligenzhöhe  aufzufassen.  Sie  sind  mehr  Kennzeichen  einer  kritischen 
Neigung   —  und  als  solche  differentiellrpsychologisch  gewiß  interessant 

—  als  einer  Kritikfähigkeit;  auf  diese  aber  kommt  es  uns  bei  der  In- 
telligenzprüfung in  erster  Reihe  an. 

Wir  werden  deshalb  versuchen  müssen,  Kritikleistungen  der  zweiten 
Stufe  herbeizuführen:  also  das  Herausfinden  von  Stellen,  die  objektive 
Kritik  erfordern,  aus  einem  größeren  Ganzen.  Es  darf  hierbei  nicht  dem 
subjektiven   Belieben   überlassen   bleiben,   ob   man   kritisiert   oder  nicht; 


»)  Mit  Recht  ist  den  Binetschen  Absurditäten  der  Vorwurf  gemacht 
-worden,  daß  sie  zum  Teil  geschmacklos  und  blutrünstig  sind  —  wofür  auch 
oben  ein  Beispiel  gegeben  ist.  Soeben  ist  eine  ganze  Reihe  anderer  widersinniger 
Sätze,  auf  welche  dieser  Vorwurf  nicht  zutrifft,  von  Karstadt  durchgeprüft 
und  für  verschiedene  Altersstufen  geeicht  worden.  Ein  Bericht  hierüber  wird 
demnächst  in  der  Zeitschr.  f.  angew.  Psychol.  erfolgen. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  79 

vielmehr  müssen  die  zu  findenden  Stellen  aus  offenkundigen  Widersinnig- 
keiten bestehen,  die  jeder  ablehnen  muß,  der  ihren  Inhalt  versteht.  Hier- 
durch ist  es  ferner  möglich,  die  Kritikfähigkeit  der  Prüflinge  exakt  zu 
vergleichen,  da  eine  bestimmte  Zahl  von  sinnwidrigen  Stellen  gefunden 
werden  soll  und  da  außerdem  diese  Stellen  in  der  Schwierigkeit  der 
Lösung  abgestuft  sein  können. 

Ich  habe  zwei  solcher  Texte  hergestellt,  die  gegenwärtig  von  uns  an 
Schülern  verschiedenen  Alters  durchgeprüft  werden.  Ihr  Wortlaut,  der 
aber  vielleicht  noch  auf  Grund  der  Vorprüfungen  hier  und  da  verändert 
werden  wird,  folgt  weiter  unten. 

Text  1  enthält  10  Absurditäten,  Text  2  deren  12.  Der  Schwierigkeit 
nach  sind  die  Absurditäten  sehr  verschieden. 

Text  1  hat  sich  bei  den  Vorprüfungen  als  der  bedeutend  leichtere 
erwiesen;  er  dürfte  für  10 — 12  jährige  geeignet  sein.  Text  2,  der  eine 
Reihe  schwieriger  Beziehungsbegriffe  (z.  B.  Verwandtschaftsverhältnisse) 
enthält,  scheint  für  14— 16  jährige  brauchbar. 

Text  1. 

An  einem  schönen  Märztage  machte  vmjsere  Klasse  einen  Tagesausflug.  Obgleich 
es  die  ganze  Nacht  geregnet  hatte,  waren  die  Wege  morgens  recht  naß  und  schmutzig ; 
doch  störte  das  nicht  unsere  Wanderlust.  Wir  kamen  durch  einen  Wald,  der  aus  lauter 
Tannen  vind  Kiefern  bestand.  Leider  waren  die  Bäume  wegen  der  frühen  Jahreszeit 
noch  ganz  kahl ;  wie  herrlich  muß  es  im  Sommer  sein,  wenn  die  Bäume  erst  durch 
dichten  Schatten  gegen  den  Sonnenbrand  schützen!  Einmal  sahen  wir  in  der  Feme  ein 
wildes  Kaninchen  vor  uns  herlaufen.  Ich  jagte  ihm  nach,  aber  da  es  ständig  schneller 
lief  als  ich,  konnte  ich  ihm  nur  langsam  näher  kommen  und  fing  es  schließlich. 
Aber  ich  quälte  es  gar  nicht,  sondern  ließ  es  bald  wieder  laufen,  da  ich  an  den  Spruch 
dachte:  „Die  Freuden,  die  man  übertreibt,  verwandeln  sich  in  Schmerzen."  Dann 
führte  uns  der  Weg  an  Feldern  vorbei,  auf  denen  die  Bauern  die  Getreideernte  ein- 
brachten. Mittags  trafen  wir  in  dem  Dorf  ein,  wo  wir  bleiben  wollten.  Das  Dörfchen 
hatte  vor  einem  Jahr  dxu*ch  ein  Brandunglück  schwer  gelitten;  der  Kirch tvirn  war 
völlig  niedergebrannt;  zur  Erinnerung  war  an  der  Stelle,  wo  die  Turmspitze  gewesen 
war,  eine  Gedenktafel  angebracht  worden.  Bei  einer  Meierei  fragten  wir  an,  ob  wir 
Milch  und  Käse  bekommen  könnten,  es  war  aber  nichts  mehr  vorhanden.  Doch 
sagte  man  uns,  in  einer  halben  Stunde  werde  gemolken,  dann  könnten  wir  sofort 
beides  bekommen,  soviel  wir  wollten.  Wir  warteten  gern  und  ließen  es  uns  trefflich 
schmecken.  Die  meisten  blieben  nun  im  Dorf;  ich  aber  machte  mit  einem  Freund 
einen  Abstecher  auf  einen  hochgelegenen  Aussichtspunkt.  Wir  stiegen  eine  halbe 
Stunde  bergauf,  freuten  uns  an  dem  schönen  Rundblick  und  kehrten  dann  auf  einem 
noch  steileren,  ebenfalls  ständig  ansteigenden  Weg  ins  Dorf  zurück. 

Mit  vielerlei  Spielen  verging  uns  der  Nachmittag  schnell;  wir  bemerkten  kaum, 
Kiaß  die  Schatten  der  Bäume  kürzer  und  kürzer  wurden,  und  waren  überrascht,  als 
die  Sonne  unterging.  Wir  lagerten  uns  noch  etwas  am  Ufer  eines  Sees,  von  dem 
plötzlich  dichter  Nebel  aufstieg.  Aber  dieser  Nebel  breitete  sich  nicht  sehr  weit  aus. 
Nur  wir  selbst  waren  ganz  von  ihm  eingehüllt,  und  alle  nahen  Gegenstände  verschwanden 
ringsherum,  dagegen  waren  ferner  liegende  Dörfer  und  Wälder  deutlich  für  uns  sichtbar. 

Müde,   aber   sehr  befriedigt  kamen  wir  bei  völliger  Dtinkelheit  zu  Hause  an. 

Text  2. 

Neulich  machte  unser  Verein  eine  Landpartie;  mittags  kehrten  wir  in  einer 
Wirtschaft  ein.  Nach  dem  Essen  teilte  sich  die  Gesellschaft  in  drei  Gruppen:  die 
eine  Hälfte  blieb  plaudernd  im  Speisesaal,  die  zweite  machte  einen  Spaziergang 
durchs  Dorf,  die  dritte  sucht«  den  schönen  Garten  avif,  der  im  Norden  durch  eine 


80  William  Stern 


hohe  Mauer  gegen  die  stechenden  Strahlen  der  Mittagssonne  geschützt  war.  Ich 
ging  auch  in  den  Garten  und  kam  mit  einem  alten  Herrn  ins  Gespräch.  „Ich  hörte 
erzählen",  so  sagte  dieser,  ,,daß  Sie  von  einem  Rittergeschlecht  aus  der  Zeit  der 
Kreuzzüge  herstammen  sollen,  ist  das  wahr?"  Ich  antwortete:  ,,Nein,  das  stimmt 
nicht,  es  liegt  eine  Verwechslung  mit  meinem  Vater  vor,  die  mir  schon  öfter  begegnet 
ist."  Auf  seine  Frage  nach  meinen  Geschwistern  erwiderte  ich:  ,,Ich  habe  drei 
Brüder,  Fritz,  Hans  und  ich.  Fritz  hat  die  Gärtnerei  erlernt  und  ist  kürzlich,  um 
seinen  Beruf  aviszuüben,  nach  Spitzbergen  im  nördlichen  Eismeer  übergesiedelt; 
Hans  ist  Buchhalter  in  einem  Handl\ingshause  und  ich  bin  angestellt  in  einer  großen 
Kabelfabrik,  wo  wir  die  ungeheuren  Kabellängen  herstellen,  die  uns  zum  Zweck 
der  drahtlosen  Telegraphie  mit  Ostafrika  verbinden." 

Nun  erzählte  der  alte  Herr  von  seinem  Vater,  Dieser  war  zweimal  verheiratet 
gewesen,  das  erste  Mal  mit  einem  adligen  Fräulein,  das  zweite  Mal  mit  einer  armen 
Lehrerin.  Er  selbst  stammt  aus  der  ersten  Ehe  des  Vaters;  er  hatte  nur  eine  Stief- 
schwester, die,  obgleich  sie  älter  war  als  er,  sich  ihm  doch  in  allem  imterordnete 
und  fügte.  Die  Stiefschwester  ist  als  jtmge  Frau  schon  vor  18  Jahren  gestorben. 
Nun  hat  er  die  Sorge  für  ihre  Kinder  übernommen  und  ihr  jüngstes  Söhnchen  erst 
vor  einem  Jahre  eingeschult. 

Während  wir  so  sprachen,  begegneten  uns  zwei  Herren,  die  sich  außerordentlich 
ähnlich  sahen,  namentlich  bei  dem  einen  war  die  Ähnlichkeit  besonders  auffallend. 
Ich  erfuhr,  daß  es  Zwillinge  waren.  Der  eine  Zwillingsbruder  ist  ein  berühmter 
Arzt;  als  Zeichen  für  seine  großen  ärztlichen  Erfolge  wird  berichtet,  daß  jährlich 
etwa  50  Patienten  in  seiner  Behandlung  sterben.  Der  andere,  zwei  Jahre  jüngere, 
ist  ein  Rechtsanwalt,  der  als  Verteidiger  von  Verbrechern  einen  Namen  hat.  Neulich 
gelang  es  ihm,  für  einen  Mörder  ein  milderes  Urteil  zu  erwirken;  er  konnte  nämlich 
nachweisen,  daß  dieser  den  Mord  nicht  aus  Leidenschaft  oder  aus  Notwehr,  sondern 
mit  Vorbedacht  begangen  hatte. 

Die  Texte  sind  zu  mündlichem  oder  zu  schriftlichem  Versuch  zu  ver- 
wenden (in  letzterer  Form  auch  für  Klassenversuche).  Die  Instruktion 
für  die  Prüflinge  müßte  etwa  folgendermaßen  lauten: 

„Jetzt  sollt  Ihr  einmal  etwas  Ähnliches  machen,  wie  wenn  ein  Lehrer 
einen  Aufsatz  korrigiert.  Diese  Geschichte  lest  Euch  genau  und  langsam 
durch.  Es  sind  einige  Stellen  darin,  die  einen  Unsinn  enthalten;  diese 
sollt  Ihr  herausfinden  und  daneben  schreiben,  warum  sie  falsch  sind.  Es 
kommt  nicht  darauf  an,  Fehler  der  Rechtschreibung  und  der  Interpunktion 
zu  finden;  nur  auf  Unsinnigkeiten  des  Inhalts  soll  geachtet  werden." 

Bei  mündlicher  Prüfung  muß  der  Prüfling  den  Text  langsam  und  laut 
vorlesen  und  bei  jeder  bemerkten  Absurdität  sofort  angeben,  was  wider- 
sinnig ist.  Ein  Protokollant  muß,  wenn  möglich  stenographisch,  die 
kritischen  Äußerungen  mitschreiben.  Der  Versuchsleiter  darf  auf  fragende 
Blicke  in  keiner  Weise  reagieren.  Sind  bei  der  erstmaligen  Lesung  nicht 
alle  Stellen  gefunden,  so  läßt  man  noch  einmal  lesen,  und  ruft  bei  Jeder 
etwa  übergangenen  Stelle:  „Halt!"  Es  wird  also  nun  die  Kritikfähigkeit 
der  ersten  Stufe  ins  Spiel  gesetzt. 

Bei  schriftlichen  Prüfungen  darf  das  vorgelegte  Textblatt  nur  zum  Teil 
bedruckt  oder  beschrieben  sein;  mindestens  die  Hälfte  des  Blattes  muß  für. 
die  schriftliche  Kritik  frei  bleiben. 

Die  Ergebnisse  können  zahlenmäßig  in  4  Gruppen  geteilt  werden 
1.  Überhaupt  nicht  bemerkte  Unsinnigkeiten  („Auslassungen"),  2.  Richtig 
bemerkte  und  richtig  kritisierte  Absurditäten  („Treffer");  dazwischen  stehen: 
3.  Kritiken  an  falscher  Stelle,  wo  gar  keine  wirkliche  Absurdität  vorliegt 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  gj 

(„falsche  Reaktionen")-    4.  Richtig  bemerkte,  aber  nicht  zutreffend  kriti- 
sierte Widersinnigkeiten  („Fehlkritiken"). 

Neben  den  rein  zahlenmäßigen  Angaben  ist  aber  gerade  bei  diesem  Test 
die  qualitative  Bewertung  wichtig,  denn  die  richtige  Kritik  einer  Ab- 
surdität kann  in  sehr  verschiedenem  Grade  sprachlicher  und  logischer  Voll- 
kommenheit ausgeübt  worden  sein. 

Eine  Erweiterung  dieses  Tests  wird  soeben  für  die  erneute  Aufnahmeprüfung 
zum  Lehrerinnenseminar  vorbereitet.  Es  werden  in  den  Text  2  noch  eine  Reihe 
weiterer  Fehler  hineingearbeitet,  die  nicht  logischer  Natiir  sind,  sondern  sich  auf 
Grammatik,  Syntax  und  Interpunktion  beziehen.  So  kann  geprüft  werden,  ob 
eine  Weite  der  Aufmerksamkeit  besteht,  die  außer  der  Hauptaufgabe  zugleich 
gewisse  Nebenaufgaben  zu  bewältigen  vermag.  Natürlich  muß  dann  die  In- 
struktion für  die  Versuchspersonen  entsprechend  geändert  werden. 

Das  gleiche  Prüfungsprinzip  läßt  sich  ohne  Schwierigkeit  auch  auf  bildliche 
Darstellungen  anwenden.  Man  kann  entweder  eine  ganze  Serie  von  Einzel- 
bildern der  Reihe  nach  vorlegen,  von  denen  die  meisten  sinnvoll  sind, 
nur  einige  mit  Absurditäten  wie  in  unseren  obigen  Beispielen  (s.  S.  15)  durch- 
setzt sind.  Oder  man  kann  Bilderbogen  ohne  Text  herstellen,  die  an  manchen 
Stellen  Sinnwidrigkeiten  der  Handlung  enthalten.  Endlich  kann  man  solche 
zusammenhängenden  Handlungen  mit  eingestreuten  Absurditäten  auch  im 
Film  vorführen.  Eine  Herstellung  derartiger  Tests  hat  meines  Wissens 
noch  nicht  stattgefunden. 

IV.  Begriffserklärungen. 

Die  Anwendung  von  Begriffsdefinitionen  zum  Zweck  der  Intelligen z- 
prtifung  begegnet  uns  im  Binet-System  und  anderwärts.  Das  Definieren 
ganz" leichter  konkreter  Begriffe,  wie  ,,Stuhr*,  ,, Puppe"  usw.  kommt  für 
unsere  Aufgabe  nicht  in  Frage  (Bobertag  verlangt  sie  in  seinem  deutschen 
Binet-System  von  Fünfjährigen  in  elementarer,  von  Neunjährigen  in  voll- 
kommenerer Form);  dagegen  treten  bei  dem  Versuch,  schwerere  Begriffe 
zu  erklären,  sehr  charakteristische  Intelligenzunterschiede  älterer  Schüler 
hervor.  Bobertag  legt  den  Elf-  und  Zwölfjährigen  die  drei  Begriffe  „Neid", 
,, Mitleid",  „Gerechtigkeit"  vor  und  betrachtet  den  Test  als  gelöst,  wenn 
mindestens  zwei  in  der  Form  von  Anschauungsbeispielen  erläutert  werden 
(„Mitleid  ist,  wenn  .  .  ."). 

Umfassenderes  Material  bot  die  Massenuntersuchung  von  A.  Gregor^), 
der  an  Erwachsenen  (Krankenpflegern  und  -pflegerinnen)  und  an  Schülern 
beiderlei  Geschlechts  aus  acht  Schulstufen  37  Begriffe  definieren  ließ, 
derart,  daß  jeder  Begriff  jeder  Altersstufe  vorgelegt  wurde.  Die  statisti- 
schen Ergebnisse  habe  ich  selbst  für  die  speziellen  Zwecke  der  Eichung 
umgerechnet  2)  und  hierbei  gefunden,  daß  sich  im  wesentlichen  drei  Gruppen 
von  Begriffen  unterscheiden  lassen: 


1)  Untersuchvmgen  über  die  Entwicklung  einfacher  logischer  Leistungen  (Be- 
griffserklärungen).       Zeitschrift   für    angewandte    Psychologie    10,    339 — 451,    1915. 

*)  Über  Alterseichung  von  Definitionstests,  eine  methodologische  Untersuchung 
auf  Grund  der  Massenversuche  von  A.  Gregor.  Zeitschrift  für  angewandte  Psycho- 
logie 11,  S.   90  ff..   1916. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  6 


82  William  Stern 


Konkrete  Begriffe  (z.  B.:  „Laube",  „Tür",  „Stuhl",  „Zelt"),  deren 
richtige  Definition  vom  4.  Schuljahr  zu  verlangen  ist; 

,,halb  abstrakte"  Begriffe,  die  auf  politische  und  soziale  Einrichtungen 
gehen  und  im  7.  Schuljahr  gefordert  werden  können  (z.  B.:  ,, Obrigkeit", 
,, Bündnis",  „Kolonie",  ,, Gesetz"); 

ganz  abstrakte  Begriffe  aus  dem  Gebiet  der  Ethik  und  Logik  (z.  B.: 
„Gerechtigkeit",  „Sitte",  „Mut",  „Irrtum",  „Urteil");  sie  sind  dem 
8.  Schuljahr  zuzuschreiben. 

Aber  auch  diese  Verrechnung  konnte  nicht  als  befriedigendes  End- 
ergebnis gelten.  Gregor  hatte  seine  Versuchspersonen  lediglich  nach  Schul- 
stufen gegliedert,  nicht  nach  Altersstufen,  die  für  uns  weit  wichtiger 
sind ;  er  hatte  sich  auf  schriftliche  Massenversuche  beschränkt,  ohne  fest- 
zustellen, ob  sich  deren  Ergebnisse  ohne  weiteres  mit  den  bei  mündlicher 
Einzelprüfung  zu  erzielenden  Resultaten  decken.  Endlich  ist  seine  Wertungs- 
weise (  in  „Nullfälle",  „falsche  Fälle",  „primitive",  ,, richtige"  und  „kor- 
rekte" Definitionen)  nicht  durchsichtig  genug,  um  bei  weiteren  psycho- 
logischen Begriffsprüfungen  übernommen  werden  zu  können. 

Deshalb  schienen  neue  Erprobungen  dieser  Testform  erforderlich, 
und  solche  sind  inzwischen  einerseits  von  Karstadt,  andererseits  von 
unserem  Laboratorium  vorgenommen  worden.  Karstadt  wandte  neben 
vielen  anderen  Tests  auch  Definitionen  an,  um  für  die  Binetschen  Tests 
teils  brauchbare  Ersatzserien,  teils  die  sehr  wünschenswerten  Parallelserien 
zu  schaffen^).  Unsere  eigenen  Versuche  gelten  der  speziellen  Aufgabe,  solche 
Begriffe  zu  finden,  die  zur  Feststellung  höherer  Begabung  von  Zehnjährigen 
geeignet  sind.  Deshalb  mußten  zehn-,  elf-  und  Zwölfjährige  Kinder  geprüft 
werden. 

Herr  Oberlehrer  Roloff,  der  diese  Prüfung  übernommen  hatte,  war  in 
der  Lage,  sämtliche  Knaben  dieses  Alters,  die  in  der  Stadt  Bergedorf 
bei  Hamburg  eine  Volks-  oder  eine  höhere  Schule  besuchen  (über  1200) 
zu  prüfen.  Es  geschah  im  schriftlichen  Massenversuch;  aber  daneben  ging 
bei  einer  kleineren  Zahl  auch  eine  mündliche  Prüfung  einher,  um  die 
Ergebnisse  beider  Verhaltungsweisen  zu  vergleichen.  Sowohl  bei  den 
Vorbereitungen  des  Versuchs,  wie  bei  der  Verarbeitung  und  statistischen 
Verwertung  war  die  Lehrerin  Fräulein  Friedag  als  Mitarbeiterin  des 
Herrn  Roloff  tätig.  * 

Mit  Absicht  wurden  Begriffe  sehr  verschiedener  Beschaffenheit  und 
Schwierigkeit  gewählt,  wobei  wir  im  voraus  damit  rechneten,  daß  sich 
einige  von  diesen  als  weniger  geeignet  erweisen  würden. 

Es  waren  teils  abstrakte,  teils  halb  abstrakte,  teils  konkrete  Begriffe. 
Einige  setzten  gewisse  positive  Kenntnisse  oder  Lektüre  bestimmter 
Art  („Skalp"!)  voraus.  Die  meisten  waren  so  beschaffen,  daß  eine  wenn 
auch  unbestimmte  Bekanntschaft  mit  dem  Begriff  bei  jedem  normalen 
Knaben  ohne  weiteres  angenommen  werden  konnte;  das  Problem  war 
nur,  wie  weit  die  Prüflinge  imstande  waren,  sich  über  den  Inhalt  ihrer 
Vorstellung  Rechenschaft  zu  geben  und  sie  klar  und  logisch  zu  formulieren. 

^)  Er  wird  darüber  demnächst  in  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie 
berichten. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  83 

Die  Liste,  welche  absichtlich  die  Begriffe  verschiedener  Form  und 
Schwierigkeit  ungeordnet  vermischt  darbietet,  war  die  folgende: 

„Briefträger",  „Insel",  „U-Boot",  „Geiz",  „Mut",  „Manöver",  „Vetter", 
„Lüge",  „Skalp",  „Neid",  „Beute",  „Miete",  „Onkel",  „Wehrpflicht". 

Den  Lehrern,  die  bei  dem  Versuch  beteiligt  waren,  wurde  die  folgende 
Anweisung  gegeben: 

I.  Vorbereitung. 

Um  den  Bändern  klar  zu  machen,  was  von  ihnen  verlangt  wird»  entwickelt  man 
gemeinsam  mit  ihnen  die   Definitionen  von 
1.  Hammer,  2.  Mitleid. 
Die  Definition  von  „Hammer"  ist  zu  bringen  auf  die  Form": 

Hammer  ist  ein  Werkzeug,  mit  dem  man  schlägt. 
Üie  Definition  von  „Mitleid"  ist  zu  bringen  auf  die  Form: 

Mitleidig  ist  man,  wenn  einem  die  Not  eines  andern  leid  tut. 
Aufforderung  an  die  Kinder:    Denkt   nach,    wie  ihr  jemandem   möglichst  genaa 
erklären  könnt,  was  die  folgenden  Wörter  bedeuten. 

II.  Der  Versuch. 

Den  Kindern  wird  der  erste  Begriff  der  obigen  Reihe  genannt  und  an  die  Tafel 
geschrieben.  Es  wird  eine  Besinnzeit  von  etwa  ^/g  Minute  gewährt;  während  dieser 
Zeit  darf  kein  Kind  schreiben.  Die  schriftliche  Beantwortung  beginnt  nach  einem 
verabredeten  Zeichen  «Äer  Wort.  (Schreibt!)  Sie  beansprucht  erfahrungsgemäß 
eine  Zeit  von  etwa  1  Minute;  diese  Zeit  ist  nicht  wesentlich  zu  überschreiten;  wer 
fertig  ist,   hat  die   Feder   hinzulegen. 

Hierauf  wird  der  zweite  Begriff  der  obigen  Reihe  genannt  ixnd  angeschrieben 
(sofortiges  Anschreiben  der  ganzen  Reihe  ist  zu  vermeiden)  und  in  gleicher  Weise 
erledigt  wie  der  erste  usw. 

Fragen  der  Kinder  sind  nicht  zu  beantworten,  gegenseitige  Hilfen  (Absehen,  Vor- 
sprechen und  dgl.)  möglichst  zu  verhindern. 

Auf  jeder  Arbeit  Name  und  Klasse  von  den  Bändern  vermerken  lassen.  Es  wird 
gebeten,  das  Lebensalter  der  Kinder  in  Jahren  und  vollendeten  Monaten  hinzuzufügen. 
(12  Jahr  7  Monate  ist  z.  B.  zu  schreiben:   12;  7.) 

Die  Bearbeitung  des  Materials  ist  gegenwärtig  im  Gange ;  es  zeigt  sich 
schon  jetzt,  daß  gewisse  Begriffe  für  unsere  Testzwecke  sehr  geeignet  sind. 
Bei  manchen  von  ihnen  tritt  ein  starker  Altersfortschritt  gerade  in  den 
geprüften  Jahrgängen  von  10 — 12  auf;  diese  Definitionsaufgaben  würden 
sich  also  dazu  eignen,  die  besonders  intelligenten  Zehnjährigen  festzustellen. 
^Andere  Begriffe  haben'  selbst  bei  den  Zwölfjährigen  nur  eine  verhältnis- 
mäßig kleine  Zahl  richtiger  Lösungen  gefunden ;  sie  werden  also  für  Prüfun- 
gen älterer  Jahrgänge  verwendbar  sein. 

Aus  den  statistischen  Berechnungen  von  Herrn  Roloff  und  Frl.  Friedag  kann 
bereits  ein  Befund  von  bemerkenswertem  Interesse  verzeichnet  werden:  Die 
gleichalterigen  Knaben  der  drei  Schultypen  Gymnasium,  Realschule,  Volksschule 
zeigen  bedeutende  Unterschiede  in  den  Definitionsleistungen;  und  zwar  ist  die 
Rückständigkeit  der  Realschüler  gegen  die  Gymnasiasten  merkwürdiger  Weise  größer, 
als  die  der  Volksschüler  gegen  die  Realschüler.  Wieweit  die  Verschiedenheiten 
der  sozialen  Umwelt,  der  Wissens-,  der  Ausdrucksfähigkeit  und  der  eigentlichen 
Intelligenz  an  dieser  Differenzierung  der  Leistungen  beteiligt  sind,  ist  jetzt  noch 
nicht  festzustellen. 

6* 


84  William  Stern 


V.  Der   Fabel-Test. 

Eine  der  Hauptaufgaben  des  Denkens  besteht  darin,  aus  einem  kon- 
kreten, umfangreicheren  Vorstellungsinhalt  den  wesentlichen  Kern- 
gedanken herauszuholen  und  ihn  in  seiner  über  den  Einzelfall  heraus- 
gehenden allgemeineren  Bedeutung  zu  erfassen.  Hierbei  genügt  es 
eben  nicht,  den  dargebotenen  Inhalt  einfach  hinzunehmen  und  in  seiner 
konkreten  Beschaffenheit  aufzufassen;  er  muß  umgeformt  werden,  indem 
einerseits  die  verschiedenen  Teile  als  verschieden  wichtig  beurteilt,  die 
unwesentlichen  fortgelassen  und  die  wesentlichen  isoliert  werden,  und 
indem  andererseits  an  diesem  G-rundinhalt  selber  die  konkrete  Gestaltung 
zu  einem  allgemeinen   Gedanken  verallgemeinert  wird. 

Hierher  würde  die  Aufgabe  gehören,  die  Pointe  eines  Witzes  zu  erfassen ; 
aber  das  Witzverständnis  ist  vermutlich  eine  verwickeitere  Fähigkeit, 
zu  der  nicht  nur  eine  gewisse  allgemeine  Intelligenzhöhe,  sondern  auch  eine 
spezifische,  bisher  noch  nicht  näher  untersuchte  Begabung  für  Humor, 
Paradoxie  und  Überraschung  gehört.  Daher  kommt  es,  daß  viele  zweifel- 
los intelligente  Menschen  Witzen  gegenüber  überraschend  hilflos  sind^). 
Für  unsere  Zwecke  ist  es  daher  besser,  den  Paradoxiefaktor  auszuschalten 
und  bei  einem  ernsthaften  Stoff  die  Herausarbeitung  des  Grundgedankens 
zu  fordern.  So  manche  Wege  sind  hier  denkbar ;  die  Benutzung  von  Bildern 
oder  Bilderserien,  von  technischen  Apparaten,  von  sprachlichen  Texten. 
Unter  den  letzteren  sind  solche  besonders  geeignet,  (üe  von  vornherein  die 
Bestimmung  haben,  einen  abstrakten  Kerngedanken  in  konkreter  Form 
darzustellen:  das  sind  die  Fabeln.  Diese  dienen  allein  dem  Zweck, 
daß  der  Leser  die  ,, Moral  von  der  Geschieht'"  erfasse.  Wann  sind  Kinder 
zu  dieser  gedanklichen  Leistung  fähig,  und  in  welcher  Weise  äußert  sich 
bei  Fabelaufgaben  der  Unterschied  der  Intelligenzgrade  ? 

Wir  sind  augenblicklich  nicht  zu  einer  Beantwortung  dieser  Fragen 
fähig,  sondern  können  nur  den  Weg  angeben,  auf  dem  wir  das  Problem 
bearbeiten.  Der  Fabel-Test  ist  von  den  Amerikanern  Terman  und  Childs 
vorgeschlagen;  später  hatte  Meumann  die  Absicht,  ihn  zu  verwenden. 
Fräulein  Leonora  Heitsch,  welche  die  Bearbeitung  dieses  Tests  über- 
nommen hatte,  benutzte  sieben  der  von  Terman  und  Childs  vorgeschlage- 
nen Fabeln  und  drei,  die  Meumann  in  einem  nur  handschriftlich  vorhandenen 
Testentwurf  zusammengestellt  hattet).    Es  sind  die  folgenden: 

/.  Fabeln  nach  Terman  und  Childs^ 
1.   Das  Milchmädchen    und    seine    Pläne. 

Ein  Milchmädchen  trug  einen  Krug  mit  Milch  auf  dem  Kopfe  und  überlegte 
folgendes:  Mit  dem  Gelde,  welches  ich  für  diese  Milch  erhalte,  kann  ich  300  Eier 
kaufen.  Aus  diesen  Eiern  werde  ich  mindestens  200  Küchlein  bekommen.  Mit  dem 
Gelde,  welches  die  Küchlein  einbringen  werden,  kann  ich  mir  ein  neues  Kleid  kaufen. 
Mit  diesem  Kleide  werde  ich  mit  den  jungen  Burschen  zum  Tanze  gehen,  die  werden 
mich  alle  heiraten  wollen,  aber  dann  werfe  ich  meinen  Kopf  in  den  Nacken  und  ver- 


1)  Eine  ähnliche  Kombination  allgemeiner  Intelligenz  mit  einer  noch  wenig  bekann- 
ten Spezialfähigkeit  liegt  auch  bei  der  Begabimg  zum  Rätselraten  vor. 

»)  Wir  machen  mit   frdl.  Zustimmung  von  Frl.  Meta  Meumann  davon  Gebrauch. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  85 

schmähe  sie  alle.  Im  selben  Augenblick  warf  sie  in  Gedanken  den  Kopf  zurück, 
der  Krug  mit  Milch  fiel  zerschmettert  zu  Boden,  und  alle  ihre  Luftschlösser  wurden 
in  einem  Augenblick  zertrümmert. 

2.  Merkur*)    und    der    Holzfäller. 

Ein  Holzfäller  ließ  einmal  eine  Axt  in  einen  tiefen  Teich  fallen.  Er  setzte  sich 
auf  eine  Bank  und  bejammerte  seinen  Verlust.  Da  erschien  Merkur,  sprang  in  den 
Teich,  brachte  eine  goldene  Axt  zum  Vorschein  und  fragte,  ob  das  die  verlorene  sei  ? 
Als  der  Mann  dies  verneinte,  tauchte  Merkur  ein  zweites  Mal  unter  und  brachte  eine 
silberne  Axt  heravif .  Als  der  Mann  nun  sagte,  dies  sei  immer  noch  nicht  die  seinige, 
tauchte  der  Gott  ein  drittes  Mal  und  holte  die  richtige  Axt  herauf.  Der  Mann  nahm 
sein  Eigentum  mit  Freuden  in  Empfang,  und  Merkur  hatte  solche  Freude  über  ihn, 
daß  er   ihm  die  goldene  und  die  silberne  noch  dazu  schenkte. 

3.  Die    Ameise    und    die    Grille. 

Eine  Grille,  die  den  ganzen  Sommer  fröhlich  gesungen  hatte,  starb  im  Winter 
fast  vor  Hiinger.  Da  ging  sie  zu  einigen  Ameisen,  die  in  der  Nähe  wohnten,  und  bat 
sie,  ihr  etwas  von  iliren  aufgespeicherten  Vorräten  zu  leihen.  „Was  hast  du  im  Sommer 
getan?"  fragten  sie.  ,,Tch  habe  Tag  und  Nacht  gesvmgen,"  antwortete  die  Grille. 
,,So,  gesungen  hast  du,"  sagten  die  Ameisen,  ,,ntm  dann  kannst  du  jetzt  ja  tanzen." 

4.  Der  Storch  und  die  Kraniche. 
Ein  Bauer  stellte  einige  Fallen  auf,  um  Kraniche  zu  fangen,  die  seine  Saaten  fraßen. 
Mit  den  KJranichen  zusammen  fing  er  einen  Storch.  Der  Storch  bat  den  Bauern,  sein 
Leben  zu  schonen,  er  müsse  Mitleid  mit  seinem  gebrochenen  Bein  haben,  er  sei  ein 
Vogel  von  ausgezeichnetem  Charakter  und  durchaus  nicht  wie  die  Kraniche.  Der 
Bauer  lachte  und  sagte:  „Ich  fing  dich  mit  diesen  Räubern,  den  lüanichen,  zusammen 
und  du  mußt  mit  ihnen  sterben." 

5.  Herkules')  und  der  Fuhrmann. 
Ein  Fuhrmann  fuhr  die  Landstraße  entlang,  als  die  Räder  auf  einmal  in  einen 
tiefen  Graben  versanken.  Er  tat  nichts,  schaute  mar  auf  seinen  Wagen  und  rief 
Herkules  laut  um  Hilfe  an.  Herkules  kam  und  sagte  zu  ihm:  ,, Drücke  mit  deiner 
Schulter  das  Rad  aus  der  Furche  und  sporne  deine  Ochsen  an,  mein  lieber  Mann," 
dann  ging  er  weiter  und  ließ  den  Fuhrmann  stehen. 

6.  Der    Knabe    und    die    Nüsse. 
Ein  Knabe  langte  mit  seiner  Hand  in  ein  Gefäß  mit  Nüssen  und  ergriff  so  viele, 
als  er  nur  halten  konnte,  aber  es  war  ihm  nicht  möglich,  die  Hand  mit  den  Nüssen 
aus  dem  Hals  des  Gefässes  wieder  herauszuziehen.     Die  Nüsse  wollte  er  aber  auch 
nicht  preisgeben,  so  fing  er  an  zu  weinen,  die  Nüsse  aber  hielt  er  fest. 

7.  Der    Adler    und    die    Schildkröte. 
Eine  Schildlcröte  beschwerte  sich  bei  den  Vögeln  darüber,  daß  keiner  sie  fliegen 
lehren  wollte.    „Nun  denn,"  sagte.der  Adler,  „ich  will  dich  fliegen  lehren,"  und  nahm 
«sie  hoch  mit,  bis  fast  in  die  Wolken.  Dann  ließ  er  sie  plötzlich  fallen  und  sie  zerschmet- 
terte auf  den  Felsen. 

//.  Ans  der  Meutnann' sehen  Sammlung. 

1.  Ein  Rabe    saß  auf  einem  Baum  und  hatte  einen  Käse  im  Schnabel.    Da  kam 
ein  Fuchs  und  sagte  zu  dem  Raben:  ,,Wie  schön  kannst  du  singen!"  Der  Rabe  fühlte 


^)  „Merkur"    wäre    für    deutsche   Kinder    besser   durch    ,, Rübezahl"    oder    den 
, .Berggeist"  zu  ersetzen. 
*)  Vgl.  die  vorige  Anm. 


86  William  Stern 


sich  geschmeichelt  und  wollte  gleich  seine  Stimme  hören  lassen.    Als  er  den  Schnabel 
öffnete,   entfiel  ihm  der   Käse,   im^d  der  Fuchs  schnappte  ihn  auf. 

2.  Zwei  Ziegen  begegneten  sich  auf  einem  schmalen  Stege,  der  über  einen  tiefen 
und  breiten  Graben  führte.  Da  keine  zurückweichen  wollte,  wuurden  sie  so  zornig, 
daß  sie  mit  ihren  Hörnern  gegeneinander  rannten.  Bei  dem  heftigen  Stoß  aber  stürzten 
beide  und  fielen  in  das  Wasser.  Niu*  mit  großer  Mühe  konnten  sich  die  beiden 
Ziegen  an  das  Ufer  retten. 

3.  Ein  Hxm.d  lief  mit  einem  Stück  Fleisch  durch  einen  Wasserstrom.  Als  er  das 
Fleisch  im  Wasser  sich  spiegeln  sah,  meinte  er,  es  wäre  auch  Fleisch  und  schnappte 
daher  gierig  danach.  Als  er  das  Maul  auf  tat,  entfiel  ihm  das  Stück  Fleisch,  imd 
das    Wasser   führte    es    weg. 

4.  Eine  Henne  fand  ein  Nest  voll  junger  Schlangen,  die  waren  von  der  Kälte 
ganz  erstarrt  und  schon  halb  tot.  Die  gute  Henne  setzte  sich  voll  Mitleid  darauf, 
tma  sie  zu  erwärmen.  Allein  sobald  die  jungen  Schlangen  wieder  zum  Leben  kamen, 
bissen  sie  die  Henne  tot. 

Die  Fabeln  sind  bisher  bauptsäcblich  bei  Mädchen  der  Altersstufen 
10  bis  12  Jahre  durchgeprüft  worden;  es  zeigte  sich  —  bei  sehr  ver- 
schiedenen Lösungsprozenten  der  einzelnen  Fabeln  —  im  ganzen  ein  be- 
deutender Alterszuwachs  vom  10.  bis  zum  12.  Jahre.  Als  leichtere  Fabeln, 
die  für  gut  begabte  Kinder  dieser  Jahrgänge  brauchbar  sein  dürften,  er- 
wiesen sich  Nr.  1,  2,  5,  6,  7  der  ersten  Serie,  Nr.  3  der  zweiten  Serie. 
Schwerer  und  daher  nur  für  höhere  Jahrgänge  verwendbar  waren : 
Nr.  3,  4  der  ersten,  Nr.  2,  4  der  zweiten  Reihe.  Das  Prüfungsverfahren 
schildert  Fräulein  Heitsch  in  folgender  für  ihre  Mitarbeiter  bestimmten 
Anweisung : 

Anweisung. 

I.  Aufgabe. 

Es  handelt  sich  darum,  in  einem  schriftlichen  Klassen  versuch  niederzulegen,  welches 
Verständnis  der  Moral  gewisser  Fabeln  bei  den  Versuchspersonen  vorhanden  ist. 

II.  Versuchsanordnung: 

1.  Vorversuch. 

Bemerkung:  Um  die  richtige  Einstellung  der  Versuchsperson  zu  erreichen, 
erfolgt  ein  mündlicher  Vor  versuch.  Benutzt  wird  zin*  Demonstration  die  Fabel:  ,,Der 
Rabe  und  der  Fuchs". 

Versuchsgang:  Ich  werde  euch  eine  Fabel  vorlesen.  Ihr  wißt,  was  eine  Fabel  ist  ? 
(Zu  verlangen,  daß  den  Kindern  bewußt  wird,  daß  die  Fabel  eine  Lehre  vermittelt.) 

Nachdem  ich  euch  die  Fabel  vorgelesen  habe,  werde  ich  euch  fragen:  ,,Was  lernen 
wir  aus  dieser  Fabel  T"  (Dtxrch  Kontrollfragen  ist  festzustellen,  daß  die  Aufgabe 
erfaßt  ist.  Etwa:  „Worauf  habt  ihr  also  zu  achten  ?"  Auf  die  Lehre.  —  ,,Was  nicht 
angeben  ?"  Den  Inhalt;  die  Eigenschaften.)  Nach  der  Ankündigung:  ,,Ich  lese  jetzt 
die  Fabel  vor!"  erfolgt  die  Lektüre. 

Man  läßt  allen  Kindern  eine  Minute  Besinnzeit  imd  nimmt  dann  erst  Antworten 
entgegen.  Antworten,  die  reine  Inhaltsangaben  oder  Beiirteilung  der  Handelnden 
erkennen  lassen,  dienen  dazu,  den  Kindern  möglichst  durch  Selbstkritik  die  falsche 
Einstellvmg  aiifzuweisen  und  sie  nachdrücklich  zvir  richtigen  zu  führen.  —  Es  ist 
auf  Kürze  der  Fassung  Wert  zu  legen.  Nachdem  die  Überzeugung  gewonnen  ist, 
daß  die  Klasse  die  richtige  Einstellung  hat,  schreitet  man  zum  eigentlichen  Versuche, 
bei  dem  die   Antwort  schriftlich  niedergelegt  wird. 

2.  Hauptversuch. 

a)  Ankündigung:  Ich  lese  eine  andere  Fabel  vor.  Diesmal  wird  die  Lehre  auf- 
geschrieben! 

b)  Äußere  Vorbereitung:  Verteilen  der  Blätter.  —  Aufschreiben  des  Namens 
und  Geburtsdatums  (Tag,  Monat,  Jahr)  rechts  oben.  —  Hinweis,  daß  es  nicht  aiif 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  87 

Schreibrichtigkeit  ankommt.   —  Neue   Reihe.   —  Fortlaufende  Nummerierung.   — 
Versagen  durch  wagerechten    Strich   andeuten. 

c)  Vorlesen  (s.  oben). 

d)  Niederschreiben    der    Antwort: 

Es  ist  streng  darauf  zu  achten,  daß  das  Niederschreiben  erst  nach  dem  völligen 
Vorlesen  und  dem  Ablauf  der  gewährten  Besinnzeit  auf  das  Kommajido:  „Schreibt 
nun!"  erfolgt.      Zwischenfragen  sind  ausgeschlossen. 

Es  empfiehlt  sich  aber,  vor  dem  Kommando  zum  Niederschreiben  die  Kinder  kurz 
aufzufordern,  durch  Fingerheben  anzuzeigen,  ob  sie  ein  nochmaliges  Vorlesen  wünschen, 
und  diesem  Wunsche  in  weitgehendem  Maß  (etwa  schon  bei  einem  Sechstel  der  Zahl) 
Rechnving  zu  tragen. 

Der  Versuchsleiter  merkt  auf  einem  Begleitblatt  die  Wiederholungszahl  jeder 
Fabel  an. 

Nach  dem  Niederschreiben  ist  zu  fragen,  wem  die  Fabel  bekannt  war,  und  von 
diesen  ist  in  Klammer  das  Wort  „bekannt"  imter  der  Antwort  zu  vermerken. 

e)  Nach  Fertigstellvmg  der  letzten  Antwort  werden  die  Blätter  eingesammelt 
und  ohne  jede  Korrektur  gelassen,  damit  sie  als  psychologisches  Material  verwend- 
bar sind. 

VI.  Satzbildung  aus    Stichwörtern. 

Nur  kurz  sei  der  Vollständigkeit  halber  erwähnt,  daß  auch  eine  Er- 
probung des  „Dreiwörter-Tests"  (Bildung  eines  sinnvollen  Zusammen- 
hangs aus  drei  Stichwörtern)  bei  uns  im  Gange  ist.  Diese,  früher  ,, Masseion- 
Test"  genannte,  Prüfungsform  spielt  bekanntlich  auch  im  Binet-System 
eine  Rolle  und  zwar  mit  den  nicht  gerade  glücklich  gewählten  Wörtern 
,, Paris  —  Fluß —  Geld".  Systematisch  ausgebaut  wurde  der  Test  von  Pior- 
kowski^),  dessen  Wortmaterial  auch  unsern  Versuchen  zugrunde  gelegt 
wird.  Einen  kurzen  Auszug  der  Hauptergebnisse  Piorkowskis  gab  ich 
an  anderer  Stelle  ^).  Der  Test  prüft  bald  mehr  die  Fähigkeit  zu  sachlich- 
logischer Gedankenverknüpfung,  bald  mehr  die  kombinatorische  Phan- 
tasie; welche  dieser  beiden  Funktionen  mehr  getroffen  wird,  hängt  teils 
von  dem  Typus  der  Prüflinge,  teils  von  der  Instruktion  ab.  Die  Schwierig- 
keit des  Tests  ist  natürlich  bei  den  verschiedenen  Wortgruppen  sehr  ver- 
schieden groß;  außerdem  sind  durch  die  Art  der  Aufgabestellung  zwei 
Hauptabstufungen  der  Schwierigkeit  möglich.  Es  wird  entweder  eine 
sinnvolle  Lösung  verlangt  —  in  dieser  Form  wird  der  Test  von  uns  bei 
Zehn-  bis  Zwölfjährigen  durchgeprüft.  Oder  die  Aufgabe  lautet,  mehrere 
(oder:  möglichst  viele)  recht  verschiedene  Lösungen  für  jede  Wortgruppe 
zu  finden;  hier  wird  die  Beweglichkeit  und  der  Reichtum  der  Denk- 
beziehungen geprüft.  Die  letztere  Methodik  haben  Moede  und  Piorkowski 
neuerdings  für  die  Auslese  übernormaler  Vierzehnjähriger  verwandt. 

Die  Liste  der  von  Piorkowski  gebildeten  Wortgruppen,  die  auch  unserer 
'Nachprüfung  zugrunde  gelegt  sind,  lautet  3): 


^)  C.  Piorkowski.  Untersuchungen  über  die  Kombinationsfähigkeit  bei  Schul- 
kindern. Pädagogisch-psychologische  Arbeiten  des  Leipziger  Lehrervereins  i,  S.  55  ff., 
1913. 

")  Die  Intelligenzprüfung  an  Kindern  und  Jugendl.     2.  Auflage.     1916.    S.  150  ff, 
')  Wir  geben  sie  hier  wieder,  da  sie  bisher  nur  an  einer  etwas  versteckten  Stelle 
abgedruckt  war.    In  der  Original  arbeit  gibt  P.,  was  sehr  dankenswert  ist,  eine  Über- 
sicht über  die  für  jede  Wortgruppe  vorgekommenen  Lösungen,  nebst  deren  Bewertung 
durch  den  Versuchsleiter. 


88  William  Stern 


1.  Pferd  —  Biene  —  heruntergefallener  Reiter. 

2.  Jäger  —  Sonne  —  vorbeigeschossen. 

3.  Dieb  —  Fenster  —  Wunde. 

4.  Neugieriger  Junge  —  Türe  —  Nasenbluten. 

5.  Seiltänzer  —  böser  Mensch  —  Schrei. 

6.  Wolkenbruch  —  fortgeschwemmtes  Haus  —  treuer  Hund. 

7.  Bäckerjunge  —  hoch  vorbeifliegender  Luftballon  —  Prügel. 

8.  Fast  verdursteter  Hund  —  mitleidiger  Mensch  —  verhinderter  ÜberfalL 

9.  Katze  —  Baum  —  herausgerissene  Federn. 

10.  Spaziergänger  —  Sturm  —  Loch  im  Kopf. 

11.  Einbrecher  —  Bibel  —  umkehren. 

12.  Verfolgter  Reiter  —  Mauseloch  —  Gefangennahme. 

13.  Wohltäter  —  undankbarer  Mensch  —  Polizei. 

14.  Regen  — ■  Kälte  —  zerbrochener  Krug. 

15.  Landmann  —  große  Hitze  —  Diebstahl. 

16.  Soldaten  im  Lager  —  sternlose  Nacht  —  große  Verwirrung   und   Geschrei. 

17.  Elektrische  Bahn  —  Lärm  —  Blut. 

18.  Dieb  —  Feuer  anlegen  —  einbrechen. 

19.  Sturm  —  verhütetes  Eisenbahnunglück  —  Belohnung. 

20.  Stehengebliebene  Uhr  —  geschehenes  Eisenbahnunglück  —  Freude. 

21.  Guter  Getreidestand  —  fauler  Bauer  —  Verzweiflung. 

22.  Spiegel  —  heranschleichender  Mörder  —  Rottung. 

23.  Betrügerischer  Fleischer  —  Kühe  —  Salz. 

24.  Wasserhahn  —  Festzug  —  Stube  voll  Wasser. 

Die  von  unserm  Seminarmitglied  Dr.  Angelstein  vorgenommene  Erprobung 
des  Tests  erstreckte  sich  auf  die  Wortgruppe  11,  13,  15,  16,  18,  20,  21,  22; 
dazu  auf  die  weitere  Wortgruppe:  Reise  —  treuer  Hund  —  Freude.  Die 
Niederschriften  wurden  als  Versager,  halbrichtige  und  ganzrichtige  gewertet. 
Bei  den  drei  Jahrgängen  von  Schülern  einer  höheren  Schule  ergab  sich 
folgender  Prozentsatz  richtiger  Lösungen: 

Reise 
Wortgruppe     11       13       15       16       18      20      21       22      tr.  Hund 

Freude 

Richtige  Lösungen  ^   10— 11  J.        36      29       14      20       18       18      20      36  41 

in  o/o  bei  Kindern  J  11— 12  J.        45      60      40      20      27       12      25      50  44 

im  Alter  von        )   12—13  J.        69      34      59       44      37       56       15      56  66 

Man  erkennt  den  bedeutenden  Unterschied  in  der  Schwierigkeit.  Einige 
Gruppen  (z.  B.  18,  21)  sind  für  die  geprüften  Altersstufen  zu  schwer.  Bei 
anderen  ist  ein  deutlicher  Leistungsaufstieg  von  den  10  jährigen  zu  den 
12  jährigen  zu  bemerken  (z.  B.  bei  11,  15,  20  und  der  neuen  Wortgruppe). 
Diese  würden  also  für  normale  12  jährige  —  und  demnach  auch  wohl  zur 
Feststellung  besonders  befähigter  10  jähriger  —  brauchbar  sein. 

2.  Sprachlose  Tests. 

Wir  behandeln  hier  vornehmlich  eine  Reihe  von  „Ordnungstests",  die  in 
unserem  Seminar  ausgearbeitet  worden  sind;  mehr  anhangsweise  wird  auf 
„Zuordnungstests"  hingewiesen. 

Im  Binetschen  Staffelsystem  gibt  es  nur  wenige  Tests,  die  nicht  sprach- 
liche Äußerungen  beanspruchen;  unter  diesen  ist  jene  Aufgabe. die  weitaus 
beste,  welche  das  Ordnen  von  5  Gewichten  verlangt.    5  kleine  völlig  gleich 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  89 

aussehende  Kästchen,  die  aber  durch  verschiedene  Füllung  an  Gewicht 
merklich  verschieden  sind,  werden  dem  Prüfling  vorgelegt.  Der  Prüfer 
sagt,  daß  diese  Kästchen  nach  der  Schwere  zu  ordnen  seien,  und  macht 
es  einmal  vor;  der  Prüfling  hat  es  dreimal  nachzumachen.  Natürlich  darf 
der  Gewichtsunterschied  nicht  so  gering  sein,  daß  der  Ausfall  von  der 
peripheren  Unterschiedsempfindlichkeit  des  Prüflings  abhängen  könnte; 
für  die  Intelligenzprüfung  kommt  es  ja  nur  darauf  an,  daß  der  Prüf- 
ling die  Aufgabe  versteht,  daß  er  das  Merkmal  der  Schwere  aus  allen  an 
den  Kästchen  wahrnehmbaren  Merkmalen  isolierend  heraushebt,  und  daß 
er  imstande  ist,  den  Gedanken  der  aufsteigenden  Schwere  dauernd  dem 
Vergleich  der  einzelnen  Elemente  zugrundezulegen.  Er  muß  ferner  von 
selbst  darauf  kommen,  daß  es  nicht  genügt,  je  zwei  Kästchen  zu  ver- 
gleichen und  nebeneinander  zu  legen,  sondern  daß  jedes  neu  einzu- 
ordnende Kästchen  mit  allen  schon  vorher  geordneten  verglichen  werden 
muß.  All  dies  sind  ausgesprochene  Denkanforderungen;  und  in  der  Tat 
bietet  bei  diesem  Test  nicht  nur  die  schließliche  richtige  oder  falsche 
Lösung,  sondern  auch  das  Verhalten  des  Prüflings  während  des  Versuchs 
Anhaltspunkte  zur  Einschätzung  seiner  Intelligenz. 

Dieser  Test  ist  für  das  Alter  9  Jahr  angesetzt.  Mir  schien  nun  das 
hier  zum  Ausdruck  kommende  Prinzip  des  „Ordnens  nach  einem  lei- 
tenden Gesichtspunkt"  so  wertvoll,  daß  ich  seine  Erweiterung  auf 
andere  Ordnungsgesichtspunkte  und  zugleich  seine  Übertragung  auf  ältere 
Jahrgänge  anstrebte.  Die  Ausbildung  und  Erprobung  solcher  Ordnungs- 
tests wurde  ebenfalls  bereits  mit  Breslauer  Seminarteilnehmern  begonnen; 
sie  wird  jetzt  mit  Hamburger  Seminarteilnehmern  fortgesetzt,  insbesondere 
hat  hier  die  Lehrerin  Frl.  Martha  Muchow  die  Durchprüfung  übernommen. 

Wie  schon  angedeutet,  verlangt  der  Test  vor  allem  eine  gewisse  Ab- 
straktionsleistung: der  Prüfling  muß  fähig  sein,  an  den  Objekten  ein 
vergleichbares  Merkmal  zu  beachten  und  von  allen  anderen  Eigenschaften 
dabei  abzusehen.  Sodann  wird  verlangt,  daß  er  dieses  Merkmal  zur 
Grundlage  einer  Stufenordnung  macht.  Nun  drängt  sich  als  erste  Ände- 
rung gegenüber  dem  Binet-Test  die  Möglichkeit  auf,  daß  man  den  Ge- 
sichtspunkt, nach  welchem  geordnet  werden  soll,  nicht  darbietet,  sondern 
selbst  finden  läßt.  Dadurch  werden  beträchtlich  erweiterte  Anforde- 
rungen an  die  Abstraktionsfähigkeit  gestellt.  In  unseren  Versuchen  wird 
also  bei  der  Vorlegung  der  durcheinander  gemischten  Reize  lediglich  die 
allgemeine  Aufforderung  ausgesprochen:  „Bringe  sie  in  eine  geordnete 
Reihe!"  oder:  „Ordne  sie  der  Reihe  nach!" 

'  Zweitens  läßt  sich  der  Test  ausbauen  durch  verschiedene  Schwierigkeit 
der  verlangten  Ordnung.  Unsere  Aufzählung  beginnt  mit  einfachen,  ein- 
reihigen Ordnungen,  die  für  das  höhere  Jugendalter  zum  größeren  Teil 
zu  leicht  sind,  aber  das  Material  für  die  Schaffung  der  anderen  Ordnungen 
(der  erschwerten  Einreihigkeit  und  der  mehrdimensionalen  Ordnungen)  bieten. 

Drittens  sind  Variationen  möglich  durch  die  Wahl  der  zu  ordnenden 
Gegenstände.  Hier  ist  zu  unterscheiden  zwischen  sensoriellen  und  logischen 
Ordnungen.  Die  sensoriellen  können  den  verschiedensten  Sinnesgebieten 
entlehnt  werden;  wir  beschränken  uns  auf  die  am  leichtesten  herstellbaren 


90  William  Stern 


und  vielseitig  verwendbaren  optischen  Reize,  nämlich  Figuren  verschiedener 
Größe,  Helligkeit,  Farbe  und  Form.  Die  logischen  Ordnungen  beziehen 
sich  auf  Begriffsreihen  und  auf  bedeutungsvolle  Handlungszusammenhänge. 
Bei  sämtlichen  Ordnungstests  ist  vom  Versuchsleiter  Folgendes  fest- 
zustellen: 

1.  Das  Ergebnis  der  Legung.  Bei  falschen  Lösungen  genügt  es  nicht, 
bloß  den  Vermerk  „falsch"  zu  protokollieren;  es  müssen  auch  die  Arten 
der  Fehler  festgestellt  werden.  Zu  diesem  Zweck  sind  die  Elemente  jeder 
Reihe  in  einer  dem  Prüfling  unsichtbaren  Weise  zu  nummerieren;  die 
Nummernfolge  der  gelegten  Elemente  wird  dann  protokolliert. 

2.  Die  Zeitdauer  der  Arbeit,  mit  Stoppuhr  zu  messen. 

3.  Der  Verlauf  der  Arbeit.  Hier  sind  oft  qualitative  Beobachtungen  zu 
machen,  die  unter  Umständen  für  die  psychische  Besonderheit  des  Prüflings 
mehr  besagen,  als  das  schließliche  Endergebnis.  Vermutlich  werden  hier- 
bei nicht  nur  Grade,  sondern  auch  Typen  der  Intelligenzleistung 
hervortreten:  ob  mehr  systematisch  oder  sprunghaft  gearbeitet  wird,  ob 
erst  viele  Möglichkeiten  durchgeprüft  werden  oder  sofort  mit  intuitiver 
Sicherheit  das  rechte  Ordnungsprinzip  gewonnen  wird,  ob  Selbstkorrekturen 
im  größeren  Umfang  vorkommen,  ob  die  Aufmerksamkeit  immer  nur  auf 
wenige  Glieder  der  Reihe  konzentriert  wird  oder  möglichst  viele  Elemente 
zu  überschauen  sucht  usw. 

4.  Die  gegebenen  Hilfen.  Art  und  Wortlaut  dieser  Hilfen  sollten  fest- 
gelegt sein  und  während  aller  Versuche  möglichst  streng  innegehalten 
werden. 

L  Einreihige  Ordnungen. 

Bei  der  Herstellung  jeder  Reihe  ist  darauf  zu  achten,  daß  sich  die 
Einzelelemente  nur  bezüglich  des  Ordnungsgesichtspunktes  deutlich  unter- 
scheiden, im  übrigen  aber  gleich  sind. 

1.  Größen  unterschiede.  Eine  Reihe  von  Quadraten  gleicher  Farbe 
und  Helligkeit,  aber  zunehmender  Größe.  Statt  der  Quadrate  können  auch 
andere  Figuren  (Kreise,  Dreiecke,  Sechsecke)  gewählt  werden. 

2.  Helligkeitsunterschiede.  5  gleich  große  Kreise:  schwarz,  dunkel- 
grau, mittelgrau,  hellgrau,  weiß.  Die  Reihe  kann  natürlich  durch  Ein- 
schiebung  von  Zwischenstufen  vermehrt  werden. 

3.  Zahlenunterschiede.  Regelmäßige  Vielecke  gleicher  Farbe  und 
gleichen  Umkreises,  aber  steigender  Seitenzahl.  Wir  benutzen  die  Figuren 
vom  Viereck  bis  zum  Zehneck.  Desgleichen  Sternfiguren  mit  verschiedener 
Strahlenzahl  vom  Vierstrahl  bis  zum  Zehnstrahl.  Je  höhere  Seiten- 
bzw. Strahlenzahlen  man  hinzunimmt,  umso  schwerer  wird  der  Test. 
Denn  bei  den  einfacheren  Figuren  können  die  Prüflinge  dem  anschaulichen 
Eindruck  folgen.  Verlassen  sie  sich  aber  auch  bei  den  schwereren  Figuren 
darauf,  so  treten  häufig  Verwechslungen  ein,  so  z.  B.  zwischen  Sieben- 
und  Achteck.  Es  ist  daher  darauf  zu  achten,  ob  der  Prüfling  bei  den 
schwerer  erkennbaren  Figuren  von  selbst  darauf  kommt,  die  Ecken 
(Strahlen)  zu  zählen,  ob  er  sich  hierbei  spontan  gegen  Verzählung  sichert 
(z.  B.  durch  Festhalten  einer  Ecke)  usw. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  91 

Vorversuche  ergaben,  daß  die  Beachtung  der  Seiten-  bzw.  Strahlenzahlen 
gar  nicht  so  nahe  liegt,  wie  man  von  vornherein  annehmen  möchte.  Noch 
manche  zehnjährigen  Kinder  versuchen  die  Figuren  nach  der  Größe  zu 
ordnen  (obgleich  hier  kein  eindeutiger  Unterschied  bestand)  oder  nach 
ästhetischem  Eindruck  zusammenzulegen,  unter  Nichtachtung  der  steigen- 
den Eckenziffer. 

Eine  Erschwerung  erfährt  die  einreihige  Ordnung  in  den 

4.  Lückenhaften  Reihen.  Man  läßt  beim  Vorlegen  ein  Element  (oder 
auch  mehrere  Elemente)  fort  und  stellt  fest,  ob  das  Fehlen  des  Gliedes  be- 
merkt wird.  Eindeutig  ist  dies  nur  möglich  bei  der  Reihe  3;  wenn  die 
Vorlagen  bestehen  aus  Dreieck,  Viereck,  Sechseck,  Siebeneck,  Achteck,  so 
muß  bei  einer  gewissen  Intelligenzstufe  gefordert  werden,  daß  der  Prüfling 
beim  Ordnen  das  Fünfeck  vermißt.  Zeigt  er  dies  nicht  spontan  durch 
Freilassen  des  Platzes  oder  sprachliche  Äußerung,  so  sind  Hilfen  zu  geben. 
Zunächst:  „Gefällt  dir  die  Reihe  so  oder  könntest  du  sie  dir  besser 
denken?"  Wenn  dies  nicht  ausreicht:  „Fehlt  eine  Figur  in  der  Reihe?" 
Die  Schwierigkeit  ist  leicht  abzustufen,  da  das  Fehlen  des  Fünfecks  viel 
leichter  bemerkt  wird  als  das  des  Siebenecks. 

Bei  Größen  und  Helligkeiten  sind  lückenhafte  Reihen  nur  sehr  schwer 
herzustellen,  da  die  einzelnen  Glieder  nicht  eindeutig  bestimmt  sind.  Hier 
muß  der  Sprung  so  groß  sein,  daß  er  im  auffälligen  Gegensatz  zu  der 
mäßigen  Abstufung  der  anderen  Glieder  steht. 

n.  Mehrdimensionale  Ordnungen. 

Die  Denkarbeit  wird  sofort  ganz  gewaltig  erschwert,  wenn  nicht  die 
bloße  Beachtung  eines  reihenbildenden  Gesichtspunktes  verlangt  wird, 
sondern  deren  mehrere  vorhanden  sind.  Es  sind  dann  unter  Umständen 
drei  Aufgaben  zu  lösen:  aus  der  vorgelegten  Menge  von  Elementen  die 
zu  jedem  Gesichtspunkt  gehörenden  herauszusondern  (analytische  Aufgabe), 
innerhalb  jedes  Gesichtspunkts  die  Reihen  zu  bilden  (Synthese  erster 
Ordnung)  und  die  gebildeten  Reihen,  wenn  möglich  zueinander  in  Be- 
ziehung bringen  (Synthese  zweiter  Ordnung). 

5.  Getrennte  Reihen.  Nur  die  erste  der  drei  genannten  Aufgaben,  die 
analytische,  tritt  als  neue  Forderung  auf,  wenn  man  die  Elemente  zweier 
(oder  mehrerer)  von  einander  unabhängiger  Reihen  dem  Prüfling 
durcheinander  gemischt  vorgelegt.  Nach  der  Deutlichkeit  der  Verschieden- 
heit zwischen  den  Reihen  sind  hier  die  Schwierigkeiten  stufenweise  zu 
variieren:   wenn   gleichgroße  Kreise   verschiedener  Helligkeit  und   gleich- 

•  getönte  Vierecke  verschiedener  Größe  durcheinander  gemischt  vorgelegt 
werden,  so  ist  die  Scheidung  leichter,  als  wenn  man  die  Kreise  mit  Zehn- 
ecken mischt,  die  schon  viel  kreisähnlicher  sind.  Eine  stärkere  Erschwerung 
wird  durch  Benutzung  gleicher  Formen  herbeigeführt:  gleichgroße  Kreise 
verschiedener  Helligkeit  in  Mischung  mit  gleichhellen  Kreisen  verschiedener 
Größe.  Hierbei  darf  aber  kein  Glied  so  beschaffen  sein,  daß  es  beiden 
Reihen  angehören  könnte  (das  wäre  schon  Aufgabe  6).  Weitere  Beispiele 
solcher  Mischungen  lassen  sich  aus  den  unter  1,  2,  3  genannten  Tests 
in  beliebiger  Anzahl  bilden. 


92 


William  Stern 


6.  Gekreuzte  Reihen.  Ein  ganz  neuer  und  besonders  schwerer  Typus 
von  Aufgaben  scheint  darin  zu  bestehen,  zwei  Reihen  auf  Grund  eines 
gemeinsamen  Gliedes  mit  einander  zu  kreuzen.  Wenigstens  ergab  sich  bei 
Vorversuchen,  daß  selbst  gebildete  Erwachsene  einen  solchen  Test  oft  nur 
mit  mehrfachen  Hilfen  zu  lösen  vermochten. 

Ob  etwa  bei  der  Herstellung  eines  solchen  „Achsenkreuzes"  oder  „Koor- 
dinatensystems" mathematische  Kenntnisse  oder  Fähigkeiten  stark  mit- 
sprechen, bedarf  noch  der  Nachprüfung i) ;  ich  möchte  allerdings  glauben, 
daß  die  allgemeine  Intelligenzleistung  hierbei  durchaus  überwiegt.  Es 
seien  in  der  Vorlage  durcheinander  gemischt  dargeboten  (s.  d.  Fig.  2)  5  Qua- 
drate mit  gleichen  Seitenlangen  aa  und  den  Helligkeiten  hi,  h2,  ha,  h4,  hs 
und  noch  weitere  4  Quadrate  von  gleicher  Helligkeit  ha,  aber  verschiedenen 
Seitenlängen  ai,  a2,  a4,  as  —  so  besteht  der  erste  Schritt  zur  Lösung 
darin,  daß  der  Prüfling  bemerkt:  einige  der  Quadrate  fügen  sich  bei 
gleicher  Größe  der  Helligkeitsordnung,  andere  bei  gleicher  Helligkeit  der 


Fig.  2. 

Größenordnung.  Er  wird  also  zwei  getrennte  Reihen  schaffen.  Der  zweite 
Schritt  muß  nun  darin  bestehen,  daß  er  bemerkt:  das  Quadrat  mit  der 
Seitenlänge  aa  und  der  Helligkeit  ha  paßt  in  beide  Reihen.  Da  es  nur 
einmal  vorhanden  ist,  bleibt  seine  Zuordnung  so  lange  willkürlich,  als  die 
Reihen  unabhängig  voneinander  gelegt  sind.  Es  folgt  der  dritte  und  ent- 
scheidende Schritt:  daß  diese  Willkür  als  störend  empfunden  und  der 
Versuch  zu  ihrer  Beseitigung  gemacht  wird.  Ist  nun  die  Einsicht,  daß  es 
nur  eine  Möglichkeit  gibt,  das  Quadrat  (aa  ha)  beiden  Reihen  zuzuordnen, 
nämlich  durch  Herstellung  des  Achsenkreuzes  (s.  d.  Fig.)  wirklich  eine 
mathematische?  Handelt  es  sich  nicht  vielmehr  um  eine  Kreuzung  be- 
grifflicher Merkmale,  also  um  eine  logische  Leistung?  Vielleicht  werden 
wir  einer  Lösung  dieser  interessanten  Frage  näher  gebracht  werden,  wenn 
wir  das  Prinzip  der  Kreuzung  auf  rein  begriffliche  Reihen  anwenden  (vergl. 
unter  HI). 


*)  Wenn  ja,  so  wäre  der  Test  bei  solchen  Prüflingen,  welche  im  mathematischen 
Unterricht  noch  nichts  von  diesen  Dingen  gehört  haben,  als  mathematische 
Fähigkeitsprüfung  anzuwenden. 

*)  In  der  Wiedergabe  sind  leider  die  Helligkeits-Unterschiede  bezw.  Überein- 
Btimmungen  nicht  überall  ganz  deutlich  geworden. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  93 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  durch  die  Wahl  der  zur  Kreuzung  zu 
bringenden  Einzelreihen  die  Schwierigkeit  der  Aufgabe  wiederum  mannig- 
fach abgestuft  werden  kann.  Eine  besondere  Erschwerung  bietet  die  An- 
wendung von  Doppelkreuzungen,  wenn  z.  B.  durcheinander  gemischt  vor- 
gelegt werden:  Vielecke  gleicher  Helligkeit  und  ungefähr  gleicher  Größe 
vom  Dreieck  bis  zum  Zehneck  (Hauptachse),  Fünfecke  derselben  Helligkeit 
aber  verschiedener  Größe,  Achtecke  von  der  Größe  des  Achtecks,  das  der 
Hauptachse  angehört,  aber  von  abgestufter  Helligkeit. 

Die  Anweisung  bei  dem  Versuch  mit  gekreuzten  Reihen  muß  etwa  so 
lauten:  „Bringen  Sie  in  alle  diese  Figuren  eine  Ordnung,  die  Sie  möglichst 
befriedigt;  es  handelt  sich  aber  diesmal  nicht  um  eine  einzige  Reihe." 
Bildet  der  Prüfling  dann  zwei  Reihen,  ohne  von  selbst  deren  Kombination 
zu  versuchen,  so  wird  die  Hilfe  gegeben:  „Gibt  es  ein  Glied,  das  ebenso 
gut  der  anderen  Reihe  angehören  könnte?"  Ist  dies  gefunden,  so  wird 
gefragt:  „Läßt  sich  die  Ordnung  nicht  so  herstellen,  daß  diese  Willkür 
vermieden  wird?" 

7.  Geschlossene  Reihen.  Wenn  man  die  Farben  des  Spektrums  Rot,, 
Ziegelrot,  Orange,  Gelb,  Gelbgrün,  Grün,  Grünblau,  Blau,  Violett  in 
einer  Reihe  von  farbigen  Papieren  durcheinander  gemischt  vorlegt,  dazu 
ein  Papier,  welches  die  Zwischenfarbe  zwischen  den  beiden  Grenzfarben, 
also  Purpur,  zeigt,  dann  ist  eine  voll  befriedigende  Ordnung  nur  in  der 
Form  des  geschlossenen  Kreises  möglich.  Wir  benutzen  dazu  10  Scheiben 
aus  farbigen  Papieren  von  Zimmermann.  (Bei  der  Auswahl  der  Farben 
ist  darauf  zu  achten,  daß  der  Unterschied  zwischen  je  zwei  benach- 
barten Scheiben  ungefähr  gleichgroß  erscheint).  Legt  man  diese  Farben 
durcheinander  gemischt  vor  mit  der  bloßen  Anweisung:  „Ordnen  Sie  diese 
Farben",  so  wird  gewöhnlich  eine  eindimensionale  Reihe  hergestellt.  Diese 
ist  aber  immer  willkürlich;  denn  jede  Einzelfarbe  kann  als  Anfangsglied 
benutzt  werden.  Es  handelt  sich  also  für  den  Prüfling  ähnlich  wie  bei 
Test  7  darum,  eine  solche  Willkürlichkeit  erstens  zu  bemerken  und 
zweitens  zu  überwinden  durch  Umbiegung  der  Reihe,  bis  sie  sich  zum 
Kreise  schließt. 

Bei  diesem  Test  erlebten  wir  eine  große  Überraschung:  schon  die  bloße 
Herstellung  einer  Reihe  (die  ja  noch  nicht  die  volle  Lösung  enthält) 
erwies  sich  als  unerwartet  schwer.  Voraussetzung  war,  daß  die  Prüflinge 
nicht  das  Spektrum  und  seine  Gesetze  kannten,  auch  nicht  durch  be- 
sonders eingehende  Beschäftigung  mit  der  Malerei  an  Farbenvergleichung 
gewöhnt  waren.  Aber  ich  hatte  gemeint,  daß  der  Gesichtspunkt  der 
Ähnlichkeit  aufdringlich  genug  sein  müßte,  um  auch  ohne  jede  theo- 
retische Kenntnis  die  Ordnung  leicht  zu  machen.  Es  zeigte  sich  aber, 
daß  10jährigen  Kindern  die  richtige  Reihenbildung  fast  nie  gelang;  erst 
bei  12jährigen  glückte  der  Test  häufiger.  Auf  die  Idee  aber,  daß  die 
geradlinige  Reihenordnung  willkürlich  sei,  da  ja  jede  Farbe  als  Anfangs- 
glied dienen  könne,  kamen  nur  wenige;  und  gar  die  Lösung  dieser 
Schwierigkeit:  die  Umbiegung  der  Reihe  zum  geschlossenen  Kreise  kam 
nur  ganz  ausnahmsweise,  sogar  bei  Erwachsenen,  vor,  —  wofern  nicht  eben 


94 


William  Stern 


physikalische,   psychologische    oder   maltechnische   Kenntnisse   mitwirken 
konnten.  1) 

m.  Logische  Ordnungen. 

9.  Begriffsreihen.  Die  Reihen  unterscheiden  sich  von  den  Figuren- 
reihen dadurch,  daß  die  Merkmale,  die  der  Abstraktion  und  der  Ordnung 
zugrunde  liegen,  nicht  unmittelbar  sinnlich  gegeben  sind,  sondern  gedacht 
werden  müssen.  Natürlich  darf  das  hierbei  vorauszusetzende  Wissen  nicht 
von  den  individuell  variierenden  Bedingungen  des  Schulunterrichts  abhängig 
sein.  Die  Schwierigkeit  der  Reihen  ist  abstufbar  durch  die  Wahl  der 
Merkmale.  Man  kann  solche  wählen,  die  an  sich  anschaulicher  Natur 
(wenn  auch  im  Augenblick  nicht  anschaulich  gegeben)  sind,  oder  man 
kann  abstrakte  Merkmale,  z.  B.  den  Grad  der  Allgemeinheit,  wählen.  Wir 
geben  einige  Beispiele,  die  sich  beliebig  vermehren  lassen  (der  Ordnunga- 
gesichtspunkt  ist  jeder  Reihe  in  Klammern  beigefügt). 

Dieser  Test  kann  im  Einzelversuch  oder  im  Massenversuch  angewandt 
werden.  Im  ersten  Falle  geschieht  die  Darbietung  auf  Kärtchen,  deren 
jedes  den  Namen  eines  Begriffs  (unter  Umständen  auch  dessen  bildliche 
Darstellung)  enthält.  Die  Kärtchen  werden  durcheinandergemischt  vor- 
gelegt. Beim  Massenversuch  erhält  jeder  Prüfling  einen  Vordruck  der  un- 
geordnet nebeneinander  stehenden  Begriffe;  er  hat  sie  dann  in  richtiger 
Ordnung  darunter  zu  schreiben. 

Begriffsreihen. 


Gesichtspunkte 
der  Ordnung 


1.  Maus,  Pudel,  Schaf,  Esel,  Kuh,  Elefant 

2.  Blaubeere,  Kirsche,  Pflaume,  Birne,  Melone,  Kürbis 

3.  Säugling,  Schulkind,   Jüngling,   Mann,   Greis      .... 

4.  Neujahr,   Ostern,  Pfingsten,   Große  Ferien,  Herbstferien, 
Weihnachten 

5.  Vorgestern,  gestern,  heute,  morgen,  übermorgen    .     .     . 

6.  Zimmer,  Haus,   Straße,   Stadtteil,   Stadt,  Provinz,   Staat 

7.  Buchstabe,  Silbe,  Wort,  Satz,  Märchen,  Märchenbuch    . 

8.  Sekunde,  Minute,  Stunde,  Tag,   Woche,  Monat,   Jahr     . 

9.  Blattrippe,  Blatt,  Zweig,  Baum,  Wald 

10.  Wolkenbruch,  Hochwasser,  zerstörte  Brücken,  abgeschnit- 
tenes Dorf,  Hungersnot 

11.  Kriegserklärung,  Vormarsch,  Schlacht,  Sieg,  Waffenstill- 
stand, Friedensschluß 

12.  Pflügen,  Säen,  Düngen,  Mähen,  Dreschen,  Mahlen,  Backen 

13.  Geldbriefträger,  Briefträger,  Postbeamter,  Beamter,  Mann, 
Mensch 

14.  Baum,  Laubbaum,  Obstbaum,  Kirschbaum,  Sauerkirsch- 
baum   


Größe 
Alter 

Zeit 

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Teil  u.   Ganzes 


Ursache  U.Wirkung 

^     Logische  Folge 

von  Handlungen 

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Grad  der 

Allgemeinheit 

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*)  Der  Test  scheint  übrigens  recht  geeignet,  in  der  Psychologievorlesung  beim 
Kapitel  Farbenwahrnehmung  angewendet  zu  werden.  Denn  an  ihm  kann  sich 
der  Student  oder  Seminarist  selber  ein  Prinzip  des  psychologischen  Farben- 
systems, den  geschlossenen  Ring  der  bunten  Farben,  erarbeiten. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher  95 


Wählt  man  die  bei  manchen  Reihen  möglichen  bildlichen  Darstellungen 
statt  der  Worte,  so  ist  darauf  zu  achten,  daß  das  Ordnungsmerkmal  nicht 
zugleich  anschaulich  gegeben  ist.  Es  müßten  z.  B.  bei  Reihe  1  die  Tiere 
alle  gleichgroß  abgebildet  sein  (wodurch  voraussichtlich  die  Aufgabe  gegen- 
über der  Vorlage  in  Worten  erschwert  werden  würde;  denn  nun  muß  die 
Anschauung  der  gleichgroßen  Figuren  überwunden  werden  durch  den 
Gedanken  der  in  Wirklichkeit  verschiedenen  Größen). 

Das  Hinausgehen  über  die  bloße  Einreihigkeit  ist  bei  den  Begriffsord- 
nungen ebenso  möglich  wie  bei  den  Figurenordnungen:  mehrere  Reihen 
können  durcheinander  gemischt  werden  mit  der  Aufgabe,  sie  zu  trennen 
und  isoliert  zu  ordnen.  Auch  Kreuzungen  sind  herstellbar,  z.  B.  zwischen 
Reihe  9  und  14  (Schnittpunkt:  Baum),  zwischen  13  und  3  (Schnittpunkt: 
Mann);  doch  sind  diese  Aufgaben  sehr  schwer. 

Bei  älteren  Schülern  kann  man  nach  vollzogener  Ordnung  die  Angabe 
des  dabei  angewandten  „Gesichtspunktes"  verlangen. 

9.  Bilderbogenordnung.  Diese  Aufgabe  unterscheidet  sich  von  allen 
anderen  Ordnungstests  dadurch,  daß  es  sich  nicht  mehr  um  eine  Reihe 
handelt,  die  nach  irgendeinem  Merkmal  abgestuft  ist,  sondern  um  die 
Phasen  eines  sinnvollen  Zusammenhangs,  die  in  die  richtige  Reihenfolge 
gebracht  werden  sollen.  Die  Bilderbogen,  die  wir  oben  (bei  der  „Bilder- 
bogenerklärung") in  ihrer  richtigen  Abfolge  dargeboten  hatten,  werden 
jetzt  zerschnitten  vorgelegt,  und  der  Prüfling  hat  selbst  die  richtige 
Anordnung  der  durcheinander  gemischten  Einzelbilder  zu  finden. 

Die  Bilderbogen  müssen  auf  ihre  Eignung  zu  diesem  Versuch  besonders 
geprüft  werden;  finden  sich  doch  oft  in  ihnen  Darstellungen  von  Phasen, 
die  nicht  eindeutig  an  eine  bestimmte  Stelle  der  Reihe  passen;  solche 
Tdibilder  sind  fortzulassen.  Jedes  der  vorgelegten  Bilder  muß  sich 
zweifellos  in  eine  zeitliche  Handlungsabfolge  einfügen.  Andererseits  kann 
man  durch  Fortlassung  weiterer  Phasen  die  Aufgabe  erschweren,  indem 
nun  wichtige  Abschnitte  der  Handlung  kombinatorisch  ergänzt  werden 
können.  Hierdurch  sowohl  wie  durch  die  Auswahl  verschieden  schwerer 
Bilderbogen  ist  die  Schwierigkeit  mannigfach  abstufbar. 

Einige  solcher  Ordnungsversuche  mit  Bilderbogen  sind  bereits  vor  Jahren 
im  Breslauer  Seminar  angestellt,  aber  nicht  veröffentlicht  worden;  sie 
werden  jetzt  im  Hamburger  Seminar  durch  Fräulein  Heitsch  wieder  auf- 
genommen. Unabhängig  davon  ist  der  belgische  Forscher  Decroly  auf 
den  gleichen  Gedanken  gekommen,  worüber  er  in  einer  vorläufigen  Mit- 
teilung berichtet.  1)  Er  benutzte  11  Bilderbogen  aufsteigender  Schwierigkeit, 
deren  Inhalt  er  mit  wenigen  Worten  andeutet.  Die  vergleichende  Prüfung 
in  Normal-  und  Schwachsinnigenschulen  zeigte  sehr  starke  Unterschiede, 
sowohl  in  der  Fähigkeit,  die  richtige  Reihenfolge  herzustellen,  wie  auch  in 
dem  Zeitaufwand.  Die  Schwierigkeit  der  Bilderbogen  war  so  abgestuft, 
daß  die  leichtesten  schon  von  der  Mehrheit  der  7-  und  8jährigen  normalen 

*)  Epreuve  nouvelle  pour  l'examen  mental  et  son  application  aux  enfants 
anormaux.  Bull,  de  la  Soc.  d'Anthropologie  de  Bruxelles  Bd.  32,  Der.  1913.  — 
Ob  die  angekündigte  ausführlichere  Darstellung  erschienen  ist,  entzieht  sich 
meiner  Kenntnis. 


96 


William  Stern 


Kinder,  die  schwersten  dagegen  erst  von  den  12  jährigen  richtig  geordnet 
werden  konnten.  Der  Test  würde  also  auch  für  höhere  Altersstufen  ein- 
zurichten sein. 

Die  Versuche  im  Hamburger  Seminar  werden  zunächst  mit  dem  oben 
genannten  „Wiedersehen"  (Münchener  Bilderbogen  Nr.  915;  s.  d.  Abb.  S.  11) 
angestellt.     Außerdem  erwiesen  sich  die  folgenden  Bilderbogen  noch  als 


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Fig.  3  a, 


brauchbar,  zum  Teil  freilich  erst  nach  Beseitigung  einiger  Teilbilder,  deren 
Platz  in  der  Reihe  nicht  eindeutig  war:  Apfeldiebe  (Nr.  942);  Der  nasch- 
hafte Moppel  (Nr.  1057);  Diogenes  und  die  bösen  Buben  (Nr.  360)  i). 


»)  Die  Bilderbogen  sind  vom  Verlag  Braun  &  Schneider  in  München  zu  be- 
ziehen. Auskünfte  über  die  nötigen  Abänderungen  erteilt  gern  das  Hamburger 
Seminar,  Domstr.  8.  —  Der  Bilderbogen  „Diogenes"  stammt  von  Wilhelm  Busch; 
es  ist  zweckmäßig,  sich  hier  vor  Beginn  des  Versuches  zu  vergewissern,  ob  er 
nicht  bekannt  ist. 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher 


97 


IV.  Zuordnungstests. 

Zui'  Vervollständigung  der  Übersicht  sei  hier  nur  kurz  ein  neuer  Test 
von  A.  Franken,  Rektor  zu  Bielefeld,  geschildert^),  zu  dessen  Nachprüfung 
wir  noch  keine  Grelegenheit  hatten,  der  aber  nach  den  von  Franken  veröffent- 
lichten, sehr  eingehenden  Resultaten  für  die  uns  angehenden  Altersstufen 
geeignet  zu  sein  scheint.  Der  Test  stellt  die  Aufgabe,-  zu  je  einem  darge- 
botenen Begriff  aus  einer  Reihe  anderer  den  sinnvoll  dazu  gehörigen  Begriff 


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Fig.  3  b. 

zu  finden.  Aber  während  man  bisher  für  solche  und  ähnliche  Aufgaben 
stets  die  Begriffe  in  sprachlicher  Form  vorlegte,  arbeitete  F.  mit  Bildern 
und  erzielte  dadurch  den  Vorteil,  daß  die  Sprachfähigkeit  des  Prüflings 
keine  Rolle  spielt.  Es  ist  also  wiederum  ein  ,, stummer"  Test,  Geprüft 
wird  diejenige  Form  kombinatorischer  Gedankenarbeit,  die  wir  am  besten 
als  ,,Zuordnung"  bezeichnen  könnten.  Verbunden  ist  damit  ein  kritisch 


^)  A.  Franken,  Bilderkombinationen.    Ein  Beitrag  zum  Problem  der  Intelligenz- 
prüfungen.    Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  12,   S.    173 — 230,    1917. 
Zeitschrift  f.  p&dagog.  Psychologie.  7 


98  William  Stern 


wählendes  Verhalten,  da  aus  einer  großen  Menge  von  Kombinatlons- 
mögliclikeiten  die  richtige  gefunden  werden  soll. 

Das  Reizmaterial  besteht  in  zwei  Tafeln,  deren  jede  52  Bildchen  ent- 
hält (siehe  die  verkleinerten  Abbildungen  S.  32/33).  Mit  Jedem  Bildchen  der 
Tafel  I  steht  ein  Bildchen  der  Tafel  II  in  sinnvollem  Zusammenhang,  so 
Spinne,  Spinnennetz;  Stiefel,  Stiefelknecht;  Gewicht,  Wage;  rauchender 
Schornstein,  Schornsteinfeger;   Schmetterling,  Raupe  usw. 

Zur  Verwendung  im  Einzelversuch  wird  die  Tafel  I  durchschnitten; 
jedes  einzelne  Bildchen  muß  dann  auf  das  zu  ihm  "gehörige  Bildchen  von 
Tafel  II  gelegt  werden,  bis  möglichst  viele  Deckungen  erfolgt  sind.  Im 
Massenversuch  werden  beide  Tafeln  in  starker  Vergrößerung  an  die 
Wandtafel  gehängt.  Die  Bildchen  von  Tafel  I  sind  mit  Buchstaben,  die 
von  Tafel  II  mit  Ziffern  versehen.  Jedes  Kind  erhält  ein  Blatt  mit  Ziffern- 
vordruck und  hat  zu  jeder  Ziffer  (die  eine  Bildchennummer  von  Tafel  II 
bedeutet)  den  Buchstaben  des  dazu  gehörigen  Bildchens  von  Tafel  I  zu  fügen. 

Diese  beiden  Versuchsanordnungen  scheinen  mir  in  ihren  psychologischen 
Anforderungen  sehr  verschieden  zu  sein,  und  zwar  ist  der  Massen  versuch 
sehr  viel  schwerer.  Beim  Einzelversuch  wird  die  Arbeit  um  so  leichter, 
je  weiter  der  Versuch  fortschreitet ;  denn  es  sind  bereits  immer  mehr  Bild- 
chen verdeckt,  und  es  bleiben  daher  immer  weniger  für  die  weitere  Wahl 
übrig.  Diese  fortschreitende  Erleichterung  fehlt  im  Massen  versuch.  Außer- 
dem hat  bei  diesem  das  Kind  nicht  nur  die  Bilderzuordnung  zu  vollziehen, 
sondern  auch  die  sehr  viel  abstraktere  Zuordnung  von  Ziffern  zu  Buch- 
staben zu  verstehen  und  durchzuführen. 

Ein  Fehler  der  Versuchsanordnung,  der  dringend  der  Beseitigung  bedarf, 
ist  die  Mehrdeutigkeit  der  möglichen  Kombinationen.  Dem  Zirkel  vor 
Tafel  II  soll  das  Winkelmaß  von  Tafel  I  zugeordnet  sein;  aber  könnte 
man  ihm  nicht  mit  gleichem  Recht  die  Kreisscheibe  (die  als  G-egenstück  zur 
Armbrust  gedacht  ist)  zuordnen  ?  Ebenso  soll  die  Nixe  mit  dem  Zwerg 
(nicht  etwa  mit  dem  Fisch),  die  Gabel  mit  dem  Löffel  (nicht  etwa  mit 
dem  Messer)  kombiniert  werden.  Von  den  vielen  ,, sinnvollen  Fehlern", 
die  Franken  feststellte,  wird  ein  beträchtlicher  Teil  auf  dieser  Vieldeutig- 
keit beruhen ;  für  künftige  Zwecke  müßten  für  die  Bildertafeln  nur  solche 
Begriffspaare  ausgesucht  werden,  bei  denen  die  Gefahr  des  Ineinander- 
übergreifens  möglichst  gering  ist. 

Natürlich  bieten  die  einzelnen  Paare  für  die  Lösungen  sehr  verschiedene 
Schwierigkeit;  darin  ist  aber  kein  Mangel  zu  sehen,  im  Gegenteil:  es  ist 
ein  gutes  diagnostisches  Moment  für  die  Intelligenz,  ob  die  Leistungen  eines 
Prüflings  sich  vorwiegend  auf  die  leichteren  oder  auch  in  größerem  Umfang 
auf  die  schwereren  Zuordnungen  erstrecken. 

Aus  den  zahlreichen  und  gründlichen  tabellarischen  Berechnungen,  die 
F.  bringt,  ziehen  wir  hier  nur  die  für  unseren  Zweck  wichtigen  Ergeb- 
nisse in  vereinfachter  Form  heraus;  sie  stammen  aus  den  Massenver- 
suchen, bei  denen  aus  jeder  Altersstufe  ungefähr  100  Kinder  geprüft  wurden. 
Die  Prozentzahl  der  , »Treffer"  ist  berechnet  als  das  Verhältnis  der  richtigen 
Lösungen  zu  den  geforderten  Kombinationen,  die  ,, Urteilstreue"  dagegen 
als  das  Verhältnis  der  richtigen  Lösungen  zu  den  vom  Kinde  versuchten 


Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher 


99 


Kombinationen.  Der  letztere  Wert  drückt  also  aus,  wie  weit  das  Kind  selbst 
Kritik  übt  und  die  Herstellung  beliebiger  sinnloser  Kombinationen  vermied. 


Alter: 

7 

8 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

Prozentzahl      (      Knaben 
der  Treffer      \      Mädchen 

5,2 
3,8 

7,2 
7 

9,2 
9,2 

18,4 
14,6 

33 
22 

43,2 
34 

40,6 
32,8 

52 
42,2 

Urteilstreue     {      ^^nab^^^^^ 

12,7 
10,6 

24,3 
22,7 

24 
25,3 

47,7 
37,2 

57,4 
45 

62,7 
53,6 

58,6 
56,1 

66,2 
60,6 

Die  Tabelle^)  zeigt  eine  durchgehende,  wenn  auch  nicht  bedeutende 
Rückständigkeit  der  Mädchen,  vor  allem  aber  einen  raschen  Anstieg 
der  Werte  in  den  Altersstufen  10  bis  12.  Namentlich  geht  aus  der 
Zunahme  der  Urteilstreue  hervor,  daß  erst  hier  das  Kind  beginnt,  bei  der 
Auswahl  der  Zuordnungen  eine  gewisse  Kritik  zu  entfalten.  Für  die  sieben- 
bis  neunjährigen  Kinder  ist  der  Test  augenscheinlich  zu  schwer,  bei  den 
dreizehn-  und  vierzehnjährigen  ist  keine  bedeutende  Steigerung  der  Leistun- 
gen mehr  ersichtlich.  Allerdings  wird  auch  hier  der  Trefferprozentsatz 
60%  noch  nicht  oder  kaum  erreicht;  es  ist  daher  möglich,  daß  jenseits 
des  vierzehnten  Jahres  noch  einmal  ein  Aufstieg  zu  weit  höheren  Lösungs- 
prozenten stattfindet.  Vermutlich  werden  dann  gerade  die  schwereren 
Kombinationen,  die  bei  den  Jüngeren  meist  ungelöst  bleiben,  in  größerer 
Anzahl  bewältigt  werden.  Daß  der  Test  geeignet  sein  dürfte,  zur  Er- 
mittlung besonders  intelligenter  Kinder  der  Mittelstufe  zu  dienen,  zeigt 
nicht  nur  der  allgemeine  schnelle  Altersfortschritt  zwischen  zehn  und  zwölf 
Jahren,  sondern  auch  eine  andere  Berechnung.  F.  teilte  die  Kinder  jedes 
Jahrgangs  nach  der  Anzahl  der  Trefferprozente  in  drei  Gruppen,  eine 
schwache,  mittlere  und  gute.  Wurde  nun  für  jede  dieser  Gruppen  der  Alters- 
fortschritt gesondert  berechnet, so  ergab  sich^)  :ein  einigermaßen  bemerkens- 
werter Altersfortschritt  für  Treffe.rzahl  und  Urteilstreue  war  bei  den 
Schwachbegabten  erst  im  12.  Lebensjahr  zu  finden.  Kinder  von  normaler 
Kombinationsfähigkeit  entwickeln  diese  Eigenschaft  zwischen  dem  elften 
und  zwölften  Lebensjahr.  Begabte  Schüler  erreichen  dagegen 
schon  im  zehnten  Lebensjahr  mit  großer  Schnelligkeit  einen 
bedeutenden  Grad  sowohl  in  der  Findung  richtiger,  wie 
in  der  Vermeidung  falscher  Kombinationen.  Die  drei  Begabungs- 
gruppen zeigen  gerade  bei  den  Zehnjährigen  folgende  starke  Unterschiede : 


10  jährige  Schüler  mit 
schwacher  |    mittlerer    |        guter 
Kombinationsfähigkeit 

Prozentzahl 
der  Treffer 

{ 

Knaben 
Mädchen 

1,7 
2,1 

8.6 
7,1 

17,9 
12,5 

Urteilstreue 

{ 

Knaben 
Mädchen 

13,5 
11,2 

44,4 
39,4 

66,7 
50 

1)  Ausgezogen  aus   Frankens   Tabelle    11,    S.    204. 
*)  Nach  Frankens  Tabelle  12,  S.  207. 


100         William  Stern,  Höhere  Intelligenztests  zur  Prüfung  Jugendlicher 

Somit  darf  man  einem  guten  Ausfall  dieses  Tests  gerade  bei  zehnjährigen 
Prüflingen  diagnostischen  Wert  beimessen. 

Die  Fähigkeit  der  „Zuordnung"  läßt  sich  übrigens  auch  an  ganz  anders- 
artigem Material  prüfen,  und  zwar  mit  Methoden,  bei  denen  manche 
Schwächen  des  Franken'schen  Verfahrens  vermieden  werden  könnten.  Die 
Aufgabe  wird  stets  so  zu  stellen  sein,  daß  aus  einer  größeren  Anzahl  von 
Reizen  jeweilig  derjenige  herausgefunden  werden  muß,  der  zu  einem  andern 
Reiz  in  sinnvoller  Beziehung  steht. 

Für  sprachliches  Material  hatte  Minkus  bereits  seinem  Bindeworttest 
(s.  S.  5)  einen  Zuordnungsversuch  hinzugefügt.  Nachdem  die  Prüflinge 
die  Textlücken,  so  weit  sie  konnten,  ausgefüllt  hatten,  erhielten  sie  alpha- 
betische Listen  der  einzutragenden  Wörter  mit  der  Aufforderung,  auf  Grund 
dieser  Verzeichnisse  die  noch  etwa  verbliebenen  Lücken  zu  ergänzen;  hier 
mußten  die  Prüflinge  „zuordnen",  indem  sie  entweder  zu  einer  unverständ- 
lichen Lücke  das  passende  Wort,  oder  zu  einem  Wort  der  Liste  den 
passenden  Platz  im  Text  suchten.  Es  ist  eine  ähnliche  geistige  Leistung, 
wie  das  Aufsuchen  einer  Vokabel  im  Wörterbuch,  namentlich  dann,  wenn 
die  Vokabel  verschiedene  Bedeutungen  hat,  von  denen  nur  eine  in  die  zu 
übersetzende  Stelle  paßt.  Das  Verfahren  verdient  wohl,  als  selbständiger 
Test  ausgebaut  zu  werden. 

Auch  die  Zuordnung  von  Bild  zu  Text  wäre  verwendbar.  Es  gibt 
Münchener  Bilderbogen,  welche  Illustrationen  zu  Sprichwörtern  enthalten. 
Werden  von  diesen  Bildern  die  Unterschriften  entfernt,  andererseits  die 
Sprichwörter  in  einer  alphabetisch  geordneten  Liste  vorgelegt,  so  kann  nun- 
mehr die  Zuordnung  verlangt  werden. 


Das  psychologische  Laboratorium  zu  Hamburg  (Domstrasse  8)  ist  gern 
bereit,  über  die  oben  beschriebenen  Prüfungsmethoden  und  die  dazu  nötigen 
Materialien  nähere  Auskunft  zu  erteilen. 


Über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  bei  der 
Aufnahmeprüfung  in  ein  Lehrerinnenseminar. 

(Aus  dem  psychologischen  Laboratorium  in  Hamburg.) 
Von  0.  Melchior  und  A.  Penkert. 

Inhalt:  I.  Zur  Einführung  (O.  Melchior).  —  II.  Die  Methode  der  Bindewort- 
Ergänziing  (O.  Melchior).  —  III.  Der  Bilderbogentest  (A.  Penkert). 

L  Zur   Einführung. 

Von  O.  Melchior. 

Bei  der  großen  Zahl  von  Bewerberinnen,  die  sich  alljährlich  zum  Ein- 
tritt in  das  Hamburger  Lehrerinnenseminar  melden,  wird  der  sorgfältige 
Ausbau  der  Aufnahmeprüfung  zu  einer  notwendigen  Forderung.  Seit 
Jahren  schon  haben  wir  das  alte  Prüf ungs verfahren,  das  im  wesentlichen 


O.  Melchior  und  A.  Penkert,  Über  die  Anwendung  zweier  psych.  Methoden  usw,   101 

nur  die  erworbenen  Kenntnisse  feststellt  und  den  fleißigen  Schüler  heraus- 
findet, durch  neue  Bestimmungen  ergänzt,  wodurch  hauptsächlich  die 
allgemeine  oder  besondere  Begabung  und  die  geistige  Reife  der  Auf- 
zunehmenden ermittelt  werden  soll.  Alle  die  hier  in  Frage  kommenden 
Maßnahmen  einzeln  aufzuzählen,  würde  zu  weit  führen.  Nur  darauf  sei 
hingewiesen,  daß  wir  in  der  schrifthchen  Prüfung  für  Klasse  V  (die  unterste 
Klasse)  die  beliebten  Fragen  aus  den  Wissensfächern  ganz  ausschließen 
und  während  der  drei  Tage,  die  für  diesen  Teil  der  Prüfung  festgesetzt 
sind,  nur  Aufsätze  und  Rechenarbeiten  fordern.  Die  Themen  für  die  drei 
Aufsätze  werden  so  gewählt,  daß  die  verschiedensten  Anlagen  sich  zeigen 
können.  Während  die  eine  Arbeit  den  Charakter  des  freien  Aufsatzes 
trägt,  soll  die  andere  mehr  den  Nachweis  der  sprachlich-logischen  Fähigkeit, 
der  klaren  und  geordneten  Gedankenfolge,  erbringen.  Endlich  wird  im 
sogenannten  ,, dritten  Aufsatz"  von  den  Prüflingen  verlangt,  daß  sie  den 
Hauptinhalt  einer  Abhandlung,  die  ihnen  ohne  irgendwelche  Überschrift 
vorgelegt  wird,  in  kurzen  Sätzen  wiedergeben  und  mit  einer  Überschrift 
versehen. 

Es  war  deshalb  nur  ein  Schritt  weiter  auf  dem  Wege,  auf  dem  wir  bereits 
standen,  als  wir  auf  Anregung  unseres  damaligen  Direktors,  des  jetzigen 
Schulrats  Herrn  Prof.  Dr.  Umlauf,  bei  der  letzten  Aufnahmeprüfung  uns 
entschlossen,  auch  das  psychologische  Experiment,  und  zwar  in  Form  der 
sogenannten  Intelligenzprüfung,  mit  zu  Rate  zu  ziehen.  Von  vornherein 
erkannten  wir  die  Grenzen  für  dieses  neue  Prüfungsmittel.  Nach  dem 
jetzigen  Stande  der  Forschung  konnten  die  Ergebnisse  solcher  Prüfungen 
nicht  entscheidend  bei  der  Aufnahme  mitsprechen.  Und  selbst  wenn 
die  fortschreitende  junge  Wissenschaft  ihre  Methoden  verfeinert  und  die 
noch  vorhandenen  Fehlerquellen  weiterhin  ausscheidet,  wird  die  experi- 
mentelle Prüfung  immer  nur  ergänzen  und  unterstützen,  nicht  aber  eine 
methodisch  geleitete  Beobachtung  ersetzen  können.  Das  Tiefste  der  Persön- 
lichkeit jedoch  erschließt  sich  niemals  einem  rein  technischen  Ermitte- 
lungsverfahren. Der  Weltkrieg  vor  allem  hat  gezeigt,  wie  die  Anpassung 
des  Menschen  an  neue  und  ungeahnte  Lebensbedingungen  außerhalb 
jeder  Berechnung  steht;  wie  sich  Entwicklungen  vollziehen,  die  unerwartet 
einsetzen  und  deren  Verlauf  unfaßbar  und  unmeßbar  ist. 

Nach  Klärung  des  grundsätzlichen  Standpunktes  gingen  wir  zur  prak- 
tischen Arbeit  über.  Der  Leiter  des  hiesigen  psychologischen  Laboratoriums, 
Herr  Prof.  Dr.  W.  Stern,  unterstützte  uns  hierbei  in  entgegenkommendster 
Weise.  Freilich  stand  die  Vorbereitung  unter  dem  Druck  des  sehr  nahen 
Prüfungstermins ;  der  Entschluß  zur  Hinzuziehung  psychologischer  Metho- 
den war  erst  wenige  Wochen  vor  Beginn  der  Prüfung  gefaßt  worden. 
Infolgedessen  konnten  nur  kurze  gemeinsame  Beratungen  stattfinden; 
auch  mußte  die  Ausarbeitung  neuer,  dem  besonderen  Zweck  eigens  anzu- 
passender Tests  unterbleiben.  Wir  hatten  lediglich  die  Möglichkeit,  aus 
den  im  psychologischen  Laboratorium  gerade  verfügbaren  Tests  einige 
auszuwählen. 

Es  ist  bestimmt  zu  erwarten,  daß  in  Wiederholungsfällen  eine  früher 
einsetzende  Vorbereitung   in  Verbindung   mit  den  nun  vorliegenden  Er- 


102  O«  Melchior  und  H.  Penkert 

fahrungen  dazu  führen  whd,  die  Verwendung  von  Tests  zu  Aufnahme- 
prüfungen noch  fruchtbringender  zu  gestalten.  Solche  Wiederholungen 
sind  in  Hamburg  geplant;  natürlich  muß  dann  jedesmal  mit  den  Tests 
gewechselt  werden.  —  Es  wurden  folgende  drei  Prüfungsformen  ausgewählt: 
1.  eine  Textlückenergänzung  (Lückentext  nach  Minkus),  2.  ein  Bilderbogen- 
test und  3.  ein  Definitionstest.  Die  beiden  ersten  Tests  hatten  die  Prüflinge 
nach  Beendigung  der  schriftlichen  Aufnahmeprüfung  zu  bearbeiten.  Der 
Definitionstest  wurde  an  den  Schluß  der  mündhchen  Prüfung  verlegt. 
Die  Auswahl  dieser  Tests,  die  mit  Rücksicht  auf  Alter  und  Vorbildung  der 
Prüflinge  getroffen  wurde,  erwies  sich  als  zweckmäßig.  Ihr  G-ebrauch 
ist  unter  ähnlichen  Voraussetzungen  zu  empfehlen.  Und  doch  scheint 
mir  hier  noch  ein  Problem  vorzuliegen,  dem  wir  damals  nicht  näher  getreten 
sind:  ich  meine  das  Problem  der  Lebensbahnberatung ^).  Das  Lehrerin- 
nenseminar ist  eine  Schulanstalt,  die  nicht  nur  höhere  Lehrziele  verfolgt, 
sondern  in  ihren  oberen  Klassen  zugleich  auf  einen  bestimmten  Beruf  vor- 
bereitet. Da  erhebt  sich  die  heute  so  viel  erörterte  Frage,  die  —  auf  den 
Lehrerberuf  bezogen  —  lautet:  Sind  bei  Ausübung  dieses  Berufs  außer 
einem  bestimmtenMaße  von  Intelhgenznoch  gewisse  eigenartige  (spezifische) 
seelische  Leistungen  erforderhch?  Eine  Bearbeitung  dieser  Frage  würde 
der  weiteren  Ausgestaltung  der  Seminar-Aufnahmeprüfungen  wertvolle 
Gesichtspunkte  zuführen^). 

Über  die  Anwendung  und  die  praktischen  Ergebnisse  des  Minkusschen 
Lückentextes  unterrichtet  die  nachstehende  Abhandlung.  Herr  Seminar- 
lehrer Penkert  wird  über  den  zweiten  Test  berichten.  Der  Definitions- 
test konnte  noch  nicht  bearbeitet  werden.  Die  wissenschaftliche  Ver- 
wertung des  reichen  Materials  erfolgt  in  Arbeitsgemeinschaften,  die  dem 
psychologischen  Laboratorium  angegliedert  sind. 


1)  Vgl.  hierzu:  W.  Stern,  Beratende  Psychologie  (Sonntagsbeilage  der  "Vossischen 
Zeitxing  Nr.  242  und  Nr.  254.  Jahrgang  1917).  —  Ausführlicheres  findet  sich  in  der 
Programm  Schrift:  W.  Stern,  Jugendkunde  als  Kulturforderung.  Leipzig  1916.  — 
Siehe  auch:  E.  Spranger,  Begabung  und  Studium  (hieraus  besonders  Abschnitt  5: 
Maßregeln   zur   Erkenntnis  und  Förderung  hervorragend   Begabter). 

*)  Erfreulicherweise  sind  solche  Untersuchungen,  wie  sie  oben  von  Melchior 
gefordert  werden,  bereits  im  Gange.  Verwiesen  sei  auf  die  Abhandlung  von  Else 
Voigtländer:  „Zur  Psychologie  der  Erzieherpersönlichkeit"  (diese  Ztschr..  18  (9/10), 
Sept./Okt.  1917,  S.  385)  und  auf  die  aus  der  Robert  Rißmann- Stiftimg  mit  einem 
Preise  bedachte  Schrift  von  E.  Hylla:  „Über  die  psychische  Eignung  zum  Lehrer- 
beruf". (Sie  wird  in  der  Deutschen  Schule  veröffentlicht  werden.)  Auch  der  xun- 
fassende  Fragebogen  über  die  psychische  Eignung  für  höhere  Berufe,  den  Dr.  Martha 
Ulrich  entworfen  hat,  wird  mit  Vorteil  für  diesen  Zweck  herangezogen  werden  können. 
(„Die  psychologische  Analyse  der  höheren  Berufe  als  Grundlage  einer  künftigen 
Beruf sberatvmg."  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie  13,  S.  1  ff.  Auch  gesondert 
als  Nr.  4  der  ,, Schriften  zur  Psychologie  der  Berufseignung"  hrsg.  von  Lipmann 
und  Stern.)  Ferner  ist  hierzu  die  obengenannte  Schrift  Sprangers  zu  beachten. 
—  Der  Beitrag,  den  die  Psychologie  von  der  Seite  der  Eignimgsforschung  her  zur 
Ausgestaltvmg  der  Aufnahmeprüfungen  beizusteuern  vermag,  scheint  mir  eben  so 
wichtig  zu    sein   wie   die  Hilfe,    die  sie  mit  iliren  Testmethoden    gewähren    kann. 

W.  Stern. 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  103 


II.  Die   Methode  der  Bindewort-Ergänzung^). 

Von  O.  Melchior. 

Auf  die  Mannigfaltigkeit  der  Fragestellung,  die  bei  theoretischen  Unter- 
suchungen so  wichtig  ist,  durften  wir  bei  unserer  Prüfung  und  bei  der  Be- 
wertung ihrer  Ergebnisse  nur  wenig  Rücksicht  nehmen.  Uns  mußte  der 
praktisch-pädagogische  Gesichtspunkt  leiten.  Nicht  weniger  als 
196  Prüflinge  standen  zur  Auswahl;  von  diesen  konnte  nui'  eine  sehr  be- 
schränkte Zahl  —  ungefähr  14%  —  Aufnahme  finden.  In  bezug  auf  Alter 
und  Vorbildung  bestanden  die  geringsten  Differenzierungen  für  Klasse  V, 
während  diese  Unterschiede  bei  den  Anmeldungen  für  die  IV.  und 
III.  Klasse  deutlicher  hervortraten.  Aus  dieser  großen  und  bunten 
Masse  sollten  die  intelligentesten  Teile  fürs  Seminar  gewonnen  werden. 
—  Zur  Bewältigung  der  Korrektur  blieb  verhältnismäßig  wenig  Zeit. 
Außerdem  ist  die  Arbeit  ja  immer  neben  einer  vollwertigen  Berufs- 
tätigkeit zu  leisten.  So  oder  ähnlich  aber  liegen  die  Verhältnisse  bei  allen 
derartigen  Prüfungen !  Der  Zeitraum  zwischen  dem  schrifthchen  und  münd- 
lichen Teile  der  Prüfung  ist  oft  noch  viel  kürzer  bemessen  als  bei  uns. 
Deshalb  wird  man  genötigt  sein,  bei  der  praktischen  Anwendung  der 
Tests  eine  Vereinfachung  des  Gesamtverfahrens  durchzuführen. 
Ein  Test  für  Versuchszwecke  muß  einen  andern  Charakter 
haben  als  ein  Prüfungstest.  Mit  allem  Nachdruck  möchte  ich  auf 
diesen  Unterschied  hinweisen.  Aus  diesem  Grunde  hatten  wir  nicht  drei 
Phasen  der  Textausfüllung  vorgesehen,  sondern  nur  deren  zwei,  unter 
Wegfall  der  ersten.    Die  Prüfung  selbst  nahm  folgenden  Verlauf: 

Die  Schülerinnen  waren  auf  verschiedene  Prüfungsräume  verteilt.  Um 
die  Prüfung  einheitlich  zu  gestalten,  erhielten  die  aufsichtführenden  Lehr- 
personen schriftliche  Anweisungen  eingehändigt.  Nach  Verteilung  der 
Lückentexte^)  wurde  die  Anweisung  vorgelesen.  Sie  hatte  folgenden  Wort- 
laut: ,,Hier  ist  eine  Geschichte  erzählt,  in  der  an  jeder  leer  gelassenen 
Stelle  ein  Wort  ausgelassen  ist.  Ihr  sollt  jedesmal  das  passende  Wort 
einfügen.  Wenn  Ihr  eine  Lücke  nicht  gleich  ausfüllen  könnt,  so  laßt  sie 
einstweilen  frei  und  geht  weiter.  Glaubt  aber  nicht,  daß  das  einzufügende 
Wort  immer  so  lang  wie  die  Lücke  sein  muß."  —  Nach  einer  Stunde: 
,, Jetzt  legt  die  Federhalter  beiseite  und  nehmt  den  Bleistift  zur  Hand. 
Ihr  bekommt  von  mir  einen  Zettel,  auf  dem  alle  fehlenden  Worte  drauf- 
stehen,  natürlich  nicht  in  der  richtigen  Reihenfolge.  Nun  prüft  Eure  Arbeit 
mit  Hilfe  dieses  Zettels.  Ihr  dürft  mit  Bleistift  Eure  Arbeit  verbessern 
und  ergänzen.  Die  auf  dem  Zettel  stehenden  Worte  müssen  übrigens 
zum  Teil  mehrfach  angewendet  werden."  —  Die  Dauer  der  Prüfung  war 
auf  1^  Stunden  —  ohne  Unterbrechung  —  festgesetzt. 


^)  Vgl.  die  voranstehende  Abhandlimg:  W.  Stern,  Höhere  Intelligenztests  zur 
Prüfung  Jugendlicher.    S.  4  ff. 

*)  Lückentext  und  Wortliste,  auf  die  ich  des  öfteren  verweisen  muß,  sind 
ebenfalls  in  der  Arbeit  von  Stern,   S.   7/8  abgedruckt. 


104 


O.  Melchior  und  H.  Penkert 


Die  während  dieser  Zeit  gesammelten  Beobachtungen  wurden  schrift- 
lich festgelegt.  Sie  ergaben  manche  praktische  Fingerzeige.  Die  ange- 
setzte Zeit  war  hiernach  zu  reichlich  bemessen.  Für  reifere  Prüflinge  genügen 
46  Minuten  für  die  erste  und  20  Minuten  für  die  zweite  Phase.  Die  An- 
weisung war  von  allen  verstanden  worden.  "Wenn  trotzdem  noch  Fragen 
über  die  Ausführung  der  Arbeit  gestellt  wurden,  so  lag  dies  mehr  an  gewissen 
Mängeln  der  Textvorlage,  wovon  später  noch  die  Rede  sein  wird.  Bei  der 
Bearbeitung  dieses  Tests  ist  besonders  scharfe  Aufsicht  nötig.  Ein  flüch- 
tiger Blick  zur  Nachbarin  kann  recht  lohnend  ausfallen ;  er  genügt,  um  das 
fehlende  oder  bessere  Wort  zu  erhaschen. 

Die  Korrektur  ließ  den  Unterschied  zwischen  einem  wissenschaft- 
lichen Versuch  und  unserer  Prüfung  besonders  deutlich  erkennen.  Dort 
wird  das  gewonnene  Material  nach  bestimmten  Grundsätzen  verarbeitet; 
von  der  Vielseitigkeit  und  Klarheit  der  Fragestellung  ist  nicht  zuletzt 
der  Gewinn  für  die  Wissenschaft  abhängig.  Ein  solch  gründlich  durch- 
dachtes und  reich  gegliedertes  System  kann  theoretisch  ungemein  fesseln, 
ist  aber  für  Prüfungszwecke  nicht  durchführbar.  Soll  sich  ein  Test  als 
praktisch  brauchbar  erweisen,  so  muß  das  durch  ihn  vereinigte  Mate- 
rial auch  korrekturfähig  sein,  d.  h.  es  muß  ein  möglichst  einfaches 
Korrekturschema  zugrunde  gelegt  werden  können,  das  aber  trotzdem  die 
Stoffe  schnell  und  sicher  abstuft  und  bewertet.  So  traten  denn  alle  die  sich 
herandrängenden  Fragen  aus  dem  Gebiete  der  differentiellen  und  der  Denk- 
psychologie schließlich  zurück  zugunsten  der  praktisch -nüchternen  Über- 
legung: Ist  die  Lücke  richtig,  zulässig  oder  falsch  ausgefüllt?  Eine  vierte 
Spalte  sollte  die  Arbeitsweise  des  Prüflings  erkennen  lassen;  sie  trug  die 
Überschrift:  Korrigiert  (d.  h.  wie  oft  selbst  korrigiert?).  Nach  diesem 
Schema  wurden  beide  Arbeiten,  die  mit  Tinte  geschriebene  I.  und  die  mit 
Bleistift  angefertigte  II.  Arbeit,  durchgesehen.  Eine  ,, Zusammenfassung" 
bot  die  erforderliche  schnelle  Übersicht.  Das  ,, Zeugnis"  mit  den  Graden 
1  bis  5  und  einfachen  Zwischenzensuren  gestattete  Vergleich  und  Rang- 
ordnung. Das  Korrekturschema  —  nebst  einem  ausgeführten  Beispiele  — 
hatte  demnach  folgendes  Aussehen: 


I.  Arbeit 

IL  Arbeit 

Zusammenfassung 

Zeugnis 
(Bern.) 

Name 

u 

Ü 

o 

-§.«' 

•a-*" 

..SP 

3    CO 

Xi 
o 
tß 

o 

ä  'm 
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ü 

CO 

o 

1  1 
1  1 
1  1 

' 

1 

1 
1 

1    1 

1 

40 
(30+10) 

5 

(2+3) 

5 

(5+0) 

6 

(6+0) 

2—3 
Sorgfalt? 

Die    praktischen    Ergebnisse. 

1.  Ein  Vergleich  zwischen  den  Ergebnissen  der  Intelligenzprüfung  mit 
den  Zeugnissen  für  die  alten  Prüfungsfächer  ergab  bei  einer  größeren 
Zahl  von  Einzelfällen  auffallende  Widersprüche.     In    bezug    auf    die 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  105 


Gesamtergebnisse    dagegen    ist   eine    weitgehende    Übereinstimmung 
zwischen  beiden  Prüfungsformen  festzustellen. 

Belege:  Für  die  fünf  Prüflinge,  die  in  Klasse  IV  aufgenommen  wur- 
den^), lauten  die  Zeugnisse  für  Intelligenzprüfung:  2 — 3;  2;    1 — 2;  2;  2, 
Zusammenstellung  für  Klasse  V:  Nach  der  schriftlichen  Prüfung  schieden 
aus:  124;  davon  hatten 
weniger  als  genügend    (darunter  siebenmal  die   5):      73  =58,87  % 

gut 5  =    4,03  % 

mehr  als  gut —  — 

Nach  der  mündlichen  Prüfung  schieden  aus:  21;  davon  hatten 

weniger  als  genügend  (darunter  keine  5): 3  =14,28  % 

gut 10  =47,61  % 

mehr  als  gut .     —         — 

Aufgenommen  wurden:  23;  davon  hatten 

weniger  als  genügend  (darunter  keine  5): 4  =  17,39  % 

gut 9  =39,13  % 

mehr  als  gut 2  =   8,69  % 

Ergebnis:  Nach  dieser  Zusammenstellung  bestehen  im  allgemeinen 
günstige  Beziehungen  zwischen  den  Ergebnissen  der  Intelligenzprüfung 
und  der  bisher  bei  uns  bewährten  Prüfungsform. 

2.  Auffallend  ist,  daß  weder  die  besten  noch  die  schlechtesten  Leistungen 
unter  den  für  die  Klassen  III  und  IV  geprüften  Schülerinnen  vertreten 
sind.    Die  größten  Schwankungen  finden  sich  in  Klasse  V. 

Belege:  für  Klasse  III  liegen  die  Zeugnisse  zwischen  4  und  2; 

IV        „        „  „        .         „         4  und  1—2; 

,,        ,,       V  vgl.  die  Belege  unter  ll 

Ergebnis:  Der  Test  eignet  sich  im  besonderen  Maße  für  eine  bestimmte 
Alterstufe  (14.  bis  15.  Lebensjahr). 

3.  Die  Abhängigkeit  der  Leistung  von  der  sprachlichen  Umgebung, 
besonders  aber  von  der  systematischen  sprachlichen  (fremdsprachlichen!) 
Schulung  scheint  sicher  zu  sein. 

Belege:  Zahl  der  Anmeldungen  für  Klasse  III:  6; 

aus  höheren  Schulen :  4 ;  Zeugnisse  der  Intelligenzprüfung  :• 

2—3;  2—3;  2;  2; 
aus  Volksschulen:  2;    Zeugnisse    der    Intelligenzprüfung: 
3;  4; 
Zahl  der  Anmeldungen  für  Klasse  IV :  22 ; 

aus  höheren  Schulen :  12;  Zeugnisse  der  Intelligenzprüfung : 

3—4;  3;  2—3;  2—3;  2;  2;  2;  2;  2;  2;  1—2;  1—2; 
aus  Volksschulen:  10;  Zeugnisse  der  Intelligenzprüfung:  4; 
4;  3—4;  3;  2—3;  2—3;  2;  2;  2;  2. 
Ergebnis:  Wenn  man  mit  Stern  unter  Intelligenz  ,,die  allgemeine 
geistige  Anpassungsfähigkeit    an   neue  Aufgaben  und  Bedingungen  des 

^)  In  Klasse  III  fand  keine  der  Bewerberinnen  Aufnahme. 


X06  O-  Melchior  und  H.  Penkert 

Lebens"  verstellt,  so  ist  unser  Test  zur  Intelligenzprüfung  im  eigentlichen 
Sinne  nicht  zu  empfehlen.  Er  ist  vielmehr  ein  Prüfungsmittel  zur  Fest- 
stellung sprachlich-logischer  Funktionen.  Schüler  mit  guter  fremdsprach- 
licher Schulung  sind  von  vornherein  günstiger  eingestellt. 

Zusammenfassung:  Somit  eischeint  der  Ergänzungstest  (Methode 
der  Bindewort-Ergänzung)  als  ein  Mittel  zur  Feststellung  sprachlich- 
logischer Funktionen.  Er  ist  am  besten  geeignet  für  das  14.  bis  15.  Lebens- 
jahr, und  zwar  für  solche  Prüflinge,  die  ohne  besondere  fremdsprachliche 
Vorbildung  sind. 

Zur   Methodologie  ist  folgendes  zu  bemerken: 

Die  Bearbeitung  des  Textes  ist  nach  sprachlich-logischen  Gesichts- 
punkten erfolgt.  Der  Verfasser  hat  eine  erstaunliche  Gedankenschärfe 
aufgeboten  und  einen  systematischen  Ausbau  geschaffen,  der  kaum  noch 
übertroffen  werden  kann.  Aus  der  ,, Verteilungsübersicht  der  Lücken 
nach  logischen  Kategorien"^)  ist  deutlich  zu  ersehen,  wie  alle  Gruppen 
der  Konjunktionen  vertreten  und  umsichtig  verteilt  sind.  Für  jede  der- 
selben ist  eine  gleiche  Zahl  von  Lücken  bestimmt.  Innerhalb  jeder  Gruppe 
sind  die  Schwierigkeiten  gleichartig  gedacht.  Um  zu  verhüten,  daß  statt 
der  erforderhchen  Konjunktionen  Flickwörter  (da,  oder)  gesetzt  werden, 
sind  solche  bereits  in  den  gedruckten  Text  aufgenommen  (z.  B.  bei  Lücke 
40!).  Kurz,  mit  allen  Mitteln -logischer  und  spi achlicher  Kunst  soll  ein 
gleichartiges  und  eindeutiges  Material  gewonnen  werden. 

Trotzdem  sind  Einwände  in  methodischer  Hinsicht  zu  erheben ;  sie 
richten  sich  zunächst  gegen  die  schon  erwähnte  Textveränderung.  Dadurch 
aber  werden  verschiedene  Stellen  der  Vorlage  sprachlich  mangelhaft. 
Einige  Prüflinge  haben  denn  auch  Korrekturen  des  Textes  vorgenommen 
oder  diesbezüghche  Fragen  bei  der  Bearbeitung  gestellt.  Daß  derartige 
Mängel  die  Leistung  beeinträchtigen,  ist  ohne  weiteres  anzunehmen.  — 
Schwerer  wiegen  die  Bedenken,  die  das  Wesen  der  Methode  selbst  treffen. 
In  der  Anweisung  wird  gefordert,  daß  bei  jeder  Lücke  das  ,, passende  Wort" 
einzufügen  ist.  Nun  zeigen  sich  Leistungen,  die  als  gelungen  gelten  müssen, 
die  jedoch  Worte  aufweisen,  welche  nicht  immer  die  gewünschten  Kon- 
junktionen sind.  Sogar  Vertreter  anderer  Wortklassen  (z.  B.  der  Adverbien) 
finden  eine  sinngemäße  Anwendung.  Recht  bemerkenswert  hierbei  ist 
die  Verschiedenheit  der  Worthsten,  die  von  Minkus-Stern  und  vom  Seminar 
Freiligrathstraße  zusammengestellt  wurden.  Die  Denkmöglichkeiten  sind 
eben  mannigfaltiger  und  lassen  sich  nicht  in  eine  bestimmte  grammatische 
Kategorie  einzwängen.  Deshalb  ist  das  Material  nicht  so  ,, einheitlich  und 
in  sich  vergleichbar",  wie  es  erwartet  wurde. 

Nach  alledem  scheint  es  mir,  als  ob  die  Textlücken-Ergänzungen  — 
selbst  in  der  meisterhaften  Form,  wie  sie  Minkus  aufgestellt  hat  —  nicht 
einwandfreie  Ergebnisse  zu  bieten  vermögen.  Ob  unsre  Wissenschaft  in 
Zukunft  sich  mehr  den  ,, stummen  Tests"  widmen  wird? 


*)  Wird  erst  später  in  der  Ztschr.  f.  angew.  Psychol.  veröffentlicht  werden.  (W.  St.) 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  107 

III.  Der   Bilderbogentest. 

Von  A.  Penkert. 

1.  Äußere  Anordnung  des  Versuchs. 

Der  benutzte  Münchner  Bilderbogen  „Das  Wiedersehen",  war  zerschnit- 
ten und  die  einzehien  sieben  Bilder,  die  etwa  nahezu  Postkartengröße 
hatten,  ohne  Überschrift  und  Text  auf  einen  Karton  geklebt  in  der  ursprüng- 
lichen, dem  Gang  der  Handlung  entsprechenden  Reihenfolge.^)  Die  Bilder- 
bogenexemplare wurden  verteilt  unter  Hinzufügung  folgender  Worte: 
,,Ihr  habt  jetzt  alle  einen  Bilderbogen  bekommen.  Erzählt  recht  anschaulich 
die  Geschichte,  so,  wie  sie  auf  den  sieben  Bildern  dargestellt  ist.  Findet 
selbst  eine  passende  Überschrift.  Ihr  habt  1^  Stunden  Zeit  und  dürft 
den  Bilderbogen  während  der  ganzen  Zeit  vor  Augen  behalten." 

2.  Allgemeiner  Befund. 

Die  Arbeiten  umfassen  durchschnittlich  vier  Seiten  Reinschrift,  zu- 
meist ebenso  viel  Seiten  Kladde,  selten  eine  vorangestellte  Skizze  oder 
Gedanken,  die  der  Wichtigkeit  oder  der  Schwierigkeit  der  Formung  wegen 
neben  Kladde  oder  Reinschrift  besonders  verzeichnet  oder  ausgearbeitet 
sind.  Die  Arbeiten,  die  fast  ausnahmslos  die  Form  eines  Aufsatzes,  einer 
Erzählung  haben,  sind  zu  allermeist  leicht  und  fheßend  zustandegekommen. 
Darauf  weist  die  geringe  Zahl  der  Verbesserungen  ebenso  deutlich  hin,  wie 
die  sich  gleich  bleibende  Schrift  und  die  fast  stets  erreichte  Beendung  der 
Erzählung.  Und  das,  trotzdem  von  den  meisten  erst  das  Ganze  in  Kladde 
und  dann  —  meist  mit  wenigen  oder  gar  keinen  Änderungen  —  in  ,, Rein- 
schrift" geschrieben  wurde  in  der  dafür  doch  relativ  kurzen  Zeit  von 
1^4  Stunden,  die  von  einer  kleinen  Zahl  nicht  einmal  ganz  beansprucht 
wurde.  Wenn  hie  und  da  Hemmungen  erkennbar  sind,  so  stammen  sie 
sicherlich  nicht  von  einer  im  allgemeinen  als  unerwartet  schwer  befundenen 
Aufgabestellung.  Es  wurde  überhaupt  die  Forderung  mit  dem  angenehmen 
Bewußtsein,  der  Aufgabe  gewachsen  zu  sein,  ja  der  offenen  Freude  be- 
grüßt.    Das  bekundeten  Gesichtsausdruck  und  leise  Ausrufe. 

Was  den  Prüflingen  so  leicht  erschien,  war  die  Forderung,  aus  der  Bilder- 
folge eine  Handlung  zu  erkennen  und  diese  zu  erzählen.  Tatsächlich  waren 
ihnen  diese  beiden  Arbeitsrichtungen  seit  dem  größten  Teil  der  Schulzeit 
bekannt.  Bildbetrachtungen  und  -deutungen  treten  schon  im  ersten 
Schuljahr  auf,  werden  schon  im  vorschulpflichtigen  Alter  geübt,  und  die 
Erzählung  einer  kleinen  Geschichte  gehört  zu  den  frühesten  Forderungen 
des  Aufsatzunterrichts;  dazu  war  die  Geschichte,  die  der  Bilderbogen 
erkennen  ließ,  einfach  und  überdies  drollig.  Der  Gang  der  Handlung  ist 
denn  auch  in  allen  Arbeiten  richtig  erkannt  und  fast  ausnahmslos  in  der 
Form  einer  Erzählung  dargestellt.  Die  Forderung  ging  aber  höher.  Man 
wollte  eine  anschauliche  und  doch  eng  an  die  Bilder  angeschlossene  Er- 
zählung, eine  lebendige,  interessierte  Wiedergabe,  die  aber  erkennen  ließ, 
(iaß  die  Erzählerin  ihrer  Phantasie  nicht  zügellos  ohne  Rücksicht  auf  die 
Bilder  folgte,  oder  gar  im  Widerspruch  zu  ihnen.   Gerade  auf  Grund  dieser 


*)  S.  d.  verkleinerte  Abbildung  in  diesem  Heft  S.   11. 


108  O-  Melchior  und  H.  Penkert 

doppelten  Einstellung  auf  die  Bezeugung  einer  feineren,  detaillierten  Bild- 
betrachtung  einerseits  und  eine  trotz  des  Beobachtungsreiclitums  nicht 
schwerfällige  und  den  Gang  der  Handlung  nicht  außer  Acht  lassende, 
lebendig  fortschreitende  Darstellung  andererseits  sollten  aus  der  großen 
Zahl  der  Prüflinge  die  würdigsten  erkannt  werden.  Beidem  sind  nur  wenige 
Arbeiten  gerecht  geworden.  Im  allgemeinen  ist  lebendig  erzählt,  auch  im 
Anschluß  an  die  Bilder,  aber  ohne  eine  feinere  Betrachtung  der  einzelnen 
Bilder  erkennen  zu  lassen.  Weitaus  die  meisten  halten  sich  an  die  Hand- 
lung im  ganzen  und  flechten  nur  so  viel  Beobachtungen  ein,  als  ihnen  zur 
Darstellung  des  Ganzen  erforderlich  erscheinen,  und  bringen  außer  diesen 
nur  hie  und  da  Einzelheiten,  die  ihnen  als  besonders  treffend,  scherzhaft 
oder  bedeutend  aufgefallen  sind.  Hierbei  spielte  mehr  der  Zufall  als  eine 
durchdachte  Auswahl  die  Hauptrolle.  Eine  bei  weitem  kleinere  Zahl 
legt  das  Hauptaugenmerk  auf  die  Angabe  möglichst  vieler  und  bald  für 
den  Gang  der  Handlung,  bald  für  die  Art  der  Darstellung  charakteristischer 
Beobachtungseinzelheiten,  geht  Bild  für  Bild  vor  und  reiht  die  Angaben 
mehr  oder  weniger  geschickt  verknüpft  aneinander.  So  kommt  es,  daß 
der  Blick  für  Beobachtungsfeinheiten,  aber  auch  der  Blick  für  die  Ein- 
schätzung der  Wichtigkeit  der  einzelnen  Beobachtungen  lange  nicht  so 
entwickelt  erscheint,  wie  man  nach  dem  Alter  und  der  Vorbildung  der 
Prüflinge  wohl  erwarten  konnte.  Von  den  beiden,  den  Gang  der  Handlung 
wesentlich  bestimmenden  Hauptangaben  (Sicherung  der  Backwaren 
durch  Schließen  der  Karre;  Sicherung  der  Milchkannen  und  des  Wagens 
durch  Absträngen  oder  Festbinden  der  Pferde)  wird  zu  allermeist  nur  das 
erste  angegeben,  und  nicht  immer  so,  daß  man  das  Verständnis  der  Erzäh- 
lerin für  die  Bedeutung  dieser  Einzelheiten  mit  Sicherheit  erkennen  könnte. 
Von  unwichtigeren  Einzelheiten  wird  eine  große  Anzahl  getroffen,  immerhin 
aber  weniger  der  Zahl,  der  Güte  und  der  Richtung  nach,  als  der  Referent 
erwartete  und  nach  dem  Vergleich  mit  Arbeiten  weit  jüngerer  Schülerinnen 
erwarten  konnte.  Die  Prüflinge  hatten  sich  ersichtlich  auf  eine  ,,  Stille  istung" 
in  erster  Linie  eingestellt.  Wurden  aber  einzelne  Beobachtungen  ausge- 
führt, so  wurden  sie,  wo  es  möglich  war,  häufig  und  gern  seelisch  vertieft 
mit  erkennbarem  Einfühlungsvermögen.  Beispielsweise  wird  nicht  nur 
Haltung  und  Bewegung  der  beiden  Geschäftsleute  auf  Bild  1  bezeichnet, 
sondern  die  Begrüßung  als  solche,  als  eine  nach  längerer  Trennung,  als 
unverhoffte,  als  besonders  herzliche  erkannt.  Ähnlich  wird  die  Haltung 
der  Pferde  auf  den  Bildern  2,  3,  5,  6,  7  seelisch  gedeutet.  Die  Pferde  sind 
der  Erzählerin  aufmerksam  lauschende,  die  den  günstigen  Augenbhck 
erkennen,  sich  leise  und  vorsichtig  der  Bäckerkarre  nähern,  sich  beschämt 
abwenden,  als  sie  die  Folgen  ihres  Tuns  erkennen  und  schließlich  aus  Furcht 
vor  Strafe  davonrennen.  Vieles  wird  richtig  aus  den  Bildern  erschlossen 
und  das  einzelne  Bild  mit  den  benachbarten  richtig  verknüpft.  Die  drollige 
Art  der  Handlungsführung  und  -darstellung  wird  vielfach  erkannt  und 
gern  verwertet. 

Als  größere  hinzugeschaute  oder  hinzugedachte  Phantasieeinheiten 
kommen  fast  nur  Gespräche  in  Betracht.  Gespräche  werden  meist  mit 
besonderer  Vorliebe  zu  den  Bildern  2  und  6  ausgeführt,  seltener  zu  Bild  4, 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  109 

häufig  im  Hamburger  Plattdeutsch,  meist  wortreich  und  realistisch  beurteilt 
nicht  unrichtig,  aber  inhaltlich  ärmlich.  Den  Mittelpunkt  des  Gesprächs 
zu  Bild  6  bildet  meist  die  Schuldfrage,  bei  der  die  Erzählerinnen  sich  be- 
sonders gern  auf  die  Seite  des  Bäckers  stellen. 

An  Reflexionen  über  die  Handlung  und  ihre  Darteilung  im  ganzen  sind 
nur  ethisch  gerichtete  häufiger  vertreten.  Kritische  Beurteilungen  der 
Handlungsführung  und  der  zeichnerischen  Darstellung  fehlen  fast  ganz. 

Die  erdachten  Überschriften  sind  durchweg  richtig,  wenn  auch  nicht 
immer  besonders  charakteristisch  gewählt. 

3.  Gang  der  Korrektur. 

Die  große  Rolle,  die  der  Aufsatz  bei  allen  Prüfungen  im  niederen  wie 
im  höheren  Schulwesen  spielt,  erklärt  sich  aus  der  großen  Zahl  der  Betäti- 
gungsweisen der  seelischen  Natur,  die  in  ihm  zum  Ausdruck  kommen. 
Die  relativ  lange  Zeitspanne,  die  bei  längeren  Arbeiten  immer  eintretende 
Erscheinung,  daß  der  Autor  sich  bald  früher  bald  später  ungezwungen 
den  Gedankengängen  überläßt  und  somit  nach  Richtung,  Kraft  und  For- 
mung seiner  Gedanken  ein  deutliches  Abbild  seiner  seelischen  Art  gibt,  die 
mit  der  längeren  Dauer  steigende  Möglichkeit,  aus  allen  Richtungen  her 
das  Thema  zu  beleuchten,  bald  aus  dem  Schatze  getreu  bewahrten  Wissens 
und  klarer  Beobachtungen,  bald  durch  selbständig  gefügte  Kombinationen 
und  phantasievoll  geschaute  Möglichkeiten  den  zentralen  Gedanken  in 
reicher  Fülle  auszubauen,  alles  dies  gibt  dem  Aufsatz  den  Vorzug,  die 
Persönlichkeit  reicher  als  in  anderen  Aufgaben  zu  sehen.  Alles  dies  erhöht 
aber  auch  die  Schwierigkeiten  der  gerechten  Zensierung  ins  Unmeßbare. 
Das  gilt  dem  Umfange  nach  in  gleichem,  der  Präzision  nach  aber  in  erhöhtem 
Maße  für  den  Aufsatz  als  Test.  Um  dem  nicht  einseitig  eingeschränk- 
ten, durch  die  einführenden  Sätze  eher  allseitig  zu  erhöhter  Tätigkeit 
anregenden  Test  nach  allen  in  Betracht  kommenden  Richtungen  in  der 
Zensierung  gerecht  zu  werden,  wurden  vom  Referenten  folgende  Abteilun- 
gen eingesetzt:  Beobachtungsleistung,  intellektuelle  Leistung,  Phantasie- 
leistung, allgemeine  Richtung  und  Energie  des  Gedankenverlaufs,  stilistische 
Leistung,  Orthographie  und  Grammatik,  Interpunktion  und  pädagogische 
Beanlagung.  Aus  diesen  Abteilungen  und  ihren  unten  angefügten,  zum 
guten  Teil  mehr  im  Anschluß  an  die  Arbeiten  als  rein  deduktiv  gefundenen 
Unterabteilungen  ergibt  sich  ohne  weiteres,  daß  der  Test  in  der  bearbeiteten 
Form  ein  Kollektivtest  umfänglichster  Art  ist.  Bildbeschreibung,  Erzäh- 
lung einer  in  wenigen  Momenten  fixierten  Handlung,  Auffindung  einer 
passenden  Überschrift  sind  an  sich  schon  mehr  oder  weniger  komplexe  Auf- 
gaben. Zu  ihnen  kommt  die  gesamte  sprachtechnische  Seite.  Das  folgende 
Schema,  das  der  Analyse  zugrunde  lag,  läßt  die  reiche  Verästelung  der 
Aufgabe   deutlich   erkennen, 

1.  Beobachtungsleistung: 

a)  Sachliche  Einzelheiten, 

b)  Sinn  für  Scherz  und  Humor  in  der  zeichnerischen  Darstellung. 

2.  Intellektuale  Leistung  (logische,  kritische  Seite  der  Arbeit): 

a)  Deutung  der  Beobachtungseinzelheiten  nach  Art  und  Grad, 

b)  Wahl  der  Überschrift, 


210  O.  Melchior  und  H.  Penkert 


c)  Ethische  Beurteilung  der  Handlung  und  der  Handelnden, 

d)  Beurteilung  der  zeichnerischen  Darstellung, 

e)  Verhältnis  von  Plan,  Skizze,  Kladde  und  Reinschrift  zueinander. 

3.  Phantasieleistung: 

a)  Vertiefung  und  Ergänzung  des  einzelnen  Bildes, 

b)  Gedanken  über  das  Vorher, 

c)  über  das  Nachher  der  Handlung. 

4.  Allgemeine  Richtung  und  Energie  des  Gedankenverlaufs. 

5.  Stilistische  Leistung: 

a)  Wortwahl  nach  Schärfe  und  Geschmaci:, 

b)  Tropen,  Metaphern  usw., 

c)  Satzbau, 

d)  Satz-  und   Gedankengruppen  und  deren  Verbindung, 

e)  Angabe  der  Richtungen,  nach  denen  die  Arbeit  besonders  aus- 
gebaut ist, 

f)  Länge. 

6.  Orthographie,  Grammatik. 

7.  Interpunktion. 

8.  Ist  eine  pädagogische  Beanlagung  erkennbar?    (Lust  und  Geschick 
im  Erzählen.) 

Für  jede  dieser  Abteilungen  und  Unterabteilungen  wurde  vom  Refe- 
renten charakteristisches  Material  zusammengestellt  und  darauf  die  spezielle 
Leistung  teils  durch  eine  Zensur  abgeschätzt,  teils  als  Plus-,  bzw.  als  Minus- 
wert ohne  Zeugnis  eingesetzt.  Zensiert  wurden  die  Abteilungen  la,  2a, 
2b,  3a,  4,  5a  bis  e;  als  Plus-  bzw.  Minuswerte  wurden  angemerkt  Ib,  2c, 
2d,  2e,  3b,  3c,  5f,  6  bis  8.  Alle  Zensuren  mit  Ausnahme  der  Gesamtzensur 
sind  Schätzungen  und  können  im  praktischen  Betrieb  auch  wohl  kaum 
anders  gefunden  werden.  Selbst  bei  diesen  zensierten  Gebieten,  den  relativ 
sicherer  und  gleichmäßiger  zu  wertenden  Abteilungen,  fehlen  arithmetisch 
verrechenbare  Unterlagen.  Wie  sollte  beispielsweise  eine  derartig  bestimmte 
Basis  für  la,  die  sachlichen  Einzelheiten,  gefunden  werden?  Sie  müßte 
in  einer  genauen  Summe  von  Beobachtungsdaten  für  jedes  der  sieben 
Bilder  bestehen,  und  für  jedes  der  Daten  müßte  eine  Zahl  (oder  mehrere) 
aus  einer  nicht  zu  umfangreichen  Skala  angegeben  sein,  die  die  Güte, 
den  Wert  der  Beobachtung  für  die  Entwicklung  der  Handlung,  den  Schwie- 
rigkeitsgrad ihrer  Auffindung  und  schließlich  den  Grad  ihrer  rein  sachlichen 
Entwicklung  berücksichtigte.  Letzterer  würde  sich  wieder  eng  mit  der 
stilistischen  Form  berühren.  Würde  die  Wertung  der  einzelnen  Beobach- 
tung bei  verschiedenen  Versuchsleitern  oder  Examinatoren  nicht  ausnahms- 
los eine  verschiedene  werden  und  damit  eine  objektive,  zwingende  Skala- 
der Beobachtungen  nach  Richtigkeit,  Entwicklungsgrad,  Wert  für  die 
Handlung  und  Wert  für  die  Schätzung  der  Beobachtungsschärfe  des  Prüf- 
hngs  ganz  außerhalb  des  Bereichs  der  Möglichkeit  bleiben,  ganz  abgesehen 
von  der  Schwierigkeit  der  praktischen  Benutzung  ?  Die  in  den  Ausführun- 
gen über  den  „Allgemeinen  Befund"  als  ,,die  beiden,  den  Gang  der  Hand- 
lung wesentlich  bestimmenden  Hauptangaben"  angegebenen  Einzelheiten, 
4as  Offenlassen  der  Karre  und  das  Nichtabsträngen  der  Pferde,  bieten 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  \11 

hierfür  schlagende  Beweise.  Sind  diese  beiden  Angaben  die  einzigen? 
Sind  sie  gleich  wichtig?  Sind  sie  gleich  schwer  bzw.  leicht  aufzufinden 
und  dementsprechend  in  der  Wertungsskala  gleich  anzusetzen?  Ebenso 
leicht  wäre  nachzuweisen,  wie  auch  2a,  die  Deutung  der  Beobachtungs- 
einzelheiten nach  Art  und  Grad,  kaum  zu  einer  von  allen  Versuchsleitern 
gleich  anerkannten  Grundlage  führen  kann.  Und  dann  erst  die  noch  ver- 
wickeiteren Erscheinungen  im  Bereich  der  Phantasie!  Daß  Orthographie, 
Grammatik  und  Interpunktion  nicht  zensiert  wurden,  sondern  nur  als 
Plus-  bzw.  Minuswerte  (in  der  Praxis  fast  nur  als  charakteristische  Minus- 
werte) auftraten,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  man  von  den  relativ  äußerhch- 
ßten,  überdies  in  zwei  anderen  eigenthchen  Aufsätzen  zensierten  sprach- 
technischen Seiten  möglichst  absehen  wollte.  Daß  bei  Ib,  2a,  2e,  3a  und  5f 
eine  andere  Einordnung  der  bezeichneten  kritischen  Einstellung  möghch 
war,  sei  nur  angemerkt.  Auch  eine  Einteilung  nach  reproduktiven,  produk- 
tiven und  technischen  Tätigkeitsrichtungen  hätte  sich  wohl  durchführen 
lassen.  Im  Phantasieleben  spielen  Vorstellungskraft  und  intellektuelle 
Leistungen  bei  der  Entstehung,  Wahl  und  Entwicklung  der  geschauten 
und  erdachten  Phantasieeinheiten  eine  ähnlich  umfängliche  Rolle,  wie 
bei  allen  Beobachtungsleistungen.  Unter  4  ,, allgemeine  Richtung  und 
Energie  des  Gedanken  Verlaufs"  sollten  die  bei  dem  Gesamtverlauf  der 
Arbeit  erkennbaren  menschlichen  Typen,  ihre  Gefühlsäußerungen,  Energie- 
erscheinungen und  bevorzugten  Stihichtungen,  gekennzeichnet  und  ge- 
wertet werden.  Dies  erschien  um  so  wichtiger,  als  es  sich  bei  dieser  Prüfung 
nicht  nur  um  eine  einfache  Arbeitszensur  handelte,  sondern  um  die  eventuelle 
Zuführung  zu  einem  schwere  und  hohe  Anforderungen  während  und  nach 
der  Ausbildungszeit  stellenden  Lebensberuf.  Zu  den  Energieerscheinungen 
gehören  beispielsweise  die  Art  und  Zähigkeit  der  Durchführung  einer  als 
richtig  erkannten  Einstellung,  viele  Einzelheiten  des  Stils,  die  Grund- 
rhythmen der  ganzen  Arbeit  oder  größerer  Teile,  rhythmische  Wechsel 
bei  ruhig  erzählenden  Partien  und  dramatisch  erregten  Szenen.  In  diesem 
Zusammenhang  wäre  auch  einer  Bewertung  der  Schrift  zu  gedenken, 
nicht  als  ästhetischer,  sondern  als  Energieerscheinung  unter  Benutzung 
graphologischer  Wegweisungen.  Gruppe  8  ist  ein  Versuch,  die  Arbeiten 
unter  berufspsychologischer  Einstellung  zu  betrachten,  und  die  angeführte 
Einstellung  auf  eine  erkennbare  Lust  am  Erzählen  und  Erzählgeschick 
nur  eine  von  vielen. 
4.  Allgemeines  Ergebnis. 

Im  Hinblick  auf  die  geringe  Zahl  derer,  die  von  den  nahezu  200  Prüf- 
lingen aufgenommen  werden  konnten,  empfahl  sich  im  ganzen  eine  scharfe 
Zensierung.     Es  entfielen  auf  die  Zensur: 

1 :  0  2—3  :  32  3—4  :  45  4—5  :  5 

1—2  :  0  3  :  47  4  :  42  5:0 

2:26  

25  Arbeiten         79  Arbeiten  87  Arbeiten        5  Arbeiten 

Von  den  196  Arbeiten  wurden  also  25  als  gut,  79  als  genügend,  87  als  mäßig 
und  5  als  schlecht  bezeichnet. 


112  O*  Melchior  und  H.  Penkert 

Von  den  Prüflingen  hatten  sich  6  für  Klasse  3,  22  für  Klasse  4,  168  für 
die  unterste  Klasse,  Klasse  5,  gemeldet.  Als  schriftliches  Gesamtzeugnis 
für  diesen  Test  haben  „genügend"  oder  „gut"  erhalten  66%  %  der  ersten 
Gruppe  (4  Arbeiten),  55  %  der  zweiten  Gruppe  (12  Arbeiten)  und  25  % 
der  dritten  Gruppe  (44  Arbeiten).  Trotzdem  das  Zeugnis  besser  als  2  war, 
wurden  drei  der  ersten  Gruppe,  eine  der  zweiten  Gruppe  und  vier  der 
dritten  Gruppe  nicht  aufgenommen,  dagegen  eine  der  dritten  Gruppe, 
trotzdem  das  Zeugnis  für  den  Test  4 — 5  war.  Das  erklärt  sich  leicht  daraus, 
daß  eine  ganze  Reihe  von  anderen  Zeugnissen  zunächst  eingesetzt  wurde. 
Die  Testzeugnisse  wurden  als  bemerkenswerte  Angaben  gern  gehört,  fielen 
aber  nur  in  Zweifelsfällen  und  bei  besonders  markanten,  besonders  guten 
oder  schlechten  Leistungen  schwerer  ins  Gewicht.  In  Klasse  5  waren 
unter  23  Aufgenommenen  10  mit  einer  2  im  Testzeugnis,  12  mit  2 — 3 
oder  3  und  1  mit  4 — 5  im  Test.  Wenn  man  die  einzelnen  Teilzensuren 
mit  der  Gesamtzensur  vergleicht,  so  finden  sich  die  geringsten  Differenzen 
zwischen  Stilzeugnis  und  Gesamtzeugnis,  die  größten  zwischen  dem  Zeugnis 
für  die  Beobachtungsleistung  und  der  Schlußzensur,  oft  ein  deutlicher  Be- 
weis dafür,  daß  die  Verfasserinnen  fast  ausnahmslos  mehr  „literarisch" 
als  „beobachtend",  mehr  auf  sprachhche  Formung  als  auf  sachlichen 
Reichtum,  sachliche  Genauigkeit  und  Freude  am  Bild  eingestellt  waren. 

5.  Kritische  Anmerkungen. 

1.  Zu  diesem  Münchner  Bilderbogen  als  Test  überhaupt. 

Da  die  Betrachtung  von  Bildern  wie  die  Verfolgung  von  Handlungen 
das  Kind  wie  den  Erwachsenen  ganz  allgemein  und  immer  wieder  interes- 
sieren, so  ist  der  Bilderbogen  sehr  wohl  geeignet,  auf  Grund  des  starken, 
doppelten  Interesses,  das  er  erweckt,  die  Versuchspersonen  nach  vielen 
Richtungen  ihrer  Begabung  und  ihrer  Bildung  zu  reicher  und  offener  und 
deshalb  beobachtbarer  Tätigkeit  zu  bringen.  Dazu  kommt,  daß  in  der 
vorliegenden  Form  durch  das  Weglassen  der  Überschrift  und  des  Textes 
ein  dem  Rätselraten  verwandter  Vorgang  eintritt  und  so  reproduktive 
und  produktive  Neigungen  aufs  angenehmste  miteinander  geweckt  und 
verknüpft  werden.  Deshalb  erscheint  dieser  Test  zunächst  dort  aufs  beste 
geeignet,  die  Intelligenz  und  persönliche  Art  der  Versuchsperson  erkennen 
zu  lassen,  wo: 

a)  die  Handlung  als  rein -reizvoll  empfunden  wird,  ohne  kritische  Bedenken 
zu  wecken,  also  bei  schhchter,  naiver  Auffassung; 

b)  wo  das  Erkennen  dieser  Handlung  aus  der  Bilderfolge  bei  der  Versuchs- 
person nicht  erst  einer  von  außen  kommenden  Anregung  und  Förderung 
bedarf,  sondern  einer  eigenen  Fragestellung  unmittelbar  entspringt. 

c)  wo  die  sprachhch-technische  Seite  dem  Erkannten  keine  äußeren 
Hindernisse  in  den  Weg  legt,  handele  es  sich  um  eine  mündhche  oder 
schriftliche,   zusammenhängende   oder  stückweis  erfolgende  Wiedergabe. 

d)  wo  die  Bilder  an  sich  dem  Betrachter  eine  Quelle  reiner  Freude  sind. 
Die  Einfachheit  der  Handlung  in  ihrer  drolhg  übertriebenen  Steigerung 

und  Katastrophe,  die  ebenso  einfache  und  gleichfalls  drollige  Gegensätze 
und  Übertreibungen  wählende  Art  der  zeichnerischen  Darstellung  und 
die  sprachlich  leichte  Erzählbarkeit  weisen,  sicher  auf  ein  früheres  Alter 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  113 

als  das  der  Prüflinge  hin,  eher  auf  6 — 9jährige  Kinder  als  auf  15 — ^ISjährige 
junge  Mädchen.  Diese  stehen  gerade  in  der  ersten  Kulmination  ihrei* 
Bildung,  am  Abschluß  ihrer  Elementarschulbildung.  Ganz  andere  Bilder 
aus  Natur  und  Kultur  drängen  sich  an  solchen  Examensmorgen  unter  der 
Schwelle  ihres  Bewußtseinsfeldes,  und  solch  einfaches,  heiteres  Geschicht- 
chen  und  Bilderbesehen  ist  ihnen  wohl  einer  der  komischen  und  unerwar- 
teten Momente  im  Prüfungsbetrieb  gewesen.  Trotzdem  war  ja  denkbar, 
daß  gerade  infolge  der  Einfachheit  der  Handlung  desto  sicherer  und 
erfolgreicher  sich  die  Versuchsperson  einstellen  würde  auf  erhöhte  Ele- 
ganz und  Prägnanz  des  Stils,  überlegen-humoristische  Stellung  zur  Hand- 
lung, vertiefte,  feine  Beobachtungsdetails  der  Bilder  und  auf  bewußt-kri- 
tische Stellung  zu  Handlung  und  Zeichnung.  So  hatte  die  Wahl  dieses  Tests' 
wohl  Grund  und  Recht.  Die  Aufsätze  zeigen  auch  tatsächlich  diese  Richtung, 
wenngleich — wohl  zum  Teil  infolge  Zeitmangels  und  unscharfer  Einstellung — 
gerade  die  dem  Erwachsenen  so  besonders  nahehegende  Freude  an  den 
vielen  kleinen  humorvollen,  witzigen  Feinheiten  der  mit  wenigen  Strichen 
skizzierten  Zeichnungen  nicht  recht  zum  Ausdruck  gekommen  ist,  ebenso 
wenig  wie  alle  bewußt-kritischen  Gedankenrichtungen.  So  war  der  Test 
für  eine  schlichte,  naive  Behandlung  zu  leicht  und  für  eine  kritische,  zeich- 
nerisch-ästhetisch geschulte  noch  zu  schwer.  Von  hier  aus  beurteilt,  wäre 
eine  Bilderfolge  richtiger  gewesen,  die  eine  ernster  zu  nehmende,  be- 
deutendere Handlung  geboten  hätte,  vielleicht  in  einer  geringeren  und- 
dadurch  die  Enträtselung  erschwerenden  Zahl  von  technisch  nicht  skizzen- 
haft, genial  -  humorvoll  hingeworfenen,  sondern  im  ganzen  mehr  aus- 
gearbeiteten Bildern.  Immerhin  zeigt  dieses  Beispiel,  welchen  Reiz  es  hat, 
einen  Test  einmal  nicht  für  die  ursprünghch  gedachte  Altersstufe  zu  ver- 
wenden und  nun  zu  verfolgen,  welchen  Einfluß  diese  Verschiebung  des 
eigentlichen  Testzentrums  auf  die  Bearbeitung  hat.  Wohin  wendet  sich  das 
auf  diese  Weise  sozusagen  wider  Erwarten  frei  gewordene  Plus  an  seelischer 
Energie  ?  Hat  auch  die  ursprünghch  zentral  stehende  Lösung  erkennbare 
Förderung  erfahren  infolge  der  höheren  Reife  der  Versuchsperson?  Nur 
erscheint  dafür  nicht  eine  Prüfung  als  der  rechte  Ort. 

2.  Zu  der  besonderen  Einstellung,  in  der  der  Test  geboten  wurde. 

Die  besondere  Einstellung  hegt  in  den  einführenden  Worten  1.  „recht 
anschaulich",  2.  ,,so  wie  die  Geschichte  auf  den  sieben  Bildern  dargestellt 
ist",  zu  erzählen.  Die  Forderung  geht  also  über  die  ursprünghche  einer 
Erkennung  und  Wiedergabe  der  dargestellten  Handlung  hinaus.  An 
Stelle  einer  schhchten,  vielleicht  eher  nüchternen,  kahlen  Darstellung  soll 
eine  anschauhche  treten,  also  eine  zu  deuthcher  eingehender  Vorstellung 
zwingende.  Diese  erheischt  sachlich  manche  aus  den  Bildern  ersehene 
Einzelheit,  hie  und  da  eine  Vertiefung  des  gegebenen  Moments  hinsichtlich 
des  Rhythmus  der  Handlung,  wie  hinsichtlich  aller  solcher  Einzelheiten, 
die  der  Zeichner  nicht  hat  geben  können:  die  Hinzufügung  von  Farben, 
Vorgeschichte,  Gedanken,  Motiven  der  Einzelnen,  Gesprächen.  Außerdem 
bedarf  eine  anschauliche,  zu  deutUchem  Vorstellen  anregende  Darstellung 
einer  Reihe  stilistischer  Momente,  wie  eines  lebendigen,  das  Miterleben 
bekundenden  Rhythmus,  der  in  der  Wahl  der  Worte  und  Wortfolgen,  wie 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  8 


114  O.  Melchior  und  H.  Penkert 

in  der  Bildung  der  Sätze  und  der  geschickten  Gegenüberstellung  epischer 
Ruhe  und  dramatischer  Bewegung  zum  Ausdruck  kommt.  Die  zweite 
Bestimmung,  dem  einzelnen  Bilde  gemäß  zu  erzählen,  will  anhalten  zu 
einer  steten  Betrachtung  der  Bilder  und  zur  Vertiefung  in  ihre  Fein- 
heiten, die  Beobachtungsgabe  stärken  und  eine  bei  lebendiger  Erzählung 
gar  leicht  üppig  wuchernde  Phantasie tätigkeit  in  Zaum  und  Zügel  halten. 
So  wollen  die  einführenden  Sätze  allseitig  anregen  und  aufreizen,  die  Lust 
am  Beobachten,  am  Erzählen,  am  Vertiefen  des  Gesehenen  steigern  und 
nur  eine  rücksichtslose  Außerachtlassung  der  Vorstellungen  des  Zeichners 
verhüten.  Da  Intelligenz  nach  W.  Stern  ,, allgemeine  geistige  Anpassungs- 
fähigkeit an  neue  Aufgaben  und  Bedingungen  des  Lebens"  ist,  die  Auf- 
gabe fraglos  unerwartet  und  neu  war,  die  Einstellung  allseitig  anregend 
und  anspornend  wirkt,  so  muß  dieser  Test  ein  allseitig  bezeichnendes  Bild 
der  Intelligenzstufe  der  Versuchsperson  ergeben.  Aber  ist  nicht  die  Zahl 
der  geistigen  Tätigkeitsrichtungen  eine  so  große  und  der  Gegenstand  ein 
so  relativ  kleiner,  unbedeutender  und  die  Zeit  von  1^  Stunden  (die  Zeit 
für  die  ,, Reinschrift"  eingerechnet!)  eine  so  kurze,  daß  das  Bild  wohl  viel- 
seitig und  interessant,  aber  nicht  vielseitig  zuverlässig  sein  muß  ?  Wurde 
oben  darauf  hingewiesen,  daß  bei  dem  ersten  Feld  der  kritischen  Analyse, 
der  Beobachtungsleistung,  kaum  eine  Einigung  zu  erzielen  sein  dürfte  über 
die  Wertung  und  Gruppierung  der  einzelnen  Beobachtungsdaten,  so  muß 
hier  abermals  erschwerend  hinzugefügt  werden:  entscheiden  nicht  oft 
Zeitmangel  und  Zufall  mehr  über  die  Aufnahme  und  eine  der  Wichtigkeit 
entsprechende  stiHstische  Form  der  einzelnen  Beobachtungen  als  Unver- 
mögen und  Mangel  an  Einsicht?  Beispielsweise  fehlen  die  beiden  oben 
wiederholt  genannten  für  den  Gang  der  Handlung  wesentlichen  Beobach- 
tungen über  die  Vernachlässigung  der  Sicherung  von  Backwerk  und 
Wagen  in  den  guten  Arbeiten  fraglos  intelligenter  Prüflinge.  Anderseits 
sind  sie  vorhanden  in  mäßigen  Arbeiten.  In  einer  verschwindend  kleinen 
Anzahl  von  Arbeiten  sind  beide  angegeben;  unter  ihnen  ist  keine  einzige 
gute  und  eine  nicht  genügende.  Überhaupt  scheint  die  Zahl  der  angegebenen 
Einzelheiten — immer  solcher  Einzelheiten,  die  über  einen  ganz  groben 
Auffassungs-  und  Deutungsgrad  hinausgehen  —  in  keinem  sicheren  Ver- 
hältnis zur  Entwicklungshöhe  zu  stehen,  auch  im  Vergleich  mit  Arbeiten 
von  weit  jüngeren  Schülerinnen.  Und  doch  muß  sich  an  der  Art  des  Bild- 
betrachtens,  an  der  Zahl  beobachteter  Feinheiten,  an  der  Wertung  der 
Beobachtungen,  zeichnerisch  und  im  Hinblick  auf  die  Entwicklung  der 
Handlung,  der  InteUigenzgrad,  die  Tiefe  und  Nachdrückhchkeit  der  An- 
passung aussprechen  und  also  auch  nachweisen  lassen.  Wie  kommt  es, 
daß  oft  bei  offenbar  intelligenten  Prüflingen  hie  und  da  unbegreifliche 
Lücken   in   der  Anpassung  aufzufinden   sind? 

Ähnliche  Rätsel  gibt  nach  derselben  Seite  hin  die  im  engeren  Sinne  intel- 
lektuale  Leistung  auf.  Auch  hier  nur  ein  Einzelproblem  zur  Beleuchtung 
der  Unsicherheit  des  Zeugnisses,  das  sich  oft  genug  dem  Zensor  mehr 
intuitiv  als  Niederschlag  einstellt,  dessen  Berechtigung  sich  aber  nicht 
zwingend  beweisen  läßt  bis  ins  Einzelne  hinein.  Unter  den  Arbeiten  sind 
Typen  vertreten,  die  scheinbar  bewußt  vorgehen  auf  ihrem  Wege.     Sie 


über  dio  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  I">X5 

sind  durchaus  sachlich  eingestellt  im  G-egensatz  zu  den  am  Stilistisclien 
in  erster  und  letzter  Linie  interessierten  Schreiberinnen.  Sie  unterscheiden 
sich  dagegen  in  ihrer  Stellung  zum  G-esehenen.  Die  einen  beschränken 
sich  vorsichtig  und  peinlich  genau  auf  das  mit  Sicherheit  Richtige,  die  andern 
äußern  sich  leicht  und  reich  ohne  viele  Hemmungen  und  Skrupel,  sind  aber 
weit  leichter  stilistischen  und  inhaltlichen  Fehlerhaftigkeiten  ausgesetzt. 
Sind  diese  Arbeiten  echte  und  in  ihren  Grundzügen  richtige,  die  Natur  der 
Verfasserin  charakteristisch  wiedergebende  Abbilder  oder  sind  es  Zufalls- 
gebilde, die  nur  einer  unsicher  und  unrichtig  gefaßten  Einstellung  ihre: 
Gestalt  verdanken?  Würden  sie  etwa  von  einem  anderen  Rezensenten, 
der  sie  individuell  faßt,  sie  also  in  ihrer  Einseitigkeit  gelten  läßt,  —  und 
vielleicht  mit  einigem  Recht  —  viel  günstiger  beurteilt  werden,  als  bei 
dem  vom  Referenten  als  maßgebend  angesehenen.  Allseitigkeit  erwarten- 
den Standpunkt? 

Ebenso  geht  es  auch  den  voll  Interesse  und  Schwung  phantasievoll  dem 
Zuge  ihrer  Gedanken  folgenden  Schreiberinnen,  die  zu  Anfang  wohl  die' 
Bilder  angesehen  haben,  um  den  Gang  der  Geschichte  zu  erfassen,  dann 
aber,  ohne  gerade  den  Bildern  zu  widersprechen,  aber  auch  ohne  sich  weiter 
in  sie  zu  vertiefen,  die  Handlung  voller  Lebendigkeit  und  mit  einer  ange- 
nehmen Leichtigkeit  und  Überlegenheit  wie  eine  kleine  Tragikomödie 
vor  dem  interessiert  folgenden  Leser  aufsteigen  und  zergehen  lassen. 

So  sieht  die  Beobachtungsleistung  der  meisten  eigentümlich  mangelhaft  aus, 
die  der  Vorsichtigen,  der  Spekulierenden,  der  Literarischen  und  der  Phan- 
tasievollen. Und  manche,  die  sich  bewußt  einseitig  eingestellt  hat,  schnitt 
schlechter  ab,  als  sie  zu  verdienen  schien,  wenn  man  von  der  gewollten 
einseitigen  Helle  und  Güte  der  Arbeit  auf  ihre  allgemeine  Intelligenz  schloß. 

Und  für  alle  diese  das  gleiche  Schema  ?  Hätten  sie  sich  nicht  vielleicht 
anders  verhalten,  wenn  sie  es  gekannt  hätten,  dies  alle  vor  denselben  unbe- 
kannten Richterstuhl  fordernde,  kalte,  unpersönliche,  halb  theoretisch 
gewonnene  Gebilde  ?  Ja,  wenn  sie  es  genau  gekannt  hätten,  und  sich  in 
allem  hätten  nach  ihm  richten  können !  Beides  ist  nicht  absurd.  Wer  geprüft 
wird,  kann  verlangen,  daß  er  die  Forderungen,  an  denen  sein  Wissen  und 
Können  gemessen  wird,  genau  kennt,  um  sich  ihnen  eben,  30  sehr  es  seine 
Natur  zuläßt,  anpassen  zu  können.  Weil  aber  die  Einstellung  nur  eine 
allgemein  anspornende  war,  nur  übermäßige  Phantasie  dämpfte,  so 
mußte  überhaupt  bei  der  Kürze  der  Zeit  und  der  verführerischen  Leichtig- 
keit der  Kernaufgabe  (Erkennen  der  Handlung)  bald  diese,  bald  jene  Rich- 
tung der  wohl  vorhandenen  Begabung,  bald  des  Schauens,  bald  des  ver- 
tiefenden Bedenkens,  bald  der  stilistischen  Qualität  in  trügender  Weise 
unausgebaut  bleiben.  Auch  bei  Kenntnis  des  Schemas  hätten  die  Prüf- 
linge ihm  nicht  allseitig  genügen  können.  Zeit  und  allgemeinmenschliehe 
geistige  Begrenztheit  hinderten  es.  So  interessant  deshalb  die  Leistung 
als  eine  der  unerwarteten  Prüfungsarbeiten  sein  mag,  so  unsicher  erscheint 
ihre  Bewertung  als  Test. 

Deshalb  scheinen  dem  Ref.  für  einen  Test  uM  dazu  Prüfungstest,  außer 
dem  sicher  immer  ein  oder  mehrere  eigentliche  Aufsätze  geschrieben  werden; 
spezielle  Einstellungen  zweckdienlicher  und  gerechter,  Einstellungen, 


116  O.  Melchior  und  H.  Penkert 

die  bald  die  Fülle  und  Einheit  der  Beobachtung,  bald  eine  logisch  einwand- 
freie, lückenlose,  wenngleich  nüchterne  und  kahle  Entstehung  der  Handlung, 
bald  eine  phantasievoll  bereicherte,  endlich  eine  stilistisch  schöne  Leistung 
allein  oder  in  erster  Linie  fordern  und  die  andern  Qualitäten  nach  Möglich- 
keit ausschließen  oder  außer  Beurteilung  lassen.  Sache  des  Versuchs- 
leiters ist  es,  durch  präzise  Formulierung  des  Themas  und  einige  geschickte 
Einführungssätze  die  Einstellung  dem  Prüfling  deuthch  zu  machen.  Ref. 
hat  als  einen  ersten  Versuch  auf  diesem  Gebiet  die  Ostern  1917  auf- 
genommenen 23  Zöglinge  folgende  neun  Einstellungen  ausführen 
lassen : 

1.  Kurze,   kühle   Erzählung   der   Handlung; 

2.  lebendige  Darstellung  der  Handlung  im  engen  Anschluß  an  die 
Bilder; 

3.  kühle,  sachUche  Beschreibung  eines  Bildes; 

4.  lebendige  Darstellung  des  Handlungsmomentes  eines  Bildes  ohne 
engen  Anschluß  an  das  Bild; 

5.  mehrere  Überschriften; 

6.  Beurteilung  der  Handlung; 

7.  Beurteilung  der  zeichnerischen  Darstellung; 

8.  ein  gut  geformter  „Aufsatz"  nach  eigener  Wahl; 

9.  die  G-eschichte  des  Bilderbogens  als  Erzählung  für  eine  Fünfjährige. 

Es  ist  leicht  zu  ersehen,  daß  beispielsweise  bei  1  und  3  Phantasie  und  stili- 
stische Fülle  und  Feinheit  ausgeschaltet  sein  sollen,  bei  8  die  Beobachtungs- 
fülle, bei  2  und  4  die  Phantasie  eingeschaltet  wird,  aber  bei  2  vertiefend  und 
ergänzend,  bei  4  ergänzend  und  darüber  hinaus  gegebenenfalls  neue  umfang- 
reiche Gedankeneinheiten  schaffend.  Bei  6  und  7  könnte  man  auf  die  Satz- 
bildung verzichten  und  sich  mit  EUipsen  begnügen.  Solche  Einstellungen 
werden  jene  intelligenten  Naturen  leichter  aufdecken  und  richtiger  werten 
helfen,  die  stilistisch  unbegabt,  unentwickelt  oder  uninteressiert  sind.  Die 
neunte  Einstellung  ist  eine  pädagogisch  bedeutungsvolle.  Die  Bearbeitung 
dieser  neun  Themen  ist  nicht  nur  ein  interessanter  psychologischer  Versuch, 
sondern  zugleich  eine  methodisch  leicht  zu  rechtfertigende,  wertvolle 
Maßnahme.  Mag  sich  auch  später  eine  als  der  Natur  entsprechende  Stilart 
festlegen,  dem  sich  Entwickelnden  und  Abhängigen  wird  eine  stilistische 
Elastizität  häufig  von  Vorteil  sein,  oft  schon  innerhalb  einer  und  derselben 
Anstalt,  die  von  verschiedenen  Fach  Vertretern  auch  verschiedene  Stihdeale 
gefördert  und  gefordert  sieht.  Bezeichnenderweise  wurden  die  verschie- 
denen Einstellungen  und  Umstellungen  im  allgemeinen  gern,  wenn  auch 
von  Fall  zu  Fall  verschieden  gern  ausgeführt.  Die  einzelnen  Formungen 
differieren  nach  Inhalt  und  Stil  bei  elastischen  und  komplexen  Naturen 
in  auffallendem  Maße.  Immerhin  ist  die  in  diesen  neun  —  die  Zahl  heße 
sich  leicht  vergrößern  —  Einstellungen  bewiesene  Schmiegsamkeit  sicherlich 
nur  eine  Seite  der  Intelligenz.  Es  handelt  sich  für  den  intelligenten  Menschen 
nicht  nur  um  die  Benutzung  der  Wegweiser  und  um  die  Auffindung  der 
richtigen  Straßen,  sondern  auch  um  die  Zahl  und  den  sachlichen  Wert  der 
Güter,  die  er  die  Wege  führt  und  auf  den  mannigfachen  Wegen  zu  fördern 
weiß.   Da  mag  denn  sogar  die  geschickte  Ein-  und  Umstellung  als  ein  not- 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  117 

wendiges,  aber  im  Vergleich  mit  der  Gresamtleistung  fast  m^hr  äußerliches 
Moment  erscheinen.  Sonst  möchten  die  schnellen,  geistig  gewandten, 
geistesgegenwärtigen  Naturen  über  Gebühr  als  Ideal  des  intelligenten 
Menschen  erscheinen,  und  die  schweren,  langsameren,  aber  auf  alle  Fälle 
gründlichen  Naturen,  die  anfänglich  eher  Unsicheren  und  erst  im  Verlauf 
Zuversichtlichen  gar  zu  tief  unter  jenen  zunächst  glücklicheren  und  erfolg- 
reicheren Naturen  stehenbleiben, 

3.  Zur  Korrektur  des  Tests. 

Käme  es  nur  auf  die  schlichte  Wiedergabe  der  Handlung  an,  so  wäre 
die  Korrektur  eine  einfache.  Man  würde  die  Entwicklung  der  Handlung  in 
etwa  10  Momenten  festlegen  und  die  Zensur  nach  der  Zahl  der  in  der  Arbeit 
aufgefundenen  Momente  bestimmen.  Die  besonderen  Einführungssätze, 
die  durch  die  Einfachheit  der  Handlung  und  ihrer  Wiedergabe  veranlaßt 
wurden,  verlangen  aber  Beobachtungsfeinheiten  und  eine  lebendige  Wieder- 
gabe, die  sich  in  stilistischer  Hinsicht,  im  Rhythmus  wie  in  der  Wortwahl 
und  Satzformung,  einem  gewissen  Einfühlungsgrad  und  einer  erkennbaren, 
phantasievollen  Belebtheit  aussprechen  muß.  Daneben  verlangt  die  Auf- 
findung einer  Überschrift  und  die  reifere,  alles  untereinander  verknüpfende 
Art  der  Darstellung,  die  man  bei  dem  Alter  der  Prüflinge  voraussetzen 
muß,  ein  deutliches  Maß  logischer  Schulung.  Gerade  die  auf  diese  Weise 
hinzukommenden  Analysengebiete  entfernen  sich  aber  von  einem  ein- 
fachen, als  Norm  festgelegten  mit  einer  bestimmten  Zahl  konkreter  Daten 
ausgefüllten  Schema  sehr  weit.  Daß  auf  diese  Weise  schon  auf  dem  kon- 
kretesten Gebiet,  der  Beobachtungsleistung,  an  die  Stelle  einer  arith- 
metischgenauen, unbedingt  gleichmäßigen  und  gerechten  Verrechnung 
eine  Schätzung  eintreten  mußte,  wurde  oben  schon  dargelegt.  Noch 
viel  schwieriger  gestaltet  sich  aber  die  Auffindung  eines  solchen  zu- 
verlässigen, gerechten  und  brauchbaren  Schemas  auf  dem  Gebiete  der 
logischen  Leistungen,  der  Phantasie  und  des  Stils.  Wie  undeutlich  ist  und 
bleibt  die  Vorstellung  einer  mittleren,  ,, normalen"  Arbeit,  einer  „3"  in 
der  Zensur,  von  der  aus  doch  erst  die  übrigen  über  die  Norm  sich  erheben- 
den und  unter  die  Norm  sich  senkenden  Werte  aufgefunden  werden  können . 
Wie  viel  undeutlicher  müssen  sie  sein,  so  sicher  auch  der  , »kritische  In- 
stinkt" die  2  und  4  wählen  mag;  insbesondere  gilt  dies  für  die  wohl  an- 
sprechenden, aber  doch  nicht  guten  und  für  die  wohl  nicht  mehr  ganz 
genügenden,  aber  doch  nicht  schlechten  Arbeiten.  Und  doch  muß  zum  Test 
die  Auffindung  eines  sicher  funktionierenden  Schemas  und  einer  aus  ihm 
sich  ergebenden  Skala  gehören,  die  ihr  Leben  nicht  nur  in  dem  durch  die 
Praxis  geschärften  Instinkt  eines  einzelnen  führen  darf.  Als  Ref.  erkannte, 
daß  schon  auf  dem  Gebiet  der  Beobachtungsleistung  die  Auffindung  einer 
brauchbaren  Skala  zur  Unmöglichkeit  wurde  —  die  Ausführung  eines 
Bild  für  Bild  und  Person  für  Person  usw.  Felder  schaffenden  Schemas 
führte  ins  Unendliche  und  erst  recht  die  Bewertung  der  Einzelheit  — , 
versuchte  er  einen  Längsschnitt  zu  ziehen  durch  ein  einziges  Moment  aus 
dem  Gebiete  der  Phantasieleistung,  um  hier  wenigstens  auf  einem  schmalen 
Ausschnitt  eines  noch  komplizierteren  Gebiets  die  Auffindbarkeit  eines 
Schemas  zu  versuchen  und  seine  Brauchbarkeit  für  die  Zensierung  aus- 


118  O.  Melchior  und  H.  Penkert 


zuprobiereii.  Er  wählte  die  Wirtshausszene  aus  Bild  4,  also  ein  Gebiet, 
das  wegen  der  Skizzenhaftigkeit  der  Zeichnung  der  Phantasietätig- 
keit ein  eben  so  offenes  und  weites,  wie  gegen  alles  übrige  abgeschlossenes 
Feld  bot,  und  hat  nach  Durchsicht  sämtlicher  Arbeiten  als  mittleres, 
stilistisch  neutrales  Schema  einige  Sätze  zusammengestellt.  Diese  Sätze 
bieten  sachlich  etwa  das,  was  sich  an  nicht  sonderlich  auffallenden  Einzel- 
heiten an  den  Arbeiten  findet,  denen  die  Wirtshausszene  zu  einer  als  selb- 
ständiges Motiv  gefaßten  Phantasieeinheit  wurde.  Er  nahm  die  Gedanken 
heraus,  von  denen  er  annahm,  daß  wohl  auch  alle  andern,  wenn  sie  dasselbe 
Motiv  bearbeitet  hätten,  auf  diese  Gedanken  gekommen  wären.  Die  Sätze 
waren  folgende: 

„Die  beiden  treten  in  die  kleine  (kühle)  Wirtsstube,  begi'üßen  einige 
Bekannte,  setzen  sich  am  Fenster  nieder  und  tauschen  beim  Glase  Bier 
manche  Erinnerung  an  die  Jugend  aus  und  manchen  Gedanken  über 
Bekannte  und  Ereignisse  des  Tages  (Staat  und  Regierung).  In  froher 
Stimmung  stoßen  sie  mehrmals  auf  ihr  gegenseitiges  Wohl  an." 

Von  dieser  mittleren  Leistung  aus  wäre  zu  werten.  Aber  auch  schon 
in  dieses  vorsichtig  und  fast  tastend  gefundene  Schema  mischen  sich  sub- 
jektive Momente,  wie  das  Ganze  schon  mehr  eine  Konstruktion  ist,  als  daß 
es  gerade  in  dieser  Form  gefunden  wäre.  Stellt  nun  dies  nicht  ohne  einige 
'Mühe  gefundene  Schema  wirklich  das  unanfechtbare  ,, Mittlere"  an  Leistung 
dar?  Und  dürfte  man  aus  der  Jeweiligen  Gestalt  dieses  Motivs  in  den 
Arbeiten  einen  sicheren  Rückschluß  auf  Maß  und  Art  der  Phantasie  eines 
Prüflings  tun,  aus  einem  Plus  in  diesem  Falle  auf  ein  Plus  von  Phantasie 
im  allgemeinen  und  aus  einer  in  diesem  Falle  erkennbaren  Richtung  auf 
konkret  Hinzuerschautes  oder  abstrakt  Hinzuerdachtes,  auf  eine  gleiche 
Richtung  überhaupt? 

So  erscheint  dem  Ref.  überhaupt  ein  solcher  Test,  aus  Bildbetrachtung,  Er- 
zählung einer  Handlung  und  rein  stilistisch  zu  bewertenden  Elementen  mit 
vielen  möglichen  Bereicherungen  bzw.  Lücken  aus  Gründen  der  kritischen 
Bearbeitung  zu  komphziert,  um  als  experimentell-psychologisches  Quellen- 
material für  massenpsychologische  Theoreme  leicht  gebraucht  werden  zu 
können.  Es  sei  denn,  daß  man  Je  nach  den  Umständen  abstrahierte  vom 
Stil,  von  der  Beobachtungstreue  und  -fülle  oder  von  der  Wiedergabe  der 
Handlung  usw.  und  dadurch  einseitiger,  aber  genauer  zu  werten  imstande 
wäre. 

Besser  wäre  aber  in  solchem  Falle,  man  hätte  von  vornherein  die  Ein- 
stellung eingeengt.  Der  Prüfling  hätte  den  Vorteil  erhöhter  Konzentrations- 
möglichkeit und  der  Kritiker  den  eines  weniger  umfangreichen  und  einheit- 
licheren Untersuchungsgebiets. 

Schließhch  handelt  es  sich  noch  um  die  Bewertung  der  einzelnen  Abteilun- 
gen untereinander.  Wie  manches  erscheint  unter  allen  Umständen  verblaßt 
und  verwischt  im  Gesamtzeugnis !  Auf  welche  verschiedene  Weise  kommt 
es  schließhch  doch  oft  genug  zu  der  häufigen,  gutmütigen  2 — 3!  In  der 
vorliegenden  Versuchsanordnung  wurden  alle  Teilzeugnisse  gleich  gerechnet. 
Verschöbe  sich  die  Zensierung  von  diesem  neutralen  Standpunkt  zugunsten 
einer  höheren  Bewertung  des  beobachteten  sachlichen  Materials,  so  müßte 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  119 

als  engstes  Gebiet  ein  Zeugnis  für  die  genau  festzulegenden  Entwicklungs- 
stufen der  Handlung  gegeben  werden,  als  nächstes  eins  für  die  diese  Ent- 
wicklung ermöglichenden  Hauptbeobachtungen,  ein  drittes  für  die  nach 
Möglichkeit  zu  bewertenden  nebensächlichen,  aber  als  Beobachtung 
interessanten  Einzelheiten  und  ein  viertes  für  die  Qualität  der  zwischen 
den  einzelnen  Bildern  hergestellten  logischen  Verknüpfungen,  so  daß  die 
Beobachtung  vierfach  gewertet  würde.  Ähnliche  Varianten  ließen  sich 
finden  für  den  Fall  einer  höheren  Bewertung  aller  spezifisch  logischen 
Qualitäten,  der  Phantasieleistung  usw.  In  der  vorliegenden  Form  tritt 
die  Stilleistung,  was  immerhin  eine  etwas  grobe  Einschätzung  ist,  als 
Ganzes  in  eine  Linie  mit  Beobachtungsfülle  und  -gute,  Deutungsgrad  und 
-gute  und  Bewertung  der  gefundenen  Überschrift,  und  damit  treten  einzelne 
Denkakte,  wenngleich  besonderer  Konzentration,  als  gleichwertig  neben  die 
dauernd  geübte  Wahl  und  Formung  von  Wort  und  Satz.  Die  sachliche 
Fülle  und  Güte  der  Phantasiedaten  tritt  zurück  gegen  die  der  Beobachtungs- 
daten, also  gerade  das,  was  sicher  in  höherem  Grade  Eigentum  der  Persön- 
lichkeit ist,  das  im  engeren  Sinne  produktive  Element  gegen  das  objektiv 
vorhegende,  vom  Zeichner  persönlich  geformte.  Als  deutliches  subjektives 
Unbehagen,  ja  als  sachliche  Ungerechtigkeit  empfand  der  Ref.  häufig 
genug  diese  einfache  und  theoretisch  berechtigte  ungefähre  Gleichstellung 
von  Beobachtung,  Phantasie  und  Stil.  Der  praktische,  pädagogisch  tausend- 
fach geübte  Instinkt  zensierte  in  manchem  Einzelfall  anders,  als  die  er- 
rechnete und  nie  modifizierte  Endziffer  angab.  Zum  guten  Teil  lag  dies 
darin,  daß  die  stilistische  Leistung  als  die  in  der  Arbeit  dauernd  vorhandene, 
von  der  Verfasserin  jahrelang  geübte,  in  tausend  Einzelfällen  sich  bekun- 
dende Fähigkeit  des  sprachlichen  Ausdrucks  nach  Schärfe  und  Geschmack, 
nach  Wahl  und  Konstruktion  vorlag,  wogegen  beispielsweise  die  Beobach- 
tungstreue und  -fülle  als  eine  nur  relativ  sporadisch  verlangte  und  geübte 
und  deshalb  mehr  vom  Zufall,  vom  Moment  abhängige  Leistung  erschien, 
die  nur  zeitweise  von  Bedeutung  wurde  und  sicher  nicht  in  allem  Wort- 
gestalt annahm.  So  erschien  ihre  Zensierung  im  Vergleich  mit  der  Stil- 
zensur bald  anormal  hoch,  bald  als  voreilig  und  ungerecht.  Dazu  trat 
noch  folgende  Beobachtung.  Es  erschien  häufig  dies  und  jenes  der  angege- 
benen Phantasiedaten  an  sich  als  bedeutend,  persönlich  besonders  charak- 
teristisch, und  doch  stand  es  verglichen  mit  der  Erzählung  der  Handlung 
gleichsam  am  Rande,  als  Mitläufer  auf  einem  äußern,  wenngleich  konzen- 
trischen Kreise.  Sicherlich  müßten  größere,  von  innerem  Schauen,  logischer 
Begabung  und  Reflexion  zeugende  Phantasieeinheiten  ebenso  hoch,  ja 
vielleicht  höher  eingeschätzt  werden  als  so  manche  Beobachtungseinzelheit, 
die  eher  besser  ge wertet  wird,  weil  sie  besser  zu  fassen  ist,  im  Schema  von 
vornherein  angegeben  war  und  der  im  Bilde  dargebotenen  Handlung  näher 
verknüpft  zu  sein  schien.  Zu  allem  kommt,  daß  bei  weitem  nicht  sämtHche 
kritischen  Daten  entweder  ganz  richtig  oder  ganz  falsch  sind.  Beobach- 
tungen sind  oft  ungenau,  nur  angedeutet,  unsicher,  unvollständig,  nicht 
in  ihrer  Wichtigkeit  erfaßt;  die  Deutungen  ärmlich,  ohne  persönliche 
Einfühlung,  gewagt;  Phantasie  zutaten  unbedeutend,  albern,  nichtssagend, 
allgemein,  unglaubhaft,  störend,  widerspruchsvoll.     Hierzu  gesellen  sich 


120  O.  Melchior  und  H.  Penkert 

die  stilistischen  Vorzüge  und  Mängel,  die  den  sachlichen  Kern  durch  gün- 
stige Formulierung  über  Gebühr  wertvoll  oder  durch  Ungeschick  unberech- 
tigt falsch  erscheinen  lassen,  so  daß  die  Wertung  leicht  sachlich  zu  gering 
und  stilistisch  zu  hoch  sein  kann  und  umgekehrt. 

So  bietet  auch  die  Abschätzung  der  einzelnen  Teilleistungen  gegen  ein- 
ander eine  Fülle  von  Schwierigkeiten  und  Problemen,  die  der  Einzelne  für 
sich  löst  als  absoluter  Monarch  seiner  kleinen  pädagogischen  Provinz,  indem 
er  die  gordischen  Knoten  nur  unbefriedigend  oder  gar  nicht  lösbarer  Pro- 
bleme zerhaut,  um  zum  Schlüsse  zu  kommen.  Aber  wer  findet  die  eine, 
allgemeingültige,  jeden  Experimentator  zum  gleichen  Resultat  führende 
Lösung  ?  Oder  bleibt  es  bei  allen  höhere  seelische  Leistungen  experimen- 
tell angreifenden  Fragen  bei  der  Gleichberechtigung  vieler  Lösungen,  da 
die  Psyche  des  Versuchsleiters  den  ersten  und  letzten  Entscheid  gibt,  und 
wird  häufig  nur  die  genaue  Analyse  des  Weges  zu  den  Einzellösungen  die 
einzige  reife  Frucht  sein  bei  der  Einbeziehung  höherer,  komplexer  Geistes- 
tätigkeiten und  Arbeitsformen  in  die  Kreise  experimentell  psychologischer 
Forschung  ?  Das  Eine  scheint  Ref.  das  für  die  Vp.  wie  für  den  Versuchs- 
leiter Vorteilhaftere  zu  sein :  handelt  es  sich  um  Massenuntersuchungen  und 
-bewertungen  reiferer  Vp.  durch  komphzierte  Arbeiten  wie  Aufsätze,  so 
empfiehlt  es  sich,  die  Aufgaben  so  eng  und  genau  umschrieben  wie  nur 
möglich  zu  stellen,  eher  dieselbe  Aufgabe  mehrfach  mit  wechselnder  Ein- 
stellung lösen  zu  lassen,  als  einmal  mit  vielseitig  anregender  Einstellung . 

6.  Einzelmaterial  zu  den  vorstehenden  Ausführungen. 

Aufsatztext  1. 
Die  verhängnisvollen  Brote. 
4  Herr  Müller,  ein  kleiner,  dicker  Bäcker,  ist  unterwegs,  um  seinen  Kunden  die 
knxisprigen,  frischen  Brote  in  das  Haus  zu  bringen.  Leicht  wird  es  ihm  bei  seiner 
Behäbigkeit  nicht,  den  kleinen  Wagen  mit  dem  Brot  zu  schieben.  Da  bemerkt  er  an 
der  Ecke,  an  der  eine  gemütliche  Gastwirtschaft  steht,  seinen  Freund  Schmidt, 
den  Milchhändler,  der  vergnügt  auf  dem  Bock  sitzt  und  seinen  Milch  wagen  fährt. 
Schon  von  weitem  begrüßen  sich  die  beiden  Bekannten  durch  laute  Zurufe.  Ihre 
Gesichter  strahlen.  Sie  haben  sich  ja  so  viel  zu  erzählen  und  sich  so  lange  nicht  gesehen ! 
Der  Wagen  hält.  Die  Fremide  schütteln  sich  freudig  die  Hände.  ,,Wie  geht's,  Herr 
Müller  ?  Immer  noch  auf  den  Beinen  ?"  ,,0h,  Herr  Schmidt,  ich  hab'  Ihnen  furchtbar 
viel  zu  sagen.  Denken  Sie  mal,  ich  habe  — ",  und  damit  hält  der  kleine,  dicke  Bäcker 
seinen  Daumen  in  die  Höhe  und  will  eifrig  weiter  erzählen.  ,, Lassen  Sie  uns  in  die 
Wirtschaft  gehn,  da  is  es  gemütlicher",  unterbricht  ihn  der  lange,  dünne  Milchhändler. 
Sofort  willigt  Müller  ein.  Er  hat  schon  den  ganzen  Morgen  die  Karre  geschoben 
und  ist  müde  und  recht  durstig  geworden.  Ein  Küminel  und  ein  Glas  Bier  tut  gut, 
und  was  hat  er  nicht  alles  zu  sagen!  Einträchtig  gehen  die  beiden  Freunde  in  die 
Gastwirtschaft.  Eine  Viertelstunde  können  sie  ja  wohl  klönen,  die  Pferde  werden 
schon  ruhig  bleiben.  Es  wird  sich  wohl  auch  niemand  an  den  Broten  vergreifen. 
Kaum  aber  haben  die  beiden  den  Rücken  gekehrt,  als  die  Pferde  anfajigen,  begierig 
in  der  Lvift  herum  zu  schnuppern.  Wie  riecht  das  gut!  Woher  kommt  wohl  nur  dieser 
Duft  ?  Sie  strecken  ihre  Hälse  aus  und  bemerken  die  knusprigen  Brote  in  dem  Bäcker- 
wagen. Neugierig  kommen  sie  näher.  Oh,  wie  duftet  das.  Es  wäre  ein  guter  Bissen 
für  sie.  Schon  reckt  das  eine  Pferd  seinen  Hals  und  fängt  an  zu  futtern,  während 
Herr  Schmidt  und  Herr  Müller  gerade  fröhlich  mit  ihrem  halben  Liter  anstoßen  und 
auf  ihr  gegenseitiges  Wohl  trinken.  —  Doch  jetzt  wird  es  Zeit  aufzubrechen.  Die 
Kunden  warten  auf  sie.     Großmütig  bezahlt  Herr  Müller  noch  die  kleine  Zeche.    Als 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  121 

er  aber  —  immer  noch  in  rosiger  Stimmung  —  die  Tür  öffnet,  stürzt  er  voller  Schrek- 
ken  die  Stufen  hinunter.  Er  fliegt  förmlich.  Aber  er  kommt  zu  spät.  Die  Brote  sind 
verschwunden.  Bestürzt  steht  Herr  Schmidt  noch  immer  an  der  Tür  und  faßt  sich 
verlegen  an  den  Kopf.  Endlich  steigt  er  langsam  die  Stufen  hinab.  Da  wird  er  aber 
liebenswürdig  angeschrien:  „Geben  Sie  mir  meine  Brote  wieder,  oder  ich  zeige  Sie 
an!"  Scheu  stehen  die  Pferde  ziu*  Seite.  ,,Ich,  ich  soll  Ihnen  das  Brot  wieder  geben  ? ! 
Ich  ?!  Tu  ich  mein  Lebtag  nich,"  fällt  ihm  jetzt  der  lange  Milchhändler  ins  Wort. 
„Warum  gehen  Se  denn  kneipen!  Passen  Se  doch  auf!"  Heftig  streitend  stehen  sich 
die  beiden  eben  noch  so  innig  Befreundeten  gegenüber.  Ihr  Lärm  hat  die  anderen  Gäste 
an  das  Fenster  gelockt.  Sie  ziehen  ihre  Glossen  über  die  Zankenden.  Bei  denen 
bleibt  es  aber  nicht  allein  bei  einem  Wortwechsel.  Sie  werden  handgreiflich  und  ver- 
prügeln sich  tüchtig.  Da  nehmen  die  schon  scheu  gewordenen  Pferde  Reißaus !  Die 
Kannen  stürzen  von  dem  Wagen  hinunter  auf  die  Erde,  und  die  schöne  Milch  fließt 
in  Bächen  die  Straße  entlang!  Die  Zuschauer  brechen  in  ein  schallendes  Gelächter 
aus  und  amüsieren  sich  über  die  nun  beide  angeführten  Streitenden. 

Der  scherzhaften  Überschrift  entsprechend,  erzählt  V.  innerlich  amüsiert 
in  angeregtem,  rhythmisch  angenehm  bewegtem  Stil.  In  den  ruhigeren 
Teilen  meist  längere,  vielfach  geschmückte  und  gut  geformte  Sätze.  In 
den  mehr  dramatisch  gefaßten  Teilen  wechselt  der  Rhythmus.  Die  Sätze 
werden  kurz  und  schmucklos,  aber  stark  gefühlt  und  lebhaft  interpunktiert. 
Einige  absichtlich  gewählte  gewöhnliche,  scherzhaft  unterstreichende 
Ausdrücke  und  einige  Witze.  Mehrfach  Beweise  einer  über  eine  ruhige, 
rein-sachliche  Deutung  hinausgehenden  Einfühlung  und  phantasie vollen 
Belebung,  so  bei  Bild  3  und  6.  Die  Gespräche  sind  lebendig  erfunden, 
inhaltlich  allgemein  und  arm,  aber  in  Wortwahl  und  Tonfall  charakteristisch. 
Logische  Verknüpfung  der  Handlungsmomente  vorhanden,  wenngleich 
nicht  gerade  tief.  Die  beiden  wichtigsten  Einzelbeobachtungen  (Offen- 
bleiben der  Karre,  Nichtabsträngen  der  Pferde)*  fehlen!  Auch  sonst 
wenige  feinere  Beobachtungseinzelheiten.  Sogar  eine  deutliche  Abweichung : 
der  Zeichner  gibt  dem  Bäcker,  nicht  dem  Milchmann,  den  Einfall,  ins  Wirt- 
haus zu  gehen.  V.  hat  ohne  Skizze  und  Kladde  gleich  die  Reinschrift 
gearbeitet. 

Auf  Bewegung  und  Leben,  nicht  auf  ruhige  Betrachtung,  ,, literarisch" 
eingestellter,  rhythmisch  elastischer  Typ. 

Aufsatztext  II. 

Durch  Unachtsamkeit  können  gute  Freunde  zu  Feinden  werden. 

An  einer  Straßenecke  vor  einem  Wirtshause  begegnen  sich  ein  Bäckermeister  imd 
ein  Milchhändler.  Der  Bäcker  ist  klein  und  außergewöhnlich  dick;  er  schiebt  eine 
offen  stehende  Karre,  so  daß  man  das  Brot  sehen  kann.  Der  Milchhändler  sitzt  auf 
dem  Kutscherbock;  er  hält  die  Peitsche  in  der  Hand  und  zieht  die  Zügel  stramm. 
An  den  Beinen  der  beiden  Pferde  kann  man  sehen,  daß  sie  den  Wagen  zum  plötzlichen 
Halten  bringen.  Der  Milchhändler  ist  lang  und  dünn.  Beide  Männer  freuen  sich, 
einander  begegnet  zu  sein;  sie  haben  ein  heiteres  Gesicht  und  heben  einen  Arm  hoch. 

Jetzt  stehen  beide  zwischen  der  Karre  und  den  Pferden ;  sie  reichen  sich  die  Hände 
zum  Gruß.  Nach  den  Gesichtsausdrücken  zu  urteilen,  will  der  Kutscher  den  andern 
zu  einem  Trünke  überreden. 

Beide  haben  sich  geeinigt ;  umschlungen  stehen  sie  in  der  Tür.  Im  selben  Augen- 
blick haben  die  Pferde  angezogen.  Mit  weit  vorgestreckten,  aufgeblähten  Nüstern 
tmd  großen  Augen  gehen  sie  auf  das   Brot  zu. 

Durchs  Fenster  erblickt  man  die  Herren,  sie  haben  die  Seidel  erhoben  und  stoßen 
an.    Draußen  machen  sich  die  Pferde  über  den  gefundenen  Bissen  her. 


122  O-  Melchior  und  H.  Penkert 

Mit  erhobenen  Armen  stürzt  der  Bäcker  schon  die  Treppe  herunter.  Das  Pferd, 
welches  ihm  am  nächsten  ist,  hat  den  Kopf  wild  zurückgeworfen;  das  andere  frißt 
ruhig  weiter.  In  der  Tür  steht  der  sprachlose  Kutscher.  Verlegenlieit  malt  sich  auf 
seinem  Gesicht,  eine  Hand  hält  er  hinter  den  Kopf. 

Der  Beraubte  lehnt  sich  mit  gespreizten  Beinen  gegen  die  Karre.  Mit  wütendem 
Gesicht  scheint  er  den  inzwischen  Nähergetretenen  zu  beschuldigen;  denn  letzterer 
zeigt  auf  sich,  und  seine  ganze  Haltung  ist  angstvoll.  Am  Fenster  der  Wirtsstube 
schauen  die  Gäste  lachend  auf  das  Bild.  Die  Übeltäter  drücken  sich  scheu  zur  Seite. 

Der  kleine  Bäcker  hat  sich  wütend  auf  seinen  Gegner  gestürzt  und  ihn  zu  Fall 
gebracht.  Die  Zuschauer  im  Wirtshause  belustigen  sich  über  den  Vorfall.  Unter- 
dessen haben  die  Pferde  den  Wagen  gewendet;  sie  galoppieren  um  die  Ecke.  Die 
Milchkannen  fallen  dabei  um  oder  fliegen  in  hohem  Bogen  vom  Wagen. 

V.  reiM  ohne  erkennbare  Teilnahme  in  ruhigen,  kurzen,  stilistisch 
reizlosen  Sätzen  Beobachtung  an  Beobachtung,  ohne  die  einzelnen  Bilder 
zu  verknüpfen.  Vorsichtig  in  der  Deutung  (vgl.  Bild  2  und  6)  und  meist 
ohne  jede  über  das  Bild  hinausgehende  Deutung  und  Motivation  (vgl. 
Bild  1,  Schlußsatz).  Beobachtet  sicher,  aber  fast  ganz  ohne  erkennbaren 
Sinn  für  Feinheiten,  und  doch  fraglos  intelligent  und  energisch. 

Beispiel  einer  zäh  durchgeführten,  einseitig  auf  vorsichtige  Beobachtung 
ausgehenden  Einstellung. 

Aufsatztext  III. 
Erst    Freund,    dann    Feind. 

Der  Bäckergeselle  vor  seiner  geöffneten  Karre,  aus  der  viele  Brötchen  einladend 
hervorsehen,  und  der  Milchmann  auf  seinem  hohen  Kutscherbock  begrüßen  einander 
freudig  vor  einer  Wirtschaft.  Sie  scheinen  sich  gegenseitig  ein  lautes  ,, Hallo,  guten 
Tag,  Freund"  zuzurufen.  Nur  mit  Mühe  bändigt  der  Milchmann  seine  feurigen 
Pferde. 

Beide  Männer  haben  jetzt  ihr  Gefährt  verlassen  und  drücken  sich  fest,  kamerad- 
schaftlich die  Hand.  Mit  nicht  mißzuverstehender  Gebärde  weist  der  kurze  dicke 
Bäcker  auf  die  Wirtschaft.  Der  lange  dünne  Milchmann  scheint  sehr  einverstanden 
mit  dem  Vorschlag  zu  sein.  Es  ist  doch  auch  zu  schön,  sich  von  der  Wagenfahrt  durch 
einen  kühlen  Trunk  zu  erholen.  Innig  umschlungen  verschwinden  Bruder  Bäcker 
und  Bruder  Milchmann  in  der  Wirtschaft.  Verlassen  stehen  die  Karre  und  der  Milch- 
wagen da.  Die  Pferde  scheinen  das  Alleinsein  gut  ausnutzen  zu  Vv^ollen,  denn  sie  recken 
lüstern  ihre  Hälse  nach  den  gewiß  lieblich  duftenden  Brötchen,  die  locken  doch  auch 
gar  zu  sehr!  ' 

So,  endlich  haben  die  Tiere  die  Brotkarre  erreicht.  Das  eine  Pferd  taucht  noch 
seinen  langen  Hals  in  die  Karre,  während  das  andere  schon  munter  schmaust.  Keine 
Störung  aus  ihrem  herrlichen  Mahle  scheint  ihnen  beschieden  zu  sein,  denn  hinter 
den  Scheiben  der  Wirtschaft  sieht  man  die  Umrisse  der  beiden  Freunde,  die  sich 
gerade  andachtsvoll  zuprosten  und  gewiß  an  kein  Unheil  denken.  Aber  ach,  kein 
Glück  ist  ungetrübt  auf  Erden! 

Endlich  scheinen  die  Männer  das  Unheil  doch  bemerkt  zu  haben,  welch  ein  Anblick 
bietet  sich  jetzt  unsern  Blicken  dar!  Trotz  seiner  Dicke  scheint  der  Bäcker  auf  seine 
bedrohte  Karre  und  die  beiden  bösen  Pferde  zu  fliegen.  Ganz  entsetzt  breitet  er 
seine  kurzen  dicken  Ärmchen  aus.  Eine  drohende  Falte  liegt  auf  seiner  Stirn.  Der 
lange  Milchmann  kratzt  sich  in  großer  Verlegenheit  den  Kopf.  Trübselig  hängt  sein 
Bart  über  seine  Lippen.  Er  steht  noch  an  der  Wirtschaftstür  und  sieht  mit  Entsetzen 
auf  die   augenblicklich   noch  munter   schmausenden   Pferde. 

Jetzt  wird's  aber  Ernst !  Mit  finsteren  Blicken  zeigt  der  geschädigte  Bäcker  auf 
den  Milchmann  und  bedeutet  ihm  so,  daß  er  die  Mahlzeit  der  Tiere  bezahlen  soll. 
Ganz  verdutzt  macht  der  Kutscher  mit  der  Hand  so,  als  wollte  er  sagen:  ,,Was, 
ich  soll  bezahlen,  das  kann  doch  nicht  wahr  sein  ?"    Die  beiden  Pferde  stehen  eng 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  123 

aneinander  gedrückt,  wie  Kinder  nach  einem  bösen  Streich.  Sie  wagen  nar  verstohlen 
auf  die  beiden  Erzürnten  zu  sehen,  bei  denen  es  jetzt  nicht  niir  bei  Worten  bleibt, 
nein,   was  ist  denn  das  ? 

Wirklich,  da  liegen  ja  die  beiden  sonst  so  guten  Freunde  und  prügeln  sich  weidlich. 
Der  dicke  Bäcker  hat  natürlich  die  Oberhand,  er  erdrückt  den  spindeldürren  Kutscher 
fast.  Die  Pferde  scheinen  keinen  Zwist  zu  lieben,  denn  sie  geben  Fersengeld,  sie  sausen 
wild  um  die  Ecke  des  Wirtshauses.  Die  Milchkannen  poltern  lustig  durcheinander 
imd  springen  teilweise  auf  die  Erde,  aus  einer  Kanne  ergießt  sich  ein  breiter  Strom. 
An  dem  Fenster  der  Wirtschaft  stehen  die  Gäste,  die  mit  lachenden  Gesichtern  auf 
die  sich  vor  der  leeren  Karre  balgenden  Männer  blicken.  Ja,  ja,  Schadenfreude  ist 
die  reinste  Freude. 

Beispiel  einer  guten  doppelten  Einstellung  auf  lebendige  Erzählung  und 
engen  Anschluß  an  die  Bilder.  Im  Gegensatz  zu  den  Beispielen  I,  IV,  V  und 
Via — d  schließen  sich  Beginn  und  Schluß  der  einzelnen  Abschnitte  innerhalb 
der  Arbeit  an  die  einzelnen  Bilder  an.  Bei  den  andern  Arbeiten  sind  die 
Abschnitte  gebildet  nach  inneren  Momenten  des  Handlungsfortgangs  oder 
der  Erzählung.  Manche  Beobachtungsfeinheit  (vgl.  Bild  5).  Gute  wech- 
selnde Übergänge  von  Bild  zu  Bild.  Trotz  guter  Beobachtungsgabe  fehlen 
beide  Haupteinzelheiten !  Phantasiebegabung  nach  dem  Aufsatz  geringer, 
ob  aber  überhaupt? 

Aufsatztext  IV. 

,, Tages  Arbeit,  abends  Gäste  ..." 

Vor  einem  Wirtshaus  steht  Bäckermeister  Müller  mit  seiner  Brotkarre;  er  hat 
den  Deckel  der  Karre  aufgeklappt  und  wir  sehen  die  schönen  frischen  Brote  darin, 
die  er  seinen  Kunden  bringen  will.  Da  kommt  um  die  Straßenecke  ein  Wagen  gefahren, 
der  mit  zwei  schönen  Pferden  bespannt  ist.  Auf  dem  Wagen  stehen  viele  Milchkannen, 
und  auf  dem  Bock  sitzt  der  Milchwagenkutscher  Hagen,  Bäcker  Müllers  Freund. 
Hagen  erkennt  Müller,  steigt  schnell  vom  Bock  herimter,  und  die  beiden  Freunde 
begrüßen  einander  herzlich.  ,,Wie  schön",  sagen  sie,  ,,daß  wir  uns  gerade  hier  vorm 
Gasthaus  begegnen,  nun  wollen  wir  doch  auch  einen  Schluck  Bier  miteinander  trinken 
und  etwas  plaudern."  Sie  liebten  beide  einen  guten  Trunk.  Beim  Bäckermeister 
verriet  das  schon  die  kleine,  fast  kugelrunde  Gestalt.  So  gingen  sie  also  recht  ver- 
gnügt und  innig  umschlungen  wie  rechte  Freunde  ins  Wirtshaus,  xxnd  etwas  später 
sehen  wir  sie  drinnen  mit  gefüllten  Bierseideln  anstoßen.  Was  draußen  vorgeht, 
kümmert  sie  jetzt  nicht. 

Den  beiden  Pferden  steigt  imterdessen  der  schöne  Duft  der  frischen  Brote  recht 
verlockend  in  die  Nase,  und  da  sie  schon  recht  hungrig  geworden  sind  auf  dem  weiten 
Weg  vom  Dorf  in  die  Stadt  —  Milchwagenpferde  müssen  schon  so  früh  an  die  Arbeit 
—  ist  es  kein  Wtmder,  daß  sie  versuchten,  die  Brotkarre  zu  erreichen,  die  nur  zwei 
Schritte  weit  vor  ihnen  stand.  Und  siehe  da!  Es  ging  besser  als  sie  gedacht  hatten; 
denn  Hagen  hatte  diesmal  in  der  Eile  sogar  vergessen  abzusträngen.  So  gut  hatte 
es  den  beiden  Braunen  lange  nicht  geschmeckt,  und  so  reichlich  hatte  ihr  Herr  ihnen 
die  Mahlzeit  lange  nicht  bemessen.  Sie  fraßen  die  Karre  ganz  leer.  Das  rechte  Pferd 
verzehrte  gerade  das  letzte  Brot,  und  das  linke  hatte  den  Kopf  tief  in  die  Karre 
gesteckt,  um  zu  sehen,  ob  das  köstliche  Mahl  wirklich  zu  Ende  sei,  da  kam  Bäcker- 
meister Müller  aus  dem  Gasthaus  heraus  und  hinter  ihm  Freund  Hagen.  Müller  sieht 
die  Pferde  an  seiner  Karre,  begreift  die  ganze  Sache,  stürzt  hinaus,  van  zu  retten,  was 
noch  zu  retten  ist.  Aber  —  welch  ein  Schreck  —  die  Karre  ist  leer.  Und  Hagens 
Pferde  hatten  ihm  das  angetan.  Seine  freundschaftlichen  Gefühle  verwandelten  sich 
im  Augenblick  in  blinden,  wilden  Haß  gegen  den  Besitzer  der  Pferde,  und  er  machte 
dem  Kutscher  die  bittersten  Vorwürfe,  gab  ihm  allein  die  Schuld  an  dem  Unglück 
und  verlangte  das  Geld  von  ihm,  das  er  von  seinen  Kunden  für  die  Brote  bekommen 
hätte.     Natürlich  verweigerte  Kutscher  Hagen   das  Geld  und  wies  die  Schuld  auf 


124  O-  Melchior  und  H.  Penkert 

den  Ankläger  zurück.  So  stritten  sie  hin  und  her.  Die  Wirkung  des  Bieres  machte 
sie  noch  heftiger.  Statt  einer  Einigung  über  den  Schaden  endigte  der  Streit  in  einer 
Prügelei.  Aber  das  war  nicht  das  schlimmste  Ende.  Außer  den  lachenden  Wirts- 
leuten waren  noch  zwei  Zuschauer  da,  die  beiden  Braimen  vor  dem  Milchwagen.  Ob 
ihnen  der  Anblick  ihres  geschlagenen  Herrn  so  schrecklich  war,  oder  ob  sie  gern  schnell 
nach  Hause  wollten,  weiß  ich  nicht.  Jedenfalls  machten  sie  plötzlich  kehrt  und 
liefen  eilig  davon.  Bei  der  schnellen  Wendung  polterten  die  gefüllten  Milchkannen 
herunter,  und  der  wertvolle  Inhalt  floß  auf  die  Straße.  Die  Pferde  fühlten  ihre 
Freiheit  und  schössen  wild  dahin.  Die  beiden  Betrunkenen,  die  einander  schlagend 
auf  der  Straße  lagen,  sahen  nicht,  welch  größeres  Unheil  sie  dtirch  ihre  blinde,  un- 
besonnene Wut  anrichteten. 

Ruhige,  tüclitige  Arbeit.  Nacli  keiner  Seite  hin  irgendwie  auffallend 
begabt  oder  eingestellt,  weder  reich  an  Beobachtungen  (es  fehlt  z.  B. 
jeder  Hinweis  auf  das  Offenbleiben  der  Bäckerkarre),  noch  an  Phantasie- 
zutaten, noch  an  Motivierung  der  einzelnen  Momente  und  Handlungs- 
weisen, auch  nicht  stilistisch  prägnant,  und  doch  als  G-anzes  wohltuend 
durch  die  stilistisch  abgerundete,  in  der  Gedankenfolge  lückenlos  geschlossene 
Art  der  Erzählung,  die  dazu  mehr  den  Anschein  einer  pfhchtmäßigen 
Lösung  hat  als  den  einer  elementaren  Freude  an  der  Sache  selbst. 

Gute  Lösung  auf  Grund  einer  natürhchen,  glücklichen  in  sich  ,, harmo- 
nischen" Geistesverfassung,  keiner  besonderen  Einstellung. 

Aufsatztext  V. 

Skizze:  1.  Mit  dem  Ort  der  Handlung  und  den  beiden  handelnden  Personen 
bekannt  machen. 

2.  Der  Entschluß,  aus  alter  Kameradschaft  miteinander  und  voneinander  zu 
sprechen,   führt  sie  in  die  Wirtschaft. 

3.  Das  Pflichtvergessene  veranschaulichen:  der  Bäcker  läßt  seine  Karre  offen 
stehen,   der   Kutscher  vergißt  den  Wagen  zu  riegeln. 

4.  Als  Höhepunkt:  die  Bestürzung  beim  Gewahrwerden  des   Geschehenen. 

5.  Die  Streitfrage  und  der  Zank. 

6.  Als  Ausgang:  die  Strafe,  die  dem  Kutscher  wurde,  durch  das  Davonrennen  der 
Pferde  mit  dem  Wagen. 

Text:  Eine  kleine  Geschichte  für  meine  Hortjungen,  wenn  sie  wieder  einmal 
„Kutscher"  spielen  und  in  ihrem  Spiel  nie  vergessen,  in  eine  Wirtschaft  einzukehren! 

„Bitte,  bitte,  eine  Geschichte,  eine  lustige  heute!"  „Nun  gut,  wir  wollen  sehen, 
ob  es  heute  recht  lustig  wird.  Aber  eine  „wirkliche"  Geschichte  erzähle  ich  euch! 
Kennt  ihr  die  Wirtschaft  von  Kjuse  ?  Habt  ihr  auch  einmal  auf  dem  Schild  am  Haus 
das  große  Bierseidel  gemalt  gesehen  ?  Es  war  einmal  am  Vormittag.  Herr  Müller, 
der  Bäcker,  hielt  mit  seiner  zweirädrigen  Handkarre,  in  der  er  seine  Rtmdstücke  zu 
den  Kunden  fuhr,  vor  dieser  Wirtschaft.  Er  hatte  noch  seinen  Anzug  an,  als  käme 
er  grad  aus  der  Backstube  mit  seiner  mehligen  Schürze  und  der  Bäckermütze.  Eben 
hatte  er  den  Deckel  seiner  Karre  gehoben,  die  bis  oben  mit  Rundstücken  angefüllt 
war,  als  sein  Freund  aus  der  Schulzeit,  Hans,  auf  seinem  Milchwagen  sitzend,  und, 
wie  es  schien,  auch  den  Gedanken  hatte,  bei  Kruse  einzukehren.  ,,He,  Corl!",  rief  er, 
da  er  den  Bäcker  auch  gleich  erkannte,  ,,das  trifft  sich  ja  ganz  famos!"  Dann  verfiel 
er  wieder  in  seine  plattdeutsche  Sprache:  „Ick  gew  ok  enen  ut!  Kummst  du  mit  rin? 
Wi  besökt  uns'n  ollen  Frund,  Hein  Krus'."  Inzwischen  war  er  vom  Bock  herunter- 
gestiegen und  hatte  bei  seinen  Worten  den  Bäcker  mit  seiner  festen  Hand  auf  die 
Schulter  geklopft,  der  neben  diesem  langen  Milchmann  aussah,  wie  ein  Riindstück 
neben  einem  Feinbrot. 

Der  Bäcker  hebt  seinen  runden  Daumen:  ,,Enen  giv's  du  ut,"  ein  Gl?is  Bier  meinte 
er  damit,  „ja,  \in  denn  lat  ick  noch  eenmal  inschenken!  Mehr  Tid  hew  ick  abers  nich.' 
„Is  good",  erAviderte  der  Milchmann,  und  einmütig  gehen  sie  die  drei  Stufen  hinauf. 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  125 

Skizziert  gut  (Beobachtungen  gut  und  gut  bewertet;  Sinn  für  Steigerung 
im  Erzählen).  Beispiel  einer  gut  durchgeführten  pädagogischen  Einstellung, 
leider  nur  an  Bild  1  und  2. 

Die  folgenden  unter  Via — ^Vld  aufgeführten  Arbeiten  stammen  von  ein 
und  derselben  Verfasserin,  nämlich  von  einer  der  27  Aufgenommenen, 
die  die  auf  S.  125  angegebenen  neun  Einstellungen  im  Laufe  von  etwa 
acht  Wochen  ausgeführt  hat, 

Aufsatztext  Via. 
Während  Bäcker  und  Milchmann  ein  Wiedersehen  bei  einer  Flasche  Wein  feiern, 
fressen  die  Pferde  des  Milchmanns,  die  vor  dem  I^uge  stehen,  die  Semmel  des  Bäckers 
auf.  Hierüber  entspinnt  sich  zwischen  den  zurückkehrenden  Freunden  ein  Streit, 
der  schließlich  zu  Tätlichkeiten  übergeht.  Der  Milchhändler  wird  von  dem  Bäcker  zu 
Boden  geworfen.  Durch  den  lauten  Wortwechsel  der  beiden  scheu  gemacht,  galoppieren 
die  Pferde  des  Milchhändlers  davon;  die  Kannen  werden  vom  Wagen  geschleudert, 
imd  die  Milch  ergießt  sich  über  das  Pflaster. 

Aufsatztext  VIb. 

„He",  denkt  Bäcker  Müller,  der  eben  die  schönsten  Weißbrötchen  zur  Wirtin 
gebracht  hat,  „he,  ist  das  nicht  der  lange  Miller,  der  dort  um  die  Ecke  biegt  ?"  Richtig, 
er  ist's !  Mit  lautem  Peitschenknall  kommt  der  Milchmann  auf  seinem  Wagen  daher- 
gefahren.  Da  hat  er  auch  schon  den  Bäcker  erkannt.  Voller  Freude  springt  er  eilends 
herab  vom  Wagen,  und  dann  gibt's  ein  herzliches  und  anhaltendes  Händeschütteln 
zwischen  den  beiden  alten  Freiuiden.  Hei,  wie  lacht  ihnen  die  Freude  aus  dem  Ge- 
sicht! Nach  einer  so  langen  Trennung  gibt  es  unendlich  viel  zu  erzählen.  Das  geht 
aber  schlecht  mit  einem  trockenen  Hals.  Auch  haben  beide  schon  ein  gut  Teil  ihrer 
Morgenarbeit  geschafft.  Da  sie  sich  gerade  vor  dem  Kruge  des  kleinen  Städtchens 
getroffen  haben,  kann  der  Bäcker  nicht  länger  widerstehen,  imd  er  lädt  seinen  langen 
Freimd  zu  einem  gemütlichen  Frühschoppen  ein.  Arm  in  Arm,  wie  es  sich  für  zwei 
gute  Freunde  geziemt,  sehen  wir  sie  in  der  Tür  des  Kruges  verschwinden,  und  bald 
sind  sie  im  eifrigen  Gespräch  über  die  „welterschütternden"  Ereignisse  ihres  Städtchens. 

Der  Herr  läßt  sich's  wohl  sein,  aber  seine  armen  Tiere  hat  er  gänzlich  vergessen. 
Auch  sie  sind  doch  gewiß  von  der  Fahrt  zur  Stadt  ermattet.  Mit  einem  vorwurfs- 
vollen Blick  sehen  sie  ihrem  fröhlich  davon  gehenden  Herrn  nach.  Aber  was  ist  denn 
daß  ?  Groß  reißen  sie  ihre  Augen  auf.  Wirklich,  der  Bäcker  hat  vergessen,  den  Deckel 
seiner  Karre  wieder  zuzuklappen,  und  nun  liegen  die  schönsten  Semmeln  tmd  Weiß- 
brote vor  den  Blicken  der  Pferde.  Hungriger  Magen  —  und  ein  paar  Schritte  vor  ihnen 
steht  die  noch  ziemlich  gefüllte  Karre  des  Bäckers !  Ist's  da  zu  verwundern,  daß  ihre 
Augen  immer  begehrlicher  blicken,  daß  ihre  Hälse  sich  immer  weiter  vorstrecken  ? 
Noch  ein  langer  Blick  gleitet  zum  Fenster  des  Wirtshauses,  hinter  dem  die  beiden 
Freunde  sitzen.  Die  laben  sich  aber  noch  immer  an  dem  köstlichen  Apfelwein  der 
Krugwirtin.  Ihr  fröhliches  Lachen  und  Gläserklingen  klingt  hinaus  bis  auf  den 
Marktplatz,  und  sie  achten  nicht  der  Pferde.  Da  ziehen  diese  an,  und  gleich  darauf 
sehen  wir  sie  heißhungrig  die  Semmel  verzehren,  ohne  die  Frage,  wie  es  ihnen  nachher 
ergehen  mag,  wenn  die  beiden  Freim.de  zurückkommen. 

Aufsatztext  VIc. 
,,Wa8  herrscht  denn  auf  dem  Markte  für  ein  Lärm  ?"  „Ist  Feuer  7"  „Nein,  aber  's 
raufen  sich  zwei !"  So  klingt's  durch  die  noch  eben  so  morgenstillen  Straßen  des  kleinen 
Städtchens,  und  allerlei  Neugierige  kommen  aixf  den  Marktplatz.  Was  für  ein  Bild 
bietet  sich  ihnen !  Vor  dem  Kruge  liegt  der  hagere  Miller  und  auf  ihm  kniet  der  Müller 
und  bearbeitet  seinen  „lieben  Freund",  wie  er  ihn  vor  einer  Viertelstunde  noch  selbst 
nannte,  mit  seinen  Fäusten  und  Füßen.  Verzweifelt  versucht  Miller  sich  von  den 
unbarmherzigen  Püffen  zu  befreien.  Umsonst.  Immer  eifriger  wird  der  Bäcker. 
Seine  Mütze  hat  er  schon  verloren.    Immer  wütender  wird  er  aussehen;  seine  kleinen 


126  O.  Melchior  und  H.  Penkert 

Äuglein,  die  in  seinem  runden  dicken  Gesicht  fast  versch-nönden,  funkeln  immei 
feindseliger.  „Wes  das  Herz  voll  ist,  des  geht  der  Mund  über",  und  so  fliegen  auch 
grobe  Scheltworte  zwischen  den  Streitenden  hin  und  her.  Bis  jetzt  haben  die  Pferde, 
die  vor  Milchmann  Millers  Wagen  gespannt  sind,  rtihig  gestanden,  die  Köpfe  tief 
zu  Boden  gesenkt,  denn  sie  fühlen,  daß  sie  hier  die  Hauptschuldigen  sind.  Hätten 
sie  nicht,  wie  sie  es  leider  getan  haben,  die  Brote  in  der  Bäckerkarre  aufgefressen, 
so  hätten  die  beiden  Freunde,  die  sich  nach  langer  Zeit  wiedersahen,  eine  ungestörte 
Wiedersehensfreude  gehabt.  Als  nun  aber  die  Stimmen  der  beiden  Erregten  immer 
lauter  werden,  da  halten  sie's  nicht  mehr  aus.  In  saiisendem  Galopp  jagen  sie  auf 
dem  Markte  herum,  den  Wagen  hinter  sich  her  ziehend,  der  bald  hier,  bald  dort  gegen 
einen  Stein  stößt.  Mit  lautem  lirach  stürzen  die  Milchkannen  vom  Wagen,  \ind  ihr 
Inhalt  ergießt  sich  über  die  Straße.  Keiner  wagt  sich  ihnen  entgegen  zu  stellen. 
Sie  jagen  in  eine  Nebengasse  hinein.  Wie  der  Wirt  und  die  Neugierigen  sehen,  daß 
sich  zu  dem  ersten  Unglück  noch  ein  zweites  gesellt,  fühlen  sie  doch  Mitleid  mit 
dem  armen  Kerl,  dem  Miller.  Viele  Hände  versuchen  nun  die  Streitenden  auseinander 
zu  bringen.  Miller  hat  bald  mit  Bitten,  bald  mit  immer  ärgerem  Schelten  versucht 
sich  zu  befreien.  Der  Müller  aber  hat  dagegen  geschrien:  „Mein  Geld  gibst  mir  für 
die  Brötchen,  du!  oder  ich  schlag'  dir  die  Knochen  im  Leib  zusammen.  Anzeigen  tu 
ich  dich,  du  •  .  .,  du!"  Wut  und  Zorn  erstickten  seine  Stimme.  Endlich  gelingt  es 
dem  Schmied,  die  beiden  voneinander  los  zu  bringen.  Am  ganzen  Leibe  zitternd, 
keuchend  und  stöhnend  vor  Schmerz,  erhebt  sich  der  Miller.  Unter  dem  begütigenden 
Zureden  seiner  Freunde  geht  der  Bäcker  mit  seiner  leeren  Karre  in  sein  am  Markte 
gelegenes  Haus.  Noch  oft,  ehe  er  hinter  der  Haustür  verschwindet,  blickt  er  sich  um 
und  hebt  drohend  die  Faust:  ,,Aber  zahlen  sollst  mir,  du!"  Hinkend  sucht  der  Milch- 
mann seine  umherliegenden  Kannen  zusammen  und  geht  dann  auf  die  Suche  nach 
seinen  Pferden,  von  ein  paar  Freunden  begleitet,  denen  er  immer  wieder  versichert: 
„Ich  zahl's  nicht,  ich  nicht."  Bald  liegt  der  Marktplatz  wieder  ruhig  wie  zuvor, 
nur  die  Sonne  ist  höher  gestiegen  und  lacht  und  lacht  über  die  kleinen  dummen 
Menschen  mit  ihren  Kleinlichkeiten,  und  freut  sich  über  das  nun  wieder  ruhige  Bild, 
das  sich  ihr  darbietet.  Doch  das  soll  nicht  mehr  lange  dauern.  Nach  einer  kurzen  Weile 
trifft  die  ganze  Katzengesellschaft  des  Städtchens  auf  dem  Markte  zusammen,  und 
es  wird  ein  Fest  abgehalten  mit  dem  schönsten  Konzert.  Ein  jeder  kann  so  viel 
Milch  trinken,  wie  er  mag;  's  ist  wie  im  Schlaraffenland.  —  So  geht's!  Wenn  zwei 
sich  streiten,  freut  sich  der  dritte! 

A.ufsatztext  VId. 

Wenn  du  mit  der  Eisenbahn  ganz,  ganz  weit  fort  fährst  von  hier,  so  kommst  du 
in  eine  kleine  Stadt,  An  dem  Markte  dieser  kleinen  Stadt  wohnt  der  dicke  Bäcker - 
m^eister  Müller.  Jeden  Morgen  geht  er  mit  seiner  Karre  fort,  in  der  er  seine  Ware 
hat.  Dann  geht  er  zu  seinen  Kunden  und  bringt  ihnen  zu  ihrem  Kaffee  die  schönsten 
knusprigen  Semmeln.  Das  ist  immer  eine  Freude,  wenn  der  Bäcker  Müller  kommt! 
Aber  du  mußt  nicht  denken,  daß  sich  die  Leute  nur  freuten,  weil  er  ihnen  so  etwas 
Feines  zu  essen  brachte,  nein,  über  ihn  selbst  freuten  sie  sich  auch.  Immer  hat  er 
eine  wunderhübsche,  weiße  Schürze  vor,  und  auf  dem  Kopfe  trägt  er  eine  große 
Mütze,  die  so  rund  ist  wie  ein  Teller.  Weil  er  aber  auch  selber  so  gerne  die  schönen 
frischen  Semmeln  ißt,  sind  seine  Backen  so  dick  geworden,  daß  man  seine  Augen  gar 
nicht  melir  sieht.  Die  meisten  Semmeln  brachte  er  immer  der  Krugwirtin,  und  darum 
ging  er  dort  auch  immer  sehr  gerne  hin,  denn  er  verdiente  dabei  ja  viel  Geld.  Er 
ging  n\in  auch  wieder  an  dem  Morgen  zu  ihr,  von  dem  ich  dir  erzählen  will,  denn 
da  passierte  ihm  eine  schlimme  Geschichte.  Wie  er  aus  dem  Wirtshause  heraus- 
kommt, hört  er  laute  Rufe:  „He,  Freund  Müller,  guten  Tag,  wie  geht's  ?"  Da  hat  er 
auch  schon  den  Rufer  bemerkt  und  erkannt.  Es  ist  sein  lieber  guter  Freund  Schmidt, 
den  er  nun  nach  langer  Zeit  einmal  wiedersieht.  Lustig  knallt  Milchmann  Schmidt 
mit  der  Peitsche,  um  die  Liese  und  den  Hans,  so  heißen  seine  beiden  Pferde,  zu 
schnellerem  Lauf  zu  ermutigen.  Lustig  klappern  die  Kannen  auf  seinem  Wagen,  die 
alle  blitzen,  so  blank  hat  Frau  Schmidt  sie  gescheuert.  Ein  „Prrr!",  vmd  die  Pferde 
stehen  vor  der  Karre  des  Bäckers  still.    Der  Milchmann  legt  Peitsche  und  Zügel  aus 


über  die  Anwendung  zweier  psychologischer  Methoden  usw.  127 

der  Hand  und  springt  herab  vom  Wagen  und  nun  schütteln  sie  sich  die  Hände  und 
erzählen  und  lachen  und  staunen  sich  dann  wieder  an:  „Ach  Müller,  du  bist  ja  wohl 
noch  'n  bischen  dicker  geworden.  Bald  muß  dir  der  Schneider  wohl  besonders  weite 
Schürzen  anfertigen!"  ,,Na  Schmidt",  sagt  da  der  Bäcker,  ,,und  du  bist  ja  wohl  noch 
dünner  geworden."  Ja,  so  lang  wie  der  Schmidt  war,  das  kannst  du  dir  gar  nicht 
vorstellen!  Wenn  er  dem  Bäcker  die  Hand  auf  die  Schulter  legen  wollte,  so  mußte 
er  sich  ganz  tief  herunter  beugen.  Sie  erkiuidigten  sich  nun  beide,  wo  sie  her  kämen 
und  wo  sie  hin  wollten,  was  das  Geschäft  mache,  wie's  im  Haiise  stände  und  anderes 
mehr.  Schließlich  meinte  der  Bäcker,  ein  Wiedersehen  düiften  sie  doch  nicht  so  trocken 
feiern.  Darum  fragte  er  den  Milchmann:  ,,Sag  mal,  Freund  Schmidt,  hast  du  schon 
jemals  den  Apfelwein  unseres  Städtchens  probiert  ?  Nicht  ? !  Na,  dann  komm 
nur  mit.  Wir  stehen  ja  doch  gerade  vor  dem  Wirtshaus.  Bei  einem  Glas  Wein  erzählt 
es  sich  noch  mal  so  gut."  Der  Milchmann  ging  gerne  mit  dem  Bäcker  hinein,  denn 
er  trank  auch  gerne  mal  ein  Gläschen.  Der  dicke  Bäcker  reckte  sich  ein  wenig.  Der 
lange  Milchmann  bückte  sich  ein  wenig,  und  dann  konnten  sie  Arm  in  Arm  ins  Wirts- 
haus gehen. 

Die  erste  ",,kurze,  kühle  Erzählung  der  Handlung"  übergeht  Bild  1 — 3, 
offenbar  in  dem  Bestreben,  nichts  als  die  eigentliche  Handlung  zu  bringen. 
Die  zweite,  als  ,, lebendige  Darstellung  der  Handlung  im  engen  Anschluß 
an  die  Bilder  1  bis  4"  geschriebene  Arbeit  zeigt  eine  deutliche  Umstellung 
in  bezug  auf  den  Rhythmus,  die  Sprachbehandlung  und  die  mit  guter 
Einfühlung  und  unverkennbarer  Teilnahme  ausgeführte  Vertiefung  in 
die  einzelnen  Momente  der  Handlung,  die  außerdem  eine  Reihe  phantasie- 
voller Ergänzungen  erfahren,  bald  konkreter,  bald  abstrakter  Art.  Ähnlich 
ist  die  dritte,  auf  die  Bilder  6  und  7  bezügliche  Arbeit,  die  eine  ,, lebendige 
Darstellung  der  Handlung  ohne  engen  Anschluß  an  die  Bilder"  sein  will; 
gegen  die  zweite  deuthch  gesteigert  durch  Einfügung  größerer  Phantasie- 
einheiten zu  Beginn  und  in  der  zweiten  Hälfte.  Die  vierte  Einstellung  ist 
eine  pädagogische,  ,,die  Geschichte  als  Erzählung  für  eine  Fünfjährige". 
Sie  ist  im  ganzen,  nicht  in  allen  Einzelheiten  geglückt.  Die  dem  Märchenstil 
abgesehene  Einführung  nach  Art  und  Ort  ist  ebenso  erfreulich  wie  die 
sprachliche  Form.  Die  meist  kürzeren,  immer  übersichtlichen  Sätze  der 
Erzählung  selbst,  die  niedriger  gehaltene  Zahl  schmückender  Beiworte, 
mehrere  mit  Geschick  gefundene  Ergänzungen,  die  eingefügten  Namen  für 
Leute  und  Pferde,  die  auf  das  kleine  Kind  bezugnehmenden,  erklärenden 
Einfügungen,  die  ihre  eigene  Anteilnahme  mehrfach  unmittelbar  bekun- 
dende Erzählerin :  alles  deutliche  Beweise  einer  dazu  willkürlich  bezeugten 
pädagogischen  Beanlagung.  Interessant  ist,  daß  die  fraglos  intelligente 
Versuchsperson  auch  nach  längerer  Beschäftigung  mit  dem  Bilderbogen 
von  den  beiden  wichtigen  Beobachtungseinzelheiten  in  keiner  der  vier 
Einstellungen  beide  nennt  und  das  Offenbleiben  der  Bäckerkarre  nur  ein- 
mal (in  VI  b).  

Die  psyehologisehen  Schüler  Untersuchungen  zur  Aufnahme 
in  die  Berliner  Begabtenschulen. 

Von  Walther  Moede  und  Gurt  Piorkowski. 

Vom  Berliner  Stadtschulrat,  Herrn  Dr.  Reimann,  erging  die  Anfrage 
an  uns,  ob  wir  in  der  Lage  wären,  auf  Grund  wissenschaftlicher  Prüfungs- 
methoden eine  Auslese  unter  den  von   den  einzelnen   Schulen  Berlins 


128  Walther  Moede  und  Curt  Piorkowski 

gemeldeten  Zöglingen  durchzuführen,  damit  für  deren  endgültige  Über- 
weisung auf  eine  höhere  Schule  eine  exakte  Grundlage  vorhanden  wäre. 
Ihm  waren  die  guten  Erfahrungen  nicht  unbekannt,  die  das  Militär  mit 
der  Einführung  der  von  uns  ausgearbeiteten  Prüfungsmethoden  für  Militär- 
kraftfahrer gemacht  hatte,  deren  einheitliche  Durchführung  bei  allen 
Kraftfahr-Ersatzabteilungen  in  mannigfachster  Weise  wesentliche  Vorteile 
mit  sich  brachte.  Wir  erklärten  uns  sofort  bereit,  und  unser  Untersuchungs- 
programm sowie  dessen  leitende  Grundsätze  erhielten  auch  die  volle 
Zustimmung  der  hohen  Schulbehörde. 

Das  Untersuchungsverfahren  war  durch  die  Art  des  vorliegenden 
Problemes  fest  vorgeschiieben.  Da  zunächst  die  volle  Verantwortung  des 
Psychologen  für  seine  Auslese  als  selbstverständlich  vorausgesetzt  wurde 
und  diese  Verantwortung  eine  recht  erhebliche  ist,  entscheidet  doch  der 
Befund  über  das  Lebensschicksal  der  Kinder,  so  konnte  nur  eine  ein- 
gehende, systematische  Untersuchung  der  geistigen  Fähigkeiten  der  Kinder 
nach  einheitlichen   Gesichtspunkten  in  Frage  kommen. 

Nur  die  systematische  Funktionsprüfung  nach  wissenschaftlichen  Prin- 
zipien konnte  als  einheitlicher  Maßstab  in  Betracht  kommen,  der  es 
gestattet,  unter  den  Kindern  eine  sachliche  Auslese  zu  treffen,  derart, 
daß  wirklich  nur  die  bestbeanlagten  Schüler  und  Schülerinnen  einer 
gehobenen  Ausbildung  überwiesen  werden  können.  Da  die  Kinder  von  den 
mannigfachsten  Schulen  kamen,  so  konnte  man  eine  Begabungsschätzung 
eines  oder  mehrerer  Lehrer  nicht  zugrunde  legen,  ganz  abgesehen  von  den 
imaginären  Grundsätzen  solcher  Rangierung.  Auch  eine  Statistik  der 
Schulleistungen  war  nicht  zu  verwerten,  da  die  Zensuren  so  ziemlich  alle 
gleich  gut  waren.  Eine  Probelektion  endlich  durch  eine  bewährte  Lehr- 
kraft würde  ebenfalls  vorwiegend  auf  die  Leistungen  und  Kenntnisse  Acht 
haben  und  konnte  unmöglich  eine  hinreichend  scharf  abgestufte  Rang- 
reihe der  Kinder  exakt  ableiten  lassen,  für  die  auch  der  bewährteste  Prak- 
tiker kaum  eine  Verantwortung  zu  übernehmen  geneigt  sein  dürfte.  Bliebe 
nur  noch  als  farbloses  und  ganz  neutrales  Verfahren  die  Auswahl  nach 
dem  Los  oder  Alphabet.  Solche  Zufallsauslese  aber  wäre  denn  doch  zu  hart, 
wo  gute  andere  Wege  gangbar  sind. 

Lediglich  die  wissenschaftliche  Auslese  kann  sachlich  einwandfrei  genannt 
werden,  sofern  sie  analytisch  systematisch  und  exakt  vorgeht.  Dann 
lautet  das  Problem  sehr  einfach:  Es  sind  eingehende  Untersuchungen 
vorzunehmen,  die  das  Bewußtsein  und  seine  Funktionen  gründlich  prüfen 
und  die  es  erlauben,  die  systematisch  und  einheitlich  abgeleiteten  Unter- 
suchungsbefunde zu  einer  Rangordnung  zu  verarbeiten.  Wir  mußten  also 
Aufmerksamkeit,  Gedächtnis,  Urteilsfähigkeit  und  andere  Funktionen 
systematisch  nach  experimentellen,  Maß  und  Zahl  verwendenden  Methoden 
untersuchen  und  nun  auf  Grund  der  Leistungsmaßzahlen  eine  mittlere 
Rangordnung  berechnen,  die  dann  besagt:  In  allen  untersuchten  Leistungen 
schnitt  im  Mittel  Schüler  A  am  besten,  B  am  zweitbesten  usw.  und  schließ- 
lich N  am  schlechtesten  ab.  Sind  nun  eine  begrenzte  Anzahl  von  Plätzen 
verfügbar,  so  ist  es  nicht  schwer,  sie  an  diejenigen  Prüflinge  zu  verteilen, 
die  laut  Untersuchung  die  besten  geistigen  Fähigkeiten  aufweisen. 


Psychol.  Schüleruntersuchungen  z.  Aufnahme  in  die  Berliner  Begabtenschulen   129 

Wir  haben  also  die  einzelnen  Funktionen  möglichst  rein  für  sich  zu 
prüfen,  auf  Grund  der  Prüfung  Rangreihen  aufzustellen  und  nun  aus 
allen  Rangordnungen  mittlere  Rangplätze  für  alle  Schüler  zu  berechnen, 
wie  dies  nach  dem  anerkannten  Prinzip  der  Auswertung  nach  dem  arith- 
metischen Mittel  allgemein  üblich  ist. 

Die  analytische  Auswertung  der  Anlage  hat  in  großzügiger  Weise 
zuerst  Alfred  Binet  beschritten,  wie  leider  viele  seiner  Nachahmer  und 
Nachfahren  ganz  vergessen  zu  haben  scheinen.  Wir  gehen  bewußt  über 
seine  willkürliche  Vierheit  der  intellektuellen  Funktionen,  der  compröhen- 
sion,  invention,  direction,  censure,  die  nach  ihm  das  Wesen  der  Intelligenz 
ausmachen  sollen,  durchaus  hinaus  und  streben  eine  möglichst  umfassende 
Untersuchung  des  Bewußtseins  an.  Wir  stützen  uns  dabei  nicht  auf  eine 
willkürliche  Theorie  der  Intelligenz  oder  Ansicht  von  dem  Wesen  der  Be- 
gabung überhaupt,  geschweige  denn  eine  Meinung  von  dem  Wesen  der 
Höchstbegabung,  —  und  wir  können  dies  mit  gutem  Grunde,  da  wir  nicht 
das  Problem  der  Höchstbegabung  lösen  wollen  —,  sondern  legen  den  Schwer- 
punkt auf  intellektuelle  Hauptleistungen  des  Bewußtseins  und  ihre  exakte 
Auswertung. 

Zur  Ergänzung  der  experimentellen  Untersuchung  der  intellektuellen 
Fähigkeiten,  die  einzeln  und  der  Reihe  nach  angeführt  werden,  so  daß 
ein  Irrtum  nicht  unterlaufen  kann,  wird  die  Beurteilung  der  moralischen 
Qualitäten  der  Schüler  durch  den  Lehrer  mit  herbeizuziehen  sein.  Außer- 
dem konnten  wir  durch  systematische  Beobachtung  der  Kinder  in  dem 
von  Herrn  Direktor  Dr.  Hildebrand  geleiteten  Schülerheim  in  Wandt- 
litzsee  bei  Berlin  selbst  ein  Urteil  über  das  Gesamtverhalten  des  Schülers 
bilden,  das  in  aller  Muße  gewonnen  wurde. 

Unser  Untersuchungsprogramm  umfaßt  im  wesentlichen  folgende  Seiten: 

üntersnchungsschema  analytischer  und  synthetischer,  einfacher  und 
zusammengesetzter  Hauptfunktionen  des  Bewußtseins. 

I.  Aufmerksamkeit     und     Konzentrationsfähigkeit     bei 
unmittelbarem  und  reproduktivem  Material. 
Dauerspannung. 

Ablenkbarkeit  und  Mehrfachhandlung. 
Ermüdbarkeit. 

II.  Gedächtnis. 

Ä.  Zuführung  neuen  Gedächtnismaterials. 

a)  Gedächtnis  für  sinnlose   Stoffe  bei  verseil iedener  Art  der 
Darbietung  und  verschiedenen  Abnahmezeiten. 

b)  Gedächtnis  für  sinnvolles   Material    bei  gleichen   Gesichts- 
punkten. 

B.  Bestand  der  vorhandenen  Dispositionen,  seine  Bereitschaft  und 
Abwicklung. 

III.  Kombination. 

A.  Anschauliche  Kombination. 

Zeitschrift  f.  pädugog.  Psychologie.  9 


130  Walther  Moede  und  Gurt  Piorkowski 


B.  Intellektuelle  Komtination. 

a)  gebundene  K.:  Ergänzen  von  Textlücken. 

b)  freie  K. :   Finden   aller   möglichen   sinnvollen    Beziehungen 
zwischen  drei  gegebenen  Begriffen. 

IV.  Begriffsbereich. 

A.  Bestand  an  vorhandenen  Begriffen  und  seine  Flüssigkeit. 

B.  Stiftung  neuer  begrifflicher  Beziehungen. 

a)  Heraussuchen  "des  Wesentlichen  unter  gegebenen  Elementen. 

b)  Finden  des  Gemeinsamen  zwischen  mehreren  Gegebenheiten. 

c)  Erfassen  funktionaler  Beziehungen  zwischen  mehreren  Merk- 
malsreihen. 

V.  Urteilsfähigkeit. 

A.  Allgemeine  Beurteilungen  auf  Grund 

a)  sachlicher  Wertung  der  Umstände, 

b)  seelischer  Einfühlung, 

c)  sachlich -psychologischer  Wertung  des  Tatbestandes. 

B.  Beurteilung  von  Sonderfällen. 

a)  Erfassen  des  Wahrscheinlichsten  bei  gegebenen  Umständen. 

b)  Auffinden  des  Zweckmäßigsten  in  einer  gegebenen  Situation. 

VI.  Anschauung  und  Beobachtungsfähigkeit. 

A.  Anschauungsfähigkeit  im  Wirklichkeits versuch  und  bei  sprach- 
licher Darbietung. 

B.  Beobachtungsschärfe  und   Ergiebigkeit   bei   kategorischer  Ein- 
.                 Stellung. 

a)  Aussagen  über  Dinge  und  Merkmale  im  Bildversuch. 

b)  Erfassen  von  Relationen  in  der  Wahrnehmung  bei  Analysen 
und  Synthesen. 

Die  Durchführung  des  Programms  erforderte  erhebliche  Zeit,  verhieß 
aber  sehr  bald,  zu  einem  befriedigenden  Ziele  zu  führen.  Die  Sitzungen 
wurden  an  Je  drei  Nachmittagen  von  4  bis  7%,  durchgefülirt,  wobei  nui' 
kleine  Pausen  eingestreut  wurden.  Den  Vorsitz  bei  den  Prüfungen  führten 
Herr  Stadtschulrat  Dr.  Reimann  und  Gymnasialdirektor  Gihlow  vom  KöU- 
nischen  Gymnasium,  in  dessen  Räumen  auch  die  Untersuchung  stattfand. 
Es  hatten  sich  erfreulicherweise,  aber  auch  leider,  eine  recht  ansehnliche 
Anzahl  von  Zuschauern  bei  der  ersten  Sitzung  eingestellt,  die  aber,  wie  be- 
sondere Kontrollversuche  ergaben,  die  Abnahme  wenig  beeinträchtigt  haben. 
Die  Auswertung  der  einzelnen  Leistungen  zum  Zwecke  der  Ableitung 
von  Rangordnungen  mußte  hinreichend  scharf  sein,  um  die  teilweise 
recht  einschneidende  Auslese  objektiv  durchführen  zu  können;  galt  es 
doch  z.  B.  von  den  gemeldeten  180  Mädchen  nur  60  für  die  vorhandenen 
Plätze  auszuwählen. 

Die  Bewertung  selbst  war  quantitativ  und  qualitativ.  Ihre  Gesichts- 
punkte wurden  unmittelbar  aus  dem  erhaltenen  Material  heraus  gewonnen. 
Die  einzelnen  auf  Grund  der  quantitativen  Bestimmung  erhaltenen  Rang- 


Psychol.  Schüleruntersuchungen  z.  Aufnahme  in  die  Berliner  Begabtenschulen   131 

reihen  in  den  einzelnen  Leistungen  wurden  zu  einer  mittleren  Rang- 
ordnung verarbeitet  und  danach  die  Scheidung  durchgeführt.  Eine  Gewichts- 
skala für  die  einzelnen  Funktionen  wurde  nicht  eingeführt,  etwa  um 
die  Ergebnisse  einer  schon  vorher  gebildeten  Intelligenztheorie  anzupassen, 
sondern  an  dem  Grundgedanken  der  gesamten  Untersuchung  festgehalten, 
mittlere  Leistungsmaßzahlen  auf  den  angeführten  Seiten  des  Bewußt- 
seins zu  erhalten,  die  der  endgültigen  Rangreihe  zugrunde  gelegt  wurden. 
Nur  so  kann  bei  dem  heutigen  Stande  des  experimentellen  Wissens  eine 
gerechte  und  objektive  Untersuchung  durchgeführt  werden. 

Die  Eichung  der  Untersuchungsmethoden  erübrigte  sich  daher  von 
selbst.  Nur  insofern  waren  Vorversuche  nötig,  als  man  sich  darüber  ver- 
gewissern mußte,  daß  hinreichend  abgestufte  Lösungen  erhalten  werden 
konnten,  daß  also  mit  anderen  Worten  die  geforderten  Leistungen  nicht 
zu  leicht  und  nicht  zu  schwer  waren.  Diese  Hauptprobe  haben  unsere 
Methoden,  auch  die  sogenannten  stummen  Prüf ungs verfahren,  trefflich 
bestanden.  Den  beliebten  Zirkel  einer  transzendenten,  nicht  immanenten 
Eichung  der  Methoden  ebenfalls  zu  begehen,  lag  für  uns  gar  kein  Anlaß 
vor.  Mit  welchem  Rechtsgrunde  sollten  wir  erst  eine  imaginäre  Rangierung 
der  Begabung  durch  Schätzung  einführen,  da  der  Erfahrung  nach  angeb- 
bare und  aufzählbare,  einheitliche  und  vergleichbare  Maßstäbe  für  die 
Schätzung  des  Praktikers  nicht  gegeben  sind,  wo  unser  Problem  dies  gar 
nicht  erforderte,  und  warum  sollten  wir  erst  auf  eine  unsichere  Reihe 
hin  Methodenauswahl  und  Gewichtsskala  der  Auswertung  zum  Zwecke 
einer  erstrebten  Übereinstimmung  vornehmen?  Da  die  geprüften  Leistun- 
gen des  Bewußtseins  angegeben  sind  und  diese  Seiten  für  die  Beurteilung 
der  intellektuellen  Fähigkeiten  allein  in  Betracht  gezogen  wurden,  kann 
ein  Irrtum  in   der  Rechnung  nicht  enthalten  sein. 

Der  analytische  Grundgedanke  bei  gleicher  Wertigkeit  der  untersuchten 
Funktionen  wurde  somit  rein  durchgeführt. 

Eine  Nachkontrolle  des  Untersuchungssystems  durch  Rektor  Schmidt  von 
der  55.  Gemeindeschule  ergab  den  Korrelationskoeffizienten  q  =  -\-  0,91 
zwischen  Lehrerschätzung  der  Oberklasse  und  experimentellem  Befunde 
nach  unserem  System.  Der  wahrscheinliche  Fehler  betrug  w  F^  =  +  0,021 
und  kann  vernachlässigt  werden. 

Die  Untersuchung  wurde  in  Gruppenprüfung  durchgeführt.  Diese  ist 
zwar  nicht  das  Ideal  einer  Untersuchung  überhaupt,  war  aber  durch  die 
gegebenen  Umstände  durchaus  gefordert.  Gewiß  wird,  wie  uns  eingehende 
Erfahrungen  und  experimentelle  Studien  über  Gruppenpsychologie  gelehrt 
haben,  durch  die  Gruppe  auch  bei  den  an  Klassenarbeit  gewöhnten  Schülern 
neben  Anregung  auch  Hemmung  der  intellektuellen  Betätigung  bewirkt, 
aber  diese  Umstände  mußten  hingenommen  werden  und  werden  hingenom- 
men werden  müssen,  solange  es  keine  hauptamtlichen  Schulpsychologen 
gibt,  die  hinreichend  Zeit  haben,  die  gründlichen  Untersuchungen  und 
Berechnungen,  ganz  abgesehen  von  der  Aufstellung  neuer  Methoden,  haupt- 
amtlich durchzuführen.  Irgendeine  Aufteilung  des  Programmes  an  eine 
größere  Anzahl  von  psychologisch  interessierten  Versuchsleitern,  die  zu 
diesem  Zwecke  besonders  zu  instruieren  wären,  schien  uns  vor  der  Hand 


132  W.  Moede  u.  C.  Piorkowski.  Psychol.  Schüleruntersuchungen  usw. 

keinesfalls  ratsam,  da  dann  die  Vergleichbarkeit  der  Befunde  sowie  die 
Frage  der  Verantwortung  für  das  Ergebnis  erheblichen  Schwierigkeiten 
begegnet.  Schon  die  Berechnung  an  eine  Kommission  aufzuteilen,  schien 
uns  nicht  ratsam. 

Zum  andern  aber  bot  die  Gruppenuntersuchung  auch  erhebliche  sacli- 
liche  Vorteile.  Wir  konnten  bei  einiger  Vorsicht  erreichen,  daß  die  einzelnen 
Schüler  nicht  miteinander  in  Verbindung  traten  und  die  Lösungen  der  Auf- 
gaben kannten,  noch  ehe  sie  gestellt  waren.  Dies  aber  wäre  bei  Einzel- 
untersuchung bei  den  gegenwärtig  gegebenen  Umständen  nicht  zu  ver- 
meiden gewesen.  Preihch  kann  der  Schulpsychologe,  der  jahrelange  Er- 
fahrung hinter  sich  hat,  auch  dann  noch  Rat  schaffen,  falls  der  Sachverhalt 
es  erfordert  und  er  zu  einem  reinlichen  Ziele  kommen  will. 

Unsere  Ergebnisse  lehren,  daß  der  von  uns  eingeschlagene  Weg  durchaus 
fruchtbar  ist.  Im  allgemeinen  fanden  wir  treffliche  intellektuelle  Leistun- 
gen, konnten  aber  trotzdem  den  beträchtlichen  Abstand  feststellen,  der 
den  entwickelten  normalen  vom  jugendlichen,  gut  beanlagten  Intellekt 
trennt.  Überschauen  wir  den  eingehenden  Befund  der  analytischen  und 
systematischen  Untersuchung,  so  kann  es  dem  Fachpsychologen  nicht 
schwer  fallen,  die  Verantwortung  für  sein  Urteil  zu  übernehmen,  das  auf 
guter  wissenschaftlicher  Grundlage  abgeleitet  wird^). 


^)  Inzwischen  ist  eine  ausführliche  Darstellung  in  Buchform  erschienen:  Moede- 
Piorkowski-Wolff :  Die  Berliner  Begabtenschulen,  ihre  Organisation  und  die  experi- 
mentellen Methoden  der  Schülerauswahl.    Herrn.  Beyern.  Söhne.    Langensalza  1918. 

Literatur. 

Binet:  Les  idöes  modernes  sur  les  enfants.     Paris   1913, 
Meumann:  Abriß   der   experimentellen   Pädagogik.      Leipzig    1913. 
Moede:  Untersuchung  und  Übung  der   Gehirngeschädigten  nach  experimentellen 
Methoden.     Langensalza   1917,  Beyer  \xnd  Söhne. 

—  Die  Massen-  vmd  Sozialpsychologie  im  kritischen  Überblick.    Zeitschrift  für  päda- 
gogische Psychologie. 

—  Der  Wetteifer,  seine  Struktiur  und  sein  Avismaß.     Zeitschrift  für  pädagogische 
Psychologie. 

Piorkowski:    Beiträge    zur     Methodologie     der    wirtschaftlichen    Berufseignung. 
Leipzig  191Ö,  Barth. 

—  Untersuchungen   über   die  Kombinationsfähigkeit   bei  Schulkindern.     Leipzig, 
Pädagogisch-psychologische  Arbeiten  des  Lehrervereins,  Bd.  4. 

Stern:  Die  Intelligenzprüfung.      2.   Aviflage.      Leipzig   1916,   Barth. 


Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg. 

Von  William  Stern. 

I.  Grundsätze  der  Auslese.     II.  Der  Beobachtungsbogen.    UI.  Liste  der  Tests. 

I.  Grundsätze  der  Auslese. 

Der  Hamburgische  Staat  hat  soeben  eine  Ausgestaltung  seines  Schul- 
wesens beschlossen,  die  auf  die  pädagogische  Reformbewegurig  in  Gesamt- 
deutschland eine  starke  Rückwirkung  ausüben  dürfte:  Die  Einführung 


William  Stern,  Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg  133 

von  Volksschulen  mit  neun  Schuljahren.  Diese  sind  für  Kinder 
bestimmt,  die  eine  über  die  Ziele  der  achtstufigen  Volksschule  hinaus- 
führende Bildung  erwerben  sollen  und  für  ihren  späteren  Beruf  die 
Kenntnis  fremder  Verkehrssprachen  nötig  haben.  Sie  sollen  zwar 
keineswegs  alle  begabten  Kinder  den  achtstufigen  Schulen  entziehen, 
doch  muß  ein  Kind,  um  in  den  neunstufigen  Zug  übergehen  zu  können, 
sich  bis  dahin  in  der  Schule  bewährt  haben  und  in  sprachlich-logischer 
Hinsicht  gut  befähigt  sein. 

Ostern  1918  sollen  bereits  die  Anfänge  dieser  Reform  ins  Leben  treten. 
Sowohl  diese  pädagogischen  Maßnahmen  selbst  wie  das  zu  ihrer  Ver- 
wirklichung eingeleitete  Verfahren  der  Auslese,  mit  dem  wir  soeben  be- 
schäftigt sind,  unterscheiden  sich  in  wesentlichen  Punkten  von  der 
Berliner  Veranstaltung. 

In  Hamburg  verbleibt  die  ganze  Förderung  der  Begabten  zunächst 
noch  ganz  innerhalb  des  Rahmens  der  Volksschule,  gewinnt  aber  hier 
ein  weit  größeres  Ausmaß  als  irgend  wo  anders.  Nach  dem  vierten  Schul- 
jahr wird  die  Volksschule  gegabelt  in  einen  deutschen  Zug  (D-Zug),  der 
weitere  vier  Jahre  umfaßt,  und  einen  für  die  oben  bezeichneten  Schüler 
bestimmten  Zug,  der  zwei  Fremdsprachen  treibt,  fünf  Jahre  umfaßt  und 
in  seinen  Lehrzielen  ungefähr  der  preußischen  Mittelschule  entsprechen 
soll  (Fremdsprach-Zug  oder  F-Zug).  Für  das  hier  hinzukommende  neunte 
Schuljahr  sind  im  Bedürfnisfalle  Unterrichtsbeihilfen  vorgesehen.  Die 
Möglichkeit  eines  Überganges  von  dem  F-Zug  zur  Realschule,  eventuell 
auch  zur  Oberrealschule  und  zum  Studium,  ist  durch  Übergangsklassen 
gegeben.  Durch  diese  Maßnahme  ist  die  Gefahr  einer  durchgängigen 
Akademisierung  der  Begabten  vermieden i);  denn  die  weitaus  meisten 
von  ihnen  werden  nach  Absolvierung  des  F-Zuges  in  den  Beruf  ein- 
treten; für  diesen  sind  sie  gründlicher  vorgebildet  als  die  Schüler  des 
Normalzuges. 

Es  sollen  nun  zu  Ostern  dieses  Jahres  22  Anfangsklassen  des  F-Zuges 
geschaffen  werden,  vierzehn  Knaben-  und  acht  Mädchenklassen.  Da 
die  Klasse  45  Schüler  enthalten  soll,  gilt  es,  aus  den  Kindern  des 
vierten  Schuljahres,  also  den  zehnjährigen  —  es  gibt  deren  in  Ham- 
burg ungefähr  20000  —  990  gut  befähigte  auszulesen.  Erfreulicher- 
weise war  der  Leiter  des  Hamburgischen  Volksschulwesens  Schulrat 
Umlauf  (bekannt  als  Vorsitzender  des  Deutschen  Bundes  für  Erziehung 
und  Unterricht)  sofort  davon  überzeugt,  daß  eine  so  umfassende  päda- 
gogische Aufgabe  der  Mitwirkung  der  Psychologie  bedürfe;  und  gern 
hat  das  Psychologische  Seminar  in  Hamburg  die  Aufgabe  übernommen, 
die  Grundsätze  dieser  Mitwirkung  auszuarbeiten  und  ihre  Anwendung  vor- 
zubereiten. Schneller  als  ich  es  zu  hoffen  wagte,  konnte  so  eine  wich- 
tige Forderung  meiner  vor  I1/2  Jahren  erschienenen  Programmschrift 2) 
verwirklicht  werden.  Dabei  ergibt  sich  von  selbst  eine  organisatorische 
Verbindung  zwischen  der  Schule  und  dem  psychologischen  Institut, 
sodaß  sich  auch  hier  die  Kulturnotwendigkeiten  des  Tages  als  stärker 


1)  Vgl.  hierzu  meine  Programmschrift:  Jugendkunde  als  Kulturlorderung.     Zeitschrift  f.  päd. 
Psychol.     XVIl.    S.  289.     Sonderausgabe  S.  39/40. 

2)  A.  a.  0.  S.  293.     Sonderausgabe  S.  48.  ff. 


134  William  Stern 


erweisen  denn  alle  theoretischen  Prinzipienstreitereien.i)  Während 
in  Berlin  vorläufig  noch  Psychologen,  die  außerhalb  des  Schul- 
dienstes stehen,  von  Fall  zu  Fall  für  die  Begabtenauslese  zugezogen 
werden  —  ein  Verfahren,  das  nur  als  Provisorium  haltbar  ist  —  wurde 
in  Hamburg  ein  psychologisch  gründlich  geschulter  Volksschullehrer,  Herr 
R.  Peter,  der  ein  langjähriger  Mitarbeiter  des  Psychologischen  Seminars 
ist,  von  der  Schulbehörde  an  das  Seminar  bis  auf  weiteres  beurlaubt, 
um  seine  Zeit  und  Kraft  ganz  in  den  Dienst  der  neuen  schulpsycholo- 
gischen Aufgaben,  insbesondere  der  Begabtenauslese,  zu  stellen.  Natürlich 
wirken  auch  noch  andere  Lehrer  und  Lehrerinnen,  welche  Mitglieder 
des  psychologischen  Seminars  sind,  an  der  umfassenden  und  so  schnell 
zu  erledigenden  Arbeit  mit.  Die  ganze  Organisation  des  Auslese-  und 
Aufnahmeverfahrens  liegt  in  der  Hand  eines  Ausschusses,  dem  der  Schul- 
rat, Schulinspektoren,  einige  Rektoren,  Lehrer  und  Lehrerinnen  sowie 
Psychologen  angehören. 

Die  psychologische  Mitarbeit  an  der  Begabtenauslese  hatte  ich  schon 
früher  folgendermaßen  abzustecken  versucht:  „Sie  hat  die  psychogra- 
phische  Beobachtung  des  einzelnen  Zöglings  zu  regeln  durch  Beob- 
achtungsanweisungen ;  sie  muß  eine  von  der  Beobachtung  unabhängige 
exakte  Fähigkeitsprüfung  durch  experimentelle  Hilfsmittel  („Tests") 
schaffen". 2)  Diesem  Plane  gemäß  wird  in  Hamburg  (ebenso  auch  in 
Breslau)  verfahren,  während  man  in  Berlin  allein  die  Testprüfung  aus- 
schlaggebend sein  ließ. 

Ich  sehe  in  dieser  Beschränkung  auf  die  Experimentaluntersuchung 
den  Hauptmangel  des  Berliner  Ausleseverfahrens  (das  im  übrigen  — 
namentlich  mit  Rücksicht  darauf,  daß  es  den  ersten  Schritt  auf  ganz 
neuen  Wegen  darstellt  —  viel  Gutes  enthält  und  allen  Nachfolgern  wert- 
volle Anregungen  gibt).3)  Die  Schwere  der  Verantwortung  bei  der  Begabten- 
auslese ist  eine  außerordentlich  große,  sowohl  den  Individuen  gegen- 
über, deren  ganzes  Lebensschicksal  durch  die  Zuweisung  zu  einer 
Begabtenklasse  eine  neue,  in  ihren  Folgen  nicht  zu  übersehende  Wendung 
erhält,  wie  der  Gesamtheit  gegenüber,  deren  zukünftige  Wohlfahrt  davon 
abhängt,  daß  die  wirklich  Tüchtigen  zu  einer  möglichsten  Entfaltung 
ihrer  Anlagen  gelangen.  Diese  Schwere  der  Verantwortung  hat  gewiß 
zur  Folge,  daß  man  dem  Lehrer  allein  nicht  die  endgültige  Bestimmung 
anheim  stellen  kann,  welcher  Schüler  seiner  Klasse  in  die  Begabten- 
klasse gehöre;  aber  ebensowenig  sollte  der  Psychologe  allein  seiner 
Prüfungsmethode,  mag  sie  noch  so  exakt  sein,  die  schwere  Entscheidung 
aufbürden.  Prüfungen  sind  niemals  ganz  frei  zu  machen  von  den 
Imponderabilien  des  Augenblicks,  von  Indisposition,  Examensangst  und 
Ähnlichem;  und  wie  deshalb  auch  anderwärts,  z.  B.  beim  Abiturium, 
neben  dem  bloßen  Prüfungsausfall  die  sonst  bekannte  Leistungsfähig- 
keit des  Prüflings  mit  in  Betracht  gezogen  werden  soll,  so  auch  hier. 

Eine  weitere  Schwäche  des  nur- experimentellen  Verfahrens  scheint 
mir  der  Berliner  Bericht  zu  verraten:  es  ist  zu  einseitig  rechnerisch- 

1)  A.  a.  0.  S.  303.     Sonderausgabe  S.  69. 

2)  A.  a.  0.  S.  294.     Sonderausgabe  S.  50. 

3)  In  Zukunft  sollen  nun  auch  in  Berlin  außer  den  Testpriifimgen  Beobachtungsbogen  ver- 
wandt werden.     Vgl.  die  Mitteilung  von  Rebhuhn  am  Schluß  des  Heftes. 


Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg  135 

mechanisch.  Jeder  Schüler  erhielt  dort  für  jeden  von  ihm  erledigten 
Test  eine  Wertziffer;  aus  der  Gesamtheit  dieser  Wertziffern  wurde  ein 
Total  wert  für  den  Schüler  errechnet,  und  nach  diesen  Totalwerten  wurden 
sie  in  eine  Rangordnung  gebracht.  Die  60  ersten  dieser  Rangordnung 
wurden  dem  Gymnasium  überwiesen,  die  übrigen  waren  von  der  Begabten- 
förderung ausgeschlossen.  Der  Zifferunterschied  zwischen  dem  60.  und 
61.  der  Reihe  mag  vielleicht  ein  ganz  unbedeutender  sein,  aber  das 
starre  Prinzip  der  Rechnung  verlangte,  daß  ihre  Lebenswege  eine  ganz 
verschiedene  Richtung  erhielten.  Man  wird  also  wohl  verlangen  müssen, 
daß  zum  mindesten  an  der  unteren  Grenze  der  Auszuwählenden  ein 
breiteres  Gebiet  der  zweifelhaften  Fälle  anerkannt  werde  und 
daß  bei  diesen  zweifelhaften  die  Entscheidung  erst  unter  Hinzuziehung 
aller  zugänglichen  Hilfsmittel,  vor  allem  der  Lehrerbeobachtung 
gefällt  wird.  Es  ist  die  wahrere  Exaktheit,  wenn  man  sich  hier  nicht 
allein  auf  den  mathematischen  Ziffernwert  verläßt,  sondern  individua- 
lisiert und  qualitative  Analyse  treibt. 

Ein  weiterer  Gesichtspunkt  kommt  hinzu.  Die  Lehrerschaft  hat  das 
Recht,  zu  verlangen,  daß  ihre  langjährige  und  vielseitige  Kenntnis  der 
Kinder  mit  verwertet  werde.  Dies  geschieht  ja  freilich  schon  in  hohem 
Maße  dadurch,  daß  sie  die  Vorauslese  zu  treffen  hat;  sie  muß  die  Kinder 
präsentieren,  unter  denen  dann  die  endgültige  Auswahl  zu  treffen  ist; 
Kinder,  die  sie  nicht  vorschlägt,  kommen  erst  gar  nicht  in  die  engere  Wahl. 
Aber  bei  dem  Argwohn,  mit  dem  die  Praktiker  unsere  Tätigkeit  als  Ein- 
griff in  ihre  Gerechtsame  zu  betrachten  geneigt  sind,  muß  auch  der  Schein 
vermieden  werden,  als  ob  der  Psychologe  sich  an  die  Stelle  des  Päda- 
gogen setzen  wolle.  Und  deshalb  soll  auch  bei  jener  engeren  Wahl 
neben  dem  Testausfall  die  Fülle  der  Beobachtungen  mitsprechen,  die 
der  Lehrer  früher  über  den  Schüler  hat  sammeln  können. 

Unter  Berücksichtigung  dieser  methodischen  Gesichtspunkte  und  zu- 
gleich der  praktischen  Schwierigkeiten,  die  durch  die  große  Zahl  der 
Auszulesenden  (fast  1000)  bedingt  sind,  sind  wir  zu  dem  folgenden 
Ausleseverfahren  gekommen,  das  in  eine  Vorauslese  durch  die 
Lehrerschaft  und  eine  Nach  aus  lese  durch  eine  Aufnahmekommission 
zerfällt. 

Die  Auslese  hat  aus  den  Kindern  der  vierten  Volksschulklasse  (viertes 
Schuljahr)  zu  geschehen.  Um  die  neu  zu  schaffenden  Klassen  des  F- 
Zuges  genau  zu  füllen,  würden  aus  jeder  vierten  Knabenklasse  vier, 
aus  jeder  Mädchenklasse  zwei  auszuwählen  sein.  Da  aber  die  Begabungen 
auf  die  Schulen  nicht  gleichmäßig  verteilt  sind,  und  damit  zugleich  für 
die  endgültige  Auslese  ein  Spielraum  gegeben  ist,  wurden  die  Lehrer 
aufgefordert,  aus  einer  Knabenklasse  „bis  zu  sechs",  aus  einer  Mädchen- 
klasse „bis  zu  drei  Kindern"  vorzuschlagen  („Vorauslese").  Die  Schüler, 
welche  in  erster  Linie  empfohlen  werden,  sind  durch  Unterstreichung 
zu  kennzeichnen.  Natürlich  muß  die  Zustimmung  der  Eltern  zu  dem 
Übergang  in  den  F-Zug  mit  seiner  um  ein  Jahr  verlängerten  Schulzeit 
eingeholt  werden. 

Zum  Vorschlag  kamen  ungefähr  1400  Schüler  und  Schülerinnen,  aus 
denen  die  Nachauslese  die  schwächsten  30  0/0  auszuscheiden  hat.    Die 


136  William  Stern 


Lehrer  erhielten  für  jedes  der  von  ihnen  vorzuschlagenden  Kinder 
einen  psychologischen  Beobachtungsbogen.  Der  Bogen  ist 
in  unserem  Seminar  unter  meiner  Leitung  und  mit  Berücksichtigung 
früherer  Versuche  ähnlicher  Art  ausgearbeitet  worden;  den  Haupt- 
anteil an  der  Arbeit  hat  die  Lehrerin  Fräulein  Martha  Muchow. 
Er  enthält,  neben  einigen  Fragen  nach  häuslichen  Verhältnissen  und 
Schulleistungen,  Fragen  nach  psychischen  Eigenschaften  des  Kindes, 
und  zwar  nur  nach  solchen,  die  für  einen  etwaigen  Eintritt  in  eine  Schule 
mit  erhöhten  Anforderungen  von  Bedeutung  sind.  Die  psychologischen 
Fragen  beziehen  sich  auf  folgende  Hauptgebiete:  Anpassungsfähigkeit, 
Aufmerksamkeit,  Ermüdbarkeit,  Wahrnehmungs  -  und  Beobachtungs- 
fähigkeit, Gedächtnis,  Phantasie,  Denken,  Sprache,  Arbeitsart,  Gemüts- 
und Willensleben,  besondere  Interessen  und  Talente.  Der  Lehrer  soll 
nicht  etwa  den  ganzen  Bogen  ausfüllen,  sondern  nur  diejenigen  Punkte 
beantworten,  über  welche  ihm  eindeutige  und  sichere  Beobachtungen 
vorliegen.  Zur  Erleichterung  seiner  Arbeit  sind  die  möglichen  Antworten, 
sowie  die  Hauptgelegenheiten  zur  Beobachtung  der  betreffenden  Eigen- 
schaften hinzugefügt. 

Vor  Ausgabe  der  Bogen  wurden  die  beteiligten  Lehrer  und  Rektoren 
zu  einer  Versammlung  einberufen,  in  der  sie  genau  über  die  Gesichts- 
punkte der  Auslese,  sowie  über  den  Zweck  und  die  Benutzung  des 
Bogens  orientiert  wurden.  Für  di^  Ausfüllung  der  Bogen  stand  diesmal 
leider  nur  die  knappe  Zeit  von  vier  Wochen  zur  Verfügung.  (In  späteren 
Jahren  ist  eine  bedeutend  längere  Beobachtungszeit  vorgesehen). 

Nun  folgte  die  Testprüfung,  die  bei  der  großen  Zahl  von  Prüflingen 
besondere  technische  Schwierigkeiten  bot.  Zu  meinem  Bedauern  mußte 
auf  Einzelprüfungen  gänzlich  verzichtet  werden;  damit  fiel  auch  die 
Möglichkeit  für  die  Benutzung  der  sogen,  stummen  Tests  fort.  (In 
einer  gewissen  Modifikation  ist  einer  von  diesen,  die  Ordnung  von 
Begriffsreihen,  auch  im  Gruppenversuch  zu  benutzen).  Immerhin  ließ 
sich  mit  Hilfe  der  im  Anfangsaufsatz  dieses  Heftes  beschriebenen  Testö 
eine  Prüfungsordnung  zusammenstellen,  die  mannigfach  genug  ist,  um 
von  der  Fähigkeit  der  Prüflinge  ein  vielseitiges  Bild  zu  geben.  Daß  unsere 
Tests  grade  die  sprachlich-logischen  Fähigkeiten  bevorzugen,  ist  für  die 
Hamburger  Auslese  angemessen,  da  der  F-Zug  sich  vornehmlich  durch 
den  Betrieb  der  Fremdsprachen  von  dem  Normalzug  unterscheidet.  Die 
Prüfung  dauerte  etwa  vier  Stunden,  die  auf  zwei  aufeinander  folgende 
Vormittage  verteilt  waren.  Die  Hauptschwierigkeit  bestand  darin,  daß 
sämtliche  etwa  1400  Prüflinge  gleichzeitig  geprüft  werden  mußten, 
damit  keine  Weitererzählung  über  die  erhaltenen  Aufgaben  von  einem 
zum  andern  stattfinden  konnte.  Deshalb  wurden  60  Gruppen  von  je 
20—25  Prüflingen  gebildet;  die  hierzu  nötigen  60  Prüf  er  und  Prüferinnen, 
die  sich  aus  der  Lehrerschaft  zur  Verfügung  stellten,  erhielten  vorher 
eine  gedruckte  Instruktion,  in  der  jedes  Wort,  jede  Weisung,  jede  Einzel- 
handlung jede  Zeitdauer  vorgeschrieben  war;  diese  wurde  mit  ihnen 
Punkt  für  Punkt  durchgesprochen,  ihre  bedingungslose  Befolgung  aufs 
eindringlichste  eingeschärft. 

Die  60  Gruppenprüfungen  wurden  in  11  Schulgebäuden  abgehalten, 
in  denen  sonst  kein  Unterricht  stattfand.     In  jeder  Schule  fungierte 


Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg  137 


ein  genau  informierter  Mitarbeiter  des  psychologischen  Seminars  als 
Prüfungsleiter.  Das  Verfahren  konnte  ohne  Störungen  durchgeführt 
werden;  auch  darf  man  nach  den  getroff enen  Vorkehrungen  annehmen, 
daß  die  Prüfungsbedingungen  für  sämtliche  Prüflinge  in  hohem  Maße 
gleichartig  und  gleichwertig  waren  —  trotz  der  Vielköpfigkeit  des 
Prüferkollegiums. 

Nicht  minder  schwer  ist  die  nun  folgende  Aufgabe  der  Bearbeitung, 
die  binnen  wenigen  Wochen  völlig  abgeschlossen  sein  muß.  Es  müssen 
einerseits  die  Beobachtungsbogen  ausgezogen,  andererseits  die  8  x  1400 
Testleistungen  korrigiert  und  beziffert,  die  Prädikate  für  jeden  Schüler  ver- 
einigt werden.  Auch  hierfür  stellten  sich  zahlreiche  Helfer  zur  Verfügung, 
die  in  8  Arbeitsgruppen  unter  psychologisch  geschulter  Leitung  tätig  sind. 

Nunmehr  tritt  eine  engere  Aufnahmekommission  (4  Pädagogen  und 
der  Referent)  in  Tätigkeit.  Sie  hat  auf  Grund  des  gesamten,  für 
jedenSchülervorliegendenMaterials,  nämlich  des  Zeugnisbogens, 
des  Beobachtungsbogens,  des  Testausfalls  und  der  etwaigen  (durch  Unter- 
streichung gekennzeichneten)  besonderen  Empfehlung  zu  entscheiden,  ob 
er  in  den  F-Zug  aufgenommen  wird  oder  nicht.  Dies  Urteil  wird  für  die 
große  Mehrheit  der  Fälle  sehr  schnell  gegeben  werden  können,  nämlich 
dort,  wo  die  genannten  Wertungen  gleich  günstig  lauten,  oder  wo  sie 
alle  oder  mehrere  von  ihnen  weniger  günstig  sind.  Jene  sind  aufzu- 
nehmen, diese  auszuscheiden.  Der  Rest  aber  muß  einer  mehr  indi- 
vidualisierenden Behandlung  unterworfen  werden;  es  wird  im  ein- 
zelnen zu  prüfen  sein,  worauf  etwa  der  ungünstige  Ausfall,  z.  B.  der 
Tests  beruhe,  oder  wodurch  die  geringeren  Ziffern  der  Zeugnisse  be- 
dingt seien,  da  doch  die  anderen  Instanzen  für  den  Schiller  sprechen. 
In  Ausnahmefällen  wird  auch  noch  eine  persönliche  Äußerung  des 
Lehrers,  oder  eine  nochmalige  Prüfung  des  Schülers  herbeizuführen  sein. 

Auch  die»  Verfahren  wird  nicht  vor  Irrtümern  und  gelegentlichen  Miß- 
griffen schützen;  aber  es  ist  immerhin  das  beste,  das  zur  Zeit  empfohlen 
werden  kann.  Und  es  wird  umso  besser  werden,  je  mehr  die  Lehrer- 
schaft sich  darauf  einstellt,  daß  schon  bei  der  Vorauslese  nicht  der  bloße 
äußere  Leistungseffekt,  sondern  die  wirkliche  Fähigkeit  dei  intellektuellen 
und  Willenssphäre  in  Betracht  kommt,  je  mehr  sie  ferner  geschult  wird, 
den  Beobachtungsbogen  zu  benutzen,  und  je  mehr  die  anzuwendenden 
Testmethoden  durchgearbeitet  und  dem  besonderen  Zweck  angepaßt 
sein  werden. 

Ausführlichere  Berichte  sowohl  über  den  Beobachtungsbogen  und  seine 
Anwendung,  wie  über  die  Ergebnisse  der  Testprüfung  werden  später 
erfolgen;  zur  Zeit  müssen  wir  uns  damit  begnügen,  den  Wortlaut  des 
Bogens  und  das  Verzeichnis  der  Tests  wiederzugeben.  Bei  Wieder- 
holung der  Auslese  in  künftigen  Jahren  wird  der  Beobachtungsbogen 
vermutlich  auf  Grund  der  diesmaligen  Erfahrungen  einige  Änderungen 
erfahren.  Die  experirtientelle  Prüfung  muß  selbstverständhch  in  jedem 
Jahr  mit  ganz  andersartigen  Tests  arbeiten,  damit  keine  Einübung 
möglich  ist. 

Daß  das  gewonnene  Material,  auch  abgesehen  von  seiner  praktischen 
Bedeutung,  einen  großen  Wert  für  die  jugendkundliche  Forschung  ge- 
winnen kann,  sei  doch  zum  Schluß  noch  hervorgehoben. 


138  William  Stern 


II.  Der  Beobachtungsbogen 

für  die  Auslese  befähigter  Hamburger  Volksschüler  des  vierten  Schuljahres. 

Vorbemerkung.  Der  Beobachtungsbogen  ist  im  psychologischen  Laboratorium  zu  Hamburg  unter 
meiner  Leitung  und  unter  Mitwirkung  anderer  Seminarmitglieder  von  der  Lehrerin  Frl.  Martha 
Muchow  ausgearbeitet  worden. 

Erleichtert  ist  die  Ausfüllung  des  Bogens  durch  zwei  methodische  Hilfsmittel: 

1.  Allen  Fragen  ist  eine  Reihe  möglicher  Antworten  beigegeben,  doch  stets  in  genügend 
großer  Mannigfaltigkeit,  um  Suggestionswirkung  auszuschließen.  2.  Es  sind  die  Gelegenheiten 
genannt,  bei  denen  der  Lehrer  Beobachtungen  über  die  erfragten  Eigenschaften  machen  kann. 

Näheres  über  die  Anwendung  des  Bogens,  der  in  seiner  Urform  auf  Folio  reichlichen 
Schreibraum  aufweist,  enthält  der  vorangehende  Bericht.  Die  „Erläuterungen"  wurden  den  Lehrern 
zusammen  mit  dem  Bogen  eingehändigt. 

Erläuterungen. 

1.  Für  die  Ausfüllung  genügen  die  in  der  Klammer  angegebenen  möglichen  Antworten  oder 
ähnliche.  Die  Mitteilung  weitergehender,  detaillierter  Beobachtungen  und  konkreter  Belege 
für  die  einzelnen  Urteile  in  der  Abteilung  „Bemerkungen"  unter  Verweis  auf  die  Ziffern 
des  Schemas  ist  sehr  erwünscht,  aber  nicht  unbedingt  erforderlich. 

2.  Es  sind  nur  die  Fragen  zu  beantworten,  für  die  eindeutige  Beobachtungen  vorliegen.  Im 
Zweifelsfalle  verzichte  man  auf  die  Angaben  oder  füge  ein  Fragezeichen  bei. 

3.  Die  Gradurteile  sind  möglichst  im  Vergleich  mit  den  Altersgenossen  festzulegen. 

4.  Die  Aufzeichnungen  dürfen  nicht  nach  einer  einmaligen  Beobachtung  gemacht  werden. 
Sie  müssen  sich  vielmehr  gründen 

1.  auf    schon   früher   wiederholt  gemachte  Beobachtungen,  über  die  sichere  Er- 
innerungen vorliegen; 

2.  auf   neue   wiederholte  Beobachtungen,    die  während    der    noch  zur  Verfügung 
stehenden  Zeit  gesammelt  werden. 

5.  Es  ist  nicht  erwünscht,  daß  zur  Feststellung  der  erfragten  Eigenschaften  besondere  Proben 
oder  Experimente  veransfaltet  werden.  In  den  Beobachtungsbogen  sollen  nur  Aufzeichnungen 
über  das  natürliche  und  spontane  Verhalten  des  Kindes  aufgenommen  werden. 

6.  Die  Eintragungen  sind  in  der  Regel  vom  Klassenlehrer  zu  machen. 

7.  Die  hinter  den  Fragen  angegebenen  möglichen  Antworten  und  die  in  Spalte  2  aufgeführten 
Beobachtungsmöglichkeiten  sind  als  Beispiele  aufzufassen.  Sie  machen  keinen  Anspruch 
auf  Vollständigkeit. 

8.  Es  sei  noch  besonders  darauf  hingewiesen,  1.  daß  für  die  Zwecke  des  Beobachtungsbogens 
die  Angabe  jeder,  auch  scheinbar  unwesentlichen  Beobachtung  (z.  B.  über  Spielereien  in  der 
Stunde  und  ähnl.)  von  Bedeutung  ist;  2.  daß  auch  negative,  absprechende  Urteile  über  den 
Schüler  positiven  Wert  haben  können,  also  deshalb  nicht  umgangen  werden  dürfen  (z.  B. 
unregelmäßige  Schwankungen  des  Arbeitstempos  und  der  Qualität  —  IV.  9  b  — :  die  Angabe 
könnte  mangelhafte  Prüfungsergebnisse  erklären).  Außerdem  bedeuten  negative  Eigenschaften 
keineswegs  immer  einen  Mangel  (z.  B.  IV.  9  a :  Langsamkeit  des  Arbeitstempos,  wenn  es  durch 
eingehende  Vertiefung  bedingt  ist ;  oder  IV.  10  a:  Gleichgültigkeit,  wenn  der  Grund  zu  geringe 
Inanspruchnahme  der  Kräfte,  zu  große  Leichtigkeit  der  Aufgaben  ist;  u.  a.) 

9.  Die  Kinder,  die  der  Schule  besonders  geeignet  erscheinen,  in  den  F-Zug  aufgenommen 
zu  werden,  sind  durch  Unterstreichung  des  Namens  zu  kennzeichnen. 

10.  Für  weitere  mündliche  Auskünfte  finden  im  Psychologischen  Seminar,  Domstraße  8,  Sprech- 
stunden statt,  und  zwar  an  jedem  Mittwoch  von  5 — 6  Uhr. 

Beobachtungsbogen. 
I.  Name  des  Kindes;  Geburtsjahr  und  -tag: 
n.  Das  Elternhaus: 

Beruf  des  Vaters? 

Werden  die  Schulleistungen  des  Kindes  durch  die  häuslichen  Verhältnisse  gefördert  oder 
gehemmt?     (Gewerbliche  Arbeit  der  Mutter,  des  Kindes  u.  a.) 
HI.  Leistungen: 

Hat  das  Kind  in  allen  Fächern   gleichmäßig  gute  Leistungen  aufzuweisen  oder  nur  in 

einzelnen? 
Welche  sind  das  ? 


Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg 


139 


rv. 


Bestehen  auf  bestimmten  Leistungsgebieten  Schwächen? 

Welche  Gebiete  sind  das? 

Sind  die  hohen  Leistungen  vorwiegend  ein  Ergebnis  seines  Fleißes  oder  hoher  Allgemein- 
begabung bezw.  Sonderbegabung  für  die  betreffenden  Fächer,  oder  sind  Fleiß  und  Be- 
gabung einigermaßen  gleichmäßig  daran  beteiligt? 

Beobachtungen  über  die  seelische  Eigenart  des  Kindes: 


Frage 


Gelegenheiten 
zur  Beobachtung 


1.  Anpassungsfähigkeit: 

Findet  das  Kind  sich  langsam  oder  schnell  in  neue  Lehrstoffe 
und  Aufgaben,  neue  Lehrer  und  neue  Lehrweisen,  neue 
Situationen  und  neue  Einrichtungen?  (Schneit;  weder  auf- 
fallend schnell  noch  auffallend  langsam ;  langsam,  weil  vor- 
sichtig; langsam,  weil  schwerfällig;  auffallend  langsam;  u.a.) 

2.  Aufmerksamkeit; 

a)  Ist  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes  leicht  erregbar?  (Sehr 
leicht;  X  bemerkt  jede  Veränderung  in  seiner  Umgebung; 
bemerkt  alles  Hervorragende  und  Ungewöhnliche;  X  ist 
unfähig,  dgl.  zu  bemerken:    übersieht  und  überhört  leicht 

etwas;  u.  a.) 

b)  Ist  das  Kind  imstande,  seine  Aufmerksamkeit  längere  Zeit 
intensiv  auf  denselben  Gegenstand  zu  richten,  oder  ist  es 
leicht  ablenkbar?  (X  hat  in  hohem  Maße  die  Fähigkeit, 
seipe  Aufmerksamkeit  zu  konzentrieren;  muß,  wenn  es 
sich  in  etwas  vertieft  hat,  mehrfach  beim  Namen  gerufen 
oder  angestoßen  werden,  ehe  es  abgelenkt  wird;  X  wird 
durch  das  geringste  Geräusch  oder  Unbehagen  gestört :  u.  a.) 

c)  Wie   ist  die  Aufmerksamkeit  des  Kindes   beim  Unterricht 
zu  beurteilen?  (Folgt  dem  Unterricht  mit  gespannter,  tätiger 
Aufmerksamkeit;  passiv;  wechselnd;  gleichmäßig  usw.) 
Ist  sie  für  alle  Fächer  gleichmäßig? 

S.  Ermüdbarkeit  : 

a)  Ermüdet  das  Kind  leicht?  (Ja;  zuweilen;  bei  Hitze;  bei 
längerem  Schreiben ;  beim  Kopfrechnen ;  beim  Turnen ;  nein.) 

b)  Äußert  sich  die  Ermüdung  in  einer  Verschlechterung  oder 
Verlangsamung  der  Arbeit?  (X  arbeitet  schlechter;  lang- 
samer; langsamer  und  schlechter.) 

c)  Erholt  sich  das  Kind  schnell  oder  langsam  ?    (Schnell ;  nicht 
auffallend  schnell  oder  langsam;  langsam.) 

4.  Wahrnehmung  und  Beobachtungsfähigkeit: 

a)  Hat  das  Kind  in  seiner  Umwelt  zahlreiche  und  viel- 
seitige Beobachtungen  gesammelt?  (Sehr  vielseitig;  nicht 
mehr  als  der  Durchschnitt  der  Altersgenossen ;  wenig;  ein- 
seitig auf  technischem,  hauswirtschaftlichem  usw.  Gebiete.) 

b)  Ist  es  zu  genauer  Beobachtung  von  Gegenständen  und 
Vorgängen  fähig?  (Ja;  in  besonders  hohem  Maße;  nein; 
auffallend  wenig.) 

Sind  seine  Beschreibungen  von  Gegenständen  und  Vor- 
gängen der  Wirklichkeit  entsprechend?  (Ja;  stets;  bei 
starker  Erregung  zuweilen  nicht;  nie;  beschreibt  stets 
ungenau.) 
c)  Beobachtet  es  selbständig?  (Ja;  nein;  sehr  viel;  fast 
gar  nicht;  nur  auf  den  Gebieten  seines  besonderen 
Interesses.) 


Bei  der  Einführung  neuer 
Stoffe,  Spiele;  bei  Verände- 
rungen der  Klassenordnung, 
der  Klassenämter,  bei  Lehrer- 
wechsel. 

Bei  Veränderungen  in  der 
Klasse;  beim  Betrachten  von 
Bildern,  Modellen,  Pflanzen; 
auf  Schulausflügen. 

Bei  Störungen  in  der  Klasse ; 
beim  Aufrufen  des  Kindes ; 
bei  Spielereien  im  Unterricht. 


Im  Unterriclit. 


Bei  längerem  Kopfrechnen ;  bei 
schriftlichen  Arbeiten;  gegen 
Ende  der  Stunde,  des  Tages, 
der  Woche,  des  Halbjahrs. 
Beim  Kopfrechnen,  bei  Dik- 
taten, Aufsätzen. 

Nach  der  Pause ;  nach  Ferien. 


Bei  Aufsätzen ;  in  der  Unter- 
haltung: in  den  Realien;  an 
seinen  grammatischen  Bei- 
spielen. 

Im  naturkundlichen  Unter- 
richt,   im    Zeichenunterricht. 

Bei  Aufsätzen;  bei  Berichten 
über  gemeinsame  Erlebnisse 
der  Klasse  (z.  B.  überAusflüge). 

Im  natur-  u.  heimatkundlichen 
Unterricht;  bei  Aufsätzen;  in 
der  freien  Unterhaltung. 


140 


William  Stern 


Frage 


Gelegenheiten 
zur  Beobachtung 


5.  Gedächtnis: 

a)  Lernt  das  Kind  schnell  oder  langsam?  (Sehr  schnell; 
ziemlich   schnell;    nicht  auffallend  schnell  oder  langsam.) 

b)  Lernt  es  vorwiegend  verstandesmäßig  oder  mechanisch? 
(Vorwiegend  verstandesmäßig;  vorwiegend  mechanisch; 
nicht  festzustellen.) 


c)  Ist  sein  Gedächtnis  dauerhaft?     (Ja;  nein;  sehr  wenig.) 

d)  Ist  sein  Gedächtnis  treu?     (Ja;  nein;  sehr.) 

e)  Hat  es  ein  besonderes  Gedächtnis  irgendwelcher  Art  ?  (Für 
Zahlen,  Namen,  Farben,  Formen,  Personen,  Begebenheiten, 
sprachliche  Zusammenhänge  u.  a.) 

6.  Phantasie  : 

a)  Hat  das  Kind  eine  lebhafte  oder  stumpfe  Phantasie?  (Leb- 
haft; X  pflegt  bei  der  Wiedergabe  von  Gelesenem  oder 
Gehörtem  phantasievolle  Zusätze  zu  machen;  malt  gern 
bis  ins  Kleinste  aus;  stumpf.) 

b)  Wie  betätigt  sich  seine  Phantasie?  (Basteln,  Bauen, 
Zeichnen,  Rollenspiel,  Erdichten  und  Fabulieren ;  Erfindung 
neuer  Spiele  usw.) 

7.  Denken: 

a)  Faßt  das  Kind  schnell  oder  langsam  auf?  (Schnell ;  X  eilt 
zuweilen  schon  voraus;  langsam;  mittelmäßig.) 

b)  Stellt  das  Kind  selbständig  sinnvolle  Fragen?  (Ja;  häafig; 
X  versucht  stets  der  Sache  auf  den  Grund  zu  kommen ;  neigt 
zum  Weiterdenken;  selten.) 

Äußert   es   eigene   Gedanken?     (Ja;    oft;    verallgemeinert, 

schließt,  vergleicht  selbständig.) 

Auf  welchen  Gebieten?     (Naturkunde,  Geschichte  u.  a.) 

c)  Erfaßt  es  rasch  die  Hauptsache,  den  Zusammenhang,  oder 
beachtet  es  mehr  die  Einzelheiten  und  Teile  und  studiert 
diese  genau  ?   (Möglichst  durch  Einzelbeispiele  zu  belegen.) 

d)  Neigt  es  zur  Kritik  und  zum  Zweifel,  oder  nimmt  es  fremde 
Urteile  ungeprüft  hin?  (X  zeigt  starke  Neigung  zur  Kritik ; 
verrät  Oppositionsgeist;  verteidigt  hartnäckig  seine  Meinung; 
bezweifelt,  was  es  nicht  selbst  gesehen  hat;  X  nimmt  alles, 
was  der  Lehrer  sagt,  hin,  ohne  zu  kritisieren.) 

Bemerkt  es  schnell  Fehler?     (Ja;  nein.) 
Widersteht  es  Suggestionen?   (Ja;  nein.) 

e)  Ist  es  zur  Selbstkritik  fähig  ?  (Ja ;  nein ;  nur  auf  Anregung ; 
überprüft  schriftliche  Arbeiten  oft  vor  dem  Abgeben;  hat 
ein  ziemlich  sicheres  Bewußtsein,  ob  die  gelieferte  Arbeit 
gut  oder  schlecht  geraten  u.  a.) 

8.  Sprachlijcher  Ausdruck: 

a)  Ist  seine  Sprache  reich  an  Wörtern  und  Ausdrücken,  oder 
werden  dieselben  Ausdrücke  und  Wendungen  beständig 
wiederholt?  (Zu  unterscheiden  zwischen  mündlichem  und 
schriftlichem  Ausdruck.) 

b)  Schafft  das  Kind  zuweilen  aus  Eigenem  neue  Ausdrücke 
und  Wendungen?     (Möglichst  Belege!) 

c)  Wie  ist  seine  mündliche  und  schriftliche  Darstellung? 
(Fließend;  zusammenhängend;  schwerfällig;  ungelenk). 


Bei  der  Einprägung  von  Lern- 
stoffen, Gedichten,  Regeln, 
Prosastücken,  1x1. 

1.  an  sinnvollen  Fehlem, 
selbständigen  Veränderun- 
gen des  Wortlauts  bei  der 
Wiedergabe  v.  Gelesenem; 

2.  an  sinnlosen  Fehlem;  am 
Festhalten  am  Wortlaut. 

Bei     Wiederholungen      nach 
längeren  Zwischenräumen. 
Bei  Wiederholungen  von  Me- 
morierstoften. 
Im  Unterricht. 


Beim  Aufsatz;  beim  Spiel; 
im  Zeichenunterricht ;  beim 
Wiedererzählen. 

Beim  Spiel;  bei  Spielereien 
in  der  Stunde;  an  der  häus- 
lichen Beschäftigung. 

Bei    der    Darbietung     neuer 

Stoffe. 

Überall  im  Unterricht ;  in  der 

freien  Unterhaltung. 


Bei     der     Besprechung     von 
Fabeln,  biblischen  Geschich- 
ten, Gedichten  u.  a. 
Im  Unterricht;  im  Umgang. 


Bei  der  gegenseitigen  Korrek- 
tur; bei  Suggestionsfragen. 
Bei  der  Selbstkorrektur  von 
Kladdearbeiten;  an  der  Art 
der  Arbeit  bei  Klassenarbei- 
ten; auf  moralischem  Gebiete. 

Beim  Vortrag;  beim  Aufsatz; 
im  Umgang. 


Im   Unterricht;    beim   Spiel; 
im  Umgang. 

Bei  mündlichen  und  schrift- 
lichen Darstellungen. 


Die  Methode  der  Auslese  befähigter  Volksschüler  in  Hamburg 


141 


Frage 


Oelege  nheiten 
zur  Beobachtung^ 


9.  Arbeitsart: 

a)  Pflegt  das  Kind  im  Vergleich  zu  seinen  Altersgenossen  schnell 
oder  langsam  zu  arbeiten?  (Schnell;  auffallend  langsam 
oder  schnell;  langsam;  mittel.) 

Ist  die  Langsamkeit  durch  die  Anwendung  besonderer  Sorg- 
falt auf  Schrift,  äußere  Form  usw.  der  Arbeit,  durch  eingehende 
Vertiefung  in  den  Stoff,  durch  Schwerfälligkeit  oder  durch 
äußere  Gründe,  z.B.  Sinneslehler,  zu  erklären?  Hat  das 
schnelle  Arbeitstempo  Oberflächlichkeit  zur  Folge,  oder  ar- 
beitet das  Kind  auf  Grund  seiner  eigentümlichen  Begabung 
schnell?  (Bereitschaft  des  Wissens,  Urteilsschnelligkeit, 
Übersicht,  Dispositionsfähigkeit  u.  a.) 

b)  Sind  das  Tempo  und  die  Qualität  der  Arbeit  gleichmäßig, 
oder  schwanken  sie  ?  (Ziemlich  gleichmäßig;  gegen  Mittag, 
nach  Turnstunden,  nach  Rechenstunden  u.  a.  nimmt  beides 
ab;  nach  den  Ferien  haben  beide  zugenommen;  unregel- 
mäßige Schwankungen.) 

c)  Welchen  Einfluß  hat  das  Zusammenarbeiten  mit  den  Klassen- 
genossen auf  die  Arbeitsart  des  Kindes?  (Erhöht  die  Lei- 
stungen; der  Wetteifer  stört  das  Kind;  keinen  Einfluß.) 

d)  Ist  das  Kind  imstande,  eine  Arbeit  richtig  anzugreifen  und 
die  Teiltätigkeiten  richtig  zu  verteilen  ?  (Ja;  nein,  muß  immer 
angeleitet  werden ;  unpraktisch.) 


10.  Gemüts-  und  Willensleben: 

a)  Ist  das  Kind  rege  und  tätig  oder  gleichgültig  und  phleg- 
matisch? (Rege;  phlegmatisch;  wird  durch  den  gewöhn- 
lich«n  Schulbetrieb  nicht  genügend  angeregt;  drängt  sich 
immer  vor.) 

b)  Ist  es  auch  bei  Schwierigkeiten  beharrlich  oder  gibt  es  die 
Bemühung  bald  auf?  (Selr  beharrlich;  läßt  nicht  nach, 
bis  die  Aufgabe  gelöst  ist ;  gibt  bald  die  Anstrengung  auf.) 

c)  Welche  Motive  bestim  men  vorwiegend  sein  Handeln  ?  ( Vorteil , 
Vergnügen,  Mitgefühl,  Pflichtgefühl,  Gehorsam,  Kamerad- 
schaftsgefühl, Wißbegierde,  Ehrgeiz,  Trieb  zur  Selb- 
ständigkeit.) 

d)  Ist  das  Kind  aufrichtig  und  ehrlich? 

e)  Sind  intellektuelle  Gefühle,  Freude  an  der  Arbeit,  an  großer 
Anstrengung,  am  Gelingen  oder  Niedergeschlagenheit  beim 
Mißlingen  beobachtet  worden? 

f)  Handelt  es  vorsichtig  und  überlegt  oder  leichtsinnig,  sorglos 
und  unbedacht?  (Vorsichtig;  impulsiv;  sorglos;  oft  unbe- 
dacht und  voreilig.) 

g)  Ist  es  imstande,  in  neuer  Lage  rasch  zweckmäßige  Ent- 
scheidungen zu  treffen?  (Ja;  zeigte  Proben  von  Geistes- 
gegenwart [Belege];  nein.) 

h)  Ist  organisatorische  Begabung  beobachtet  worden?  (Ja 
[Belege];  nein.) 

i)  Ergreift  es  beim  Spiel  und  im  Unterricht  oft  die  Initiative  ? 
(Ja ;  nein ;  im  Spiel  nicht  u.  a.) 

Ist  es  Führer  der  KJasse  oder  neigt  es  zur  Ein-  oder  Unter- 
ordnung? 

k)  Wie  verhält  es  sich  gegen  seine  Klassengenossen?  (Freund- 
lich, verträglich,  hilfsbereit,  zänkisch,  streitsüchtig,  herrisch 
usw.) 


Bei     schriftlichen     Arbeiten; 
Handarbeiten;  beim  Zeichnen. 


Zu  verschiedenenTageszeiten ; 
nach  Turnstunden ,  Pausen, 
Ferien,  Krankheiten;  bei  gro- 
ßer Hitze,  Kälte  usw. 

Beim  Arbeiten  in  der  Klasse. 


Bei  der  Anlage  von  Auf  Sätzen ; 
bei  eingekleideten  Aufgaben; 
bei  der  Erledigimg  von  Auf- 
trägen (richtige  Ausnutzung 
der  Zeit). 

Im  Unten icht;  beim  Spiel  u.a. 


Besonders    in    Fächern,     in 

denen     es     weniger    Gutes 

leistet. 

Im  Umgang;    im  Unterricht. 


In   den    angegebenen  Fällen 
bei  mündlichen  und  schrift- 
lichen Arbeiten. 
Bei  Urteilen,  Aussagen  u.  a. 


Beim    Spiel;    bei    Unglücks- 
fällen in  der  Klasse  oder  auf 
dem  Hofe  u.  a. 
Beim  Spiel. 

Im  Spiel;  in  freien  Aus- 
sprachen ;  bei  schwierigen 
Aufgaben  und  Fragen. 

Im  Umgang  mit  den  Klassen- 
genossen. 


142 


William  Stern 


Frage 


Gelegenheiten 
zur  Beobachtung 


11.  Besondere  Interessen  und  Talente: 

a)  Sind  bestimmte  Schulfächer  beliebt  oder  unbeliebt? 
Welche '? 

Liegen  für  diese  Vorliebe  oder  Abneigung  besondere  Gründe 
vor?  (Sonderbegabung,  sachliches  Interesse,  persönliche 
Beziehungen  zum  Lehrer  u.  a.) 

b)  Hat  das  Kind  besondere  Neigungen  und  Interessen  außer- 
halb der  Schule  ?  (Handarbeit,  Technik,  Natur,  Hafen  und 
Schiffahrt,  Musik,  Gartenbau,  Tierzucht  u.  a ) 

Wie  bekunden  sich  diese  Neigungen?  (Basteln,  Spielen, 
Wandern,  Sammeln,  Kinobesuch,  Lektüre  u.  a.)  Liest  das 
Kind  aus  eigenem  Antriebe  ?  (Ja ;  nein ;  viel ;  wenig.)  Was 
liest  es?  (Schundliteratur,  Märchen,  Indianergeschichten, 
Kriminalgeschichten,  belehrende  Bücher  usw.)  In  welcher 
Weise  betreibt  es  diese  Lektüre?  (Verschlingt  wahllos,  was 
es  erreichen  kann;  liest  dasselbe  immer  wieder;  spielt  oder 
schafft  nach,  was  es  gelesen  hat  u.  a.) 

c)  Hat  das  Kind  Sonderbegabungen?  (Für  Zeichnen,  Malen, 
Bauen,  Basteln,  Musik  u,  a.) 


Im  Umgang. 


Im  Umgang;  gegebenenfalls 
durch  Befragen  der  Eltern 
festzustellen. 


Gelegentlich  im  Unterricht. 


111.  Verzeichnis  der  angewandten  Tests. 

(Bei  den  ersten  6  Tests  wurde  den  Kindern  an  Beispielen  erläutert,  wie  die  Aufgabe  gemeint  ist.) 

Erster  Prütungstag: 

A)  Begriffsreihen  ordnen  (s.  dieses  Heft  S.  94).  Die  zu  ordnenden  Begriffe  waren  nicht  auf 
Einzelkarten  geschrieben,  sondern  in  falscher  Abfolge  auf  einem  Zettel  vorgedruckt;  sie 
mußten  in  richtiger  Folge  darunter  geschrieben  werden.     Die  Vorlagen  lauteten: 

1.  Waffenstillstand  —   Schlacht  —  Kriegserklärung   —   Friedensschluß  —  Ausmarsch  der 
Truppen  —  Sieg. 

2.  Arzt  —  Fußballspiel  —  Heilung  —  Verband  —  Beinbruch  —  Besserung  —  Sturz. 

3.  Sinkendes  Schiff  —  Landung  —  Nebel  —  Rettungsboote  —  Leck  im  Schiff  —  Schiffs- 
zusammenstoß. 

B)  Erklärung  von  Begriffen  (s.  dieses  Heft  S.  81).  Gewählt  wurden  die  Begriffe:  Mut,  Beute, 
Onkel,  Neid. 

C)  Lückentext,  in  dem  die  Konjunktionen  zu  ergänzen  sind,  nach  Lipmann  (s.  dieses  Heft  S.  70). 

D)  Dreiwort-Methode  (s.  dieses  Heft  S.  87).     Die  Vorlagen  lauteten: 

1.  Reise  —  treuer  Hund  —  Freude, 

2.  Soldaten  im  Lager  —  sternlose  Nacht  —  große  Verwirrung. 

3.  Stehengebliebene  Uhr  —  geschehenes  Eisenbahnunglück  —  Freude. 

E)  Die  Lehre  von  2  Fabeln  finden  (s.  dieses  Heft  S.  84).     Vorgelegt  wurden: 

1.  Rübezahl  und  der  Fuhrmann. 

2.  Der  Holzfäller  und  die  Waldfee. 


Zweiter  Prüfungstag: 

F)  Kritiktest:  Herausfinden  der  in  eine  Geschichte  eingestreuten  Sinnwidrigkeiten  (s,  dieses 
Heft  S.  77).     Vorgelegt  wurde  der  etwas  geänderte  Text  1.     (S.  79.) 

G)  Aufsatz  über  eine  Bilderfolge  (s.  dieses  Heft  S.  78).  Da  es  nicht  möglich  war,  einen 
Münchener  Bilderbogen  in  genügender  Menge  zu  beschaffen,  wurden  den  Kindern  zwei  zu- 
sammengehörige Ansichtskarten  vorgelegt,  die  eine  einfache  Geschichte  darstellten.  Der 
Text  der  Karten  („Wie  Du  mir"  —  „So  ich  Dir")  war  entfernt.  Die  Prüflinge  hatten  die 
Geschichte  niederzuschreiben  und  eine  Überschrift  dazu  zu  finden. 

H)  Merkfähigkeitstest.  Einige  nicht  ganz  leichte  Sätze  wurden  den  Kindern  gezeigt;  jeder  war, 
nachdem  er  im  Chor  von  den  Kindern  gelesen  worden  war,  sofort  aus  dem  Gedächtnis 
niederzuschreiben.  Deutlich  trat  der  Unterschied  hervor  zwischen  dem  mechanischen  Ge- 
dächtnis,  das  einige  BruchteUe  des  Wortlauts  ohne  sinnvollen  Zusammenhang  wiedergab, 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  I43 

und  dem  intelligenten  Gedächtnis,  das  bei  oft  bedeutender  Veränderung  des  Wortlauts  doch 
den  geforderten  oder  einen  ähnlichen  sinnvollen  Zusammenhang  reproduzierte.  Die  Sätze 
lauteten : 

1.  Der  gemeine  Neid  über  den  von  Jahr  zu  Jahr  wachsenden  Handel  Deutschlands  hat 
England  bewogen,  uns  fast  alle  Völker  auf  den  Hals  zu  hetzen. 

2.  Durch  seinen  ruhmvollen  Sieg  in  Masuren  hat  Hindenburg  den  andrängenden  russischen 
Massen  so  erhebliche  Verluste  beigebracht,  daß  er  ihnen  für  immer  die  Lust  am  Wieder- 
kommen benahm. 

3.  Wir  erhoffen  den  Sieg  durch  unsere  U-Boote,  weil  der  täglich  größer  werdende  Mangel  an 
den  notwendigsten  Lebensmitteln  England  früher  oder  später  zum  Frieden  zwingen  wird. 


Kleine  Mitteilungen  zum  Begabungsproblem. 

Breslauer  Begabtenauslese.  In  Breslau  wird  Ostern  1918  an  einer  Knaben- 
und  an  einer  Mädchenmittelschule  je  eine  Sonderklasse  eingerichtet,  in  der 
hochbegabte  Volksschulkinder  nach  Besuch  der  vorletzten  Volksschulklasse 
(etwa  12.  Lebensjahr)  ans  Ziel  der  Mittelschule  gebracht  werden  sollen. 
Kindern,  die  sich  in  dieser  Klasse  bewähren,  will  die  Stadt  später  den  Weg 
zu  weiterer,  ihren  Anlagen  entsprechender  Ausbildung  ebnen.  Für  die  Be- 
gabtenauslese hat  die  städt.  Schul  Verwaltung  die  Hilfe  des  Fachpsychologen 
in  Anspruch  genommen.  Unterzeichneter  hatte  zunächst  einen  psychogra- 
phischen  Fragebogen  auszuarbeiten,  mit  dessen  Hilfe  die  Lehrer  gegen- 
wärtig Begabungspsychogramme  der  nach  ihrer  Meinung  in  Frage  kommenden 
Kinder  herstellen.  Dieser  Bogen  ist  neben  einem  in  amtlicher  Rektorenkonferenz 
gehaltenen  Erläuterungsvortrag  in  Nr.  51  (Jahrgang  191 7)  der  „Schles.Schulztg." 
erschienen;  Sonderabdrücke  der  Erläuterungen  gingen  allen  in  Betracht  kommen- 
den Lehrpersonen  zu.  Nach  Eingang  der  Psychogramme  sollen  die  vor- 
geschlagenen Kinder  noch  einer  Test  Prüfung  unterworfen  werden.  In  Vor- 
versuchen, bei  denen  mich  Herr  Rektor  Rüpprich  unterstützte,  ergaben  sich 
als  für  unsere  Absichten  zweckmäßig,  folgende  von  Stern  in  diesem  Hefte 
behandelten  Tests:  Bindewortergänzungstest  (Minkusscher  Test),  Kritiktest, 
Begriffserklärungen,  Drei  wort -Test,  Fabeltest,  Begriffsordnung  (im  Massen  ver- 
such) und  Farben-,  Figuren-,  Bilderbogenlegen  (im  Einzelversuch),  ferner  ein 
Gedächtnistest,  über  den  später  Genaueres  berichtet  werden  mag.  Da  die 
Stadt  unter  Umständen  für  den  ganzen  Ausbildungsgang  der  ausgewählten 
und  sich  bewährenden  Kinder  sorgen  will,  so  erscheint  es  möglich,  den  Ent- 
wicklungsgang dieser  jungen  Menschen  bis  zum  Eintritt  in  einen  Beruf  (viel- 
leicht noch  weiter,  da  doch  vielleicht  manche  dann  in  städtische  Dienste 
treten  werden),  psychologisch  zu  verfolgen:  eine  theoretisch  und  praktisch 
wichtige  Aufgabe  für  einen  schul-  oder  stadtpsychologischen  Dienst. 

Breslau.  Alfred  Mann. 

Förderung  begabter  Kleinstadt-  und  Landschüler.  Ein  sehr  beachtens- 
werter Aufsatz  von  H.  Wermbter  (Hildesheim)i)  weist  auf  die  Gefahr  hin,  die 
aus  der  bisher  rein  großstädtischen  Behandlung  der  Begabtenförderung  er- 
wachsen kann.    Denn  es  handelt  sich  um  eine  gesamtstaatliche  Aufgabe, 

1)  Der  Aufstieg  der  Begabten  und  die  Verschiedenheit  der  Volksschulen  in  Stadt  und  Land. 
Dtsch.  Philologenblatt  25.  Jhrg,,  Nr.  45/46.  Dez.  1917.  —  Vgl.  auch  die  kurze  Notiz  zu  dem- 
selben Thema  „Förderstunden  für  Begabte";  Ztschr,  f.  pädag.  Psychol.,  Bd.  18,  S.  240,  1917, 


144  Kleine   Beiträge  und  Mitteilungen 


die  nicht  zum  Objekt  städtisch-partikularistischer  Bestrebungen  gemacht  werden 
dürfe.  „In  den  Mittel-  und  Kleinstädten  sowie  auf  dem  Lande  werden  zweifel- 
los auch  hochbegabte  Kinder  geboren,  deren  Förderung  zu  höherem  Aufstieg 
hinauf  nicht  hinter  derjenigen  hochbegabter  Kinder  aus  Großstädten  zurück- 
gesetzt werden  darf,  und  dieses  um  so  weniger,  als  im  allgemeinen  der 
Gesundheits-  und  Kräftezustand  der  Kleinstadt-  und  Landkinder  besser  ist  als 
der  der  Großstadtkinder."  W.  durchmustert  nun  daraufhin  das  nicht- groß- 
städtische Volksschulwesen  und  stellt  fest,  daß  hier  die  Möglichkeiten  des 
ungezwungenen  Übergangs  der  Begabten  auf  Mittel-  und  höhere  Schulen 
außerordenthch  ungünstig  seien,  weil  die  weitaus  meisten  dieser  Volksschulen 
nur  aus  wenigen  Klassen  bestehen.  Um  so  nötiger  ist  die  Schaffung  beson- 
derer Einrichtungen  und  eine  Zentralisierung  derart,  daß  sie  allen  Befähigten 
aus  Dorf  und  Stadt  ohne  Unterschied  zugänglich  ist.  Daher  sieht  W.  als  die 
geeigneten  Träger  dieser  Veranstaltungen  die  Provinzen  an.  Wie  die 
Provinzialverwaltungen  die  Fürsorge  für  die  geistig  und  körperlich  Minder- 
begabten in  Händen  hätten,  sollten  sie  auch  diejenige  für  die  Höherbegabten 
übernehmen;  nur  dann  sei  die  Möglichkeit  gegeben,  daß  „die  unbemittelten 
Begabten  aus  allen  Gemeinden  gleichmäßig  im  ganzen  Staate  erfaßt 
und  ihnen  die  Wege  zu  den  höchsten  Stufen  der  Ausbildung  und  dement- 
sprechenden  Lebensstellungen  eröffnet  werden." 

Entwurf  eines  psychographischen  Beobachtungsbogens  für  begabte  Volks- 
schüler in  Berlin.  Für  die  Vorauslese  der  Begabten  an  den  Berliner  Gemeinde- 
schulen hat  die  „Arbeitsgemeinschaft  für  exakte  Pädagogik"  (Wissen schaftl. 
Leiter  Dr.  Otto  Lipmann)  einen  von  mir  verfaßten  Entwurf  eines  Beobachtungs- 
bogens der  städtischen  Schuldeputation  eingereicht.  An  der  Hand  dieses 
Bogens  sollen  mit  Zustimmung  der  Schuldeputation  in  Zukunft  alle  Schüler 
beobachtet  werden,  die  durch  hervorragende  Begabung  und  ausgezeichnete 
Leistungen  auffallen.  Die  Beobachtungen  sollen  sofort  beginnen,  sobald  die 
Begabung  bemerkt  wird,  also  vielleicht  schon  vom  zweiten  Schuljahr  an.  Der 
Beobachtungsbogen  enthält  folgende  Abteilungen:  1.  Körperliches  und  Sinne, 
2.  Auffassung,  3.  Aufmerksamkeit,  4.  Gedächtnis  und  Lernen,  5.  Denkfähig- 
keit, 6.  Gefühle  und  Affekte,  7.  Wille  und  Arbeitsverlauf,  8.  Stellungnahme, 
9.  Begabungen,  10.  Stellung  in  der  Gemeinschaft,  11.  Allgemeines  Verhalten. 
Um  die  Ausfüllung  zu  erleichtern,  sind  in  einem  Anhang  Erläuterungen  bei- 
gegeben sowie  Beispiele  und  Beobachtungsgelegenheiten  angeführt.  Der  Ent- 
wurf wird  im  Wortlaut  veröffentlicht  in  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie 
Bd.  XIII,  Heft  5/6,  1918. 

Berlin.  H.  Rebhuhn. 


Druck  von  J.  B.  Hirschfeld  (August  Pries)  in  Leipzig. 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg. 

Von  Aloys  Fischer. 

1. 

Im  14.  Jahrgang  dieser  Zeitschrift  (Seite  11  f)  habe  ich  einige  Grund- 
fragen der  Entwicklung  des  Kindergartenwesens  aufgeworfen;  seitdem 
haben  sich  die  Dinge  schnell  und  vielseitig  verändert.  Eine  beträcht- 
liche Anzahl  von  Arbeiten  aus  deutschen,  österreichischen  und  ungarischen 
Kindergärten  läßt  einen  erheblichen  Fortschritt  in  Einrichtung  und  Aus- 
stattung der  Kindergärten  erkennen,  stärkere  Anknüpfung  an  die  vom 
Kinde  selbst  mit-  und  entgegengebrachten  Interessen,  eine  reifere  Durch- 
bildung der  Methodik  der  Kleinkindererziehung.  Die  von  außen  her 
an  das  Kind  herangebrachten  Spiele  nnd  Gaben  —  gewiß  nicht  ent- 
behrlich, aber  mit  Vorsicht  anzuwenden  —  treten  zurück  zugunsten 
der  Anknüpfung  an  die  lebendige  Gelegenheit;  die  absichtlich  ersonnenen, 
vielfach  von  bestimmten  Theorien  über  das  geistige  Wachstum  des 
Menschen  aus  konstruierten,  deshalb  nicht  selten  überlehrhaften,  sind 
nicht  mehr  richtunggebende  Schablone.  Überall  wird  selbständig  ver- 
sucht und  geändert,  und  wenn  sich  auch  noch  kaum  die  Erfahrungen 
zu  etwas  wie  einer  neuen  Tradition  verdichten  lassen,  dies  suchende 
Leben  selbst  ist  wertvoll,  Vorstufe  einer  bald  anbrechenden  Zeit  der 
Erneuerung  im  ganzen.i) 

Unter  dem  Drucke  des  Krieges  hat  sich  die  Zahl  der  Kindergärten 
vergrößert,  mit  freiwilligen  Hilfskräften  ist  es  aller  Orten  möglich  ge- 
worden, neue  zu  errichten.  Auch  unmittelbar  nach  dem  Krieg  werden 
diese  Verhältnisse  noch  andauern.  Die  vorher  schon  angebahnte  Be- 
wegung, die  den  Kindergarten  aus  einer  Armenanstalt  in  eine  von  allen 
Schichten  der  Bevölkerung  gesuchte  und  geschätzte,  aus  individuell  eu- 
dämonistischen  und  sozialen  Gründen  gleich  wertvolle  organisatorische 
Hilfe  für  die  Früherziehung  der  Kinder  umwandelt,  ist  gewachsen,  weil 
im  Krieg  vielfach  auch  aus  solchen  Familien  und  Haushalten,  die  sich 
vorher  sehr  wohl  der  Kinder  annehmen  konnten,  Zuwanderung  kam, 
überhaupt  wie  die  Erwachsenen  so  auch  die  Kinder  näher  aneinander 
rückten. 

Für  den  Fortgang,  die  gedeihliche  Zukunftsentwicklung  des  Kinder- 
gartenwesens ist  nun  die  maßgebendste  Voraussetzung  und  Bedingung 
die  Auslese  und  Vorbildung  der  Kindergärtnerinnen.  Auf 
die  darin  beschlossenen  Probleme  möchte  ich  kurz  die  Aufmerksam- 
keit lenken.    Ich  gehe  von  zwei  Gruppen  von  Tatsachen  aus:  von  der 

')  Zur  Erläuterung  des  Gesagten  möchte  ich  auf  das  vor  wenigen  Monaten  erschienene  Buch 
„Ein  Jahr  Kindergartenarbeit "   von  A.  Huth  hinweisen  (als  Band  VIII  der  von   Oskar  Messmer 
imd  mir  herausgegebenen  Sammlung  „Pädagogium".     Leipzig  1917,  J.  Klinkhardt). 
'    Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  10 


146  Aloys  Fischer 


bisherigen  Auslese  und  Vorbereitung  für  den  Beruf  der  Kindergärtnerin 
und  von  den  Erfahrungen  mit  freiwilligen,  schnell  und  kurz  oder  gar 
nicht  eingeschulten  Hilfskräften  in  der  Kriegszeit.  Von  diesen  Ausgangs- 
punkten her  möchte  ich  einige  Wege  aufzeigen,  die  zu  einer  kommenden, 
allgemein  als  unvermeidlich  gefühlten  öffentlichen  Kindergärtnerinnen- 
bildung führen,  und  mittelbar  gegen  eine  andere  Möglichkeit  Stellung 
nehmen,  deren  Motive  ich  wohl  verstehe,  in  der  ich  jedoch  gleichwohl 
den  Keim  für  eine  Gefährdung  derKindergartenarbeit  selbst  erblicken  muß. 
Freilich  läßt  sich  die  Besprechung  der  Bildungs-  und  Standesfrageii 
der  Kindergärtnerin  nicht  ganz  von  der  Gesamtwürdigung  des  Kinder- 
gartens selbst  trennen ;  deshalb  mag  es  gestattet  sein,  die  spezielle  Auf- 
gabe des  Kindergartens  im  Rahmen  der  planmäßigen  Kinderfürsorge 
wenigstens  andeutend  zu  umreißen.  Erst  wenn  uns  Sinn  und  Ziel  des 
Kindergartens  als  einer  Kleinkinderfürsorgemaßnahme  deutlich  geworden 
ist,  können  wir  auch  alle  Anforderungen  klarlegen,  die  an  eine  Kinder- 
gärtnerin gestellt  werden  dürfen.  Ich  möchte  dabei  vom  Boden  der 
Zeitgeschichte  aus  nochmals  auf  die  Wandlung  des  Kindergartens  hin- 
weisen, die  ich  früher  von  allgemeinen  soziologischen  Erwägungen 
aus  gekennzeichnet  habe. 

2. 

Nicht  nur  als  Christenpflicht  der  Barmherzigkeit  gegen  Arme  und 
Schwache,  auch  nicht  bloß  als  soziale  Maßregel  zum  Ausgleich  des 
Geburtenrückgangs,  als  politische  Forderung  von  größter  Tragweite, 
als  Gebot  der  allgemeinen  Notwehr  Deutschlands  um  seinen  Bestand 
und  seine  Geltung  sind  Säuglingsschutz  und  Kleinkinderfürsorge  jetzt 
in  unserem  Bewußtsein  lebendig.  Über  die  Richtlinien  ihres  Ausbaues 
wird  jetzt  verhandelt  und  entschieden;  deshalb  mag  es  gestattet  sein, 
auf  einige  mit  Säuglingsschutz  und  Kleinkinderfürsorge  eng  zusammen- 
hängende pädagogische  Fragen  aufmerksam  zu  machen,  die  in  Gefahr 
sind,  übersehen  bezw.  falsch  eingeschätzt  zu  werden,  unter  ihnen  vor 
allem  auf  den  Sinn  des  Kindergartens. 

Wenn  wir  von  der  soziologischen  und  bevölkerungspolitischen  Seite  der 
Kinderfürsorgefragen  absehen,  bleiben  hauptsächlich  zwei  Richtungen  für 
die  Arbeit:  die  hygienische  und  die  pädagogische.  Auf  dem  Gebiet  des 
Säuglingsschutzes  scheint  alles  an  der  hygienischen  Fürsorge  zu 
liegen.  Die  Bekämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  ist  in  erster  Linie 
Sache  der  Ärzte  und  ihrer  Hilfsorgane:  der  Säugiingspf  legerinnen,  Ammen, 
Kinderwärterinnen,  ferner  Sache  der  Aufklärung  der  Eltern,  besonders 
der  Mütter,  und  endlich  Sache  der  materiellen  Mittel  zur  Beschaffung 
genügender  Nahrung  von  Mutter  und  Kind,  entsprechender  Kleidung 
und  Wohnung,  zur  Bezahlung  von  Arzneistof  f  en.  Seit  wir  einen  genaueren, 
auf  Morbiditäts-  und  Mortalitätsstatistiken  gegründeten  Einblick  in  die 
Feinde  des  Säuglingslebens  besitzen,  sind  auch  gesundheitspolizeihche 
Maßnahmen,  wie  Impfzwang,  Anzeigepflicht  für  bestimmte  infektiöse 
Krankheiten  als  segensreiche  Abwehrmaßregeln  sei  es  schon  eingeführt 
und  erprobt,  sei  es  wenigstens  vorgeschlagen  und  empfohlen  worden. 
Allerdings  hat  der  Kampf  gegen  die  Säuglingssterblichkeit  einzelne  Maß- 
nahmen Hiit  sich  gebracht,  die  selbst  wieder  zur  Gefahr  werden ;  so  ist 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg  I47 

z.  B.  die  Krippe  ein  Hauptherd  für  Säuglingsinfektionen;  überdies  ist 
der  Säuglingsschutz  noch  nicht  durchgebildet  genug,  keineswegs  unserer 
genauen  Kenntnis  über  die  Verteilung  der  einzelnen  Todesursachen  auf 
die  verschiedenen  Monate  des  ersten  Lebensjahres,  auf  die  Jahreszeiten 
usw.  so  angepaßt,  wie  er  es  werden  könnte.  Aber  sicher  scheint,  daß 
die  Aufgaben  des  Säuglingsschutzes  rein  ärztlicher,  hygienischer  und 
gesundheitspolizeilicher  Natur  seien,  daß  also  für  das  Gebiet  des  Säug- 
lingsschutzes pädagogische  Bestrebungen,  erziehungskundliche  Kennt- 
nisse, pädagogische  Schulung  und  Ausbildung  der  Mütter,  Ammen, 
Wärterinnen,  Pflegerinnen  nicht  erforderlich  seien. 

So  gewiß  die  hygienische  Seite  im  Säuglingsschutz  überwiegt,  so  un- 
richtig scheint  es  mir,  ihn  ganz  auf  die  gesundheitliche  Fürsorge  ein- 
zuengen. Auch  das  Säuglingsalter  ist  eine  Zeit  der  Erziehung.  Die  Ordnung 
und  strenge  Gewöhnung  des  Kindes  an  bestimmte  Zeiten  des  Trinkens 
und  Schlafens,  die  aus  gesundheitlichen  Gründen  gefordert  wird,  ist 
zugleich  eine  primitive  Erziehung  und  Vorbereitung  der  Charakter- 
entfaltung. Die  Pflege  der  Bewegungsorgane,  der  Sinne  steht  keineswegs 
ausschließlich  im  Dienst  der  leiblichen  Gesundheit,  sondern  auch  im 
Dienst  des  Vorstellungs-  und  Kenntniserwerbs,  des  Anreizes  zu  ein- 
facher geistiger  Tätigkeit.  Vollends  ist  das  ganze  persönliche  Verhältnis 
von  Säugling  und  Pflegepersonen  der  Brutboden  für  die  Frühregungen 
des  Giefühlslebens.  So  gewiß  für  die  Dauer  der  ersten  zehn  bis  vierzehn 
Lebensmonate  der  Säuglingsschutz  vorwiegend  unter  der  Jurisdiktion 
des  Arztes  und  Hygienikers  steht,  so  wenig  wäre  doch  ein  Ausschluß 
pädagogischer  Gesichtspunkte  aus  seiner  Organisation  berechtigt.  Im 
Gegenteil  gehören  die  faßlich  dargestellten  Grundsätze  einer  gesunden 
Früherziehung  auch  schon  des  Säuglings  mit  zu  den  besten  hygienischen 
Schutzmaßnahmen,  die  es  gibt.  Deshalb  ist  es  durchaus  notwendig,  daß  in 
der  Ausbildung  der  Mütter,  Hebammen,  Ammen,  Kindermädchen,  nament- 
lich auch  der  öffentlich  angestellten  Säughngspflegerinnen  neben  dem 
Arzt  und  seinen  Gesichtspunkten  der  Erzieher  das  Wort  hat,  daß  in  den 
Stätten  des  Säuglingsschutzes  (Milchküchen,  Krippen,  Beratungsstellen) 
auch  für  eine  elementare  pädagogische  Aufklärung  und  Anweisung  Sorge 
getragen  wird. 

Für  das  Kleinkind  dreht  sich  das  Wichtigkeitsverhältnis  des  hygieni- 
schen und  des  pädagogischen  Teils  der  Schutzbestrebungen  geradezu  um. 
Allerdings  steht  nach  den  jüngsten,  sorgfältigen  und  verdienstvollen 
Untersuchungen  von  M.  Pfaundler,  L.  Seiffert')  und  anderen  fest,  daß 
nicht  nur  die  Säuglingssterblichkeit  allein  am  Wachstum  unserer  Volks- 
ziffer nagt,  sondern  daß  auch  die  Sterblichkeit  des  Kleinkindes  eine 
beträchtliche  Höhe  aufweist.  Mögen  die  Krankheiten,  denen  das  Kind 
im  Spielalter  zum  Opfer  fällt,  auch  andere  sein  als  diejenigen,  die  den 
Säugling  bedrohen,  so  sind  nach  Seiffert  die  Sterblichkeitsverhältnisse 
des  Kleinkindesalters  doch  als  sehr  bedenklich  zu  bezeichnen.  Ins- 
besondere die  Infektionskrankheiten  fordern  viele  Opfer.  In  Preußen 
kommen,  auf  1000  Lebende  berechnet,  im  Zeitraum  1900—1901  206  Todes- 
fälle der  Altersstufe  0—1  Jahr,  23,9  der  Altersstufe  1—5  Jahr,  in  Bayern 

*)  G.  Seiffert:  Das  Kleinkind  und  seine  gesundheitliche  Fürsorge.  München  1916.  E.  Reinhardt. 

lü* 


148  Aloys  Fischer 


für  den  gleichen  Zeitraum  258,5  Todesfälle  im  Säuglingsalter,  20,7  im 
Spielalter. 

Die  gewaltigen  Verluste  an  Menschen  auch  noch  im  Spielalter  lassen 
es  (gerade  nach  diesem  Krieg)  als  dringend  notwendig  erscheinen, 
die  Kleinkinderfürsorge  auch  nach  der  hygienischen  Seite  hin  auszu- 
bauen. Und  wenn  auch  gewiß  nicht  alle  Kleinkinder  einer  hygienischen 
Fürsorge  bedürftig  sind,  weil  viele  von  gesunden  Eltern  stammen  und 
in  guter  Famihenpflege  sich  befinden,  das  öffentliche  Interesse  am 
Nachwuchs  erfordert  doch  grundsätzlich  eine  Gesundheitskontrolle  für 
jedes  Kleinkind,  und  je  nach  dem  Ergebnis  dieser  Kontrolle  die  Über- 
nahme der  gefährdeten,  mangelhaft  versorgten  und  aufsichtslosen  Kinder 
in  öffentUche  Gesundheitsfürsorge.  Wir  müssen  es  der  deutschen  Ärzte- 
schaft zu  Dank  wissen,  daß  sie  mit  immer  neuem  Nachdruck  das  Augen- 
merk auch  auf  den  gesundheitlichen  Kleinkinderschutz  lenkt  und  noch 
während  des  Krieges  bei  den  gesetzgebenden  Körperschaften  und  höchsten 
Reichsbehörden  die  hier  liegenden  Aufgaben  so  vordringhch  darzustellen 
wußte,  daß  die  Anregung  zur  „Deutschland -Kinderspende"  die  Mittel 
für  eine  großzügige  Fürsorge  flüssig  zu  machen  verspricht. 

Nach  diesen  Darlegungen  wird  mir  wohl  der  Vorwurf  erspart  bleiben, 
ich  verkannte  Notwendigkeit  und  Bedeutung  des  gesundheithchen 
Momentes  im  Kleinkinderschutz,  oder  ich  unterschätzte  die  Mitarbeit 
des  Arztes  auf  diesem  Gebiet  der  Bevölkerungspolitik,  wenn  ich  nun 
dazu  übergehe,  zu  zeigen,  daß  die  Kleinkinderfürsorge  wohl  mit  hygie- 
nischen Maßnahmen  beginnen  und  dauernd  durchsetzt  sein  müsse,  aber 
in  der  Erziehungsfürsorge  für  das  Kleinkind  gipfele.  Wie  ich 
an  anderer  Stelle ')  ausgeführt  habe,  ist  die  Zahl  der  Kinder,  der  geborenen 
und  am  Leben  erhaltenen,  nicht  das  einzig  ausschlaggebende  Moment 
im  Aufbau  des  Volkes;  es  kommt  ebenso  sehr  auf  die  Qualität,  die 
Leistungsfähigkeit  und  die  Bildungshöhe  des  Nachwuchses  an.  Unter 
diesem  Gesichtspunkte  gewinnt  der  Kindergarten  eine  neue,  vertiefte 
Bedeutung,  er  ist  nicht  bloß  als  eine  Wohlfahrtseinrichtung  für  die  minder- 
bemittelten Kreise  und  als  Ersatz  ganz  oder  teilweise  fehlender  Familien- 
erziehung sinnvoll,  sondern  berufen,  der  Mittelpunkt  der  öffent- 
lichen Kleinkinderfürsorge  zu  werden.  Es  läßt  sich  leicht  zeigen, 
daß  der  Kindergarten  die  beste  Möglichkeit  der  Gesundheitskontrolle 
gibt,  daß  sich  auch  die  gesundheitliche  Fürsorge  und  Beratung  am  besten 
nach  den  in  ihm  gemachten  Erfahrungen  und  Beobachtungen  durch- 
führen läßt.  Darüber  hinaus  bietet  der  Kindergarten,  wenn  er  den 
Vorurteilen  entrückt,  möglichst  gleichmäßig  von  den  verschiedenen 
Ständen  beschickt  wird  und  einigermaßen  gut  ausgestattet,  vor  allem 
mit  Spielplätzen  versehen  ist,  eine  die  häushche  Enge  und  Armut, 
Einseitigkeit  und  Nüchternheit  wohltätig  ergänzende  Lebenssphäre  eigener 
Art  und  Ordnung,  eine  Fülle  von  Anregungen  des  geistigen  Lebens,  von 
Spielen  und  Freuden,  die  Gelegenheit  zu  lebenswichtigen  sozialen  Ge- 
wöhnungen, eine  vorzügliche  Schule  körperlicher  Übung  und  Abhärtung, 
einen  unauffäUigen  Weg  zur  Verbreitung  vernünftiger  Erziehungsgrund- 
sätze in  den  Kreisen  der  Elternschaft.    Die  im  Krieg  begonnene  Ver- 

•)  A.  Fischer :  Aufgabe  und  Entwicklung  des  deutschen  Schulwesens  nach  dem  Krieg,  (Leipzig 
1916.    J.  Klinkhardt)  Seite  26  u.  t 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg  149 

mehrung  der  Kindergärten  wird  sicher  weiter  andauern,  die  innere  Um- 
bildung und  Verbesserung  der  Einrichtungen  und  des  Betriebes  nicht 
stillstehen.  Alle  Parteien,  die  Sinn  für  die  Aufgaben  der  Bevölkerungs- 
politik als  des  grundlegenden  Momentes  der  Sozialpolitik  besitzen, 
werden  für  Schutz  und  Pflege  der  Kindergärten  Mittel  flüssig  zu  machen 
trachten,  die  mittleren  und  großen  Städte,  vor  allem  in  den  Industrie- 
gegenden geradezu  gezwungen  sein,  dem  Ausbau  der  Bewahranstalten 
und  Kleinkinderschulen  erhöhte  Fürsorge  angedeihen  zu  lassen.  Sobald 
der  Gedanke  des  Kindergartens  als  Mittelpunktes  der  öffentlichen  Fürsorge 
für  das  Kleinkind  richtig  begriffen  ist,  werden  auch  die  Vorurteile  zer- 
gehen, die  bisher  seine  Entwicklung  aufgehalten  haben. 

Die  erste  Folge  der  neuen  Lage  wird  eine  schärfere  Differenzierung 
im  Kindergartenwesen  selbst  sein.  Heute  besteht  noch  in  weiten  Kreisen 
das  Bedenken,  daß  durch  den  Kindergarten  die  Kleinen  zu  früh  und  zu 
lang  der  Familie  entzogen  würden.  In  den  Kreisen  des  mittleren 
und  gehobenen  Bürgertums  scheut  man  sich,  die  Kinder  womöglich 
ganztägig  außer  Haus  zu  geben;  den  ganz  armen  Schichten,  die  Mann 
und  Frau  und  ältere  Kinder  gleichmäßig  ins  Erwerbsleben  schicken 
müssen,  ist  dagegen  mit  einem  Kindergarten  nicht  gedient,  der  die  Kinder 
nur  2 — 3  Stunden  beherbergt,  sie  vor  allem  nicht  verpflegt.  Solange  nur 
e  i  n  Kindergarten  oder  ein  Typ  von  Kindergärten  vorhanden  ist,  müssen 
einzelne  Gruppen  der  Besucher  notwendig  enttäuscht  werden.  Die  Zu- 
kunft wird  demgemäß  bewußt  zwischen  Kindergärten  im  engeren  Sinn 
unterscheiden,  die  von  den  Spielkindern  höchstens  2 — 3  Stunden  am 
Tag  besucht  werden,  zu  Spiel-  und  Erziehungzwecken,  während 
das  Kind  in  der  übrigen  Zeit  der  Familie  bleibt,  zum  Essen,  Schlafen, 
Spazierengehen,  Spielen,  und  zwischen  Kindertagesheimen,  Einrich- 
tungen, die  nach  Räumen,  Personen  und  Hilfsmitteln  eine  Verbin- 
dung von  Kindergarten,  Kinderspeiseanstalt  und  Hort  darstgllen,  den 
Kindern  zu  ganztägigem  Aufenthalt  offen  stehen,  ohne  sie  natür- 
lich den  ganzen  Tag  in  der  gleichen  Weise  zu  beschäftigen  wie  während 
der  2 — 3  Kindergartenstunden.  Leistungsfähige  Stadtgemeinden  sollten 
sich  mit  dem  Gedanken  von  Kinderheimen  oder  Kinderhäusern  großen 
Stils  vertraut  machen,  mit  der  Schaffung  zweckmäßiger  Bauten,  in  denen 
neben  den  Kindergarten-  und  Bewahrräumen  mit  ihren  Spielplätzen  auch 
Horte  und  Werkstätten,  Lesesäle  und  Arbeitszimmer  für  die  aufsichts- 
losen Schulkinder,  eine  Speiseanstalt  für  die  Armen,  Schlechtversorgten, 
Bäder  und  Turngelegenheiten  für  die  Körperpflege  untergebracht  wären. 
Wie  die  Differenzierung  und  Zusammenfassung  im  einzelnen  sich  aus- 
gestalten ließe,  ist  weniger  Sache  grundsätzlicher  Überlegung,  als  der 
örthchen  Bedürfnisse,  Möglichkeiten,  Mittel;  nur  auf  den  Grundgedanken 
kommt  es  hier  an,  die  Einordnung  des  bisher  isoliert  stehenden  Kinder- 
gartens in  das  System  der  öffentlichen  Kleinkinderfürsorge,  und  die 
damit  verbundene  Verschiedengestaltung  der  Kindergärten  selbst. 

Die  zweite  Folge  ist  m.  E.  die  Verbindung  der  heute  meist  in  das 
Sprechzimmer  von  Kinderärzten  verlegten  Beratungsstellen  mit  dem 
Kindergarten.  Eine  ärztlich  geleitete  Kleinkinderberatungsstelle  ist  auch 
in  Zukunft  unerläßlich;  es  genügt  nicht,  daß  die  Mutter  ihr  Kind  behält 
und  Zeit  für  seine  Pflege  hat;  sie  muß  auch  etwas  davon  verstehen 


150  Aloys  Fischer 


und  in  Zweifelsfällen  sich  Rat  holen  können.  Aber  wie  ich  ausgeführt 
habe,  es  sollte  sich  die  Beratung  nicht  auf  die  pflegerische  Seite  be- 
schränken; für  das  Spielalter  ist  auch  eine  Erziehungsberatung  unerläß- 
lich. Stellen,  die  dieser  pädagogischen  Aufgabe  sich  widmen,  gibt  es 
heute  höchstens  vereinzelt.  Eine  durchgreifende  Besserung  ist  m.  E. 
am  leichtesten  zu  erzielen,  wenn  an  die  Kindergärten  neben  die  ärzt- 
liche auch  die  pädagogische  Beratungsstelle  verlegt  wird.  Die  Leitung 
der  Kindergärten,  die  vielen  in  ihnen  arbeitenden  Kräfte  werden 
imstande  sein,  die  Aufgaben  der  Erziehungsberatung  zu  übernehmen; 
der  Kindergarten  bietet  selbst  schon  eine  Art  Anschaungsunterrickt  für 
die  Anregung,  Behandlung,  Leitung  der  Kinder,  zeigt  die  Spiele  und 
Hilfsmittel  für  die  Beschäftigung  des  Kleinkindes.  Daß  wir  auf  päd- 
agogische Beratungsstellen  in  der  Kleinkinderfürsorge  nicht  mehr  ver- 
zichten können,  beweisen  die  vielen  Stimmen,  die  eine  „Gesellschaft 
zur  Förderung  der  häuslichen  Erziehung"  >)  begrüßen,  beweisen  die  Eltern- 
abende und  Sprechstunden  unserer  Schulen,  wissen  nicht  zuletzt  die 
Kinderärzte,  denen  mangelhafte  und  falsche  Erziehung  im  Spielalter  als 
Ursache  vieler  Kinderkrankheiten,  namentlich  der  Kindernervenkrank- 
heiten nur  zu  bekannt  ist.  Vielleicht  ist  der  Ausdruck:  Verbindung 
einer  Erziehungsberatungsstelle  mit  dem  Kindergarten  ein  Pleonasmus, 
vielleicht  lebt  sich  der  Kindergarten  selbst  als  diese  Beratungsstelle  ein; 
es  kommt  nur  darauf  an,  daß  die  an  ihm  wirkenden  Kräfte  willig  und 
geschult  sind,  die  neuen  Aufgaben  zu  übernehmen,  und  daß  Ärzte  und 
Behörden  auf  diese  Seite  der  Kindergartentätigkeit  die  öffentliche  Auf- 
merksamkeit lenken. 

Daß  sich  die  Gesundheitskontrolle  über  die  7 — 8  Millionen  Kleinkinder 
des  Deutschen  Reiches  am  einfachsten  mit  den  Kindergärten  verbinden 
läßt,  habe  ich  schon  gesagt.  Man  braucht  nur  die  Aufnahme  eines 
Kindes  in,  den  Kindergarten  von  einer  vorhergehenden  Vorstellung  des 
Kindes  beim  Arzt  abhängig  zu  machen,  braucht  nur  die  ärztliche  Beratungs- 
stelle (mit  der  pädagogischen)  in  ihn  zu  verlegen.  Soweit  das  Eltern- 
haus nicht  in  der  Lage  ist,  die  entsprechende  Pflege  selbst  durchzuführen, 
wäre  in  den  Kinderheimen  die  beste  und  wirksamste  Fürsorge  für  das 
leibliche  Wohl  schon  geschaffen. 

Eine  letzte,  aber  keineswegs  bedeutungslose  Folge  der  Eingliederung 
des  Kindergartens  in  das  Ganze  der  öffentlichen  Kleinkinderfürsorge 
ist  die  Vermehrung  der  Mittel,  Kräfte  und  Versuche  zur  inneren  Aus- 
gestaltung. Schon  die  Räume  des  Kindergartens  sind,  wie  Einzelversuche 
zeigen,  einer  zweckmäßigen  Veränderung  und  Vermehrung  fähig;  nach 
den  besten  Erfahrungen,  von  denen  ich  die  des  Berliner  Pestalozzi-Fröbel- 
hauses  und  des  Münchener  Versuchskindergartens  vor  allem  hervorheben 
möchte,  muß  ein  Kindergarten  an  gesonderten  Räumen  mindestens  um- 
fassen :  einen  Warteraum  für  Angehörige,  eine  Kleiderablage  mit  Hand- 
waschgelegenheit,  das  oder  die  eigentlichen  Spielzimmer,  auch  diese 
nach  Möglichkeit  differenziert  in  Spiel-Lernzimmer  und  Spiel-Turnzimmer, 
einen  Spielplatz  im  Freien  mit  Gartengelegenheit.  Zu  diesen  Tages- 
räumen des  Kindergartens  müssen  in  den  Anstalten,  die  den  Kindern 


')  Siehe  diese  Zeitschrift  1916  u.  1917  (bes.  S.  503). 


Kindergarteiifragen  nach  dem  Krieg  151 

ganztägig  zur  Verfügung  stehen,  ein  Eßraum,  ein  Schlaf raum  für  den 
Nachmittagsschlaf  und  ein  Baderaum  zur  Verfügung  stehen.  In  ge- 
schlossenen Kinderheimen  hat  sich  in  der  letzten  Zeit  nach  dem  muster- 
giltigen  Vorgang  des  Viktoria- Augusta-Hauses  in  Berlin  ein  eigener 
Raum  für  ansteckungsverdächtige  Kinder  neben  den  Krankenzimmern 
als  äußerst  vorteilhaft  erwiesen.  Im  übrigen  bemerke  ich  ausdrücklich, 
daß  diese  Angaben  nur  Hinweise  sein  sollen  auf  die  Richtungen,  in 
denen  die  Örtlichkeit  des  Kindergartens  einer  Verfeinerung,  Vermehrung, 
zweckmäßigen  Durchbildung  unterworfen  werden  kann,  daß  sie  weit  davon 
entfernt  sind,  das  hier  Mögliche  zu  erschöpfen.  Während  die  Raum- 
gliederung und  Hygiene  der  Krippen  und  Kinderheime  beständig  fort- 
schreiten, lassen  die  Kindergärten  in  beiden  Hinsichten  sehr  viel  zu 
wünschen.  Als  „Armenanstalten"  glaubt  man  sie  vielfach  auch  so  arm- 
selig als  möglich  halten  zu  sollen,  nach  Raum  und  Einrichtung,  und 
übersieht  dabei  die  Gesundheitsgefahren  der  Nachlässigkeit,  des  Schmutzes, 
der  Raumknappheit.  Wie  die  räumlichen  Momente,  können  auch  die 
Einrichtung  und  Ausstattung,  Mobiüar,  Fußbodenbelag,  Wandbehang, 
Anschauungs-,  Beschäftigungs-  und  Spielmittel  vermehrt,  verfeinert 
werden.  Im  letzten  Jahrzehnt  hat  es  nicht  an  ausgezeichneten  Versuchen 
gefehlt,  mit  Hilfe  kinderpsychologischer  und  kinderphysiologischer  Er- 
fahrungen die  dinglichen  Mittel  des  Kindergartens  zu  veredeln  und  zu 
vertiefen.  Namentlich  wurde  Bildungsgehalt  und  geistige  Ergiebigkeit 
der  Spielgaben  gesteigert.  Wer  heute  einen  guten  Kindergarten  besucht 
und  Erfahrungen  vor  30  Jahren  damit  vergleicht,  staunt  über  die  Mannig- 
faltigkeit kindergärtnerischer  Arbeitsmittel  und  die  Freibeweglichkeit  des 
einzelnen  Kindes. 

Auch  die  schwierige,  zwischen  Haus  und  Kindergarten,  Kindergarten 
und  Schule  strittige  Frage  des  „Stoffes"  ist  in  ein  neues  Stadium  der 
Erörterung  getreten.  Wir  lernen  immer  genauer  unterscheiden,  was 
der  intimsten  Erziehungssphäre,  dem  Gemeinschaftsleben  von  Mutter 
und  Kind  im  Schoß  der  Familie  vorbehalten  werden  muß,  was  erst  die 
strengere  Arbeitsgemeinschaft  der  Schule  in  Angriff  nehmen  soll.  Aller- 
dings ist  auf  diesem  Gebiet  des  „Lehrplans"  der  Kindergärten  noch 
vieles  im  Fluß ;  eine  allgemeine  Hebung  der  Einrichtung  kann  nur  von 
Nutzen  sein  auch  für  diese  innere  Arbeit. 

3. 

Der  Gedanke,  den  Kindergarten  in  den  Mittelpunkt  der  öffentlichen 
Kleinkinderfürsorge  zu  stellen,  kann  nicht  vollständig  verstanden  und 
durchgeführt  werden  ohne  Lösung  einer  anderen,  seit  Jahren  brennen- 
den Frage :  nach  der  Vorbildung,  Stellung  und  Lebenshaltung  der  Kinder- 
gärtnerin. Die  Bildung  der  Kindergärtnerin  ist  eine  der  Voraussetzungen 
eines  guten  Kindergartens,  wie  umgekehrt  das  Ansehen  der  ganzen 
Einrichtung,  Kindergarten  genannt,  eine  der  Voraussetzungen  der  Standes- 
hebung der  Kindergärtnerin  ist.  Es  ist  unrichtig  und  aussichtslos,  den 
Kindergärtnerinnen  stand  heben  zu  wollen  —  etwa  durch  eine  neue 
Studienvorschrift  — ,  wenn  der  Kindergarten  als  ganze  Einrichtung  mit 
dem  Makel  Armenangelegenheit  behaftet  bleibt;  es  ist  unrichtig,  aus 
bloßen  Standesrücksichten  die  Gedanken  zur  Lösung  des  Bildungsproblems 


152  Aloys  Fischer 


der  Kindergärtnerin  zu  entwickeln,  ohne  auf  die  soziale  und  pädagogische 
Aufgabe  des  Kindergartens  selbst  hinzuschauen. 

Daß  in  der  öffentlichen  Schätzung,  der  Stellung  und  Besoldung  der 
Kindergärtnerin  heute  vielfach  geradezu  unanständige  Motive  und 
Tendenzen  zum  Ausdruck  kommen,  ist  bekannt.  In  der  Familie  wird 
sie  mitunter  dem  häuslichen  Dienstboten  hart  nahegerückt,  in  der  öffent- 
lichen Erziehungs-  und  Schulverwaltung  fast  ausnahmslos  unter  die 
Aufsicht  und  Amtsgewalt  anderer,  meist  der  Kleinkindererziehung  und 
Kinderfürsorge  fernstehender  Behörden  gestellt.  Die  Kindergärtnerin 
kämpft  deshalb  einen  Kampf,  ähnlich  dem  der  Volksschullehrerschaft, 
wenn  auch  die  Fronten  verschieden  sind,  und  sie  führt  diesen  Kampf 
mit  ganz  entsprechenden  Mitteln.  Wie  die  Volksschullehrerschaft  meint 
und  hofft,  durch  Beseitigung  ihrer  gesonderten  Vorbildung,  durch  den 
Zugang  zur  höheren  Schule  und  Hochschule,  durch  Hebung  ihrer  Vor- 
bildung also,  die  Unterschiede  in  Ansehen  und  Besoldung  zu  überwinden, 
die  sie  heute  noch  vielfach  von  den  wissenschafthchen  Lehrern  der 
höheren  Schulen  trennen,  so  ist  auch  in  den  Kreisen  der  Kindergärt- 
nerinnen der  Glaube  lebendig,  durch  eine  Bildungsauslese  das  Ansehen 
und  die  Erwerbsbedingungen  ihres  Standes  zu  verbessern.  Bei  der  un- 
leidlich äußerlichen  Art  der  Schätzung  nach  Schulen  und  Berechtigungen, 
bei  der  unsachlichen  Trennung  von  Mensch  und  Aufgabenkreis,  an  der 
wir  Deutschen  leiden,  ist  diese  Richtung  des  Kampfes  der  Kindergärt- 
nerinnen verständhch;  ob  sie  im  Interesse  des  Kindergartens  selbst  liegt, 
darf  fraglich  erscheinen.  Für  alle  Erzieher  und  Lehrer  kann  das 
Bildungsproblem  im  Grunde  nur  lauten:  „Welche  Vorbildung  und  Berufs- 
bildung ist  die  sachlich  zweckmäßigste?*  Freilich  ist  eine  Lösung  der 
schwebenden  Fragen  von  diesem  Standpunkt  aus  eigentümlich  abstrakt; 
sie  übersieht  geflissentlich,  daß  sich  Erziehungseinrichtungen  im  Gesamt- 
leben einer  bestimmten  Gesellschaft  geschichthch  entwickelt  haben,  und 
daß  vom  Boden  bestehender,  gesellschaftlicher  Anschauungen  aus  die 
rein  sachlichen  Forderungen  doch  unsachlich  werden  können,  wenn  sie 
nämlich  nicht  zugleich  dem  Stand  die  für  seine  Erziehungsaufgabe  er- 
forderliche Autorität  gewährleisten.  Man  wird  deshalb  gut  tun,  vorher 
zu  untersuchen,  wer  sich  ändern  soll:  die  bestehende  traditionelle 
Schätzungsweise  oder  die  Bildungseinrichtungen.  In  der  Bildungsfrage 
der  Kindergärtnerinnen  werden  wohl  beide  Teile  umlernen  müssen,  die 
Gesellschaft  im  ganzen  und  der  einzelne  Stand  der  Kindergärtnerinnen. 

Als  Symptom  und  zugleich  Weg  dieser  geforderten  Gesinnungsänderung 
'möchte  ich  gerade  die  Umbildung  des  Kindergartens  selbst  nochmals 
betonen,  seine  Entwicklung  aus  der  Abgeschlossenheit  einer  bloßen 
Wohlfahrtseinrichtung  für  Arme  in  den  Mittelpunkt  der  öffent- 
lichen Kleinkinderfürsorge.  Es  kann  nicht  mehr  verkannt  werden,  daß 
Kleinkinderfürsorge  und  alles,  was  mit  ihr  zusammenhängt,  sich  steigen- 
der Wertschätzung  erfreut,  und  es  muß  nun  dafür  gesorgt  werden,  im 
öffentlichen  Bewußtsein  den  Kindergarten  als  den  wichtigsten  Hebel 
dieser  Fürsorge  festzulegen,  um  auch  dem  Ansehen  der  Kindergärtnerin 
den  gewünschten  Aufschwung  zu  geben.  Dieser  Weg  zur  Hebung  des 
Standes  der  Kleinkindererzieherin  scheint  mir  erfolgreicher  als  Erhöhung 
ihrer  Vorbildung. 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg  153 


Selbstverständlich  ist  damit  nicht  gesagt,  daß  die  bisher  übliche  Aus- 
bildung der  Kindergärtnerinnen  in  jedem  Betracht  genügend  und  gut 
ist;  wie  der  Kindergarten  selbst  ist  auch  die  Ausbildung  für  die  in  ihm 
tätigen  Personen  veränderlich;  es  lohnt  sich  wohl,'über  die  Anforderungen 
nachzudenken,  die  der  Kindergarten  der  nächsten  Zukunft  an  Leiterin 
und  Gärtnerin  stellt,  und  das  Problem  der  Ausbildung  unter  diesem  Ge- 
sichtswinkel kurz  zu  betrachten. 

Der  bisher  übliche  Bildungsgang  der  Kindergärtnerin  war  in  den  ver- 
schiedenen Bundesstaaten  des  Reiches  verschieden.  In  Preußen i) 
z.  B.  waren  seit  der  Neuordnung  des  höheren  Mädchenschulwesens  (durch 
die  Verfügungen  des  Unterrichtsministeriums  vom  6.  Febr.  1911,  erschienen 
in  der  Februarnummer  1911  des  „Zentralblatts  für  Unterrichtsverwaltung'* 
und  vom  16.  Aug.  1911)  vorzugsweise  zwei  Wege  gangbar:  der  Besuch 
eines  anerkannten  Fachseminars  (Kindergärtnerinnenseminars)  mit  1^2- 
jähriger  Dauer  und  staatlicher  Abschlußprüfung  oder  der  Besuch  einer 
Frauenschule  mit  angegliederten  anerkannten  Kursen  zur  Ausbildung 
von  Kindergärtnerinnen.  Die  Dauer  dieses  Bildungsgangs  betrug  zwei 
Jahre.  Die  Vorbildung  für  den  Eintritt  in  ein  Kindergärtnerinnenseminar 
war  m.  W.  nicht  einheitlich  geregelt ;  es  mußte  nur  bei  der  schulwissen- 
schafthchen  Aufnahmeprüfung  (Vorprüfung)  der  Nachweis  einer  ent- 
sprechenden allgemeinen  Bildung  geliefert  werden;  wo  sich  die  Be- 
werberin diese  Bildung  erworben  hatte,  ist  m.  W.  nicht  in  den  Zulassungs- 
bedingungen normiert.  Eine  neunstufige  Mittelschule,  eine  höhere  Mädchen- 
schule, ein  Lyzeum  waren  gleichmäßig  als  Vorbildung  zulässig;  auch  der 
Fall,  daß  sich  die  Bewerberin  nach  Erfüllung  der  Volks-  und  Fort- 
bildungsschulpflicht und  geeigneter  Selbstvorbereitung  oder  privater 
Ergänzung  ihres  Bildungsgangs  zu  dieser  Vorbildung  meldete,  war  nach 
dem  Wortlaut  der  Bestimmungen  und  den  Gewohnheiten  der  Praxis 
nicht  ausgeschlossen.  Vorgeschrieben  war  nur  die  Altersgrenze  (voll- 
endetes 16.  Lebensjahr)  und  die  Vorprüfung  selbst.  In  Bayern  bestand 
vor  Einrichtung  der  Frauenschulen  keine  einheitliche  Regelung;  es  gab 
einige  städtische  und  private  Kindergärtnerinnenseminare,  meistens  von 
früheren  Schülerinnen  höherer  weiblicher  Unterrichtsanstalten  besucht; 
Kindergärten  in  Verbindung  mit  Klöstern  bildeten  ihre  Gärtnerinnen  selbst 
aus.  Die  Ministerialbestimmungen  vom  8.  April  1911  regeln  das  höhere 
Mädchenschulwesen  im  allgemeinen  nach  zwei  Wegen:  der  eine  führt 
von  dem  gemeinsamen  Unterbau  der  allgemeinen  höheren  Mädchen- 
schule über  realgymnasiale  oder  humanistische  Kurse  zur  Universität, 
der  andere  über  die  Frauenschule  zur  Ausbildung  in  bestimmten  weib- 
lichen Berufen,  namentlich  dem  der  Kindergärtnerin  und  Erzieherin. 
Die  Abzweigung  der  Gymnasialkurse  beginnt  am  Schlüsse  der  dritten 
Klasse  der  höhere  Mädchenschule  (vollendetes  13.  Lebensjahr);  sie  sind 
auf  sechs  Jahre  berechnet;  ihre  Reifeprüfung  verleiht  den  19jährigen 
Schülerinnen  im  Prinzip  die  gleichen  Berechtigungen,  wie  die  Reifeprüfung 
der  neunklassigen  höheren  Schüler  der  männlichen  Jugend.     Die   Ab- 


')  Zusammenstellung  der  ■wichtigsten  Vorschriften  über  den  Bildungsgang  der  Kindergärtnerin 
bietet  Marie  Wandel:  Auskunftsbuch  für  Lehrerinnen  mit  Einschluß  der  Kindergärtnerinnen.  Aus- 
gabe II  für  Kindergärtnerinnen.    Braunscbweig  und  Leipzig  1913.     H.  Wollermann. 


154  Aloys  Fischer 

zweigung  der  Frauenschule  beginnt  nach  der  sechsten  (Schluß-)  Klasse 
der  höheren  Mädchenschule,  nach  dem  vollendeten  16.  Lebensjahr;  die 
Dauer  der  Frauenschule  ist  auf  zwei  Jahre  festgesetzt;  sie  umfaßt  eine 
allgemeine,  haus  wirtschaftlich  eingestellte  Abteilung,  eine  Abteilung  für 
Kinderpflege,  eine  Abteilung  für  Kindergarten  und  Kindererziehung. 
Während  das  erste  Jahr,  die  allgemeine  Abteilung,  keine  Berufsausbildung 
vermittelt,  sondern  auf  die  Stellung  der  Mädchen  als  Hausfrauen  bzw. 
auf  den  Eintritt  in  ein  Hauswirtschaftslehrerinnenseminar  oder  in  eine 
Fürsorgeschwesternausbildungsanstalt  vorbereitet,  sind  mit  den  beiden 
anderen  Fachabteilungen  Prüfungen  verbunden,  nämlich  das  Kinder- 
gärtnerinnenexamen bzw.  die  Erzieherinnenprüfung. 

Ihrem  Stoff  und  Inhalt  nach  umfaßt  die  Ausbildung  der  Kindergärtnerin 
bisher  außer  einer  Reihe  sogenannter  allgemeiner  Bildungsfächer  (Religion, 
Deutsch,  Geschichte,  Bürgerkunde,  Zeichnen,  Handarbeit,  Musik)  vor 
allem  theoretische  Pädagogik,  Kindergartenpraxis,  Beschäftigungslehre 
für  den  Kindergarten,  Kinderturnen  und  Turnen  und  Kindergartenliteratur. 
Der  Schwerpunkt  liegt  überall  in  der  praktischen  Anleitung  zur  Arbeit 
im  Kindergarten  selbst. 

Eine  erste  Erhöhung  der  Bildung  über  diesen  hier  in  einem  Durch- 
schnitt gezeichneten  Stand  bedeutet  die  preußische  Trennung  der  Jugend- 
leiterin von  der  Kindergärtnerin.  Die  Jugendleiterin  ist  berechtigt  zur 
Leitung  mehrgliederiger  Kindergärten,  Horte,  Kinderheime  und  ähnlicher 
Anstalten  zur  Pflege  und  Erziehung  der  Jugend  außerhalb  der  Schulzeit, 
vor  allem  aber  auch  seit  der  Kriegsentwicklung  zur  Mitarbeit  in  der 
öffentlichen  Jugendpflege.  Ein  Urteil  über  die  praktische  Bewährung 
dieser  erst  kurz  wirksamen  Unterscheidung  ist  noch  kaum  möglich; 
ihre  Aufnahme  in  den  beteiligten  Kreisen  ist  eine  geteilte,  sie  schafft 
im  Stand  der  Kindergärtnerinnen  eine  Art  Gegenstück  zu  der  norddeutschen 
Trennung  von  „Lehrern"  und  „Oberlehrern". 

An  sich  fordert  die  Leitung  eines  Gesamtkindergartens,  namentüch 
in  Großstädten,  oder  die  eines  vollen  Tagesheims  für  Kleinkinder  gewiß 
manche  Charaktereigenschaften,  Kenntnisse  und  Erfahrungen,  die  in  der 
bisherigen  Kindergärtnerinnenausbildung  gar  nicht  oder  nur  gelegentlich 
gepflegt  worden  sind.  Und  ganz  außer  allem  Zweifel  steht,  daß  die 
Aufgaben  der  Jugenpflege,  die  freilich  selbst  noch  immer  schwankend 
sind,  nicht  von  einer  Kindergärtnerin  im  bisher  üblichen  Sinn  bewältigt 
werden  können,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Jugend- 
pflege sich  vorzugsweise  an  das  volksschulentlassene  Alter  wendet. 
Anlässe  zur  Differenzierung  der  Kräfte,  die  auf  dem  Gebiet  der  Klein- 
kindererziehung, Kleinkin'derfürsorge  und  Gesundheitspflege  arbeiten, 
bestehen  gewiß  und  reichlich;  die  Differenzierung  der  Personen  ist  in 
Zukunft  ebenso  notwendig  wie  die  der  Anstalten  selbst  und  ihrer  Räume. 
Als  ein  Teil  in  diesem  Vorgang  mag  auch  die  Unterscheidung  zwischen 
Kindergärtnerin  und  Jugendleiterin  verstanden  und  gewürdigt  werden. 

Die  Vorbildung  einer  Jugendleiterin  besteht  nach  den  preußischen 
Plänen  im  Besuch  einer  neunklassigen  höheren  Mädchenschule,  einer 
Frauenschule  mit  Kindergartenabteilung  bzw.  eines  Kindergärtnerinnen- 
seminars, und  mindestens  vierjähriger  Praxis  im  Kindergarten.  Die 
Lehrpläne  zur  Ausbildung  selbst  sind  m.  W.  noch  nicht  einheitlich;  im 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg  155 

allgemeinen  muß  die  künftige  Jugendleiterin  noch  ein  Jahr  in  einem 
Fachseminar  studieren;  die  preußischen  Vorschriften  betonen  als  Lehr- 
stoffe: Pädagogik,  Berufskunde,  Gesundheitslehre,  Jugend-  und  Volks- 
literatur, Unterrichtslehre,  ModeUieren,  Ausschneiden  und  Zeichnen, 
Handfertigkeit.  Als  unterste  Altersgrenze  für  die  Zulassung  zur  Jugend- 
leiterinnenprüfung ist  das  vollendete  19.  Lebensjahr  festgelegt. 

Aus  der  Erörterung  der  Trennung  von  einfacher  Kindergärtnerin  und 
Jugendleiterin  einerseits,  aus  den  vorher  schon  wirksamen  Bestrebungen 
auf  Hebung  des  Standes  der  Kindergärtnerinnen  anderseits  sind  die 
neueren  Forderungen  hervorgewachsen:  allgemein  soll  in  Zukunft  der 
Besuch  einer  neunklassigen  höheren  Mädchenschule  die  schulwissen- 
schaftliche Vorbildung  für  Kindergärtnerinnen  bilden.  In  Frauenschulen 
und  FachseminarAi  für  Kindergärtnerinnen  soll  dann  ein  zwei-  bis  drei- 
jähriger Berufsbildungsgang  folgen. 

Die  generelle  Regelung  der  Kindergärtnerinnenbildung  in  diesem  Sinn 
würde  eine  Reihe  von  Konsequenzen  für  die  künftige  Zusammensetzung 
des  Standes  einschließen.  Die  Kosten  einer  höheren  Mädchenschule 
würden  die  Auslese  zugunsten  der  bemittelten  Schichten  beschränken. 
Es  fehlt  nicht  an  Stimmen,  die  darin  gerade  einen  Vorteil  und  Segen 
für  den  Kindergarten  erblicken.  Die  höhere  Haustochter  mit  ihrer  durch- 
schnittlich guten  Kinderstube,  ihren  besseren  Manieren,  ihrer  reineren 
Sprechweise  soll  im  Kindergarten  gerade  um  dieser  Eigenschaften  willen 
vorzüglich  amPlatz  sein,  jedenfalls  den  Vorzug  vor  dem  Mädchen  verdienen, 
das  mit  einfacher  oder  gehobener  Volks-  und  Fortbildungsschulbildung 
durch  langjährige  Mitarbeit  rein  praktisch  in  den  Beruf  der  Kinder- 
gärtnerin hineinwächst.  Führende  Persönlichkeiten  stehen  nicht  an, 
ausdrücklich  zu  gestehen,  daß  ihnen  eine  Hebung  des  Standes  der  Kinder- 
gärtnerinnen nur  möglich  scheint,  wenn  die  Schicht,  aus  der  er  sich 
rekrutiert,  nach  oben  rückt;  das  Mittel,  dies  zu  erreichen,  ist  in  ihren 
Augen  der  Pflichtbesuch  einer  neunklassigen  höheren  Mädchenschule 
als  Vorbedingung  für  den  Eintritt  in  das  Kindergartenseminar.  Ohne 
die  Erhöhung  oder  Vertiefung  der  Kindergärtnerinnenbildung  selbst  an- 
greifen zu  wollen,  möchte  ich  diesen  Erwägungen  doch  zwei  Bedenken 
in  den  Weg  legen:  das  erste  rein  soziologischer  Natur,  das  zweite  päd- 
agogischer Erfahrung  entsprungen.  Wir  lernen  seit  Jahrzehnten  mit  einer 
wachsenden  Zahl  von  Mädchen  rechnen,  die  aus  guten  Ki'eisen  stammend, 
namentlich  aus  Familien  von  höheren  Beamten,  höheren  Angestellten 
in  der  Privatwirtschaft,  keine  Aussicht  haben,  in  Ehen  versorgt 
zu  werden,  oder  auf  die  Versorgungsehe  verzichten.  Das  Bestreben 
der  gehobenen  Stände,  für  ihre  Haustöchter  befriedigende  Berufe  zu 
schaffen  und  womöglich  zu  privilegieren,  ist  die  verständlichste  Schutz- 
maßnahme. In  diesem  Kampf  um  anständige,  befriedigende  und  ge- 
nügend entlohnte  Berufe  für  die  höhere  ledige  Haustochter  haben  in 
der  letzten  Zeit  auch  die  pädagogischen  Berufe  der  Frau  an  Breite  ge- 
wonnen; die  Statistik  über  die  Herkunft  der  Volksschullehrerin  gibt 
darüber  fast  eindeutige  Aufschlüsse.  Als  kaufmännisch  Angestellte 
ist  nicht  jeder  Haustochter  die  standesgemäße  Arbeit  und  Behandlung 
sicher;  für  akademische  Studien  und  die  freien  akademischen  Berufe 
bestehen  vielfach  noch  Schranken,  außerdem  ist  der  akademische  Weg 


X56  Aloys  Fischer 

zur  beruflichen  Selbständigkeit  für  ein  Mädchen  lang,  kostspielig,  mit 
Unsicherheiten  behaftet.  Es  wird  in  solchem  Zusammenhang  verständ- 
lich, wenn  die  Kindergärtnerin  als  ein  Berufsziel  auch  für  die  Tochter 
der  höheren  Stände  immer  mehr  an  Beliebtheit  gewinnt.  Die  Arbeit 
der  Kindergärtnerin  ist  der  weiblichen  Anlage  und  Interessensphäre 
gemäß ;  in  gemeindlicher  oder  staatlicher  Anstellung  kann  ihr  auch  die 
wünschenswerte  wirtschaftliche  Sicherheit  gewährleistet  oder  geschaffen 
werden.  Ist  erst  der  Stand  nach  seiner  Zusammensetzung  einigermaßen 
gesellschaftlich  auf  der  Höhe,  so  kann  ein  ernsthaftes  Bedenken,  die 
höhere  Haustochter  als  Kindergärtnerin  zu  versorgen,  nicht  wohl  mehr 
bestehen. 

Unbefangene  Beurteiler  der  Entwicklung  unserer  Frauenberufe  konnten 
sich  seit  längerer  Zeit  dem  Eindruck  nicht  entziehen^  daß  an  der  Neu- 
regelung der  Kindergärtnerinnenbildung  auch  derartige  Standeswünsche 
und  gesellschaftliche  Bedürfnisse  ihren  Anteil  besitzen,  zumal  sie  von 
Seiten  der  Kindergärtnerinnen  selbst  nicht  abgelehnt  oder  zurückgewiesen 
werden.  Die  Frage,  ob  gehobene  soziale  Herkunft  und  bessere  wissen- 
schaftliche Schulbildung  die  Neigung,  sich  mit  dem  Kleinkind,  gerade 
mit  dem  armen,  vernachlässigten  Kleinkind  abzugeben ,  fördern,  ob  sie 
die  Gesinnung  der  Kindergärtnerin  zu  erzeugen  vermögen,  trat  dabei 
doch  merklich  in  den  Hintergrund.  Und  doch  wird  niemand,  der  die  Arbeit 
des  Kindergartens  nicht  bloß  aus  gelegentlichen  Besuchen,  sondern  genau 
kennt,  im  Zweifel  darüber  sein,  daß  die  Erziehung  der  Kleinkinder 
namentlich  in  den  öffentlichen  Anstalten  außer  fachlich -technischer 
Schulung  vor  allem  reine  Liebe  zu  den  Kindern,  zu  der  Erziehungsarbeit 
als  solcher,  Opferkraft,  physische  Leistungsfähigkeit  und  —  ich  kann 
es  nicht  unterdrücken  —  eine  gewisse  Bescheidenheit  der  Ansprüche 
an  das  Leben  geradezu  fordert.  Ich  leugne  die  Vorteile  nicht,  die  eine 
gute  Abstammung  einer  Kindergärtnerin  geben  können,  aber  ich  glaube 
immer  wieder  beobachtet  zu  haben,  daß  sich  Mädchen  solcher  Vorbildung 
und  Herkunft  leicht  „zu  gut"  für  die  tägliche  Arbeit  des  Kindergartens 
dünken  und  nach  ein  paar  Jahren  über  sie  hinausstreben.  Allenfalls 
scheint  ihnen  die  L  e  i  t  u  n  g  eines  Kindergartens  mehr  zu  entsprechen.  Mit 
ihrer  Vorbildung  stehen  ihnen  ja  auch  andere  Wege  offen,  Wege  zu  unab- 
hängigerem, reicherem  und  angesehenerem  Erwerb.  Es  ist  selbstver- 
ständHch  begrüßenswert,  wenn  der  weibliche  Nachwuchs  auch  der  höheren 
Stände  in  die  Kindergartenarbeit  geht,  aber  es  wäre  m.  E.  ein  Unglück, 
wenn  den  Mädchen  aus  einfachen  Verhältnissen  der  Weg  zu  ihr  über- 
mäßig erschwert  oder  gar  verlegt  würde.  Das  ist  der  erste  Punkt,  auf 
den  ich  mit  allem  Nachdruck  bei  der  Erörterung  der  Vorbildungsfrage 
immer  wieder  aufmerksam  zu  machen  für  meine  Pflicht  halte. 

Dazu  kommt  ein  zweiter  Gesichtspunkt:  Während  der  Kriegszeit 
mußte  vielerorts  mit  freiwilligen  Hilfskräften  gearbeitet  werden;  ich 
überblicke  selbstverständlich  nicht  alle  dabei  gemachten  Erfahrungen; 
die  Auslese  für  diesen  Hilfsdienst  in  Krippen,  Horten,  Kindergärten  ist 
auch  nicht  überall  gleich  gewesen.  Aber  im  großen  scheint  mir  doch 
eines  festzustehen,  daß  Mädchen  mit  Volksschulbildung  und  praktischer 
Erfahrung  eine  für  Pflege-  und  Erziehungsberufe  geradezu  bewunderns- 
werte  instinktive  Anstelligkeit   gezeigt   haben.     Ihre   frühe   Vertraut- 


Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg  X57 


heit  mit  den  Wirklichkeiten  des  Lebens  gleicht  die  Mängel  theoretischer 
Vorkenntnisse  leicht  aus.  Auch  ist  der  Abstand  zwischen  ihrer  und 
der  Welt  ihrer  Schutzbefohlenen  kein  so  großer;  sie  können  die  häus- 
lichen Verhältnisse  sowohl  leichter  überblicken,  verstehen  und  berück- 
sichtigen als  auch  beeinflussen.  Der  pflegerische  und  pädagogische 
Genius  steckt  nicht  in  der  Erkenntnis,  auch  wenn  er  ihrer  nicht  ent- 
raten  kann.  Ich  glaube  deshalb,  daß  wir  auch  in  Zukunft  nicht  darauf 
verzichten  sollen,  tüchtigen  Mädchen  der  einfachen  Schicht  mit  guter 
Schulbildung  den  Weg  zur  Arbeit  im  Kindergarten  durch  praktische 
Mitarbeit,  durch  eine  Art  Lehrzeit  also,  offen  zu  halten;  daß  wir  dies 
tun  sollen  weniger  im  Interesse  der  Versorgung  dieser  Mädchen,  als  im 
Interesse  der  Kinder  und  Kindergärten  selbst.  Das  pädagogische  Talent, 
Lust  und  Liebe  zu  den  Kindern,  Anstelligkeit  und  Opfergesinnung  und 
die  oben  berührte  Bescheidenheit  der  Lebensansprüche  machen  auch  ohne 
viel  „wissenschaftlichen  Unterricht",  ohne  Fremdsprache,  Physik,  Chemie, 
Verwaltungsrecht  und  Bürgerkunde  aus  diesen  Mädchen  tüchtige  Kinder- 
gärtnerinnen. 

Will  man  diese  uns  notwendigen  Naturgaben  nicht  ungenutzt  ver- 
kümmern lassen,  so  gilt  es,  die  Frage  der  Vorbildung  und  Berufsbildung 
der  Kindergärtnerin  möglichst  vielfältig  durchzuführen  und  insbesonders 
zwischen  der  Kindergärtnerin  als  solcher,  der  Leiterin  eines  Kinder- 
gartens, der  Vorsteherin  eines  Tagesheims  für  Kinder,  der  Aufsichts- 
kraft  und  der  Jugendpflegerin  schärfer  zu  unterscheiden. 

Die  geschilderte  Ausbildung  innerer  Unterschiede  der  Einrichtungen 
für  die  Pflege  und  Erziehung  des  Kleinkindes,  sowie  für  die  außerhäusliche 
Betreuung  auch  noch  der  Schulkinder  wird  künftig  dazu  zwingen,  auch 
in  der  Ausbildung  der  dafür  sich  vorbereitenden  Kräfte  Unterschiede 
zu  machen.  Die  Kindergärtnerin  wird  wohl  noch  der  namengebende, 
aber  nicht  mehr  einzige  Typ  sein;  die  Kindergartenleiterin,  die  Gärtnerin, 
die  Aufsichtskraft  im  Kindertagesheim,  die  Tagesheimleiterin,  die  Jugend- 
pflegerin, vielleicht  auch  die  Schulpflegerin  werden  sich  auf  den  Grund- 
lagen der  Kindergärtnerinnenausbildung  nach  und  nach  einbürgern, 
mindestens  in  der  Kleinkinderpflege  der  großen  und  mittleren  Städte. 
Und  ist  einmal  der  vereinheitlichende  Schritt  von  der  Erziehung  zur 
Fürsorge,  von  der  pädagogischen  Einrichtung:  Kindergarten  zu  dem  um- 
fassenden Ganzen :  organisierte  Kleinkinderpflege  gemacht,  so  stehe  ich 
nicht  an  zu  erwarten,  daß  auch  die  für  ländliche  Verhältnisse  gedachten 
Wanderpflegerinnen,  Kreispflegerinnen,  Fürsorgeschwestern  (oder  wie 
die  öffentlichen  Helferinnen  der  Kinderpflege  sonst  heißen  mögen)  eine 
pädagogische  Ausbildung  ungefähr  wie  Kindergärtnerinnen  und  Hort- 
nerinnen anstreben  und  nutzen  werden. 

Hält  man  sich  die  mannigfachen  Bedürfnisse  der  Gesellschaft  vor 
Augen,  denen  die  Kleinkinderpflege  gerade  auch  nach  der  Erziehungs- 
seite genügen  soll,  denkt  man  an  die  großen  Zahlen  der  dafür  erforder- 
lichen vorzubildenden  Kräfte,  und  ist  man  schließlich  davon  überzeugt, 
daß  die  Kleinkinderpflege  künftig  stärker  als  bisher  unter  staatliche 
Vereinheitlichung,  Regelung  und  Förderung  kommen  muß,  so  bleibt  für 
die  Frage  der  Kindergärtnerinnenbildung  nur  ein  Weg  aussichtsreich: 
die  Schaffung  staatlicher  Kindergartenseminare. 


158  Aloys  Fischer 

Der  augenblickliche  Zustand  der  Dinge  erinnert  lebhaft  an  jene  Zeiten, 
in  denen  auch  die  Ausbildung  des  Volksschullehrers  uneinheitlich,  un- 
gleich und  im  Ganzen  dürftig  war,  weil  der  Staat  seine  Aufgaben  auf 
dem  Gebiet   der  Lehrerbildung  noch  nicht  begriffen  hatte.     Wie  wir 
über  die  Zustände  der  Voraufklärungszeit  hinauswachsen  mußten  und 
namentlich  staatliche  Lehrerseminare  nötig  hatten,  um  die  Volksschule 
zu  bekommen  und  den  staathchen  Schulzwang  vom  Papier  der  Verord- 
nung in  die  Wirklichkeit  des  Volkslebens  überzuleiten,  so  wird  auch 
der  Ausbau  der  Kleinkindererziehung  erst  dann  den  wünschenswerten 
Schritt  annehmen,  wenn  die  Erzieherin  des  Kleinkindes  in  staatlichen 
Anstalten  ihre  zweckmäßige  Berufsbildung  suchen  und  erhalten  kann. 
Ich  stelle  diese  Forderung  hier  nicht,  um  die  bestehenden  Einrichtungen 
herabzusetzen;  ihre  Verdienste  sind  unbestreitbar,  ihre  Art  kann  viel- 
fach benutzt  werden  zum  Aufbau  des  Kommenden.    Die  Forderung  ist 
begründet  in  den  völlig  anders  gewordenen  gesellschaftlichen  Verhält- 
nissen und  in  den  Aussichten,  denen  Deutschland  entgegen  wächst ,  in 
dem  Wunsch,  auch  dem  Stand  der  Kindererzieherinnen  die  Würde  und 
Lebenshöhe  zu  sichern,  ohne  die  ihre  Arbeit  durch  die  Gleichgültigkeit, 
das  Mißtrauen,  die  Erwerbsrücksichten  um  ein  gut  Teil  des  Erfolges 
gebracht  wird.    Der  Staat  kann  sich  m.  E.  nicht  länger  mehr  der  Ver- 
pflichtung entziehen,  das  Kindergartenwesen  als  wichtigen  Bestandteil 
der  Kleinkinderpflege  in   seine  Fürsorge  zu  nehmen.    Ein  Zwang  zur 
Errichtung  von  Kindergärten,  zur  Beschickung  derselben  kann  selbst- 
verständlich nicht  befürwortet  werden;  ein  Kindergartenzwang  nach  Art 
des  Schulzwangs  wird  dauernd  (aus  Gründen  der  Famihenpolitik,  der 
Erziehungsrechte  des  Hauses  und  anderen  Überlegungen)  abzulehnen 
sein.    Aber  wohl  ist  es  denkbar,  daß  wir  im  Interesse  der  einmal  vor- 
handenen Kinder  und  genötigt  durch  die  Wirtschafts  Verhältnisse,  die 
eine  Familienerziehung  oft  ausschließen  oder  erheblich  einschränken, 
größeren  Gemeinden,  Gewerbebetrieben,  Fabriken  und  anderen  Wirt- 
schaftseinheiten die  gesetzliche  Verpflichtung  auferlegen,  für  die  Kinder 
ihres  Verwaltungsbereiches  ein  Mindestmaß  erzieherischer  Fürsorge  zu 
schaffen.   Von  dem  Zeitpunkt  an,  in  welchem  der  Staat  den  Kindergarten 
als  eine  Maßregel  der  Kleinkinderpflege  in  seine  Hut  nimmt,  erwächst 
ihm  Recht  und  Pflicht,  auch  für  die  Kindergärtnerinnen  in  seinem  Dienst 
zu  sorgen,  ihre  Bildung,  Stellung  und  Einkommensverhältnisse  zu  regeln. 
Und  geht  einmal  der  Staat  hier  mit  seinem  Beispiel  voran,  so  werden 
die  Gemeinden  und  Familien  nachfolgen  müssen,  die  auf  die  Anstellung 
von  Kindergärtnerinnen,  Bonnen,  Kinderfräulein  usw.  nicht  verzichten 
können. 

Ich  glaube  mit  den  angedeuteten  Zusarqmenhängen  gezeigt  zu  haben, 
daß  der  Staat  Pfhchten  hat  gegenüber  dem  Kindergarten  und  wie  er 
durch  Gründung  eigener  Anstalten  für  die  von  ihm  direkt  eingerichteten 
oder  überwachten  Kindergärten  die  gesamten  Probleme  der  Wirtschafts- 
und Standesfragen  der  Kindergärtnerinnen  fördern  kann. 

Die  nächste  Frage  ist  die:  Auf  welcher  Grundlage  soll  das  staatliche 
Kindergartenseminar  aufgebaut  sein?  Zur  Zeit  ist  das  ganze  Kinder- 
gartenbildungswesen von  den  Leitgedanken  und  Beispielen  des  deutschen 
Fröbelverbandes  beherrscht ;  auch  die  Regierungen,  die  sonst  gern  freie 


Kinderp:artenfragen  nach  dem  Krieg  159 

Hand  und  selbständige  Initiative  bewahren,  zeigen  sich  in  den  Grund- 
sätzen zur  Regelung  des  Kindergartenbildungs  wesens  wesentlich  unter  dem 
Einfluß  dieses  großen  und  verdienstvollen  Verbandes.  Da  der  Fröbel- 
verband  an  der  höheren  Töchterschulbildung  als  unerläßlicher  Vorbe- 
dingung für  den  Eintritt  in  das  Kindergärtnerinnenseminar  festhält,  so 
haben  auch  die  Regierungen  diese  Bedingung  festgehalten  oder  über- 
nommen. Ist  diese  Bedingung  sachlich  ganz  gerechtfertigt?  Ich  erinnere 
an  die  Bedenken,  die  ich  oben  gegen  diese  Regelung  geltend  gemacht 
habe;  ich  füge  noch  deutlichere  Einwände  hinzu.  In  Bundesstaaten, 
in  denen  Absolventinnen  der  höheren  Töchterschule  andere  Bildungs- 
wege als  das  Kindergärtnerinnenseminar  offen  stehen  (z.  B.  Studienan- 
stalt, Lehrerinnenseminar,  Gymnasial-  oder  Realgymnasialabteilung  einer 
bayrischen  höheren  Töchterschule)  schwenken  erfahrungsgemäß  vorzugs- 
weise Mädchen  in  das  Kindergartenseminar  ab,  die  nach  ihrer  bisherigen 
schulischen  Entwicklung  nicht  als  bestbegabte  und  geschickteste  gelten 
können.  Wer  einigermaßen  Aussicht  hat,  noch  mehr  „lernen"  zu  können, 
strebt  weiter.  Es  kann  jedoch  nicht  im  Interesse  des  Kindergartens 
liegen,  die  Kräfte  an  sich  zu  ziehen,  denen  zu  anderen,  angeblich 
höheren  Zielen  die  erforderliche  Tüchtigkeit  mangelt.  Die  bestehende 
Vorschrift  wirkt  also  nicht  notwendig  günstig  auf  die  Auslese  für  den 
Stand  der  Gärtnerinnen.  Dazu  kommt  als  wichtiges  Moment,  daß  die 
höhere  Tochter  infolge  ihrer  Beanspruchung  durch  die  Schule  wenig 
Zeit  hat,  im  ausgiebigen  Umgang  mit  Geschwistern  die  für  die  Behand- 
lung des  Kleinkindes  so  wichtigen  Früherfahrungen  zu  sammeln.  Wie 
mir  mein  an  H.  Gaudigs  Anstalt  wirkender  Freund  Otto  Scheibner  mit- 
teilt, haben  Umfragen  über  den  Umgang  der  Schülerinnen  mit  ihren 
Geschwistern  enttäuschende,  ja  traurige  Befunde  gezeigt.  Die  höhere 
Schule  läßt  wenig,  mitunter  erschreckend  wenig  Zeit  dazu.  Ich  möchte 
meinerseits  noch  mehr  auf  ein  drittes  Moment  hinweisen:  die  fremd- 
sprachliche Bildung  (Französisch  und  Englisch)  ist  in  der  Berufsarbeit 
und  Lebensform  dei*  Durchschnittskindergärtnerin,  namentlich  der  öffent- 
lich angestellten,  verlorene  Mühe  gewesen,  während  große  Gebiete  der 
Sachbildung,  die  für  die  kindergärtnerische  und  kinderpflegerische  Arbeit 
wünschenswert  sind,  zu  kurz  kommen  oder  überhaupt  nicht  mehr  nach- 
geholt werden  können. 

Ich  weiß,  daß  gerade  dieser  fremdsprachliche  Einschlag  wie  überhaupt 
die  sogenannte  allgemeine  höhere  Bildung  besonders  verteidigt  wird. 
Man  weist  daraufhin,  daß  die  gesellschaftliche  Stellung  der  Kindergärtnerin 
in  der  Familie  mit  davon  abhängig  ist,  ob  sie  mit  der  Frau  des  Hauses 
wenigstens  streckenweise  die  Bildung  teilt  oder  nicht.  Der  Fröbelverband 
bildet  in  seinen  Anstalten  ja  einen  großen  Teil  der  Hauserzieherinnen, 
Kinderfräulein,  Bonnen  usw.  aus  und  legt  wohl  mit  Rücksicht  auf  deren 
Fortkommen  und  Stellung  solchen  Nachdruck  auf  die  Vorbildung  durch 
eine  höhere  Mädchenschule.  Aber  einmal  hindert  nichts,  daß  für  die  Aus- 
bildung der  Hauserzieherinnen  nach  wie  vor  private  Unternehmungen 
wirken  können,  die  an  den  bisherigen  Aufnahmebedingungen  festhalten 
mögen;  ich  verkenne  nicht,  daß  für  das  Fortkommen  im  Dienst  der  Haus- 
erziehung namenthch  der  vornehmen  Kreise,  wie  heute  die  Dinge  gelagert 
sind,  die  beste  gesellschaftliche  Vorbildung  durchaus  eine  Empfehlung  ist 


160  Aloys  Fischer,  Kindergartenfragen  nach  dem  Krieg 

—  aber  ich  bestreite,  daß  dieser  Umstand  irgend  etwas  mit  der  besonderen 
beruflichen  Aufgabe  zur  Kindergärtnerin  zu  tun  hat,  bestreite  auch,  daß 
diese  Vorbildung  von  den  Familien  mit  Rücksicht  auf  die  Kinder  gefordert 
wird.    Die  Gründe  liegen  in  ganz  anderen  Richtungen  und  Rücksichten. 

Überläßt  man  die  Ausbildung  des  vornehmen  Kinderfräuleins  den  be- 
stehenden höheren  Mädchenanstalten  und  den  auf  sie  aufgebauten  Semi- 
naren, dann  bleibt  dem  Staat  die  Möglichkeit  unbenommen,  für  seine 
Kinderpflege  Schwestern  und  Kindergärtnerinnen  auf  einer  anderen 
Grundlage  auszubilden,  nämlich  auf  jener  der  allgemeinen  Volksschule. 
Das  staatliche  Kindergärtnerinnenseminar  schwebt  mir  nach  Vor- 
bedingungen und  Dauer  durchaus  als  Seitenstück  zu  den  staatlichen 
Lehrerseminaren  vor.  Vor  allem  müßte  mit  der  (nicht  durch  die  Sache, 
sondern  eben  durch  den  Zwang  des  Besuches  einer  höheren  Mädchen- 
schule) bedingten  Kürze  der  kindergärtnerischen  Ausbildung  gebrochen 
werden.  Denken  wir  uns  Mädchen  mit  gutem  Abgangszeugnis  von  der 
Volksschule,  mit  natürlichem  Interesse  für  Kinderpflege  und  Erziehung 
in  einem  mindestens  fünfjährigen  Lehrgang  theoretisch  und  praktisch 
für  die  Kindergartenarbeit  befähigt,  so  haben  wir  nicht  nur  eine  zweck- 
mäßig zureichende  Vorbildung  für  Kindergärtnerinnen  geschaffen,  son- 
dern zugleich,  um  ein  Schlagwort  des  Tages  zu  gebrauchen,  eine  neue 
Möglichkeit  des  Aufstiegs  der  Begabten  eröffnet,  noch  dazu  —  was  m.  E. 
sehr  ins  Gewicht  fällt  —  für  das  weibliche  Geschlecht.  Es  ist  hier  nicht 
angebracht,  einen  förmlichen  Lehrplan  eines  solchen  fünfstufigen  Kinder- 
gärtnerinnenseminars zu  entwerfen;  dazu  müßte  außer  der  pädagogischen 
Wissenschaft  vor  allem  die  Erfahrung  der  Praxis  selbst  zu  Rate  gezogen 
werden.  Nur  einige  Andeutungen  über  das  Grundsätzliche  seien  gestattet: 
die  zeitliche  Trennung  der  allgemeinen  Bildung  und  Fortbildung  (Deutsch, 
Religion,  Natur-  und  Kulturkunde  usw.)  von  der  Fachbildung  dürfte  un- 
zweckmäßig sein;  vom  Anfang  an  und  für  die  ganze  Dauer  der  Aus- 
bildung soll  vielmehr  die  engste  Verbindung  und  Durchdringung  der 
allgemeinen  und  der  beruflichen  Bildungsfächer  dem  Lehrgang  das  Ge- 
präge geben.  Noch  wichtiger  aber  ist  das  richtige  Verhältnis  zwischen 
„theoretischem"  und  „praktischem"  Unterricht,  genauer  gesagt  zwischen 
der  schulmäßigen  Unterweisung  in  den  theoretischen  Grundlagen  der 
ganzen  Kindergartenarbeit  und  der  anleitenden  Einführung  in  sie.  Der 
Übungsschule  am  Lehrerseminar  müßte  ein  Übungskindergarten  am 
Kindergartenseminar  entsprechen.  Die  Einzelheit  der  Unterrichtsfächer 
könnte,  wie  gesagt,  nur  nach  den  Bedürfnissen  und  den  Erfahrungen 
der  Praxis  festgelegt  werden. 

Die  Ausbildung  im  fünf  stuf  igen  Kindergartenseminar  würde  die  Schülerin 
bis  zur  praktischen  Mithilfe  am  Kindergarten  führen.  Nach  ein  bis 
zwei  Jahren  Arbeit  als  Helferin  würde  sie  die  nötige  Selbständigkeit 
erwerben  haben,  um  einen  Kindergarten  kleinen  Umfangs,  eine  Abtei- 
lung eines  mehrstufigen  Kindergartens  selbst  zu  führen. 

Das  staatliche,  auf  die  Volksschule  aufbauende  Kindergärtnerinnen- 
seminar scheint  mir  berufen,  die  in  steigendem  Maß  in  der  städtischen 
wie  ländlichen  Kleinkinderpflege  erforderlichen  Kräfte  auszubilden.  So- 
weit das  Haus,  insbesondere  die  gehobenen  und  begüterten  Schichten, 
weiterhin  Kinderfräulein  verwenden,  soll  deren  Ausbildung  im  großen 


Henriette  Goldschrnidt,  Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen     \ß\ 

und  ganzen  im  Rahmen  der  bisherigen  Privatanstalten  vor  sich  gehen, 
zugleich  auf  der  höheren  Töchterschulbildung  aufbauen  und  nach  der 
pädagogischen  Seite  vertieft  werden. 

Soweit  für  die  leitenden  Stellen  größerer  Kindergärten,  städtischer 
Kinderheime  und  allenfalls  auch  noch  für  die  Mitarbeit  in  der  Jugend- 
pflege eine  andersartige  Bildung  erforderlich  ist,  soll  sie  den  bewährten 
Kindergärtnerinnen,  gleichviel  mit  welcher  Vorbildung,  nach  zehn  Jahren 
praktischer  Arbeit  offen  stehen  in  eigenen,  staatlich  eingerichteten  und 
überwachten  Kursen  für  Leiterinnen,  deren  Dauer  mindestens  zwei 
Jahre  betragen  und  deren  Stoff  sich  vor  allem  auf  die  sozialgeschicht- 
liche, verwaltungsrechtliche,  organisatorische  Seite  der  ganzen  Kinder- 
fürsorge und  Kinderpflege  zu  erstrecken  hat.  Ich  will  freilich  nicht  ver- 
schweigen, daß  ich  die  augenblicklich  erstrebte  Verbindung  von  Klein- 
kinderfürsorge mit  der  (weiblichen)  Jugendpflege  sachlich  nicht  für 
zweckdienlich  und  ersprießlich  halte.  Die  Kindergärtnerin  ist  durch 
Vorbildung  und  Erfahrung  auf  ganz  andere  Erziehungsaufgaben  ein- 
gestellt und  vorbereitet,  als  sie  in  der  Jugendpflege  zu  lösen  sind.  Es  wird 
auf  die  Dauer  nichts  anderes  übrig  bleiben,  als  eigene  Wege  und  Ver- 
anstaltungen zur  Ausbildung  der  Jugendpflegekräfte  zu  suchen  und  zu 
gehen.  Die  Jugendlichen  sind  in  leiblicher,  psychischer,  sozialer  Hin- 
sicht ganz  verschieden  vom  Kleinkind,  ihre  Erziehung  geht  andere 
Bahnen  als  sie  in  Kindergarten  und  Schule  beschlossen  sind ,  deshalb 
könnte  ich  in  der  Verwendung  von  Kräften,  die  ursprünglich  vorzugs- 
weise für  das  Kindes-  und  Schulalter  ausgelesen  und  vorgebildet 
worden  sind,  nur  eine  durch  die  Not  entschuldigte  Ausnahme,  nicht 
eine  Regel  erblicken.  Auch  die  höhere  Bildung  macht  nicht  an  sich 
zur  Jugendpflege  geeignet,  dies  tut  nur  eine  spezifische  Bildung.  Sie 
muß  freilich  erst  noch  geschaffen  werden. 

Durch  diese  Vorschläge  wird  die  Bewerbung  um  die  leitenden  Stellen 
den  beiden  Gruppen  möglich,  durch  die  Bedingung  einer  genügend  langen 
praktischen  Zeit  wird  dem  Mißstand  gesteuert,  daß  die  leitenden  Stellen 
mit  Kräften  besetzt  werden,  die  trotz  ihrer  höheren  Bildung  dem  ganzen 
Betrieb  des  Kindergartens  und  der  Kleinkinderpflege  fernstehen. 

Selbstverständlich  sollen  die  gemachten  Vorschläge  nur  die  allgemeine 
Linie  der  wünschenswerten  Entwicklung  kennzeichnen;  diese  wird  un- 
streitig dadurch  bestimmt  werden,  daß  der  Kindergarten  aus  der  eigen- 
tümlichen Selbständigkeit  heraustritt  und  im  Rahmen  der  Maßnahmen 
einer  allgemeinen  öffentlichen  Kinderpflege  seine  Wiedergeburt  erlebt. 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen. 

Ein  Rückblick  auf  die  Anfänge  der  deutschen  Frauenbewegung 
und  das  Erzieliungswerk  Friedrich  Fröbels. 

Von   Henriette  Goldschmidt. 

Zu  den  wenigen  Frauen  gehörend,  die  in  den  sechziger  Jahren  des  vorigen 
Jahrhunderts  die  Initiative  für  die  Frauenfrage  ergriffen  und  sie  den  Zeitgenossen 
zur  Beantwortung  vorgelegt  hatten,  ward  es  mir  nicht  schwer,  auch  für  den 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  1 1 


162  Henriette  Goldschmidt 


Gedanken  einer  Hoclischule  für  Frauen  das  sympathische  Interesse  weiterer 
Kreise  zu  finden  und  ihn  zur  Verwirklichung  zu  bringen.  Man  brachte  mit 
Recht  die  Hochschule  in  Zusammenhang  mit  der  Frauenbewegung,  die  ja  be- 
kanntlich von  Leipzig  ihren  Ausgang  genommen  hat.  Als  der  einzigen  noch 
Lebenden  jener  Frauen,  die  zaghaft  und  doch  mutig  die  ersten  Schritte  für 
diese  Bewegung  unternahmen,  möge  es  mir  vergönnt  sein,  sie  in  Kürze  zu 
zeichnen. 

Wie  jede  neue  Erscheinung,  die  sich  bsdeutsam  für  unsere  Entwicklung 
erweist,  im  geistigen  Lebsn  der  Menschen  lange  vorbsreitet  sein  muß,  so  war 
es  auch  die  Frauenfrage.  Sie  ist  ein  Kind  jener  Zeit,  die  in  den  vierziger  Jahren 
des  vorigen  Jahrhunderts  auf  allen  Gebieten  unseres  Kulturlebsns  die  Gemüter 
mächtig  bewegte  und  im  Jahre  1848  sichtbar  in  die  Erscheinung  trat.  Das  tolle 
Jahr  nannten  es  viele  —  als  ein  bedeutsames  Jahr  für  das  politische  und  soziale 
Leben  Deutschlands  ist  es  historisch  anerkannt.  Wer  es  erlebt  hat,  weiß,  daß 
es  em  Jahr  der  Befreiung,  der  Erlösung  war,  ein  Jahr  der  Wiedergeburt  neuer 
Hoffnungen. 

Im  Jahre  1848  hatte  die  Frau,  die  später,  im  Jahre  1865,  Deutschlands  Frauen 
zu  einer  öffentlichen  Konferenz  nach  Leipzig  barief,  in  der  über  die  Stellung 
der  Frau  beraten  werden  sollte,  die  erste  politische  Zeitung  für  Frauen  gegründet 
mit  dem  Motto:     „Dem  Reich  der  Freiheit  werb'  ich  Bürgerinnen". 

Luise  Otto,  die  Tochter  eines  Justizbeamten  in  Meißen,  hatte  in  Gemein- 
schaft mit  einigen  Gesinnungsgenossinnen,  zu  denen  auch  Auguste  Schmidt 
gehörte,  das  Wagnis  unternommen.  Es  fand  kein  nennenswertes  Echo  in  der 
Frauenwelt;  doch  führte  die  Konferenz  in  Leipzig  zur  Gründung  des  „All- 
gemeinen  Deutschen   Frauenvereins". 

Fast  zu  gleicher  Zeit  rief  der  damalige  Handelspräsident  Lette  in  Berlin  einen 
„Verein  zur  Förderung  der  weiblichen  Erwerbsfähigkeit"  ins 
Leben.  Das  Prinzip  dieses  Vereins  ist  einfach  und  deutlich  erkennbar.  Die 
Notlage  des  weiblichen  Geschlechts  bestimmte  einsichtige  und  wohlwollende 
Menschen  zur  Hilfeleistung. 

Der  in  Leipzig  gegründete  Allgemeine  Deutsche  Frauenverein  war  in  gleicher 
Weise  von  der  Notlage  des  weiblichen  Geschlechts  bsdingt.  Sein  Programm 
sprach  es  deutlich  aus :  „Der  Verein  erklärt  die  Arbeit  als  die  Grundlage  imserer 
modernen  Kultur  für  die  Pflicht  und  Ehre  des  weiblichen  Geschlechts.  Er  will 
bestrebt  sein,  alle  Hindernisse  zu  beseitigen,  welche  ihr  im  Wege  stehen". 

Es  ist  unschwer  zu  erkennen,  daß  bside  Vereine  von  verschiedenen  Gesichts- 
punkten ausgehen.  Der  Letteverein  will  der  Notlage  durch  erhöhte  Erwerbs- 
fähigkeit abhelfen ;  der  Allgemeine  Deutsche  Frauen  verein  bezeichnet  die  Arbeit 
als  Ehre  und  Pflicht  der  Frau,  er  stellt  die  Frau  in  die  Arbeitsgemeinschaft  aller 
ein.  Arbeit  ist  nicht  nur  ein  Mittel  für  die  Erwerbsfähigkeit  des  einzelnen,  sie 
ist  Bedingung  unserer  gesamten  Kultur.  Inzwischen  haben  beide  Vereine  mit 
Befriedigung  auf  eine  fünfzigjährige  Wirksamkeit  zurückbhcken  können. 

Der  Allgemeine  Deutsche  Frauen  verein  hatte  zunächst  die  agitatorische  Tätig- 
keit als  die  ihm  gemäße  ins  Auge  gefaßt.  Er  hat  eine  Zeitschrift  ins  Leben  ge- 
rufen: „Neue  Bahnen",  die  sich  bis  jetzt  trotz  der  Fülle  von  Zeitschriften 
für  die  Frauenfrage  behaupten  konnte,  und  er  bediente  sich  des  wichtigsten  und 
wirksamsten  Agitationsmittels,  des  gesprochenen  Wortes  in  öffentHchen  Ver- 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen  163 

ßammlungen.  Unter  dem  Vorsitze  seines  Vorstandes  fanden  alljährlicli  in  einer 
der  größeren  oder  mittleren  Städte  Frauentage  statt.  Frauen  sprachen  dort  zu 
Frauen  und  erörterten  alle  Seiten  der  Frauenfrage;  die  Stellung  der  Frau  als 
Persönlichkeit  und  im  Zusammenhange  mit  dem  Familien-,  Gemeinde-  und 
Staatsie ban.  Diese  von  Frauen  geleiteten  imd  von  Frauen  ausgeführten  Tagungen 
machten  die  Zuhörerinnen  zu  Mitkämpfern  für  diese  ihre  eigene  Angelegenheit. 
Nicht  nur  das  Verständnis  wurde  geweckt,  der  Wille  zur  Betätigung  für  die  Arbait 
aller,  für  Rechte  und  Pflichten  der  Frau,  ergriff  die  Gemüter.  In  den  Frauen- 
tagen liegt  die  Wurzel  der  Frauenbewegung. 

So  verlockend  es  für  mich  wäre,  den  Werdegang  dieses  Agitations Vereins 
nach  allen  Richtungen  eingehend  zu  schildern,  so  muß  ich  mir  das  versagen. 
Unsere  Hauptaufmerksamkeit  wandte  sich  zunächst  dem  Mädchenschulwesen 
zu.  Vor  50  Jahren  gab  es  keine  Fortbildungsschule  für  Mädchen  —  weder  für 
Volksschülerinnen,  noch  für  Schülerinnen  der  höheren  Töchterschule.  Die 
einzige  Bildungsstätte  über  das  Ziel  der  höheren  Töchterschule  hinaus  war  das 
Seminar  für  Lehrerinnen. 

Die  erste  Tat  der  sogenannten  Frauenrechtlerinnen  war  die  Gründung  einer 
Fortbildungsschule  in  Leipzig  für  Töchter  unbemittelter  Familien.  Die  Frauen- 
tage schlössen  fast  immer,  anstatt  mit  der  Fassung  von  Resolutionen,  mit  der 
Gründung  eines  Fr auenbildungs Vereins,  der  es  für  seine  vornehmste  und  erste 
Aufgabe  hielt,  Fortbildungsschulen  für  Mädchen  zu  errichten. 

Neb3n  dieser  unteren  Stufe  eines  bildenden  Unterrichts  beschäftigte  uns 
die  Möglichkeit  des  Studiums  der  Frauen  an  der  Universität,  zunächst  das 
medizinirche  und  pädagogische  Studium.  Nach  einem  zwei  Jahrzehnte  wäh- 
renden Kampf  öffneten  sich  die  Pforten  der  Universität  den  Frauen. 

In  den  letzten  fünfzig  Jahren  sind  eine  Fülle  von  Schulen  entstanden,  die 
sich  teils  aus  Fortbildungsschulen  zu  Fachschulen  erweiterten,  teils  gleich  als 
solche  eingerichtet  wurden.  Eine  Erscheinung  auf  pädagogischem  Gebiete, 
die  vor  50  Jahren  dem  allgemeinen  Verständnis  der  offiziellen  Pädagogik  fremd 
war,  wurde  von  den  damaligen  Führerinnen  der  deutschen  Frauenbewegung  zwar 
wohlwollend  betrachtet,  in  ihrer  Bedeutung  für  die  Bildung  der  weiblichen  Jugend, 
für  den  Erziehungsberuf  der  Frau,  kaum  beachtet.  Ich  meine  ,,das  Frö- 
belsche  Erziehungswerk". 

Dem  schöpferischen  Geiste  Friedrich  Fröbels  war  es  vorbehalten,  Grund- 
lagen für  eine  Erziehung  des  kindlichen  Alters  und  Bildungsmittel  für  das 
jungfräuliche  Alter  zu  finden,  die  im  Zusammenhang  miteinander  stehen,  so 
daß  man  nicht  nur  von  einer  pädagogischen  Theorie ,  sondern  von  einem  Er- 
ziehungswerke sprechen  darf.  Fünfundzwanzig  Jahre  vor  der  ersten  Konferenz 
deutscher  Frauen  in  Leipzig,  im  Jahre  1840  hat  Fröbel  in  einer  öffentlichen 
Versammlung  in  Blankenburg  deutsche  Frauen  und  Jungfrauen  zur  Grün- 
dimg eines  deutschen  Kindergartens  aufgerufen.  Er  sagte  ihnen:  ,,Gott  hat 
das  leibliche  und  geistige  Bestehen  des  Menschengeschlechts  durch  die  Kind- 
heit in  das  Frauenherz  und  -gemüt  gelegt.  Es  ist  die  Kindheits-,  es  ist  die 
Frauen  würde,  die  Würde  des  häuslichen,  des  Familienlebens,  die  wir  begründen 
wollen."  Im  Jahre  1851  ist  in  Hamburg  von  Frauen,  die  für  Fröbels  Ge- 
dankenwelt reif  waren,  neben  den  Kindergärten  eine  Hochschule  für  Frauen  er- 
richtet worden,  die  leider  nach  kurzem  Bestehen  der  Reaktion  zum  Opfer  fiel. 

11* 


164  Henriette  Goldschmidt 


Nocli  deutlicher  und  umfassender  als  in  den  genannten  Anstalten,  bereits 
im  Jahre  1836,  spricht  Fröbel  seine  Gedanken  über  weibliches  Wesen  imd  Sein 
aus.  Über  Erneuerung  des  Familien-  und  Volkslebens  stellt  der  einsame  Denker 
seine  Betrachtimgen  an,  und  in  der  Neujahrsnacht  1835/36  kam  ihm  der 
Gedanke,  es  sei  das  Charakteristische  der  Zeit,  das  weibliche  Geschlecht 
seines  instinktiven,  passiven  Seins  zu  entheben,  und  es  von  selten  seines  Wesens 
und  seiner  Menschheit  pflegenden  Bestimmung  als  Glied  der  Menschheit  zu  der 
ihm  gebührenden  Höhe  und  Anerkennung  zu  bringen. 

Dieses  Wort,  vor  beinahe  einem  Jahrhimdert  ausgesprochen,  ist  ein  propheti- 
sches gewesen.  Unleugbar  hat  die  erste  öffentliche  Konferenz  deutscher  Frauen 
am  18.  Oktober  1865  in  Leipzig  die  Prophezeiung  zu  erfüllen  begonnen.  Die 
Frau  tat  den  ersten  Schritt,  sich  von  ihrem  instinktiven,  passiven  Sein  zu  be- 
freien, sie  forderte  ihr  Recht,  in  die  Kulturarbeit  ihres  Volkes  einzutreten  und 
hat  während  der  Dauer  eines  halben  Jahrhunderts  für  dieses  Recht  gelitten, 
gestritten  und  es  siegreich  erkämpft.  Unsere  Zeit,  die  gewaltige,  grausame  Kriegs- 
zeit hat  bewiesen,  daß  dieser  friedliche  Kulturkampf  bedeutsame  Kräfte  der 
Frau  gezeitigt  hat  und  daß  ihr  die  organisierende  Fähigkeit,  die  man  unserem 
Volke  nachrühmt,  nicht  fehlt.  Ohne  die  Vorarbeit  von  Jahrzehnten  wäre 
die  Gestaltung  des  nationalen  Frauendienstes  unmöglich  gewesen.  Aber  deut- 
licher als  je  zuvor  hat  der  Krieg  auch  gelehrt,  daß  die  Natur  nach  ewigen,  ehernen 
Gesetzen  jedem  Geschlechte  die  Grenzen  zieht,  und  so  zeigt  der  Krieg  die  Be- 
währung der  Manneskraft  in  Schlacht  und  Kampf,  während  die  Frau  die  erhal- 
tenden, heilenden,  pflegenden  und  erziehenden  Kräfte,  die  sie  schon  im  Frieden 
übte,  bewähren  muß. 

Seine  Urkräfte  betätigt  der  Mensch  immer  der  Kulturstufe  gemäß,  die  er 
errungen,  und  ehe  er  eine  Kulturstufe  erreicht  hatte,  instinktiv.  Längst  aber 
erfordert  jeder  Beruf  des  Mannes  eine  Vorbereitung,  eine  Schulung,  der  Kriegs- 
dienst selbst  dann,  wenn  er  ihn  nicht  als  Berufssoldat  ausüben  sollte.  Daß  die 
Urkräfte  der  Frauen  gleich  denen  des  Mannes  einer  Kultivierung  bedürfen,  ist 
von  dem  Augenblicke  an  selbstverständlich,  wo  es  ausgesprochen  wird.  Niemand 
hat  das  klarer  ausgesprochen  als  Fröbel.  Er  schaut  in  die  Seele  des  Weibes  wie 
keiner  vor  ihm.  Er  fand  den  Quell  und  Keimpunkt  ihres  Gemüts-  und  Seelen- 
lebans  und  zeigte  den  Weg  ihrer  Entwicklung  von  diesem  Keimpimkte  aus. 
Die  der  Frau  selbst  nicht  bewußte  seelische  Kraft  hat  er  ihr  offenbart  und  sie 
ihrer  Menschen  pflegenden  Bestimmimg  bewußt  werden  lassen.  Zum  erstenmal 
ist  der  Ruf  an  sie  ergangen,  mittätig  zu  sein  an  einem  die  Menschheit  umfassenden 
Werke.  Der  Ruf:  „Kommt,  laßt  uns  unseren  Kindern  leben!"  war  ein  Weckruf 
aus  dem  Herzen,  aus  dem  Gem.üt  der  Frauen.  Wie  sollten  die  Frauen  diesen 
Ruf  nicht  verstehen  ?    Sie  haben  ihn  verstanden,  sie  haben  ihm  Folge  geleistet. 

Einen  Kindergarten  will  er  errichten,  dessen  Pflege  er  ihnen  anvertraut. 

Der  Kindergarten  bildet  den  Grundstein  des  Fröbelschen  Er- 
ziehungswerkes. Wir  sehen  hier  die  Erzieherin  der  Kindheit  als  naturnot- 
wendig, als  innerlich  bedingt.  Die  erziehende  Kraft  der  Frau  ist  in  Tätigkeit 
gesetzt.  Nicht  nur  als  Erzieherin  ihrer  eigenen  Kinder,  sie  fühlt  ihre  Aufgabe 
im  Dienste  der  Volksfamilie,  ihre  Menschheit  bildende  Bestimmung.  „Der 
Erziehungsberuf  ist  der  Kulturberuf  der  Frau."  (H.  Göldschmidt.) 
Die  Notwendigkeit  einer  Schulung  der  Vorbereitung  für  diesen  Beruf  wird  er- 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen  165 


kannt.  Konnten  und  können  die  bestehenden  Anstalten  für  die  weibliclie 
Jugend  benutzt  werden?  Heutzutage  ist  dies  eine  müßige  Frage.  Es  hat 
sich  im  Laufe  der  Zeit  die  Eigenart  Fröbelscher  Bildungsanstalteij  derartig 
herausgearbeitet,  daß  wir  sie  eine  schöpferische  Tat  Fröbels  nennen  können, 
die  im  engsten,  innersten  Zusammenhange  miteinander  stehen  und  Neu- 
schöpfungen sind. 

Diese  den  geheimnisvollen  Tiefen  menschlichen  Greisteslebens  entkeimten 
Schöpfungen  haben  aber  vielfach  in  einer  Weise  Gestalt  gewonnen,  die  eher  ge- 
eignet war,  die  Idee,  der  sie  dienen  sollten,  zu  verbergen,  als  sie  zu  offenbaren. 

Der  Kindergarten  fand  als  Volkskindergarten  die  Teilnahme  von  Menschen- 
freunden; er  war  Wohltätigkeitsanstalt  wie  die  Bewahranstalt  und  bezog  sich, 
wie  man  meinte,  nur  auf  die  ärmere,  notleidende  Bevölkerung.  Daß  hier  die 
gesamte  Kindheit,  die  Erziehung  des  frühen  Kindesalters  System  imd  Methode 
erhielt,  das  zeigte  sich  nur  zufällig  demjenigen,  der  Augen  zu  sehen  und  Ohren 
zu  hören  besaß. 

Viel  schwieriger  war  es,  Bildungsstätten  für  Kindergärtnerinnen  zu  errichten. 
Nicht  die  Not  der  armen  Mutter,  die,  um  das  tägliche  Brot  für  die  Familie  zu 
schaffen,  verhindert  ist,  ihren  Kindern  die  nötige  Pflege  und  Sorgfalt  zu  widmen, 
eine  andere  Not,  die  Erwerbsfrage  für  die  heranwachsenden  Töchter  des  gebil- 
deten Mittelstandes  kam  hier  zu  Hilfe. 

Ich  habe  im  ersten  Teil  meiner  Darlegungen  darauf  hingewiesen,  daß  die 
Frauenfrage  als  Erwerbs-  und  Brotfrage  für  die  weibliche  Jugend  Zustimmung 
und  Anerkennung  selbst  bei  denen  fand,  die  ihr  als  Kulturfrage  gleichgültig 
oder  feindlich  gegenüberstanden.  Und  so  verhielt  es  sich  auch  bei  der  Einführung 
der  neuen  Bildungsanstalten.  Nicht  der  Gedanke,  die  weibliche  Jugend  vertraut 
zu  machen  mit  dem  A-B-C  der  Erziehungskunst  und  Wissenschaft  war  das 
Motiv  zur  Gründung  der  Seminare  für  Kindergärtnerinnen  und  deren  schnelle 
Verbreitung.  Man  entdeckte  in  ihnen  eine  Erwerbsquelle  für  das  weibliche 
Geschlecht,  die  nicht  zu  unterschätzen  war. 

So  bsmühten  sich  unberechtigte  imd  bsrechtigte  Elemente,  Kindergärtnerinnen 
auszubilden,  noch  bai  Lebzeiten  des  Meisters.  Unbekümmert  um  diese  ihm 
fern  liegenden  Motive  arb3itete  Fröbel  selbst  an  beiden  zueinander  gehörenden 
Anstalten  und  an  ihrer  inneren  Einheit.  In  dem  festen  Glauban  an  seine  Mission 
erblicken  wir  ihn  in  Bad  Liebanstein,  unbeirrt  davon, daß  die  damals  dort  anwesen- 
den Kurgäste  ihn  einen  alten  Narren  nannten,  der  mit  barfüßigen  Kindern  auf  der 
Wiese  herumspringt.  Hier  aber  wollte  es  einer  jener  Zufälle,  die  wir  providentiell 
nennen  dürfen,  daß  eine  Frau  in  Fröbels  Lebenskreis  trat,  eine  ihm  kongeniale 
Natur,  Fr  a  u  von  Marenholt  z-Bülow.  Sie  lernte  ihn  in  seiner  Tätigkeit  in  beiden 
Anstalten  kennen  imd  ward  mit  voller  Begeisterung,  ja,  mit  apostolischem  Eifer 
für  seine  Lehre  erfüllt;  sie  wurde  ihre  Verkünder  in  nicht  nur  in  Deutschland, 
sie  trug  sie  in  alle  Länder  des  Auslands  bis  nach  Amerika. 


Eis  ist  bekannt,  daß  Fröbel  bereits  sein  System,  seine  Methode,  seine  Be- 
schäftigungsmittel ausgearbeitet,  bei  Kindern  angewendet  hatte  und  keinen 
Namen  für  seine  Anstalt  wußte.  Bewahranstalt,  Spielschule,  Beschäftigungs- 
anstalt  für  Eander,  alle  diese  Bezeichnungen  konnte  er  nicht  brauchen. 


'166  Henriette  Goldschmidt 


Auf  einem  Spaziergang  in  den  waldigen  Thüringer  Bergen  mit  seinen  Freunden 
rief  er  plötzlich  aus :  „Ich  habe  den  Namen  für  mein  jüngstes  Kind  gefunden, 
Kindergarten  soll  es  heißen."  Mit  diesem  Namen  hatte  er  sein  Werk 
gerettet,  hatte  er  es  dem  Bereiche  der  Not  enthoben  und  die  Einheit  zwischen 
Natur  und  Kind  poetisch  und  deshalb  herzgewinnend  bezeichnet,  Nomina 
simt  omina.  — 

Der  Allgemeine  Deutsche  Frauenverein  betrachtete  die  Frauenfrage  als  Kultur- 
frage, und  so  fand  mein  erster  öffentlicher  Vortrag  1867  in  Leipzig  unter  dem 
Titel  „Die  Frauenfrage  eine  Kulturfrage"  statt.  Es  war  besonders  die  Stellung 
der  Frau  innerhalb  der  bürgerlichen  Gemeinde,  die  ich  behandelte.  Ich  wies  auf 
die  Nichtbeachtung  der  Kräfte  der  Frau  hin  und  bezeichnete  die  Sachlage  mit 
den  Worten :  Wir  haben  wohl  Väter  der  Stadt,  wo  aber  sind  die  Mütter  ? 

Wo  sind  die  Mütter  ?  Hier  ist  der  Schlüssel  für  meine  Stellung  in  der  deutschen 
Frauenbewegung,  der  ich  in  allen  ihren  Bestrebungen  während  40  Jahren  nach 
meinen  bescheidenen  Kräften  gedient,  imd  für  die  Arbeit,  die  ich  im  Dienste 
des  Fröbekchen  Erziehungswerkes  geleistet  habe. 

Fröbel,  der  die  Frau  zur  Hilfeleistung  für  eine  Kulturaufgabe  rief,  hat  ihr 
auch  die  Mittel  gebracht,  sie  für  diese  vorzubereiten. 

Der  von  mir  im  Jahre  1871  gegründete  ,, Verein  für  Familien-  und  Volks- 
erziehung" (der  in  seinem  Namen  seine  Aufgabe  bezeichnet)  eröffnete  zxmächst 
einen  Volkskindergarten,  dem  bald  das  Seminar  für  Kindergärtnerinnen  folgte. 
Bereits  im  Jahre  1874  richteten  wir  wissenschaftliche  Vortragsreihen  für 
Damen  ein,  die  von  Universitätslehrern  gehalten  wurden  und  die  auch  mir 
Gelegenheit  gaben,  Fröbel  einem  gebildeten  Frauenkreise  als  den  Pädagogen 
der  weiblichen  Jugend  bekannt  zu  machen.  Diese  Vorträge  waren  die  Vor- 
läufer des  1878  gegründeten  Lyzeums,  einer  Anstalt,  in  deren  Mittelpunkt  wie 
im  Seminar  Fröbelsche  Erziehungslehre  und  -praxis  stand.  Den  Plan  gestaltete 
ich  nach  der  aus  Fröbekchen  Schriften  gewonnenen  Einsicht  im  Zusammenhang 
mit  der  Methode  imd  Praxis  des  Kindergartens.  Ein  großer  Teil  der  Lehrgegen- 
ßtände  war  damals  noch  in  keinen  Lehrplan  der  höheren  Mädchenschulen  auf- 
genommen. Raum-  imd  Formenlehre,  Volkswirtschaftslehre,  Bürgerkunde,  Er- 
ziehimgslehre,  Geschichte  der  Erziehung,  Psychologie,  Gesundheits lehre,  künst- 
lerische Übungen  im  Zeichnen,  Modellieren,  Gesang  und  G3nnnastik  sind 
obligatorische  Fächer,  sie  gehören  zur  Praxis  im  Kindergarten. 

In  den  siebziger  Jahren  des  vorigen  Jahrhunderts  gab  es  noch  keine  geschulte 
Lehrkraft  für  die  Fröbekche  Erziehungslehre,  und  so  mußte  ich  diesen  Unterricht 
selbst  erteilen.  Ich  hatte  demnach  ausgiebig  Gelegenheit,  den  Einfluß  kennenzu- 
lernen, den  unsere  Schulen  auf  die  weibliche  Jugend  ausübten.  Waren  auch 
die  wissenschaftlichen  Stunden  getrennt,  je  nach  der  Vorbildung  der  Schüle- 
rinnen, —  der  Kindergarten  vereinigte  alle  im  gemeinsamen  Spiel.  Wohl  mehr 
als  1000  Schülerinnen  aus  den  verschiedenen  G«selkchaftskreisen,  verschiedenen 
Bildungsstufen,  verschiedenen  Alters  (von  15 — 30  Jahren),  allen  war  es,  ak 
hätten  sie  hier  den  natürlichen  Boden  gefunden,  aus  dem  sie  Nahrung  für 
ihr  Geistes-  und  Gemütsleben  erhielten.  Schülerinnen,  die  sich  gesträubt,  in 
den  Kindergarten  zu  gehen,  und  die  nur  an  dem  wissenschaftlichen  Unter- 
richt teilnehmen  wollten,  verließen  die  Anstalt  als  begeisterte  Kindergärtne- 
rinnen. 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen  167 

So  bestätigte  die  Erfahrung,  was  mir  durch  die  Schriften  Fröbels  Überzeugung 
geworden  war,  daß  es  keinen  besseren  Lehrgang  für  die  Entwicklung  des  Weibes 
gibt  als  den  von  Fröbel  gefundenen. 

Und  von  dieser  Überzeugung  geleitet,  hatte  ich  den  Mut,  dem  Kuratorium 
des  Lyzeums,  hervorragenden  Lehrern  der  Universität,  die  Idee  einer  Hochschule  für 
Frauen  vorzutragen  und  sie  zu  bitten,  das  Kuratorium  für  sie  zu  übsrnehmen. 
Mit  ihrer  Zustimmung  und  der  eines  Ehren  Vorstandes,  gebildet  aus  Lehrern  der 
verschiedenen  deutschen  Universitäten,  Vertretern  der  staatlichen  und  städti- 
schen Behörden,  einer  Anzahl  bekannter  Persönlichkeiten,  ist  der  Aufruf  zur 
Gründung  einer  Hochschule  für  Frauen  im  Oktober  1911  veröffentlicht  worden. 

Wie  einst  Fröbel  durch  den  Namen  Kindergarten  sein  Werk  der  Not- 
imd  Brotfrage  enthob  und  es  als  Erziehungsanstalt  für  die  gesamte  Kindheit 
rettete,  so  wollte  ich  durch  den  Namen  Hochschule  die  Bedeutung  Fröbels 
für  die  gesamte  weibliche  Jugend  retten  und  sie  aus  dem  engen  Bereich 
der  Not-  und  Erwerbsfrage  in  das  lichte  Reich  der  Wissenschaft  führen.  Nomina 
sunt  omina. 

Die  Hochschule  soll  ims  die  noch  fehlende  Ausgestaltung  des  Fröbelschen 
Erziehungswerkes  bringen,  eine  neue  Stufe  in  der  erzieherisch-unterrichtlichen 
Tätigkeit  der  Frau:  die  Lehrerin  für  die  Bildungsanstalten  von  Kinder- 
gärtnerinnen. Für  diese  Lehrerinnen  ist  noch  keine  Schule  vorhanden;  auch 
sie  muß  naturgemäß  organisch  aus  dem  Keime,  dem  Kindergarten,  heraus- 
wachsen und  sich  entfalten.  So  soll  die  Hochschule  die  Wissenschaft  für  den 
mütterlich  erziehlichen  Beruf  der  Frau  bringen. 

Je  mehr  ich  mich  in  die  Pädagogik  Fröbels  vertiefte,  die  Größe  imd  Weite 
seines  Geistes-  und  Gemütslebens  erkannte,  den  Zusammenhang,  in  dem  sie 
mit  Philosophie  und  Psychologie,  mit  Mathematik  und  Naturkunde,  mit  Religion 
und  Kunst  aufgefaßt  sein  will,  desto  klarer  wußte  ich,  daß  diese  Pädagogik  zu 
lehren,  ein  Studium  bedeutet.  Die  Anzahl  der  Lehrkräfte,  die  ein  solches  Studium 
leiten  können,  besitzt  zwar  die  Universität,  doch  beruht  das  Universitätsstudium 
auf  anderer  Voraussetzung.  Wohl  kann  die  Universität  auch  einer  Hochschule 
für  Frauen  eine  freundliche  und  hilfreiche  Alma  mater  sein;  aber  ersetzen  kann 
sie  sie  nicht.  Kein  Abiturium,  keine  Real-  noch  höhere  Töchterschule  führt  zu 
ihr.  Sie  beruht  auf  der  Vorbsreitung  durch  die  Fröbel-Anstalten,  und  die  Aus- 
gestaltung des  Fröbelschen  Erziehungswerkes  ist  ihre  erste  Aufgabe. 

Der  Keim,  den  wir  Fröbel  verdanken,  hat  sich  entwickelt  und  zu  Neubildungen 
geführt.  Neben  den  Kindergärten  und  scheinbar  ganz  unabhängig  von  ihnen 
entstanden  und  entstehen  Schutzanstalten  für  Kindheit  und  Jugend:  Hilfs- 
schulen  für  Schwachbefähigte,  Nichtvollsinnige,  für  Gebrechliche  und  Krüppel, 
für  sittlich  gefährdete  Kinder  und  Jugendliche,  Fürsorge  für  Kinder  gegen  Miß- 
handlung in  ihrer  eigenen  Familie.  Hier  ist  soziale  Arbeit  kein  kleines  und  ein 
sehr  wichtiges  Feld  für  weibliche  Betätigung.  Der  Weg  von  der  erzieherischen 
sozialen  Aufgabe  ist  nirgends  in  so  folgerichtiger,  so  logischer  Weise  gebahnt, 
wie  in  den  Fröbekchen  Bildungsanstalten.  Das  hat  die  Erfahrung  längst  be- 
wiesen.    Kindergärtnerinnen  sind  für  diese  Aufgaben  begehrte  Helferinnen. 

Lange  bevor  die  Frauen  das  Wort  „soziales  Gewissen"  kannten,  lange  bevor 
die  Frauenvereine  für  freiwillige  Hilfstätigkeit  existierten,  bekundeten  die 
Frauen  ihr  mütterliches  Gefühl  in  liebevoller  Sorgfalt  für  Arme  imd  Schwache. 


168  Henriette  Goldschmidt 


Lange  bevor  den  Frauen  ein  Studium  gestattet  war,  hatten  sie  sich  bemülit, 
Wandel  zu  schaffen,  fühlten  sie  den  Trieb,  über  den  Kreis  der  Familie  hinaus 
ihre  Kraft  in  Wirksamkeit  umzusetzen,  innerhalb  des  bürgerlichen  Gemeinlebens 
die  ihnen  gebührende  Stellung  zu  finden.  Sehr  zögernd  öffneten  die  Väter  der 
Stadt  den  Müttern  die  Tore.  Doch  der  gewaltige  Krieg  hat  gezeigt,  daß  die  HiLfe- 
kraft  der  Frau  zur  Gesamtkraft  des  Volkes  gehört  und  nicht  entbehrt  werden  kann. 

Wie  die  erzieherische,  so  ist  auch  die  soziale  Tätigkeit  der  Frau  nicht  an  das 
Studium  der  Universität  gebunden,  doch  ist  für  die  Ausübung  in  fast  allen  Ge- 
bieten: Wohnungs pflege,  Armenpflege,  Gefängniswesen  und  in  zahllosen  anderen 
Gebieten  wissenschaftliche  Kenntnis  notwendig.  Neben  diesen  zwei,  dem  inner- 
sten Bedürfnis  des  weiblichen  Wesens  entkeimten  Trieben  der  Betätigung,  gibt 
sehr  früh  ein  dritter  Beruf  Kunde  von  dem  Bedürfnis  der  Frau,  ihre  helfende, 
pflegende,  erhaltende,  menschliche  Bestimmung  zu  erfüllen,  die  Kranken- 
pflege. 

Die  Erziehungsaufgabe  ist  wie  die  Krankenpflege  zunächst  in  instinktiver 
Weise  von  den  Frauen  ausgeübt  worden;  wir  dürfen  wohl  mit  Sicherheit  an- 
nehmen, daß  das  Verhältnis  zwischen  Mutter  und  Kind  die  erste  Triebfeder  zur 
Krankenpflege  bot.  Noch  bis  zur  Stunde  ist  jedes  weibliche  Mitglied  der  Familie, 
die  Gattin,  Tochter,  Schwester  usw.  die  Pflegerin  in  Krankheitsfällen. 

Sehr  früh  ist  die  Krankenschwester  über  den  Kreis  der  eigenen  Familie  hinaus 
im  Gemeindeleben  tätig  gewesen,  auch  im  Staatsleben.  Mit  dem  Manne 
zieht  die  Krankenschwester  ins  Feld;  auch  sie  bedarf  des  Mutes,  der  Tapferkeit, 
der  Seibotüberwindung,  auch  sie  erfüllt  die  staatsbürgerliche  Dienstpflicht; 
sie  erfüllt  sie  ihrer  Natur  gemäß  im  Heilen  der  Wunden.  Für  eine  Schulung 
der  Krankenschwester  ist  außer  der  Vereinstätigkeit  auch  der  Staat  bemüht; 
es  fehlt  jedoch  die  wissenschaftliche  Schulung  für  die  Obsrin  als  Lehrerin  für 
Kjankenschwestern.  Diese  wissenschaftliche  Schulimg  ist  auch  wie  die  der 
Lehrerin  an  den  Seminaren  für  Kindergärtnerinnen  eine  eigenartige  und  beruht 
auf  anderen  Voraussetzungen  als  das  Studium  an  der  Universität;  sie  gehört 
zu  den  Aufgaben  einer  Hochschule  für  Frauen.  Lehrerinnen  für  Kranken- 
und  Gesundheitspflege  in  der  Familie  sind  eine  Forderung  der  Zeit.  Die  rein 
instinktive  Ausübung  einer  so  wichtigen  Aufgabe  der  weiblichen  Mitglieder 
der  Familie  entspricht  nicht  der  Erkenntnis,  daß  der  Instinkt  geleitet  werden 
muß,  daß  auch  die  häusliche  Krankenpflegerin  eines  vorbereitenden  Unterrichts 
bedarf. 

Indem  wir  die  Lehrerinnen  für  die  Berufsausbildung  der  Krankenpflegerinnen 
schaffen,  schaffen  wir  auch  die  Lehrerinnen  für  Gesimdheits-  und  Krankenpflege 
zum  Hilfsdienst  in  der  Familie. 

Diese  drei  Gebiete,  in  denen  die  Frauen  ihre  erziehende,  er- 
haltende, pflegende  Kraft  bekunden,  bilden  ein  einheitliches 
Ganze  für  die  Erhaltung  der  Volkskraft;  sie  sind  ein  wesentlicher 
Teil  des  Volkstums. 

Aus  diesem  Gedanken  ist  die  Hochschule  für  Frauen  hervorgegangen.  Die 
Zusammenfassimg  der  dem  weiblichen  Wesen  innewohnenden  Urkräfte  und 
ihre  Betätigung  gemäß  der  Kulturstufe,  die  wir  erreicht  haben,  rechtfertigt  ihren 
Namen.  Sie  in  ihrer  Totalität  zu  verwirklichen  war  nur  möglich,  wenn  die 
äußeren  Bedingungen  dazu  vorhanden  waren. 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen  169 

Die  drei  Abteilungen:  die  Pädagogische,  die  Soziale,  die  für  Lehrerinnen 
von  Krankenschwestern  sind  jede  ein  Ganzes  für  sich  und  doch  Glieder  eines 
Ganzen,  durch  innere  Zusammengehörigkeit  von  universaler  Bedeutung,  i) 

Eine  besondere  Gunst  des  Schicksals  fügte  es,  daß  zwei  nebeneinander  liegende 
Häuser  Raum  für  die  vielgliedrige  und  doch  einheitliche  Schule  boten. 

Die  Idee  der  Hochschule  ist  nicht  beschränkt  auf  die  Entwicklung  der  dem 
weiblichen  Wesen  entsprechenden  Seelenkräfte.  Die  Frau  hat  Anteil  an  dem 
gesamten  Kulturgut  ihres  Volkes,  und  sie  will  in  Beziehung  zu  ihm  bleiben. 

Die  Hochschule  soll  belebend  und  fördernd  auf  alle  geistigen  Kräfte  der  Frau 
wirken  —  so  gehört  in  ihren  Studienplan  eine  vierte  Abteilung:  Allgemein- 
bildung. Diese  ist  jeder  Frau  zugänglich  und  erhält  den  Zusammenhang  mit 
den  genannten  drei  Abteilungen;  sie  hebt  die  Einseitigkeit  auf,  die  jeder  Fach- 
bildung anhaftet. 

Ich  bin  mir  b3wußt,  die  Fülle  von  Erwerbsmöglichkeiten  nicht  batont  zu 
haban,  die  aus  den  drei  Berufs  arten  hervorgehen.  So  gewiß  der  Idealist  Fröbel 
mehr  für  die  Erwerbsmöglichkeit  des  weiblichen  Geschlechts  getan  hat  als 
irgendein  Wohltäter  oder  ein  klug  berechnender  Realpolitiker,  so  gewiß  bleibt 
das  Wort  zu  Recht  bestehen,  das  er  über  den  Wert  und  die  Würde  mensch- 
licher Arbeit  sagte:  „Erniedrigend,  nur  zu  dulden,  nicht  zu  verbreiten,  ist 
die  Meinung,  als  arbeite  und  schaffe  der  Mensch  nur  um  seiner  leiblichen  Be- 
dürfnisse (Nahnmg,  Kleidung,  Wohnung)  willen.  Nein,  der  Mensch  schafft, 
damit  das  Göttliche,  das  Geistige  in  ihm  zur  Entfaltung,  zum  Dasein  gelange. 
Das  ihm  dadurch  zukommende  Brot,  Kleid  und  Haus  ist  Zugabe." 

Die  Hochschule  besteht  sechs  Jahre.  Nur  drei  Jahre  hat  sie  im  Schutze  des 
Friedens  an  ihrer  Ausgestaltung  arbeiten  können.  Der  Krieg  brach  aus  und 
mit  ihm  alle  die  Schwierigkeiten,  die  in  seinem  Gefolge  sind.  Trotz  der  Kriegs - 
zeit  hat  die  junge  Anstalt  ihre  Arbeit  auf  den  gegebenen  Grundlagen  aufrecht- 
erhalten, sowie  die  Verhandlungen  mit  der  Königlich  sächsischen  Regierung  wegen 
staatlicher  Anerkennung. 

Am  29.  Oktober  1916  ist  diese  erfolgt. 

Die  Hochschule  für  Frauen  ist  eine  selbständige  Stiftung  mit  eigener  Ver- 
waltung. 2)  Der  Verein  für  Familien-  imd  Voikserziehung,  der  sie  gegründet  und 
den  Unterbau  für  sie  geschaffen  hat,  arbeitet  weiter  in  seinen  Anstalten  und 
gibt  in  seinen  Kindergärten  und  Schulen  die  beste  Vorbereitung  für  die  wich- 
tigste Aufgabe  der  Hochschule:  für  das  Studium  des  Erziehungsberufes 
der  Frau. 

Ich  habe  keine  pädagogische  Abhandlung  über  das  Fröbelsche  Erziehungs- 
werk  zu  schreiben  beabsichtigt,  auch  keine  pädagogische  Studie  über  das  System 
und  die  Methode  seiner  Lehre ;  ich  habe  es  hinstellen  wollen  als  einen  lebensvoll 
pulsierenden  Teil  in  unserem  Volkstum.   Es  hat  seine  Wurzel  in  dem  geheimnis- 

•)  Die  dritte  Abteilung  mußte  in  ihren  Lehrplan  „Naturwissenschaften"  auf- 
nehmen, die  jetzt  eine  selbständige  Abteilung  bilden.  Ein  „Frauenberuf"  der 
Lehrerin  an  Haushaltungsschulen,  der  ganz  besonders  naturwissenschaftlicher 
Kenntnisse  bedarf,  ist  in  Aussicht  genommen. 

')  Der  Geheime  Kommerzienrat,  Herr  Henry  Hinrichsen-Leipzig,  hat  dem  Verein 
für  Familien-  und  Volkserziehung  2  Häuser  und  deren  Einrichtung  als  Schenkung 
zur  Gründung  der  Hochschule  überwiesen. 


170  Henriette  Goldschmidt 


voll  und  doch  sich  fortdauernd  offenbarenden  Leben  der  Natur  und  des  Geistes, 
es  erklärt  sich  selbst  in  seiner  folgenreichen  Entwicklung.  Ein  halbes  Jahr- 
hundert in  seinem  Dienste  stehend,  hat  es  für  mich  in  imserer  inhaltschweren 
Zeit  eine  neue  Bedeutung  gewonnen. 

In  dieser  Kxiegszeit  ist  von  allen  den  schweren  Sorgen,  die  uns  bedrücken, 
von  all  den  Problemen,  die  auftauchen,  vielleicht  das  Schwerste :  der  Rückgang 
der  Geburten,  die  Erhaltung  unseres  Volkes. 

Lange  Zeit  vor  dem  Kriege  wurde  die  Tatsache  von  der  Zunahme  der  Ehelosig- 
keit und  die  Überhandnähme  von  außerehelich  geborenen  Kindern  als  ein  be- 
denkliches Symptom  für  eine  gesunde  Entwicklung  unseres  Volkstums  erkannt. 

Im  ersten  Jahrzehnt  unseres  Jahrhunderts  ging  ein  Aufruf  von  der 
radikalen  Seite  der  Frauenbewegung  aus,  der  das  Interesse,  namentlich 
der  Frauenwelt,  auf  die  Benachteiligung  der  ledigen  Mütter  und  ihrer  außer- 
ehelich geborenen  Kinder  lenkte  imd  in  so  leidenschaftlicher  "Weise  Sympathie 
für  diese  Kinder  kundgab,  daß  er  in  dem  bekannten  Schrei  nach  dem  Kinde 
ausklang  und  eine  berechtigte  Bewegung  in  Mißkredit  zu  bringen  drohte. 

Die  Zeiten  ändern  sich.  Dieser  Schrei  ist  zum  Notschrei  geworden ;  er  ertönt 
aus  dem  Munde  von  Staatsmännern,  von  Volkswirtschaftslehrern;  patriotisch 
gesinnte  Frauen  und  Männer  geben  ihm  Gehör.  In  einem  unserer  besten  Frauen- 
blätter finden  wir  den  Schrei  nach  dem  Kinde  in  den  Willen  zum  Kinde 
gewandelt  und  als  patriotische  Pflicht  von  den  Frauen  gefordert. 

Der  Wille  zum  Kinde  ist  eins  mit  dem  Willen  zur  Familie.  Und  wer  kann 
leugnen,  daß  unsere  Kulturen twicklung  den  Weg  genommen  hat,  diesen  Willen 
in  Frage  zu  stellen.  Der  auflösende  Einfluß,  den  die  Industrie,  das  Fabrik-  und 
Maschinenwesen,  der  Handel  auf  die  Vereinzelung  der  Familienglieder,  auf  die 
Zersetzung  des  Familienganzen,  ausübt,  ist  bekannt.  Von  jeher  bildeten  aber 
die  weiblichen  Mitglieder  einen  Halt  für  das  Familienganze.  Wie  ja  auch  die 
Sprache  das  Verhältnis  zwischen  Bruder  und  Schwester  als  geschwisterlich  be- 
zeichnet, die  Brüderlichkeit  aber  ohne  Verhältnis  zur  Familie  feststellt. 

Die  Frauenbewegung  hat  einen  Kulturfortschritt  von  so  großer  Bedeutung 
errungen,  daß  er  nicht  frei  sein  kann  von  den  Schatten,  die  alle  unsere  Fortschritte 
begleiten.  Das  Bild  der  neuen  Zeit,  die  Selbständigkeit  der  Frau,  zeigt  sich  be- 
reits in  dem  16jährigen  Mädchen  nach  Verlassen  der  Schule.  Nicht  zurück  in  die 
Familie,  sondern  dem  jungen  Manne  gleich,  hinaus  in  die  Welt  richtet  sich  der 
Bhck.  Alle  Wege  sind  offen;  auch  sie  will  sich  ihre  Stellung  in  der  Welt  erringen. 
Daß  sie  Ehelosigkeit,  Kinderlosigkeit  wählen  kann,  wie  der  Mann,  ist  ihr  gutes 
Recht. 

Unberechenbar  wäre  die  Schädigung,  die  sich  vollzogen  hat,  wenn  der  lebendig 
wirkende  Geist  der  Menschheit  nicht  neue  Quellen  entdeckte,  aus  denen  wir 
frische  Nahrung  für  Erneuerung  unseres  Seelenlebens  schöpfen  können. 

Ein  Entdecker  solch  einer  neuen  Quelle  istFröbel  gewesen.  Er  ist  bei  seinem 
Denken  und  Sinnen  über  Erneuerung  des  Familien-  imd  Volkslebens  nicht  an 
der  Frau  vorbeigegangen.  Er  hat  an  ihre  Menschheit  pflegende  Bestimmimg 
gedacht  und  die  Urkraft  des  weiblichen  Geschlechts,  die  mütterliche  Liebe,  als 
Keimpunkt,  als  wesentlichen  Teil  der  Volkskraft  erkannt.  Den  Willen  zima 
Kinde  hat  er  in  jedem  normalen  weiblichen  Wesen  vorausgesetzt  und  diesen  Willen 
zu  einem  Grimdpfeiler  seiner  Lehre  gemacht.  „Kindheitsleben  und  Frauenleben 


Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen  171 


sind  80  innig  eins,  daß  der  Menschheit  Heiligstes  in  ihm  seine  Stätte  findet." 
(F.  Fröb3l.) 

Ich  habe  in  meinen  Darlegungen  in  Kürze  auf  den  Einfluß  hingewiesen, 
den  eine  gut  organisierte  Fröbelsche  Bildimgsanstalt  auf  die  weibliche  Jugend 
auszuüben  vermag. 

Im  Jahre  1871  sprach  ich  in  einem  öffentlichen  Vortrage  die  Forderung  aus : 
Ein  Freiwilligen] ahr  für  die  weibliche  Jugend  einzurichten,  zur  Vorbereitung  für 
den  Dienst  gegen  die  inneren  Feinde  des  VoUcstums. 

Zwanzig  Jahre  später  ist  der  gleiche  Gedanke,  wenn  auch  in  anderer  Form, 
ausgesprochen  worden.  Bei  Beginn  unseres  Volkskrieges  und  während  desselben 
hat  er  durch  die  Bezeichnung  ,,ein  Dienstjahr  für  Mädchen"  festere  Gre- 
stalt  gewonnen. 

Bestimmte  Normen  für  die  Einrichtung  dieses  Dienst] ahres  sind  bis  jetzt 
noch  nicht  gefunden.  Und  doch  bleiben  oft  Fragen  ungelöst,  während  die  Lösung 
bereits  vorhanden  ist.  „Es  gibt  keinen  anderen  Mangel,  als  nicht  zu  benutzen,  was 
da  ist"  (Pestalozzi).  Das  Dienstjahr  für  die  weibliche  Jugend  sei  ein  Lehrjahr 
in  einer  gut  geleiteten  Fröbelschule ! 

Das  Prinzip,  das  dem  Freiwilligen] ahr  für  die  männliche  Jugend  zugrunde 
liegt,  beruht  auf  einer  Vorbereitung  für  den  Krieg  gegen  die  Feinde  nach 
außen.  Das  Dienstjahr  der  weiblichen  Jugend  gelte  den  Feinden  im  Inneren  des 
Volkstums. 

Unsere  Kultur  hat  so  viele  Bindemittel  verloren,  die  den  Zusammenhang 
innerhalb  der  einzelnen  Glieder  der  Familie  festhielten,  sie  hat  so  viele  Lockmittel 
geschaffen,  die  den  Blick  der  Jugend  nach  außen  lenken  und  das  Innenleben 
beeinträchtigen :  so  begrüße  man  dankbar  eine  Stätte,  die  das  Sinnen  und  Denken 
der  Jungfrau  auf  das  Familienleben  zurückführt  und  dem  Lebensalter  zuführt, 
das,  wie  kein  anderes,  ims  das  Geheimnis  des  Seins  und  Werdens  offenbart. 
Hier,  im  Kindergarten,  ist  die  Stätte,  namentlich  im  Volkskindergarten,  wo  der 
Wille  zum  Kinde  in  der  keuschesten  Weise  in  den  jugendlichen  Gemütern  erweckt 
wird  imd  das  mütterliche  Gefühl  in  einer  unserer  Kultur  gemäßen  Weise  sich 
betätigt.  Nicht  an  die  Mutterschaft  gebunden  erweist  die  Kindergärtnerin  mütter- 
liche Liebe  als  natürliche  Regung  ihres  weiblichen  Wesens  allen  Kindern;  hier 
hat  die  weibliche  Jugend  durch  den  Verkehr  mit  den  Kindern  des  Volkes  die 
beste  Gelegenheit,  unser  Volk  kennen  und  achten  zu  lernen  und  als  Helferin 
mit  an  dem  Ausgleich  zu  arbeiten,  der  die  verschiedenen  Stände  verbinden  soll 
und  so  zur  Lösung  der  sozialen  Frage  beizutragen. 

Das  Dienstjahr  ist  bäreits  im  Gange.  Die  zuerst  von  Preußen,  dann  von  den 
anderen  deutschen  Staaten  eingerichteten  Frauenschulen  habsn  begonnen, 
die  Fröbekche  Erziehungslehre  (Theorie  und  Praxis)  in  ihre  Lehrpläne  aufzu- 
nehmen. Diese  Schulen  könnten  durch  einen  auf  das  Dienstjahr  sich  baziehenden 
Lehrgang  zu  obligatorischen  Fortbildungsschulen  gestaltet  werden. 

Die  Vorbareitung  für  den  Er ziehungs beruf  der  Frau  gehört  zur  Dienstpflicht 
der  weiblichen  Jugend  in  Krieg  und  Frieden. 

Der  Stand  der  Kindergärtnerin  ist  anerkannt  und  ihre  mütterlich  erziehende 
Bedeutung  für  die  Volksfamilie  wird  gewürdigt. 

Gemeingut  der  Frauenwelt  ist  Fröbels  Vermächtnis  aber  noch  nicht  ge- 
worden; sie  hat  die  Erbschaft  noch  nicht  angetreten.   „Die  Liebe  zur  Menschheit 


172     Henriette  Goldschmidt,  Vom  Kindergarten  zur  Hochschule  für  Frauen 

soll  dem  weiblichen  Geschleclit  zum  Kultus  in  der  Pflege  der  Kindheit  werden, 
in  der  Pflege  des  Gottesfunkens,  den  die  Kindesseele  birgt"  (B.  v.  Marenholz- 
Bülow). 

Einer  Erneuerung  des  Familien-  und  Volkslebens  hat  Fröbel  nachgesonnen,  und 
von  dem  innerlichsten,  einheitlichsten  Verhältnis,  dem  Verhältnis  zwischen 
Mutter  und  Kind,  von  dem  mütterlichen  Liebesgefühl,  erhofft  er  diese  Erneuerung. 

Wohl  niemals  seit  Menschengedenken  war  die  Sehnsucht  nach  Erneuerung 
des  Menschengeschlechts  so  groß  wie  jetzt,  wie  in  unserer  Zeit.  Die  Züge  des 
Weltbildes  sind  durch  Haß,  Neid  und  Zorn,  durch  alle  schlechten  Leidenschaften 
verzerrt,  durch  Gram  entstellt.  Nur  eine  Grenze  gibt  es  für  die  in  Wut  und 
in  Selbstmord  geratenen  Völker :  die  Kinder  der  Feinde.  Das  Antlitz  des  Kindes 
zeigt  das  Urbild  des  Menschen,  den  Stempel  des  Göttlichen.  Es  sei  uns  Trost 
und  Ermutigung. 

Und  wem  es  beschieden  sein  wird,  die  Zeit  des  Friedens  zu  erleben,  der  wird 
die  Friedensboten,  die  der  Genius  Deutschlands  an  alle  Völker  gesandt,  die 
Kindergärten,  bei  allen  feindlichen  Völkern  finden. 

Wenn  der  Haß  unserer  Feinde  sie  taub  gemacht  hätte  für  die  Geisterstimmen 
eines  Kant,  eines  Schiller  und  Goethe,  der  deutsche  Geist  wird  durch  die 
Stimmen  ihrer  Kinder  sich  vernehmlich  machen  und  ihnen  zurufen :  ,,Hieristdie 
Grenze  für  Euren  Haß!  Diese  Grenze  zeigt  Euch  den  Weg  zur  Rückkehr,  zur 
Erneuerung  des  Lebens." 

Ein  Trost  und  eine  Hoffnung  für  imsere  Zukunft  sei  uns  die  neue  Generation. 
Der  kleine  Kinderarm  werde  der  Hebearm  für  eine  Wiedergeburt,  für  eine  Er- 
neuerung des  Menschengeschlechts! 


Zur  Forderung  einer  Psychotechnik  der  Beobachtung. 

Von  W.  J.  Ruttmann. 

Es  gibt  kaum  eine  Betätigung,  die  in  dem  gewaltigen  züchtenden  Kampfe 
um  die  Wertung  des  Einzelnen  im  ganzen  Volke  eine  größere  Rolle  spielt, 
als  die  des  Beobachtens.  Der  schlichten  Beobachtung  des  Landmannes,  die 
auf  Beachtung  und  Wirksamkeit  mehr  oder  weniger  regelmäßig  wiederkehrender 
und  fast  traditionell  gewordener  Erscheinungen  gerichtet  ist,  hat  sich  im  Volks- 
geiste ungleich  mächtiger  an  die  Seite  gestellt  die  Beobachtung  des  Kaufmanns, 
der  an  der  Hand  kaleidoskopisch  wechselnder  Erfahrungen  seine  Handels- 
maßnahmen trifft  und  die  Beobachtung  des  Technikers,  der  auf  Grund  der 
beobachtenden  Leistungen  des  Entdeckers,  Erfinders  und  Forschers  die  Volks- 
kraft zu  wirtschaftlichen  Höchstleistungen  anreizt.  Das  Kriegserlebnis  schuf 
eine  besondere  Kombination  der  Beobachtungsleistung,  die  zwischen  der  des 
Entdeckers,  Forschers,  Technikers,  Wissenschaftlers  und  des  „Indianers"  auf 
der  anderen  Seite  variiert. 

Daß  sowohl  unsere  psychologische  Forschung  wie  auch  damit  das  gesamte 
Erziehungs-  und  Bildungswesen  die  Beobachtungsleistung  bis  in  die  jüngste 
Zeit  hinein  nicht  genügend  beachtete  und  damit  auch  nicht  systematisch 
züchtete,  muß  eigentlich  wundernehmen.  Dennoch  darf  nicht  vergessen 
werden,  daß  die  psychologische  Forschung  längst  über  lehrbuchmäßige  Be- 
griffe hinausgewachsen  ist  und  tatsächlich  schon  aus  zahlreichen  Einzelunter- 


W.  J.  Ruttmann,  Zur  Forderung  einer  Psychotechnik  der  Beobachtung     I73 

suchungen  Unterlagen  für  eine  Psychotechnik  der  Beobachtung  und  Be- 
obachtungsfehler entnommen  werden  können.  Wenn  auch  noch  keine  syste- 
matischen Ergebnisreihen  dazu  vorliegen,  wenn  auch  die  Kriterien  da  und 
dort  noch  nicht  geordnet  und  zuverlässig  erscheinen,  so  hat  deswegen  die 
Psychologie  nicht  das  Recht,  mit  ihrer  vorläufigen  Sachkenntnis  zurückzu- 
halten. Der  Praktiker  beurteilt  die  Brauchbarkeit  wissenschaftlicher  Ergeb- 
nisse ganz  anders  wie  der  Theoretiker  und  verpflichtet  den  letzteren,  ihm 
gegenüber  weder  mit  Geheimniskrämerei  noch  mit  übertriebener  Vorsicht  zu 
verfahren.  Auch  im  Arbeitsfelde  der  deutschen  Psychologie  ist  vonnöten, 
aus  der  zuwartenden  Vorsicht  herauszugehen  und  auch  Teilergebnisse  der 
Praxis  zur  Verfügung  zu  stellen.  Diese  müßte  ja  lange  warten  und  sicher- 
lich größere  Irrwege  ohne  als  mit  der  Theorie  gehen,  wollte  sie  allein  arbeiten. 
Die  Vorbilder,  wie  sie  Ernst  Meumann  oder  Hugo  Münsterberg  gegeben,  eben- 
so wie  die  Arbeitsforderung  des  deutschen  Pfadfinders  der  angewandten 
Psychologie,  W.  Stern,  jene  in  ihrer  Großzügigkeit,  dieser  in  der  Sicherheit 
seiner  Forschungsweise,  müssen  anreizen,  innigere  Beziehungen  zwischen  der 
wissenschaftlichen  Forschung  und  der  Praktik  der  Lebensgebiete  aufzunehmen. 
Die  psychotechnischen  Grundlagen  der  Beobachtungsleistung  mögen  hier  als 
Beispiel  hingenommen  werden,  das  um  so  wichtiger  erscheint,  als  die  augen- 
blicklich mit  allen  Mitteln  der  Forschung  betriebene  Erkundung  der  Berufs- 
eignung schließlich  ja  nur  ein  grundlegendes  Kapitel  davon  bildet. 

Beobachten  scheint  trotz  der  Planmäßigkeit  und  des  Zielbewußtseins,  die 
ihm  dienen,  an  sich  keine  besonders  hohe  geistige  Leistung  zu  sein,  denn 
die„  Beobachtungsgabe"  ist  in  der  Tierwelt  in  vielen  Abstufungen  zu  finden. 
Wir  wissen  aber,  daß  diese  Art  des  Beobachtens  in  der  besonderen  biono- 
mischen  Beschaffenheit  jeder  Tiergattung  begründet  liegt.  So  reagiert  die 
Katze  auf  Bewegung;  ich  kann  lange  das  Gewehr  auf  sie  anlegen,  ohne  daß 
sie  die  in  der  Bewegungslosigkeit  bestehende  Gefahr  erkennt.  Die  geringste 
Bewegung  verscheucht  sie,  obwohl  damit  keine  direkte  Gefahr  verbunden  ist. 
Hans  Volkelt  1)  hat  den  Begriff  der  Angepaßtbeit  bezw.  Unangepaßtheit  für 
die  Tierseele  formuliert  und  damit  auch  eine  Erklärung  der  tierischen  Be- 
obachtungsleistung geboten.  Daß  die  menschliche  Beobachtungsleistung  von 
ganz  anderer  Art  ist,  vermag  aber  nicht  nur  die  vergleichende  oder  die  Ent- 
wicklungspsychologie darzutun,  sondern  auch  die  Geschichte  des  menschlichen 
Denkens  und  Schaffens  selbst.  Meumann  sagte  gelegentlich ;  „Die  Geschichte 
der  Wissenschaften  zeigt  uns,  daß  die  Menschen  jahrhundertelang  sich  lieber 
mit  Reflexionen  über  die  Wirklichkeit  beholfen  haben,  als  daß  sie  zu  ihrer 
Beobachtung  schritten,  und  im  täglichen  Leben  kommt  vielleicht  auf  hundert 
und  mehr  Menschen,  die  sich  lieber  am  grünen  Tisch  eine  subjektive  Meinung 
über  die  Dinge  bilden,  einer,  der  seine  Meinungen  von  genauen  Beobachtungen 
der  Wirklichkeit  abhängig  macht."  Dem  mehr  wissenschaftlichen  Interesse 
an  der  „phylogenetischen"  Entwicklung  der  Beobachtungsleistung  tritt  ungleich 
wichtiger  zur  Seite  die  Frage,  wie  es  um  ihre  Entfaltung  beim  Einzelwesen 
steht,  insbesondere,  welche  Begabungskomponenten  und  Umweltsreize  voraus- 
gesetzt werden  können.  Wir  deuten  damit  ein  Problem  der  psychotechnischen 
Voraussage  nur  an,  an  dessen  Bewältigung  aber  zunächst  nicht  gedacht  wer- 
den kann. 


»)  Vgl.  H.  Volkelt,  Über  die  Vorstellungen  der  Tiere.     Leipzig  1917.     S.  126. 


174  W.  J.  Ruttmann 


Beobachten  erfordert  in  erster  Linie  Sinnesleistung,  womit  die  Sinnes- 
beschaffenheit zur  einfachsten  und  grundlegenden  Voraussetzung  wird.  Die 
Sinnesbeschaffenheit  kann  untersucht  werden  in  bezug  auf  ihr  normales  bezw. 
krankhaftes  Verhalten,  weiterhin  auf  Umfang,  Unterschiedsmerkraale  der  ein- 
zelnen Empfindungsarten,  auf  ihre  Anpassungsfähigkeit  und  Einteilung  zu 
mehrsinniger  Leistung.  Damit  wird  die  gesamte  Sinnesphysiologie  zur  Grund- 
lage einer  Analyse  des  Beobachtungsvorganges.  Die  Übergänge  von  den 
sinnesphysiologischen  Tatsachen  zu  den  psychologischen  der  Empfindung  und 
Wahrnehmung  sind  durch  die  glänzende  Entwicklung  der  Psychophysik  ge- 
währleistet. Hier  vermag  die  in  Forschungen  von  Weber,  Fechner  und  Helm- 
holtz  bis  auf  Wundt  breit  und  in  mühseliger  Kleinarbeit  sich  dehnende  Un- 
summe von  theoretischer  Erfahrung  bereits  einen  nur  des  Absteckens  harrenden 
Baugrund  für  psychotechnische  Gesichtspunkte  zu  bieten. 

In  inniger  Verbindung  mit  den  Ergebnissen  der  Sinnes-  und  Empfindungs- 
forschung steht  die  Erforschung  der  Reaktionsformen.  Die  Reaktion  darf 
als  die  elementarste  Ausdrucksform  der  Beobachtungsleistung  betrachtet  werden. 
Die  in  der  neuen  Psychologie  so  überaus  fleißig  untersuchte  Art  zu  reagieren 
ist  ohne  weiteres  Psychologie  der  Beobachtungsleistung,  die  Tatsachen  der 
Reaktionszeit,  der  erkannten  Reaklionstypen,  der  Reizschwellen,  die  gesamten 
Ergebnisse  über  die  sogenannten  einfachen  Reaktionen  finden  weiterhin  eine 
Bereicherung  der  psychotechnischen  Möghchkeiten  durch  die  Untersuchung 
und  Prüfung  von  Akten  der  Unterscheidung,  der  Wahl,  der  Kenntnis.  Ihnen 
schließt  sich  an  die  Beurteilung  der  Reaktionen  assoziativer  und  intellektueller 
Art.  Vergleich,  Täuschung,  Augenmaß  bilden  endlich  einen  Komplex  von 
Tatbeständen  und  Leistungen,  der  bereits  Psychotechnik  des  Beobachtens  be- 
deuten kann,  wenn  die  nicht  geringe  Anzahl  von  Einzelergebnissen  aus  fast 
fünfzigjähriger  Entwicklung  der  physiologischen  Psychologie  praktische  Ordnung 
erhält.  So  ergibt  sich  aus  der  Überschau  des  psychologisch-physiologischen 
Arbeitsfeldes  die  grundlegende  Kenntnis  der  Beobachtungstechnik. 

Damit  meinten  wir  nun  zunächst  den  apparativen  Teil  der  Voraussetzungen, 
wenn  man  bei  Leistungen  des  lebendigen  Organismus  überhaupt  in  diesem 
Bilde  sprechen  darf.  Dazu  kommt  die  besondere  Art  der  höheren  Funktionen, 
die  sich  aus  den  Betätigungsrichtungen  des  Vorstellungs-  und  Willenslebens 
wie  aus  der  Intelligenzleistung  aufbauen.  Auch  hier  sind  normalerweise  die 
allgemeinen  psychologischen  Erkenntnisse  als  Voraussetzung  zu  erachten, 
in  ungleich  höherem  Maße  kommt  nun  aber,  um  der  Komphziertheit  der 
psychischen  Funktionen  willen,  die  individuelle  Entfaltung  in  Betracht.  Es 
weisen  die  Beschaffenheiten  der  sensorischen  und  motorischen  Apparate  an 
sich  schon  individuelle  Eigentümlichkeiten  auf;  letztere  steigern  sich  aber, 
wenn  es  sich  um  den  Ausbau  ihrer  Glieder  handelt.  Wenn  man  die  durch 
die  Erblichkeitslehre  versuchte  Beweisführung  von  der  außerordentlichen 
Variabilität  der  Keimesanlage  und  die  durch  ungeheure  Variation  des  Lebens 
wechselnde  persönliche  Erfahrung  beachtet,  erkennt  man  die  vielseitige  Kon- 
struktion der  Persönlichkeiten  und  ihre  besonderen  Leistungen.  Dennoch 
heben  sich  hier  grundlegende  Betätigungen  des  Geistes,  auf  Anlagemerkmalen 
beruhende  Sonderheiten  ab,  die  sich  zu  typischen  Verhaltungsweisen  ordnen 
lassen.  Solche  hat  die  Psychologie  insbesondere  im  Bereiche  des  Vorstellens, 
Lernens,  Denkens  und  Aufmerkens  erforscht,  und  sie  können  uns  in  etwas 
geringerem  als  Führer  dienen  durch  die  individuelle  Äußerung  der  Beobachtungs- 


Zur  Forderung  einer  Psychotechnik  der  Beobachtung  175 


leistung.  Die  Erkundung  der  Leistungstypen  nach  der  psychischen  Seite  darf 
indessen  zwei  Besonderheiten  der  individuellen  Regung  nicht  vergessen,  welche 
durch  die  allgemeine  Analyse  des  Seelenlebens  noch  nicht  erfaßt  werden. 
Das  ist  zunächst  die  individuelle  Suggestibilität,  Impressionabilität,  Dissozia- 
bilität.  Suggestive  Einflüsse  machen  sich  leicht  geltend,  wo  die  Gruppen- 
leistung in  Frage  kommt.  Die  Impressionabilität  vermag  es,  dem  Beobachter 
gleich  im  ersten  Reize  ohne  intellektuelle  Prüfung  das  Urteil  abzuringen,  und 
die  DisSoziabilität  pflegt  eine  Verwirrtheit  zu  disponieren,  die  sich  schon  unter 
den  einfachsten  Umständen  bemerkbar  macht.  Alle  diese  individuellen  Be- 
sonderheiten sind  letzten  Endes  abhängig  von  der  Art,  wie  sich  die  „Nerven" 
den  an  sie  gestellten  Anforderungen  anzupassen  vermögen.  Endlich  ist  An- 
passungsfähigkeit überhaupt  eines  der  bedeutsamsten  Merkmale. 

Zu  alledem  ist  zu  rechnen  die  Fülle  ökologischer  Faktoren.  Es  sind  zu- 
nächst die  engeren  menschlichen  Umstände,  welche  die  Beobachtungsleistung 
beeinflussen,  nämlich  Arbeitsort  und  Arbeitskreis,  weiterhin  die  natürlichen, 
welche  mit  Hellpach  unter  die  Formel  von  den  geopsychischen  Erscheinungen 
gebracht  werden  können. 

Bei  einer  Überschau  der  bisher  angedeuteten  Gesichtspunkte  ergibt  sich, 
daß  trotz  der  Fülle  von  möglichen  Einzelergebnissen  eine  Unterscheidung  der 
Beobachtungsarten  damit  noch  nicht  erreicht  wird.  Die  Analyse  der  Beobach- 
tungsart hat  nämhch  zur  Voraussetzung  die  Kenntnis  des  Beobachtungsmotives, 
den  Zweck  der  Beobachtungsleistung  oder  auch  nur  ihren  Sinn.  Aus  einer 
Anzahl  psychologischer  Vorarbeiten  treten  uns  als  praktische  Möglichkeiten 
entgegen:  Führerbeobachtung,  Spurenbeobachtung,  physikalische  und  biolo- 
gische Beobachtung.  In  diesen  Hauptarten  ist  nur  die  physikalische  Beobach- 
tung so  weit  erforscht,  daß  die  Psychotechnik  direkt  aus  dem  Arbeitsbereiche 
wissenschaftlicher  Erfahrung  entlehnen  kann.  Sie  ist  die  Methode  der  exakten 
Wissenschaften  und  hat  deshalb  nicht  nur  eine  gewaltige  Anwendung  gefunden, 
sondern  auch  eine  sorgfältige  Kritik  ihres  Erfolges.  Sie  ist  bereits  im  Stadium 
angelangt,  die  Beobachtungsfehler  eingehend  zu  erforschen.  Die  deutsche 
Wissenschaft  hat  in  Feldmeßkunst,  Astronomie,  wie  in  zahlreichen  Sonder- 
gebieten der  messenden  Naturwissenschaft  längst  begonnen,  die  Meß-  und 
Schätzungsfehler,  welche  durch  die  persönliche  Leistung  entstehen  müssen, 
festzustellen,  und  Aufgabe  der  Psychologie  ist,  ihre  Kriterien  der  Psychotechnik 
dienstbar  zu  machen.  Die  ungeahnte  Entwicklung  der  physikalischen  Be- 
obachtung im  Kriege  mit  den  vielgestaltigsten  Hilfsmitteln  der  optischen  und 
akustischen  Beobachtung  machen  die  Aufgabe  noch  eindringlicher,  soll  nicht 
die  Psychologie  die  Position  wieder  verheren,  welche  ihr  dank  dem  Fleiße 
glänzender  Forscher  allerwärts  geworden  ist. 

Wir  haben  bis  jetzt  die  Möglichkeiten  angeführt,  welche  eine  Wegweisung 
zu  psychotechnischer  Grundlegung  der  Beobachtungsleistung  bieten  möchten, 
dürfen  aber  endlich  nicht  übersehen,  daß  damit  nur  der  erste  Teil  der  Be- 
obachtungsleistung erfaßt  wird;  allerdings  der  grundlegende.  Die  Beobachtungs- 
leistung gliedert  sich  gewissermaßen  in  ein  Bereich  des  Eindruckes  und  in 
ein  solches  ihrer  Ausdrucksform;  sie  muß  in  einer  Sprache  wiedergegeben 
sein,  die  dem  anderen  Menschen  verständlich  ist,  sei  es  nach  rein  sprach- 
licher, nach  graphischer  oder  mimischer  Richtung.  Jeder  Eindruck  auf  unser 
geistiges  Leben  kann  sich  unmittelbar  zum  Ausdruck  verhelfen  oder  erst  nach 
einer  sozusagen  kulturell  an-  oder  eingeschulten  Art  den  Ausdruck  gestalten. 


176      W.  J.  Ruttmann,  Zur  Forderung  einer  Psychotechnik  der  Beobachtung 

Hiervon  interessiert  uns  psychotechnisch  nur  die  letztere  Frm  Die  Psycho- 
logie hat  sich  in  unserer  Zeit  fleißig  mit  der  Kritik  der  Beobachtungsaussage 
befaßt  und  kann  hier  der  Psychotechnik  mit  Voraussetzungen  dienen.  Das 
Zeitalter  der  Technik  ist  aber  zugleich  ein  Zeitalter  der  denkenden  und  re- 
denden Hand  geworden.  Die  Kriterien  der  schriftlichen  Ausdrucksform 
wie  die  Beachtung  der  zeichnerischen  Typologie  und  deren  Fehlet  quellen 
müssen  deshalb  auch  durch  die  psychologische  Forschung  Vertiefung  und 
wissenschaftliche  Ordnung  erfahren. 

Eine  Anbahnung  psychoteclmischer  Grundlagen  der  Beobachhingsleistung 
ist  an  sich  für  die  aktuelle  Fragestellung  der  Berufseignung  durchaus  nichts 
Neues ;  doch  fehlt  auf  der  einen  Seite  die  Nutzung  der  sehr  zerstreut  liegen- 
den Unterlagen  und  auf  der  anderen  gewissermaßen  das  amtliche  Bindeglied 
zwischen  der  Kenntnis  der  Dinge  und  ihrer  Beurteilung,  amtlich  hier  wort- 
wörtlich genommen.  Man  beruft  sich  zu  viel  auf  Erfahrung,  Bewährung, 
Auslese,  Ausscheidung  usw.  Die  Berufung  auf  Erfahrung  insbesondere  bringt 
doch  nur  allzuleicht  traditionelle  oder  gar  dogmatische  Forderungen,  deren 
Erfüllung  dann  entweder  „sinnenlos"  erfolgt  oder  ohne  Verständnis  ihrer  inne- 
ren Zweckmäßigkeit  geschieht.^) 


Ergänzimg  von  Stichworten  zu  einer  ganzen  Geschichte, 

eine  Nachprüfung  der  Ergebnisse  E.  Meumanns  auf  Grund 

seiner  „Kombinationsmethode". 

Von  Georg  Weiß. 

I. 

Im  13.  Bande  der  „Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  experi- 
mentelle Pädagogik"  berichtet  E.  Meumann  S.  145  ff.  „Über  eine  neue  Methode 
der  Intelligenzprüfung  und  über  den  Wert  von  Kombinationsmethoden". 2) 
Die  von  ihm  ausgebildete  Kombinationsmethode,  deren  Ergebnisse  ich  an 
zwei  Klassen  der  Übungsschule  des  Pädagogischen  Universitäts-Seminars  zu 
Jena  nachprüfte,  „besteht  darin,  daß  eine  mehr  oder  weniger  leicht  faßliche 
Geschichte  mit  deutlich  hervortretender  Pointe  auf  wenige  Stichworte  reduziert 
wird.  Diese  werden  den  Kindern  diktiert,  und  sie  bekommen  die  Instruktion, 
aus  den  Worten  eine  Geschichte  aufzubauen.  Diese  Instruktion  muß  sehr 
genau  gegeben  werden,  und  jüngeren  Kindern  muß  die  Aufgabe  zunächst  an 
einem  oder  mehreren  Beispielen  klargemacht  werden.  Die  Methode  ist  einer 
sehr  großen  Variation  fähig.  Zunächst  ist  darauf  zu  achten,  daß  die  relative 
Bedeutung  der  Stichworte  für  das  Verständnis  des  Zusammenhangs  der  Er- 
zählung genau  berücksichtigt  wird.  Mit  Recht  hat  Ziehen  darauf  aufmerk- 
sam gemacht,  daß  es  ein  besonderer  Prüfstein  der  Intelligenz  ist,  ob  ein 
Individuum  diesen  relativen  Wert  der  gegebenen  Vorstellungen  für  den  Auf- 
bau der  Erzählung  zu  erkennen  vermag."  (S.  155). 

*)  Der  Verfasser  wird  in  einer  demnächst  erscheinenden  Schrift  über  „Beobachtung  und  Be- 
obachtungsfehler in  Beruf  und  Heeresdienst"  eingehend  auf  das  kurz  umrissene  Thema  zurück- 
kommen. 

^  Vgl.  auch :  Meumann,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik.  II*,  S.  446  ff. 


Georg  Weiß,  Ergänzung  von  Stichworten  zu  einer  ganzen  Geschichte  usw.    177 


Von  den  zwei  angegebenen  Erzählungen  wurde  die  zweite  verwendet.  An 
die  Tafel  wurden  die  Worte  geschrieben :  „ Winteruacht  —  Soldat  —  Kälte  — 
erstarrte  —  Ablösung  —  Tod."  Angestellte  Fragen  ergaben  bei  den  zehnjährigen 
Schülern,  daß  das  Verständnis  für  die  Bedeutung  der  Stichworte  vorhanden 
war;  bei  den  dreizehnjährigen  unterblieb  eine  solche  Nachprüfung.  Außerdem 
wurde  allen  Kindern  ausdrücklich  gesagt,  daß  das  Wort  Tod  das  Dingwort  und 
darum  Tod  geschrieben  sei.  Weiter  wurden  die  Worte  von  einem  Schüler  laut 
vorgelesen,  darnach  von  der  ganzen  Klasse  im  Chor.  Nun  bekamen  die  Kinder 
die  Aufgabe  gestellt:  „Aus  diesen  Worten  macht  nun  jeder  für  sich  eine  Ge- 
schichte." 

Die  Versuchspersonen  waren  zwei  Klassen,  ein  4.  Schuljahr  und  ein  7.  Schul- 
jahr, und  zwar  die  ganzen  Klassen,  jede  Klasse  für  sich.  Den  jüngeren  Schülern 
war  die  Aufgabe  einige  Tage  zuvor  an  dem  anderen,  vonMeumann  angegebenen 
Beispiele:  „Haus  brannte  ab  —  Kind  allein  —  kluger  Affe  —  Eltern  dankbar  — 
Belohnung"  klar  gemacht.  Die  älteren  schrieben  ohne  jede  Vorbereitung.  Es 
war  der  erste  derartige  Versuch,  der  mit  ihnen  gemacht  wurde.  Das,  worauf 
es  mir  ankam,  war  lediglich,  festzustellen,  ob  auch  von  meinen  Schülern 
keiner  diePointe  der  zweiten  Erzählung  begreife  und  den  erfaßten 
Sinn  sprachlich  klar  wiederzugeben  vermöchte,  wie  das  bei  Meumann 
und  seinen  Versuchspersonen  der  Fall  war. 

IL 
A)  Ergebnisse  bei  den  zehnjährigen  Schülern: 

1.  Fritz  Seh.:  „In  einer  Winternacht  stand  ein  Soldat  auf  Posten.  Es  war 
eine  Kälte.    Er  erstarrte  ganz,  aber  bald  kam  die  Ablösung.    Da  war  er  Tot." 

2.  Walter  Sehn.:  „Es  war  eine  kalte  Winternacht.  Ein  Soldat  stand  auf 
Posten.  Die  Kälte  war  so  groß,  das  er  erstarrte.  Als  die  Ablösung  kam,  fand 
man  ihn  Tod  auf." 

3.  Willi  W.:  „Es  war  in  einer  Winternacht.  Da  mußte  ein  Soldat  Posten 
stehen.  Aber  ganz  steif  stand  er  da.  Es  war  eine  strenge  Kälte.  Und  als 
er  so  dastand,  da  kam  die  Ablösung.  Aber  als  er  dann  in  das  Quartier  kam, 
war  er  bald  Tod." 

4.  Herbert  Z.:  „In  einer  Winternacht  stand  ein  Soldat  Posten  im  Schützen- 
graben. Es  war  bei  strenger  Kälte  und  der  Soldat  erkältete  sich  und  er  er- 
starrte und  war  ganz  kalt.  Endlich  kam  die  Ablösung,  daß  er  nicht  krank 
wird.     Nach  ein  paar  Tagen  war  er  schwer  krank  und  der  Tod  faste  ihn." 

5.  Walter  E.:  „In  einer  kalten  Winternacht  stand  ein  Soldat  Wache.  Es 
war  so  eine  Kälte,  das  er  erstarrte.  Aber  bald  kam  die  Ablösung.  Aber  der 
Tod  kam  bald." 

6.  Clemens  W. :  „Es  war  in  einer  Winternacht.  Im  Felde  mußte  ein  Soldat 
Wache  stehen.  Und  es  war  eine  große  Kälte.  Der  Soldat  erstarrte  denn  es 
kam  kein(e)  Ablösung  und  bald  kam  der  Tod." 

Diese  sechs  Arbeiten  sind  die  besten  von  den  sechzehn,  die  angefertigt 
wurden.  (Die  Klasse  zählt  zwanzig  Schüler,  vier  fehlten  an  diesem  Tage 
wegen  Krankheit,  bezw.  weil  sie  keine  Schuhe  hatten.)  Manche  Annäherungen 
an  die  richtige  Lösung  kommen  vor.  Die  meisten  scheitern  daran,  daß  sie 
Tod  als  Substantiv  nicht  festzuhalten  vermochten.  Richtig  ist  die  Lösung  allein 
bei  6.  Die  Analogie  zwischen  der  Ablösung  des  Soldaten  durch  die  Wache  und 

ZeitRoiirift  f.  pädagog.  Psychologie.  12 


178  Georg  Weiß,  Ergänzung  von  Stichworten 

der  Ablösung  durch  den  Tod  im  Sinne  des  Sterbens  wurde  durchaus  richtig  er- 
faßt. Das  brachte  zu  voller  Deutlichkeit  die  Befragung.  Als  der  Schüler 
sein  Blatt  abgab,  ließ  ich  mir  von  ihm  die  Arbeit  vorlesen  und  fragte:  „Wo 
war  denn  der  Soldat,  als  der  Tod  kam?"  Antwort:  „Da  stand  er  noch  auf 
Posten  und  guckte,  ob  die  Feinde  kommen."  „Du  schreibst  aber:  es  kam 
keine  Ablösung."     Antwort:  „Die  richtige  nicht,  aber  der  Tod.'* 

B)  Ergebnisse  bei  den  13jährigen  Schülern: 

1.  Hans  B.:  „Es  war  eine  stürmische  Winternacht,  Die  Russen  schienen 
einen  Angriff  zu  planen.  Der  Soldat  Max  Wehner  mußte  Wache  stehen. 
Viele  sprachen  unter  einander:  „Bei  dieser  Kälte  möchten  wir  aber  keine 
Wache  stehen."  Wehner  rückte  nun  aus.  Als  seine  zwei  Stunden  bald  um 
waren,  wurde  es  schneidend  kalt.  Es  kam  so  weit,  daß  seine  Glieder  erstarrten. 
So  kam  denn  die  Ablösung.  Wehner  wurde  ins  Feldlazarett  gebracht,  wo  er 
im  Kampf  mit  dem  Tod  unterlag." 

2.  Hermann  D.:  „Es  war  eine  kalte  Winternacht.  Rauh  blies  der  Wind. 
Kein  Mensch  war  bei  diesem  Wetter  aus  dem  Haus.  Es  war  alles  still.  Nur 
die  Sternlein  blinkten.  In  dieser  Nacht  stand  ein  Soldat  auf  Posten.  Er  hatte 
die  Hände  in  den  Taschen,  den  Kragen  emporgeschlagen  und  das  Gewehr 
unterm  Arm.  So  schlenderte  er  auf  seinem  Platze  hin  und  her.  Seid  einer 
Stunde  war  er  nun  schon  auf  Posten.  Es  schien  ihm  eine  Ewigkeit.  Ach 
hätte  er  doch  ein  Schluck  warmen  Krog  oder  Kaffee.  Er  konnte  nicht  mehr. 
Die  Glieder  schienen  ihm  wie  Bleiklumpen.  Da  nahten  Schritte.  Die  Ab- 
lösung nahte.  Vor  ihr  brach  er  zusammen.  Man  rief  nach  Hilfe.  Aber  als 
diese  kam,  war  es  zu  spät.    Rasch  hatte  der  Tod  den  Menschen  angetreten." 

3.  Walter  S.:  „Es  war  in  einer  kalten  Winternacht  in  Frankreich.  Rings- 
umher waren  Berge,  hinter  denen  die  deutschen  Soldaten  ihre  Aufstellung 
hatten.  Auf  den  Bergen  standen  Vorposten.  Einer  der  Vorposten  hatte  einen 
ganz  besonderen  Stand.  Dieser  Stand  war  auf  einem  sehr  hohen  Berge. 
Auf  dem  Berge  war  großes  Schneegestöber.  So  kam  es,  daß  der  Soldat,  der 
auf  Wache  stand,  von  Schnee  überdeckt  wurde.  Nach  langer  Arbeit  gelang 
es  ihm  sich  durch  den  Schnee  hindurchzuarbeiten.  Als  er  sich  hindurch- 
gearbeitet hatte,  war  er  fast  erstarrt.  Nicht  lange  darauf  kam  die  Ablösung. 
Zwei  Soldaten  wollten  ihn  ablösen,  aber  der  Soldat  hatte  den  Tod  gefunden." 

4.  Fritz  H.:  „Eine  kalte  Winternacht  war  es.  Hell  schienen  die  Sterne. 
Im  Dickicht  lag  ein  Soldat.  Eine  Kugel  hatte  ihn  am  rechten  Oberschenkel 
getroffen.  Er  hatte  einen  verlorenen  Posten  gestanden.  Die  Kälte  biß  an 
seiner  Wunde.  Ruhig  mußte  er  alles  über  sich  ergehen  lassen.  Jetzt  kam 
eine  Gestalt  auf  ihn  zu.  Schwarz,  ganz  verhüllt.  Er  dachte,  jetzt  würde 
wohl  seine  Ablösung  kommen.  Aber  wie  war  er  plötzlich  erschrocken  als 
er  angefaßt  wurde ;  es  war  auch  die  Ablösung,  nämlich  der  Tod.  Am  andern 
Morgen  fand  ihn  eine  Patro(u)ille  vor  Kälte  erstarrt  vor." 

Von  den  15  Schülern  (die  Klasse  zählt  18  Schüler,  3  fehlten  wegen  Krank- 
heit, bezw.  waren  zu  häuslicher  Dienstleistung  für  diese  Stunde  beurlaubt) 
hat  sich  ein  Teil  bemüht,  der  Geschichte  einen  versöhnlichen  Ausgang  zu 
geben  und  haben  drei  die  Aufgabe  sachlich  gelöst,  in  vorzüglicher  Weise  vor 
allem  der  letzte  mit  Rücksicht  auf  die  Form  der  Darstellung.  Manche  An- 
näherung an  die  richtige  Lösung  kommen  auch  hier  vor  (Type  1). 


Hans  Rupp,  Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik     179 

ffl. 

Die  Nachprüfung  der  Ergebnisse,  zu  denen  E.  Meumann  gekommen  ist,  an 
den  Schülern  der  Übungsschule  des  Pädagogischen  Universitäts-Seminars  zu 
Jena,  die  nach  ihrer  Organisation  im  Grunde  eine  Volksschule  ist,  führte  zu 
einem  Resultat,  das  von  dem  Meumanns  ganz  erheblich  abweicht.  Und  dies, 
obwohl  er  ungleich  umfangreichere  Erhebungen  angestellt  hat  oder  anstellen 
ließ  (vgl.  a.  a.  0.  S.  147.).  Wie  läßt  sich  nun  diese  beträchtliche  Abweichung 
erklären? 

1.  Aus  der  Ungleichheit  der  Begabung  nicht.  Die  Annahme,  daß 
die  Jenaer  Kinder  begabter  sein  sollen  als  die  Leipziger,  hat  so  viel  Unwahr- 
scheinlichkeit  gegen  sich,  daß  sie  gar  nicht  in  Betracht  kommen  kann.  Auch 
kann  von  einer  Auslese  der  Begabten  keine  Rede  sein.  Es  wurden 
ja  die  ganzen  Klassen  als  Versuchspersonen  verwendet.  Auch  für  die  Zu- 
sammensetzung der  Klassen  kann  davon  keine  Rede  sein.  Denn  die  Schüler 
werden  jeweils  aufgenommen,  sobald  sie  schulpflichtig  werden  und  verbleiben 
fast  vollzählig  in  der  Schule,  bis  sie  ihrer  obligatorischen  Volksschulpflicht 
von  acht  Jahren  genügt  haben.  Es  kann  sich  also  nur  um  eine  ver- 
schiedene geistige  Entwicklung  der  Kinder  handeln. 

2.  Von  Einfluß  darauf  scheint,  vor  allem  für  die  älteren  Schüler,  die  Zeit, 
in  der  sie  heranwachsen.  Das  Erlebnis  des  Krieges  mit  seinem  großen 
Sterben  spielt  entschieden  mit.  Aber  daraus  allein  dürfte  es  auch  nicht 
zu  erklären  sein;  auf  keinen  Fall  möchte  ich  darin  die  Hauptursache  sehen. 
Ich  kann  das  um  so  eher  sagen,  da  sie  mehr  oder  weniger  unter  meinen 
Augen  herangewachsen  sind  und  ich  ihre  Entwicklung  übersehen  konnte. 

3.  Mitwirken  dürfte  ebenso  sehr  die  Art  des  Aufsatzunterrichts ,  der 
ihnen,  von  einer  Unterbrechung  abgesehen,  im  ganzen  zuteil  geworden  ist. 
Hier  kam  vor  allem  der  freieAufsatz  zu  seinem  Rechte,  ohne  ihn  allein 
maßgebend  sein  zu  lassen. 

4.  Die  Hauptursache  läßt  mich  eine  in  fast  zehnjähriger  praktischer  Arbeit 
gewonnene  und  auf  methodischer  Beobachtung  beruhende  Erfahrung  in  der 
Anwendung  des  sogen,  entwickelnd-darstellenden  Unterrichts- 
verfahrens sehen,  das  sich  der  Grenzen  seiner  Verwendungsmöglichkeit 
stets  bewußt  bleibt,  dessen  Wirkung  ganz  wesentlich  gefördert  wird  durch 
einen  Aufbau  des  Lehrplans,  wie  er  der  Unterrichtsarbeit  der  Übungs- 
schule des  Pädagogischen  Universitäts-Seminars  als  eine  in  immer  größerer 
Deutlichkeit  herauszuarbeitende  Aufgabe  vorschwebt. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hans  Rupp. 
(Fortsetzung  aus  dem  Jahrgang  XV  u.  XVT.) 

m.  Grnppe:    Gehörs  Wahrnehmungen,  insbesondere  musikalische 

Auffassung. ') 

Der  elementare  Psychologie-  und  Pädagogikunterricht  dieses  Oebietea 
muß    einige   physikalische    Erscheinungen    erläutern.     Er    muß    auf    das 

')  Ausführlicher  suche  ich  die  meisten  hierher  gehörigen  Probleme  und  Ver- 
suche zu  besprechen  in  der  Abhandlung  „Über  die  Prüfung  musikalischer  Fähig- 
keiten", Zeitschr.  f.  angewandte  Psychol.  Bd.  IX,  1914. 

12* 


180  Hans  Rupp 

Phänomen  der  Schwebungen  hinweisen  und  ihre  Verwendung  beim 
genauen  Einstimmen  und  beim  Eichen  von  Tönen  zeigen.  Er  muß  die 
Resonanz  erläutern,  namentlich  solche  Resonatoren,  die  durch  die  Größe 
ihres  Hohlraumes  auf  einen  bestimmten  Ton  abgestimmt  werden.  Von  ge- 
ringerer Bedeutung  dürfte  für  den  elementaren  Unterricht  und  für  pädago- 
gische Untersuchungen  die  Interferenz  sein.  Dagegen  wird  der  Unterricht  auf 
die  mannigfaltigen  Arten  zusammeng'esetzter  Schwingungen  hinweisen 
müssen,  er  wird  erläutern,  daß  unsere  Instrumente  an  Zahl  und  Stärke 
der  Obertöne  sehr  verschieden  sind,  und  wird  die  Obertöne  durch  Schwebungen 
oder  Resonanz  oder  durch  direktes  Heraushören  aufzuzeigen  suchen. 

Das  Hauptinteresse  ist  den  Empfindungen  und  den  sich  daran  knüpfenden 
Leistungen  zugewendet. 

Zunächst  sind  die  Eigenschaften  und  Auffassungen  eines  einzelnen 
Tones  zu  studieren.  Hohe  Töne  erscheinen  nicht  allein  hoch,  sondern 
auch  hell,  ferner  spitz,  dünn;  tiefe  Töne  nicht  allein  tief,  sondern  auch 
dunkel,  breit,  voluminös.  Diese  Eigenschaften  werden  vielleicht  vom  Kind 
leichter  und  früher  erfaßt  als  die  Höhe.  Die  Vokale  der  Sprache  erscheinen 
verschieden  hoch,  hell  etc.  Reiches  Material  für  die  Beobachtung  bieten 
die  verschiedenen  Klangfarben:  voll,  leer,  weich,  reich,  näselnd,  scharf 
u.  8.  f.  Es  ist  eine  sehr  anregende  und  lehrreiche  Übung  für  Schüler 
und  Lehrer,  verschiedene  Klänge,  z.  B.  verschiedene  Vokale  oder  Instrumente, 
in  solcher  Weise  zu  charakterisieren.  —  Analoge  Übungen  habe  ich  früher 
bei  den  Farben  besprochen. 

Wir  können  Töne  unterscheiden,  insbesondere  ihrer  Höhe  nach.  Wer  ein 
feineres  Gehör  besitzt,  erkennt  feinere  Unterschiede,  kann  einen  Ton  genauer 
einstimmen.  Ebenso  können  wir  Töne  ihrer  Höhe  nach  absolut,  ohne 
Anhaltspunkte  erkennen,  z.  B.  als  a  oder  d,  oder  wir  können  einen  bezeichneten 
Ton,  etwa  c  aus  dem  Gedächtnis  singen  oder  einstimmen.  Wer  ein  feineres 
absolutes  Tonbewußtsein  besitzt,  bezeichnet  den  Ton  genauer,  trifft  ihn 
genauer.  —  Eine  gewisse  Feinheit  des  Unterscheidens  ist  für  den  Musiker 
unerläßlich.  Dagegen  gibt  es  viele  Musiker,  die  nur  ein  mangelhaftes 
absolutes  Tonbewußtsein  besitzen. 

Die  Hauptrolle  in  der  Musik  spielen  aber  nicht  diese,  an  einzelnen  Tönen 
zu  beobachtenden  Eigenheiten,  sondern  die  Eindrücke,  die  sich  an  eine 
Folge  von  zwei  oder  mehr  Tönen  oder  an  einen  Zusammenklang  derselben, 
also  an  simultane  und  sukzessive  Intervalle,  an  Melodie  und  Har- 
monie anschließen.  Dabei  kommt  es  nicht  nur  auf  die  Tonhöhen  an, 
sondern  auch  auf  die  zeitlichen  und  Stärkeverhältnisse,  auf  den  zeitlichen 
und  dynamischen  Rhythmus. 

Von  den  vielen  möglichen  Intervallen  in  der  stetigen  Tonreihe  wählt 
die  Musik  wenige  Schritte  aus.  Wir  empfinden  sie  als  rein,  die  Abweichungen 
als  unrein,  falsch,  verstimmt.  Zum  Teil  mögen  wir  uns  die  Schritte  einfach 
gemerkt  haben,  zum  Teil  aber  benützen  wir  besondere  Kriterien.  Eines 
derselben  ist  relativ  leicht  zu  beobachten:  die  Verschmelzung,  deren 
Entdeckung  und  Würdigung  wir  Stumpf  verdanken.  Konsonantere  Inter- 
valle verschmelzen  inniger;  Quart,  Quint  und  vollends  die  Oktave  er- 
scheinen uns  daher  „leer".    Andere  Kriterien  sind  schwer  zu  fassen.     Es  er- 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  181 


scheint  daher  ausaichtlos,  die  Wirksamkeit  dieser  Kriterien,  die  Entwicklung 
des  Verständnisses  für  dieselben  beim  Kinde  direkt  zu  verfolgen. 

Dagegen  kann  man  ohne  weiteres  feststellen,  wie  groß  die  einzelnen 
Intervalle  gewählt  werden,  welche  Intervalle  rein  erscheinen.  Wir  suchen 
zunächst  das  Ideal  festzustellen,  indem  wir  die  besten  Musiker  prüfen. 
Diese  Intervalle  stimmen  nicht  genau  mit  den  physikalisch  „reinen" 
Intervallen  (V2,  Va  usw.)  überein;  ferner  dürften  je  nach  dem  Zusammen- 
hang in  der  Melodie  und  Harmonie  etwas  verschiedene  Intervalle  als  ideal 
rein  erscheinen.  Endlich  besteht  für  jedes  Intervall  ein  gewisser  „Umfang"; 
es  kann  innerhalb  gewisser  Grenzen  variieren,  während  es  doch  immer  noch, 
auch  dem  besten  Musiker,  rein  erscheint. 

Mit  dem  so  gewonnenen  Ideal  vergleichen  wir  die  Einstellungen  von 
Unentwickelten  und  von  Unmusikalischen  oder  Halbmusikalischen.  Ergeben 
sich  größere  Schwankungen  (Umfange)  oder  auch  deutliche  Abweichungen 
des  Mittels? 

Diese  Versuche  wie  auch  die  früher  erwähnten  zur  Prüfung  der  Unter- 
scheidungsfähigkeit und  des  absoluten  Tonbewußtseins  dürften  zugleich  zur 
Erziehung,  zur  Bildung  des  Gehörs  sehr  förderlich  sein.  Die  päda- 
gogische Bedeutung  ist  eine  ähnliche,  wie  sie  die  Farbenversuche  besitzen, 
die  ich  in  Gruppe  I  besprochen  habe:  Man  verwendet  Apparate,  die 
ein  hinreichend  feines  Einstimmen  ermöglichen  und  zugleich 
technisch  sehr  leicht  zu  bedienen  sind,  so  daß  sich  alle  Kraft  auf 
das  Hören,   auf  die  Verfeinerung  des  Gehörs  konzentrieren  kann. 

Gehen  wir  von  einfachen  Intervallen  zu  ganzen  Melodien  und  Harmoni- 
sierungen über,  so  treten  neu  die  Regeln  hinzu,  welche  unsere  Melodie 
und  Harmonie  beherrschen.  Ein  Intervall  in  diesem  Zusammenhange  kann 
rein  sein,  aber  doch  nach  unseren  Regeln  unmöglich,  es  paßt  nicht  an 
diese  Stelle.  So  kann  z.  B.  eine  Melodie  nie  mit  der  Sekunde  enden,  so 
sind  Quintenparallelen  verpönt  usw. 

Ich  spreche  in  diesem  Falle  von  „Unmöglichkeit".  Davon  zu  unterscheiden 
ist  die  „Unrichtigkeit".  Ein  Ton  kann  in  eine  Melodie  passen,  also  möglich  und 
rein  sein,  dabei  aber  doch  unrichtig  sein,  sofern  ich  nämlich  eine  bestimmte 
Melodie  im  Auge  habe,  in  der  an  dieser  Stelle  eben  ein  anderer  Ton  steht.  Man 
muß  also  dreierlei  scheiden:  Reinheit,  Möglichkeit  und  Richtigkeit. 

Auch  hier  wird  sich  die  Pädagogik  wohl  darauf  beschränken  müssen 
einfach  festzustellen,  ob  und  welche  Abweichungen  von  den  Regeln  früher, 
welche  später  befolgt  werden;  und  man  wird  darnach,  wenn  diese  Unter- 
suchung vorliegt,  das  Entwicklungsstadium  des  Geprüften  oder  seine  musi- 
kalische Begabung  einschätzen. 

Derselbe  Weg  ist  endlich  für  den  Rhythmus  vorgeschrieben.  Wir  bestimmen 
das  Ideal,  die  Regeln,  die  die  besten  Musiker  befolgen.  Spielen  sie  z.  B. 
die  Taktteile  gleichlang  oder  wird  der  betonte  Teil  ein  wenig  länger  genommen  ? 
Damit  vergleichen  wir  die  Unentwickelten  und  Unmusikalischen.  Kommen 
neben  feineren  Abweichungen  auch  gröbere  Taktfehler  vor  ?  Wann  und  durcii 
welche  Übungen  wird  der  Schüler  kritischer,  taktsicherer? 

Wenn  hier  von  einem  Ideal  die  Rede  ist,  so  ist  natürlich  nur  das  Ideal 
unserer  Musik  gemeint.  Sie  ist  nicht  die  einzig  existierende  oder  gar  die 
einzig  mögliche.    Andere  Systeme  haben  andere  Intervalle,  Melodiegesetze  usw. 


182  Hans  Rupp 

Alle  diese  Prüfungen  gehen  auf  gutes  Spiel  oder  auf  Erkennung  eine» 
guten  Spieles.  Um  Mißverständnisse  zu  vermeiden,  muß  ausdrücklich  her- 
vorgehoben werden,  daß  das  musikalische  Empfinden  damit  nicht  er- 
schöpfend klargelegt  ist.  Wir  prüfen  sozusagen  nur  die  äußere  Wirkung. 
Aber  es  ist  vorläufig  die  klarste  Seite,  an  der  wir  anfassen  können,  und 
es  ist  ein  außerordentlich  großes  und  fruchtbares  Feld. 

Ich  führe  nun  eine  Keihe  einfacher  Apparate  an.  Viele  Versuche  sind 
ohne  Apparate  auszuführen.  Bei  anderen  sind  jedoch  fein  abstimmbar© 
und  genau  geeichte  Apparate  nötig. 

2  kleine  Stimmgabeln  von  400 — 600  Schwingungen,  mit  Lauf- 
gewichten (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Millimeterteilung  für  die  Laufgewichte; 
kein  Resonator. 

Wenn  man  die  Gabeln  mittels  der  Laufgewichte  etwas  gegeneinander 
verstimmt  und  gleichzeitig  ertönen  läßt,  kann  man  Schwebungen  demon- 
strieren und  die  Abhängigkeit  der  Schwebungsfrequenz  von  der  Verstimmung 
zeigen. 

Durch  Aufsetzen  des  Stiels  z.  B.  auf  den  Tisch  wird  der  Ton  so 
verstärkt  (Resonanz),  daß  ihn  ein  ganzes  Auditorium  hört. 

Wenn  man  die  Millimeterskala  eicht,  d.  h.  bestimmt,  welche  Töne  bei  jeder 
Stellung  der  Laufgewichte  erklingen,  so  besitzt  man  in  den  Gabeln  einen 
(sehr  konstanten)  Tonmesser. 

Vor  allem  dienen  die  Gabeln  zu  Versuchen  über  Unterschiedsempfind- 
lichkeit. Man  verstimmt  z.  B.  die  eine  Gabel  gegen  die  andere  so  lange, 
bis  man  den  Unterschied  eben  merkt  oder  eben  nicht  mehr  merkt,  und 
stellt  die  Differenz  durch  Schwebungen  fest. 

2  kleine  Sti]mmgabeln  von  5 — 800  Schw.,  mit  Laufgewichten 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).     Ausführung  und  Verwendung  wie  oben. 

Mit  den  beiden  Paaren  Nr.  1  u.  la  zusammen  lassen  sich  Intervalle  innerhalb 
der  Oktave  400 — 800  einstellen.  Wie  und  wie  genau  stimmen  Musiker,  Un- 
entwickelte und  Unmusikalische  die  Intervalle  ein? 

Man  kann  die  Gabeln  auf  bestimmte,  ausgezeichnete  Intervalle  eichen 
und  ähnliche  Demonstrationen  ausführen,  wie  sie,  allerdings  in  wesentlich 
einfacherer  Form,  mit  den  Intervallapparaten  Nr.  9 — 12    auszuführen  sind. 

Starktönende  Gabel  ohne  Resonanzkasten  zur  Demonstration 
der  Interferenz  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Von  jeder  Zinke  geht  eine 
Tonwelle  aus.  Dreht  man  die  Gabel  um  [ihre  Längsachse,  so  werden  die 
Wellen  gegeneinander  verschoben  und  interferieren.  Man  hört  also  den 
Ton  abwechselnd  schwächer  und  stärker. 

Zungenpfeife  von  100  |Schw.  (Mechaniker  Marx,  Berlin;  Spindler  & 
Hoyer,  Göttingen).  Sie  hat  viele  und  [starke  Obertöne  und  ist  daher  für 
die  Demonstration  der  Obertöne  besonders  geeignet.  Man  kann  dieselben 
durch  Resonanz  verstärken  (vgl.  Nr.  6)  oder  durch  Schwebungen  nachweisen 
(z.  B.  mittels  der  Gabeln  Nr,  1  u.  1  a).  Man  kann  sich  aber  auch  einüben,  sie 
direkt  herauszuhören. 

Handgebläse  zum  Anblasen  der  Pfeifen  Nr.  3,  6,  7,  8,  9,  11,  14  (7  u.  14 
werden  meist  mit  dem  Munde  angeblasen). 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  183 


Obertonapparat,  8  Zungenpfeifen  (Mechaniker  Marx,  Berlin;  Spindler  Mr.». 
&  Hoyer,  Göttingen).    Der  Apparat  enthält  die  Zungen  100,  200,  300  uaw. 
bis  800.    Die  Töne  2 — 800  sind  als  Obertöne  in  der  Zunge 
100  enthalten.    100   ist  ungefähr  Gis  der  großen  Oktave;  ich 
schreibe  der  Einfachheit  halber  Obertöne  von  G  in  Noten  an. 
Die  Zungen  sind  in  ähnlicher  Weise  nebeneinander  angeord- 

net  wie  bei  einer  Mund-  oder  bei  einer  Ziehharmonika.    An- 

^i ZZ    geblasen  werden  sie  durch  das  Gebläse  Nr.  4.    Will  man  eine 

1— #1 —     Zunge  zum  Tönen  bringen,    so   zieht   man    den    zugehörigen 

Knopf  heraus.  Der  Apparat  dient  dazu,  die  Obertöne  vorzuführen,  und  ge- 
stattet zugleich,  sich  im  Heraushören  derselben  zu  üben.  Hat  man  nämlich 
vorher  die  dem  Oberton  entsprechende  Zunge  gehört,  so  ist  man  auf  den 
betreffenden  Ton  vorbereitet,  „eingestellt",  und  hört  dann  meist  auch  den 
Oberton  leichter  heraus. 

Ausziehbare    Resonatoren    nach    Schaefer,    vereinfacht    (Mechaniker  n».«, 
Marx,  Berlin).     Die  Resonatoren  bestehen  im  wesentlichen  aus   2  überein- 
ander gesteckten  Rohren.     Das  Ansatzstück   am  engeren  Rohr  dient  dazu, 
den  durch  den  Resonator  verstärkten  Ton  ins  Ohr  zu  leiten,  oder  auch  dazu, 
einen  Ton  mittels  eines  Schlauches  in  den  Resonator  zu  führen. 

Der  größere  der  2  Resonatoren  resoniert  auf  die  Töne  200 — 400  Schw., 
der  kleinere  auf  400 — 800.  Läßt  man  die  Zunge  100  (Nr.  3  oder  5)  ertönen  und 
hält  den  Resonator  ans  Ohr,  so  kann  man  durch  Verstellen  desselben  der 
Reihe  nach  verschiedene  Obertöne  verstärken  und  deutlich  hörbar  machen. 

Ähnlich  kann  man  die  Resonanz  einem  Auditorium  demonstrieren,  in- 
dem man  eine  Gabel  von  der  Öffnung  des  Resonators  schwingen  läßt  oder 
einen  Ton  gleichmäßig  stark  singt,  und  dabei  den  Resonator  verstellt.  An 
einer  gewissen  Stelle  wird  der  Ton  stärker.  (Zugleich  ändert  sich  seine 
Klangfarbe,  er  wird  breiter,  dumpfer). 

Die  Verstärkung  der  Obertöne  durch  Resonanz  läßt  sich  bekanntlich  auch  am 
Klavier  zeigen.  Man  wählt  z.  B.  das  G  der  großen  Oktave  (etwas  weniger  als 
100  Schw.)  als  Grundton  und  schlägt  ihn  an,  nachdem  man  die  Tasten  der  Ober- 
töne vorher  leise,  ohne  die  Saiten  anzuschlagen,  niedergedrückt  hat.  Die  Ober- 
töne des  Grundtons  bringen  die  freiliegenden  Saiten  zum  Mitschwingen;  diese 
klingen  weiter,  wenn  man  die  Grundtontaste  losgelassen  hat,  und  sind  dann 
deutlicher  zu  hören,  weil  sie  vom  Grundtone  nicht  übertönt  werden. 

Vokalröhre   (Mechaniker  Marx,  Berlin;    Spindler  &  Hoyer,   Göttingen).  Nr. 7, 
Sie  besteht  aus  einer  Zungenpfeife  mit  einem  ausziehbaren  Resonator.   Durch 
Verstellen  des  Resonators  werden    verschiedene  Obertöne  verstärkt.     Dabei 


Z\  R 


W 

ändert  der  Klang  seine  Farbe  in  drastischer  Weise.  Wählt  man  den  Re- 
ßonanzraum  erst  groß,  dann  immer  kleiner,  verstärkt  man  also  erst  die  tiefen 
dann  immer  höhere  Teiltöne,  so  wird  der  Klang  immer  schärfer  und  dünner; 
er  scheint  auch  deutlich  in  die  Höhe  zu  gehen.  Manche  Klangfarben  haben 
Ähnlichkeit  mit  einigen  unserer  Vokale. 

Das  Instrument  ist  auch   dadurch  lehrreich,   weil  es,  wenn  auch  in  sehr 
unvollkommener  Weise,  erläutert,  wie  wir  selbst  die  verschiedenen  Vokale 


184  Hans  Rupp 

hervorbringen.  Wir  erzeugen  durch  Bewegen  des  Kiefers,  der  Zunge  und 
der  Lippen  verschiedene  Resonanzräume  im  Mund  und  verstärken  dadurch 
die  für  die  Vokale  charakteristischen  Teiltöne. 

Um  verschiedene  Klangfarben  zu  erzielen,  ist  es  wohl  am  einfachsten,  ver- 
schiedene Instrumente  zu  benutzen.  Man  spannt  z.  B.  auf  der  Geige  eine  Darm- 
und eine  Metallsaite  auf  und  stimmt  sie  auf  denselben  Ton  ein,  oder  man  streicht 
dieselbe  Saite  einmal  nahe  am  Steg,  einmal  weiter  davon  entfernt  an;  man  spielt 
einmal  mit,  einmal  ohne  Dämpfer,  ferner  vergleiche  man  damit  das  Klavier  oder 
das  Harmonium.  Das  letztere  bietet  in  seinen  verschiedenen  Registern  selbst  eine 
oft  sehr  reichhaltige  Sammlung  von  Klangfarben.  Nimmt  man  endlich  die  ver- 
schiedenen Vokale  der  menschlichen  Stimme  oder  verschiedene  Stimmen  und 
auch  das  Pfeifen  hinzu,  so  verfügt  man  über  eine  stattliche  Anzahl  verschiedener 
Klangfarben,  an  welchen  man  die  Beobachtung  vortrefflich  üben  und  schärfen  kann. 

Dreiklangapparat,  12  Zungenpfeifen,  nach  Stumpf,  etwas  vereinfacht 
(Mechaniker    Marx,    Berlin;    Spindler  &   Hoyer   Göttingen).     Der   Apparat 

r?  7'/.       jlr ^^^  ähnlich  gebaut  wie  der  Obertonapparat  Nr.  5. 

Er  enthält  außer  den  8  Zungen  dieses  Apparates 
noch  die  Zungen  150,  250,  450  und  750  (=  ly,, 
21/2,  4V*  und  7V.  X  100). 


-6 i5»fT^- 

-3 9 


2  '       ^  *— — I        Man  kann  zunächst  alle  Versuche  des  Oberton- 


A»       3         — _, 

•y •       # 1'/. —       0 apparates  ausführen 

• 1        -9—         '        Ferner  kann   man  mittels  der  hinzugefügten 

Zungen  die  Differenztöne  des  Dur-  und  Moll-Dreiklangs  zeigen.  Der  Dur- 
dreiklang 400,  500,  600  enthält  deutlich  hörbar  die  Differenztöne  100,  200, 
300  (vgl.  die  Noten),  also  lauter  konsonante,  zum  Dreiklang  passende  Töne. 
Der  Molldreiklang  dagegen,  z.  B.  500,  600,  750  (10  :  12  :  15)  enthält  die 
Differenztöne  150,  250,  400  und  450,  von  denen  400  mit  750  eine  große 
Septime,  also  eine  scharfe  Dissonanz  ergibt.  Auf  diese  dürfte  das  Schärfere 
dieses  Dreiklangs  zurückzuführen  sein. 

Der  Apparat  enthält  in  der  Oktave  400 — 800  alle  gewöhnlich  vorkommen- 
den Intervalle  in  natürlicher  physikalischer  Stimmung:  kleine  Sekunde  15 :  16 
(750  :  800),  große  Sekunde  8  :  9  (400  :  450),  kleine  Terz  5  :  6  (500  :  600), 
große  Terz  4 : 5  (400 :  500),  Quart  3  : 4  (600  :  800),  Tritonus  4  :  7  (400  :  700), 
Quinte  2  :  3  (400  :  600),  kleine  Sexte  5  :  8  (500  :  800),  große  Sexte  3  :  5 
(450 :  750),  natürliche  Septime  4 :  7  (400  :  700),  große  Septime  9:16  (450  :  800), 
große  Septime  8  :  15  (400  :  750),  Oktave  1  :  2  (400  :  800). 

Man  kann  z.  B.  die  Verschmelzungsstufen  der  einzelnen  Intervalle  demon- 
strieren, oder  prüfen,  wie  oft  bei  verschiedenen  Intervallen  die  Töne  von 
Unmusikalischen  überhaupt  nicht  mehr  geschieden  werden,  der  Zweiklang 
also  für  einen  Einklang  gehalten  wird. 

Intervall apparat,  16  Zungenpfeifen,  nach*Stumpf,  etwas  vereinfacht 
(Mechaniker  Marx  Berlin;  Spindler  &  Hoyer,  Göttingen).  Der  Apparat 
soll  verschiedene  Intervalle  in  physikalischer,  enharmonischer  und  temperierter 
Stimmung  demonstrieren.    Die  Noten  zeigen  die  Töne,  welche  der  Apparat 


I^^L     L.U     U.    "'    !^'    .^'i^-^ 


taz. — j^    ,,^_jj _ 

tp  tp  tp  tp 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  186 


«ntliält.    Das  Zeichen  tp  unter  einigen  Noten  bedeutet  temperierte  Stimmung. 

Die  übrigen  Töne  sind  physikalisch  (nicht  psychologisch !)  „rein"  gestimmt.  Die 

Vorschläge  zeigen  an,  auf  welchem  Wege  der  betreffende  Ton  gewonnen  ist: 

z.  B.  ist  bei  gis  erst  die  reine  Terz  gh  und  von  dieser  die  reine  kleine  Terz  nach 

unten,  bei  as  die  reine  Quart  gc,  dann  die  reine  große  Terz  nach  unten  genommen. 

Der  Apparat  enthält  folgende  Intervalle:  2  enharmonische  kleine  Sekunden 

24  :  25  (400  :  4162/3 ;  g  :  gis),  15  :  16  (400  :  4262/3;  g:as);  dazwischen  die  tem- 
12 

perierte   1  :  V  2    (400  :  423,8;  g  :  gis  [tp]);  große  Sekunde  8  :  9  (400  :  450; 

12_ 

g  :  a);  kleine   Terz  5  :  6  (400  :  480;  g  :  b);   temperierte  kleine  Terz  1  :  1/2» 

(400  :  475,7;  g  :  b  [tp.])  große  Terz  4  :  5  (400  :  500;  g  :  h);  temperierte  große 
12 

Terz  1  :  V  24  (400  :  504,0;  g  :  h  [tp.]);  Tritonus  5  :  7  (500  :  700;  h  :  fi); 

12 

Quinte  2  :  3  (400 :  600;  g  :  d);  temperierte  Quinte  1  :  V  2'  (400  :  599,3;  g :  d 
[tp.]);  kleine  Sexte  5  :  8  (500  :  800;  h  :  g);  natürliche  kleine  Septime  4  :  7 
<400  :  700;  g  :  fi);  2  enharmonische  kleine  Septimen  9  :  16  (400  :  711V9; 
g  :  fii)  und  5  :  9  (400  :  720;  g  :  fiii);  große  Septime  8  :  15  (400  :  750; 
g  :  fis);  Oktave  1  :  2  (400  :  800;  g  :  g).  Ferner  sind  die  beiden  »Sexten 
und  die  Quarte  in  reiner  und  temperierter  Stimmung  enthalten  als  Um- 
kehrungen der  entsprechenden  Terzen  und  Quinten. 

Der  Apparat  zeigt,  daß  zwischen  den  einzelnen  Stimmungen  z.  T.  sehr 
deutliche  Unterschiede  bestehen.  So  sind  gis  und  as  deutlich  verschieden; 
zwischen  beiden  liegt  die  temperierte  kleine  Sekunde.  Bei  den  Terzen  und 
Sexten  sind  die  temperiert  gestimmten  Intervalle  ebenfalls  deutlich  von 
der  reinen  verschieden.  Bei  der  Quinte  und  Quarte  stimmen  beide  fast  genau 
überein.  Die  3  kleinen  Septimen  sind  wieder  ein  drastisches  Beispiel,  wie 
verschiedene  Töne  man  durch  reine  und  enharmonische  Stimmung  erhält;  zu- 
gleich erkennt  man  den  höheren  Verschmelzungsgrad  der  natürlichen  Septime, 
obwohl  diese  subjektiv  nicht  rein,  sondern  entschieden  zu  klein  erscheint. 

Da  der  Apparat  viele  Töne  des  vorigen  enthält,  liegt  es  nahe,  ihn  mit 
diesem  zu  kombinieren;  ein  solcher  Apparat  würde  die  Funktionen  des  Ober- 
ton-, Dreiklang-  und  Intervallapparates  vereinigen  (21  Zungen). 

Intervallapparat,    Metallophon,    nach    Stumpf,    etwas    vereinfacht  Nr. lo. 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).     Dieselben  Intervalle  wie  in  Nr.  9  werden  hier 

durch  Anschlagen  von  Metallstäben  erzeugt.    Nur    i 

sind  die  Töne  um  eine  Oktave  höher,  sie  gehen      nnfTTTinPlFlFIFinFlPinn 
also  von  800—1600  Schw.,  da  tiefere  Stäbe  nicht      UJUJIJJUUUIJJUUUUU 

80  gut  klingen.    Man  braucht  kein  Gebläse.    Der    ' 

Ton  hält  freilich  nicht  gleichmäßig  an  wie  bei  den  Zungen,  sondern  klingt 
allmählich  ab,  wie  bei  den  Stimmgabeln.     (Vgl.  die  Abbildung  zu  Nr.  13.) 

Intervallapparat  für  kleinste  Intervalle,  16  Zungenpfeifen,  Nr.ii. 
nach  Stumpf,  etwas  verändert  (Mechaniker  Marx,  Berlin;  Spindler  &  Hoyer, 
Göttingen).  Der  Apparat  ist  als  Zusatz  zum  Apparat  Nr.  9  gedacht.  Es 
sind  8  Töne  um  400,  8  um  800  Schw.  hinzugefügt,  u.  zw.  um  400  die 
Töne  388,  392,  396,  398,  402,  404,  408,  412,  um  800  die  Töne  mit  doppelt. 
80  großen  Schwingungszahlen.     Mit    ihnen  kann  man  die  Unterschiedsem- 


186 


Hans  Rupp 


pfindlichkeit  und  Intervallempfindliclikeit  prüfen.  Man  spielt  bald  eine 
größere,  bald  eine  kleinere  Differenz  vor  und  stellt  für  jede  fest,  in  wieviel 
0/0  der  Fälle  sie  richtig  beurteilt  wird.  Ebenso  spielt  man  durch  Hinzu- 
nehmen der  Zungen  von  Nr.  9  bald  physikalisch  reine,  bald  verstimmte 
Intervalle' und  läßt  entscheiden,  ob  sie  subjektiv  rein  erscheinen  oder  nicht.. 
Man  erkennt  so,  welche  Intervalle  im  Durchschnitt  rein  erscheinen,  und 
kann  zugleich  die  Streuung,  den  Umfang  derselben  feststellen. 

Der  Apparat  enthält  mit  9  kombiniert  32  Zungen.  Man  kann  ihn  aber 
außerdem  mit  8  und  5  kombinieren  und  erhält  dann  einen  ziemlich  viel- 
seitigen Apparat  von  37  Zungen. 
Nr.  12.  Intervallapparat  für  kleinste  Intervalle,  Metallophon,  nach 
Stumpf,  etwas  verändert  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Wie  der  vorige,  nur 
mit  Metallstäben  und  mit  doppelt  so  großen  Schwingungszahlen.  Der 
Apparat  ist  als  Zusatz  zu  Nr.  10  gedacht. 
Nr.i3        Siamesische   und   Javanische  Tonleiter,  Metallophon,  nach 

Stumpf  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Die  Siamesen  teilen  die  Oktave  in 
7  gleichtemperierte  Stufen,  die  Ja- 
vaner in  5,  während  wir  bekannt- 
lich 12  Stufen  (Halbtöne)  zählen. 
Dadurch  ^entstehen  Intervalle,  die 
von  unseren  z.  T.  erheblich  ab- 
weichen. So  liegt  die  siamesische 
Terz  zwischen  unserer  großen  und 
kleinen  Terz. 

Das  Instrument  gibt  die  beiden 

Leitern  in  der  Oktave  800—1600. 

Wir  hören  leicht  unsere  Intervalle 

hinein  und  übersehen  die  Verstimmung.    Je  nach  dem  Zusammenhang  hören 

wir  verschiedene  Intervalle  hinciii.      So   erscheint    die    siamesische  Septime 

beim  Hinaufspielen  der  Ton- 


leiter als  große,  beim  Zurück- 
spielen als  kleine  Septime. 
»r.  11  Tonometer  nach  v.  Horn- 
bostel  (Mechaniker  Zimmer- 
mann, Leipzig).  Der  Apparat 
benutzt  ein  im  Handel  käuf- 
liches Instrumentchen:  ein 
Zungenpfeifchen,  dessen  Ton- 
höhe variiert  werden  kann,  in- 
dem man  die  Zunge  verlängert 
oder  verkürzt.  Die  Variation 
geht  bis  zu  einer  Oktave.  Eine 
Kreisteilung  gestattet,  die 
Stellung  genau  abzulesen  und 
immer  wieder  herzustellen. 
Man  kann  2  oder  3  Pfeifchen 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  187 

benutzen  und  zugleich  anblasen.  Sie  werden  auf  ein  kleines  Gehäuse  auf- 
gesetzt, das  so  eingerichtet  ist,  daß  sich  der  Luftstrom  gleichmäßig  auf 
alle  3  Pfeifen  verteilt.  Will  man  nur  1  Pfeifchen  oder  die  Pfeifchen  hinter 
einander  anblasen,  so  braucht  man  das  Gehäuse  nicht  vorzusetzen. 

Der  Apparat  ist  vielseitig.  Man  kann  Schwebungen  und  Differenztöne 
demonstrieren.  Man  kann  die  erwähnte  Skala  eichen  und  besitzt  dann 
einen  Tonmesser,  mit  dem  man  andere  Töne  bis  auf  2  Schwingungen  genau 
messen  kann  (vgl.  auch  Nr.  1).  Man  muß  nur  darauf  achten,  daß  man  das 
Instrument  immer  mit  gleicher  Stärke  anbläst. 

Endlich  kann  man  Versuche  über  Unterschiedsempfindlichkeit  und  Inter- 
vallempfindlichkeit anstellen,  letztere  auch  bei  simultanen  Intervallen.  Usw. 

Dichord  nach  Spearman  (Mechaniker  Köhler,  Leipzig).    Über  die  Stege  Nr.i«. 
I  und  II   bezw.    III  u.  IV   sind   Klaviersaiten    gespannt.     Zwischen  diesen 
Endstegen     sind     4    verschiebbare  _  i  9 

Stege  1 — 4  eingesetzt.    Sie  können 


-O D- 


-D- 


an  jeder  Stelle  festgeschraubt  und 

die    Saiten    an   ihnen   eingeklemmt 

werden.     Dadurch   erhält   man    für 

jede     Saite     3     unabhängig     von-        ^       "         ^  ^      ^''"^ 

einander  schwingende  Stücke.    Man 

benutzt  nur  die  2  äußeren,    und    hat  so  im   ganzen   4   Töne,    deren   Höhe 

man    innerhalb   gewisser   Grenzen   beliebig    einstellen    kann.     Die   Stellung 

der    Stege     kann     an     einer    Millimeterteilung    mittels    Nonius    abgelesen 

werden.     Außerdem    geben    Schwingungszahlen   die  Töne    an,    welche   jede 

Saite  bei  den  betreffenden  Stegstellungen  gibt.    Das  setzt  aber  voraus,  daß 

die  Saite  vorerst  genau  auf  den  Grundton  eingestimmt  ist. 

Die  Saiten  lassen  sich  in  den  mittleren  Tonlagen  bis  auf  Bruchteile  einer 
Schwingung  genau  einstellen.  Der  Tonumfang  des  Instruments  reicht  bei- 
läufig von  160  bis  4000  Schw.  Die  Saiten  werden  mit  einem  Stift  gezupft, 
ähnlich  wie  die  Metallsaiten  der  Zither. 

Tontabellen  nach  Stumpf-Schaefer  (Verlag  A. Barth,  Leipzig).  9 Tabellen,  Nr.i* 
die  man  bei  Versuchen  und  Übungen  fast  stets  zur  Hand  haben  muß,  um 
die  Schwingungszahlen  der  Töne  und  die  Verhältnisse  der  Intervalle  nach- 
zusehen. Sie  geben  die  Schwingungszahlen  der  Töne  unserer  Leiter  in  10 
Oktaven  von  C2  bis  c'  und  zwar  der  Töne  in  natürlichen,  temperierten  und 
in  den  wichtigsten  enharmonischen  Stimmungen.  Ferner  sind  alle  diese 
Töne  in  3  verschiedenen  Stimmungen  des  ganzen  Systems  gegeben:  1)  in 
der  heutigen  internationalen  Normalstimmung  a^=  435;  2)  in  der  älteren 
Normalstimmung  ai<=  440;  3)  in  der  für  Berechnungen  bequemeren  physi- 
kalischen Stimmung,  in  welcher  C2==  16,  0^=256,  ai=  430,54  ist.  Die 
temperierten  Leitern  sind  in  Dezimalbrüchen,  die  reinen  und  enharmonischen 
in  Dezimal-  und  in  gewöhnlichen  Brüchen  angegeben. 

Exzelsior-Phonograph  mit  Reiseverpackung  (Photozentrale  des  Kolonial-  N,.tT. 
kriegerdankes,  Berlin).  Wie  der  Phonograph  bei  Aufnahmen  von  Gesängen  primi- 
tiver Völker  und  von  Volksgesängen  unentbehrlich  geworden  ist,  so  dürfte  er 
auch  für  die  Pädagogik  Bedeutung  gewinnen.  Man  kann  mit  bloßem  Ohr  grobe 
Fehler  in  Ton  und  Takt  hinreichend  sicher  feststellen.  Will  man  aber  genauer 


188  Hans  Rupp 

untersuchen,  wie  intoniert  wird,  wie  Kinder,  Halbmusikalische  und  wie 
andererseits  die  besten  Musiker  spielen,  so  ist  das  Ohr  ganz  unzuverlässig. 
Man  vergleiche  z.  B.  das  subjektive  Hineinhören  verschiedener  Intervalle, 
welches  bei  der  siamesischen  Tonleiter  zu  beobachten  ist  (vgl.  Nr.  13). 
Der  Phonograph  gibt  Tonhöhe  und  Takt  genau  richtig  wieder;  nur  die 
Klangfarbe  ist  verändert.  Man  kann  das  phonographierte  Stück  beliebig 
oft  reproduzieren  und  die  Tonhöhe  mittels  eines  Tonmessers  (vgl.  Nr.  1  und 
Nr.  14)  bestimmen.  Dadurch  lassen  sich  die  angeführten  Probleme  exakt 
untersuchen. 

Die  zur  Untersuchung  des  Rhythmus  dienenden  Apparate  könnten  ebenso 
wie  der  Phonograph  auch  bei  den  zeitmessenden  und  zeitregulierenden  Appa- 
raten (Gruppe  Vin  und  IX)  angeführt  werden.  Um  aber  die  Zusammenstellung 
akustischer  Apparate  zu  vervollständigen  erwähne  ich  hier  wenigstens  die 
Aufnahmeapparate. 

Nr.  18.  Elektrischer  Taster  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Man  klopft  auf  ein 
Brettchen,  ähnlich  einer  Klaviertaste.  Das  Brettchen  schlägt  sofort  nach 
dem  Niederdrücken  auf  einen  Stift  auf,  wodurch  ein  Strom  geschlossen  wird. 
Durch  das  Aufschlagen  entsteht  ein  scharfes  Geräusch,  ein  kurzer  Schlag, 
welcher  dem  Spielenden  als  Kontrolle  des  Rhythums  dient.  Durch  das 
Schließen  des  Kontaktes  wird  in  bekannter  Weise  auf  einen  Kymographion 
oder  Chronograph  eine  Marke  geschrieben;  es  lassen  sich  die  Zeiten  zwischen 
den  Kontakten  messen. 

Nr.  19.  Taster  für  Luftübertragung  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Das  Brettohen 
des  Tasters  drückt  hier  auf  eine  Lufttrommel;  der  Druck  wird  in  bekannter 
Weise  auf  einen  Schreiber  übertragen.  Dieser  schreibt  nicht  nur  den  Beginn 
und  die  Dauer  des  Druckes,  sondern  auch  die  Stärke,  den  Anstieg  und  Abfall 
auf,  freilich  nicht  so,  daß  z.  B.  bei  doppelt  so  starkem  (doppelt  so  tiefem) 
Niederdrücken  genau  die  doppelte  Exkursion  gezeichnet  würde.  Aber  dem 
stärkeren  (tieferen)  Druck  entspricht  doch  eine  stärkere  Exkursion. 

Wenn  man  mit  dem  Finger  klopft,  so  hört  man  kaum  das  schwache, 
dumpfe  Geräusch,  das  durch  das  Aufschlagen  entsteht.  Der  Taster  eignet 
sich  also  für  Versuche,  bei  welchen  eine  akustische  Kontrolle  vermieden 
werden  soll.  Will  man  aber  Geräusche  haben,  so  kann  man  z.  B.  einen  Finger- 
hut über  den  Finger  stecken  oder  mit  einem  Stab  auf  das  Brettchen  klopfen. 

IV.  Gruppe:  Wahrnehmungen  der  übrigen  Sinne,  abgesehen 
Yon  ihren  Banmwahrnehmungen. 

Die  Lehre  von  den  5  Sinnen  ist  längst  aufgegeben.  Sicher  festgestellt 
sind  bis  jetzt  11  Sinne;  vielleicht  sind  es  aber  wesentlich  mehr.  Nicht 
berücksichtigt  sind  bei  diesen  11  Sinnen  die  Empfindungen,  die  uns  über 
den  Zustand  im  Inneren  unseres  Körpers  berichten:  Hunger,  Durst,  Ekel, 
die  mannigfachen  Empfindungen  bei  Erkrankungen.  Ferner  sind  nur  die 
Schmerzempfindungen  der  Schmerzpunkte  der  Haut  berücksichtigt;  vielleicht 
gibt  es  andere  Arten  von  Schmerzempfindungen,  vielleicht  auch  Lust- 
empfindungen —  ganz  abgesehen  von  Lust-  und  Unlust-Gefühlen. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  189 

Jeder  Sinn  kann  für  die  experimentelle  Pädagogik  Interessantes  bieten. 
Wir  haben  bei  den  Farben  gesehen,  wie  die  Klassifikation,  die  Ordnung  in 
ein  System  auf  Grund  der  Ähnlichkeit,  die  Unterscheidung  der  verschie- 
denen Eigenschaften  eine  Aufgabe  ist,  an  welcher  sich  die  Beobachtungs- 
kunst messen  und  üben  kann.  Eine  ähnlich  reizvolle  Aufgabe  dürften  die  sehr 
verwickelten  Geruchs-  und  Geschmacksempfindungen  bieten.  Leider  ist  die 
Technik  solcher  Versuche  etwas  umständlich,  so  daß  ich  vorläufig  von 
Apparaten  für  solche  Versuche  abgesehen  habe.  Auch  wird  die  Pädagogik 
Gebiete  vorziehen,  die  zugleich  größeres  praktisches  Interesse  besitzen,  als 
es  bei  Geruch  und  Geschmack  (wenn  man  von  einigen  speziellen  Berufen 
absieht)  der  Fall  ist. 

Eine  zweite  Aufgabe,  die  sich  bei  allen  Sinnen  durchführen  läßt,  ist  die 
der  absoluten  und  der  Unterschiedsschwelle.  Aber  auch  hier  wird 
die  Pädagogik  sich  solche  Sinne  und  solche  Aufgaben  herausgreifen,  die  zu- 
gleich größere  praktische  Bedeutung  haben;  so  hat  z.  B.  die  Unterschieds- 
schwelle gewisser  Gelenkempfindungen  für  das  Schätzen  von  Gewichten 
praktischen  Wert. 

Eine  dritte,  vielleicht  die  interessanteste  Aufgabe,  bildet  die  Untersuchung 
von  Erscheinungen,  ähnlich  der  der  Gedächtnisfarben.  So  lösen  z.  B. 
dieselben  Gelenkempfindungen  beim  Heben  eines  Gewichtes  den  Eindruck  eines 
schweren  Gewichtes  aus,  wenn  das  Gewicht  kleiner  ist;  sie  werden  besser 
„ausgenützt".  Wir  haben  also  eine  Anpassung  an  die  Wirklichkeit  vor  uns, 
die  nicht  weniger  bewunderungswürdig  und  nicht  weniger  praktisch  wert- 
voll ist,  als  die  anologe  Erscheinung  der  Gedächtnisfarbe.  Solcher  Er- 
scheinungen gibt  es  noch  eine  ganze  Reihe. 

Einige  weitere  Erscheinungen,  wie  das  Objektivieren  der  Empfindungen, 
das  kunstvolle  Zusammenwirken  verschiedener  Empfindungen  usw.,  finden 
bei  der  speziellen  Besprechung  der  einzelnen  Sinne  Erwähnung. 

A)  Tastsinn. 

Unter  Tastsinn  im  strengen  Sinne  des  Wortes  verstehen  wir  nur  die 
Druckpunkte  der  Haut.  Wenn  man  mit  einer  Spitze  die  Haut  abtastet, 
so  empfindet  man  die  Berührung  einzelner  Punkte  als  warm,  andere 
Punkte  als  kalt,  wieder  andere  als  schmerzhaft.  Wieder  andere  endlich  er- 
geben eine  indifferente  Berührungsempfindung.  Das  ist  der  eigentliche 
Tastsinn. 

Gewöhnlich  werden  ausgedehntere  Stellen,  also  viele  Punkte  gereizt; 
freilich  findet  dabei  der  Reiz  nicht  überall,  sondern  meist  nur  an  den 
Rändern  statt,  wo  die  Haut  gedehnt  wird. 

Bei  stärkerem  Druck  wird  nicht  nur  die  Haut  gereizt,  sondern  auch  die 
tieferen,  unter  der  Haut  liegenden  Partien;  wir  spüren  Muskel,  Knochen 
u.  dgl.  Man  spricht  auch  von  innerem  Tastsinn,  gegenüber  dem 
äußeren  Tastsinn  der  Haut. 

Die  Empfindungen  des  äußeren  und  inneren  Tastsinnes  werden  von  uns 
in  mannigfacher  Weise  verarbeitet.  Wir  vergleichen  und  schätzen  die 
Intensität    des    Druckes.      Dementsprechend    bestimmen    wir    die    absolute 


190  Hans  Kupp 

Schwelle  und  Unterschiedsscliwelle :  wir  prüfen,  ob  sich  gewisse  Standard- 
."gewichte,  namentlich  unsere  Maßeinheiten  eingeprägt  haben;  wir  untersuchen, 
wie  feine  Unterschiede  zwischen  Gewichten  noch  richtig  erkannt  werden; 
wir  vergleichen  auch  Unterschiede  von  Gewichten,  stellen  z.  B.  fest,  ob  der 
Unterschied  zwischen  50  und  60  g  ebenso  groß  erscheint,  wie  der  zwischen 
10  und  20  g;  wir  können  versuchen,  zu  einem  Gewicht  ein  zwei-,  drei- ....  mal 
«o  schweres  zu  bestimmen,  u.  s.  f. 

Wie  genau  urteilt  in  allen  diesen  Fällen  der  Erwachsene,  wie  das  Kind? 
wie  der  Intelligente,  wie  der  weniger  Intelligente  oder  Schwachsinnige?  Wie 
weit  läßt  sich  die  Fähigkeit  üben?  durch  welche  Übungen  kann  sie  schnell, 
mühelos  gesteigert  werden? 

Wir  können  die  nackte  Druckempfindung  an  sich  spüren.  Wir  können 
«ie  aber  auch  auf  unseren  Körper  lokalisieren,  und  wir  können  sie  in  den 
berührenden  Gegenstand  verlegen ;  im  letzteren  Falle  empfinden  wir  unmittel- 
ha,T  eine  Schwere  oder  Leichtigkeit  des  Gegenstandes. 

Ähnlich  schreiben  wir  den  Körpern  auf  Grund  unserer  Berührungs- 
empfindungen Härte  und  Weichheit  zu;  ebenso,  namentlich  wenn  er  über 
4iie  Haut  hin  bewegt  wird,  Glätte  und  Rauheit. 

Unterscheidet  auch  das  Kind  diese  Eigenschaften  richtig?  Kann  es  der 
^Geistig-Zurückgebliebene? 

Derselbe  Druck,  dasselbe  Gewicht  erzeugt  auf  verschiedenen  Stellen  der 
Haut  verschiedene  Empfindungen ;  die  Druckpunkte  liegen  verschieden  dicht, 
'die  Haut  ist  bald  gröber,  bald  zarter,  u.  dgl.  m.  Ein  Gegenstand  kann  mit 
■einer  breiten  Fläche  auf  der  Haut  aufliegen,  oder  mit  einer  Kante  oder 
gar  Spitze  drücken;  die  Empfindungen  sind  wieder  sehr  verschieden.  Dies 
alles,  obwohl  das  objektive  Gewicht  stets  genau  dasselbe  ist.  Haben  wir 
nun,  den  verschiedenen  Empfindungen  entsprechend,  den  Eindruck  ver- 
«chiedener  Gewichte?  Oder  ziehen  wir  die  Verschiedenartigkeit  der  Reizung 
in  Betracht,  nützen  den  Reiz  verschieden  aus? 

Eine  andere,  für  Leben  und  Schule  interessante  Ausnützung  habe  ich 
schon  früher  erwähnt.  Wenn  derselbe  Druck  einmal  von  einem  kleineren, 
■einmal  von  einem  größeren  Gegenstand  herrührt,  so  besteht  der  größere 
Gegenstand  aus  einer  leichteren  Masse,  er  hat,  wie  die  Physik  es  ausdrückt, 
-ein  kleineres  spezifisches  Gewicht,  geringere  Dichte*). 

Das  Leben  hat  uns  gelehrt,  neben  dem  absoluten  Gewicht  auf  das  Material, 
-auf  die  Masse  zu  achten.  Sie  bleibt  dieselbe  trotz  verschiedener  Größe, 
ähnlich  wie  die  Farbe  dieselbe  bleibt  trotz  verschiedener  Beleuchtung,  die 
Größe  dieselbe  trotz  verschiedener  Entfernung,  Die  Massigkeit  wird  un- 
mittelbar empfunden,  das  eine  Extrem  als  massig,  bleischwer,  das  andere  als 
federleicht.  Diese  Eigenschaft  ist  sinnfällig  gegeben  wie  die  Gedächtnisfarbe. 

Dies  alles  ist  schon  beim  passiven  Druck  zu  beobachten.  Es  tritt  viel- 
leicht deutlicher  hervor  bei  aktiver  Hebung,  von  der  unter  Punkt  B  die 
Rede   ist.     Es  ist  möglich,   daß   wir  beim  passiven  Druck,  wenn  wir  das 

')  Mit  demselben  Problem  beschäftigt  sich  eine  von  Herrn  Friedländer  im 
Berliner  Psychologischen  Institut  durchgeführte  Untersuchung,  die  auf  eine  Reihe 
-dieser  Fragen  näher  und  quantitativ  eingeht.  Sie  wird  in  der  „Zeitschrift  f.  Psy- 
•ohologie"  erscheinen. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  IQl 

■Gewicht,  das  absolute  wie  das  relative,  recht  deutlich  fühlen  wollen,  die 
Empfindungen  beim  aktiven  Heben  hineinerinnern. 

Wie  bei  Gedächtnisfarben  und  scheinbarer  Größe  fragen  wir  auch  hier: 
Wie  groß  ist  die  Ausnützung?  Geht  sie  so  weit,  daß  wir  das  reine  spezi- 
fische Gewicht  empfinden,  d.  h.  daß  Gegenstände  aus  gleichem  Material 
uns  gleich  massig,  gleich  spezifisch  schwer  erscheinen,  auch  wenn  sie  ver- 
schiedene Größe  und  daher  verschiedenes  absolutes  Gewicht  besitzen?  Zu- 
nächst ist  zu  betonen,  daß  wir  —  zum  Unterschied  von  Farben  und 
Größen  —  auch  das  absolute  Gewicht  beurteilen  können.  Je  nach  den 
Umständen  des  Vergleichs  und  je  nach  Willkür  scheint  bald  das  absolute, 
bald  das  spezifische  Gewicht  hervorzutreten.  Wenn  wir  aber  uns  ganz  auf 
das  spezifische  Gewicht  einstellen,  wird  es  dann  ideal  wahrgenommen? 
Erzeugt  der  größere  Körper  den  Eindruck  derselben  Massigkeit,  obwohl  er 
verschieden  schwer  ist?  (Dabei  ist  natürlich  vorausgesetzt,  daß  man  die 
gleiche  Masse  nicht  am  Aussehen  des  Körpers  erkennen  kann.)  Vermutlich 
wird  der  absolut  schwerere  Körper  auch  seinem  spezifischem  Gewichte  nach 
wenigstens  etwas  schwerer  erscheinen.  Die  Ausnützung  ist  dann  nicht  ideal, 
sie  bleibt  hinter  der  objektiven  Wirklichkeit  etwas  zurück. 

Bekannt  ist,  daß  auch  das  Umgekehrte  gilt,  daß  das  spezifische  Gewicht 
das  absolute  beeinflußt.  Zwei  gleich  schwere  aber  verschieden  große  Ge- 
wichte erscheinen,  wie  schon  erwähnt,  verschieden  schwer,  auch  wenn  man 
auf  das  absolute  Gewicht  achtet. 

Vielleicht  können  wir  es  durch  Übung  dahin  bringen,  beide  Eindrücke 
besser  zu  isolieren,  so  daß  unser  Urteil  den  objektiven  Verhältnissen  sich 
mehr  nähert.  Ähnlich  wie  bei  der  Perspektive  wird  es  wohl  auch  hier 
Kniffe  geben,  die  diese  Trennung  erleichtern. 

Die  verschiedene  Größe  muß  natürlich  wahrgenommen  werden;  auf  Grund 
dieser  Wahrnehmung  findet  ja  verschiedene  Ausnützung  statt.  Der  Grad 
der  Ausnützung  wird  nun  auch  davon  abhängen,  ob  die  Größenverhältnisse 
richtig  erkannt  werden.  Ein  doppelt  so  hohes  Prisma  mag  doppelt  so  groß 
erscheinen.  Wie  aber  bei  Kugeln,  bei  Würfeln  usw.?  Wie  bei  5  mal  oder 
10  mal  80  großen  Körpern?  Findet  die  Ausnützung  auch  dann  statt,  wenn 
wir  die  Körper  nicht  sehen,  sondern  nur  betasten? 

Die  Erscheinung  ist  für  die  Schule  von  praktischer  Bedeutung.  Der 
Physikunterricht  wird,  wenn  er  die  Begriffe  Masse,  Dichte,  spezifisches 
Gewicht  erläutert,  nicht  von  Definitionen  ausgehen,  sondern  sich  zuerst  auf 
die  lebendige  Empfindung  stützen;  er  wird  sie  durch  Versuche  und  Übungen 
zum  klaren  Bewußtsein  bringen.  Das  dürfte  leicht  zu  erreichen  sein,  da 
jene  Begriffe  vermutlich  schon  im  Kinde  entwickelt  sind.  Indem  der 
Unterricht  die  weitere  Frage  auf  wirft,  wie  jene  Eigenschaft  zu  messen  ist 
wird  sich  spielend  die  physikalische  Definition  ergeben,  der  Schüler  wird 
sie  vielleicht  selbst  entdecken.  Wenn  wir  dagegen  mit  der  Definition  be- 
ginnen, bringen  wir  Fremdes  hinein,  das  vielfach  nur  mechanisch  gelernt 
wird.  Das  eigentlich  Belebende,  der  sinnfällige  Eindruck  verschiedener 
Massigkeit  fehlt,  oder  vielmehr  es  fehlt  der  Zusammenhang  derselben  mit 
der  Definition.  Das  Kind  wird  nicht  den  Eindruck  haben,  daß  das,  was 
die  künstliche  Definition  sagt,  auf  dasselbe  oder  fast  dasselbe  geht  wie  jene 


192 


Hans  Rupp 


Nr.  1. 


L 


Nr.  2. 


bekannte  Empfindung.  Demonstrationsversuche  mit  Wägen  auf  dem  Katheder 
nützen  wenig.  Die  Massigkeit  kann  man  nicht  sehen,  man  muß  sie  spüren? 
Die  Versuche,  die  unten  angegeben  sind,  dienen  einerseits  dazu, 
die  Feinheit  der  Schätzung  zu  heben.  Das  setzt  aber  zugleich  die 
andere,  für  die  Schule  wichtigere  Aufgabe  voraus,  daß  man  sich 
die  Eindrücke  des  absoluten  und  spezifischen  Gewichtes  klar  zum 
Bewußtsein  gebracht  hat.  Es  ist  der  ernsten  Erwägung  und  prak- 
tischen Erprobung  wert,  ob  der  Physikunterricht  nicht  mit  der- 
artigen einfachen  Versuchen  beginnen  soll.  (Auf  eine  andere 
Art,  die  Masse  durch  lebendige  Empfindungen  zur  Anschauung  zu 
bringen,  komme  ich  in  Punkt  B  zu  sprechen). 

Haarästhesiometer  nach  v.  Frey  (Mechaniker  Zimmermann, 
Leipzig),  zur  Bestimmung  der  absoluten  Schwelle  für  Druckreize, 
namentlich  wenn  einzelne  Druckpunkte  gereizt  werden.  Das  Prinzip 
dieses  bekannten  Instrumentes  ist  folgendes:  Ein  Haar  wird  aua 
einer  feinen  Röhre  mehr  oder  weniger  weit  hervorgeschoben.  Drückt 
man  das  Haar  jedesmal  so  stark  auf  die  Haut,  daß  es  sich  eben 
durchbiegt,  so  ist  die  Druckstärke  der  Länge  des  Haares  umgekehrt 
proportional.  Die  Länge  des  vorstehenden  Stückes  ist  an  einer 
ram-Teilung  abzulesen.  Man  muß  beim  Gebrauch  darauf  achten, 
daß  das  Haar  nicht  durch  Unvorsichtigkeit  eine  Knickung  erfährt. 
Je  nach  Bedarf  kann  man  ein  stärkeres  (Pferde-)  oder  schwächere» 
(Frauen-)  Haar  einsetzen.  Da  die  Schwelle  von  der  Schnelligkeit 
der  Berührung  abhängt,  so  muß  man  sich  einüben,  immer  mit  der- 
selben Schnelligkeit  zu  berühren. 

Einfaches  Gewichtsästhesiometer  nach  Rupp  (Mechaniker 
Marx,  Berlin).  Der  vertikale,  oben  die  Gewichte  tragende  Stab 
gleitet  sehr  leicht  in  der  Gabel,  welche  an  einem  Griffe  gehalten 
wird.  An  das  untere  Ende  des  Stabes,  das  auf  die  Haut  aufgesetzt 
wird,  können  Stücke  mit  größerer  oder  kleinerer  Berührungsfläche 
aufgesetzt  werden.  Sie  sind  aus  schlecht  die  Wärme  leitendem 
Material  gearbeitet,  um  die  störenden  Kälteerapfindungen  zu  vermeiden,  und 
sind  alle  gleich  schwer. 

Oben  können  beliebige  Gewichte  bis  zu  100  g  aufgesetzt  werden.  Sie 
sind  in  der  Mitte  durchgebohrt  und  werden  auf  den  Stab  aufgesteckt,  so  daß 
sie  nicht  herabfallen  können  und  zugleich  zentriert  sind.  Man  muß 
darauf  achten,  daß  der  Stab  immer  vertikal  drückt.  Ebenso 
muß  man  den  Apparat  stets  mit  gleicher  Geschwindigkeit  auf 
die  Haut  herabsenken. 

Man  kann  die  Unterschiedsschwelle  und  die  absolute  Schätzung 
prüfen;  kann   Gewichte   auf   verschiedenen  Hautstellen   oder    Ge- 
wichte von  verschiedener  Druckfläche    vergleichen  lassen.    Meistens  arbeitet 
man  mit  2  Instrumenten,  damit  man  die  Vergleichsreize  unmittelbar  hinter- 
einander aufsetzen  kann. 

Das  berührte  Glied  liegt  hier,  wo  es  sich  um  den  Tastsinn  handelt,  passiv 
auf.     Andernfalls   würden    zum  Tastsinn    noch    die   durch  das  aktive  Halten 


V 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  193 

auftretenden    Empfindungen    hinzukommen.    Die    Probleme    und    Versuche 
würden  sich  aber  für  diesen  Fall  genau  wiederholen  (vgl.  B). 

Gewichtschalen  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Der  Apparat  Mr.a. 
dient  für  ähnliche  Versuche  wie  der  vorige,  nur  ist  die 
drückende  Fläche  größer.  Sie  besteht  aus  einer  flachen 
Schale  von  ca.  5  cm  Durchmesser.  In  der  Mitte  erhebt  sich 
ein  Stab,  auf  den  wieder  die  Gewichte  gesteckt  werden;  zu- 
gleich dient  er  zum  Anfassen  des  ganzen  Apparates.  Schale 
und  Stab  wiegen  genau  so  viel  wie  Stab  und  Aufsatzstück  beim 
vorigen  Apparat,  die  Schale  ist  auf  der  Unterseite  mit  Tuch 
belegt,  um  Kälteempfindungen  zu  vermeiden.  Die  Gewichte  sind  auch  für 
die  Versuche  mit  aktiver  Hebung  verwendbar  (vgl.  B). 

Serie  von  spezifischen  Gewichten  der  Größe  20  cm»,"  nach  Rupp  Nr.4. 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).  30  Gewichte  von  5 — 100  g,  erst  von  5  zu  5  g 
abgestuft,  später  von  10  zu  10  g,  jedes  Gewicht  doppelt.  Alle  haben  gleiche 
Größe  imd  Form  und  sind  gleich  angestrichen.  Es  sind  runde  Platten  von 
ca.  5  cm  Durchmesser  und  genau  1  cm  Höhe ;  ihr  Kubikinhalt  beträgt  genau 
20cm3.  Die  Masse  ist  bei  allen  Gewichten  möglichst  gleichmäßig  über  die 
ganze  Form  verteilt.  Um  die  Gewichte  auch  für  gewisse  Versuche,  die  unter 
B  beschrieben  werden,  verwertbar  zu  machen,  sind  sie  oben  in  der  Mitte 
mit  einem  Häkchen  versehen,  an  dem  man  sie  aufhängen  kann. 

Die  Serie  kann  zunächst  zur  Bestimmung  der  Unterschiedsschwelle  ver- 
wendet werden.  Man  läßt  die  Gewichte  paarweise  vergleichen  oder  man 
läßt  sie  ordnen,  und  bestimmt. die  Fehler  und  die  Zeit.  Das  Ordnen  stellt 
zugleich  eine  anregende,  spielende  Beschäftigung  dar  und  kann  zur  Erziehung 
verwendet  werden.  Ferner  kann  man  absolute  Schätzung  üben:  man  läßt 
die  Gewichte  von  10,  20,  50  g  bestimmen.  Ferner:  Welches  Gewicht  er- 
scheint doppelt  so  schwer  wie  ein  gegebenes?  Erscheint  der  Unterschied 
50  und  60  ebenso  groß  wie  10  und  20?  Endlich  kann  man  die  objektiv 
richtige  Schätzung  an  der  Hand  unserer  Serie  üben.  Der  Schüler  muß  sich 
dabei  ganz  auf  die  Schwerempfindung  stützen,  da  er  sonst  keinerlei  Anhalts- 
punkte hat. 

Serie  von  spezifischen  Gewichten  der  Größe  50  cm^  und  100  cm^  Nr.ßu.«. 
nach  Rupp   (Mechaniker  Marx,    Berlin).     Die    Gewichte    unterscheiden   sich 
von  denen  der  Serie  4  dadurch,  daß  sie  2  ^-  bezw.  5mal  so  hoch  sind.     Die 
spezifischen    Gewichte  sind  dieselben. 

Der  Hauptzweck  dieser  Serien  ist,  in  Verbindung  mit  der  Serie  4  zu  prüfen, 
inwieweit  das  spezifische  Gewicht  trotz  verschiedener  Größe  und  absoluter 
Schwere  wiedererkannt  wird.  Man  gibt  ein  Gewicht  aus  einer  Serie  vor 
und  läßt  aus  den  andern  das  Gewicht  von  gleicher  Massigkeit,  gleichem  spe- 
zifischem Gewicht  suchen.  Wird  es  richtig  bestimmt?  Wie  vom  Erwachsenen, 
wie  vom  Kinde? 

Serie    von  Gewichten    der  Größe   20  cm 3  aus  einigen   wichtigen  Nr.7. 
Materialien,  äußerlich  kenntlich,  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Form  und  Größe  der  Gewichte  wie  bei  4;    es  fällt  nur  der  Anstrich  fort,  so 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  13 


J94  Hans  Rupp 

daß  das  Material  an  dem  Aussehen  erkennbar  ist.  Die  Materialien  sind: 
Gips,  Aluminium,  Eisen,  Messing,  Blei  mit  den  spezifischen  Gewichten  1  ,  2,7 , 
7,2,    8,4,    11,4. 

Für  den  Physikunterricht,  namentlich  für  manche  Berufszweige,  hat  es 
Wert,  einige  spezifische  Gewichte  einzuprägen.  Sicher  wird  man  sich  die 
lebendigeren  Gewichtsempfindungen  besser  merken  als  die  toten  Zahlen.  — 
Natürlich    kann    man   nach    Bedarf   beliebige    andere    Materien  hinzufügen. 

Man  kann  die  Einprägung  leicht  prüfen.  Man  gibt  ein  Gewicht  bei  ge- 
schlossenen Augen  vor  und  läßt  das  Material  bestimmen;  oder  man  läßt  aus  der 
Serie  4  das  Gewicht  suchen,  das  z.  B.  dem  des  Eisens  am  nächsten  steht; 
und  ebenso  für  die  anderen  Materialien. 

Nr.8.  Serie  von  Gewichten  von  gleicher  Dichte,  aber  verschiedener 
Größe  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Die  Gewichte  sind  zylindrisch, 
haben  dieselbe  Grundfläche  wie  die  der  Serie  4;  die  absoluten  Gewichte  sind 
ebenfalls  die  gleichen  wie  bei  Serie  4.  Aber  das  Material  ist  überall  das 
gleiche,  imd  die  Höhen  verhalten  sich  also  proportional  den  Gewichten.  Das 
spezifische  Gewicht  ist  gleich  1. 

Man  lernt  durch  diese  Serie  das  absolute  Gewicht  beurteilen.  Waren  die 
Serien  4 — 7  Serien  von  reinen  spezifischen  Gewichten,  so  ist  8  eine  reine 
Serie  absoluter  Gewichte.  Subjektiv  ist  freilich  nicht  immer  der  Eindruck 
gleicher  Dichte  oder  Massigkeit  vorhanden.  Aber  es  wird  doch  durch  die 
verschiedene  Größe  der  Eindruck  verschiedener  Dichte  zurückdrängt. 

Man  kann  also  dieselben  Versuche  wie  mit  Serie  4  anstellen,  nur  unter 
der  Bedingung,  daß  jetzt  vorwiegend  absolute  Gewichte  beurteilt  werden. 
Wie  verhält  sich  die  ünterschiedssch welle  ?  Welches  Gewicht  scheint  uns, 
wenn  wir  auf  absolute  Gewichte  eingestellt  sind  und  bei  der  Schätzung  die 
Augen  schließen,  doppelt  so  groß  wie  ein  gegebenes?  Wir  können  aus  Serie 
Nr.  4  ein  Gewicht  von  anderer  Dichte  vorgeben  und  das  absolut  gleichschwere 
Gewicht  aus  8  bestimmen  lassen.  Wir  sehen  dadurch,  ob  wir  uns  vom 
spezifischen  Gewicht  ganz  frei  machen  konnten.  Endlich  können  wir  an  der 
Hand  der  Serie  die  Vergleichung  üben;  dadurch,  daß  die  Höhen  selbst  sinn- 
lich gegeben  sind,  mag  sich  besser  einprägen,  was  z.  B.  ein  doppelt  so  schweres 
Gewicht  ist. 

Nr.».  2  Gewichte  zur  Demonstration  der  bekannten  Gewichtstäuschung. 
2  Messingkugeln  von  gleichem  absoluten  Gewicht,  aber  sehr  verschiedener 
Größe;  die  kleinere  erscheint  absolut  imd  spezifisch  schwerer.  Die  Kugeln 
werden  an  Schlingen  gehalten,  oder  auf  gleich  schwere  und  gleich  große  Unter- 
sätze gelegt  und  diese  auf  die  passiv  gehaltene  Hand  aufgelegt. 

Ur.io.  2  Bücher  zur  Demonstration  der  bekannten  Gewichtstäuschung, 
nach  Friedländer  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  2  nicht  bsdruckte  Bücher,  das 
eine  aus  leichtem  Papier  und  ziemlich  dick,  das  andere  aus  schwerem  Papier  und 
ungefähr  halb  so  dick.  Das  erstere  ist  dem  absoluten  Gewicht  nach  etwas 
schwerer ;  es  erscheint  aber  deutlich  leichter,  analog  wie  bei  den  Gewichten  Nr.  9. 

Kr.  11.  Serie  von  Sandpapieren  (Mechaniker  Marx,  Berlin),  von  fast  glatten 
bis  zu  sehr  rauhen,  grobkörnigen  Papieren.  Sie  sollen  zeigen,  wie  feine 
Unterschiede    in   der    Rauhigkeit    gemerkt   werden.    Man    läßt    die   Papiere 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  195 

entweder  paarweise  vergleiclien  oder  läßt  sie  ihrer  Rauhigkeit  nach  ordnen. 
Aus  der  Zahl  der  Fehler  und  aus  der  Zeit,  die  zur  Lösung  der  Aufgabe  ge- 
braucht wird,  kann  man  die  Empfindlichkeit  erkennen. 

B.  Gelenkempfindungen. 

Gewichte  beurteilen  wir  meist  durch  aktive  Hebung.  Es  liegt  nahe,  zu 
glauben,  daß  wir  sie  auf  Grund  von  Maskelempfindungen  beurteilen.  Allein 
den  Hauptanteil  haben  Gslenkempfindungen.  Bei  schweren  Gewichten  werden 
die  Knochen  fester  in  die  Gelenkkapseln  gedrückt  und  dadurch  Reizungen 
erzeugt.  In  untergeordnetem  Maße  mögen  sich  auch  Muskel-  und  Sehnenemp- 
findungen beteiligen. 

Die  Probleme  der  Gewichtsschätzung  sind  hier  zum  Teil  dieselben  wie  beim 
passiven  Druck.  Die  Prüfung  der  Sshwelle  fällt  fort;  es  müßte  denn  der 
Tastsinn  vorher  unempfindlich  gemacht  worden  sein.  Dagegen  bleiben  die 
Fragen  der  Unterschiedsempfindlichkeit,  der  absoluten  Schätzung  und  der 
Vergleichung  von  Gewichtsunterschieden.  Ebenso  wie  die  Tastempfindung 
wird  die  aktive  Gewichtsempfindung  verschieden  objektiviert,  bald  in  unseren 
Körper,    bald  direkt  in  den  gehobenen  Gegenstand  als  sein  Gewicht  verlegt. 

Ebenso  oder  besser  als  dort  können  wir  durch  aktives  Tasten  Härte, 
Weichheit,  Rauhigkeit,  Glätte  und  die  Reibung  spüren.  Dazu  kommen 
beim  aktiven  Tasten  die  interessanten  Eindrücke  der  Elastizität,  der 
Biegsamkeit  und  Sprödigkeit.  Wenn  wir  auf  die  Biegsamkeit  achten, 
müssen  wir  die  Dicke  und  die  Größe  der  gebogenen  Fläche  berücksichtigen. 
Wenn  die  gebogene  Fläche  größer  ist,  oder  wenn  sie  dicker  ist  (z.  B.  ver- 
schieden große  und  dicke  Papiere  oder  Bleche),  ist  mehr  Kraft  zum  Biegen 
nötig.  Das  Material  als  solches  wird  darum  nicht  steifer.  Wir  schreiben 
ihm  eine  konstante,  spezifische  Biegsamkeit  zu,  ähnlich  wie  ein  spezifisches 
Gewicht.  Geschieht  dies  auch  schon  in  der  Empfindung,  im  sinnfälligen 
Eindruck?  Ziehen  wir  z.  B.  die  Größe  des  gebogenen  Papieres  in  Betracht, 
wenn  wir  seine  Steifheit  schätzen? 

Wie  wir  früher  das  Problem  besprochen  hatten,  ob  dasselbe  Gewicht, 
auf  verschiedene  Hautstellen  drückend,  gleich  schwer  erscheint,  ergibt  sich 
hier  die  Frage,  ob  dasselbe  Gewicht,  mit  verschiedenen  Gliedern  gehoben, 
gleich  schwer  erscheint.  Wir  können  z.  B.  einen  Korb  am  Henkel  mit  dem 
Finger,  mit  der  Mittelhand  oder  mit  dem  Arm  heben.  Immer  sind  Empfin- 
dungen anderer  Gelenke  beteiligt.  Ebenso  können  wir  die  Finger  mit  dem 
Rücken  nach  oben  oder  nach  unten  halten.  Dabei  können  wir  auf  die 
Empfindungen  in  den  Fingern  achten  oder  uns  auf  die  Empfindungen 
z.  B.  im  Ellbogengelenk  stützen.  Ferner  können  wir  die  hebenden  Glieder 
schlaff  oder  stramm  angespannt  halten.  Also  eine  Fülle  verschiedener 
Eindrücke,  die  alle  von  dem  gleichen  Gewicht  ausgelöst  werden.  Es  wäre 
eine  schlechte  Anpassung  an  die  Wirklichkeit,  wenn  das  scheinbare  Gewicht 
alle  diese  Variationen  mitmachen  würde.  In  wie  weit  haben  wir  also  ge- 
lernt, die  Reize  trotz  ihrer  Verschiedenheit  in  gleicher  oder  ähnlicher  Weise 
auszunützen? 

Ein  sehr  schöner  und  reiner  Fall  verschiedener  „Ausnützung"  derselben 
Empfindung  ist  zu  beobachten,  wenn  wir  dasselbe  Gewicht,  z.  B.  einen  Korb, 

13* 


196  Hans  Rupp 

auf  verschiedene  Stellen  des  Unterarmes  hängen.  Wenn  er  weiter  vom 
Drehpunkt,  also  vom  Ellbogen  entfernt  ist,  ist  eine  größere  Kraft  nötig. 
Haben  wir  dementsprechend  den  Eindruck  einer  größeren  Schwere?  Oder  wird 
der  längere  Hebel  in  Betracht  gezogen  und  der  sinnfällige  Eindruck 
eines  leichteren  Gewichtes  erzeugt?  Nach  einigen  orientierenden  Versuchen, 
die  ich  angestellt  habe,  findet  eine  solche  Ausnutzung  in  der  Tat  statt, 
analog  wie  bei  Gedächtnisfarben  und  scheinbarer  Größe:  Wir  haben  zwar, 
wenn  der  Korb  weiter  vom  Gelenk  abgerückt  wird,  den  Eindruck,  daß  die 
Schwere  zunimmt,  aber  sie  nimmt  lange  nicht  so  stark  zu,  wie  es  nach 
den  Hebelgesetzen  zu  erwarten  wäre.  Ich  gebe  unten  die  einfachen  Versuche 
an,  durch  die  man  die  Erscheinung  prüfen  kann.  (Man  sollte  glauben, 
die  Druckempfindung,  welche  auf  verschiedenen  Stellen  des  Armes  ungefähr 
dieselbe  ist,  würde  leicht  den  Fehler  vermeiden  lassen.  Allein  sie  scheint 
wenig  beachtet  zu  werden.) 

Wie  schon  erwähnt,  kehrt  beim  aktiven  Heben  die  Unterscheidung 
zwischen  absolutem  und  spezifischem  Gewicht  wieder.  Es  gelten 
genau  dieselben  Fragen  und  Versuche. 

Jedoch  kommen  hier  zur  Beurteilung  der  Masse  neue  Wege  hinzu.  Ich 
kann  Gewichte  verschiedener  Masse  z.  B.  an  Fäden  aufhängen  und  ihre 
Masse  dadurch  vergleichen,  daß  ich  sie  in  Schwingung  bringe  und  den 
Widerstand  beurteile.  Ich  kann  verschieden  große  Körper  verwenden, 
ähnlich  wie  bei  Serie  8,  oder  Körper  gleicher  Größe  und  verschiedener 
spezifischer  Gewichte.  Im  ersteren  Fall  verlege  ich  die  Empfindung  als 
absolutes  Gewicht  in  den  Gegenstand,  im  zweiten  als  spezifische  Masse,  als 
Dichte;  also  die  analogen  Eindrücke  wie  beim  absoluten  und  spezifischen 
Gewicht.  Ich  fühle  zugleich,  wie  der  Widerstand  von  der  Schnelligkeit 
abhängt,  die  ich  erzielen  will.  Ich  muß  von  ihr  absehen  und  sie  konstant 
halten,  um  die  Massen  vergleichen  zu  können.  Die  Bedeutung  dieses  Ver- 
suches (zu  dem  es  natürlich  manche  analoge  gibt)  für  die  Physik  liegt  auf 
der  Hand.  Es  sind  dieselben  pädagogischen  Grundsätze  geltend  zu  machen 
wie  beim  früheren  Versuch:  erst  lebendige  Erfahrung,  die  hier  in  den 
Gelenkempfindungen  besteht;  dann  Versuch,  die  so  gewonnenen  Begriffe 
messend  zu  bestimmen,  woraus  sich  von  selbst  und  ganz  natürlich,  nicht 
gekünstelt,  unmotiviert,  die  physikalische  Definition  ergeben  dürfte. 

Wir  können  weitergehen  und  den  Eindruck  der  absoluten  oder  relativen 
Masse,  den  wir  bei  diesem  letzten  Versuch  gewinnen,  mit  dem  beim  früheren 
Versuch  vergleichen.  Sind  sie  subjektiv  überhaupt  vergleichbar?  Können 
wir  zu  einer  Masse,  die  an  einem  Faden  hängt  und  die  wir  stoßen,  die 
gleiche  spezifische  Masse  aus  einer  Serie  Gewichten,  die  wir  heben,  be- 
stimmen ? 

Wenn  wir  Gewichte  schätzen,  namentlich  bei  absoluter  Schätzung  und 
beim  Heben  mit  verschiedenen  Gliedern,  muß  auch  die  Schwere  des  heben- 
den Gliedes  berücksichtigt  werden.  Bei  leichteren  Gewichten  würde  es 
eine  außerordentliche  Fälschung  bedeuten,  wenn  diese  Berücksichtigung  nicht 
eintreten  würde.     Darin  liegt  also  eine  neue  Leistung. 

In  ähnlicher  Weise  können  wir  das  Gewicht  einer  Unterlage,  z.  B  eines 
Tellers,  auf  dem  der  zu  beurteilende  Körper  liegt,  in  Betracht  ziehen.    Wir 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  197 

scheiden  also  Brutto-  und  Netto-Gewicht.  Wie  vollkommen  ist  diese  Ver- 
arbeitung ausgebildet? 

Wir  können  ein  Gewicht  mit  zwei  Händen  heben*);  jede  Hand  hat  dann 
halbe  Arbeit  zu  leisten.  Addieren  sich  diese  zwei  geringeren  Empfindungen 
zu  derselben  Gesamtempfindung,  zu  dem  gleichen,  in  den  Körper  lokalisierten 
Gewichtseindruck,  wie  wenn  wir  den  Körper  mit  einer  Hand  heben  würden? 

Drücken  wir  eine  Feder  mit  Daumen  und  Zeigefinger  zusammen,  so 
haben  wir  zwei  Empfindungen.  Haben  wir  denselben  Eindruck  der  Federkraft, 
wie  wenn  wir  die  Feder  nur  mit  einem  Finger  gegen  eine  Unterlage  drücken? 

Endlich  sei  noch  auf  eine  Leistung  unseres  Sinnes  hingewiesen.  Wir 
spüren,  ob  ein  Körper  homogen  schwer  ist,  oder  ob  sich  die  Masse  in 
manchen  Teilen  konzentriert,  während  er  im  anderen  Teil  hohl  ist.  Wir 
bewegen  den  Körper  instinktiv  und  haben  in  kürzester  Zeit  die  Verteilung 
der  Masse  erkannt. 

Ich  gehe  nun  zur  Besprechung  der  Apparate  über.  Zunächst  wären  die 
Apparate  3 — 11  auch  hier  anzuführen  mit  allen  früher  besprochenen  Ver- 
suchen. Der  Unterschied  besteht  nur  darin,  daß  jetzt  die  Gewichte  aktiv 
gehoben,  die  Sandpapiere  aktiv  mit  gewissem  Druck  betastet  werden. 

Die  Serien  4 — 8  sind  mit  Häkchen  versehen,  so  daß  man  sie  aufhängen 
kann.  Das  dient  für  die  Versuche  mit  hängenden  Gewichten.  Man  bestimmt 
z.  B.  zu  einem  Gewicht  der  Serie  4  das  gleich  massige  Gewicht  der  Serie 
5  oder  6,  indem  man  die  Masse  nach  dem  Widerstand,  den  sie  dem  Stoß 
bietet,  beurteilt  und  die  Größe  berücksichtigt.  Oder  man  sucht  zu  einem 
Gewicht  der  Serie  4,  das  nicht  die  Dichte  1  besitzt,  das  gleiche  absolute 
Gewicht  aus  Serie  8. 

G e wi cht svariator  nach  Gallus-Rupp  (Mechaniker Marx,  Berlin).  Während  Nr.«. 
bei  den  Gewichtserien  eine  Reihe  diskreter  Gewichte  vorhanden  ist,  gibt 
dieser  Apparat,  wie  jeder  „Variator",  die  Möglich- 
keit, innerhalb  gewisser  Grenzen  jeden  Reiz,  jedes 
Gewicht  herzustellen,  das  Gewicht  also  kontinuierlich 
zu  variieren.  Der  Apparat  besteht  aus  einem  ein- 
armigen Hebel,  der  an  dem  freien  Ende  (in  der  Figur  links)  gehoben  wird.  Die 
Variation  des  Gewichtes  wird  dadurch  erreicht,  daß  man  ein  Reitergewicht  auf 
dem  Hebel  hin-  und  herschiebt.  Die  mm-Teilung  gibt  die  Gewichte  an;  sie. 
gehen  von  550 — 1000  g,  jeder  Millimeter  bedeutet  1  g.  Am  linken  Ende 
des  Hebels  sieht  man  ein  zweites,  festes  Gewicht.  An  diesem  wie  am 
Reitergewicht  können  Zusatzgewichte  angeschraubt  werden,  falls  man  eine 
kontinuierliche  Reihe  schwererer  Gewichte  herstellen  will.  Der  Hebel  wird 
mittels  eines  bügelartigen  Griffes  gehoben. 

Man  kann  mit  dem  Apparat  vor  allem  bequem  die  Unterschiedsempfind- 
lichkeit bestimmen.  Ferner  kann  man  das  absolute  Gewicht  schätzen  oder 
ein  bestimmtes  absolutes  Gewicht  herstellen  lassen,  ebenso  Unterschiede 
von  Gewichten  schätzen  oder  einstellen  lassen. 

Universalgewichtsvariator    nach    Rupp    (Mechaniker    Marx,    Berlin).  Mr.  i». 
Das  vorige  Instrument  ist  durch  kleine  Zusätze  und  Änderungen  so  erweitert, 

*)  Auf  dieses  Problem  hat  mich  Herr  Friedländer  hingewiesen. 


198  Hans  Rupp 

daß  es  auch  für  eine  Reihe  anderer  Versuche  verwertbar  ist.  Der  Griff 
ist  vergrößert,  so  daß  man  den  Arm  in  den  Bügel  stecken  kann.  Wie 
schwer  erscheint  dasselbe  Gewicht,  wenn  es  auf  verschiedenen  Stellen  des 
Armes  hängt?  -Wie  weit  wird  der  Hebel  in  Rücksicht  gezogen?  Da  der 
Griff  größer  ist,  kann  man  auch  mit  beiden  Händen  zugleich  heben.  Erscheint 
das  Gewicht  leichter?  Ein  wie  großes  Gewicht  erscheint  gleich  schwer  wie 
ein  mit  einer  Hand  gehobenes? 

Der  Bügel  läßt  sich  entfernen  und  an  seine  Stelle  eine  gleich  schwere 
Gurtschlinge  einhängen,  die  für  manche  Zwecke  bequemer  ist  als  der  starre 
Griff. 

Der  Apparat  sollte  auch  für  Zug  z.  B.  nach  unten  verwertbar  sein.  Zu  dem 
Zwecke  wird  ein  Stab  mit  einer  sehr  leicht  spielenden  Rolle  angeschraubt, 
der  Bügel  abgenommen  und  durch  eine  Schnur  ersetzt,  die  erst  nach  oben 
über  die  Rolle,  dann  nach  unten  geführt  wird;  an  dem  unteren  Ende  dieser 
Schnur  wird  entweder  der  Bügel  oder  der  Gurt  befestigt. 

Wie  schwer  erscheint  ein  Gewicht,  wenn  es  in  dieser  Weise  gezogen  wird, 
gegenüber  einem  gehobenen  Gewicht?  Wird  die  Empfindung  in  das  über 
die  Rolle  gezogene  Gewicht  verlegt?  Wie  schwer  erscheint  das  Gewicht, 
wenn  man  mit  verschiedenen  Gliedern  zieht,  oder  wenn  der  Zug  an  ver- 
schiedenen Stellen  desselben  Gliedes,  z.  B.  des  Unterarmes  ansetzt?  —  Zum 
Vergleich  des  gehobenen  und  des  gezogenen  Gewichtes  muß  man  sich  zweier 
gleicher  Apparate  bedienen. 

Man  kann  von  der  Rolle  aus  auch  seitlich  in  horizontaler  Richtung  ziehen 
und  den  Gewichts-  oder  Masseneindruck  beurteilen  lassen. 

Endlich  sollte  der  Apparat  auch  zur  Erzeugung  von  Druckreizen  dienen. 
Zu  dem  Zweck  wird  wieder  der  Bügel  entfernt  und  durch  einen  nach  unten 
stehenden  Stab  ersetzt,  an  welchen  verschiedene  Endstücke  angeschraubt 
werden  können.  Diese  Endstücke  sind  verschieden  groß,  aber  selbstver- 
ständlich alle  gleich  schwer.  Man  legt  nun  z.  B.  den  Arm  entweder  passiv 
unter  das  Endstück  und  senkt  dieses  mit  konstanter  Geschwindigkeit  auf 
den  Arm  herab.  Oder  man  hält  den  Arm  aktiv,  aber  ruhig  und  läßt  wieder 
das  Gewicht  herabsinken.  Oder  endlich  man  hebt  mit  dem  Arm  das 
Gewicht  empor,  ähnlich  wie  beim  Versuch  mit  dem  Bügel  oder  dem  Gurt. 
Man  kann  so  die  Versuche  mit  passivem  Druck  oder  mit  aktiver  Hebung 
ausführen,  beide  unter  Berücksichtigung  der  Größe  der  Druckfläche,  und 
mit  den  hier  gegebenen  größeren  Gewichten. 

Will  man  den  Druck  auf  verschiedenen  Stellen  vergleichen,  so  ist  es, 
ähnlich  wie  oben,  nötig,  2  gleiche  Apparate  zu  verwenden. 

Mit  2  Apparaten  kann  man  auch  Gewichte  simultan  heben  oder  drücken 
lassen  und  die  Unterschiedsempfindlichkeit  unter  dieser  Bedingung  prüfen. 
Nr.ii.  Serie  verschieden  dicker  Papiere  und  Bleche  der  Größe  3x5  cm 
nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Jedes  Blech  und  Papier  ist  doppelt 
vorhanden.  Man  klemmt  sie  an  der  schmalen  Kante  ein  (z.  B.  in  einem 
Buch)  und  sucht  durch  Drücken  die  Steifheit  zu  bestimmen  und  zu  ver- 
gleichen. Wie  feine  Unterschiede  werden  richtig  und  sicher  erkannt?  Man 
kann  sie  auch  verschieden  weit  vorstehen  lassen,  ein  Blech  z.  B.  2  cm,  ein 
zweites,  gleiches  Blech  4  cm. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  199 

Erscheinen  sie  ungefähr  gleich  steif?   Wird  also  die  Länge  des  vorstehenden 
Stückes  berücksichtigt? 

Serie  verschieden  dicker  Papiere  und  Bleche  der  Größe  1x5  Nr.i&. 
und  5x5  cm  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Die  Streifen  haben 
also  die  gleiche  Länge  wie  die  der  Serie  14,  aber  die  einen  sind  wesentlich 
schmäler  (1  cm),  die  andern  wesentlich  breiter  (5  cm).  Jeder  Streifen  ist 
nur  Imal  vorhanden.  Mit  dieser  Serie  und  der  Serie  14  kann  man  prüfen, 
ob  die  Breite  der  Fläche  bei  der  Schätzung  der  Steifheit  berücksichtigt 
wird.  Man  sucht  zu  einem  Streifen  irgendeiner  der  3  Serien  die  gleichen 
Streifen  aus  den  beiden  anderen  Serien. 

Serie  von  Gewichten  mit  verschieden  verteilter  Masse,  nach  Rupp  ni.j«. 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).  In  Röhren  von  gleicher  Größe  sind  eine  Reihe 
von  Kugeln  eingelegt,  aber  so,  daß  die  Masse  in  den  Röhren  verschieden 
verteilt  ist,  bald  mehr  an  einem  Ende,  bald  in  der  Mitte,  bald  an  beiden  Enden, 
bald  gleichmäßig  u.  s.  f.  Das  Gesamtgewicht  ist  überall  das  gleiche.  Durch 
Verwendung  verschieden  schwerer  Kugeln  läßt  sich  dies  leicht  erreichen. 

Man  soll  entscheiden,  wie  in  jedem  Falle  die  Masse  verteilt  ist.    Ist  auch 
das  Kind  dazu  imstande? 


Y.  Gruppe:  Banmwahrnehmangen  anfier  denen  des  Anges. 

Nicht  alle  Sinne  sind  für  die  Erkennung  der  äußeren  Räumlichkeit  von 
Bedeutung.  Es  kommen  in  Betracht:  das  Ohr,  der  äußere  und  innere  Tast- 
sinn, Gelenkempfindungen  und  der  statische  Sinn.  Ob  Sehnen-  und  nament- 
lich Muskelempfindungen  nennenswerten  Einfluß  haben,  ist  zweifelhaft. 

Für  die  Raumwahrnehmung  des  Gehörs  sind  vorläufig  keine  Apparate  vor- 
gesehen. Es  lohnt  sich  kaum  für  die  Pädagogik,  schallperimetrische  Unter- 
suchungen anzustellen.  Man  wird  sich  zum  Zwecke  der  Demonstration  damit 
begnügen,  z.  B.  mittels  zweier  Geldstücke  an  verschiedenen  Stellen  um  den 
Kopf  herum  kurze  Geräusche  zu  erzeugen  und  jedesmal  die  Stelle  von  dem 
Beobachter,  der  natürlich  die  Augen  geschlossen  hält,  angeben  zu  lassen.  Es 
ergibt  sich  dabei,  daß  in  der  Medianebene  des  Kopfes  oft  ganz  falsch  und  un- 
sicher, in  den  seitlichen  Partien  leidlich  gut  lokalisiert  wird. 

In  einem  interessanten  Zusammenhang  stehen  Entfernung  und  Intensi- 
tät. Das  schwächere  Geräusch  wird  häufig  in  größere  Entfernung  verlegt. 
Umgekehrt  scheint  aber  das  Geräusch  einer  Tonquelle,  die  man  in  größerer  Ferne 
sieht,  nicht  so  schwach  zu  sein,  wie  es  tatsächlich  an  das  Ohr  dringt.  Es 
wird  vielmehr  infolge  der  größeren  Entfernung  besser  ausgenützt,  wird  stärker 
gehört,  analog  wie  ein  ferner  Gegenstand  größer  gesehen  wird,  als  es  seinem 
Netzhautbild  entspricht.  Leider  sind  die  Versuche  ziemlich  schwierig  aus- 
zuführen, so  daß  von  ihnen  hier  abgesehen  werden  muß.^) 


*)  Über  diese  Erscheinung,  über  die  ich  hier  das  erste  Mal  berichte,  ist  im 
Psycholog.  Institut  der  Universität  Berlin  eine  Arbeit  eben  zum  Abschluß  ge- 
bracht.   Sie  wird  in  der  Zeitschrift  f.  Psychologie  erscheinen. 


200  Hans  Rupp 

A.  Tastsinn. 
Sehr    dankenswert   und  auch   von   praktischem  Interesse  ist  die  genauere 
Untersuchung  der  Raumwahrnehmungen  des  Tastsinnes  und  der  mit  ihm  zu- 
sammenwirkenden Gelenkempfindungen.     Ich  bespreche  zuerst  den  Tastsinn. 

Die  bekannteste  Untersuchung  ist  die  Bestimmung  der  Raumschwelle. 
Wie  weit  müssen  2  Berührungen  voneinander  entfernt  sein,  damit  man  die 
Zweiheit  merkt?  Wie  weit  in  der  Längs-,  wie  weit  in  der  Querrichtung  eines 
Gliedes?  Wie  weit  an  verschiedenen  Körperstellen?  Leider  ist  die  Unter- 
suchung fast  immer  bei  gleichzeitigem  Aufsetzen  von  2  Spitzen  ausgeführt 
worden.  Die  Sukzessivschwelle  ist  mindestens  ebenso  wertvoll;  sie  liefert 
feinere  Schwellen  und  zeigt  uns  die  äußerste  Grenze  unseres  Unterscheidungs- 
vermögens. Bei  der  Simultanschwelle  spielt  eine  Art  Irradiation  und  Ver- 
schmelzung der  2  Eindrücke  mit  hinein,  welche  die  Schwelle  vergrößert. 
Diese  Irradiation  und  Verschmelzung  ist  freilich  selbst  wieder  von  Interesse. 
Prüfen  wir  beide  Schwellen,  so  können  wir  sowohl  die  Unterscheidung  wie 
auch  die  Irradiation  feststellen. 

Auf  2  Hautstellen,  deren  Schwellen  verschieden  sind,  sind  auch  die  über- 
schwelligen Werte  verschieden.  Sie  scheinen  zunächst  sogar  in  gleichem  Ver- 
hältnisse verschieden  zu  sein.  Zwei  solche  Taststrecken  erscheinen  also  dann 
gleich,  wenn  sie  gleichviel  Schwellen  enthalten  —  ein  für  die  Theorie  des 
räumlichen  Sehens  fundamentaler  Satz.  Der  Satz  gilt  aber  nicht  uneinge- 
schränkt. Je  größer  die  Strecken  und  je  mehr  Gesichtsempfindungen  der 
berührten  Körperteile  hinzutreten,  desto  mehr  nähert  sich  die  scheinbare 
Größe  der  Wirklichkeit.  Wir  sehen  daran  deutlich  den  Einfluß  der  Erfahrung, 
welche  die  ursprünglichen  Empfindungen  korrigiert.  Tritt  diese  Korrektur 
auch  beim  Kinde  auf?  und  wie  nahe  kommt  die  Modifikation  den  objektiven 
Verhältnissen?  Sind  manche  Stellen  der  Haut  besser  korrigiert?  —  Alle 
diese  Fragen  sind  bis  jetzt  nur  an  Erwachsenen  und  mit  simultaner  Berührimg 
untersucht.     Interessant  wäre  es  auch.  Blinde  daraufhin  zu  prüfen. 

Bei  passiver  Haltung  des  Gliedes  ist  wegen  der  großen  Simultanschwelle 
das  Erkennen  von  Formen  sehr  mangelhaft  und  hat  auch  wenig  praktisches 
Interesse.  Instinktiv  geht  man  immer  zum  aktiven  Tasten  über.  Dagegen 
scheinen  die  Eindrücke  der  Spitzigkeit  und  Stumpfheit,  von  scharfen  und 
spitzen  Schneiden  der  Beachtung  wert.  Sie  gründen  sich  wohl  auf  die  Größe 
und  Form  der  Berührungsfläche.  Sofern  freilich  die  spitzeren  und  schärferen 
Gegenstände  auch  Schmerz  erzeugen,  ist  der  Eindruck  nicht  mehr  ein  rein 
räumlicher. 

Neben  der  Erkennung  von  Größen  und  Formen  gehört  zum  Tastsinn  noch  das 
Erkennen  der  Lage  eines  berührten  Punktes  auf  der  Haut,  ob  er 
z.  B.  an  diesem  oder  jenem  Finger,  auf  der  Dorsal-  oder  Volarseite  liegt  usw. 
Die  Lage  des  Fingers  selbst  muß  dabei  außer  Betracht  bleiben;  nur  die  Lage 
auf  der  Haut,  die  ,, relative  Lokalisation",  gehört  dem  Tastsinn  an. 

Verbunden  mit  diesen  Leistungen  des  Tastsinns  tritt  eine  Objektivierung 
des  Eindruckes  auf.  Ebenso  wie  die  Härte,  das  Gewicht  usw.  in  den  Gegen- 
stand verlegt  wird  als  seine  Eigenschaft,  so  verlegen  wir  auch  die. räumlichen 
Beziehungen,  die  Form,  Größe,  Spitzigkeit  usw.  in  den  Gegenstand,  nehmen 
sie  meist  unmittelbar  an  ihm,  nicht  an  unserem  Körper  wahr. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  201 

Ich  bespreche  nun  einige  einfache  Apparate,  deren  man  sich  zu  den  ge- 
samten Untersuchungen  bedienen  kann. 

Ästhesiometer   nach   Spearman   (Mechaniker  Köhler,  Leipzig).    Das  In-  Nt.i. 
strument  ist  so  bekannt  und  verbreitet,  daß  eine  Beschreibung  kaum  nötig 
ist.    Die  nach  unten  stehenden  Spitzen  dienen  für  Versuche  mit  gleichzeitiger 
Berührung,  die  schräge  für  Versuche,  wo  jedesmal  nur 
eine  Spitze  aufgesetzt  wird.     Das  Instrument  ist  aus 
Aluminium  gearbeitet,  sehr  leicht  und  handlich. 

Man  kann  die  Simultan-   und  Sukzessivschwelle  be-  "^ 

stimmen,  kann  überschwellige  Distanzen  vergleichen  lassen,  namentlich  solche 
auf  verschiedenen  Körperstellen. 

Man  achte  auf  gleich  schnelles  und  gleich  starkes  Aufsetzen  der  Spitzen, 
bei  simultaner  Berührung  vor  allem  auf  genaue  Gleichzeitigkeit. 

Serie  von  Spitzen  und  Serie  von  Schneiden  nach  Rupp  (Mechaniker  sr.t. 
Marx,    Berlin).      Sie  werden  auf  die  Haut  aufgesetzt  und  dabei  nach  ihrer 
Spitzigkeit  bezw.  Schärfe  beurteilt.    Man  kann  sie  paarweise  vergleichen  oder 
sie  ordnen  lassen. 

Serie  von  Kanten  verschiedener  Länge.    (Mechaniker  Marx,  Berlin).   Nr.«. 
Pappstreifen,    2  cm  breit,  mit  den  Längen  1 — 5  cm,  in  mm  abgestuft.     Sie 
werden  init  der  Längskante  auf  die  Haut  aufgesetzt  und  ihrer  Länge  nach 
b3urteilt.     Pappstreifen  haben  den  Vorzug,    daß   sie  keine  störerden  Kälte- 
empfindungen erzeugen  wie  Matallstreifen. 

Man  kann  die  Unterschiedsempfindlichkeit  für  Linien  bestimmen  und  kann 
Linien  auf  verschiedenen  Körperstellen  vergleichen.  Auch  die  absolute  Schät- 
zung  und  die  Vergleichung  mit  gesehenen  Strecken  haben  Interesse. 

B.  Gelenkempfindungen. 

Gelenk-,  vielleicht  auch  Sshnenempfindungen  zeigen  uns  die  Lage  und 
die  Bewegungen  unserer  Glieder  an,  auch  wenn  wir  die  Augen  geschlossen 
halten.  Mit  der  Erkennung  der  Lage  b^i  vollkommen  ruhenden  Gliedern  ist  es 
vielfach  schlecht  bestellt;  aber  wir  brauchen  nur  das  Glied  ein  wenig  zu 
bewegen,  so  tritt  die  Lage   deutlich  hervor. 

Ich  sagte  vom  Tastsinn,  daß  er  nur  die  Lage  eines  berührten  Punktes 
auf  der  Haut,  auf  dem  Körper  vermitteln  könnte.  Treten  Gelenkempfin- 
dungen hinzu,  so  kann  auch  die  Lage  der  Haut,  des  Körperteiles  berück- 
sichtigt werden.  Die  Lokalisation  wird  also  vollständiger.  War  sie  früher 
nur  relativ,  so  kann  man  sie  jetzt  als  absolut  bezeichnen.  In  demselben 
Sinne  war  beim  Auge   von   absoluter  und   relativer  Lokalisation  die  Rede. 

Diese  absolute  Lokalisation  der  B3rührung  ermöglicht  uns,  durch  Umfassen 
oder  Umfahren  die  Form,  Größe  und  Lage  eines  Gegenstandes  zu 
erkennen.  In  dem  populären  Ausdruck  ,, Tastsinn"  wird  auch  diese  absolute 
Lokalisation,  das  aktive  Betasten,  mitgemeint. 

Zu  dieser  Erkennung  ist  nicht  nötig,  daß  wir  uns  die  Lage  der  beteiligten 
Glieder  vorstellen.  Wir  haben  vielfach  keine  Ahnung,  welche  Finger  und 
welche  Stellen  derselben  wir  in  jedem  Augenblick  benützen;  ganz  unmittelbar 
gehen  wir  auf  das  Ziel  los,  nehmen  direkt  den  Gegenstand  in  seinen  räum- 


202  Hans  Rupp 

liehen  Eigenscliaften  wahr.  Das  gilt  aueh,  wenn  wir  mit  einem  Stäbchen 
betasten. 

Wie  genau  sind  die  Raum  Wahrnehmungen,  die  durch  Hinzutreten  der  Gelenk- 
empfindungen entstehen? 

Zunächst  fragen  wir  nach  der  Schwelle.  Welches  ist  die  kleinste  Bewegung, 
die  wir  überhaupt  merken  können?  Wir  denken  uns  dabei  ein  Glied  sehr 
vorsichtig  durch  einen  Gehilfen  bewegt.  (Auf  die  kleinste  aktive  Bewegung 
komme  ich  später  zu  sprechen.  Bei  ihr  spielen  motorische  Fähigkeiten  hinein, 
nicht  bloß  die  Bewegungsempfindungen.)  Ähnlich  fragen  wir  nach  der  Unter- 
schiedsempfindlichkeit für  Lagen.  Wie  genau  können  wir  die  Lage  eines 
Gliedes  wiederholen?  wie  feine  Abweichungen  merken  wir? 

Wie  genau  können  wir  betastete  Strecken,  Flächen,  Körper  vergleichen,  in 
Größe  und  Form?  Wie  genau  erkennen  wir  Verhältnisse?  Haben  wir  uns 
normale  Größen,  Maße  eingeprägt?  Erkennen  wir  auch  die  absolute  Lage, 
ohne  hinzusehen,  richtig?  Können  wir  z.  B.  einen  Stab  genau  vertikal  halten 
oder  einen  drehbaren  Stab  so  einstellen,  daß  er  genau  vertikal  steht  ?  Trifft 
es  das  Kind?  Die  Fragen,  die  bei  dem  Gesichtssinn  aufgeworfen  worden  sind, 
kehren  hier  wieder. 

Wir  können  einen  Gegenstand,  z.  B.  einen  Stab,  in  verschiedener  Weise 
betasten:  Wir  fahren  mit  einem  Finger  an  ihm  entlang,  wir  umspannen  ihn 
mit  Zeigefinger  und  Daumen  usw.  In  jedem  Fall  sind  andere  Glieder  und 
Gelenke  beteiligt.  Bei  welcher  Art  erkennen  wir  die  Länge  richtiger?  Gibt 
es  eine  natürliche  Art  des  Betastens?     Wie  verhält  sich  das  Kind? 

Auf  einen  interessanten  Fall  von  Ausnützung  hat  schon  E.  H.  Weber  hin- 
gewiesen. Wenn  man  eine  Strecke  einmal  mit  dem  Finger  abtastet,  einmal 
mit  einem  Stab,  indem  man  jedesmal  z.  B.  den  ganzen  Unterarm  im  Ell- 
bogengelenk bewegt,  so  ist  im  zweiten  Fall  eine  kleinere  Exkursion  auszu- 
führen, um  so  kleiner,  je  länger  das  Stäbchen  ist.  Ist  das  Stäbchen  z.  B. 
so  lang  wie  Unterarm  und  Hand,  so  ist  ungefähr  die  halbe  Exkursion  nötig. 
Der  Erwachsene  hat  aber  nicht  den  Eindruck  einer  halb  so  großen  Strecke, 
vielmehr  wird  die  Exkursion,  die  Gelenkempfindung  besser  ausgenützt.  Das 
ist  staunenswert,  da  wir  relativ  selten  mit  Stäben  betasten.  Wie  groß  ist 
die  Ausnützung?  Kommen  wir  den  objektiven  Verhältnissen  nahe?  Zeigt 
sich  die  Ausnützung  schon  beim  Kinde?  Ist  sie  auch  beim  Blinden  ent- 
wickelt? Das  Problem  ist  ganz  analog  dem  der  Ausnützung  des  Gesichts- 
winkels bei  verschiedener  Entfernung. 

Ich  bespreche  die  Apparate.  Es  lassen  sich  eine  Reihe  früher  bespro- 
chener Apparate  verwenden:  Die  Kantenserie  Nr.  4,  aus  den  Apparaten  über 
Raum  Wahrnehmung  der  Augen  (Gruppe  II)  die  Stäbchenserie  7a,  die 
Scheibchenserie  21,  die  Zylinder-  und  Streifenserie  31,  endlich  zur  Ver- 
gleichung  und  absoluten  Beurteilung  von  Neigungen  der  Neigungsapparat  37. 

lir. 4.  Serie  verschieden  dicker  Drähte  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx, 
Bariin).  Die  Dicke  soll  durch  bloßes  Betasten  beurteilt  werden.  Man  läßt 
die  Drähte   paarweise  vergleichen  oder  man  läßt  sie  ordnen. 

Kt.5.  Rechteckserie  zur  Bestimmung  des  scheinbaren  Quadrates  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin).     Rechtecke  aus  Karton  oder  Blech.    Die  Grundlinie 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik,  203 

ist    immer  3  cm.    Die  Höhen  gehen  von  2 — -1  cm,    in  mm  abgestuft.    Man 
soll  das  scheinbare   Quadrat  durch  Betasten  herausfinden. 

Prismenserie   zur  Bestimmung  des   scheinbaren  Würfels     (Mecha-  Nr.«. 
niker  Marx,  Berlin).  Die  Prismen  haben  den  Querschnitt  von  3  cm  im  Qua- 
drat und  die  Höhen  von   2 — 4  cm,  in  mm  abgestuft.    Man  soll  den  schein- 
baren Würfel  durch  Betasten  herausfinden. 

Fühlstrecken-Apparat^  Modell  I  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Bariin).  Nr. 7. 
Auf    einem    mit  Millimeterteilung    versehenen  Lineal    sind  2  Reiter  zu  ver- 
fohieban.     Die   durch  sie  bagrenzte  Distanz 

St  S2  wird  batastet  und  baurteilt.   Man  kann  j-x-^^^::^^^!» 

Strecken  sukzessiv   vergleichen,    sie    absolut  ^'<!!^!^^^^^^^^^^^ 

schätzen    lassen,    oder    zu    einer   bstasteten      (-„^.„"^^ü^^^^^^^^^ 
Strecke  nachher  bei  offenen  Augen  die  gleich-     J^^^^^^"^ 
große,    gesehene    Strecke    einstellen    lassen. 

Ferner  sind  dem  Apparat  einige   Stäbchen  verschiedener  Länge   baigegeben, 
mit  denen  man  die  Web. r,  chen  Stäbchen  versuche  quantitativ  durchführen  kann. 

Fühlstreckenapparat,   Modell  II,  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Ber-  Nr.8. 
lin).    Die  zu  beurteilenden  Distanzen  werden  hier  durch  kleine  Höcker  (Knöpfe) 
gebildet,   die   auf  dem  Lineal  zu  verschieben  sind.     Der  Apparat  ist  ährlich 
dem  einfachen  Perlendistanzvariator  in  Gruppe  II,  Nr.   14;   nur  das  mecha- 
nische Prinzip  mußte  hier  anders  gewählt  werden. 

Man  kann  mehrere  Knöpfe  verwenden  und  die  beiden  zu  vergleichenden 
Strecken  nebeneinander  auftragen,  eine  Strecke  halbieren,  dreiteilen  lassen 
usw.,  eine  ausgefüllte  Strecke  mit  einer  leeren  vergleichen,  ein  Verhältnis  in 
größere  oder  kleinere  Dimension  übertragen  lassen. 

Bewegungsmesser  nach  Goldscheider  (Mechaniker  öhmke,  Berlin;  Mecha-  Nr.». 
niker  Spindler  und  Hoyer,  Göttingen).  Er  dient  für  die  oben  besprochene 
Bestimmung  der  Bewegungsschwelle  bei  passiver  Bewegung  eines  Gliedes. 
Ein  mit  Leder  überzogenes  Brettchen  wird  an  das  Glied  fest  angelegt.  Von 
dem  Brettchen  hängt  ein  Pendel  frei  herab.  Eine  Kreisteilung,  an  der  das 
Pendel  spielt,  wird  so  eingestellt,  daß  das  Pendel  zunächst  auf  0  steht.  Aus 
dieser  Lage  heraus  bewegt  man  vorsichtig  das  Glied  so  lange,  bis  die  Be- 
wegung bemerkt  wird.  Das  Pendel  zeigt  in  Graden  die  Größe  der  Bewegung 
an.  Der  Apparat  kann  sowohl  für  Biegung  und  Streckung,  wie  auch  für 
Drehung  eines  Gliedes  Xferwendet  werden. 

C.  Statischer  Sinn. 

Im  Ohrlabyrinth  befinden  sich  neben  der  Schnecke  die  Bogengänge  und  die 
Otolithen.  Sie  geben  uns  Nachricht  über  jede  Beschleunigung  oder  Ver- 
zögerung einer  Bewegung  des  Kopfes  und  damit  auch  des  ganzen  Körpers; 
vmd  zwar  sowohl  einer  drehenden  Bewegung  wie  beim  Tanzen,  im  Karussel, 
als  auch  einer  Progressivbewegung  wie  in  der  Bahn,  im  Fahrstuhl,  im  Schiff. 
Dauert  die  Bewegung  mit  konstanter  Geschwindigkeit  an,  ist  also  die  Beschleu- 
nigung oder  Verzögerung  gleich  Null,  so  hört  der  Reiz  auf,  wir  spüren  keine 


204  Hans  Rupp 

Bewegung  mehr.  Bei  stärkerer  Verzögerung  oder  beim  Anhalten  der  Bswegung 
tritt  einige  Sskunden  der  Eindruck  einer  Gegenbewegung  auf,  ein  Art  negatives 
Nachbild.  Von  diesen  Erscheinungen  kann  man  sich  leicht  überzeugen:  für 
Progressivbewegungen  auf  der  Bahn  oder  im  Fahrstuhl;  für  Drehbewegung 
mittels  eines  Drehstuhles  oder  noch  einfacher  dadurch,  daß  man  sich  ein 
paar  Mal  um  die  Längsachse  dreht  und  dann  plötzlich  anhält.  Die  Ver- 
suche sind  bei  geschlossenen  Augen  auszuführen.  Sehr  instruktiv  ist  fol- 
gender einfacher  Versuch:  Wenn  man  z.  B.  beim  plötzlichen  Anhalten  den 
Kopf  neigt,  so  ändert  sich  mit  der  Kopflage  der  Sinn  der  scheinbaren  nega- 
tiven Nachbewegung.  Der  Versuch  beweist,  daß  die  Nachempfindung  im 
Kopf  erzeugt  wird. 

Der  statische  Sinn  soll  uns  auch  über  die  Lage  Auskunft  geben.  "Wenn 
Kopf  oder  Körper  geneigt  werden^  erkennen  wir  mehr  oder  weniger  richtig 
die  Lage.  Das  brauchen  wir,  um  uns  z.  B.  beim  Schwimmen  unter  Wasser 
zu  orientieren,  vor  allem  aber,  um  das  Gleichgewicht  beim  Gehen,  Stehen, 
Balanzieren  zu  halten.  Ob  die  Erkennung  der  Lage  durch  dieselben  Sinne 
erfolgt  wie  die  Erkennung  der  Bewegung,  und  ob  sie  ganz  ohne  Bswegung 
erfolgen  kann,  ist  wohl  noch  nicht  endgültig  entschieden.  Jedenfalls  be- 
steht das  Problem,  ob  und  wie  gut  wir  Lagen  erkennen. 

Es  tritt  eine  bekannte  Täuschung  auf:  die  Neigung  des  Körpers  wird 
überschätzt;  neigen  wir  den  Körper  allmählich  bis  zur  Horizontalen,  so 
scheint  er  uns  schon  längst  vorher  in  horizontaler  Lage  zu  sein.  An 
jedem  Reck  kann  man  sich  davon  überzeugen.  Zur  genaueren  Untersuchung 
hat  man  Drehbretter  konstruiert.  Für  unseren  Zweck  der  Demonstration 
reicht  die  folgende  einfache  Vorrichtung  aus. 

Apparat  zur  Bestimmung  der  schein- 
baren Körperneigung  nach  Rupp  (Mecha- 
niker Marx,  Berlin).  An  ein  mit  Tuch  be- 
spanntes Plättbrett  ist  unten  ein  Querbrett 
zum  Aufsetzen  der  Füße  angeschraubt.  Der 
Baobachter  stellt  sich  auf  das  Brett  und 
lehnt  sich  mit  dem  ganzen  Körper  flach  an 
dasselbe  an.  Dann  neigen  zwei  Gshilfen  all- 
mählich des  Brett,  indem  sie  an  der  in  der 
Zeichnung  zu  sehenden  Querleiste  anfassen.  Wann 
hat  der  Bsobachter  den  Eindruck,  horizontal  zu 
liegen,  wann  unter  450?  Erkennt  das  Kind  die 
Neigung,  kann  es  dieselbe  zeigen?  Ein  kleines 
Pendel  mit  einer  Kreisteilung  gibt  die  wirkliche  Neigung  an. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Literaturbericht  205 


Literaturbericht. 

Dr.  phil.  Ottmar  Dittrich,  Prof.  an  der  Universität  Leipzig.  Individualismus,  Univer- 
salismus, Personalismus.     Berlin  1917,     Reuther  &  Reichard.     36  S.    1,00  M, 

Dittrich  hatte  unter  dem  Eindrucke  des  Weltkrieges  „Neue  Reden  an  die  deutsche  Nation* 
(Verlag  Quelle  &  Meyer  in  Leipzig)  den  breiten  Schichten  unserer  Gebildeten  vorgelegt.  Die 
philosophischen  Grundlagen  dieses  wirkungsvollen  und  mit  viel  Beifall  aufgenommenen  Buches 
finden  nunmehr  in  dem  vorliegenden  Schriftchen  einß  gelehrte  Darstellung.  Sie  ist  in  so  straffer, 
fast  leitsatzförmiger  Fassung  gehalten,  daß  eine  Kennzeichnung  des  Inhaltes,  dessen  Gliederung  im 
Titel  ersichtlich  wird,  zu  wörtlicher  Übernahme  führen  müßte. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Max  Verworn,  Prof.  au  der  Universität  Bonn,  Die  Fragenach  den  Grenzen  der  Erkenntnis. 
Ein  Vortrag.  Zweite  durchgesehene  und  verbesserte  Auflage.  Jena  1916.   Fischer.   52  S.  1,20  M. 

Verworn  zergliedert  den  Begriff  Erkenntnis  und  versucht  alsdann  nachzuweisen,  wie  vor 
einer  konditionalen  Betrachtungsweise  der  Welt  die  beiden  Grenzen  verschwinden,  die  Du  Bois- 
Reymond  dem  menschlichen  Erkennen  als  unüberschreitbar  gezogen  sieht.  „Wenn  uns  die  Er- 
fahrung zeigt,  daß  alle  Dinge  in  gesetzmäßigen  Abhängigkeitsbeziehungen  stehen,  dann  müssen 
auch  alle  Dinge  erkennbar  sein."  Es  empfiehlt  sich,  die  kleine  Schrift  zugleich  mit  einer  anderen 
des  Verfassers:  „Kausale  und  konditionale  Weltanschauung"  durchzudenken. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Dr.  phiL  et  med.  A.  Pfeifer,  Das  menschliche  Gehirn..  Nach  seinem  Aufbau  und  seinen 
wesentlichen  Leistungen  gemeinverständlich  dargestellt.  Mit  83  Abbildungen  im  Text.  2,  Aufl. 
Leipzig  1917.     Engelmann.     103  S.     4,20  M. 

Die  erste  Auflage  dieses  vorbildlich  ausgestatteten  Buches,  das  wir  seines  Inhaltes  und  seiner 
Darstellung  wegen  erneut  dem  Seminarunterricht  empfehlen,  hat  bei  den  zuständigen  Fachmännern, 
so  u.  a.  bei  dem  Frankfurter  Gehirnanatomen  Edinger,  durchweg  Beifall  gefunden.  So  blieb 
wenig  zu  verbessern.  Die  späteren  Auflagen  werden  wohl  manches  aus  neuen  Erkenntnissen 
und  Befunden,  die  in  den  Kriegslazaretten  gewonnen  wurden,  in  angemessener  Auswahl  berück- 
sichtigen, wie  ja  schon  in  der  gegenwärtigen  Gestalt  bei  der  Beschreibung  der  Sehstörungen 
bildliches  Material  von  Schußverletzungen,  die  Inouye  aus  dem  russisch-japanischen  Kriege  wissen- 
schaftlich bearbeitete,  Verwendung  gefunden  hat.  Uns  selbst  und  anderen  Schulmännern  hat 
sich  die  Schrift  in  der  unterrichtlichen  Verwendung  aufs  Beste  bewährt,  wobei  bemerkt  sei,  daß 
der  weitaus  größte  Teil  des  Lehrstoffes  der  Gehirnkunde  nicht  der  Psychologie,  sondern  der 
Anthropologie  und  vergleichenden  Zoologie  zu  überweisen  ist.  Der  Wunsch,  dem  sich  von 
psychologischer  Seite  auch  Meumann  anschloß,  daß  den  gehirnanatomischen  Unterlagen  der 
Sprache  eine  mit  anschaulichem  Material  durchsetzte  Darstellung  gewidmet  werde,  hat  die 
zweite  Auflage  zureichend  und  recht  geschickt  erfüllt.  Vielleicht,  daß  sich  späterhin  auch  noch 
ein  besonderer  Abschnitt  über  die  Entwicklung  des  kindlichen  Gehirns  einfügen  läßt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Moede,  Walther,  Die  Untersuchung  und  Übung  des  Gehirngeschädigten  nach 
experimentellen  Methoden.  Beiträge  zur  Kinderlorschung  uud  Heilerziehung,  Heft  135. 
Beyer  &  Söhne,  Langensalza.     1916.     4,50  M. 

Auf  Moedes  Schrift,  die  experimentelle  Psychologie  in  den  Dienst  der  Untersuchung  und 
Übung  zu  stellen,  paßt  Münsterbergs  bedeutungsvolles  Wort,  das  jedem  Psychologen  und  Nicht- 
psychologen  stets  vorschweben  sollte:  „Versagt  die  wissenschaftliche  Psychologie  ihre  Hilfe,  so 
nimmt  das  Leben  mit  vorwissenschaltlichen  Beobachtungen  vorlieb.  Da  kann  es  doch  unmöglich 
den  Interessen  der  Kultur  entsprechen,  wenn  die  Psychologie  darauf  besteht,  ihr  nichts  zu  geben, 
weil  sie  ihr  noch  nicht  alles  geben  kann."  (Münsterberg,  Psychotechnik  p.  21.)  Welche  Wissen- 
schaft vermöchte  das  ?  Und  es  ist  durchaus  nicht  so  wenig,  was  die  experimentelle  Psychologie 
heute  schon  zu  bieten  vermag.  So  gestattet  sie  eine  genaue  Feststellung  des  Status  praesens 
des  Patienten  und  zwar  nicht  nur  in  qualitativer,  sondern  auch  in  quantitativer  Hinsicht,  ist  also 
auch  von  Bedeutung  für  die  Diagnose  des  Arztes;  sie  ermöglicht  nicht  nur,  sondern  sie  fordert 
eine  Übungstherapie  geradezu,  indem  sie  infolge  ihrer  quantitativen  Feststellungen  objektive 
Anhaltspunkte  über  den  Erfolg  der  eingeschlagenen  Behandlung  0bt;  sie  erleichtert  aus  dem- 
selben Grunde  die  Rentenfestsetzung,  zumal  die  experimentellen  Methoden  auch  einen  Einblick 
in  die  Arbeitsfähigkeit  des  Patienten  erlauben,  sie  bietet  insofern  auch  die  beste  Grundlage  für 


206  Literaturbericht 


eine  etwa  notwendig  werdende  Berufsberatung.  Im  zweiten  Kapitel  entwickelt  M.  genauer  die 
Übungstherapie,  ausgehend  vom  Wesen  der  Übung,  die  eine  Eigenschaft  alles  Organischen  ist, 
also  jeder  Zelle  zukommt,  weshalb  die  Übungstherapie  auch  auf  alle  Bewußtseinsfunktionen  aus- 
gedehnt werden  kann.  Nachdem  wir  mit  den  Begriffen  und  Methoden  der  psychophysischen 
Messung  bekannt  gemacht  worden  sind,  führt  uns  M.  die  wichtigsten  Apparate  vor,  deren  er  sich 
bei  der  Untersuchung  und  Übung  der  einzelnen  Sinnesgebiete  und  Bewußtseinsfunktionen  bedient. 
Die  hauptsächlichsten  sind  handlich  in  einem  Arbeitskasten  zusammengestellt.  Die  angeführten 
Apparate  und  Methoden  dürften  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  bekannt  sein.  Neu  schien  mir, 
wenigstens  in  der  Art  der  Anwendung,  sein  Tremometer,  eine  Metallplatte  mit  Löchern  und 
Schlitzen  von  verschiedener  Richtung  und  Weite,  wodurch  die  Treffsicherheit  und  Zitterbewegungen 
der  Hand  genau  festgestellt  werden  können,  da  Platte  und  Stift  in  einen  Stromkreis  eingeschaltet 
sind.  —  Es  wäre  vielleicht  angebracht  gewesen,  wenn  M.  in  die  Darstellung  dei  Methoden  aus 
seinen  gewiß  reichen  Erfahrungen  einige  Beispiele  eingestreut  hätte,  die  den  Erfolg  der  Übung 
illustrierten.  Dennoch  dürfte  gerade  in  medizinischen  Fachkreisen  erhöhtes  Interesse  für  die 
Anwendung  experimenteller  Psychologie  erregt  worden  sein. 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Blüher,  Hans,  Die  Intellektuellen  und  die  Geistigen.  Verlag  H.  Blüher,  Tempelhof- 
Berlin.     30  S.     1.—  M. 

Die  Intellektuellen  und  die  Geistigen  unterscheiden  sich  in  ihrer  Stellung  zur  Idee.  Während 
die  Geistigen  dicht  am  Urerlebnis  der  Idee  stehen  bleiben  und  sich  so  die  Ursprünglichkeit  ge- 
wahrt haben,  stellen  die  Intellektuellen  mehr  die  geistigen  Handwerker  dar  und  sind  darum  auch 
nicht  die  eigentlichen  Vertreter  der  Kultur,  sondern  nur  die  der  bürgerlichen  Bildung.  Sie  zer- 
fallen in  zwei  Typen,  den  technologischen  Typ  und  den  Gelehrten.  Auch  die  Philosophieprofessoren 
vermögen  die  Situation  nicht  zu  retten,  denn  sie  haben  die  Philosophie  zu  dem  gemacht,  was 
sie  niemals  sein  kann,  „harmlos"  (14)  und  weiter  oben  heißt  es:  „zur  Dienstmagd  der  Theologie 
lind  damit  der  herrschenden  Klassen"  (14).  Auch  bei  den  Geistigen  bestehen  zwei  Typen:  der  sakrale 
und  der  politische.  Da  B.  überzeugt  ist,  daß  sein  Schrei  nach  Kultur  von  den  älteren  Jahrgängen 
zwischen  30  und  70  nicht  mehr  gehört  wird,  wendet  er  sich  an  die  Jugend.  Hoffentlich  geht 
es  ihm  dabei  nicht  wie  den  Philosophieprofessoren,  die,  „da  sie  jahraus  jahrein,  Woche  für  Woche 
mit  halbernsten  Seminarzöglingen  beiderlei  Geschlechts  erkenntnistheoretische  Quisquilien  dreschen, 
keine  Geistigen  sein  können"  (15).  Die  le'.zte  Stelle  möge  zugleich  eine  Probe  des  Tons  sein, 
in  dem  der  Autor  sein  Thema  zu  erörtern  für  notwendig  erachtet. 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Ladislaus  Nagy,  Ergebnisse  einerUmfrage  über  die  Auffassung  des  Kindes  vom 
Kriege.  Autorisierte  Übersetzung  aus  dem  Ungarischen  von  K.  G.  Szidon.  Sonderabdruck  aus 
Z.  f.  angewandte  Psychologie  Bd.  XU,  1916.     J.  A.  Barth,  Leipzig.     63  S. 

Die  ungarische  Gesellschaft  für  Kinderforschung  veranstaltete  im  Herbst  1914  eine  Unter- 
suchung nach  der  Fragebogenmethode,  deren  Ziel  es  war,  die  Wirkung  des  Krieges  auf  das  Kind 
festzustellen.  N.  hat  zwei  Fragen  daraus  herausgegrffen,  um  an  den  Antworten  die  geistige  imd 
sittliche  Entwicklung  des  Kindes  zu  verfolgen.  Die  beiden  Fragen  waren:  1)  Was  ist  die  Ur- 
sache des  Krieges?  2)  Was  gefiel  am  besten  unter  den  Ereignissen  des  Krieges?  Die  1661  Ant- 
worten gestatteten  eine  Gruppierung  in  subjektiv-typische  (charakterisiert  durch  Phantasie  und 
einfache  Reproduktion  der  Gedanken  Erwachsener),  in  objektiv-konkrete  (Kind  stützt  sich  auf 
reales  Wissen)  und  abstrakt-typische  Antworten  (Kind  sucht  nach  inneren  Motiven  für  den  Aus- 
bruch des  Krieges);  diese  letzteren  treten  erst  vom  12.  LA.  häufiger  auf,  gleichzeitig  nimmt 
die  Gefühlsbetonung  der  Antworten  ab.  Da  sich  diese  Erhebungen  über  das  8. — 19  LA.  er- 
streckten, konnten  auch  entwicklungspsychologisch  interessante  Zusammenhänge  festgestellt  werden. 
So  lassen  die  konkreten  und  abstrakten  Geistesfunktionen  im  Kindes-  und  Jugendalter  den  mathe- 
matischen Mittelwert  der  Antwort  fast  umgekehrt  erscheinen  (9. — 14.  LA.  objekt.-konkr.  Typus 
77,20/0,  abstrakt.  Typus  18%,  15.— 18.  LA.  25«'/o  und  750/o).  Verfolgen  wir  speziell  die  Entfaltung 
der  abstrakten  Geistesfunktion,  so  ergibt  sich  folgendes  Bild :  LA.  9  —  13  Periode  der  Vorbereitung, 
LA.  13  —  15  Periode  der  rapiden  Entwicklung,  LA.  16 — 18  der  Blütezeit,  mit  LA.  19  beginnt  die 
Denkweise  wieder  realer,  konkreter  zu  werden.  (14),  —  Für  die  Beantwortung  der  zweiten  Frage 
muß  berücksichtigt  werden,  daß  sie  in  die  Zeit  vom  Nov.  1914  bis  Anfang  März  1915  fällt.  Hat 
der  Krieg  die  Stimmung  und  Lebensbetätigung  der  Kinder  herabgesetzt  oder  gesteigert?  In  93''/o 
der  Antworten  war  eine  erhebende  Wirkung  festzustellen.  Die  in  Tabelle  4  wiedergegebene  Kurve 
zeigt  ihre  Höhepunkte  im  LA.  11—13,  dann  allmähliches,  aber  im  Ganzen  geringes  Sinken  von 
100*'/o  auf  80%  im  LA.  19.     Was  die  sittliche  Wirkung  des  Krieges  anlangt,  kommt  N.  zu  dem 


Literaturbericht  207 


Ergebnis,  daß  der  Krieg  auf  die  sittlichen  Gefühle  der  Kinder  die  größte  Wirkung  ausgeübt  hat 
und  ihm  darum  ein  wichtiger,  sittenerziehlicher  Wert  zuzuschreiben  ist  (25).  Es  würde  den  Rahmen 
eines  Referates  überschreiten,  wollte  man  sich  in  eine  ausführliche  Kritik  einlassen,  die  vielmehr 
Gegenstand  einer  selbständigen  Arbeit  sein  müßte;  dennoch  seien  einige  kritische  Fragen  gestattet. 
1)  Ob  N.  den  Begriff  sittlich  nicht  etwas  zu  weit  gefaßt  hat,  2)  ob  nicht  bei  der  Beantwortung 
obiger  Frage  über  die  sittliche  Wirkung  des  Krieges  die  Dauer  desselben  sehr  zu  berücksichtigen 
ist?  Würden  nicht  heute  nach  drei  Jahren  Krieg  die  Antworten  anders  ausfallen?  3)  ob  über- 
haupt gerade  die  Kriegszeit  geeignet  ist,  als  Grundlage  zu  einer  Untersuchung  über  die  geistige 
und  insbesonders  sittliche  Entwicklung  des  Kindes  zu  dienen  ?  Man  könnte  zunächst  meinen,  daß 
doch  im  Krieg  eine  Verstärkung  der  Gefühle  gesetzt  wird,  weshalb  ihr  Auftreten  leichter  zu  er- 
kennen, ihre  Entwicklung  besser  zu  verfolgen  wäre.  Mir  scheint  aber  nicht  nur  eine  Intensitäts- 
steigenmg  der  Gefühle  vorzuliegen,  sondern  auch  eine  qualitaüve  Änderung  namentlich  bei  dem 
Suggestionen  so  zugänglichen  Kinde;  dann  aber  würden  die  Ergebnisse  einer  solchen  Umfrage 
einen  beschränkteren  Wert  haben  für  die  allgemeine  Entwicklung  des  kindlichen  Seelenlebens, 
dafür  einen  umso  höheren  für  den  Einfluß  des  Krieges  in  massenpsychologischem  Sinne.  Es 
sei  daher  aus  dem  Folgenden  nur  auf  Einzelheiten  hingewiesen.  In  den  Antworten  der  Kinder 
treten  folgende  Momente  besonders  hervor:  Sieg,  Kampflust,  Eigentum  im  Recht,  Ehre,  Religion, 
Vaterlandsliebe,  altruistische  Gefühle.  Das  Interesse  für  den  Sieg  nimmt  bis  LA.  12  unablässig 
zu,  dann  ab.  (Das  scheint  mir  sehr  abhängig  zu  sein  von  der  jeweiligen  strategischen  Lage 
und  der  Einsicht  des  Schülers  in  dieselbe,  vergl.  folgende  Niederschrift  eines  1 9jährigen :  „Nach  dem 
Ausbruch  des  Krieges  verkündeten  wir  mit  lauter  Stimme,  daß  wir  mit  den  Schweinehirten  sehr 
bald  fertig  werden,  und  dann  jagten  sie  unser  Heer  aus  Serbien  heraus."  (24).)  Die  instinktiven 
kriegerischen  Gefühle  (z.  B.  Freude  an  der  Vernichtung  des  Feindes)  nehmen  fast 
unablässig  zu  bis  LA.  14,  dann  rasches  Sinken,  während  die  sekundären  kriegerischen  Gefühle 
(Tapferkeit,  Mut)  bis  LA.  18  fast  regelmäßig  ansteigen.  Auch  bei  der  Vaterlandsliebe  unter- 
scheidet N.  eine  primäre  und  sekundäre  Komponente;  die  erste  steigt  rapide  vom  8—11  LA.,  um 
dann  stufenweise  zu  fallen  bis  zum  17  LA,  während  die  sekundäre  Komponente  bis  zum  LA.  13 
nur  wenig  ausgeprägt  ist,  dann  aber  in  zwei  Etappen  die  primäre  überflügelt.  „Der  wahre,  reine 
Altruismus  beginnt,  obschon  auch  nur  instinktiv,  erst  im  LA.  10—11"  (51).  Am  Schlüsse  der 
Abhandlung  stellt  N.  allgemeine  Lehrsätze  der  sittlichen  Entwicklung  auf,  von  denen  nur  folgen- 
des hervorgehoben  werden  soll:  LA.  3—8  ist  vom  sittlichen  Standpunlrte  aus  passiv;  im  9.  LA. 
setzt  eine  erste  aktive  Periode  ein  bis  zum  LA.  12;  sie  ist  die  Zeit  des  sittlichen  Instinkts,  da- 
rauf folgt  LA.  13 — 14  eine  Störung  der  vorher  instinktiven,  aber  zuverlässigen  Sittlichkeit  durch 
den  Wandel  der  intellektuellen  Kräfte  und  die  Empfindungen  der  Pubertät,  die  dann  LA.  15—16 
von  einer  mehr  passiven  Periode  abgelöst  wird,  an  die  sich  vom  LA.  17—19  wieder  eine  solche 
gesteigerter  Aktivität  anschließt.  —  Die  vorliegende  Arbeit  dürfte  jedenfalls  zur  Nachprüfung  des 
so  komplizierten,  aber  für  den  Pädagogen  bedeutungsvollen  Problems  Anregung  geben. 

Bonn.  Oskar  Kutzner. 

Dr.  Willi  Warstat,  Oberlehrer  in  Altena -Ottensen,  Die  Schulzeitschrift 
und  ihre  Bedeutung  für  Erziehung,  Unterricht  und  Jugendkunde. 
Heft  13  der  Säemann-Schriften  für  Erziehung  und  Unterricht.  Leipzig  1915. 
Teubner.    95  S.    2,40  M. 

Schülerzeitschriften,  besonders  die  geheimen,  sind  ergiebige  Fundgruben  für 
den  Jugendkundler.  So  ist  z.  B.  der  sich  so  jugendlich,  allzujugendlich  ge- 
bärdende „Anfang«,  der  im  Schatten  Wynekens  wucherte,  ein  höchst  begehrens- 
wertes und  gesuchtes  Stück  für  jugendkundliche  Sammlungen.  Warstat  aber 
geht  in  seiner  Arbeit  über  die  Schülerzeitschrift  nicht  auf  psychologische  Aus- 
beute aus,  wiewohl  er  zwischendurch  und  in  einem  kurzen  besonderen  Ab- 
schnitte einige  Funde  vorzeigt.  Er  hält  vielmehr  eine  pädagogische  Einstellung 
fest  und  verfolgt  die  Absicht,  den  Lehrern  die  Schülerzeitschrift  in  ihrem  Werte 
für  den  Unterricht  und  das  gesamte  Bildungsleben  der  Schule  darzustellen  und 
zu  empfehlen.  Er  selbst  gibt  als  „Lehrerberater"  die  Monatshefte  des  Altonaer 
Reform-Realgymnasiums  heraus,  deren  Schriftleitung  aus  den  Schülern  der  An- 
stalt besteht,  und  dieser  Erfahrungsbereich  gibt  seinen  Ausführungen  über  die 
Schulzeitschrift  im  Dienste  der  Gemeinschaftserziehung,  in  ihrem  Verhältnis  zur 
Schulkritik,  in  ihrer  Unterstützung  der  Unterrichtsvertiefung,  in  ihrer  Geschäfts- 
führung und  Einrichtung  u.  s.  f.  einen  sicheren  Boden.  Am  meisten  gewinnt  die 
Darstellung,  wie  die  Schulzeitschrift  dienen  kann,  die  heute   so  eifrig  erörterte 


208  Literaturbericht 


freiere  Gestaltung  des  Unterrichts  zu  unterstützen.  Es  sei  hier  ergänzt,  daß  da- 
bei auch  daran  zu  denken  wäre,  in  der  Schülerzeitschrift  einen  Ort  für  die  Ver- 
einigung der  arbeitsteilig  in  der  Klasse  behandelten  Stoffe  zu  suchen. 

In  Amerika  und  England  soll  es  kaum  eine  höhere  Anstalt  geben,  an  der 
nicht  eine  Schul-  oder  Schülerzeitschrift  besteht.  Bei  uns  im  Lande  der  Schulen 
ist  sie  bisher  etwas  Ungewöhnliches.  Und  uns  will  scheinen,  als  sei  sie  dem 
Geiste  deutschen  Schul-  und  Schülerlebens  innerlich  fremd.  In  den  letzten  Jahr- 
zehnten war  es  nachgerade  bedenklich  geworden,  wie  überseeisches  Erziehungs- 
gut bei  uns  fast  massenhaft  eingeführt  wurde.  Der  Krieg  hat  uns  auch  hier 
Besinnung  gegeben.  Und  wenn  vielleicht  die  Schulzeitschrift  sich  weit  harmloser 
ausnimmt  als  Koedukation,  Schülerselbstverwaltung  u.  s.  f.,  so  will  doch  sehr 
ernstlich  geprüft  und  erprobt  sein,  ob  wir  ihrer  für  die  Dienste,  zu  denen  sie  sich 
empfiehlt,  in  unserer  alten  deutschen  Schulkultur  auch  wirklich  bedürfen. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

E    Meirowsky,    Geschlechtsleben    der   Jugend,    Schule    und    Elternhaus. 
4.  Auflage.     Leipzig    1915.     J.   A.   Barth.      80  S.      0,90  M.      (Flugschriften  der 
Deutschen  Gesellschaft  zur  Bekämpfung  der  Geschlechtskrankheiten,  Heft  12.) 
Die   Schrift  enthält  sehr  reiches,  für  alle  an  der  Erziehung  Beteiligten   im 
hohen   Grade   beachtenswertes  Material   über  das   Geschlechtsleben   der  Jugend, 
ferner  wohldurchdachte  Ratschläge,  die   durch  das  Beobachtungsmaterial  nahe- 
gelegt werden.   Beigegeben  ist  ein  „Merkblatt  für  Eltern"  („Wie  erzieht  man  seine 
Kinder  zu  einem  gesunden  und  sittlichen  Geschlechtsleben?") 

Gießen.  August  Messer. 

Dr.  P.  Brohmer,  Seminarlehrer  in  Eilenburg,  Sexuelle  Erziehung  im  Lehrerseminar, 
Schriften  des  Deutschen  Ausschusses  für  den  math.  und  naturw.  Unterricht.  III.  Folge.  Heft  3. 
Mit  11  Abb.     Leipzig  1917.     Teubner.     28  S.  0,80  M. 

Nach  Darlegung  des  Grundsätzlichen  über  die  Aufnahme  der  Sexualpädagogik  in  die  Büdungs- 
arbeit  der  Lehrerseminare  legt  Brohmer  —  bekannt  als  der  Weiterbildner  der  Schmeilschen 
naturwissenschaftlichen  Lehrbücher  —  einen  bis  zur  unterrichtlichen  Thematisierung  ausgear- 
beiteten Plan  vor,  der  zeigt,  wie  in  den  biologischen  Belehrungen  allüberall  vorbereitende  Arbeit 
geleistet  werden  kann  für  die  dann  unmittelbar  den  schwierigen  Stoff  ergreifenden  Bestrebungen 
in  verschiedenen  anderen  Fächern:  so  in  der  Menschenkunde,  in  dem  Deutschen,  nicht  zuletzt 
in  der  Psychologie,  der  Unterrichts-  und  Erziehungslehre  und  den  Besprechungen,  die  im  An- 
schluß an  die  Tätigkeit  in  der  Übungsschule  erfolgen.  Daß  dabei  die  sexualpädagogische  Ein- 
wirkung mehr  als  anderes  unterrichtliche  und  erziehliche  Tun  auf  die  Persönlichkeit  des  Lehrers 
gestellt  bleiben  muß,  wird  von  Brohmer  nicht  verkannt.  Seine  praktischen  Vorschläge  ver- 
dienen, daß  sie  von  den  Fachleuten  des  Seminars  durchdacht  und  erprobt  werden. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

Dr.  med.  Martin  C  ho  tzen,DieN  Ol  wendigkeit  ein  er  häuslichen  sittlichen  Erziehung, 
Breslau  1914.     Koebner'sche  Buchhandlung.     23  S.  0,80  M. 

Die  kleine  Schrift,  die  auf  einen  Vortrag  vor  dem  Ausschuß  des  Berliner  Vereins  für  Fragen 
der  Volkssittllchkeit  zurückgeht,  beschränkt  sich  auf  die  sexualpädagogische  Frage,  ohne  aber 
zu  dem  viel  behandelten  und  mißhandelten  Thema,  das  vor  einem  Jahrzehnt  geradezu  pädagogische 
Mode  war,  wesentlich  Neues  sagen  zu  können.  Geleitet  von  der  Anschauung,  daß  die  erziehliche 
Einwirkung  in  früher  Jugend  schon  einsetzen  müsse  und  durch  den  ganzen  Werdegang  der  Jugend- 
lichen hindurch  in  einer  der  jeweiligen  Entwicklungsstufe  sich  immer  von  neuem  anpassenden 
Form  fortzuführen  sei,  ruft  es  vor  allem  das  Haus,  ohne  aber  die  Schule  entlasten  zu  wollen, 
zu  seinen  Erzieherpflichten  auf.  Erforderlich  erweist  sich  ihm  eine  Anleitung  der  Eltern.  Als 
gangbare  Wege  empfiehlt  Ch.  dazu  die  Einrichtung  von  Vortragsreihen  für  Väter  und  Mütter  und 
die  Veranstaltung  von  Elternabenden  durch  die  Schule,  die  hier  das  Wort  dem  Schularzt  geben  mag. 

Chotzen  hat  sich  seit  langem  in  Wort  und  Schritt  bemüht,  in  dem  Sinne,  wie  es  das  kleine 
Heft  anregend  darstellt,  die  häusliche  Erziehung  zu  beeinflussen;  er  hat  auch  ein  Elternmerkblalt, 
,Wie  erzieht  man  seine  Kinder  zu  einem  gesunden  und  sittlichen  Geschlechtsleben?"  heraus- 
gegeben, das  in  großen  Massen  verbreitet  ist.  Genugsam  bekannte  Erscheinungen  der  Kriegszeit 
dürften  ihn  und  die  Öffentlichkeit  veranlassen,  seinen  Bestrebungen  erhöhten  Nachdruck  zu  geben, 

Leipzig.  OttoScheibner, 


Druck  von  J.  B,  Hirschfeld  (August  Pries)  in  Leipzig. 


über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen 

Universitäten. 

Gutachtliche  Äußerungen  zu  der  Pädagogischen  Konferenz  im  Preußi- 
schen Ministerium  der  geisthchen  und  Unterrichts- Angelegenheiten  am 

24.  und  25.  Mai  1917. 

Erste  Reihe. 

Von 
Dr,  Erich  Becher,  o.  Prof.  d.  Philos.,  Direktor  des  psychol.  Instituts  a.  d.  Univ.  München. 
Dr.  Jonas  Cohn,  ao.  Prof.  d.  Philos.,  beauftragt  mit  der  Vertretung  der  Pädagogik  a.  d.  Univ. 

B'reiburg  i.  B. 
Dr.  Rudolf  Lehmann,  Prof.  d.  Philos.  u.  Pädag.  a.  d.  Kaiser-Wilhelm-Akademie  in  Posen. 
Dr.  Paul   Natorp,    Geh.  Reg.-Rat,  o.  Prof.  d.  Philos.  u.  Pädag.,  Direktor  d.  philos.  Seminars 

a.  d.  Univ.  Marburg. 
Dr.  William  Stern,  Prof.  d.  Philos.,  Psychol.  u.  Pädag.,  Direktor  des  philos.  Seminars  und  des 

psychol.  Laboratoriums  am  allgem.  Vorlesungswesen  in  Hamburg. 
Anhang:    Die  Leitsätze  für  die  pädag.  Konferenz  im  preußischen  Ministerium,  aufgestellt  von 
Geh.  Regierungsrat  Prof.  D.  Dr.  Ernst  Troeltsch  in  Berlin ,   von  Prof.  Dr.  Julius  Ziehen  in  Frank- 
furt a.  M.,  von  Prof.  Dr.  Eduard  Spranger  in  Leipzig. 

Vorbemerkung. 

Schon  seit  langem  ist  von  Gelehrten  und  Erziehern  dafür  gekämpft  worden, 
daß  die  Pädagogik  als  selbständiges  Forschungs-  und  Lehrgebiet  an  den  Universi- 
täten vertreten  sein  müsse;  aber  die  Regierungen  und  Universitäten  hatten  bis  vor 
kurzem  keine  allzu  große  Neigung  gezeigt,  diesem  Wunsche  Folge  zu  leisten. 
Bisher  gibt  es  unseres  Wissens  in  Deutschland  nur  vier  etatsmäßige  ordentliche 
Professuren  für  Pädagogik,  nämlich  in  Leipzig,  München,  Jena  und  Frankfurt 
am  Main;  an  einigen  anderen  Universitäten  sind  außerordentliche  Professoren 
der  Philosophie  beauftragt,  sich,  der  Pädagogik  besonders  anzunehmen.  Im 
allgemeinen  aber  wird  die  Pädagogik  nur  als  ein  nicht  eigens  betontes  Teil- 
gebiet des  Lehrauftrages  für  Philosophie  angesehen,  und  es  hängt  ganz  von 
dem  persönlichen  Interesse  des  Professors  ab,  ob  er  den  Vorlesungen  und 
Übungen  zur  Pädagogik  eine  eingehendere  oder  geringere  Pflege  widmet. 

Nunmehr  ist  zu  hoffen,  daß  eine  Änderung  dieses  Zustandes  in  absehbarer 
Zeit  eintreten  wird;  denn  das  Kultusministerium  des  führenden  Bundesstaats 
hat  durch  Veranstaltung  einer  geschlossenen  Tagung  die  Frage  ins  Rollen  ge- 
bracht. Der  preußische  Kultusminister  halte  für  den  24.  und  25.  Mai  1917 
zu  einer  „Pädagogischen  Konferenz"  eingeladen,  an  der  23  Herren  teilnahmen. 
Es  waren  dies :  drei  Universitätslehrer,  die  schon  jetzt  Professuren  für  Päda- 
gogik inne  haben  (F.  J.  Schmidt- Berhn,  Spranger-Leipzig,  Ziehen-Frankfurt), 
acht  Philosophieprofessoren  (Braun -Münster,  Ettlinger- Münster,  Frischeisen- 
Köhler-Halle,  Hönigswald- Breslau,  H.  Maier -Göttingen,  Rehmke-Greifswald, 
Troeltsch-Berhn,  Vierkandt-Berlin),  zwei  Theologieprofessoren  (Harnack-Berlin, 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  14 


210        Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

Mausbach-Münster),  drei  Schulräte  (Borbein-Berhn,  Siebourg-BerUn,  Wasner- 
Magdeburg),  drei  Gymnasialdirektoren  (Ery thropel-Düsseldorf ,  Goldbeck-Berlin, 
Schroeder-Charlottenburg),  vier  Oberlehrer  (Kranz-Charlottenburg,  Kuckhoff- 
Essen,  Litt-Köln,  Poske-Berlin).  Die  vornehmlich  psychologisch  orientierte 
Richtung  der  Pädagogik  (Kinderpsychologie,  Jugendkunde,  experimentelle  Päda- 
gogik) war  auf  der  Konferenz  nicht  vertreten. 

Hauptreferenten  waren  die  Herren  Troeltsch  und  Ziehen,  deren  jeder  für 
die  Besprechung  eine  Reihe  von  Thesen  aufgestellt  hatte;  außerdem  wurde 
noch  von  Herrn  Spranger  eine  Thesenfolge  vorgelegt.  Der  Kultusminister  und 
der  vortragende  Rat  im  Kultusministerium  Professor  Becker  nahmen  an  der 
Besprechung  teil.  Ein  Gesamtbericht  ist  vom  Kultusministerium  herausgegeben 
worden  unter  dem  Titel:  „Pädagogische  Konferenz  im  Ministerium  der  geist- 
lichen und  Unterrichtsangelegenheiten  am  24.  und  25.  Mai  1917". 

Bei  der  außerordentlichen  Wichtigkeit  der  Frage  erscheint  es  nun  erforder- 
lich, dem  dankenswerten  Vorgehen  des  preußischen  Kultusministeriums  weitere 
öffentUche  Besprechungen  des  Gegenstandes  folgen  zu  lassen  und  insbesondere 
jenen  sachverständigen  Persönlichkeiten,  die  auf  der  Konferenz  nicht  anwesend 
waren,  Gelegenheit  zur  Stellungnahme  zu  geben.  Wir  erbaten  daher  von 
einigen  Herren  gutachtliche  Äußerungen,  mit  deren  Abdruck  wir  heute  be- 
ginnen. Eine  solche  zwanglose  Aussprache  dürfte  bewirken,  daß  gewisse 
Grundgedanken  der  Konferenz  durch  allseitige  Zustimmung  gesichert  werden, 
daß  andere,  dort  vielleicht  zu  kurz  gekommene  Gedankenreihen  die  gebührende 
Hervorhebung  finden,  und  daß  durch  Beibringung  neuer  Gesichtspunkte  das 
Bild  ergänzt  und  vervollständigt  wird.  So  wird  hoffentlich  der  Boden  vor- 
bereitet, auf  dem  die  akademische  Pflege  der  Erziehungswissenschaft  und  die 
berufliche  Vorbereitung  der  Jugenderzieher  zur  vollen  Entfaltung  kommen  kann. 

Die  Schriftleitung. 

1.  Ober  Ordinariate  ffir  Pädagogik  in  den  philosophischen  Fakultäten. 

Von  Erich  Becher. 

Ein  gedruckter  Verhandlungsbericht  gibt  Auskunft  über  die  „Päda- 
gogische Konferenz  im  (preußischen)  Ministerium  der  geistlichen  und  Unter- 
richts-Angelegenheiten am  24.  und  25.  März  1917",  auf  der  über  Universitäts- 
professuren für  Pädagogik  beraten  wurde.  „Die  Sache  marschiert",  erklärte 
der  damalige  preußische  Kultusminister,  und  es  wird  dahin  kommen,  daß 
jede  Universität  ihre  Pädagogik-Professur  hat  (S.  27).  Die  Freude  über 
diese  Aussicht  und  über  die  Förderung  der  Angelegenheit,  die  jene  Kon- 
ferenz gebracht  hat,  möge  man  sich  nicht  durch  einige  Einseitigkeiten  und 
Unstimmigkeiten  trüben  lassen,  die  bei  den  gehaltvollen  Verhandlungen  zu- 
tage traten,  umso  weniger,  als  sie  innerhalb  der  Versammlung  alsbald  be- 
seitigt und  ausgeglichen  wurden.  Im  ganzen  und  in  der  Hauptsache  herrschte 
fast  mehr  Übereinstimmung,  als  man  bei  einer  so  wichtigen,  schwierigen 
und  vielseitigen  Frage  erhoffen  durfte. 

Vor  allem  zeigten  die  Erwägungen,  daß  wissenschaftliche  Auf- 
gaben für  die  Pädagogik-Professuren  in  Fülle  vorhanden  sind.  Noch 
immer  begegnet  man  bei  Fakultätsberatungen  dem  seitsamen  Einwand, 
Pädagogik  sei  eine  Kunst,  jedoch  keine  Wissenschaft.  Gewiß  ist  Erziehen 
eine  Kunst,  eine  hohe  Kunst  fürwahr;   aber   das  schließt   eine  Wissenschaft 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.     1.  Becher  211 

von  der  Erziehung  keineswegs  aus.  Auch  das  Heilen  ist  ja  eine  Kunst,  und 
doch  gibt  es  eine  reiche,  weitverzweigte,  blühende  medizinische  Wissen- 
schaft. Alle  die  großen  Gebiete  des  geistigen,  staatlichen,  praktischen  Lebens 
finden  ihre  gründliche  akademische  Pflege;  Religion,  Kunst,  Wissenschaft, 
Staat,  Heerwesen,  Recht,  Volkswirtschaft,  Landwirtschaft,  Technik,  Handel 
werden  durch  eigene  Professuren,  Fakultäten  oder  ganze  Hochschulen  ver- 
treten ;  das  Erziehungswesen  aber  wird  ganz  stiefmütterlich  in  unserem  Hoch- 
schulbetriebe behandelt.  Es  gibt  nur  sehr  wenige  Ordinariate  für  Pädagogik, 
beispielsweise  nur  ein  einziges  in  Preußen.  Unsere  philosophischen  Fakul- 
täten haben  z.  B.  ihre  Ordinariate  für  Geschichte  der  bildenden  Künste,  und 
das  ist  gut  so;  sollte  da  die  reiche  Geschichte  der  Erziehung  und  des 
Schulwesens  unwürdig  einer  Vertretung  an  diesen  Fakultäten  sein?  Hier 
liegen  gewaltige  echt  wissenschaftliche  Aufgaben,  die  um  so  dringender 
sind,  als  sie  bisher  wenig  bearbeitet  wurden,  eben  weil  es  an  Pädagogik- 
Professuren  fehlte. 

Neben  der  Vergangenheit  aber  ist  die  Gegenwart  zu  erforschen. 
Das  gegenwärtige  Recht,  die  gegenwärtige  Verfassung  und  Verwaltung,  die 
gegenwärtige  Wirtschaft  werden  an  unseren  Hochschulen  sorgsam  und  ein- 
dringend behandelt;  verdient  nicht  auch  unser  Erziehungs-  und  Schul- 
wesen solche  Behandlung?  Hier  steht  wiederum  eine  große  wissenschaft- 
liche Aufgabe  vor  uns,  deren  theoretische  Berechtigung  und  praktische  Be- 
deutung nicht  wohl  bestritten  werden  können. 

Die  Geschichte  der  Erziehung  und  die  allseitige  Erforschung 
unseres  gegenwärtigen  Bildungswesens  repräsentieren  pädagogische 
Tatsachenwissenschaften.  Die  pädagogische  Wissenschaft  soll  aber 
nicht  nur  feststellen  und  erklären,  was  war  und  ist.  Sie  soll  auch  die  be- 
stehenden Erziehungsverhältnisse  wissenschaftlich  bewerten,  soll  Ideale 
und  Forderungen  aufstellen,  soll  uns  helfen,  Verfehltes  als  solches  zu 
erkennen  und  durch  Gutes  zu  ersetzen,  das  Gute  aber  durch  das  Bessere 
zu  verdrängen.  Sie  soll  für  die  Erziehungsverhältnisse  leisten,  was  die 
wissenschaftliche  Hygiene  für  die  gesundheitlichen  Verhältnisse  leistet.  In- 
dessen die  Aufgaben  der  pädagogischen  Wissenschaft  reichen  hier  weiter. 
Während  die  Ziele  des  hygienischen  Tuns  im  wesentlichen  feststehen,  sind 
die  der  Erziehung  vielfach  strittig. 

Es  gilt  alsf)  zunächst,  die  Erziehungsziele  wertend  zu  bestimmen. 
Der  Kampf  um  diese  pädagogischen  Wert-  und  Zielprobleme  aber  führt  mit 
Notwendigkeit  auf  die  allgemeinen  Fragen  nach  den  letzten,  höchsten  Werten 
und  Zielen,  nach  der  Rangordnung  der  Werte,  kurz  auf  die  Fragen  der 
philosophischen  Werttheorie  zurück.  So  ist  das  Grundproblem  der  werten- 
den Pädagogik  in  der  philosophischen  Werttheorie  zu  verankern. 
Diese  fundamentale  Bedeutung  der  Philosophie  für  die  pädagogische  Wissen- 
schaft ist  auf  der  preußischen  Ministerialkonferenz  in  den  Begrüßungsworten 
des  Ministers,  dem  Referat  Troeltschs  und  den  weiteren  Beratungen  mit 
Recht  sehr  stark  betont  worden.  Troeltsch  fordert  kulturphilosophische, 
F.  J.  Schmidt  ethische  Grundlegung  der  Pädagogik.  Diese  Forderungen 
decken  sich  mit  den  unsrigen  wohl  im  wesentlichen. 

Man  kann  nun  freilich  gegen  die  philosophische,  werttheoretische  Be- 
gründung der  Erziehungsziele  den  Einwand  erheben,  daß  die  in  Frage 
kommenden   philosophischen    Grundlagen   selbst  sehr  unsicher  und 

14* 


212        Übfr  di>'  künftige  fflepe  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

umstritten  seien.  In  der  Tat  handelt  es  sich  hier  um  ebenso  schwierige 
wie  wichtige  Probleme;  unser  ganzes  Kulturleben  leidet  schwer  unter  der 
Unsicherheit  und  Zerfahrenheit  der  Wertungen  und  Zielsetzungen.  Um  so 
wünschenswerter  ist  es,  daß  auch  von  der  Pädagogik  her  ein  Antrieb  zur 
Bearbeitung  der  Werttheorie  sich  ergibt.  Die  pädagogische  Wissenschaft 
kann  einen  starken  Einschlag  schwieriger,  umstrittener  philosophischer  Pro- 
bleme aufnehmen,  ohne  sich  in  unsichere  Spekulation  zu  verflüchtigen, 
da  sie  in  ihren  tatsachenwissenschaftlichen  Teilen  einen  festen 
empirischen  Halt  besitzt. 

Zu  den  tatsachenwissenschaftlichen  Grundlagen  gehört  nun  auch  die 
Psychologie.  Sie  ist  keineswegs  nur  für  die  Wissenschaft  von  den  Er- 
ziehungsmitteln, für  die  Methodik  und  die  Didaktik  wichtig,  sondern  auch 
für  die  Theorie  der  Erziehungsziele  unentbehrlich.  Denn  um  zu  wissen, 
welche  als  wertvoll  erkannten  Ziele  durch  die  Erziehung  des  Menschen  ver- 
wirklicht oder  gefördert  werden  können,  muß  man  den  Menschen  und  ins- 
besondere seine  Seele  kennen.  Das  wertvollste  Ziel  ist  pädagogisch  be- 
deutungslos, wenn  seine  Verwirklichung  oder  Förderung  durch  Erziehung 
psychologisch  unmöglich  ist. 

Wiederum  ist  die  Psychologie  unentbehrlich,  wenn  es  gilt,  die  Mittel 
zur  Erreichung  der  als  wertvoll  und  psychologisch  möglich  erkannten  Er- 
ziehungsziele festzustellen.  Man  muß  den  Menschen,  das  Kind  und  seine 
Seele  kennen,  um  sie  im  Sinne  der  Erziehungsziele  beeinflussen  und  leiten 
zu  können.  Darum  sind  Psychologie  und  Jugendkunde  sicherlich 
unentbehrliche  Grundlagen  der  pädagogischen  Wissenschaft.  Leider  trat 
auf  der  Berliner  Konferenz  zuweilen  eine  starke  Abneigung  gegen  die 
Psychologie  als  Grundlage  der  Pädagogik  zutage.  Erythropel  meinte: 
„Die  auf  Psychologie  gegründete  Pädagogik,  wie  sie  bisher  geübt  wurde, 
hat  großes  Unheil  angerichtet,  wenn  sie  jetzt  aber  in  der  Kulturphilosophie 
verankert  werden  soll,  so  wird  der  Gewinn  groß  sein"  (S.  19).  Es  war  sehr 
verdiensthch,  daß  Braun  den  „konstruierten  Gegensatz  zwischen  Psycho- 
logie und  Kulturphilosophie  als  Hilfswissenschaften  der  Pädagogik" 
(S.  21)  ablehnte,  daß  Ettlinger  sich  ihm  anschloß  und  auch  den  Wert  der 
wissenschaftlich  betriebenen  experimentellen  Psychologie  hervorhob,  daß 
Poske  unter  Hinweis  auf  Höflers  Verdienste  die  Bedeutung  der  Psychologie 
und  Jiigendkunde  betonte,  daß  Reinhardt  Philosophie,  Psychologie  und 
Jugendkunde  nebeneinanderstellte.  Bemerkenswert  war,  daß  ein  Schulmann, 
Borbein,  entgegen  den  Thesen  Troeltschs  ein  Ausgehen  von  der  Einzelseele, 
nicht  von  der  Kulturphilosophie,  forderte. 

Es  besteht  Gefahr,  daß  hier  Einseitigkeiten,  Neigungen  und  Abneigungen 
einer  großen  Sache  schaden.  Die  wissenschaftliche  Pädagogik  braucht  gleich 
notwendig  Wertphilosophie  und  Psychologie.  Wie  würde  Herbart, 
der  größte  Vertreter  der  wissenschaftlichen  Pädagogik,  die  Unstimmigkeiten 
zwischen  Philosophie  und  Psychologie,  die  völhge  oder  teilweise  Verdrängung 
der  Psychologie  aus  der  Pädagogik  bekämpft  haben!  Je  exakter  die  Er- 
kenntnis der  einschlägigen  Tatsachen  gestaltet  werden  kann,  um  so  besser 
für  die  Pädagogik.  Darum  sollte  auch  die  experimentelle  Methode 
als  Hilfsmittel  pädagogischer  Wissenschaft  nicht  verfemt  werden.  Gewiß 
sind  Übertreibungen  und  Mißgriffe  in  der  experimentellen  Pädagogik  und 
der  pädagogischen  Psychologie  vorgekommen;   aber  fehlen  sie   etwa  in  der 


GiitafhtlichB  Äiißoriin<ren,  Erste  Rcil»"'.      1.   Heclier  213 

philosophischen  Pädagogik,  bei  Plato  z.  B.?  Sie  fehlen  keiner  Wissen- 
schaft! — 

Nach  alledem  muß  man  die  Frage:  Ist  Pädagogik  als  Wissenschaft 
möglich?  durchaus  bejahen.  Es  ist  Raum  für  eine  solche  Wissenschaft 
vorhanden,  es  fehlt  weder  an  Tatsachen,  noch  an  Problemen.  Es  sind  alle 
Tatsachen  des  Erziehungs-  und  Schulwesens  zu  erforschen,  von  der  „Mutter- 
schule" bis  zur  Fachschule,  von  der  Volksschule  bis  zur  Hochschule,  vom 
Kindergarten  bis  zur  Jugendbewegung.  Zu  den  Tatsachen  der  Gegenwart 
kommen  die  der  Geschichte,  zur  pädagogischen  Tatsachenwissenschaft  kommt 
die  wertende,  normierende  pädagogische  Theorie,  die  in  philosophischer 
Werttheorie  verankert  ist  und  sich  auf  Psychologie  und  Jugendkunde  stützt, 
auch  Staats-  und  Gesellschaftslelire,  Hygiene  u.  a.  als  Hilfswissenschaften 
braucht. 

Bei  der  Art  unseres  deutschen  Forschungsbetriebes  setzt  das  Gedeihen 
einer  Wissenschaft  ihre  Pflege  an  unseren  Hochschulen  voraus.  Die 
pädagogische  Wissenschaft  fügt  sich,  wie  auch  Troellsch  darlegt,  ungezwungen 
ein  in  den  Rahmen  der  philosophischen  Fakultät.  Sie  hat  enge  Be- 
ziehungen zur  Philosophie,  Psychologie  und  Kulturgeschichte.  In  den  philo- 
sophischen Fakultäten  erhalten  ja  auch  die  zukünftigen  Lehrer  der  höheren 
Schulen  ihre  wissenschaftliche  Ausbildung. 

Das  Gebiet  der  pädagogischen  Wissenschaft  ist  sehr  groß.  Darum  sind 
eigene,  im  Hauptamt  angestellte  Professoren  erforderhch.  Nebenher 
mögen,  wie  bisher,  Philosophen,  Philologen,  Theologen  und  Schulmänner  an 
unseren  Universitäten  die  Pädagogik  fördern ;  das  bleibt  dankenswert,  genügt 
aber  allein  nicht.  Auch  die  im  Hauptamt  angestellten  Pädagogik-Professoren 
werden  das  gewaltige  Gebiet  nicht  gleichmäßig  beherrschen  können;  der 
einzelne  mag  als  Forscher  hauptsächlich  sich  der  philosophischen  Grund- 
legung, dem  psychologischen  Aufbau,  der  Schulorganisation,  der  Geschichte 
widmen.  Eine  entsprechende  Spezialisierung  ergibt  sich  ja  auch  in  den 
anderen  Fächern.  Nur  darf  nicht  eine  Richtung,  etwa  die  philosophische 
oder  die  psychologische,  einseitig  gezüchtet  und  bei  den  Berufungen 
bevorzugt  werden. 

Die  Besetzungsfrage  liegt  nicht  einfach,  würde  aber  mit  der  Zeit 
leichter  werden.  Mit  den  o.  Professoren  werden  die  Privatdozenten  der 
Pädagogik  kommen.  Diese  müssen  gründlichen  Einblick  in  die  Schulpraxis 
gewinnen.  Besuche  in  den  verschiedenen  Schulen  (die  nicht  zu  Revisionen 
werden  dürfen)  werden  den  Universitätslehrern  von  Erythropel  mit  Recht 
empfohlen.  Für  eine  Anzahl  von  Lehrstühlen  wären  auch  gegenwärtig  ge- 
eignete Gelehrte  zu  finden.  Mit  Troeltsch  meinen  wir:  „Woher  ressortmäßig 
der  Mann  kommt,  ist  gleichgültig"  (S.  24).  Man  sollte  aber  recht  hohe 
Ansprüche  an  seine  wissenschaftlichen  Qualitäten  stellen  und  Heber 
auf  einen  Lehrstuhl  verzichten  als  ihn  mit  einem  Herrn  besetzen,  der  — 
so  bewährt  er  auf  anderen  Arbeitsfeldern  sein  mag  —  nicht  ein  bedeuten- 
der Forscher  ist.  Man  bedenke,  daß  es  sich  um  eine  werdende  Wissen- 
schaft handelt,  die  um  ihre  Anerkennung  ringen  und  sich  ihre  eigene 
Arbeitstradition  schaffen  muß. 

Von  der  wissenschaftlichen  Bedeutung  ihrer  Vertreter  wird  in  erster  Linie 
die  Stellung  abhängen,  die  die  Pädagogik  an  der  Universität  sich  erwirbt. 
Ein  als  Forscher  und  Dozent  tüchtiger  Pädagogik-Professor  wird  bald  starken 


214       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

Einfluß  auf  die  Studenten,  die  künftigen  Lehrer,  ausüben,  llir  In- 
teresse für  wissenschaftlich  vertiefte  Pädagogik  ist  groß.  Eine  philosophisch, 
werttheoretisch  begründete  Lehre  von  den  Erziehungszielen  aber  kann  die 
Studenten  „in  Ideale  und  Ethik  des  Lehrerberufes  einführen'* 
(S.  22),  worauf  ich  mit  Becker  sehr  großes  Gewicht  legen  möchte.  Diese 
Ideale  fehlen  den  Studenten  unserer  Fakultät,  auch  den  tüchtigen  unter  ihnen, 
nur  zu  oft,  und  das  ist  verständlich,  solange  die  Pädagogik  auf  der  Uni- 
versität hinter  der  Philologie,  Mathematik  usw.  und  hinter  deren  Forschungs- 
idealen ganz  zurücktritt.  Daraus  ergibt  sich  dann  im  späteren  Berufe  die 
Überschätzung  der  Fachkenntnisse  gegenüber  der  Erziehung;  man  nimmt 
„von  der  Universität  eine  falsche  Berufsethik  mit  ins  Leben"  (Becker  S.  22). 
Eine  philosophisch  vertiefte  Pädagogik  kann  hier  Wandel  schaffen ;  sie  kann 
die  Ideale  darbieten,  die  der  zukünftige  Lehrer  in  den  empfänglichen  Jahren 
des  Studiums  in  sich  aufnehmen  sollte.  Dazu  gehört  aber,  daß  die  päda- 
gogische Wissenschaft  vollwertig  neben  den  anderen  Universitätswissen- 
schaften steht. 

Was  die  Gestaltung  ihresWirkens  angeht,  so  sollte  man  den  Pädagogik- 
Professoren  weitgehende  Freiheit  lassen.  Eine  werdende  Wissenschaft 
bedarf  erst  recht  der  akademischen  Freiheit  zu  gedeihlicher  Entfaltung.  Die 
Professoren  müssen  selbst  herausfinden,  wie  sie  ihre  Vorlesungen,  Seminare 
oder  Institute  am  besten  einrichten  und  ausbauen.  Verfehlte  Versuche  werden 
auch  hier  nicht  ausbleiben,  aber  sie  werden  verschwinden,  und  das  Gute 
wird  sich  durchsetzen. 

2.    Thesen  über  pädagogische  Professuren. 
Von  Jonas  Cohn. 

1.  Maßgebend  für  die  Beurteilung  der  Notwendigkeit  und  der 
Art  pädagogischer  Professuren  ist  das  Bedürfnis  der  Studenten 
als  künftiger  Lehrer. 

Ernst  Troeltsch  geht  bei  seinen  Thesen  von  der  „Gesamtidee  der  philo- 
sophischen Fakultät"  aus.  Gewiß  soll  sich  das  neue  Glied  der  alten  Gemein- 
schaft einfügen,  aber  diese  Gemeinschaft  und  ihrp  „Idee"  ist  selbst  geschicht- 
licher Wandlung  fähig,  vielleicht  bedürftig.  Notwendig  ist  der  Professor  der 
Erziehungslehre  nicht  für  seine  Kollegen,  sondern  für  die  Studierenden. 
Wenn  ich  von  deren  Bedürfnissen  rede,  so  meine  ich  nicht,  was  sie  zum 
Examen  sich  einprägen  müssen,  nicht  einmal,  was  sie  gerne  und  mit  Hin- 
gebung zu  treiben  pflegen,  sondern  was  sie  für  ihren  Beruf  wirklich  brauchen. 

2.  Der  künftige  Oberlehrer  soll  durch  Wissenschaft  erziehen. 
Das  kann  er  nur,  wenn  er  die  Wissenschaft,  deren  Anfangs- 
gründe Gegenstand  seines  Unterrichts  sind,  durch  Teilnahme  an 
ihrer  forschenden  Arbeit  sich  innerlich  zu  eigen  gemacht  hat. 
Aber  da  nicht  die  Wissenschaft  als  solche,  auch  nicht  ihre  freie 
Mitteilung  sein  Beruf  ist,  sondern  Erziehung  durch  Wissenschaft, 
so  bedarf  er  einer  Einstellung  und  Vorbereitung,  die  mit  dem 
Einleben  in  seine  Wissenschaft  noch  nicht  gegeben  ist. 

Ich  berücksichtige  nur  den  künftigen  Oberlehrer,  da  die  vielumstrittene 
Frage,  ob  und  in  welchem  Umfange  Volksschullehrer  zur  Universität  zu- 
gelassen werden  sollen,   mit  der  Errichtung  pädagogischer  Professuren  nicht 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe,    2.  Cohn  215 


notwendig  zusammenhängt.  Vielmehr  sind  solche  Lehrstühle  schon  durch 
das  Bedürfnis  künftiger  Oberlehrer  dringend  genug  gefordert.  Der  Volks- 
schullehrer, der  ja  auf  dem  Seminar  pädagogisch  ausgebildet  ist,  wird  auf 
der  Universität  in  erster  Linie  Vertiefung  in  eine  besondere  Wissenschaft 
suchen,  in  zv^iter  Linie  volles  wissenschaftliches  Bewußtsein  über  den  Zu- 
sammenhang seiner  mehr  praktisch-pädagogischen  Kenntnisse.  Daß  päda- 
gogische Vorlesungen  auch  dem  künftigen  Verwaltungsbeamten,  Jugendrichter, 
Kinderarzt,  Geistlichen  nützlich  sein  können,  werde  nebenher  erwähnt. 

Die  strenge  einzelwissenschaftliche  Ausbildung  des  Oberlehrers  darf 
nicht  geschmälert  werden,  obwohl  sie  seinem  Berufe  hier  und  da  besser 
angepaßt  werden  könnte.  Die  pädagogische  Belehrung  wird  daher  nicht 
übermäßig  Kraft  und  Zeit  beanspruchen  dürfen.  Sie  wird  das  nicht  brauchen, 
da  es  sich  wesentlich  um  eine  richtige  Einstellung  des  Geistes  handelt.  Der 
eigentlich  praktische  (technische)  Teil  der  Ausbildung  bleibt  der  Schule  selbst 
(dem  Seminar-  und  Probejahre)  vorbehalten.  Aber  mit  großem  Unrecht 
vernachlässigen  wir  auf  den  Universitäten  die  Theorie  dieser  Praxis.  Wir 
fordern  von  dem  Kandidaten  nach  seinem  Examen  eine  neue  Einstellung, 
auf  die  er  in  keiner  Weise  vorbereitet  ist. 

3.  Erziehung  ist  ein  Ganzes,  dem  sich  wieder  der  wissen- 
schaftliche Unterricht  als  Teil  einzuordnen  hat.  Ein  Ganzes 
soll  di«  Erziehung  jedes  Einzelnen  bilden,  ebenso  aber  auch  die 
Erziehung  aller  Glieder  eines  Volkes.  Den  Geist  des  Lehrers 
auf  seinen  Beruf  einstellen,  heißt,  ihm  die  Möglichkeit  geben, 
jede  einzelne  Unterweisung  oder  Maßregel  in  diese  beiden  Ganz- 
heiten einzugliedern. 

Diese  Sätze  gelten  unbedingt  in  einer  Zeit,  in  der  das  Ganze  der  Er- 
ziehung, wie  das  Ganze  des  Lebens  überhaupt,  nicht  selbstverständlich  über- 
liefert wird.  Wir  leben  in  einer  Periode  der  Kritik,  der  Anregungen  und  Ver- 
suche; dabei  geht  der  Urteilende  oder  Vorschlagende  vielfach  von  einem 
einzelnen  Bedürfnis  aus,  auch  der  Lehrer  ist  geneigt,  sein  „Fach"  für  das 
allein  wesentliche  zu  halten.  Der  Lehrer  muß  gegenüber  den  Anfechtungen 
der  Kritik  ein  sicheres  Bewußtsein  seines  Berufes  erringen,  er  muß  es  auch, 
so  sehr  er  Fachmann  ist,  verstehen,  den  „Ressort-Patriotismus"  seines  Faches 
der  Liebe  zum  Ganzen,  zur  Persönlichkeit  des  einzelnen  Schülers  wie  zum 
Gesamtleben  des  Volkes  unterzuordnen. 

4.  Auf  der  Universität,  als  auf  einer  wissenschaftlichen  An- 
stalt, ist  dieses  Gesamtbewußtsein  als  wissenschaftliches  zu 
gewinnen.  Die  so  geforderte  Wissenschaft  bedarf,  wie  jede 
Wissenschaft,  des  einigenden  Gedankens  und  des  mitteilbaren 
Stoffes.  Der  einigende  Gedanke  muß  philosophisch  sein,  den 
Stoff  der  Wissenschaft  geben  Geschichte  und  Psychologie. 

Die  einzige  Art,  in  der  die  Universität  den  Geist  des  künftigen  Lehrers 
auf  die  Erziehung  einstellen  kann,  trifft  zusammen  mit  einer  Forderung, 
die  unsere  Zeit,  als  in  welcher  das  Vereinigende  so  wenig  selbstverständhch 
ist,  an  uns  stellt.  Die  Erziehung  ist  nur  Einheit,  wenn  ein  einheitlicher 
Geist  sie  beherrscht,  und  dieser  muß  heute  bewußt  sein.  Der  Lehrer,  wenn 
er  mit  Überzeugung  lehren  soll,  muß  sein  Tun  vor  sich  selbst  rechtfertigen 
können,  er  muß  in  dem  Streite  um  Erziehung  und  Schule  Stellung  nehmen 
können. 


216        Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 


Die  pädagogische  Wissenschaft  wird  zusammengehalten  durch  den  ein- 
heitlichen Zweck  der  Erziehung.  Dieser  aber  ist  nur  zu  bestimmen  von 
einer  Überzeugung  über  den  Sinn  des  menschlichen  Lebens  und  der  mensch- 
lichen Gemeinschaft  her.  Zu  solcher  Überzeugung  zu  führen,  ist  Haupt- 
aufgabe der  Philosophie.  Der  einigende  Gedanke  der  Pädagogik  muß  also 
philosophisch  sein^). 

5.  Philosophie  als  Streben  nach  einem  einheitlichen,  be- 
gründeten Wert-  und  Kulturbewußtsein  beherrscht  und  vereinigt 
die  Lehre  von  der  Erziehung. 

Philosophie  ist  nicht  als  vollendetes  Ganzes  gegeben,  philosophische 
Besinnung  kann  daher  an  jeder  zentralen  menschlichen  Tätigkeit  einsetzen. 
Die  Probleme  der  Erziehung  bieten  auch  dem  philosophisch  noch  weniger 
Geschulten  einen  geeigneten  Ausgangspunkt  zu  tieferem  Eindringen.  Die 
philosophische  Haltung  und  Begründung  der  Pädagogik  sichert  dem  künftigen 
Lehrer  das  Gesamtbewußtsein  von  seinem  Berufe  und  dessen  Aufgaben.  Die 
von  Tröltsch  beklagte  Einengung  der  Philosophie  auf  eine  besondere  Art 
von  Spezialistentum  ist  durchaus  im  Schwinden,  zudem  kann  gerade  die 
Pädagogik  zu  einer  stärkeren  Betonung  auch  der  Ethik,  Geschichts-  und 
Kulturphilosophie  im  akademischen  Unterrichte  führen.  Der  philosophisch 
gerichtete  Pädagoge  wird  sich  gewiß  nicht  auf  Pädagogik  allein  einschränken 
lassen,  sondern  jene  mit  der  Erziehungslehre  so  eng  verbundenen  Gegen- 
stände ebenfalls  behandeln  wollen. 

6.  Nur  aus  der  Geschichte  ist  die  Gegenwart  verständlich, 
das  gilt  für  die  Erziehungsideale  wie  für  die  Erziehungsan- 
stalten. Erziehen  ist  eine  geschichtlich  gerichtete  Tätigkeit: 
für  diese  geschichtliche  Lage  und  mit  Hilfe  dieser  geschichtlich 
gewordenen  Anstalten  und  Mittel  soll  erzogen  werden.  Er- 
ziehungslehre bedarf  also  der  Geschichte  überall;  aber  nur 
wenn  die  Geschichte  unter  den  Auswahlprinzipien  des  dauernd 
und  des  für  die  Gegenwart  Wertvollen  steht,  kann  sie  Leben 
wecken. 

Es  gilt,  die  Geschichte  der  Erziehung  und  der  Erziehungslehre  nicht  als 
Sammlung  unverbundener  Notizen,  auch  nicht  als  bloßen  Gegenstand  ge- 
schichtlicher Einzelforschung  vorzutragen,  sondern  sie  dem  allgemeinen 
Ziele  pädagogischen  Universitätsunterrichts,  der  Erweckung  eines  wissen- 
schaftlich begründeten  Berufsbewußtseins  der  künftigen  Lehrer  unterzuordnen. 
Geschichte  der  Erziehungslehre  und  Geschichte  der  Erziehung  hängen  auf 
das  innigste  zusammen,  gerade  die  Wechselwirkung  zwischen  Wirklichkeit 
und  Idealbildung  ist  lehrreich.  Der  Studierende,  besonders  der  pädagogisch 
interessierte,  pflegt  auf  die  Gegenwart  allein  sein  Interesse  zu  richten;  es  ist 
die  Aufgabe  geschichtlicher  Vorlesungen  (oder  des  geschichtlichen  Einschlags 
in  nicht  geschichthchen)  ihm  die  Notwendigkeit  einer  historischen  Vertiefung 
klar  zu  machen.  Philosophische  und  historische  Pädagogik  hängen  eng 
miteinander  zusammen:  die  philosophische  Besinnung  entwickelt  sich  in 
einer  Reihe  geschichtlich  verbundener  Gestalten,  sie  geht  aus  von  der  wirk- 
lichen Erziehung  und  beeinflußt  diese  ihrerseits.     Die  Geschichte  ist  nicht 

')  Diese  Einsicht  ist  wieder  weit  verbreitet.  Lange  aber  hat  fast  allein  Paul  Natorp  sie 
energisch  vertreten.  Mit  Bedauern  vermißt  man  ihn  unter  den  Teilnehmern  an  der  Berliner 
Konferenz. 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.     2.   Cohn  217 


ohne  Philosophie  verständlich,    und    die  Philosophie  bleibt  ohne  Geschichte 
abstrakt  und  inhaltarm. 

7.  Die  Bejdeutung  der  Psychologie  für  den  Lehrer  beschränkt 
'sich  keineswegs  auf  die  Dienste,  die  sie — bes.  durch  die  neueren 
exakten  Forschungen  —  der  Didaktik  leistet.  Vielmehr  schärft 
psychologische  Schulung  den  Blick  für  das  seelische  Geschehen,, 
lehrt  auf  sonst  übersehene  Möglichkeiten  achten  und  an  die 
unbeabsichtigten  Folgen  jeder  Maßregel  auf  das  ganze  Seelen- 
leben denken.  Der  Lehrer  soll  stets  als  ganzer  Mensch  auf 
den  Schüler  als  ganzen  Menschen  wirken.  Die  so  geforderte 
Haltung  ist  gewiß  von  der  sachlichen  Kühle  des  psychologischen 
Beobachters  grundverschieden;  aber  sie  wird,  zumal  Personen 
gegenüber,  deren  Art  von  der  eigenen  stark  abweicht,  durch 
psychologisches  Wissen  sehr  erleichtert.  Besonders  die  Ent- 
wicklungsgeschichte des  Seelenlebens  und  die  Lehre  von  den 
individuellen  Unterschieden  sind  wichtig.  Bei  dem  engen  Zu- 
sammenhang von  Leib  und  Seele  ist  die  Psychologie  des  jugend- 
lichen Menschen  als  Teil  der  Jugendkunde  zu  behandeln. 

Es  ist  bemerkenswert,  daß  in  der  Berliner  Konferenz  gegenüber  dßv 
ablehnenden  Haltung  der  Thesen  von  Tföltsch  und  Ziehen  einige  Praktiker 
(Borbein,  Goldbeck,  Poske)  für  die  Psychologie  eingetreten  sind.  Gerade 
weil  ich  Gegner  jedes  Psychologismus  und  fest  überzeugt  bin,  daß  Ziele  nie 
aus  der  Psychologie  (sowenig  als  aus  einer  andern  Seins  Wissenschaft)  ge- 
wonnen werden  können,  weil  ich  ferner  die  stellungnehmende,  miterlebende 
Haltung  des  echten  Lehrers  von  der  beobachtenden,  aller  Wertung  sich  ent- 
haltenden des  Psychologen  streng  trenne,  möchte  ich  um  so  entschiedener 
hervorheben,  daß  die  Psychologie  dem  Lehrer  unersetzliche  Hilfe  zu  bieten 
hat.  Man  wird  nun  vielleicht  fragen:  welche  Psychologie  —  und  darauf 
ist  zu  antworten,  eine  recht  vielseitige,  an  Gesichtspunkten  der  Betrachtung 
reiche.  Die  exakte  Methodik  des  Experiments  lehrt  die  rein  psychologische 
Auffassung,  die  affektfreie  Selbst-  und  Fremdwahrnehmung;  übrigens  aber 
ist  das,  was  man  als  „experimentelle  Pädagogik"  bezeichnet,  nur  ein  zu- 
fäUiger  und  schlecht  begrenzter  Ausschnitt  aus  dem  Erforderlichen.  Die  ein- 
seitige Richtung  auf  sie  verführt  dazu,  an  Rezepte  zu  glauben,  die  die  Psycho- 
logie geben  könnte.  Weit  wichtiger  ist  es,  daß  die  Eigenart  jedes  Alters, 
die  Bedeutung  jeder  Entwickelungsstufe  im  Ganzen  der  Entwickelung  vorge- 
führt wird,  daß  die  Verschiedenheit  der  Individuen,  die  Notwendigkeit,  auf  von 
dem  eigenen  ganz  abweichende  Typen  zu  rechnen,  sich  dem  Geiste  einprägt, 
daß  die  Beobachtung  des  SeeHschen  geschult  wird.  Nicht  zu  vergessen  sind 
die  Entwicklungsstörungen,  die  abnormen  Fälle.  Der  Lehrer  soll  nicht  Arzt 
spielen  wollen,  aber  er  soll  aufmerken,  ob  er  nicht  einen  pathologischen 
Fall  vor  sich  hat,  um  rechtzeitig  den  Arzt  zu  Hilfe  zu  rufen.  Körperliche 
und  seelische  Entwickelung  sind  unlöslich  verbunden,  der  Erzieher  hat  stets 
den  ganzen  Menschen,  nicht  die  Seele  vor  sich  —  so  muß  auf  das  Ganze 
seine  Aufmerksamkeit  gerichtet  sein.  Vielleicht  ist  daher  das  Wort  „Jugend- 
kunde**  dem  Ausdruck  „Psychologie  der  Jugend"  vorzuziehen.  Die  Psycho- 
logie wie  die  Jugendkunde  ist  reine  Tatsachenwissenschaft,  kein  Werturteil 
darf  die  vorurteilslose  Beobachtung  und  Theorie  beeinflussen;  aber  die  Aus- 
wahl dessen,  was  der  Professor  der  Pädagogik  behandelt,   ist  durch  die  Be- 


218       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

dürfnisse  des  Lehrers  bestimmt.    Nur  sollen  diese  nicht  allzu  eng  technisch- 
didaktisch  begrenzt  werden. 

8.  Der  Professor  der  Pädagogik  soll  ein  Mann  der  Wissen- 
schaft sein,  kein  bloßer  Praktiker;  aber  er  soll  mit  der  Praxis 
des  Schulwesens  Fühlung  halten. 

Das  geht  aus  seiner  Aufgabe  hervor.  Ob  die  Fühlung  dadurch  erreicht 
wird,  daß  er  eine  Zeitlang  praktisch  tätig  war,  oder  dadurch,  daß  er  Ge- 
legenheit erhält  und  wahrnimmt,  die  Schulen  dauernd  zu  besuchen  und  zu 
beobachten,  Verkehr  mit  Schulmännern  zu  pflegen,  ist  nicht  entscheidend. 
Jedenfalls  sollte  er  kraft  seines  Amtes  die  allgemeine  Erlaubnis  haben,  in 
allen  Schulen  dem  Unterrichte  beizuwohnen.  —  Es  könnte  gegen  die  Er- 
richtung von  besonderen  Professuren  der  Pädagogik  eingewendet  werden, 
daß  die  Gegenstände  dieser  Wissenschaft  allzu  mannigfaltig,  teils  philosophisch, 
teils  psychologisch,  teils  historisch  sind.  Aber  sie  werden  durch  einen 
Geist  und  e  i  n  Interesse  zum  Ganzen  verbunden.  Daß  nicht  jeder  einzelne 
Vertreter  der  Erziehungswissenschaft  in  allen  Zweigen  dieser  Wissenschaft 
gleichmäßig  als  Forscher  tätig  sein  wird,  ist  wahrscheinlich.  Aber  auch  der 
Physiologe  pflegt  entweder  vorwiegend  sinnesphysiologisch  oder  chemisch- 
physiologisch usw.  zu  arbeiten.  Es  genügt,  wenn  der  Professor  der 
Pädagogik  auch  dort,  wo  er  nicht*  als  Forscher  tätig  ist,  doch  die  Arbeiten 
anderer  mit  selbständigem  Urteil  verwertet.  Das  Urteil  aber  und  der  Geist 
des  Ganzen  ist  in  der  Pädagogik  notwendig  durch  Philosophie  bestimmt. 
Philosophische  Geistesrichtung  und  Bildung  ist  also  unerläßlich,  um  so  mehr 
da  sie   sich  weit  schwerer   als  Einzelkenntnisse   nachträglich  erwerben  läßt, 

9.  Den  infolge  der  „Jugendbewegung"  hervortretenden  päda- 
gogischen Eifer  zu  pflegen,  erscheint  wichtiger  als  die  Vorbe- 
reitung auf  pädagogische  Prüfungen. 

Da  der  Lehrer  der  Pädagogik  den  begrenzten  Wert  aller  Prüfungen  her- 
vorheben muß,  da  er  den  Blick  des  Lehrers  auf  die  innere  wesenthche 
Förderung  des  Schülers  zu  richten  hat,  so  darf  seine  eigene  Lehre  nicht  in 
Prüfungs-Drill  ausarten.  Wenn  er  Forderungen  in  bezug  auf  die  Lehramts- 
Prüfungen  stellt,  so  soll  er  dabei  nur  von  dem  Bedürfnis  der  Lehrer  und 
Schüler,  nicht  von  dem  seines  Faches  ausgehen.  Die  liebsten  Hörer  müssen 
ihm  immer  die  freiwilligen  und  begeisterten  sein.  Daß  der  Professor  der 
Pädagogik  in  jedem  Semester  dasselbe  Kolleg  lesen  müßte,  wie  Tröltsch 
meint,  ist  auch  dann  unrichtig,  wenn  für  das  Examen  nur  das  Hören  eines 
Kollegs  verlangt  wird.  Es  kann  nur  gefordert  werden,  daß  jedes  päda- 
gogische Kolleg  für  sich  versländlich  ist.  Die  dürftigen  Examenleute  werden 
wenigstens  von  einer  Seite  auf  pädagogisches  Nachdenken  hingewiesen,  die 
besseren  Studierenden  erkennen  die  Ergänzungsbedürftigkeit  der  gehörten 
Vorlesung  und  setzen  ihre  Studien  fort.  Wir  müssen  zu  der  Urteilsart  der 
Fichte  und  Schleiermacher  zurückkehren,  die  bei  ihren  .Vorschlägen  stets  an 
die  Tüchtigen  dachten,  im  Gegensatz  zur  Gewohnheit  der  jüngsten  Ver- 
gangenheit, überall  die  Schwachen  zu  hätscheln. 

10.  Die  Promolion  mit  einer  pädagogischen  Dissertation  sollte 
möglich  aber  schwierig  sein.  Vor  allem  ist  Prüfung  in  Philo- 
sophie als  Hauptfach  unbedingt  zu  fordern. 

Möghch  muß  die  Promotion  sein,  weil  so  ein  Stab  geschulter  wissen- 
schaftlicher Arbeiter  gewonnen  wird.     Schwierig  muß  sie  sein,   damit  nicht 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.     3.  Lehmann  219 

das  neue  Fach  dazu  dient,  die  Eitelkeit  bequem  zu  befriedigen.  Wirklich 
fruchtbringende  pädagogische  Arbeiten  sind  selten,  der  Wust  überschüssigen 
bedruckten  Papiers  ist  gerade  in  der  Pädagogik  erschreckend.  Wissenschaft- 
licher Pädagoge  ist  niemand,  der  nicht  auch  philosophische  Studien  getrieben 
und  philosophische  Bildung  erworben  hat. 

Zur  Gestaltung  des  pädagogischen  Universitätsunterrichts  im  einzelnen 
Stellung  zu  nehmen,  versage  ich  mir,  da  meiner  Ansicht  nach  hier  vorläufig 
jeder  seinen  Weg  einschlagen  soll  —  erst  allmählich  wird  sich  eine  allge- 
meine Übung  ausbilden.  Das  gilt  besonders  von  den  pädagogischen  Semi- 
narien.  Die  Einrichtung  großer  Seminarien,  an  denen  Lehrer,  nicht  Studenten 
teilnehmen,  nach  dem  Vorschlage  Frischeisen-Köhlers,  halte  ich  für 
sehr  erwägenswert.  Es  sollte  mindestens  an  einer  Stelle  einmal  ein  Versuch 
damit  gemacht  werden. 

3.  Pädagogikprofessuren. 

Von  Rudolf  Lehmann. 

Ich  darf  das  Verdienst  in  Anspruch  nehmen  als  einer  der  ersten,  etwa 
neben  W.  Rein  und  mit  W.  Münch,  die  Errichtung  von  pädagogischen  Pro- 
fessuren gefordert  zu  haben,  und  ich  bin  seit  1 V2  Jahrzehnten  immer  wieder 
in  der  Öffentlichkeit  für  die  Sache  eingetreten.  Daher  bin  ich  auch  jetzt 
nicht  in  der  Lage,  eigentlich  Neues  zu  der  Frage  beizubringen.  Es  muß 
mir  gestattet  sein,  kurz  zusammenzufassen,  was  ich  an  anderen  Stellen  aus- 
führlich dargelegt  habe. 

Die  Forderung  entspricht  ebensowohl  einem  theoretischen  wie  einem 
praktischen  Bedürfnis.  Die  Geschichte  der  Erziehung,  wenn  sie  wissen- 
schaftlich erfaßt  wird,  ist  ein  integrierender  und  wichtiger  Zweig  der  Geistes- 
geschichte überhaupt.  Die  Pädagogik  als  Normwissenschaft  steht  in  innerem 
und  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  den  übrigen  Wertwissenschaften,  ins- 
besondere der  Ethik.  Die  Jugendkunde  endlich  bildet  heute  unbestritten 
einen  Teil  der  psychologischen  Wissenschaft;  ihre  Bedeutung,  nicht  nur  für 
die  praktische  Normgebung,  sondern  auch  für  das  pädagogische  Denken 
überhaupt  ist  so  unmittelbar,  daß  auch  von  dieser  Stelle  her  die  Erziehungs- 
wissenschaft einen  notwendigen  und  natürlichen  Anschluß  an  die  Univer- 
sitätswissenschaften findet.  Will  die  Hochschule  ihren  Charakter  als  Uni- 
versitas  Litterarum  bewahren  und  den  Zusammenhang  der  Geisteswissen- 
schaften im  ganzen  Umfang  umfassen,  so  darf  sie  die  Pädagogik  nicht 
länger  beiseite  lassen. 

Wenn  diese  sehr  einfache  Wahrheit  zur  allgemeinen  Anerkennung  in 
unseren  Fakultäten  gelangen  würde,  so  wäre  damit  viel,  ja  alles  gewonnen. 
Der  Hochschuluntericht  braucht  sich  hier  ebenso  wenig  wie  bei  anderen  Ge- 
bieten um  praktische  Wirkungen  zu  bekümmern.  Seine  Aufgabe  ist  und  bleibt 
das  theoretische  Verständnis  und  die  Fähigkeit  zur  Erfassung  wissenschaft- 
licher Zusammenhänge  zu  vermitteln,  und  diese  Aufgabe  fiele  ihm  zu,  auch 
wenn  die  Pädagogik  gar  keine  Bedeutung  für  unser  praktisches  Leben  hätte. 
Erziehen  und  Unterrichten  zu  lehren,  ist  keine  Verpflichtung  der  Universität, 
kann  es  nicht  sein,  solange  die  philosophische  Fakultät  ihren  jetzigen  Charakter 
wahrt.  Pädagogische  Universitätsseminare  haben  zu  geisteswissenschaftlicher 
oder  psychologischer  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  anzuleiten, 


220      Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  üniversit'Uc^n 


nicht  zum  Unterrichten  und  wenigstens  unmittelbar  auch  nicht  zum  Erziehen. 
Übungsschulen  braucht  man  nicht,  und  wenn  in  Jena  eine  solche  Einrichtung 
besteht,  die  darauf  ausgeht,  die  theoretische  Vorbildung  der  angehenden  Lehrer 
mit  der  praktischen  Ausbildung  zu  verbinden,  so  ist  das  eine  besondere  Eigen- 
heit der  dortigen  Organisation,  die,  auch  wenn  man  ihren  Wert  nicht  verkennt, 
nicht  als  vorbildlich  und  verbindlich  für  die  übrigen  Hochschulen  zu  betrachten 
ist.  Etwas  anders  steht  es  mit  den  Versuchsschulen,  die  vielfach  von  den 
Psychologen  gefordert  werden.  Sie  dienen  immerhin  wissenschaftlichen  Zwecken, 
nicht  der  praktischen  Einübung.  Gleichwohl  scheinen  mir  aus  äußeren  und 
inneren  Gründen  die  Wissenschaft  sowohl  wie  die  Schule  besser  dabei  zu  fahren, 
v/enn  die  Schule  nicht  in  die  Universität,  sondern  die  Universität,  soweit  sie 
dessen  bedarf,  in  die  Schule  kommt,  d.  h.  wenn  solche  Schulen  nicht  an  den 
Hochschulbetrieb  angeschlossen  werden,  sondern  wenn  eine  oder  mehrere  der 
in  der  Universitätsstadt  vorhandenen  Schulen  den  Psychologen  für  ihre  Zwecke 
zugänglich  gemacht  werden.  Die  Entwicklung  der  Münchner  Versuchsschule, 
die  zu  Forschungszwecken  begründet,  doch  in  die  der  städtischen  Verwaltung 
unterstellte  Organisation  eingereiht  worden  ist,  scheint  mir  ein  Beleg  dafür 
zu  sein.  — 

Welche  Bedeutung  nun  aber  hat  ein  solcher  rein  theoretischer  Betrieb  für 
die  Praxis  der  Schule  und  der  öffentlichen  Erziehung  überhaupt?  Die  Praxis 
hat  ihre  eigenen  Bedürfnisse  und  Ziele.  Sie  entwickelt  und  gestaltet  sich, 
wie  das  Leben  überhaupt,  im  wesentlichen  unabhängig  von  der  wissenschaft- 
lichen Theorie,  unmittelbar  aus  sachlichen  Notwendigkeiten  und  vielfältigen 
Überlieferungen.  Um  erfolgreich  zu  unterrichten,  um  sein  Pensum  bewältigen 
zu  können,  bedarf  der  Lehrer  keiner  geisteswissenschafthchen  Gesichtspunkte 
(soweit  er  nicht  etwa  auf  der  höheren  Stufe  Geisteswissenschaft  zu  lehren  hat). 
Er  braucht  auch  keinen  Einblick  in  die  psychologischen  Grundlagen  der 
Methoden,  nach  denen  er  verfährt;  wenn  er  diese  aus  einer  bewährten  Über- 
lieferung übernimmt  und  verständig  anwendet,  wenn  er  ausreichende  Kenntnisse 
seines  Gegenstandes  damit  verbindet,  so  genügt  das,  um  eine  brauchbare 
Lehrkraft,  einen  tüchtigen  Lehrbeamten  aus  ihm  zu  machen.  Verlangt  man 
freilich,  daß  der  Lehrer  zugleich  ein  denkender  Erzieher  sei,  soll  seine  Tätig- 
keit aus  einer  persönlichen  Gesamtkultur  erwachsen  und  über  die  Einprägung 
vorgeschriebenen  Wissens  hinaus  sich  auf  die  Persönlichkeit  seiner  Schüler 
erstrecken,  soll  er  mit  selbständigem  Urteil  an  der  Entwicklung  des  Bildungs- 
und Erziehungswesens  mitarbeiten,  so  wird  man  ein  tieferes  und  umfassen- 
deres Verständnis  zu  den  Bedingungen  solcher  Wirksamkeit  rechnen  müssen. 
Er  muß  dann  in  die  richtunggebenden  Probleme  der  Erziehung  überhaupt 
einen  Einblick  gewinnen.  Er  muß  die  Organisation  des  gesamten  nationalen 
Bildungswesens  in  ihrem  Zusammenhang  überblicken  und  die  treibenden 
Kräfte  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung  kennen.  Er  muß  endlich  das  leben- 
dige psychische  Gebilde  und  seine  wirkenden  Gesetze  in  seinen  Schülern 
erblicken  und  achten  lernen,  sie  nicht  nur  als  Köpfe  betrachten,  deren  leere 
Räume  er  zu  füllen  hat.  Diese  Bedürfnisse  sind  im  allgemeinen  auch  von 
der  Schulverwaltung  anerkannt;  in  Preußen  ist  seit  langem  den  Lehrerbildungs- 
anstalten, und  nach  der  im  vorigen  Jahre  erschienenen  Neuordnung  des  Aus- 
bildungswesens auch  den  Gymnasialseminaren,  die  Aufgabe  zugewiesen,  unter 
den  angedeuteten  Gesichtspunkten  die  praktische  Ausbildung  durch  die  theo- 
retische zu  ergänzen.    Wenn  das  in  echt  wissenschaftlichem  Geiste  geschieht. 


GataohMiche   Äußerungen,  Erste  Reihe.     S.  Lehmann  221 

wenn  auch  in  den  Gymnasialseminaren  der  genügende  Nachdruck  auf  diese 
Seite  der  Vorbildung  gelegt  wird,  so  werden  diese  letzteren,  wie  es  schon  jetzt 
wenigstens  im  Prinzip  die  Lehrerbildungsanstalten  anstreben,  die  erforder- 
liche Vermittlung  zwischen  Theorie  und  Praxis  schaffen,  und  man  braucht 
die  Universitäten  ebenso  wenig  für  die  durchschnittliche  pädagogische  Aus- 
bildung der  künftigen  Studienräte  in  Anspruch  zu  nehmen,  wie  für  die  der 
Volksschullehrer,  wenn  es  auch  wünschenswert  ist,  daß  einige  Vorlesungen 
allgemeinen  Charakters  schon  dem  Studenten  eine  Übersicht  über  das  ge- 
samte Gebiet  verschaffen. 

Die  grundlegende  Bedingung  nun  aber  für  die  geforderte  Wirksamkeit  der 
Seminare  ist,  daß  die  Schulverv/altung  über  die  erforderliche  Anzahl  von 
Direktoren  und  sonstigen  Lehrkräften  verfügt,  die  imstande  sind,  in  einem 
wissenschaftlichen  Geiste  und  aus  einer  gründlichen  theoretischen  Einsicht 
heraus  pädagogische  Bildung  zu  vermitteln.  Das  ist  heute  in  den  Lehrer- 
bildungsanstalten nur  teilweise,  in  den  Gymnasialseminaren  noch  viel  seltener 
der  Fall.  Mit  dieser  Feststellung  soll  gegen  die  Seminarleiter  und  -lehrer 
nicht  im  geringsten  ein  Vorwurf  erhoben  werden ;  es  bemüht  sich  gewiß  ein 
jeder  nach  dem  Maße  seines  Wissens  und  Könnens,  seine  Aufgabe  zu  erfüllen; 
aber  wo  die  nötige  Vorbildung  fehlt,  da  genügt  der  gute  Wille  allein  nicht, 
zumal  bei  Männern,  die  mit  Amtsgeschäften  anderer  Art  überhäuft  sind. 
Diese  Vorbildung  aber  kann  nur  auf  der  Universität  erworben  werden,  und 
hier  ist  das  praktische  Bedürfnis  begründet,  das  die  Errichtung  von  päda- 
gogischen Lehrstühlen  und  Einrichtungen  erforderlich  macht.  Was  die  Universität 
für  die  Vorbildung  von  Seminarleitern  und  -lehrern  der  Pädagogik  zu  tun 
hat,  steht  durchaus  in  einer  Reihe  mit  dem,  was  sie  für  die  Vorbildung- 
wissenschaftlicher  Lehrer  überhaupt  tut:  sie  soll  ihnen  die  Grundlage  geben, 
aus  der  späterhin  ihrem  Unterricht  ein  wissenschaftlicher  Geist  erwächst. 

Auf  diesen  Zusammenhang  weist  die  preußische  Neuordnung  hin,  indem 
sie  die  Pädagogik  als  „Zusatzfach"  in  die  wissenschaftliche  Prüfung  einführt. 
Damit  ist  ein  Weg  gewiesen,  der  sehr  wohl  zur  Hebung  des  gerügten  Mangels 
zu  führen  vermag.  Wenn  die  Schulverwaltung  bei  der  Ernennung  von  Direktoren 
solche  Schulmänner  bevorzugt,  die  sich  die  Lehrbefähigung  für  das  Zusatz- 
fach erworben  haben,  wenn  sie  Oberlehrern,  die  sie  für  Direktorenstellen  und 
Seminarleitungen  ins  Auge  faßt,  durch  Urlaube  oder  Stundenverminderung 
die  Möglichkeit  gibt,  das  Zusatzfach  nachzuholen,  so  wird  sie  bald  in  der  Lage 
sein,  über  eine  genügende  Anzahl  wissenschaftlich  gebildeter  Kräfte  zu  ver- 
fügen, und  auch  für  die  Zukunft  wird  diese  Einrichtung  ein  Sporn  sein,  der 
ständig  eine  Anzahl  von  Studenten  zu  wissenschaftlichem  Studium  der  Päda- 
gogik treibt. 

Ein  solches  Studium  aber  ist  nur  möglich,  wenn  an  den  Universitäten  die 
geeigneten  Einrichtungen  geschaffen  werden.  Mit  Lehraufträgen  im  Neben- 
amt und  ein  paar  allgemeinen  Vorlesungen  ist  es  nicht  mehr  getan.  Nach 
dem  Grundsatz,  den  unser  gesamtes  Universitätsleben  beherrscht,  brauchen 
wir  akademische  Lehrer,  deren  eigenstes  Forschungs-  und  Wissensgebiet  die 
Pädagogik  ist  und  die  ihre  Hörer  und  Schüler  zu  selbständig  eindringender 
Arbeit  anzuleiten  vermögen.  Solche  Männer  dürfen  dann  aber  auch  eine 
Stellung  für  ihre  Wissenschaft  fordern,  die  ihrer  Bedeutung  entspricht:  die 
MögHchkeit,  zum  Ordinariat  zu  gelangen  für  die  Dozenten,  das  Recht  zu  promo- 
vieren für  ihre  Schüler. 


222       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

Man  hört  nicht  selten  den  Einwurf,  daß  es  an  geeigneten  Vertretern  der 
Pädagogik,  besonders  in  der  geisteswissenschafthchen  Richtung  fehle  und  man 
daher  pädagogische  Lehrstühle  nicht  würde  besetzen  können.  Aber  es  ist  ja 
auch  keineswegs  nötig,  daß  an  allen  Universitäten  mit  einem  Schlage  Pro- 
fessuren oder  gar  Ordinariate  errichtet  werden.  Wenn  wir  auch  nur  an  drei 
oder  vier  Universitäten  solche  Lehrstühle  hätten,  so  wäre  zunächst  einmal 
dem  dringendsten  Bedürfnis  Genüge  geschehen,  und  die  Auslese  einer  solchen 
Anzahl  läßt  sich  ohne  Schwierigkeiten  treffen.  Nur  darf  man  sich  dabei  nicht 
ausschließlich,  vielleicht  nicht  einmal  hauptsächlich  an  die  Kreise  junger 
Akademiker  und  Privatdozenten  halten.  Denn  solange  es  keine  pädagogischen 
Lehrstühle  gibt,  kann  es  auch  keinen  akademischen  Nachwuchs  in  diesem 
Fach  geben,  und,  wenn  man  auf  einen  solchen  warten  will,  kommt  man  aus 
dem  Zirkel  nicht  heraus.  Man  muß  vielmehr  geeignete  Oberlehrer  heran- 
ziehen: eine  solche  Erweiterung  des  Kreises  liegt  wahrlich  nahe  genug  und 
ist  auch  im  sachlichen  Interesse  des  Lehrbetriebes.  Wir  brauchen  Ordinariate, 
damit  die  Möglichkeit  gegeben  wird,  einen  Nachwuchs  zu  schaffen,  mit  dem 
man  dann  eine  größere  Anzahl  von  Lehrstühlen  besetzen  kann.  Diese  mögen 
zunächst  außerordenthche  Professuren  sein,  das  weitere  Endziel  bleibt  frei- 
lich die  durchgehende  Begründung  von  Ordinariaten.  Es  kann  nur  allmählich 
gelingen,  der  pädagogischen  Wissenschaf  t  diejenige  Stellung  an  den  Univei-sitäten 
zu  schaffen,  die  ihr  ihrem  theoretischen  Rang  nach  gebührt  und  zugleich  dem 
Bedürfnis  unseres  Bildungswesens  entspricht,  aber  es  ist  an  der  Zeit,  nunmehr 
einen  entschiedenen  Anfang  mit  dieser  notwendigen  Entwicklung  zu  machen. 


4.  Thesen  betreffend  die  Pflege  der  Erziehungswissenschaft  an  der 

Universität. 

Von  Paul  Natorp. 

1.  Die  Aufgabe  der  Menschenbildung  oder  Erziehung  erstreckt  sich  an  sich 
unterschiedslos  auf  alle  Seiten  des  Menschentums:  sie  umfaßt  gleichermaßen 
das  theoretische,  praktische,  ästhetische  und  religiöse  Bewußtsein,  in  seiner 
vollen  Aktualität  ebenso  wie  im  zeitlichen  Rück-  und  Vorausblick,  zuletzt  in 
der  überzeitlichen  Einheit  seiner  Gesetzesgrundlage.  Daher  sind  an  der  wissen- 
schaftlichen Grundlegung  zum  Gesamtwerke  der  menschlichen  Erziehung  — 
der  theoretischen  Pädagogik  —  alle  Wissenschaften,  die  irgendeine  Seite 
des  Menschenwesens  berühren,  das  heißt  alle,  vor  allen  aber  die  Wissen- 
schaften beteiligt,  welche  gegenüber  der  Mannigfaltigkeit  der  Richtungen 
und  Dimensionen  die  unteilbare  Einheit  des  menschlichen  Wesens  zu  ver- 
treten haben:  Philosophie  als  universale,  analytische  Prinzipienlehre, 
Psychologie  als  nicht  minder  universale,  synthetische  Darstellung  des  Be- 
wußtseinsgehalts in  der  Totahtät  wie  inneren  Ungeteiltheit  (Individuität)  des 
Erlebens.  Jede  Sonderwissenschaft  liefert  von  ihrer  Seite  eine  Stütze  für  die 
universale,  theoretische  Grundlegung  zur  Erziehung ;  Philosophie  und  Psycho- 
logie beziehen  sich  als  ganze  auf  ihr  Ganzes.  Das  menschliche  Wesen  er- 
kennen will  man  zuletzt,  um  es  in  beständiger  Selbsterhöhung  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht  zu  überhefern,  d.  h.  um  der  Menschenbildung,  um  der  Erziehung 
willen. 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.    4.  Natorp  223 


2.  Indessen  ist  keine  der  genannten  Wissenschaften  an  sich  Erziehungs- 
wissenschaft. Jeder  von  ihnen  ist  ihre  Aufgabe  aus  rein  sachlichen  Gesichts- 
punkten gestellt,  zunächst  ohne  Rücksicht  auf  ihren  Anteil  am  Erziehungswerk. 
Um  sie  für  dieses  auch  nur  im  theoretischen  Sinne  fruchtbar  zu  machen, 
bedarf  es  noch  einer  besonderen,  auf  die  Praxis  der  Erziehungsarbeit  als  solche 
gerichteten,  gleichwohl  selbst  theoretischen  Erwägung.  Diese  hat  die  Regeln 
aufzustellen  für  die  Zurückbeziehung  der  rein  sachlichen,  gesetzlich  allgemeinen 
Feststellungen  der  je  auf  ihren  Gegenstand  gerichteten  Wissenschaften  auf 
die  bestimmt  gegebenen  Bedingungen,  die  zu  Gebote  stehenden  Kräfte,  Ge- 
legenheiten und  Hilfen  jeder  Art,  mithin  (da  diese  nicht  von  selbst  bereit- 
stehen, sondern  planmäßig  immer  neu  bereitzustellen  sind)  auf  die  bestimmten, 
vorhandenen  oder  zu  fordernden  Organisationen  vielseitig  ineinandergreifender, 
bildender  Tätigkeit  zuletzt  Einzelner  an  Einzelnen  in  singulär  bestimmter  Lage. 
FolgHch  bedarf  es,  gegenüber  allem,  was  die  reinen  Sachwissenschaften  zur 
Grundlegung  der  Erziehung  im  bloß  theoretischen  Sinne  beitragen,  noch  einer 
eigenen,  technisch  gerichteten  Bildungs-  und  Erziehungslehre :  Pädagogik  im 
engeren  Sinne,  praktische  Pädagogik.  Diese  darf  auf  den  vollen  Rang^ 
einer  Wissenschaft  Anspruch  erheben,  nicht  bloß  sofern  sie  auf  Wissenschaft 
und  zwar,  der  Idee  nach,  auf  der  Gesamtheit  der  Wissenschaften  fußt,  son- 
dern auch,  sofern  das  Technische  der  erziehenden  Tätigkeit  selbst  einer  weit- 
ausblickenden, vielseitigen  theoretischen  Überlegung,  im  gleichen  Sinne  wie 
jede  andere  Technik  und,  ihrer  allumfassenden  Bedeutung  wegen,  mehr  als 
jede  andere,  bedarf. 

3.  Die  gesamte  wissenschaftliche  Grundlegung  zur  Technik  und  Praxis  der 
Erziehung  findet  ihre  natürliche  Stätte  an  der  Universität.  Erstens,  als 
wissenschaftliche  Grundlegung  ist  sie  auf  die  Mitarbeit  nicht  bloß  der  oder 
jener,  sondern  aller  Wissenschaften  angewiesen,  deren  Gesamtheit  nur  an  der 
Universität  zulänglich  verbeten  ist.  Zweitens,  als  Grundlegung  zur  Praxis  der 
Erziehung  gehört  sie  zur  Berufsausbildung  aller  derer,  die  am  Werke  der  Er- 
ziehung in  irgendwie  selbstverantwortlicher  Stellung  beteiligt  sind.  Für  diese 
Berufsausbildung  aber,  also  vor  allem  die  der  Lehrer  jeder  Kategorie,  vom 
Volksschullehrer  bis  zum  Hochschullehrer,  ist,  da  sie  auf  Wissenschaft  fußen 
muß,  die  Universität  verpflichtet. 

4.  An  der  theoretischen  Grundlegung  der  Erziehung  sind  (nach  These  1) 
in  genau  berechnetem  Zusammenwirken  zu  beteiligen:  die  Philosophie,  die 
Psychologie  und  die  Einzelwissenschaften;  die  beiden  ersteren,  um  für  das 
Gesamtwerk  der  Erziehung  die  ihm  wesentliche  Einheit  der  Grundlage  sicher- 
zustellen und  jede  einzelne  ihrer  Leistungen  auf  ihr  hohes  einheitliches  Ziel 
genau  gerichtet  zu  halten;  die  Einzelwissenschaften,  damit  auch  den  Sach- 
forderungen jedes  Sonderfachs  in  einer  den  Erfordernissen  der  Wissenschaft 
voll  genügenden  Weise  entsprochen  wird.  In  welcher  Art  und  Umfassung 
und  mit  welchem  Erfolg  dies  geschehen  kann,  dafür  hat  die  von  Felix  Klein 
organisierte  Zusammenarbeit  der  Mathematiker  zur  methodischen  Bearbeitung 
des  mathematischen  Unterrichts  ein  Beispiel  aufgestellt,  hinter  dem  die  üb- 
rigen Fächer  des  Unterrichts,  und  zwar  alles  Unterrichts  von  der  Volksschule 
bis  zur  Universität,  nicht  zurückbleiben  dürfen. 

5.  Es  mag  auf  den  ersten  Blick  scheinen,  als  ob  nicht  ebenso  unmittelbar 
die  praktische  Seite  der  Erziehungslehre  der  Universität  nahe  liegen  müsse. 
Dennoch  sieht  auch  sie  sich,  im  gleichen  Interesse  beider,  auf  die  Universität 


224       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

* 

zwingenii  hingewiesen.     Selbst  Wissenschaft  (s.  These  2),   tritt  sie  in  nicht 

bloß  äußerer  Nebenordnung  den  reinen  Sachwissenschaften  zur  Seite,  sondern 
durchdringt  sie  alle  und  gibt  ihnen  die  gemeinsame  neue  Wendung  auf  den 
für  sie  keineswegs  äußerlichen,  sondern  mit  ihnen  selbst  notwendig  gesetzten 
Zweck  der  menschlichen  Bildung.  Diese  neue  Zweckbeziehung  aber  fordert 
im  Organismus  des  Bildungswesens  eine  eigene,  besonders  geartete  Vertretung, 
an  der  es  bis  dahin  fehlt.  Diese  wäre  nicht  gegeben  durch  eine  eigene 
Professur  für  praktische  Pädagogik  an  der  Universität,  oder  selbst  durch  eine 
den  übrigen  nebengeordnete  neue,  pädagogische  Fakultät.  Erforderlich  ist 
vielmehr  eine  besondere,  in  gewissem  Maße  selbständige,  weder  der  Organisation 
der  Universität  noch  denen  der  praktischen  Erziehung  schlechthin  eingefügte, 
sondern  gewissermaßen  zwischen  beiden  stehende  Institution.  Diese  muß 
einerseits  mit  der  Universität  in  einer  solchen  Verbindung  stehen,  daß  sie 
ihrer  vollen  Mitarbeit  sicher  sein  darf,  andererseits  aber  mit  der  praktischen 
Erziehungsarbeit  jeder  Art  und  Richtung  in  lebendiger,  wechselseitig  befruch- 
tender Berührung  bleiben.  Das  Zentrum  dieser  Institution  würde  ein  Seminar 
mit  Arbeitsräumen  und  Bibliothek  bilden,  als  Mittelpunkt  ebensowohl  für  alle 
auf  die  Praxis  der  Erziehung  zielenden  wissenschaftlichen  Untersuchungen, 
wie  für  deren  Befruchtung  mit  dem  Anregungen  der  Praxis  und  wiederum 
Rückwirkung  auf  diese. 

6.  Die  Organisation  des  gedachten,  etwa  als  Pädagogische  Akademie  zu 
bezeichnenden  Instituts  würde  in  der  Hand  eines  Ausschusses  liegen,  an 
welchem  Theoretiker  und  Praktiker  gleichmäßig  beteiligt  sein  müßten.  Die 
Oberleitung  aber  würde  einem  eigenen  Vertreter  der  praktischen  Pädagogik 
als  ganzer  zufallen,  der  der  Universität  gegenüber  unabhängig  sein  müßte, 
wenn  auch  etwa  zugleich  als  Honorarprofessor  ihr  angehören  dürfte.  Er 
müßte  mit  der  Praxis  durch  eigene  reiche  Erfahrung  vertraut  sein,  zugleich  aber 
in  vollgewichtigen  Leistungen  pädagogischer  Theorie  wissenschaftliche  Schulung 
und  Schöpferkraft  bewiesen  haben. 

7.  Als  nächstliegende,  dringlichste  Aufgabe  würde  der  gedachten  pädago- 
gischen Akademie  die  praktisch-pädagogische  Ausbildung  der  Schullehrer 
jeder  Stufe  und  jedes  Fachs  obliegen.  Diese  müßte  außerhalb  des  Rahmens 
der  rein  fachlichen  Ausbildung  stehen,  die  besonders  für  die  künftigen  Lehrer 
höherer  Schulen  durchaus  keine  Abkürzung  verträgt.  Sie  müßte  daher  jeden- 
falls für  diese  erst  nach  abgelegter  Fachprüfung  einsetzen  (würde  also  in 
Preußen  an  die  Stelle  des  jetzigen  Seminar-  und  Probejahrs  treten).  Allen- 
falls würde  eine  vorläufige  Einführung  in  die  Unterrichtspraxis  in  mehr  nur 
rezeptiver  Beteiligung  zulässig  sein.  Die  volle  aktive  Teilnahme  an  der  Schul- 
arbeit fordert  den  Einsatz  der  ganzen  Kraft  und  kann  nicht  bloß  wie  auf 
Probe  nebenher  abgemacht  werden.  Aufgabe  der  pädagogischen  Akademie 
würde  es  weiter  sein,  alle  historischen  und  aktuellen  wie  auch  ferneren  Zukunfts- 
fragen der  Schulpädagogik  und  Schulpolitik  fest  im  Auge  zu  behalten,  die 
nötigen  und  möglichen  Reformen  theoretisch  vorzubereiten  und,  soviel  an  ihr 
liegt,  praktisch  anzubahnen. 

8.  Zu  ihrem  Arbeitsfelde  gehören'aber  ebensosehr  die  weitverzweigten  Auf- 
gaben der  nationalen  Erziehung,  die  außerhalb  des  Rahmens  der  Schule  fallen : 
die  Aufgaben  der  häuslichen  Erziehung  und,  wo  diese  zerstört  oder  verkümmert 
ist,  des  tunlichen  Ersatzes  für  sie:  Kinderpflege,  Kindergarten,  Kinderhort, 
Jugendfürsorge,    körperliche  Ausbildung    und   Gesunderhaltung  der  Jugend, 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.     5.  Stern  226 


Fortbildung  der  Schulentlassenen,  freie,  nichtschulinäßige  Bildungspflege  der 
Erwachsenen,  jeder  Art  und  Richtung;  die  erziehenden  Kräfte  der  einzelnen 
Berufe,  die  besonderen  erziehlichen  Forderungen  und  erziehlichen  Werte  des 
Handwerks,  der  Fabrik,  des  Handels  usw.,  des  Heeresdienstes,  der  kirchlichen 
wie  außerkirchlichen  religiösen  Ordnungen,  der  freien  Vereine  und  Verbände 
überhaupt  jeder  Art  und  Sonderheit,  unter  diesen  besonders  der  Jugendver- 
bände; die  bildende  Wirkung  der  Tagespresse,  der  Presse  überhaupt,  daher 
Buchvertrieb  und  Bücherei  hinsichtlich  ihres  bildenden  Einflusses;  Heimat- 
pflege, Wohnungswesen,  Festfeier,  künstlerische  Lebensgestaltung  aller  Art, 
volkstümliche  Kunst-  und  Musikpflege,  Theater,  Kino.  Die  systematisch  theo- 
retische Bearbeitung  und  praktische  Förderung  dieses  weiten  Komplexes 
„sozialpädagogischer"  Aufgaben  erfordert  gleichermaßen  Weite  des  Um- 
blicks,  Vertrautheit  mit  den  Gesellschaftswissenschaften  (Wirtschafts-,  Rechts- 
und Staatslehre)  wie  organisatorische  Befähigung,  sicheren  Blick  für  das 
zunächst  Dringliche  und  Erreichbare,  Takt  in  der  praktischen  Behandlung  der 
Dinge  und  Menschen ;  Eigenschaften,  die  sich  gewiß  nicht  leicht  in  einer  Person 
vereint  finden,  aber  am  ehesten  dann  sich  herausbilden  würden,  wenn  das 
Ganze  dieser  Aufgaben  nicht  nur  Einzelnen  und  vereinzelt  Bleibenden  obläge, 
sondern  einer  vielseitigen  Zusammenarbeit  von  Theoretikern  und  Praktikern, 
wie  sie  in  gedachter  Akademie  organisiert  wäre,  unterstände. 

9.  Ist  es  für  jetzt  nicht  zu  erreichen,  daß  die  so  gedachte  pädagogische 
Akademie  von  selten  des  Staats  ins  Leben  gerufen  wird,  so  bleibt  möglich 
und  ist  es  um  so  dringlicher,  daß  einstweilen  die  Universitäten  von  sich  aus 
mit  den  für  sie  erreichbaren  Praktikern  zu  freien  Vereinigungen  zusammen- 
treten, um  von  den  genannten  Aufgaben  wenigstens  die,  welche  unter  den 
gegebenen  Bedingungen  für  sie  lösbar  sind,  auf  sich  zu  nehmen.  Uneinge- 
Bchränkt  gilt  dies  für  den  rein  theoretischen  Unterbau  der  Pädagogik ;  bedingt 
aber  auch  für  die  gesamte  Lehrerbildung  wie  auch  für  die  praktische  Förderung 
mancher  einzelnen  Zweige  der  sozialen  Erziehung  besonders  in  den  (ja  meist 
mit  Universitäten  versehenen)  Großstädten.  Eine  gemeinsame,  große,  gesamt- 
deutsche Organisation  müßte  diese  „pädagogischen  Universitätsaus- 
schüsse"  vereinigen  und  sich  mit  allen  schon  bestehenden  und  neu  ins 
Leben  tretenden  Verbänden  verwandter  Absicht  (zunächst  dem  Deutschen 
Ausschuß  für  Erziehung  und  Unterricht)  in  Verbindung  setzen,  um  gemeinsam 
mit  diesen  auf  die  volle  Durchführung  des  Planes  der  pädagogischen  Akademie 
hinzuwirken. 

Anmerkung:  Die  nächste  bei  gegebener  Lage  erreichbare  Vorstufe  wäre  die  Verallgemeinerung 
des  an  der  Universität  Halle  eingeschlagenen  Weges:  Zusammenwirken  von  Universitätslehrern 
(der  Philosophie  und  Psychologie  wie  der  wesentlich  in  Betracht  kommenden  Einzelwissenscbaften) 
mit  Schulmännern,  unter  Leitung  je  eines  hervorragenden,  zugleich  wissenschaftlich  erprobten 
Praktikers,  zunächst  zur  praktisch-pädagogischen  Ausbildung  der  künftigen  Oberlehrer.  Nähere 
Ausführung  darüber  darf  ich  unterlassen,  weil  sie  von  anderer  Seite  erwartet  werden  darf. 

5.  Pädagogik  als  Universitätsfach. 

Von  William  Stern. 

Die  philosophischen  Fakultäten  der  Universitäten  nehmen  in  der  Gesamt- 
heit unserer  Hochschuleinrichtungen  eine  geradezu  einzigartige  Stellung  ein. 
Alle  anderen  Veranstaltungen:  die  übrigen  Universitätsfakultäten,  die  Ab- 
teilungen der  technischen  Hochschulen,   die  Fachhochschulen  verschiedener 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  16 


226       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

Art  haben  die  Aufgabe,  die  Vorbildung  für  bestimmte  höhere  Berufe  auf 
wissenschaftlicher  Grundlage  zu  geben  —  die  philosophische  Fakultät  ist 
ihrer  Idee  nach  der  reinen  Wissenschafts-Pflege  und  -Übermittelung  um  ihrer 
selbst  willen  gewidmet.  Das  ist  ihre  Größe,  von  der  ihr  nicht  ein  Deut  ge- 
raubt werden  darf,  es  ist  aber  zugleich  ihre  Schwäche,  die  beseitigt  werden 
muß.  Denn  Berufsvorbildung  ist  auch  für  die  Hörer  der  philosophischen 
Fakultät  nicht  bloß  eine  banausische,  unter  dem  Gesichtspunkt  des  künftigen 
Erwerbs  stehende  Angelegenheit;  sie  bedeutet  die  Wahrung  der  geistigen 
Volkskraft  und  der  wertvollen  Bildungsgüter,  und  damit  die  Förderung  der 
Volkszukunft  auf  dem  Kulturgebiet  der  Erziehung;  sie  soll  den  einzelnen 
für  die  Lebensaufgabe  tüchtig  machen,  zu  der  er  innerlich  „berufen"  ist 
und  ihn  nicht  nur  in  die  Gnosis,  sondern  auch  in  das  Ethos  dieser  seiner 
künftigen  Bestimmung  hineinführen. 

Daher  darf  die  Arbeit  der  philosophischen  Fakultäten  nicht  weiterhin  unter 
der  Fiktion  stehn,  als  ob  sie  lauter  künftige  Privatdozenten  heranzubilden 
haben.  Natürlich  soll  die  Gründlichkeit  der  Fachausbildung  und  die  Ein- 
führung in  echt  wissenschaftliche  Betrachtungsweise  der  philologischen  und 
mathematisch-naturwissenschaftlichen  Sachgebiete  in  keiner  Weise  verkürzt 
werden;  aber  sie  muß  eine  Ergänzung  durch  den  pädagogischen  Gesichts- 
punkt erfahren.  Die  beinahe  ängstliche  Scheu,  mit  welcher  die  meisten 
Vorlesungen  und  Übungen  der  philosophischen  Fakultät  die  Beziehung  auf 
die  spätere  Verwertung  des  behandelten  Stoffes  in  der  Jugendbildung  ver- 
meiden oder  mit  Bewußtsein  ausschalten,  hat  nirgends  in  der  Vorbereitung 
zu  höheren  Berufen  ihresgleichen.  Und  so  kommt  es,  daß  kein  Berufs- 
anwärter ahnungsloser  in  die  Praxis  seiner  Tätigkeit  hereintritt  als  der  junge 
Oberlehrer.  Er  hat  auf  der  Universität  wohl  die  Begeisterung  für  sein  Fach, 
nicht  aber  die  Liebe  für  seinen  Erziehungsberuf  erhalten ;  ja  er  bringt  leicht 
eine  gewisse  Geringschätzung  für  die  bloß  schulmäßige,  elementare  Behand- 
lung seines  Gebietes  mit,  das  er  bisher  lediglich  von  der  hohen  Warte 
wissenschafthcher  Forschung  aus  betrachtet  hat.  Er  hat  nicht  gelernt,  das 
Kulturgebiet  der  Erziehung  in  seiner  Gesamtheit  zu  überschauen  und  in 
seiner  philosophischen  und  sozialen  Bedeutung  zu  würdigen,  in  seiner  Be- 
deutung, die  es  «dem  Kulturgebiet  der  reinen  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
gleichwertig  an  die  Seite  stellt.  Er  hat  in  den  drei  bis  vier  Studienjahren 
kaum  je  Gelegenheit  gehabt,  sich  zu  vergewissern,  ob  er  überhaupt  für  den 
Beruf,  den  er  sich  gewählt,  Neigung  und  Eignung  mitbringt  —  Vorbe- 
dingungen, ohne  die  er  zu  jahrzehntelangem  freudlosen  Berufsbetrieb  ge- 
nötigt ist;  denn  die  Leistungsfähigkeit  in  Mathematik  oder  Philologie  besagt 
nichts  über  seine  erzieherischen  und  unterrichtlichen  Gaben.  Er  hat  die 
sachlichen  Inhalte,  die  er  als  Lehrgegenstände  zu  übermitteln  hat,  aufs 
gründlichste  kennen  gelernt,  steht  aber  um  so  unerfahrener  den  persön- 
lichen Bedingungen  seines  Wirkens,  dem  Wesen  der  Kindheit  und  Jugend, 
gegenüber. 

Daß  hier  ein  Wandel  nötig  ist,  wird  schon  seit  Jahren  von  Schulmännern 
und  Hochschullehrern,  von  pädagogischen  Vereinen  und  Kongressen  betont; 
aber  fast  noch  wichtiger  erscheint  mir,  daß  sich  das  Bedürfnis  nach  der 
fehlenden  pädagogischen  Einstellung  und  Ausbildung  in  der  Studenten- 
schaft selbst  mächtig  regt.  In  den  letzten  Jahren  vor  dem  Kriege  gab  es 
die  unerwartete  Erscheinung,  daß  sich  an  vielen  Orten  „pädagogische  Gruppen 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.    5.  Stern  227 

der  Studentenschaft"  auftaten,  die  sich  neben  dem  Fachstudium  eifrig  mit 
Fragen  des  Schulwesens  und  der  Schulorganisation,  der  Erziehungsreform, 
der  sozialen  Jugendpflege  usw.  beschäftigten.  Es  waren  Akte  der  Selbst- 
hilfe, da  eben  die  offiziellen  Bildungsstätten  diesem  ihrem  Bestreben  gegen- 
über stumm  blieben;  und  nur  die  private  Teilnahme  einzelner  Hochschul- 
lehrer konnte  hier  und  da  diesen  starken  und  ursprünglichen  Interessen 
beratend  und  fördernd  zur  Seite  stehen.  Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß 
nach  dem  Krieg  unsere  studentische  Jugend  in  noch  höherem  Maße  die 
Größe  und  Schwere  der  Erziehungs-  und  Volksleitungsaufgabe  empfinden 
wird,  zu  der  sie  sich  vorbereitet;  es  wäre  schmerzlich,  wenn  die  Univer- 
sitäten solchen  Bedürfnissen  und  Bestrebungen  nicht  gerecht  würden. 

Wie  läßt  sich  nun  diese  Forderung  mit  dem  alten  historischÄi  Wesen  der 
phflosophischen  Fakultät,  an  dem  wahrlich  nicht  gerüttelt  werden  soll,  ver- 
einigen? Dies  Wesen  besteht  in  der  Pflege  wissenschaftlicher  Lehre 
und  Forschung;  als  Wissenschaft  ist  daher  auch  die  Pädagogik  in  ihren 
Rahmen  aufzunehmen.  Es  kann  sich  also  nicht  darum  handeln,  den  künf- 
tigen Oberlehrer  in  die  Erziehungs-  und  Unterrichts praxis  unmittelbar  durch 
praktische  Arbeit  einzuführen ;  Übungsschulen,  ja  selbst  nur  allzu  eingehende 
Behandlung  der  Didaktik  der  einzelnen  Lehrfächer,  scheinen  mir  nicht  auf  die 
Universität  zu  gehören,  dafür  sind  ja  die  beiden  auf  das  Staatsexamen 
folgenden  Ausbildungsjahre  bestimmt.  Wohl  aber  müßte  „die  ganze  Theorie 
der  Praxis"  —  wie  es  Spranger  einmal  treffend  ausdrückt  —  auf  der  Uni- 
versität ihren  Platz  finden. 

Wenn  von  Gegnern  dieses  Gedankens  geltend  gemacht  wird,  daß  die 
Pädagogik  noch  nicht  den  Charakter  einer  ernsthaften  Wissenschaft  ge- 
wonnen habe,  so  ist  zweierlei  zu  erwidern.  —  Erstens:  man  hat  ihr  dies  ja 
eben  dadurch  so  schwer  gemacht,  daß  man  die  Stelle,  wo  eine  solche 
methodische  Ausgestaltung  zur  Wissenschaft  möglich  gewesen  wäre,  nämlich 
die  Universität,  verschloß,  und  hat  dadurch  ihre  Bearbeitung  zum  Teil 
eifrigen  und  wohlmeinenden,  aber  kritisch  ungeschulten  Kräften  preisgegeben. 
Zweitens:  wenn  Pädagogik  auch  noch  keine  fertige  Wissenschaft  ist,  so  ist 
doch  ihre  wissenschaftliche  Aufgabe  und  Problemstellung  oder  vielmehr  dag 
ganze  wissenschaftliche  System  dieser  Problemstellungen  bereits  deutlich  zu 
erkennen;  jetzt  gilt  es  zu  deren  Bearbeitung  die  schon  in  der  Entwicklung 
begriffenen  Forschungsmethoden  pädagogischer  Erkenntnis  auszubilden  und 
anzuwenden;  hierzu  aber  bedarf  es  der  wissenschaftlichen  Persönlichkeiten 
und  wissenschaftlichen  Lehr-  und  Forschungsstellen. 

Es  ist  an  dieser  Stelle  vielleicht  nicht  unnötig,  zu  betonen,  was  die  Uni- 
versitätspädagogik nicht  sein  soll.  Man  darf  sie  nicht  in  den  engen  Rahmen 
der  sogenannten  „Gymnasialpädagogik"  (genauer  „Pädagogik  des  höheren 
Schulwesens")  spannen  wollen,  sondern  muß  sie  alsLehre  vom  gesamten 
Erziehungs-  und  Bildungsleben  unseres  Volkes  als  einer  einheit- 
lichen, wenn  auch  in  sich  mannigfach  differenzierten  Kulturtatsache  aufr 
fassen.  Dies  ist  zunächst  deshalb  nötig,  weil  auch  der  Oberlehrer  die  Be- 
deutung und  Aufgabe  seiner  speziellen  Schulgattung  und  seiner  Sonderfächer 
nur  würdigen  kann,  wenn  er  ihre  Stellung  im  System  des  nationalen  Bil- 
dungswesens überhaupt,  vor  allem  auch  im  Verhältnis  zu  Volksschule,  Fort- 
bildungsschule, Jugendpflege  usw.  kennt.  Sodann  aber  ist  ja  die  Pädagogik- 
professur   nicht  ausschließlich    der  Oberlehrerfortbildung    gewidmet;    sie    ist 

16» 


228       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

der  Mittelpunkt  wissenschaftlichen  Pädagogikbetriebes  überhaupt;  sie  ist  auch 
mit  bestimmt  für  den  Volksschullehrer,  der  wissenschaftliche  Fortbildung  an- 
strebt und  solche  an  Universitäten,  sei  es  als  Hospitant,  an  einigen  auch 
schon  als  Student  der  Pädagogik,  erlangen  kann;  sie  soll  auch  die  Schul- 
verwaltungsbeamten  heranbilden  helfen,  deren  künftige  Arbeit  vornehmlich 
der  Volksschule  gilt;  sie  soll  schließlich  das  Interesse  für  die  Pädagogik  auch 
in  den  Angehörigen  anderer  Fakultäten  wecken,  die  als  Schulärzte,  als 
Jugend-  und  Vormundschaftsrichter,  als  Verwaltungsbeamte,  als  Geistliche  usw. 
mit  Volkserziehung  zu  tun  haben. 

Es  ist  eines  der  Hauptverdienste  der  vorjährigen  Ministerialkonferenz,  das 
wissenschaftliche  „Heimatrecht  der  Pädagogik  an  den  Univer- 
sitäten", '^^ie  es  der  preußische  Kultusminister  ausdrückte,  erwiesen  zu 
haben.  Aber  die  Thesen  der  beiden  Hauptreferenten,  Troellsch  und  Ziehen, 
bedürfen  doch  einer  Ergänzung,  damit  die  Beziehung  der  Pädagogik  zu  den 
Wissenschaftsgebieten  nicht  einseitig  aufgefaßt  werde.  Beide  betonen  vor 
allem  die  Beziehung  der  Pädagogik  zur  Philosophie,  insbesondere  zur  Kultur- 
philo Sophie  und  Wertlehre,  wie  auch  die  zur  Kulturgeschichte;  Ziehen 
legt  außerdem  noch  auf  die  Eingliederung  des  Erziehungsweseiis  und  seiner 
Organisation  in  die  Gesamtheit  des  staatsbürgerlichen  und  Berufslebens  be- 
deutenden Wert.  Diese  Zusammenhänge  sind  in  den  Thesen  und  an- 
schließenden Besprechungen  so  ausführlich  und  vielseitig  erörtert  worden, 
daß  es  unnötig  ist,  nochmals  darauf  zurückzukommen.  Es  ist  auch  meine 
Überzeugung,  daß  die  Behandlung  der  Erziehungs-Ideale  im  Zusammen- 
hang mit  der  Ethik,  die  der  Bildungsgüter  im  Zusammenhang  mit 
der  Kulturgeschichte,  die  der  Unterrichts-  und  Erziehungs- Veranstal- 
tungen im  Zusammenhang  mit  der  Staats  Wissenschaft  zu  den  wesent- 
lichen Aufgaben  der  pädagogischen  Wissenschaft  gehört.  Aber  sie  bilden 
nicht  die  einzige  Aufgabe;  nicht  minder  wichtig  ist  die  Berücksichtigung 
der  Erziehungsobjekte  im  Zusammenhang  mit  der  Menschenkunde,  ins- 
besondere der  Psychologie.  Denn  Erziehung  ist  nicht  bloß  die  Sicherung 
und  Erweiterung  objektiver  Kulturgüter,  sondern  die  Hineinbildung  dieser 
Güter  in  lebendige  Menschenseelen  und  die  Heranbildung  der  Kindheit  und 
Jugend  unseres  Volkes  zu  wertvollem  Sein  und  Tun.  Darum  müssen  wir 
die  Kindheit  und  Jugend  kennen,  in  der  inneren  Gesetzlichkeit  ihrer 
seelischen  Entwicklung,  in  der  Beeinflußbarkeit  ihres  Intellekts  und  Charakters 
durch  die  äußeren  Eindrücke  und  Einwirkungen,  in  ihrer  Fähigkeit,  die 
objektiven  Forderungen  der  Erziehung  und  des  Unterrichts  zu  erfüllen,  in 
ihrer  Differenzierung  nach  Geschlechtern  und  sozialer  Schichtung,  nach  Be- 
gabungen, Gemüts-  und  Willenseigenschaften.  Und  so  tritt  denn  die  psycho- 
logisch orientierte  Jugendkunde  der  ethisch  und  staatswissenschaftlich 
orientierten  Kulturkunde  als  die  zweite  Grundlage  wissenschaftlicher  Päda- 
gogik gleichberechtigt  zur  Seite.  Die  Abneigung  gegen  die  psychologische 
Pädagogik,  wie  sie  durch  die  Ausführungen  einiger  Redner  hindurch- 
schimmert, ist  wohl  verursacht  durch  das  Übermaß  von  Ansprüchen,  mit 
denen  diese  junge  Wissenschaft  im  ersten  Übereifer  hier  und  da  aufgetreten 
war,  durch  die  Behauptung,  als  sei  die  ganze  Pädagogik  nichts  als  ein 
psychologisches  Problem,  durch  die  unglücklichen  Bezeichnungen  „experi- 
mentelle Pädagogik"  und  „experimentelle  Didaktik",  die  den  Anschein 
erweckten,    als  sollte   eine  neue.,    der  Naturwissenschaft    entlehnte  Methode 


Gutachtliche  Äußerungen,  Erste  Reihe.     5.   Stern  229 

alles  Bisherige  über  den  Haufen  werfen  und  auf  den  Kopf  stellen.  Das 
waren  Kinderkrankheiten,  die  überwunden  sind,  und  es  wird  heute  kaum 
mehr  irgendein  ernsthafter  Vertreter  der  Jugendkunde  zu  finden  sein,  der 
noch  zu  solchen  Ansichten  neigt.  Um  so  nachdrücklicher  müssen  wir  uns 
aber  dagegen  wenden,  daß  nun  der  Jugendkunde  die  ihr  und  der  Päda- 
gogik so  notwendige  Entwicklung  bei  der  Einrichtung  der  Lehrstühle  ver- 
kümmert werden  soll.  Die  Fragen,  welche  heute  von  der  Jugendkunde 
bearbeitet  werden,  beschränken  sich  nicht  mehr,  wie  Troeltsch  anzunehmen 
scheint,  auf  die  „technischen"  Angelegenheiten  des  Unterrichtsverfahrens, 
sondern  sie  ergreifen  das  gesamte  Seelenleben  des  Kindes  und  jungen 
Menschen;  die  Jugendkunde  beschränkt  sich  auch  nicht  mehr  auf  die  eine 
Methode  des  Experiments,  sondern  sie  läßt  daneben  andere  Methoden,  die 
Biographie,  die  Statistik,  vor  allem  aber  die  uralte  und  doch  ewig  junge 
Methode  der  natürlichen  Beobachtung,  wieder  zu  ihrem  Recht  kommen.  Sie 
will  auch  nicht  die  jugendliche  Seele  naturwissenschaftlich  zergliedern,  bis 
sie  ein  bloßes  Aggregat  von  einzelnen  Bewußtseinsinhalten  und  Leistungen 
geworden  ist;  sondern  sie  will  uns  befähigen,  die  jugendHche  Persönlichkeit 
in  ihrer  Einheit  und  ihrer  Besonderheit,  in  ihrer  Ursprünglichkeit  und  ihrer 
Bedingtheit  zu  verstehen. 

Und  gerade  das  letzte  scheint  mir  für  den  akademischen  Unterricht  von 
der  grundsätzHchsten  Bedeutung  zu  sein.  Es  kann  sich  nicht  darum  handeln, 
den  angehenden  Lehrer  zu  einem  Experimentalpsychologen  zu  machen,  der 
künftig  imstande  sein  soll,  an  seinen  Schülern  wissenschaftlich  psycho- 
logische Studien  anzustellen.  Wohl  aber  soll  er  die  verstehende  Ein- 
stellung auf  das  jugendliche  Seelenleben  gewinnen;  soll  zu  nach- 
erlebendem Einfühlen  befähigt  werden;  sein  Interesse  soll  geweckt  und  sein 
Blick  geschärft  werden  für  das  knospende  und  werdende,  dem  seinen  oft 
so  fremde  und  doch  von  eigenem  Reiz  und  eigenem  Recht  getragene  Innen- 
leben des  Schülers.  Ich  selbst  habe  Universitätsvorlesungen  über  Kindes- 
und  Jugendpsychologie  oftmals  gehalten  und  weiß  daher  aus  eigener  Er- 
fahrung, was  diese  veränderte  Einstellung  für  die  künftige  Berufsauffassung 
und  -freudigkeit  bedeuten  kann.  So  mancher  ehemalige  Hörer  bezeugte  mir, 
daß  er  auf  Grund  jener  psychologischen  Interessen  dazu  gekommen  sei, 
seinen  Beruf  nicht  als  Wissensübermittelung,  sondern  als  Seelenführung  an- 
zusehen und  lieb  zu  gewinnen. 

Aber  auch  als  wissenschaftliches  Forschungsgebiet  darf  die  Jugend- 
kunde beanspruchen,  aus  ihrer  bisherigen  Heimatlosigkeit  erlöst  zu  werden. 
Denn  die  Aufgaben,  die  ihrer  als  angewandter  Wissenschaft  in  Zukunft  harren, 
sind  von  größtem  Umfang  —  es  sei  nur  beispielshalber  erwähnt,  daß  die  Pro- 
bleme des  Begabtenaufstiegs,  des  Berechtigungswesens,  der  Jugendpflege,  der 
Berufsberatung,  sowie  der  Reform  bestimmter  Lehrmethoden  und  Schulorgani- 
sationen ohne  jugendkundhche  Grundlage  gar  nicht  befriedigend  gelöst  werden 
können.  Darum  würde  es  auch  gar  nicht  genügen,  wenn  man  den  bestehen- 
den Professuren  für  Psychologie  nahelegen  wollte,  mehr  als  bisher  jugend- 
psychologische  Fragen  zu  bearbeiten  —  dazu  ist  das  Gebiet  der  Psychologie 
selbst  zu  umfangreich  geworden;  vielmehr  wird  zu  verlangen  sein,  daß  an 
gewissen  Universitäten  die  Pädagogikprofessur  in  die  Hände  von  Persönhch- 
keiten  komme,  die  nicht  nur  als  Kenner,  sondern  als  Forscher  auf  dem 
Gebiet  der  psychologischen  Jugendkunde  wirken. 


230       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an.  den  deutschen  Universitäten 


Dies  führt  uns  zu  dem  Gesichtspunkt  der  notwendigen  Arbeitsteilung. 
Die  Pädagogik  ist,  als  wissenschaftliche  Disziplin,  so  umfassend,  daß  ihre  all- 
seitige gleichmäßige  Pflege  die  Kräfte  eines  einzelnen  weit  übersteigt.  Man 
wird  zum  mindesten  vier  Haupttypen  von  Pädagogikprofessoren  zu  unter- 
scheiden haben:  den  „Philosophen"  im  engeren  Sinne  (Ethiker,  Kultur-  und 
Sozialphilosophen),  den  „Didaktiker"  —  hierher  gehören  die  meisten  Männer, 
die  aus  der  Schulpraxis  zur  Pädagogikdozentur  übergehen  —  den  Sozial- 
und  Slaatswissenschaftler  (wie  er  insbesondere  von  Ziehen  gefordert  wird) 
und  den  „Jugendkundler".  Da  zurzeit  nicht  daran  zu  denken  ist,  daß 
mehrere  ordentliche  Professuren  für  diese  Zwecke  an  einer  Universität  er- 
richtet werden,  so  ist  wenigstens  dies  zu  fordern,  daß  an  verschiedenen 
Universitäten  verschiedene  Typen  zur  Geltung  kommen.  Sowie 
man  sich  früher  mit  Recht  gegen  den  Anspruch  wandte,  daß  die  Pädagogik 
tiberall  durch  „experimentelle  Pädagogen"  vertreten  würde,  so  muß  man  sich 
jetzt  dagegen  wenden,  als  ob  die  „Kulturphilosophen "  die  einzigen  Anwärter 
auf  die  neuen  Lehrstühle  sein  dürften.  Hier  muß  sich  vielmehr  die  Mannig- 
faltigkeit deutschen  Universitätslebens  wieder  einmal  bewähren.  Überall 
aber  wäre  dann  dafür  zu  sorgen,  daß  diejenigen  Gebiete  der  Pädagogik,  die 
dem  Fachvertreter  auf  Grund  seiner  besonderen  Interessen  fernliegen,  durch 
Heranziehung  der  anderen  Fakultätskollegen,  der  Philosophen,  Psychologen, 
Philologen,  Naturwissenschaftler,  sowie  durch  Mitwirkung  jüngerer  Hilfskräfte 
ebenfalls  zu  ihrem  Rechte  kommen. 

Zugleich  müßte  der  Pädagogikprofessor  eine  nicht  gering  zu  achtende  Auf- 
gabe darin  sehen,  die  oben  erwähnten  spontanen  Interessen  der  Studenten- 
schaft an  den  Fragen  der  Volkserziehung  und  des  Bildungswesens  zu  fördern 
und  mit  den  Bestrebungen  der  studentisch -pädagogischen  Gruppen  persön- 
liche Fühlung  zu  nehmen. 

Anhang. 

Die  Leitsätze  für  die  Pädagogische  Konferenz  im  preußischen  Ministerium. 
A)     Geheimer  Regienmgsrat  Professor  D.  Dr.  Ernst  Troeltsch  in  Berlin. 

1.  Vom  StanJpunkte  oder  der  Gesamtidee  der  Philosophischen  Fakultät  aus  ist  bezüglich  der 
pädagogtschan  Lehrstühle  zu  fordern,  daß  sie  eine  rein  theoretische  Wissenschaft  vertreten.  Nur 
eine  solche  fügt  sich  der  Idee  einer  wissenschaftlichen,  d.  h.  theoretischen  Bearbeitung  des  Globus 
intellectualis  ein,  während  eine  Mischung  von  Unterrichtsgeschichte,  Probeschule,  Vorlesungen 
über  Unterrichtstechnik  und  pädagogisch  verwertbarer  Psychologie  kein  Ganzes  in  sich  ist  und 
zwischen  halber  Wissenschaft  und  halber  Praxis  schwankt,  ein  ähnlich  unorganisches  Anhängsel 
an  die  Philosophische  Fakultät,  wie  die  sog.  praktische  Theologie  es  an  die  Theologische  ist. 
Als  rein  theoretische  Wissenschaft  ist  sie  Wissenschaft  von  der  Volkserzieliung  auf  der  Grundlage 
einer  bestimmten  Anschauung  von  Volk  und  Gesellschaft,  von  Berufsgliederung  und  ethischer 
Persönlichkeitserziehung,  von  der  Organisation  der  Erziehung  in  allen  Stufen  und  Arten.  Damit 
entspricht  sie  durchaus  dem  Wesen  der  Philosophischen  Fakultät,  die  ja  in  naturwissenschaftlich- 
mathematischen, philologischen,  historischen  und  philosophischen  Fächern  das  Lehrgut  zusammen- 
trägt, das  der  Anwendung  und  Anpassung  auf  die  Volkserziehung  harrt. 

2.  Bei  solcher  Auffassung  steht  die  Pädagogik  zunächst  allen  Disziplinen  der  Philosophischen 
Fakultät  gleich  nahe,  indem  sie  deren  Stoffe  als  Bestandteile  des  Lehrgutes  betrachtet  und  deren 
Verwertung  für  die  in  ihrer  historischen  Entstehung  und  soziologisch-politischen  Bedingtheit 
"verstandenen  Schulorganisationen  deutlich  macht.  Am  notwendigsten  ist  freilich  dafür  der  Besitz 
einer  einheitlichen  Synthese  dieser  verschiedenen  Bestandteile  des  Lehrgutes  zu  einer  wenigstens 
relativ  einheitlichen  Kulturidee,  die  da;m  den  verschiedenen  Schulgattungen  in  der  durch  ihre 
Sonderzwecke  nuancierten  Besonderung,   aber  doch  als  wesentliche   geistige  Einheit  zugrunde 


Leitsätze  von  Troeltsch  231 


gelegt  werden  kann.  Dieser  Begriff  einer  Synthese  rückt  nun  aber  die  Pädagogik  selir  nahe  an 
die  Philosophie  heran,  deren  Aufgabe  ja  unter  allen  Umständen  und  bei  jeder  besonderen  Art 
ihrer  Begriffswelt  die  Synthese  des  geistigen  Gehalts  und  Sinnes  der  gegenwärtigen  Kultur  ist, 
wie  eine  jede  zu  jeder  Zeit  sich  diese  Aufgabe  gestellt  hat.  Die  Pädagogik  muß  insofern  auf 
philosophischer  Grundlage,  d.  h.  auf  der  von  der  Philosophie  her  entwickelten  und  begründeten 
Geschichts-  und  Kulturphilosophie  oder  Ethik,  begründet  sein  oder  selber  sich  eine  solche  Syn- 
these philosophisch  erwerben.  Da  aber  für  eine  solche  Arbeit  die  völlige  Beherrschung  der  philo- 
sophischen Grundprobleme  erforderlich  ist,  so  wird  sie  in  dieser  Hinsicht  von  der  Philosophie 
her  bedingt  sein  und  in  enger  Gemeinschait  mit  der  Arbeit  der  Philosophen  stehen. 

3.  Das  setzt  freilich  eine  Gestaltung  der  philosophischen  Lehrtätigkeit  und  noch  mehr  der 
philosophischen  Problemstellung  selbst  voraus,  die  zwar  an  sich  im  Wesen  der  Philosophie  liegt, 
die  aber  in  der  gegenwärtigen  Verfassung  der  Philosophie  nicht  ohne  weiteres  gegeben  ist.  Zu 
allen  Zeiten  ist  es  die  Aufgabe  der  Philosophie  gewesen,  den  geistigen  Besitz  der  Zeit  in  einer 
letzten  Synthese  zu  erfassen  und  zu  begründen,  wodurch  sie  sowohl  für  Ethik  und  Geschichts- 
philosophie als  für  Staats-  und  Erziehungstheorie  die  Unterlage  bildet.  Das  aber  ist  heute  teils 
durch  die  Spezialisierung  der  philosophischen  Fächer,  teils  durch  das  Übergewicht  der  Rück- 
sichten auf  die  Naturwissenschaften,  teils  durch  eine  gewisse  Mutlosigkeit  und  vornehme  Kon- 
fliktscheu der  Philosophie  sehr  erschwert.  Die  Philosophie  ist  heute  wesentlich  Psychologie 
sodann  Logik-  und  Erkenntnistheorie  und  schließlich  Geschichte  der  Philosophie,  welch  letztere 
zum  Selbstzweck  oder,  was  dasselbe  ist,  zum  Examensgegenstand  geworden  ist.  Ihre  Wirkung 
auf  die  Studenten,  d.  h.  auf  die  zukünftigen  Volkserzieher  und  Volksführer,  ist  daher  im  all- 
gemeinen nicht  viel  mehr  als  eine  gewisse  Beruhigung  darüber,  daß  die  moderne  Naturwissen- 
schaft bei  philosophischer  Umsicht  und  Vorsicht  nicht  materialistische  Konsequenzen  nach  sich 
zu  ziehen  braucht.  Aber  eine  positive  Kraft  der  Weltanschauungsbildung  entfaltet  die  Philo- 
sophie selten  und  hält  sie  geradezu  vielfach  für  nicht  zu  ihrer  Aufgabe  gehörig.  Eben  deshalb 
treten  auch  Geschichtsphilosophie,  Ethik  und  Kulturphilosophie  in  ihrer  Lehrtätigkeit  sehr 
stark  zurück.  Unter  diesen  Umständen  fehlt  der  Pädagogik  größtenteils  der  philosophische 
Anschluß  und  bleibt  günstigsten  Falles  nur  der  Anschluß  an  die  Psychologie,  wobei  dann  für 
die  Pädagogik  lediglich  technische  Hilfsmittel,  aber  kein  Bild  der  staatlichen  Gesellschaft  und 
des  ethisch  -  kulturphilosophischen  Unterrichtszieles  sich  ergeben.  Eine  derartige  Angliederung 
bleibt  daher  in  ihrem  Ergebnis  ziemlich  mager  und  gibt  der  Pädagogik  keine  rechte  Einstellung 
in  die  Zentralinteressen  der  philosophischen  Fakultäten.  Eine  solche  wird  erst  möglich  werden, 
wenn  die  Philosophie  wieder  zu  ihren  alten,  weiteren  und  weniger  fachmäßigen  Problem- 
stellungen zurückkehrt.  Eine  solche  Rückkehr  ist  aber  die  Voraussetzung  für  die  Schaffung 
lebendig  wirksamer  Lehrstühle  für  Pädagogik. 

4.  Nimmt  man  nun  aber  einmal  an,  die  Philosophie  vollziehe  eine  derartige  Rückkehr,  wofür 
in  dem  Geiste  der  jüngeren  Generation  manches  spricht,  imd  sie  pflege  neben  Psychologie  und 
Logik  auch  eine  auf  beide  aufgebaute  Kultur-  und  geschichtsphilosopbische  Begriffsbildung,  so 
ist  immer  noch  die  Frage,  wem  die  Aufgabe  der  Pädagogik  in  die  Hand  zu  geben  ist,  ob  dem 
Philosophen  selbst  oder  einem  gründlich  philosophisch  gebildeten  Spezialisten  für  Pädagogik. 
Das  erstere  wird  unter  Umständen  möglich  sein ,  wofür  etwa  die  Beispiele  von  Paulsen,  Natorp 
und  Spranger  genannt  werden  können.  Allein  solche  Philosophen  mit  derartiger  Spezalisierung 
auf  die  Pädagogik  werden  selten  sein,  und  die  Größe  der  rein  philosophischen  Aufgabe  wird 
selten  den  Raum  übrig  lassen  für  eine  genügend  breite  Entfaltung  der  Pädagogik.  So  wün- 
schenswert es  ist,  daß  Piiilosophen  gelegentlich  Pädagogik  lesen,  so  wird  doch  die  eigentliche 
Pädagogik  eine  besondere  und  ganze  Kraft  verlangen,  die  den  historischen,  den  politisch-sozio- 
logischen, den  philosophischen,  den  schulgeschichtlichen  und  den  unterrichtstechnischen  Teil 
ihres  Stoffes  gleichmäßig  beherrscht.  Es  würde  sich  also  um  die  Schaffung  einer  selbstän- 
digen, neuen  und  umfassenden  Wissenschaft  handeln,  für  die  man  erst  ein  paar  begabte  Ver- 
treter haben  müßte,  um  durch  sie  Tradition,  Grundriß  und  Nachwuchs  dieser  Forschung  aus- 
bilden zu  lassen.  Die  Aus-  und  Durchbildung  des  Faches  müßte  dann  der  weiteren  Entwicklung 
überlassen  bleiben. 

5.  Es  handelt  sich  also  um  eine  selbständige  und  umfassende  Wissenschaft  vom  staatlichen 
Schulwesen,  seiner  Geschichte  und  seinen  Zielen,  wobei  natürlich  das  gesamte  Schulwesen  ein- 
schließlich der  Volksschule  zu  umfassen  ist.  Das  bedeutet  eine  Zusammenfassung  v«rschiedener 
und  weitverzweigter  empirischer  Kenntnisse  mit  einer  philosophisch-geklärten  und  begründeten 
Anschauung  vom  Wesen  unseres  geistigen  Besitzes,  soweit  er  von  der  Schule  jeder  Art  realisiert 
werden  kann.  Das  ist  dann  zugleich  eine  wissenschaftliche  Unterlage  für  die  Lehrer-Seminare, 
eine  Information  für  die  Schulpolitik  und  eine  Zusammenfassung  de«  praktischen  Zweckes  der 


232      Über  die  zukünftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

philosophischen  Fakultät,  an  der  es  bisher  sehr  gefehlt  hat,  schließlich  eine  Einführung  der 
Studenten  in  Ideale  und  Ethik  des  Lehrerberufes.  Nur  darf  in  letzter  Hinsicht  nicht  übersehen 
werden,  daß  das  die  Pädagogik  nicht  allein  kann  und  soll,  sondern  hierin  von  den  Vertretern 
der  Einzeltächer  grundsätzlich  und  bewußt  unterstützt  werden  muß.  Die  Begeisterung  für  den 
idealen  Erziehungs-  und  Bildungsgehalt  des  Lehrgutes  muß  in  erster  Linie  von  den  Vertretern 
der  Einzelfächer  geweckt  und  gepflegt  werden.  Die  Pädagogik  wird  ihrerseits  in  dieser  Hin- 
sicht sich  an  den  Lehrerberuf  als  Ganzes  und  an  die  Bedeutung  dieses  Ganzen  für  Staat,  Ge- 
sellschaft und  Geislesleben  zu  halten  haben. 

6.  So  voll  beschäftigender  Stoff  sich  für  einen  solchen  Lehrstuhl  aufzeigen  läßt,  so  schwierig 
ist  die  Frage  der  ihm  zuzuweisenden  Zuhörer  und  der  Entwicklung  eines  Vorlesungsprogrammes 
für  ihn.  Der  Student  soll  ja  nicht  Fachwissenschaftler  der  Pädagogik  werden,  und  die  Päda- 
gogik darf  nicht  in  fremde  Stoffe  übergreifen,  etwa  unter  dem  Vorwande  philologische  und 
historische  Stoffe  schultechnisch  zu  behandeln.  So  könnte  der  Student  normalerweise  nur  zu 
einem  einzigen  Kolleg  über  Pädagogik  verbunden  werden.  Das  aber  würde  für  den  Lehrer 
bedeuten,  daß  er  jedes  Semester  dasselbe  Kolleg  zu  lesen,  und  in  diesem  seinen  ganzen  Stoff 
zusammenzudrängen  hat.  Das  aber  ist  sowohl  für  den  Gelehrten  als  für  seinen  Stoff  eine  miß- 
liche Lage.  Dazu  kommt,  daß  die  Pädagogik  etwas  Ganzes  doch  nur  ist,  wenn  sie  die  Volks- 
erziehung als  Ganzes,  also  auch  die  Volksschule  miteingeschlossen,  behandelt.  Von  da  aus 
ergäbe  sich  natürlich  eine  Erweiterung  und  ein  Wechsel  des  Hörerkreises,  aber  nur  unter  der 
Bedingung,  daß  auch  die  zukünftigen  Volksschullehrer  oder  doch  wenigstens  eine  gewisse  Aus- 
wahl aus  ihnen  an  diesen  Kollegien  beteiligt  würden.  Das  aber  ist  nun  wieder  eine  sehr 
schwierige  Frage,  die  zwar  bereits  an  manchen  Orten  akut  geworden,  aber  für  die  eine  befrie- 
digende Lösung  bis  jetzt  nicht  gefunden  worden  ist. 

7.  Unter  diesen  Umständen  ist  die  Schaffung  pädagogischer  Lehrstühle  immerhin  ein  ver- 
wickeltes Experiment,  das  allerhand  Voraussetzungen  macht,  die  nicht  ohne  weiteres  als  erfüllt 
gelten  dürfen.  Immerhin  könnte  diesen  Voraussetzungen  von  der  Unterrichtsverwaltung  nach- 
geholfen werden,  und  die  zu  geistiger  Selbstbesinnung  und  Konzentration  mahnende  Zeit  drängt 
die  gelehrte  Arbeit  von  selbst  in  diese  Richtung.  Insofern  wäre  an  einer  oder  ein  paar 
größeren  Hochschulen  ein  derartiges  Unternehmen  möglich.  Es  ist  zunächst  und  zuerst  eine 
Personenfrage.  Ist  die  geeignete  Person  gefunden,  so  wird  sie  das  Fach  von  selbst  durchsetzen 
und  andere  Personen  erziehen,  die  die  Aufgabe  fortsetzen  und  verbreitem  können.  Die  Frage 
des  Bedürfnisses  selbst  zu  entscheiden,  steht  dabei  den  praktischen  Schulmännern  zu.  Vom 
Standpunkte  der  Philosophischen  Fakultät  kann  es  sich  nur  darum  handeln,  dem  Fach  die  aus 
seinem  Wesen  und  aus  den  Verhältnissen  der  Fakultät  heraus  mögliche  Eingliederung  in  ihre 
Arbeit  abzustecken,  womit  ja  der  inhaltlichen  Erfüllung  dieses  Gebietes  durch  die  etwaigen 
zukünftigen  Fachvertreter  nicht  vorgegriffen  ist. 

B)  Stadtrat  Prof.  Dr.  Julius  Ziehen  in  Frankfurt  a.  M. 

1.  Durch  die  Universitätsvorlesungen  und  -Übungen  über  Pädagogik  soll  den  mit  der  zwei- 
jährigen praktischen  Ausbildung  der  Lehramtskandidaten  verbundenen  Aufgaben  in  keiner 
Weise  vorgegriffen  werden.  Die  Behandlung  solcher  Stoffe,  die  nur  im  Zusammenhang  mit 
praktischen  Lehrversuchen  in  ihrer  vollen  Tragweite  erfaßt  werden  können,  hat  daher  zu 
unterbleiben.  Eine  Übungsschule  ist  für  die  pädagogische  Ausbildung  auf  der  Universität  nicht 
einzurichten.  Auch  die  sogenannte  schulwissenschaftliche  Behandlung  der  Lehrfächer  ist  abzu- 
lehnen. Durch  das  Studium  der  Pädagogik  darf  das  fachwissenschaftliche  Studium  in  keiner 
Weise  beeinträchtigt  werden. 

2.  Die  erste  Aufgabe  der  pädagogischen  Universitätsvorlesungen  und  -Übungen  geht  dahin, 
die  Studierenden  ein  klares  Verständnis  dafür  gewinnen  zu  lassen,  wie  auf  dem  Boden  der  all- 
gemeinen Kulturentwicklung  das  Erziehungs-  und  Schulwesen  seinen  heutigen  Stand  erreicht 
hat  und  welche  grundsätzlichen  Zusammenhänge  zwischen  der  allgemeinen  Kulturentwicklung 
und  dem  Erziehungs-  und  Bildungswesen  bestehen.  Die  Pädagogik  muß  dabei  als  Teilgebiet 
einer  allgemeinen  Volkserziehungswissenschaft  behandelt  werden. 

3.  Die  Geschichte  der  pädagogischen  Theorien  ist  mit  steter  Bezugnahme  auf  die  Verhält- 
nisse der  Gegenwart  zu  behandeln.  Im  Vordergrund  der  Betrachtimg  hat  die  Geschichte  der 
Erziehungsideale  und  das  Maß  ihrer  Verwirklichung  in  den  verschiedenen  Zeiten  und  Ländern 
zu  stehen. 

4.  Die  Geschichte  der  Schulorganisation  hat  auszugehen  von  dem  Bilde  der  Entwicklung, 
die  das  Lehrgut  der  Völker  im  Laufe  der  Zeiten  genommen  hat.  Die  Erörterung  über  das 
Verhältnis   des  Lehrgutes   zu   den   Forderungen   des  staatsbürgerlichen    und    des  Berufslebens 


Leitsätze  von  Ziehen  und  Spranger  233 

hat  die  Abstufung  und  Nebeneinanderstellung  verschiedener  Schularten  in  ihrer  inneren  Berech- 
tigung zu  erweisen. 

5.  Die  Organisation  der  Schulverfassung  und  Schulverwaltung  ist  auf  Grund  der  historischen 
Entwicklung  zu  betrachten.  Das  Verständnis  für  diese  Entwicklung  ist  durch  eingehende  Inter- 
pretation besonders  wichtiger  erziehungs-  und  schulgesetzlicher  Bestimmungen  zu  fördern.  Durch 
Heranziehung  geeigneten  biographischen  Stoffes  ist  die  Geschichte  der  Schulverfassung  und 
Schulverwaltung  zu  beleben. 

6.  Das  Verständnis  für  die  Erziehungs-  und  Schulpraxis  ist  durch  die  geschichtliche  Betrachtung 
des  Erziehungs-  und  Schulwesens  vorzubereiten.  Dabei  ist  an  der  Hand  biographischen  Stoffes 
einerseits  das  Lehrerberufsideal  zum  Verständnis  zu  bringen  und  andererseits  die  Wirkung  der 
Erziehungs-  und  Schularbeit  auf  die  Jugendlichen  zn  veranschaulichen. 

7.  Bei  der  Behandlung  aller  hier  aufgeführten  Stoffe  ist  unter  tunlichster  Selbsttätigkeit  der 
Studierenden  auf  die  quellenmäßige  wissenschaftliche  Erarbeitung  der  Kenntnisse  das  Haupt- 
gewicht zu  legen.  Der  bloßen  Aneignung  des  Stoffes  aus  Quellen  zweiter  und  dritter  Hand  ist 
mit  besonderem  Nachdruck  entgegenzuwirken. 

C)    Prof.  Dr,  Eduard  Spranger  in  Leipzig. 

I.  Gegenstand  der  Pädagogik  als  Wissenschaft,  die  allein  an  die  Universität  gehört,  ist  der 
Bildungsvorgang  als  eine  alle  Gebiete  der  Kultur  durchziehende  Erscheinung.  An  diesem 
Bildungsvorgang  sind  als  grundlegende  Seiten  zu  unterscheiden:  das  Bildungsideal,  die 
Bildsamkeit,  der  Bildner  (Erzieher)  und  die  Bildungsgemeinschaft  (z.B.  Schule). 

a)  Die  Bildungsideale  der  Vergangenheit  müssen  aus  dem  kulturellen  Zusammenhang 
ihrer  Zeit:  den  religiösen,  wissenschaftlichen,  wirtschaftlichen,  künstlerischen,  sozialen  und  poli- 
tischen Motiven  verstanden  werden.  Das  Bildungsideal  der  Gegenwart  beruht  selbst  großenteils 
auf  Bildungsgütern,  die  von  vergangenen  Kulturepochen  erarbeitet  worden  sind.  Eine 
weitere  Analyse  hat  die  in  ihm  gebundenen  Bildungswerte  herauszuheben,  d.  h.  die  spe- 
zifisch wirkenden  Elemente,  wodurch  einzelne  Lehrgegenstände,  Geistesprozesse  oder  Kultur- 
einrichtungen einen  sich  entwickelnden  Geist  zur  Erzeugung  entsprechender  objektiv  wertvoller 
Leistungen  in  Tätigkeit  setzen. 

b)  Die  Bildsamkeit  des  Zöglings  ist  wesentlich  Gegenstand  der  pädagogischen  Psycho- 
logie. Diese  ist  einerseits  Kinder-  und  Jugendpsychologie,  sei  es  Lehre  von  der  psycho-physischen 
Entwicklung  des  Kindes,  sei  es  von  den  Typen  der  kindlichen  Individualität  (Differentielle 
Psychologie).  Andrerseits  untersucht  sie  die  psychischen  Wege,  auf  denen  Unterricht  und  Er- 
ziehung wirken,  die  seelischen  Anknüpfungspunkte  und  Hebel  absichtlicher  Beeinflussung,  vor 
allem  auch  die  normalen  oder  krankhaften  Grenzen  der  Plastizität  (Bildsamkeit). 

c)  Der  Bildner  hat  wie  jeder  schöpferische  Mensch  seine  besondere  Geistesstruktur.  Das 
Wesen  des  pädagogischen  Eros  muß  zum  Bewußtsein  erhoben  werden,  und  zwar  in  seinen 
beiden  Gestalten  als  Liebe  zu  den  Kindern ,  wie  sie  in  A.  H.  Francke  und  Pestalozzi  gipfelt,  und 
als  Liebe  zu  den  objektiven  Werten,  zur  Idee  des  Menschentums  und  dem  Göttlichen,  das  in 
jugendliche  Seelen  hineingearbeitet  werden  soll.  Die  Lehre  von  den  Bildungsmethoden  hat 
das  Gesetz  des  jeweiligen  Sachgebietes  und  der  psychischen  Entwicklung  aneinanderzuknüpfen 
(Erziehungslehre  und  Didaktik). 

•  d)  Die  Bildungsgemeinschaft  ist  teils  eine  freie,  wie  sie  aus  der  Zweckverwebung  des 
Lebens  überall  von  selbst  entsteht,  teils  eine  organisierte,  also  Schule,  speziell  staatliche  und 
kirchliche  Schule.  Hier  ist  der  Zusammenhang  mit  Verfassungsgeschichte,  Soziologie  und  Rechts- 
wissenschaft anzustreben.  Im  Vordergrund  steht  die  Beziehung  des  nationalen  Staates  zu  Schule 
und  Bildung,  sowie  die  Pflicht  der  Schule  gegen  den  Staat  (staatsbürgerliche  Erziehung).  Be- 
rücksichtigung des  ausländischen  Bildungswesens  ist  wünschenswert. 

II.  Für  die  Universitätsvorlesung  ist  diese  systematische  Einteilung  nicht  zweckmäßig.  Über- 
wiegend werden  die  entwickelten  Gesichtspunkte  an  der  Geschichte  der  Erziehung  zur  Dar- 
stellung zu  bringen  sein.  Doch  darf  eine  systematische  Zusammenfassung  nicht  fehlen.  Liegt 
eine  G  e  s  a  m  t  auff assung  der  Betrachtung  zugrunde,  so  muß  der  Geist  des  Ganzen  schon  dem 
Hörer  einer  Vorlesung  gegenwärtig  werden.  Die  mißliche  Verpflichtung  zum  Besuch  des 
ganzen  Turnus  (die  ja  auch  in  der  Philosophie  nicht  besteht)  fällt  fort. 

III.  In  Leipzig  hat  sich  folgende  Einrichtung  bewährt: 

Pädagogik  I:    Philosophische  Grundlegung    und  Geschichte  der  Erziehung   vom  Altertum    bis 

Rousseau.     3  stündig. 
Pädagogik  II:   Pädagogische  Theorien  und  Erziehungswesen  von  Rousseau  bis  zur  Gegenwart. 

3  stündig. 


234  Aloys  Fischer 


Pädagogik  III:  Systematische  Pädagogik  (Erziehungslehre   und  allgemeine  Didaktik)    mit  einem 
Abriß  der  Kinderpsychologie.     4  stündig. 
Außerdem     Geschichte  der  deutschen  Schulgesetzgebung  und  Schulverfassung.     2  stündig. 
Erziehungsfragen  der  Gegenwart  j 

Universitäten  und  Universitätsstudium  \  publice, 
usw.  J 


Ober  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern. 

Von  Aloys  Fischer. 

Will  man  das  Bauen  der  Kinder  untersuchen,  eine  der  allgemeinsten  Formen 
frühkindlicher  Tätigkeiten,  die  in  den  weiteren  Zusammenhang  der  von  K.  Groos 
sogenannten  Konstruktionsspiele  hineingehören,  so  muß  von  vornherein  das 
Baumaterial  genau  bekannt,  im  Hinblick  auf  psychologische  und  päda- 
gogische Absichten  eventuell  planmäßig  ausgewählt  und  gestaltet  werden. 

Im  allgemeinen  lassen  sich  vier  Gruppen  von  Baumaterialien  unterscheiden: 

a)  Solche  Klötzchen  und  Steinformen,  die  durch  Gestalt  und  Be- 
malung einen  inneren  Hinweis  auf  bestimmte  Baugestalten  ent- 
halten. Die  Verschiedenheit  des  Stoffes,  ob  Stein,  Rohholz  oder  bemaltes 
Holz  ist  dabei  auch  nicht  ganz  gleichgültig.  Am  eindeutigsten  weisen  solche 
Klötzchen  auf  „Häuser",  „Kirchen",  „Scheunen"  hin,  welche  aus  Holz  her- 
gestellt und  durch  die  Farbe  und  Oberflächenzeichnung  als  „Dach", 
„Dachstück",  „Wand  mit  Fenstern",  Wand  mit  Tor"  eindeutig  gekennzeichnet 
sind.  „Der  kleine  Schwede"  und  der  „Münchner  Kindl-Baukasten"  mögen 
als  Repräsentanten  genannt  sein.  Die  als  Dachteile  in  Betracht  kommenden 
Klötze  sind  hellrot  gestrichen,  die  Wandteile  weiß;  auf  ihnen  ist  deutlich  die 
Zeichnung  von  Fenstern,  Türen  erkennbar.  Weniger  eindeutig  sind  die  natur- 
farbenen  Klötze.  Unter  ihnen  sind  wieder  die  Steinklötze  (mit  braunroter  oder 
graugrüner  Materialfarbe)  den  rohen  Holzklötzen  an  hinweisender  Kraft  über- 
legen. Eineii  letzten  Grad  solch  inneren  Bausinnes  haben  alle  regelmäßig 
geformten  Klötze  überhaupt;  die  Anklänge  an  Quader  und  Ziegel,  die  Mög- 
lichkeit der  Schichtung  und  Verbindung  mögen  zusammenwirken,  um  diesen 
Bausinn  zu  begründen.  Dominosteine,  die  gar  nicht  für  Bauspiele  im  eigent- 
lichen Sinne  erdacht  sind,  aber  vom  jungen  Kind  so  verwendet  werden,  mögen 
diese  unterste  Grenze  des  im  Material  steckenden  Hinweises  auf  bauliche 
Formgebung  repräsentieren. 

Eine  zweite  Gruppe  von  Materialien  des  Bauspiels  stellen  b)  die  ansich 
relativ  gestaltlosen,  aber  im  höchsten  Grade  formbaren,  ohne  an- 
deres Werkzeug  als  die  Hände  gestaltbaren  Stoffe  Sand,  Lehm, 
Schnee,  Ton,  Wachs,  die  künstlichen  Modellierst  off  e  dar.  In  diesen 
Stoffen  schlummert  nur  der  allgemeine  Anreiz  zur  Gestaltung ;  sie  können  eben- 
sogut in  darstellender  Absicht  (das  „Modellieren"  von  Schneemännern,  Wachs- 
figuren, Tontieren  usw.)  verwendet  werden  wie  zu  tektonischer  Gestaltung, 
zum  Formen  und  Bauen  im  engeren  Sinne.  Es  hängt  von  Begabung,  Umwelt, 
Muster,  Anleitung  und  anderen  Faktoren  ab,  ob  das  Kind  sich  dieser  Mate- 
riaUen  in  erster  Linie  als  plastischer  Materialien  oder  als  Baustoffe  bemächtigt, 
ob  es  eventuell  beide  Seiten  sieht,  eventuell  auf  eine  beschränkt  bleibt.  Das 
Bauen  in  Sand  und  Schnee  mindestens,  in  der  Regel  als  Gesellschaftsspiel 
an  die  Arbeitsverkettungen  der  Kollektivschöpfung  gebunden,  dürfte  doch  so 


über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern  235 

allgemein  verbreitet  sein,  daß  eine  Psychologie  des  kindlichen  Bauens  an  ihm 
nicht  vorübergehen  darf,  daß  eine  Beschränkung  auf  das  Bauen  mit  fertigen 
Klötzen  und  Steinen  die  Gefahr  einseitiger  Schlußfolgerungen  bedeutet.  Ins- 
besondere müssen,  wenn  das  gleiche  Kind  zufällig  in  beiden  Materialien  bauen 
sollte,  die  Einflüsse  des  verschiedenen  Materials  auf  die  Formgebung  ermittelt 
werden,  denn  es  ist  gewiß,  daß  das  Bauen  mit  Klötzchen  als  „Zusammen- 
setzen" zu  anderen  Produkten  führt,  als  das  Bauen  mit  Sand  oder  Schnee, 
das  notgedrungen  etwas  vom  „Formen"  behält. 

Von  den  bisher  betrachteten  Gruppen  der  Baumaterialien  scheidet  sich  die 
dritte  dadurch  ab,  daß  sie  c)  solche  Stoffe  umfaßt,  die  gerade  noch 
für  bauende  Tätigkeiten  verwendbar  sind,  aber  sowohl  eines  inneren 
Bausinnes,  wie  einer  unbedingten  Formbarkeit  entbehren.  Ich  denke  an  das 
oft  phantasievolle  Bauen  mit  Steinen,  Tannenzapfen,  Zweigen  im  Wald,  das 
durch  Eigentümlichkeiten  des  Bodens  oder  allgemeine  Waldstimmungen  an- 
geregt wird.  So  habe  ich  bei  6 — Sjährigen  Knaben  häufig  beobachtet,  daß 
ihnen  die  verwitternden  Baumstümpfe  als  Ruinen,  weiterhin  als  „Burgen"  er- 
schienen, mit  Zacken," Zinnen  und  Türmen,  und  daß  sie  mit  Rindenstücken 
und  aufgelesenen  Feldsteinen  Festungsmauern  um  solche  Burgen  bauten, 
gepflasterte  Wege  zu  ihnen  über  den  Moosboden  des  Waldes  anlegten  und 
anderes  in  solchem  Zusammenhang  Mögliche,  wie  Brücken,  Wachttürme  erbauten. 
Oder  die  dem  Zweck  nach  so  verschiedenen,  der  Art  nach  so  verwandten 
„Bauten"  am  fließenden  Wasser,  der  Bau  von  Stauwehren,  von  „Weihern" 
mit  Steinen,  Straßenkot,  Holzstückchen,  Lumpen  und  anderen,  meist  dem  Zu- 
fall verdankten  Abfällen.  Bei  einem  7jährigen  Knaben  beobachtete  ich  der^ 
artiges  Bauen  monatelang ;  er  hatte  in  dieser  Zeit  die  ungleichen  und  ungleich- 
verwitterten Baumstümpfe  einer  kleinen  Blöße  allmählich  in  ein  ganzes,  am 
Fuß  und  unterm  Schutz  einer  hochragenden  Burg  liegendes  Dorf  mit  Kirche 
und  Straßen  und  Umfassungsmauer  umgeschaffen,  zu  dem  drei,  trotz  aller 
Unbilden  der  Witterung  immer  wieder  hergestellte  Wege,  ein  Moosweg,  ein 
Stein  weg,  ein  Prügelweg  in  Längen  von  15,  12  und  9  m  hinführten.  Zugleich 
wurde  das  „Burgdorf"  der  Mittelpunkt  von  „Erzählungen",  in  denen  Gehör- 
tes und  Erfundenes  sich  zu  schauerlichen  Kampfszenen  und  behaglichen 
Schilderungen  aus  dem  Leben  der  Handwerker,  besonders  der  Schmiede, 
Sägemüller  und  Bäcker  vereinigten. 

Als  letzte  Gruppe  müssen  wir  d)  echte  Baumaterialien  ins  Auge  fassen. 
Sie  wenden  keineswegs  nur  am  Ende  der  Kindheit,  von  Jugendlichen  verwandt, 
sondern  (unter  ländlichen  Verhältnissen  z.  B.,  oder  unter  dem  Einfluß  des 
väterlichen  Handwerks)  auch  schon  von  Schulkindern.  Zu  diesen  echten 
Baumaterialien  rechne  ich  in  erster  Linie  Bretter,  Stangen  und  Laubzweige,  die 
zu  Hütten  verarbeitet  werden,  Ziegel,  Feldsteine  und  Mörtel  und  ähnliche  Dinge. 
Das  Bauen  wird  mit  solchem  Material  auch  noch  in  der  Zweckhinsicht  ernster: 
es  kommt  zur  Herstellung  wirklicher  Unterschlupfe,  von  Laubhütten  und 
Zelten,  von  gemauerten  Feuerherden,  von  Taubenschlägen,  Vogelkäfigen, 
Kaninchenställen,  Hundehütten  usw.  Für  diese  letzte  Art  des  Baumaterials 
und  das  dadurch  bedingte  Bauen  ist  wichtig,  daß  der  Bau  einen  realen  Zweck 
wirklich  befriedigen  soll,  mag  dieser  die  Unterkunft  des  bauenden  Knaben 
selber  sein,  wie  bei  den  Hütten,  die  unsere  „Wandervögel"  bauen,  oder  die 
Unterkunft  eines  Tieres,  die  Aufbewahrung  eines  Besitzes.  Demgemäß  müssen 
Material  und  Bearbeitung  haltbar,  dauerhaft  sein ;    beide  nähern  sich  dem 


236  Aloys  Fischer 


echten  Bauen,  ja  gehen  (bei  der  Herstellung  von  Blockhäuschen  oder  Feuer- 
herden) in  die  primitiven  Formen  desselben  unmittelbar  über. 

Eine  Reihenfolge  in  der  Benutzung  dieser  Materialgruppen  ist  kaum  er- 
kennbar; die  Hilfsmittel  der  sozialen  Schicht,  welcher  das  Kind  entstammt, 
sind  von  größerem  Einfluß  darauf  als  die  Entwicklungslinie  der  konstruktiven 
Begabungen.  Im  allgemeinen  werden  auf  jeder  Altersstufe,  für  die  das  Bauen 
noch  charakteristisch  ist,  mindestens  die  drei  zuerst  genannten  Materialien 
nebeneinander  verwendet.  Nur  die  Benutzung  echter  Baumaterialien  ist  den 
späteren  Schuljahren  vorbehalten,  aus  zwei  Gründen,  soviel  ich  sehe,  weil 
dann  erst  die  erforderliche  Körperkraft,  Handgeschicklichkeit  und  technische 
Übung  vorhanden  ist,  ohne  welche  ein  Arbeiten  mit  solchen  Materialien  schlecht 
gelingt,  mindestens  ebensosehr  aber  auch,  weil  die  Schaffung  von  Zweck- 
bauten für  reale  Benutzung  ohne  einige  Reife  nicht  zum  Ziel  der  Bauspiel- 
tätigkeit werden  kann. 

Es  ist  bekannt,  daß  es  neben  den  hier  gekennzeichneten  Materialien  auf 
dem  Spielwarenmarkt  noch  andere  gibt,  besonders  die  sog.  Bau-  und  Modellier- 
bogen. Bei  ihnen  handelt  es  sich  zunächst  um  Ausschneidearbeit,  die  Stücke 
werden  dann  zusammengebogen,  verleimt  oder  ineinandergesteckt  zu  dünnen 
Papphäusern.  Diese  Materialien  lasse  ich  hier  absichtlich  beiseite,  weil  sie 
sozusagen  überdeterminiert  sind;  ein  eigentliches  Bauen  ist  mit  ihnen  nicht 
mehr  möglich,  alles  Bauliche  steckt  schon  in  den  Vorlagen.  Freilich  wären 
bei  älteren  Kindern  Erhebungen  über  Raumphantasie  mit  Hilfe  dieser  Vor- 
lagen möglich,  aber  dann  müßten  diese  anders,  allgemeiner  gehalten  und 
gestaltet  werden,  als  es  bei  den  jetzt  im  Handel  befindlichen  Exemplaren  der 
Fall  ist. 

Außer  der  Art  ist  die  Menge  des  Materials  von  erheblicher  Bedeutung. 
Die  frühen  Kinderjahre  werden  durch  die  Menge  des  Materials  anders  beein- 
flußt als  die  späteren.  Die  Zahl  der  Klötzchen  muß  überschaubar  sein,  sonst 
kommt  es  entweder  zu  keiner  oder  wenigstens  zu  keiner  vollständigen  Aus- 
nutzung des  Materials  in  Bauten.  Die  formlosen  Materialien  Sand,  Schnee 
usw.  beeinträchtigen  dagegen  durch  ihre  Quantität  die  Bautätigkeit  nicht; 
offenbar  weil  das  Kind  weiß,  daß  es  sich  vom  „Haufen"  jeweils  die  Menge 
wegnehmen  kann,  die  es  zu  bewältigen  vermag  oder  deren  es  bei  seiner 
Aufgabe  gerade  bedarf.  Bei  älteren  Kindern,  namentlich  solchen  mit  aus- 
schweifender Phantasie  und  nur  beschränkter  Konstruktionsbegabung  ist 
Knappheit  des  Materials  ein  Hemmnis;  sie  brauchen  die  Sicherheit,  immer 
noch  über  Massen  von  Material  verfügen  zu  können. 

Neben  der  Menge  ist  der  Reicht  um  an  unterschiedenen  Einzelformen 
je  nach  Alters-  und  Begabungsstufe  ein  Hindernis  bezw.  ein  Vorteil.  Man 
kann  am  Material  mit  reichen  Formunterschieden  insbesondere  die  Entwick- 
lung bestimmter  Abstraktionen,  des  methodischen  Denkens  und  Arbeitens 
studieren.  Was  Köhn ')  beim  Kombinieren  ebener  Figuren  aus  gegebenen  Teil- 
stücken ausgezeichnet  und  erschöpfend  festgestellt  hat,  das  läßt  sich  auch 
beim  Bauspiel  beobachten:  die  Kinder  unterscheiden  sich  dadurch  voneinander, 
ob  sie  ihr  Material  (im  Hinblick  auf  einen  bestimmten  „Bau",  den  sie  machen 
wollen,  oder  nur  allgemein  zum  Bauen)  vorher  „sortieren"  oder  nicht,  ob 
das  „Sortieren"  vollständig  oder  unvollständig,  planmäßig  oder  zufällig  erfolgt, 


')  Experimentelle  Beiträge  zum  Problem  der  Intelligenzprüfung,  Leipzig  1913.  Quelle  &Meyer. 


über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern  237 


ob  sie  im  weiteren  Arbeitsverlauf  die  Erleichterungen  und  Hilfen  auszunutzen 
verstehen,  die  sortiertes  Material  ihnen  gewährt  oder  ob  sie  auf  diese  Hilfen 
wieder  verzichten.  Die  Frühstufen  der  baulichen  Leistung,  die  wir  später 
zusammenfassen,  das  richtungslose  und  das  bestimmt  gerichtete  An-  und  Auf- 
setzen der  Klötzchen,  das  Legen  von  Reihen  und  symmetrischen  Ordnungen 
haben  in  der  Sortiertätigkeit  sowie  in  der  Gleichartigkeit  der  sortierten  Stücke 
eine  ihrer  psychologischen  Wurzeln.  Reihungen  und  Ordnungen  sind  oft 
nichts  anderes  als  Entfaltung  der  durch  Sortieren  gefundenen  Gleichheiten 
des  Materials.  Die  „Formlosigkeit"  der  Materialien  Sand,  Schnee  äußert  ihre 
Wirkung  u.  a.  auch  darin,  daß  die  rein  formalen  Vorübungen  für  die  Her- 
stellung von  Baugliedern  und  den  Verband  solcher  keine  nennenswerte  Rolle 
spielen. 

Für  eine  Psychologie  der  Bauspiele  knüpfen  sich  an  die  vorstehend 
skizzierten  objektiven  Eigenschaften  des  Baumaterials  wichtige  Fragen.  Ich 
hebe  als  solche  (für  Mitarbeiter  an  diesen  Problemen  auch  als  Fragestellungen 
ihrer  Beobachtungen  und  Versuche  gedacht)  die  folgenden  hervor: 

1.  Wann,  in  welcher  Reihenfolge,  mit  welchen  Hilfen  erfaßt  das  Kind  nach 
und  nach  die  in  den  Formen  der  Klötzchen  enthaltenen  Hinweise  auf  bauliche 
Verwendung?  Anders  ausgedrückt:  wie  entwickelt  sich  das  Verständnis  für 
die  in  den  Klötzchen  steckende  Funktionsidee  ? 

Zur  Durchführung  von  Versuchen,  welche  sich  speziell  mit  der  Beantwor- 
tung dieser  Fragen  beschäftigen  und  begnügen,  mache  ich  einen  methodischen 
Vorschlag:  man  verwende  bei  dem  gleichen  Kind  an  zwei  verschiedenen,  aber 
nicht  allzu  getrennt  liegenden  Versuchstagen  zwei  verschiedene  Ausführungen 
derselben  Bauklötzchen,  etwa  zwei  Exemplare  des  „Kleinen  Schweden*  *)  oder 
zwei  solche  des  „Münchener  Kindl- Baukastens".  Das  eine  Exemplar  soll  in 
der  Weise  bemalt  und  bezeichnet  sein,  wie  es  bei  den  käufhchen  Exemplaren 
der  Fall  ist;  das  Kind  hat  dann  in  der  roten  Farbe  ein  Hilfsmittel  zur  Er- 
kennung der  Dach  teile,  in  der  weißen  ein  solches  für  die  Mauerteile,  in 
den  aufgemalten  Fenstern  und  Türen  gleichfalls  eindeutige  Hinweise.  Das 
andere  Exemplar  soll  alle  Klötzchen  in  der  Naturfarbe  des  Holzes  aufweisen; 
als  Moment,  das  auf  eine  bestimmte  Verwendung  im  bauUchen  Zusammenhang 
hinweist,  bleibt  dabei  lediglich  die  Form  erhalten.  Man  lasse  jedes  Kind  an 
jedem  Versuchstag  zwei  Aufgaben  lösen:  „Baue,  was  du  willst",  „Baue  diese 
Vorlage  nach."  In  der  Reihenfolge  ist  abzuwechseln,  um  etwaige  Einflüsse 
der  Lage  auszugleichen.  Von  jedem  Kind  würden  wir  insgesamt  acht  Lösungen 
an  vier  Versuchstagen  erhalten.     Beispielsweise: 

1.  Tag.    Es  wird  mit  dem  farblosen  kleinen  Schweden  begonnen  (7  Elemente!) 

1.  Bau  nach  eigenem  Gutdünken. 

2.  Bau  der  nebenstehenden,  in  den  farbigen  Klötzchen  ausgeführten 
Vorlage. 

2.  Tag.    Material:    Farbiger  Münchner  Kindlkasten   (Zahl  der  Elemente  min- 

destens 20). 

1.  Bau  nach  eigenem  Gutdünken. 

2.  Bau  der  nebenstehenden  Vorlage. 

3.  Tag.     Material:  Farbloser  Münchner  Kindlkasten. 


0  Aussehen  und  Verwendung  des  »Kleinen  Schweden"  hat  Otto  Scheibner  in  dieser  Zeit- 
Bchrilt  1916,  Seite  29 1.  beschrieben. 


238  Aloys  Fischer 


1.  Bau  nach  Vorlage. 

2.  Bau  nach  Gutdünken. 

4.  Tag.     Material:  Kleiner  Schwede  in  farbiger  Ausführung. 

1.  Bau  nach  Gutdünken. 

2.  Bau  nach  farbiger  Vorlage. 

Wenn  man  die  Ergebnisse  dieser  Versuche  vergleicht,  so  wird  sich  mit  einer 
gewissen  Leichtigkeit  und  Sicherheit  der  Fortschritt  in  der  Erfassung  des  Bau- 
sinnes der  Materialien  nachweisen  lassen,  insofern  schließhch  nur  die  Form 
als  Stütze  desselben  in  Betracht  kommt. 

2.  Wann  fängt  das  Kind  beim  freien  Bauen  an,  die  in  den  vorgegebenen 
Klötzchen  steckenden  Formbestimmtheiten  und  Hinweise  als  Hindernis  für 
seine  eigenen  Bauabsichten  zu  spüren  und  das  Material  unter  diesem  Gesichts- 
punkt zu  kritisieren  oder  abzuändern? 

Manche  selbstgestellten  Aufgaben  werden  mit  bestimmtem  Material  nicht  oder 
nur  schlecht  lösbar  sein;  es  ist  sicher  anzunehmen,  daß  die  Kinder  allmählich 
hinter  die  Grenzen  des  Materials  imd  die  Erschwerungen  durch  dasselbe 
kommen  und  sich  zur  Verwendung  entweder  formloser  oder  echter  Baumaterialien 
gedrängt  fühlen. 

3.  Mit  welchem  Grade  der  Genauigkeit  und  Sicherheit  vermag  das  Kind 
eine  Vorlage  zu  analysieren  und  die  zu  ihrer  Ausführung  nötigen  Stücke 
aus  dem  Vorrat  der  Klötzchen  herauszusuchen? 

Die  Durchführung  dieses  Versuches  bietet  zwei  Möglichkeiten,  je  nachdem 
man  von  einer  Vorlage  Zeichnung  oder  von  einem  Vorlagebau  ausgeht.  In 
beiden  Fällen  bezeichnet  man  der  Versuchsperson  mit  dem  Finger  eine  be- 
stimmte Einzelheit,  ein  bestimmtes  Stück  und  fordert  es  auf,  dasselbe  aus 
seinen  Klötzen  herauszusuchen;  die  Umkehrung  besteht  darin,  daß  man  ein 
isoliertes  Klötzchen  vor  das  Kind  legt,  und  es  mit  dem  Finger  zeigen  läßt, 
welchem  Stück  der  Vorlagezeichnung  oder  des  Vorlagebaues  dieses  Stückchen 
entspricht.  Je  nach  der  Altersstufe  fordert  man  noch  eine  mündliche  Er- 
läuterung, Begründung,  weshalb  das  Stück  nach  der  Meinung  des  Kindes  an 
diese  Stelle  gehört.  Aus  dieser  erklärenden  Aussage  sind  manchmal  Auf- 
schlüsse zu  entnehmen  über  die  Anhaltspunkte  beim  Vergleich  von  Formen 
und  der  Analyse  von  Ganzen,  auf  die  der  Erwachsene  sich  nur  noch  aus- 
nahmsweise stützt. 

Die  Hauptaufgabe  der  Psychologie  der  Bauspiele  besteht  jedoch  darin,  die 
Entwicklung  der  bauenden  Tätigkeit  selbst  klarzulegen,  und  zwar 
unter  Berücksichtigung  aller  Komponenten,  die  sie  umschheßt:  der  Bauabsicht 
und  der  antizipierenden  Vorstellung  eines  Raumes,  der  durch  das  Bauen  erst 
entstehen  soll  bzw.  des  Mangels  einer  solchen  Absicht  und  der  Surrogate  der 
Zielvorstellung,  der  fortschreitenden  Kenntnis  und  sachgemäßen  Ausnutzung 
der  Materialien  und  ihrer  Unterschiede,  der  etappenw^eisen  Verwirklichung  des 
Bauplanes,  der  Korrekturen  und  Arbeitshilfen,  der  zusammenfassenden  Charak- 
teristik der  von  Kindern  und  Jugendlichen  gestalteten  Räume  in  ihren  „Stil**- 
unterschieden  gegenüber  aller  Raumgestaltung  der  Erwachsenen,  auch  der 
primitiven,  der  Beziehungen  der  Bautätigkeit  zu  allgemeinen  geistigen  Funk- 
tionen, namentlich  zur  Intelligenz  und  zu  Spezialtalenten,  ihres  allmählichen 
Rückganges  bzw\  Überganges  in  beruflich  zugespitzte  Formen  und  Leistungen 
gegen  das  Ende  der  Jugendzeit. 

Die  weiteren  Erhebungen,  die  heute  noch  erforderlich  sind,  lassen  sich  am 


über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern  239 

verständlichsten  im  Anschluß  an  die  vorläufig  erkennbaren  Fortschritte  des 
Bauens  angliedern;  deshalb  mag  zunächst  die  Darstellung  der  Stufen,  wie 
sie  sich  einstweilen  zusammenfassen  lassen,  folgen.  Sie  sind  bisher  nur  am 
Bauen  mit  Klötzchen  festgestellt. 

Das  Bauen  mit  Klötzen  zeigt  eine  deutlich  gegliederte  Entwicklung,  die 
auch  durch  die  Unterschiede  des  Klötzchenmaterials  nicht  verdeckt  werden 
kann.O  Als  erste  Stufe  lassen  sich  die  formalen  Vorübungen  für  das 
Bauen  herausheben.  Es  sind  solche  Tätigkeiten,  durch  die  das  Kind  erst- 
mals die  Herrschaft,  die  Verfügungsgewalt  über  die  Klötzchen  erwirbt,  den 
Baumaterialcharakter  derselben  entdeckt,  dies  innewird,  daß  sie  sich  heben, 
verschieben,  aneinanderreihen,  aufeinanderlegen  lassen.  Innerhalb  dieser  Stufe, 
die  im  allgemeinen  schon  im  Kindergartenalter  verlassen  wird,  bestehen  noch 
große  Unterschiede,  bedingt  sowohl  durch  das  Alter,  wie  insbesondere  den 
Begabungsgrad  der  Kinder.  Zu  ihr  gehört  noch  das  Kind,  das  mit  den  Klötz- 
chen einfach  hantiert,  sie  —  wirklich  oder  scheinbar  ziellos  —  aufhebt,  weglegt, 
hin-  und  herschiebt,  zu  Häufchen  vereinigt,  auseinanderstreut,  dabei  auch 
gelegentlich  allerlei  an  Figuren  und  Bauten  anklingende  Zufallsprodukte  fertig 
bringt  und  diese  nachträghch  deutet,  und  gehört  ebenso  das  Kind,  das  sein 
Klötzchenmaterial  erst  planmäßig  sortiert,  in  Häufchen  gleich  großer,  gleich 
geformter  Elemente  vor  sich  aufschichtet  und  dann  eine  wohlgegliederte  Reihe 
mit  ihnen  legt.  So  groß  die  Abstände  der  Leistung  zwischen  dem  wahllosen 
Haufen  und  einer  streng  gegliederten  Reihe  aus  einer  Folge  von  z.  B.  je  zwei 
kleinen  und  einem  großen  Kötzchen  sind,  beide  Äußerungen  gehören  doch 
noch  insofern  zusammen,  als  sie  vom  eigentlichen  Bauen,  von  der  Um- 
schließung von  Räumen  mit  dem  gegebenen  Material,  nichts  erkennen  lassen. 
Im  Gegenteil,  es  beweist  die  nachträghche  Deutung  solcher  Produkte  (etwa 
als  eines  Eisenbahn zuges  mit  einer  Lokomotive  daran  oder  als  einer 
Person),  daß  dem  hantierenden  Kind  noch  nicht  einmal  der  Charakter  des 
Baumaterials  als  solchen  eindeutig  und  einleuchtend  aufgegangen  ist;  es  legt 
seine  Produkte  nach  Analogie  seiner  zeichnerischen  und  plastischen  Versuche 
als  „Darstellungen"  aus,  mit  einer  manchmal  noch  verständlichen  Ähnlichkeit, 
oft  auch  mit  einer  —  für  den  Erwachsenen  wenigstens  —  vollkommenen 
Unverständlichkeit. 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  dieser  Stufe  mit  der  Kritzelstufe  auf  dem  Ge- 
biet der  zeichnerischen  Entwicklung  oder  Lallstufe  auf  dem  Gebiet  des  Sprach- 
erwerbs ist  unverkennbar.  Auch  die  Kritzeisstufe  dient,  teleologisch  gewendet, 
der  formalen  Vorübung,  dem  Erwerb  der  Handgeschicklichkeit,  der  Herrschaft 
über  Stift  und  Papier,  dem  Erwerb  der  gi'undlegenden  Erfahrung,  daß  man  mit 
Stiften  und  Farben  „zeichnen"  und  „malen*  kann,  sowie  der  allmählichen 
Anbahnung  einer  Darstellungsabsicht.  Die  nachträglichen  Deutungen  des  Ge- 
kritzels sind  in  dieser  Richtung  zu  interpretieren. 

Auch  die  Anfänge  der  plastischen  Gestaltung  lassen  sich  bis  auf  eine  solche 
Stufe  der  Vorübung  zurückverfolgen,  sie  wird  durch  das  Kneten,  Rollen,  Drücken 
der  Formmasse  bezeichnet.  Aber  die  primitiven  Produkte  dieser  Tätigkeit 
enthalten  für  die  kindliche  Auffassung  prägnantere  Hinweise  auf  bestimmte 
Objekte  („Ball,  Wurst,  Wunn,  Schlange")  und  demgemäß  ist  es  bei  der  Deutung 


')  Vergl.  dazu  Walther  Krölzsch:  Beobachtungen  über  die  Entwicklung  des  Kindes  beim  Bauen 
mit  Bausteinen.    Diese  Zeitschrift  1912,  S.  421  f ;  ,.Die  Arbeitsschule"  1912,  S.  188. 


240  Aloys  Fischer 


plastischer  Anfangsleistungen  oft  zweifelhaft,  wie  weit  sich  schon  während 
des  Hantierens  mit  Ton  und  Wachs  die  Vorstellung  von  darstellbaren  Ob- 
jekten geltend  macht  und  die  Stufe  der  Vorübung  in  den  ersten  Versuch  der 
schematischen  Darstellung  fließend  übergeht. 

Auf  die  erste  Stufe  des  Hantierens  mit  Klötzchen  und  der  Entstehung  von 
Bauabsichten  folgt  als  zweite  Stufe   die  Umschließung  von  Flächen 
mit  Ausdeutungen  im  Sinne  der  Grundrißschematen.    Das  Kind  legt 
seine  Klötzchen  z.  B.  in  einer  unregelmäßigen  oder  regelmäßigen,   in   sich 
zurückkehrenden  Linie  derartig  an,  daß  von  ihnen  wie  von  einer  Mauer, 
einem  Zaun,  eine  Binnenfläche  umschlossen  wird.     Diese  Binnenfläche  wird 
als  „Stube",  als  „Haus",  als  „Stall",  „Garten",  gelegenthch  auch  als  „Platz* 
und  „Straße"  bezeichnet.     Wesentlich  an  dieser  Stufe  ist  dreierlei:   daß  ein 
Umschließen  von  Flächen  stattfindet,  daß  diese  Umschließung  nur  horizontal, 
in  der  Ebene  erfolgt,   im  Grundriß,  und  daß  es,  wenn  vielleicht  zum  Auf- 
bauen,  doch  niemals   zum  Überbauen  kommt.     Selbstverständlich  umfaßt 
auch  diese  Stufe  wieder  die  größten  Unterschiede  der  Begabung  und  des 
Reichtums  an  Sonderbildungen;   das  Kind,  das  gerade  noch  einen  ungefähr 
rechteckigen  Grundriß  zu  umschließen  vermag  und  ihn  als  Stab  deutet,  steht 
ebenso  auf  der  Grundrißstufe  wie  dasjenige,  welches  den  Plan  einer  ganzen 
Straße  mit  seinen  Steinen  legt   und  innerhalb  des   Grundrisses  der  Häuser 
auch  die  der  Zimmer  abteilt,  vielleicht  sogar  einzelne  Einbauten  noch  markiert. 
Über  die  umschlossene,  gegliederte  Fläche,  die  als  Grundriß,  als  Fußboden- 
ebene  eines  Baues  phantasierend  gedeutet  wird,    unter  mehr  oder  minder 
sicherer  Imagination  der  Seitenwände,  der  Deckenabschlüsse,  vielleicht  auch 
ohne  jedes  Bewußtsein  der  fehlenden  Stücke,  gelangt  das  Kind  auf  die  dritte 
Stufe  hinaus,   die  als  Stufe  des  Aufbaues  und   allseitigen  Raumab- 
schlusses bezeichnet  werden  kann  und  durch  das  immer  glücklichere 
Streben  nach  dem  Einzelhaus  beherrscht  wird.    Die  Erkennung  dieser 
Stufe  kann  durch  das  Material  erschwert  werden;   eine  zu  geringe  Anzahl 
von  Elementen,  die  außerdem  noch  so  geformt  sind,  daß  sie  sich  nur  zu  einem 
massiven  Block  zusammensetzen  lassen  (wie  es  beim  „Kleinen  Schweden"  und 
bei  Münchner  Kindl-Baukasten  der  Fall  ist)  erlauben  uns  nur,  den  Fortschritt 
im  Auf  bauen,  Aufsetzen  und  Überbauen  zu  verfolgen.   Stellt  man  dagegen 
dem  Kind  viele  Elemente  zur  Verfügung,   so  zeigt  es  sich  deutlich,    daß  es 
vom  Grundriß  zunächst  zum  Maueraufbau  sich  wendet,  dann  durch  Verbindung 
von  zwei  oder  drei  Mauern  zum  Bau  von  Ecken,  halboffenen  Häusern,  allmäh- 
lich  zum  geschlossenen   Haus,  d.  h.    zum   vierseitigen,    aufragenden,  über- 
dachten, aber  eines  hohlen  Inneren  entbehrenden  Hausblock;  und  nur  sehr 
allmählich  gelingt  den  immer  geschickteren  Fingern  die  Umschließung  und 
Überdachung  eines  Innenraumes.   Aber  oft  genug  ist  der  Versuch,  die  oberen 
horizontalen  Abschlüsse  aufzusetzen,  die  Ursache  des  Einsturzes,  wenigstens 
der  Winkelverschiebung  der  senkrechten  Träger.    Der  so  umschlossene  Innen- 
raum ist  selbst  nicht  weiter  abgeteilt,  weder  in  „Zimmer"  noch  viel  weniger 
in  „Stockwerke";  er  entspricht  dem  ursprünglichen  Gesamtraum  der  Block- 
häuser, der  Eß-,  Wohn-,  Schlafzimmer  und  Küche  zugleich  ist. 

Die  nächste  vierte  Stufe  erfolgt  nun  nicht  etwa  in  der  Richtung  auf  die 
Ausgestaltung  des  Innenraumes,  sondern  kann  bezeichnet  werden  als  der 
Fortschritt  zur  Häusergruppe,  bzw.  zum  Dorf-  und  Städtebau.  In 
gewissem  Sinn  ist  diese  Stufe  eine  Synthese  der  zweiten  und  dritten.    Kann 


über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern  241 

das  Kind  einmal  einzelne  Bauten  herstellen,  so  hindert  nichts,  daß  diese  als 
Einheiten  gefaßt  in  ähnlicher  Weise  in  Grundrißstellungen  angeordnet  werden, 
wie  es  auf  der  zweiten  Stufe  die  einzelnen  Bausteine  wurden.  Und  auf  die 
Form  dieser  Aufstellung  ganzer  Häuser  hat  natürlich  die  Erinnerung  an  Straße, 
Platz,  Dorf  ebenso  fühlbar  Einfluß  wie  die  Tendenz  zu  einfacher  Reihung, 
symmetrischer  Gruppierung  und  verwandten  geometrischen  Figuren.  Wenn 
0.  Scheibner  1)  beobachtet,  daß  die  Schulneulinge  gerade  noch  bis  zur  Gruppe 
in  ihrer  Bauleistung  kommen  (bei  5  von  59  sechsjährigen  Mädchen  wurden 
solche  festgestellt),  so  möchte  ich  zu  diesem  Befund  bemerken,  daß  er  nicht 
bloß  durch  die  geringe  Anzahl  der  verwendeten  Bausteine,  sondern  zweifellos 
auch  durch  das  Geschlecht  mit  bedingt  ist;  nach  meinen  Erhebungen  im 
Kindergarten  und  in  vielen  Familien  geht  der  begabte  Knabe  durchschnittlich 
mit  dem  5.  Lebensjahr  zur  Anlage  von  Gruppen  über,  ja  oft  ist  die  Häuser- 
gruppe zu  beobachten,  ehe  die  Herstellung  des  Einzelhauses  (im  Sinne  eines 
vollständig  umschlossenen  Innenraumes)  gut  gelingt.  Sicher  dagegen  ist  auch 
noch  Scheibners  Beobachtung,  daß  die  Höhe  der  Begabung  für  die  Anlage 
von  Baugruppen  maßgebend  ist. 

Über  die  geschilderten  Stufen  kommt  das  vorschulpflichtige  Kind  beim  Bauen 
mit  Klötzchen  überhaupt  nicht  hinaus.  Im  Schulalter,  und  zweifellos  untei- 
dem  Einfluß  des  Unterrichts,  wird  bei  einer  größeren  Zahl,  die  noch  spontan 
sich  mit  Bauspielen  beschäftigt,  eine  fünfte  Stufe  erreicht:  der  Ausbau 
des  Innenraumes,  wenigstens  die  Abteilung  in  Zimmer.  Die  Ansätze 
dazu,  die  Einteilung  des  Grundrisses,  haben  wir  auf  der  zweiten  Stufe  kennen 
gelernt.  Aber  das  Problem  der  Überdeckung  von  Räumen  mit  starren  Bau- 
gliedern ist  so  schwierig,  daß  diese  Anfänge  zunächst  keine  Fortsetzung  er- 
fahren. Es  vollzieht  sich  viehnehr  die  Entwicklung  des  Hausbaues  einerseits, 
der  Einrichtung  und  Ausgestaltung  von  Zimmern  andererseits  getrennt.  Die 
Kinder  spüren  die  darin  steckenden  Probleme  sehr  wohl.  In  Puppenzimmem, 
Puppenküchen,  Werkstätten  wird  die  Ausgestaltung  der  Innenräume  selbst- 
ständig fortgeführt,  aber  diese  Einrichtungen  sind  räumlich  offen;  es  fehlen 
Decke  und  Vorderwand,  oder  wenigstens  eines  von  beiden.  Auf  der  im  Schul- 
alter erreichten  Baustufe  kommt  es  nun  zu  Zimmern,  meist  zu  vereinfacht 
eingerichteten  Zimmern  im  Haus,  in  vereinzelten  Fällen,  bei  genügend  reichem 
und  geeignetem  Baumaterial,  auch  zur  Stockwerkausgestaltung.  Die  Nieder- 
schläge  des   heimatkundlichen  Unterrichts   sind  dabei  deutlich  zu  erkennen. 

Bei  der  vorstehenden  Stufenbildung  des  Bauens  mit  Klötzchen  ist  als  leitendes 
Merkmal  die  fort  sehr  eilende  Fähigkeit,  ganze  Räume  zu  umschließen, 
verwendet  worden.  Ich  muß  nun  hervorheben,  daß  wir  zu  einer  etwas  anderen 
Stufung  der  Bautätigkeit  kommen,  wenn  wir  die  Durchbildung  der  ein- 
zelnen Bauglieder  in  Betracht  ziehen.  Beobachtungen  dazu  sind  freilich 
ruir  an  farblosem  Material  möglich.  Da  läßt  sich  im  allgemeinen  feststellen, 
daß  anfangs  Wandteile  und  Dachteile,  Säulen  und  Blöcke  ruhig  gemischt,  durch- 
einander verwendet  werden,  wenn  sie  nur  aufeinander  stehen  bleiben;  all- 
mählich dienen  die  auffälligen  Formen  nicht  mehr  zur  Aufrichtung  der  Wände, 
sondern  zum  Abschluß  derselben,  zu  Vorbauten,  zu  Verzierungen,  und  schließ- 
lich erreicht  das  Kind  eine  sachgemäße  Disposition  über  das  Baumaterial, 
die  jeden  Baustein   form-   und   funktionsgemäß   verwertet.     Freilich  sind  es 


')  0.  Scheibner,  Mitteilungen  über  das.kindliche  Bauen  mit  Klötzchen.  Diese  Zeitschr.  1916.  S.  28. 
Zeitsehrift  f.  pädagog.  Psychologie  16 


242  Aioys  Fi.srjifr 

nach  meinen  Beobachtungen  nur  noch  wenige,  die  am  Bauspiel  bis  zu  dieser 
Reife  festhalten,  \md  diese  wenigen  stehen  meistens  unter  dem  Einfluß  häus- 
licher Anregungen  und  Hilfen. 

Die  Stufen  der  Bautätigkeit  mit  formlosem  Material  weichen  von  den  bis- 
her betrachteten  erheblich  ab.  Eine  den  formalen  Vorübungen  entsprechende 
Stufe  läßtsich  nicht  feststellen.  Das  Wühlen,  Graben,  Scharren  inSand  und  Schnee 
ist  ein,  meist  mit  phantasievollen  Auslegungen  unterfüttertes  Spiel  eigener  Art; 
es  bildet  einen  Teil  bestimmter  Roflenspiele;  „Huhn",  „Gärtner",  „Bauer"  sind 
einige  der  Rollen,  die  sich  bei  den  ersten  Sandspielen  zu  entwickeln  pflegen. 
Als  erste  Stufe,  die  deutlich  den  Charakter  von  Bauspielen  aufweist,  muß 
das  Graben  von  Höhlen  bezeichnet  werden.  Die  Kinder  wühlen  Löcher  in 
den  Sandhaufen,  verstecken  Spielsachen,  namentlich  Puppen  und  Tierfiguren, 
darin,  und  begleiten  diese  Tätigkeit  mit  Reden,  aus  denen  die  Auffassung  solcher 
Höhlen  als  „Haus",  „Stall"  unzweideutig  hervorgeht.  Wie  ersichtlich,  wird 
die  Stufe  des  vollständig  umschlossenen  Raumes  beim  Bauen  mit  formlosem 
Material  sehr  früh  erreicht;  sie  ist  die  erste,  früheste,  weil  durchaus  material- 
geraäße  Gestalhmg. 

Als  zweite  Stufe,  deren  Anfänge  tibrigens  gleichzeitig  mit  dem  Graben 
von  Höhlen  beobachtet  werden,  hebt  sich  die  Umschließung  von  Grund- 
rissen mit  Mauern  (Sandmauern,  Schneemauern)  heraus.  Nur  vereinzelt 
baut  das  Kind  eine  „Mauer"  allein;  in  der  Regel  werden  gleich  annähernd 
(luadratische,  rechteckige,  runde,  ovale,  später  auch  unregelmäßige  und  aus- 
gedehntere Grundrisse  ummauert,  d.  h.  Sand  oder  Schnee  werden  mit  den 
Händen  zu  kleinen  Wällen  aufgeschichtet  und  zusammengeklatscht,  mitmeistens 
dreieckigem  Querschnitt;  bei  Materialien,  die  in  feuchtem  Zustand  geformt 
werden  und  nachher  verhärten,  wird  auch  die  F'orm  der  unverjüngten  Mauer 
eingehalten.  Die  Mauern  erfahren,  je  nach  Altersstufe  und  Hilfsmaterial,  reiche 
Ausgestaltung  durch  eingebrochene  Türen  und  Fenster,  durch  ausgezackte 
Zinnen  und  Gesimse,  hier  und  da  auch  durch  Sockelstreifen;  sie  werden  mit 
kleinen  Kieseln,  mit  Holzstückchen,  Erbsen,  Obstkernen,  Glasperlen,  Staniol- 
plättchen  verziert,  mindestens  in  einfacher  Reihung  solcher  Zierate  mit  be- 
stimmten Abständen,  häufig  mit  hübschen  Mustern,  die  daraus  gebildet  werden. 

Eine  dritte  Stufe  ist  erreicht  mit  dem  Fortschritt  zu  unterabteilender 
Gliederung  der  Grundrisse,  mit  der  Anlage  von  ganzen  Dörfern  imd 
Städten,  die  durch  Wege  geteilt,  von  „Baumgruppen"  belebt,  von  „Wäldern" 
umgeben  sind.  Der  Fortschritt  führt  nicht  bloß  zur  Vermehrung  und  Ver- 
bindung von  umschlossenen  Grundrissen,  sondern  auch  zur  Verwendung  von 
Hilfsmaterialien,  Stäbchen,  Tannenzweigen  usw.,  die,  in  Sandhäufchen  gesteckt, 
bald  eine  „Anlage"  in  der  Stadt,  bald  ein  „Wald"  in  ihrer  Nähe  sind;  ins- 
besondere ist  aber  für  diese  Stufe  der  Wegbau  charakteristisch ;  vielverschlungen 
laufen  die  Furchen  und  Rinnen,  die  zu  Wegen  erhoben  sind,  durch  das  ganze 
Sandfeld,  und  oft  gibt  es  auf  dieser  Stufe  mehr  Wege  als  Bauten,  die  durch 
sie  sowohl  verbunden  als  getrennt  werden. 

Die  letzte  Stufe  des  Bauens  führt  auch  hier  über  die  Grenzen  des  Materials 
hinaus;  sie  wird  erreicht  mit  der  Überwölbung  des  Raumes,  mit  dem 
geschlossenen  Bausystem;  aber  um  dies  zu  ermöghchen,  sieht  sich  das 
Kind  genötigt,  Muscheln,  Steine  und  Stöcke  zu  Hilfe  zu  nehmen,  oder  den 
Sand  wenigstens  vorübergehend  zu  nässen.  Alle  diese  Momente  zusammen 
nähern  den  Bau  schon  den  Zweckbauten  an,  die  sich  auf  der  Mittelshife  der 


über  das  Bauen  und  die  Baiitspiele  von  lvind«n'n  243 


Schule  einstellen  und  ohne  aufzuhören,  Bauspiele  xu  sein,  doch  eine  giun<i- 
sätzlich  andere  Orientierung  des  Kindes  miterkennen  lassen. 

Überblickt  man  nämlich  die  Äußerungen  des  Bautriebes  im  Ganzen, 
so  lassen  sich  auch  dabei  gewisse  Stufen  erkennen,  die  vom  vollendeten  dritten 
Lebensjahr  bis  in  die  späte  Jünglingszeit  hinein  reichen,  freilich  mit  abnehmen- 
der Allgemeinheit  des  V^orkommens. 

Als  erste  Stufe  läßt  sich  das  zufällige  Bauen,  das  spielende  Hantieren  mit 
Baumaterialien,  das  zufällige  Gestalten  und  nachträgliche  Deuten  der  Ergeb- 
nisse hervorheben.  Die  zweite  Stufe  ist  charakterisiert  durch  das  „Bauen- 
wollen" und  die  Wirksamkeit  einer  mehr  oder  minder  deutlichen  Zielvorstel- 
lung, die  durch  die  Bautätigkeit  realisiert  werden  soll.  Diese  Vorstellung  eines 
Zieles  kann  frei  vom  Kind  konzipiert  sein,  aus  einer  Vorlage  stammen,  durch 
die  Spielsituation  nahegelegt  sein;  es  ist  auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  sie 
im  Verlauf  der  bauenden  Tätigkeit  sich  verschiebt,  ja  verschwindet  und  das« 
schließliche  Resultat  nichts  mehr  mit  dem  anfänglich  Gewollten  gemein  hat. 
Eine  dritte  Stufe  ist  als  planmäßige  Lösung  von  Bauaufgaben  zu  be- 
zeichnen und  tritt  schon  in  mehr  oder  minder  deuthche  Beziehung  zu  Lebens- 
interessen des  Kindes.  Die  vierte  Stufe  stellt  endlich  das  Bauen  im  Dienst 
einer  praktischen  Zweckidee  dar.  Die  Materialien  werden  dabei  in 
steigendem  Maß  vergrößert,  die  Technik  jener  der  Erwachsenen,  der  Hand- 
werkstradition angenähert.  Die  Herstellung  des  Zweckbaues  steht,  der  inneren 
Erlebnisform  nach,  an  der  Grenze  zwischen  Spiel  und  „Ernst*'betätigung;  das 
Produkt  kann  tatsächlich  benutzt  werden  und  hat  eine  über  das  Spiel  hinaus- 
reichende Dauer. 

Wenn  Wehrkraftjungen,  z.  B.  bei  einer  Übung  im  Gelände,  Laubhütten  und 
Unterstände  bauen,  so  entspringt  ihr  Tun,  obgleich  es  im  weiten  Sinn  nocli 
Spiel  bleibt  und  den  Selbstausbildungszweck  aller  Spieltätigkeit  teilt,  doch 
einer  völlig  anderen  Einstellung,  als  sie  bei  dem  mit  Klötzchen  bauenden  Kind 
vorliegt.  Es  ist  nicht  nur  die  Vorstellung  eines  zu  schaffenden  Baues  für  die 
Einzelheiten  ihrer  Arbeit  wegeweisend,  nicht  nur  ein  Bauwille  spürbar;  das 
ganze  psychische  Getriebe  wird  durch  einen  realen  Zweck  in  Bewegung  ge- 
setzt; die  Laubhütte  soll  wirklich  Unterschlupf  geben,  Verdeckung  gegen  feind- 
liche Sicht,  dabei  so  angelegt  sein,  daß  Überblick  über  das  Vorgelände  möglich 
ist  usw.  Es  ist  ein  ziemlich  verwickelter,  in  der  Instruktionsstunde  vorher 
durchgesprochener  und  zergliederter  Funktionszusammenhang,  der  durch  den 
Bau  verwirkHcht  werden  soll:  die  ganze  Arbeit  steht  unter  der  fortwährenden 
Kontrolle  durch  den  Zweck,  dem  ihr  Ergebnis  zu  dienen  hat.  Und  wenn  die 
Übung  beendet  ist,  mag  die  Hütte,  der  Unterstand  fortbestehen,  bis  Wind 
und  Wetter  oder  Menschenhände  sie  wieder  zerstören;  solange  diese  Spiel- 
bauten aber  Bestand  haben,  können  sie  verwandten  Zwecken  auch  anderer 
Menschen  als  ihrer  Erbauer  dienstbar  sein  oder  dienstbar  werden. 

Wir  haben  bisher  das  Bauen  und  Bauspiel  als  eine  allgemeine  Kinderleistung 
ins  Auge  gefaßt;  irgendwie  und  irgendwann  treffen  wir  Spuren  davon  in  jeder 
Entwicklung.  Es  hat  uns  als  beherrschende  Frage  die  innere  Stufenfolge  in 
der  Entfaltung  des  Bauspiels  interessiert,  ihr  Zusammenhang  mit  Alter  und 
allgemeiner  Begabung.  Diesem  Weg  von  unten  auf  begegnet  ein  solcher 
von  oben  her.  Wenn  wir  vom  erwachsenen  Menschen  ausgehen,  so  ist  nichts 
gewisser,  als  daß  Bauen  und  Bautätigkeit  nur  von  einer  kleinen  Zahl  sowohl 
spezifisch   begabter    wie  ausdrücklich   voi-gebildeter   Menschen   ausgeübt  zu 

IG* 


244  Aloys  Fischer 


werden  pflegt.  Wir  lassen  dabei  freilich  zwei  große  Erfahrungstatsachen  außer 
Betracht:  den  architektonischen  Dilettantismus  und  die  rudimentär  gebliebenen 
oder  wieder  verkümmerten  Anlagen  all  der  Erwachsenen,  die  nicht  Architekten 
von  Beruf  geworden  sind.  Man  muß  sich  bewußt  sein,  daß  die  Berufsübung 
als  Baukünstler  nicht  notwendig  ein  Kriterium  entsprechender  Begabung  ist, 
und  umgekehrt,  daß  architektonische  Talente  sehr  wohl  in  Menschen  vor- 
handen, sogar  wirksam  sein  können,  die  nicht  Häuser  bauen,  sondern  z.  B. 
Prozesse  führen  oder  biologische  Forschung  treiben.  Allein  diese  sehr  schwierigen 
Fragen  mögen  hier  auf  sich  beruhen.  Wir  nehmen  an,  daß  im  Großen  und 
Ganzen  die  Lebensleistung  des  Erwachsenen  aus  seiner  Begabung  hervorblüht; 
wir  nehmen  weiter  an,  daß  auch  die  Architektur  und  Tektonik  spezifische 
Begabungen  erfordern.  Vom  Boden  dieser  Annahme  aus  ergibt  sich  dann 
die  interessante  Frage  nach  den  Frühformen  baukünstlerischer  Tätigkeit, 
nach  den  ersten  Proben  des  Talentes,  nach  den  Vorläufern  und  Ankündigern 
eines  solchen.  Bei  der  Verfolgung  dieser  Frage  treffen  wir  zweifellos  wieder 
auf  das  Bauspiel  jetzt  nicht  mehr  als  eine  generellpsychologische,  sondern 
als  eine  differential psychologische  Frage.  Soweit  uns  die  Jugend-  und 
Ausbildungszeit  großer  Architekten  zugänglich  ist,  wissen  wir,  daß  nicht  nur 
die  Zeichnung  von  Bauten,  sondern  auch  das  Modellieren  und  Konstruieren 
solcher  eine  mehr  oder  minder  bedeutende  Rolle  darin  gespielt  hat;  wenn  wir 
den  Weg  der  Architekten  heute  verfolgen,  durch  die  höhere  Schule,  Hochschule, 
die  Bauämter  und  Bauunternehmungen  hindurch,  können  wir  uns  gleichfalls 
von  dem  Wert  der  Bauspiele  überzeugen.  Freilich  muß  bei  der  reiferen  Jugend, 
wie  sie  die  akademische  Stufe  darstellt,  das  Spielen  etwas  anders  verstanden 
werden:  die  zweckfreie  Imagination  von  Räumen  und  ihre  Gestaltung  im 
Modell,  aus  keinem  anderen  Grunde  als  dem,  eine  aufsteigende  Idee  so  weit 
sichtbar  zu  machen,  daß  über  ihren  künstlerischen  Wert  und'  ihre  Ausführbar- 
keit ein  Urteil  möglich,  gehört  noch  zu  den  Äußerungen  des  Spieltriebs.  Auf 
der  anderen  Seite  sind  die  Einschläge  von  „Ernst"  in  solchen  Arbeiten  unver- 
kennbar: die  gestellte  Aufgabe  selbst  ist  ein  Ernstfaktor,  die  Dynamik,  die 
sie  über  das  Spiel  der  Einfälle  ausübt,  die  selektorische  Wirkung  desgleichen, 
statische  Kenntnisse  und  baugeschichtliche  Erfahrungen,  die  auch  beim  spie- 
lenden Bauen  nicht  vergessen  werden  dürfen,  ein  dritter. 

Wenn  es  einmal  gelungen  sein  wird,  für  alle  Stufen  des  Bautriebs  die 
nötigen  Einsichten  zu  formulieren,  dann  ist  der  Zeitpunkt  da,  aus  den  jeweils 
früheren  Studien  seiner  Entwicklung  bei  einem  konkreten  Individuum  auf 
den  notwendigen  Fortgang  zu  schließen,  dann  wird  es  möglich  sein,  aus  Probe- 
leistungen über  die  Größe  und  Entwicklungsfähigkeit  einer  baukünstlerischen 
Anlage  mit  mehr  als  mutmaßender  Sicherheit  zu  urteilen  und  die  Ergebnisse 
der  Forschung  für  die  praktische  Aufgabe  der  Berufsberatung  nutzbar  zu 
machen.  Freilich  muß,  wie  bei  allen  Anwendungen  der  Psychologie,  offen 
gelassen  werden:  daß  kein  Mensch  verpflichtet  ist,  das  zu  werden,  wozu 
die  natürliche  Begabung  ihm  die  besten  Voraussetzungen  böte,  daß  Beruf  und 
Schicksal  des  Menschen,  Ziele  freier  EntschUeßung,  sehr  häufig  in  anderer 
Richtung  gesucht  werden,  als  die  ist,  in  welche  vollendete  Selbsterkenntnis 
weist  oder  weisen  müßte.  Es  ist  a  u  c  h  ein  Menschenrecht,  mit  dem,  was  man 
wirklich  ist,  hat  und  kann,  nicht  zufrieden  zu  sein  und  im  Leben  zu  versuchen, 
ob  man  nicht  anderes  auch  zu  erringen  vermag.  Eine  Seite  unserer  Frei- 
heit besteht  auch  im  Verzicht  auf  unsere  Vorzüge  und  Stärken,  sei  es,  weil 


über  das  Bauen  und  die  Bauspiele  von  Kindern  245 


wir  sie  nicht  genau  kennen  oder  weil  wir  uns  den  Verpflichtungen,  die  sie 
auferlegen,  entziehen  wollen  oder  weil  wir  uns  hier  im  Vergleich  mit  anderen 
Persönlichkeiten  nicht  hoch  genug  werten  und  unserem  sozusagen  leeren 
Wollen  Schöpferkraft  zutrauen,  die  Fähigkeit,  aus  nichts  etwas  zu  machen. 
Das  Ergebnis  einer  Testdiagnose  zwingt  den  Menschen  nicht,  das  zu  werden, 
was  er  werden  kann;  es  verhindert  auch  nicht  den  Versuch,  etwas  anderes 
werden  zu  wollen;  sie  ist  nichts  als  ein  Hilfsmittel  für  den,  der  im  Prinzip 
entschlossen  ist,  das  zu  werden,  was  im  Rahmen  und  Bereich  seiner  Begabungen 
und  Interessen  liegt,  der  sich  nur  über  diese  selbst  nicht  klar  zu  werden 
vermag.  Es  wird  sicher  einmal  möglich  sein,  wie  für  alle  Spezialtaiente  und 
allgemeinen  Funktionen  des  Geistes,  so  auch  für  die  baukünstlerischen  An- 
lagen eine  Reihe  von  Symptomen  festzustellen,  bei  deren  successiver,  im 
Lauf  der  Kindheit  und  Jugend  eintretender  Gegebenheit  die  Lebenswahl  eines 
Architekten  wenigstens  in  dem  Punkt  nicht  verfehlt  ist,  der  in  der  persön- 
lichen Eignung  und  Leistungsfähigkeit  besteht.  Ein  Gesetz  aber,  daß  dem 
für  einen  Beruf  Geeigneten  und  Leistungsfähigen  materiellen  und 
moralischen  Erfolg  garantiert,  die  Anerkennung  der  Zeitgenossen  und 
Nachwelt,  die  persönHche,  dauernde  Zufriedenheit  mit  dem  gewählten  Beruf 
und  Wirkungskreis,  ein  solches  Gesetz  gibt  es  nicht.  Es  ist  keineswegs  aus- 
geschlossen, daß  man  auch  in  einem  Beruf,  für  den  man  geradezu  geboren 
ist  und  den  man  mit  heller  Einsicht  in  die  persönliche  Eignung  ergriffen  hat, 
nicht  die  Anerkennung  der  Zeitgenossen  und  Gleichstrebenden  findet,  wirt- 
schaftlich Schiffbruch  leidet,  infolge  der  Misere  und  Erfolglosigkeit  und  trotz 
aller  Selbstgewißheit  seiner  Begabung  und  Leistung  zu  nörglerischer  Unruhe 
und  Glücklosigkeit  getrieben  wird  und  so  innerlich  zugrunde  geht.  Ich  hebe 
diese  Möglichkeit  deshalb  hervor,  weil  sie  deutlich  zeigt,  daß  persönliche  Be- 
gabung und  Eignung  allein  das  Lebensglück  im  Beruf  nicht  zu  stabihsieren 
vermögen  und  daß  deshalb  sehr  wohl  auch  andere  Faktoren  bei  der  Berufs- 
wahl eine  Rolle  spielen  dürfen.  Trotzdem:  für  den  Durchschnitt  der  Menschen 
wird  die  Quelle  des  Lebensmißerfolges  häufiger  sein,  die  aus  der  Unkenntnis 
der  persönlichen  Leistungsart  und  Leistungsfähigkeit  fließt,  und  deshalb  mag 
für  die  durchschnittliche  Ordnung  menschlicher  Dinge  das  Streben  nach  recht- 
zeitiger Selbsterkenntnis  ein  wertvolles  und  berechtigtes  bleiben.  Unsere 
ganze  psychologische  Forschung  muß  sich  deshalb  auf  die  Anwendung  zu- 
spitzen, d.  h.  auf  Ergebnisse  und  Reihen,  die  wir  für  die  Prüfung  einer  erst 
noch  werdenden  Persönlichkeit  fruchtbar  zu  machen  berechtigt  sind.  Bei 
Talenten,  zu  denen  auch  das  des  Baukünstlers  gehört,  ist  der  Versuch  sicher 
aussichtsreich,  wenn  ihn  nur  genügend  viele,  sachlich  Vorgebildete  und  wissen- 
schaftlich Besonnene  in  Angriff  nehmen. 

Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hans  Rupp. 
(Fortsetzung.) 

VI.  Grappe:  Motorische  Leistungen. 

Wenn  wir  eine  Bewegung  ausführen  oder  unsere  Glieder  aktiv  in  einer  be- 
stimmten Lage  erhalten,  so  entstehen  als  Folge  davon  eine  Reibe  von  Empfin- 
dungen, die  uns  die  Kenntnis  der  Lage  mid  Bewegung  vermitteln.  Ihre  Tiei- 
stungen  sind  in  der  vorigen  Gruppe  besprochen  worden. 


246  Hans  Rupp 

Von  diesem  sensorischen  Vorgang  ist  der  motorische  Vorgang,  das  Halten 
und  Bewegen  selbst,  wohl  zu  scheiden.  Der  sensorische  geht  von  den  Sinnes- 
organen, die  den  äußeren  Reiz  empfangen,  nach  innen  zum  Gehirn.  Beim  moto- 
rischen wird  im  Gehirn  oder  Rückenmark  ein  Reiz  erzeugt,  der  nach  außen 
wirkt  und  die  Muskeln  in  Tätigkeit  versetzt. 

Auf  dem  motorischen  Vorgange  beruhen  alle  imsere  äußeren  Handlungen, 
imser  äußeres  Gebaren  und  vor  allem  unsere  technischen  Fertigkeiten,  vom 
Sprechen  und  vom  Gehen,  wie  es  das  Kind  schon  im  ersten  Jahre  lernt,  bis  zu 
den  Kunstfertigkeiten  und  Sportleistungen  der  Erwachsenen. 

Die  experimentelle  Pädagogik  hat  hier  ein  weites,  fruchtbares  Feld.*)  Man 
kann  die  Aufgab3n  in  zwei  Gruppen  trennen: 

A.  Die  eine  Gruppe  untersucht  die  motorische  Leistungsfähigkeit  im 
allgemeinen.  Welcher  Schüler  ist  motorisch  begabter,  welche  weniger  begabt? 
Was  leisten  Knaben,  was  Mädchen?  Wie  steigt  die  Leistung  mit  dem  Alter 
(z.  B.  Einfluß  der  Pubertät)?  Welchen  Einfluß  haben  Krankheiten,  Alkohol, 
welchen  Ferien,  Stadt-  und  Landleben?  Usf.  Ferner:  Was  leisten  verschiedene 
Glieder,  z.  B.  verschiedene  Finger,  die  rechte  \md  die  linke  Hand,  der  Arm? 
Welche  Bewegungen  sind  von  Natur  begünstigt,  welche  weniger  leistimgs- 
fähig?  Ferner  ist  die  Übung  und  das  Lernen  zu  studieren:  Wie  erreichen  wir 
die  besten  Fortschritte?  Gibt  es  ähnliche  Gesetze  wie  beim  Lernen  geistigen 
Stoffes  (vgl.  Gruppe  VII)? 

In  den  motorischen  Leistungen  äußern  sich  auch  psychische  Eigenschaften: 
Stärke  der  Konzentration,  Ausdauer  des  Willens,  ja  auch  Intelligenz;  man 
hat  vielfach  die  körperlich  Leistungsfähigeren  als  intelligenter  befunden.  Welchen 
Einfluß  üban  umgekehrt  motorische  Übungen  auf  psychische  Eigenschaft-en, 
auf  Willen,  Selbstbewußtsein,  Sicherheit,  Mut  usf.? 

Um  diese  Fragen  entscheiden  zu  können,  suchen  wir,  ähnlich  wie  bei  den 
sensorischen  Vorgängen,  die  einzelnen  Teile  oder  Seiten  der  motorischen 
Fähigkeit  sorgfältig  zu  trennen.  Und  wir  suchen  zweitens  nach  Methoden, 
nach  geeigneten  motorischen  Leistungen,  durch  die  wir  die  einzelnen  Teile  oder 
Seiten  möglich  getrennt  prüfen  können. 

Handelt  es  sich  nicht  um  eine  einmalige  Untersuchung  (etwa  über  Einfluß 
des  Alters  oder  gewisser  Turnübungen),  sondern  um  die  immer  wiederkehrende 
Beurteilung  eines  einzelnen  Schülers,  so  müssen  Diirchschnittsleistmigen  von 
Schülern  dieses  Alters  bekannt  sein,  imd  es  muß  die  Prüfungsmethode  genau 
dieselbe  sein  wie  diejenige,  für  die  das  Durchschnittsmaß  bestimmt  worden  ist. 
Man  muß  sich  also,  wie  auch  auf  den  anderen  Gebieten,  für  Normaltests 
einigen.  Dasselbe  ist  nötig,  wenn  Untersuchungen  in  Städten  und  auf  dem 
Lande,  in  verschiedenen  Ländern  usw.  vergleichbar  sein  sollen.  Über  geeignet« 
Normaltests  vergleiche  man  z.  B.  Whipple,  Manual  of  mental  and  physical  Tests, 
1910. 

Neben  der  Prüfung  der  motorischen  Fähigkeit  durch  bestimmte  Methoden 
beobachtet   man    auch  da?  allgemeine  Gebaren,  endlich  das  allgemeine  Ver- 


*)  Das  Hauptinteresse  dürfte  sich  auf  die  willkürlichen  Bewegungen  vereinigen. 
Die  Untersuchung  der  unwillkürlichen  Bewegungen  (wie  Atmung,  Verdauungs- 
bewegungen) fällt  wohl  ganz  in  das  Gebiet  des  Schularztes.  Umgekehrt  hat  aber  der 
Arzt  Interesse  an  den  lüer  erwähnten  Untersuchungen, 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  247 

halten  bei  speziellen  Fähigkeiten:  Sind  die  Bewegungen  des  Einzelnen  im  all- 
gemeinen lebhaft,  gewandt,  leicht,  träge,  ungeschickt,  zappelig;  stellt  er  sich 
b^i  Fertigkeiten  geschickt,  toUpatschig ;  ist  er  zaghaft,  bedächtig  oder  schneidig, 
tollkühn  usw.?  Hierbei  besteht  die  Aufgabe,  eine  genaue  Richtschnur  für  die 
Beobachtungen  zu  geben,  damit  klare  Beschreibungen  geliefert  werden. 

B.  Die  zweite  Gruppe  von  Aufgaben  geht  auf  einzelne  bestimmte  Fertig- 
keiten, z.  B.  Schreiben,  Zeichnen,  Singen,  Spielen  von  Instrumenten,  Schießen 
usf.  Hier  will  man  vor  allem  wissen,  was  zu  jeder  Fertigkeit  gehört  (zum 
Zeichnen  u.  a.  Augenmaß,  zum  Violinspielen  u.  a.  feines  Gehör  usf.),  welches 
die  günstigte  Art  der  Ausführung  ist  (z,  B.  die  richtige  Haltung,  die  richtigen 
Bewegungen,  der  beste  Fingersatz),  und  welches  die  besten  Lernmethoden  sind. 

Wenn  in  solcher  Weise  eine  bestimmte  Fertigkeit  im  allgemeinen  untersucht 
ist,  ist  es  leicht,  an  die  differentiellen  Fragen  heranzugehen.  Wer  ist  für  diese 
Fertigkeit  begabt,  wer  nicht?  Eignen  sich  für  verschiedene  Typen  oder  ver- 
schiedene Altersstufen  verschiedene  Ijemverfahren  oder  Lernmethoden  besser? 

Methoden  und  Apparate  zur  Prüfung  spezieller  Fertigkeiten  bespreche  ich 
im  Folgenden  nicht.  Jedoch  ist  vieles,  was  bei  den  Methoden  zur  Prüfimg  der 
motorischen  Fähigkeit  im  allgemeinen  angeführt  ist,  für  die  Untersuchung  spe- 
jiieller  Fertigkeiten  verwertbar. 

Zu  A.  Ich  stelle  eine  Reihe  voj>,Methoden  zusammen,  die  mir  geeignet  er- 
scheinen, die  motorische  Leistungsfähigkeit  im  allgemeinen  nach 
ihren  verschiedenen  Richtungen  zu  untersuchen.  Im  Gegensatz  zu 
den  meisten  technischen  Fertigkeiten  (z.  B.  Instrument- Spielen)  sind  es  Auf- 
gaben, die  wohl  jeder  schon  von  Kindheit  auf  übt  oder  die  im  Turnmiterricht 
allgemein  geübt  werden. 

Von  den  Apparaten  spreche  ich  erst  am  Schluß,  um  den  Zusammenhang  nicht 
zu  stören.  Viele  Experimente  können  übrigens  ohne  Apparate  ausgeführt  werden. 
Insbesondere  lassen  sich  mancherlei  Turnübungen  für  unseren 
Zweck  verwerten.  Man  muß  nur  die  Ausführung  genau  vorschrei- 
ben und  überwachen  (s.  unten)  und  die^  Ergebnisse  notieren.  Solche, 
regelmäßig  in  bestimmten  Zeitabschnitten  wiederholte  stati- 
stische Aufnahmen  würden  wertvolle  und  zuverlässige  Aufschlüsse 
über  den  Entwicklungsgang  des  einzelnen  Schülers  und  ganzer 
Klassen,  über  den  Einfluß  des  Turnunterrichts  u.  dgl.  geben.  Die 
Statistik  könnte,  wenigstens  in  höheren  Schulen,  von  den  Schülern  selbst  geführt 
werden;  dadurch  würde  das  Interesse  an  den  Übungen  und  an  dem  Fortschreiten 
gesteigert,  nebenbei  auch  der  Sinn  für  exakte  Messungen  und  statistische  Zu- 
sammenstellungen gefördert. 

a)  Es  wird  die  einmalige  maximale  Kraftleistung  des  Schülers  fest- 
gestellt. Man  läßt  z.  B.  eine  Feder  zwischen  Fingern  und  Daumenballen  so  stark 
wie  möglich  zusammendrücken;  die  Feder  zeigt  den  Druck  an.  Da  eine  einzehie, 
namentlich  die  erste  Bewegung  leicht  mißlingen  kann,  läßt  man  den  Versuch 
besser  2  oder  3mal  ausführen  und  nimmt  das  Maximum.  Wer  hat  mehr  Kraft? 
Wie  steigt  die  Kj-aft  mit  dem  Alter  ?  Wie  wirken  regelmäßige  Turnübungen  ?  Usf. 

So  einfach  die  Aufgabe  scheint,  so  gibt  es  doch  verschiedene  Ausführungs- 
weisen. Man  kann  schnell  oder  langsam,  bedächtig  drücken,  kann  den  Arm  nach 


248  Hans  Rupp 

vorn  halten  oder  nach  unten,  wie  wenn  man  mit  der  Wucht  des  ganzen  Körpers 
mithelfen  würde,  u.  dgl.  m.  Je  nach  dem  Verfahren  kann  das  Ergebnis  sehr 
verschieden  ausfallen.     Man  muß  also  das  Verfahren  genau  vorschreiben. 

Aus  einem  kräftigen  Druck  in  der  Hand  darf  man  nicht  auf  allgemeine  Kraft 
schließen.  Andere  Bewegungen  mögen  schwächer  entwickelt  sein.  Es  hat  für 
den  Turnlehrer  wie  für  den  Arzt  Interesse  zu  wissen,  welche  Muskeln  besser, 
welche  schlechter  ausgebildet  sind.  Man  muß  also  auch  andere  Bewegungen 
prüfen.  Ich  gebe  am  Schluß  zwei  weitere  Kraftmesser  an.  Man  kann  auch 
prüfen,  ein  wie  schweres  Gewicht  vom  Schüler  noch  gehoben  werden  kann. 
Natürlich  ist  auch  in  diesen  Fällen,  wie  oben,  auf  die  Ausführungsweise  zu 
achten. 

Auch  aus  einem  anderen  Grunde  lohnt  die  Untersuchung  verschiedener  Be- 
wegimgen.  Verschiedene  Muskeln  und  verschiedene  Glieder  sind  von  Natur  aus 
nicht  gleich  stark.  Ferner :  wenn  wir  die  Hand  oder  den  Arm  nach  verschiedenen 
Richtungen  bewegen,  merken  wir  sofort,  daß  manche  Bewegungen  schwerer 
fallen,  nicht  so  sehr,  weil  sie  weniger  geübt  sind,  sondern  weil  sie  durch  den 
anatomischen  Bau  benachteiligt  sind.  Die  Prüfung  gibt  in  allen  Fällen  ein 
genaues  Maß  der  verschiedenen  Leistungsfähigkeit. 

Wollte  man  die  Kraft  verschiedener  Muskeln  vergleichen,  so  wäre  der  anatomisclo 
Bau  genau  in  Rechnung  zu  ziehen :  ob  der  Muskel  mit  ganzer  Kraft  oder  nur  mit  einer 
Komponente  wirkt,  an  welchen  Punkten  der  Hebelarme  Muskel  und  Last  angreifen, 
welche  Muskeln  zusammenwirken  usw.  Das  Problem  ist  sehr  verwickelt.  Die  oben 
gestellte  Frage  ist  einfacher;  sie  bescliränkt  sich  darauf,  die  praktisch  vorkommenden 
Bewegungen  zu  untersuchen,  gleichgültig,  wie  sie  anatomisch  ztistande  kommen. 

b)  Man  bestimmt  Ermüdung  und  Ausdauer  in  Kraftleistungen.  Wer 
die  stärkere  einmalige  Leistung  aufweist,  muß  nicht  auch  größere  Ausdauer 
besitzen.  Wer  hält  besser  aus  ?  Wie  hält  man  nach  geistiger  Anstrengung  aus  ? 
Wie  kräftige,  wie  schwächliche  Kinder?  Dabei  sind  wieder  verschiedene  Aus- 
führungsweisen möglich.    Man  kann  zwischen  ihnen  wählen. 

a)  Man  läßt  die  maximale  Leistung  in  bestimmtem  Tempo  wieder- 
holen und  beobachtet  das  Nachlassen.  Bei  schnellerem  Tempo  ermüdet  man 
schneller;  das  Tempo  ist  also  genau  vorzuschreiben.  Ferner  achte  man  darauf, 
wie  hoch  das  Maximum  der  Kraftleistung  gewählt  wird.  Wer  sich  bei  jeder 
einzelnen  Bewegung  sozusagen  mit  äußerster  Kraft  hineinwirft,  wird  sich  bald  aus- 
gegeben haben. 

ß)  Man  läßt  die  maximale  Leistung  dauernd  ausführen  imd  beobachtet 
das  Nachlassen.  Auch  hier  ist  auf  die  Höhe  des  Maximums  zu  achten. 

y  und  ö)  Man  läßt  eine  bestimmte,  untermaximale,  aber  anstren- 
gende Leistung  in  bestimmtem  Tempo  wiederholen  oder  dauernd 
ausführen  und  beobachtet  das  Nachlassen.  Die  erwähnte  Unbestimmtheit  des 
Maximums  fällt  hier  fort. 

Gewöhnlich  beschränkt  man  sich  auf  das  Heben  eines  Gewichtes  mit  einem 
Finger  (die  klassischen  Ergograph versuche).  Es  ist  wünschenswert,  auch  andere 
Leistungen  heranzuziehen.  Turnübungen  geben  Gelegenheit:  Wie  oft  kann  ein 
schweres  Hantel  gestemmt  werden?  Wie  oft  gelingt  der  Klimmzug  am  Reck? 
Wie  oft  die  Kniebeuge  ?  Wie  oft  das  Strecken  der  bekannten  Streckapparate  ? 
Oder  als  dauernde  Leistmigen:  Wie  lange  kann  der  freie  oder  beschwerte  Arm 


Probleme  »md  Apparate  zun  experimentellen  Pädagogik  249 


seitwärts,  das  B  in  vorgestreckt  gehalten  werden?  Usf.  Es  ist  geringe  Mühe, 
die  Bewegungen  zu  zählen  oder  die  Zeit  mit  der  Uhr  zu  bestimmen  und  so  eine 
genaue  und  zuverlässige  Statistik  zu  führen.  Natürlich  ist  auch  hier  zu  be- 
achten, ob  es  nicht  verschiedene  Arten  der  Ausführung  gibt,  die  das  Ergebnis 
beeinflussen . 

c)  Bei  vielen  Fertigkeiten  kommt  es  nicht  so  sehr  auf  Kraft  wie  auf  Schnellig- 
keit an.  Beide  gehen  nicht  immer  zusammen;  man  muß  daher  beide  prüfen.^) 

Wir  prüfen  zunächst  die  maximale  Geschwindigkeit  einer  einmaligen 
Bewegung.  Man  wird  auch  hier  den  Versuch  besser  ein-  oder  zweimal  wieder- 
holen lasseh  und  das  Optimum  verwerten.  Man  kann  das  Glied  frei  bewegen 
oder  zugleich  ein  Gewicht  heben  lassen.  Die  freie  Bewegimg  kann  leicht  oder  als 
kräftiger  Schlag  oder  Stoß  ausgeführt  werden.  Man  vergleicht  die  Schnelligkeit 
verschiedener  Glieder  (z.  B.  rechte,  linke  Hand,  verschiedene  Finger)  und  ver- 
schiedener Bewegungen  desselben  Gliedes  (z.  B.  /Vi'mbewegujig  nach  verschie- 
denen Richtungen).  Selbstverständlich  hängt  die  Schnelligkeit  von  der  Länge 
des  bewegten  Gliedes  ab,  ob  z.  B.  die  Hand  oder  der  ganze  Arm  bewegt  wird. 

d)  Wir  prüfen  Ermüdung  und  Ausdauer  in  schnellen  Bewegungen. 
Wir  lassen  eine  Bewegung  entweder  möglichst  schnell  oder  in  einem  bestimmten 
untermaximalen,  aber  schnellen  Tempo  wiederholen,  z.  B.  trillern,  stoßen,  ein 
Rad  drehen. 

Es  scheint,  daß  wir  dadurch  eine  weitere  Seite  der  Bew^egung  prüfen  können, 
nämlich  die  Leichtigkeit.  Eine  eiimialige  Bewegung  kann  auch  durch  Kraft 
schnell  ausgeführt  werden.  Bei  Wiederholung  würde  sich  jedoch  sehr  schnell 
Ermüdung  und  Versagen  einstellen.  Nur  eine  Bewegung,  die  wir  spielend  leicht 
ausführen,  kann  lange  und  schnell  wiederholt  werden.  Beim  Trillern  kann 
man  diese  Beobachtung  leicht  machen.  Durch  welche  Übungen  oder  welche  Ver- 
fahren erreichen  wir,  daß  eine  Bewegung  leicht,  „frei"  wird? 

e)  Wie  schnell  kann  eine  vorher  verabredete  Bewegung  auf  ein 
Kommando  hin  ausgeführt  werden?  Wir  prüfen  also  die  Schnelligkeit  der 
Reaktion,  die  Bereitschaft  der  Bewegung. 

Die  Schnelligkeit  hängt  u.  a.  von  der  Art  der  Vorbereitung  ab:  so  kann  die 
Hand,  die  z.  B.  auf  einen  Taster  drücken  soll,  schon  vor  dem  Kommando  ge- 
spannt zum  Losschlagen  bereit  gehalten  werden  (motorische  Einstellung)  oder 
sie  kann  schlaff  daliegen.  Ergeben  verschiedene  Bewegungen,  verschiedene 
Glieder  verschiedene  Reaktionszeiten?  Wie  bei  freien  Bewegungen  und  wie, 
wenn  eine  Arbeit  zu  leisten,  z.  B.  ein  Gewicht  zu  heben  ist? 

f)  Bisher  wurden  im  wesentlichen  Kraft,  T^eichtigkeit  und  Bereitschaft  der 
Bewegung  geprüft.  Die  folgenden  Methoden  gehen  auf  Genauigkeit  der 
Beherrschung.  Es  bedarf  kaum  des  Hinweises,  daß  Kraft  und  Grenauigkeit 
nicht  vereinigt  sein  müssen,  vielleicht  sogar  selten  vereinigt  sind.  Wie  genau  be- 

*)  Wenn  man  eine  Bewegung  wiederholt,  z.  B.  dauernd  klopfen  läßt,  so  kann  man 
vielfach  neben  dem  maximalen  auch  ein  optimales  Tempo  feststellen;  es  ist  dem 
Klopfenden  am  angenehmsten,  liegt  zwischen  hastigem  und  langweilig  langsamem 
Tempo.  Stern  vermutet,  daß  jeder  Mensch  ein  bestimmtes  psychisches  Tempo,  eine 
bestimmte  psychische  Lebendigkeit  hat,  durch  die  auch  das  Klopftempo  bestimmt 
wird,  und  daß  umgekehrt  das  allgemeine  psychische  Tempo  durch  dae  angenehmste 
Klopf tempo  bestimmt  werden  kann. 


250  Hana  Rupp 

herrscht  der  Einzekie  seine  Bewegungen  ?  Wie  Kinder,  wie  Erwachsene  ?  Zeichnen 
sich  manche  Bewegungen  oder  Glieder  durchKraft,  andere  durch  Genauigkeit  aus? 
Gibt  es  besonders  wirksame  XTbungen,  xnn  Genauigkeit  zu  üben? 

Zuerst  (f)  prüfen  wir  die  einmalige  minimale  Bewegung  (moto- 
rische Schwelle).  Man  kann  die  kleinste,  die  langsamste  Bewegung  und  den 
leisesten  Druck  {z'.  B.  auf  einer  Briefwage)  bestimmen,  femer  die  leiseste  Ände- 
rung eines  vorhandenen  Druckes.  Man  muß  die  genannten  Fälle  scheiden,  es 
lohnt  aber  nicht,  alle  zu  prüfen. 

Man  kann  hinsehen  oder  die  Augen  schließen.  Im  ersteren  Falle  kontrollieren 
wohl  meist  die  Augen  die  Bewegung,  im  letzteren  Falle  die  Gelenkempfindungen. 
Was  ist  für  den  Fortschritt  besser?  Welchen  Grad  der  Vollkommenheit  er- 
reicht der  Blinde? 

Die  motorische  Schwelle  ist  von  der  sensorischen,  die  in  Gruppe  V  B  besprochen 
wurde,  zu  scheiden.  Die  sensorische,  bei  der  das  Glied  passiv  von  einem  anderen 
bewegt  wird,  ist  im  allgemeinen  feiner. 

g)  Wir  bestimmen  Ausdauer  und  Ermüdung  in  minimalen  Bewegungen. 
Wir  können  die  Aufgaben  f  in  bestimmtem  Tempo  wiederholen  (a)  oder  sie 
kontinuierlich  fortsetzen  lassen  (ß).  Wir  lassen  z.  B.  mit  einem  Stift  fort- 
schreitend kleinste  Rucke  zeichnen  oder  so  langsam  als  möglich  einen  Strich 
ziehen.  Im  letzteren  Falle  sollen  keine  Rucke  oder  Stockungen  vorkommen. 
Der  Geiger  wird  sich  an  die  lehrreiche  Übung  erinnern,  den  Bogen  so  langsam 
wie  möglich  zu  ziehen,  aber  doch  so,  daß  der  Ton  ohne  Unterbrechung  fortklingt. 
Die  Bewegung  kann  mit  freier  Hand  oder  gegen  einen  Widerstand  (z.  B.  Gewicht) 
ausgeführt  werden. 

Man  kann  auch  einen  aktiven  Druck  so  langsam  wie  möglich  zu-  oder  abnehmen 
lassen.  Ferner  könnte  man,  ähnlich  wde  in  früheren  Fällen,  an  Stelle  der  minimalen 
Bewegungen  bestimmte  überschwellige,  aber  doch  kleine  Bewegungen  vorschreiben. 

h)  Verwandt  der  Bewegungsschwelle  ist  die  Schwelle  für  Ruhe.  Ein  Glied 
soll  möglichst  ruhig,  aber  natürlich  aktiv,  gehalten  werden.  Wie  groß  sind  die 
feinen  Schwankmigen,  die  dennoch  auftreten?  Wie  bei  verschiedenen  Indivi- 
duen, bei  verschiedenem  Alter  ?  bei  Ermüdvmg,  Alkoholgenuß,  Krankheit  ?  b^i 
freiem  und  bei  belastetem  Glied  ?  b^i  verschiedenen  Gliedern  und  Haltungen  ? 
firner  bei  geschlossenen  und  offenen  Augen?  Wer  hält  länger  und  besser  aus? 
Gibt  es  wirksame  Ubmigen,  um  ruhige  Haltung  zu  erzielen? 

In  der  Medizin  bezeichnet  man  diese  Schwankungen  als  ,, Tremor".  Der 
Tremor  ist  für  manche  Geistes-  imd  Nervenkrankheiten  ein  charakteristisches 
Symptom.  Das  Zittern  und  Zucken  nervöser  Personen  ist  bekannt.  Für  manche 
Beschäftigungen  imd  Berufe  ist  eine  ruhige  Hand  unerläßlich.  Die  Untersuchung 
hat  also  praktischen  Wert. 

Neben  der  Sehwelle  für  Rulie  (Geschwindigkeit  =  0)  könnte  man  auch  die  Sch>velle 
für  die  Gleichförmigkeit  von  Bewegungen  ( Goschwindigkeitsänderung  =  0)  prüfen. 
Man  stellt  die  Aufgabe,  eine  bestimmte  Bewegung  möglichst  gleichförmig  auszu- 
führen. Und  dies  für  verschiedene  Gasschwindigkeiten  und  verschiedene  Bewegvmgen. 

i)  Bei  den  Methoden  f  bis  k  war  von  der  Genauigkeit  schwelliger  Bewegungen 
'  imd  der  Ruhe  die  Rede.  Um  bei  überschwelligen  Bewegimgen  von  Genauig- 
keit sprechen  zu  können,  muß,  wenn  es  sich  nicht  gerade  um  Wiederholung 
einer  eben  ausgeführten  Bewegung  handelt,  ein  Ziel  gegeben  sein ,  dem  die  Be- 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  251 


wegung  mehr  oder  weniger  genau  angepaßt  ist.  Schwelle  und  Ruhe  sind  eindeutig 
bestimmt.  Eine  übsrsch wellige  Bewegung,  eine  überschwellige  Kraftleistung 
kann  größer  oder  kleiner  sein.  Erst  durch  das  Ziel  wird  sie  klar  definiert,  wird 
aus  den  vielen  möglichen  Bewegungen  eine  bestimmte  herausgegriffen.  Wie  genau 
können  wir  die  Bewegung  dem  Ziele  anpassen,  welche  Fertigkeit  hierin  .haben 
wir  erreicht?  Wie  können  wir  sie  steigern?  Usf.  In  der  Genauigkeit  der  Be- 
herrschung, der  Anpassung  an  bestimmte  Ziele  prüfen  wir  vielleicht  die  wich- 
tigste und  schwierigste  Seite  der  motorischen  Fähigkeit. 

Ich  führe  einige  Beispiele  an.  Wenn  wir  nach  einem  Gegenstand  greifen  oder  ihn 
abwehren  wollen,  wenn  wir  einen  Ball  fangen  oder  ihn  mit  Hand  oder  Fuß  parieren 
wollen,  so  müssen  Kraft,  Schnelligkeit,  Ausmaß  mid  Ort  der  Bewegmig  genau  abge- 
paßt sein.  Wenn  wir  Konturen  nachziehen,  ausschneiden,  ausstechen,  weim  wir  in 
schnellen  Zügen  eine  Gerade,  einen  Kreis  oder  sonstige  Formen  in  bestimmter  Größe 
schreiben  oder  zeichnen  wollen,  so  muß  wieder  der  zeichnende  Stift  genau  der  be- 
absichtigten Linie  folgen.  Ebenso  muß  der  Klavierspieler,  der  die  Kechenmascliine 
oder  Schreibmaschine  Bedienende  die  richtige  Taste  troffen,  und  noch  melu*  der 
Geiger  die  Finger  an  haarscharf  bestimmter   Stelle  aufsetzen. 

Besonders  schwierig  mögen  auf  den  ersten  Blick  Fertigkeiten  erscheinen,  bei  denen 
wir  die  Bewegung  oder  Haltung  ihren  räumlichen  Eigenschaften  nach  lücht  gut 
beachten  können,  sondern  auf  einen  fernerliegenden,  durch  die  Bewegung  er- 
zeugten Erfolg  gerichtet  sind,  wie  beim  Werfen  nach  einem  ferneren  Ziel  oder  beim 
Singeii,  Pfeifen,  Sprechen.  Auch  hier  müssen  wir  lernen,  die  Bewegmig  genau  dem 
oft  ganz  andersartigen  Ziele  anzupassen. 

Um  die  genaue  Beherrschung  von  Bewegungen  im  allgemeinen  zu  prüfen, 
muß  man  Methoden  suchen,  die  die  prinzipiell  verschiedenen  möglichen  Fälle 
darstellen.  Zugleich  sollen  sie  möglichst  auch  praktisch  wichtigen  Fertigkeiten 
zugrunde  liegen.     Es  scheinen  mir  folgende  emfache  Methoden  geeignet : 

a)  Von  einem  Ausgangspunkte  schnell  zu  einem  Zielpunkt  mit 
der  Hand  (oder  einem  anderen  Gliede)  hin  fahren.  Wie  genau  löst  die 
gesehene  Lage  des  Zielpunktes  die  Bewegung  aus?  Die  Bewegung  muß  in 
einem  Zuge  erfolgen;  es  wäre  keine  Kirnst,  durch  nachträgliche  Korrekturen 
zum  Ziel  zu  kommen. 

Die  Aufgabe  läßt  mehrere  Variationen  zu.  Ich  kann  von  mir  aus  auf  einen 
Punkt  hinstoßen,  der  in  größerer  oder  geringerer  Entfernung,  in  dieser  oder 
jener  Richtung  liegt.  Oder  es  sind  auf  einer  normal  orientierten  Zeichenfläche 
zwei  Pimkte  gegeben  und  ich  fahre  von  einem  zum  anderen;  Entfern mig  imd 
Richtung  der  Punkte  sind  wieder  variabel.  Oder  ich  habe  die  Aufgabe,  IJmen 
von  bestimmter  Länge  und  Richtung  zu  ziehen,  usf. 

ß)  Eine  Bewegung,  eine  Haltung,  einen  Druck  unmittelbar  dar- 
nach bei  geschlossenen  Augen  wiederholen.  Hier  leitet  nicht  das  Auge, 
sondern  die  Erinnermig  an  die  eben  dagewesene  Empfindung  die  neue  Bewegmig. 
Man  kann  die  Bewegung  in  einem  Zuge  ausführen  lassen  oder  Korrekturen  ge- 
statten.   Das  erstere  ist  schwieriger. 

y)  Um  Ausdauer  und  Ermüdung  zu  prüfen,  läßt  man  die  Bewegungen  a 
wiederholen,  aber  jedesmal  mit  neuem  Ziel.  So  zeichnet  man  unregelmäßige 
Haufen  von  Punkten  oder  geradlinige  Reihen  von  Punkten  in  unregelmäßigen 
Abständen,  in  welchen  die  Punkte  nacheinander  zu  treffen  sind.  Unregel- 
mäßig soll  die  Anordnung  sein,  damit  bei  jeder  neuen  Bewegung  neu  gezielt 
werden  muß.    Das  Tempo  ist  vorzuschreiben. 


252  Hans  Rupp 

S)  Den  Methoden  «  und  y  verwandt  ist  die  Aufgabe,  Konturen  nachzu- 
ziehen. Wie  genau  trifft  man?  Wie  bei  längerer  Fortsetzung,  wie  bei  verschie- 
dener Schnelligkeit?  Die  Aufgabe  kommt  in  der  Praxis  oft  vor:  beim  Nach- 
ziehen von  Konturen,  beim  Pausen,  beim  Bemalen  einer  vorgezeichneten  Figur 
beim  Ausschneiden  usf. 

s)  Ähnlich  wie  die  Aufgabe  ß  kann  man  auch  die  Aufgabe  ß  längere  Zeit 
hindurch  wiederholen  lassen,  so  z.  B.  gleiche  Striche  schreiben,  eine  Wellen- 
linie zeichnen  lassen,  \isf.i). 

^)  Bei  den  Aufgaben  a.  y,  d  ist  die  Bewegung  im  wesentlichen  räumlich 
bestimmt;  bei  dieser  Aufgabe  muß  sie  vor  allem  in  Stärke  dem  Ziel  angepaßt 
sein.  Man  läßt  z.  B.  einen  Ball  bis  in  eine  bestimmte  Entfernung  werfen 
oder  schieben.    Wie  genau  paßt  sich  die  Stärke  des  Stoßes  dem  Ziel  an? 

V)  Weitere  prinzipiell  verschiedene  Methoden  zur  Prüfung  der  Genauigkeit  wären 
noch  folgende:  Eine  Bewegung  an  Tonhöhen  anpassen,  sei  es  räumliche  Be- 
wegungen, wie  wenn  man  ein  Lied  auf  einer  Saite  spielt,  sei  es  intensive  Bewe- 
gungen wie  beim  Singen.  Oder  Anpassung  an  Tonstärken,  z.  B.  vei'schiedene 
Stärken  genau  naclisingen.  Allein,  abgesehen  von  der  Umständlichkeit  der  Messung 
würden  diese  Proben  zu  sehr  von  der  musikalischen  Begabung  und  Betätigung  abhängen 
und  sich  daher  kaum  für  Proben  der  motorischen  Fähigkeit  im  allgemeinen  eignen. 

k)  Bisher  war  stets  von  Bewegungen  die  Rede,  die  jeder  Mensch  bis  zu  einem  ge- 
wissen Grade  beherrscht.  Eine  neue  Seite  der  motorischen  Leistung  ist  es,  Bewegungen 
zu  lernen,  die  man  bis  dahin  überhaupt  noch  nie  gekannt  hatte.  Ich  führe  Beispiele 
an,  mehr  zur  Demonstration  des  Problems  wie  als  Prüfungsmethode: 

Manche,  namentlich  Kinder,  können  die  Ringfinger  nicht  isoliert  bewegen;  es  fällt 
ihnen  ebenso  schwer  wie  uns  allen  das  isolierte  Bewegen  einer  mittleren  Zehe.  Wie 
bekommen  wir  die  Bewegung  in  unsere  Gewalt  ?  Zweierlei  muß  nun  erreicht  werden. 
Erstens  müssen  wir  es  dahinbringen,  daß  die  gewünschte  Bewegmig  überhaupt  aus- 
geführt wird,  zunächst  natürlich  rein  zufällig.  Wir  müssen  eben  so  lange  probieren, 
bis  sie  zufällig  gelingt.  Die  künstliclie  Bewegxing  des  Gliedes  durch  die  nicht  be- 
schäftigte Hand  mag  dabei  förderlich  sein.  Zweitens  müssen  wir  trachten,  diesen 
zufälligen  Erfolg,  sowohl  die  motorische  Bewegiuig  wie  die  sensorische  Empfindung, 
festziilialten  und  einzuprägen.  Wir  halten  die  Finger  in  Spannung  oder  suchen  die 
Bewegung  sofort  zu  wiederholen,  was  vielfach  gelingt,  und  prägen  uns  gut  ein,  was 
wir  dabei  spüren.  Wenn  wir  diese  Übung  oft  wiederholen,  gelangen  wir  allmählich 
zur  Herrschaft  über  die  Bewegung. 

Ähnlich  geht  es  bei  vielen  neuen  Fertigkeiten,  wo  wir  die  Bewegungen  erst  ent- 
decken müssen:  bei  Turnübungen,  beim  Pfeifen  usw.  Zunächst  haben  wir  keine 
Ahnung,  tappen  auf  gut  Glück  drauf  los.  Treffen  wir  das  Richtige,  so  wissen  wir,  daß  es 
Zufall  war.  Und  auch  hier  trachten  wir  instinktiv,  die  richtige  Bewegung,  wenn  wur 
sie  zufällig  getroffen  haben,  festzuhalten  und  einzuprägen. 

Ich  führe  nun  einige  Apparate  an,  die  bei  verschiedenen  Versuchen  verwendet 

werden  können. 

(Hand-Druck- )Dynamometer   nach   Collin.     Die   ellipsenförmige  Feder 

soll  in  der  Hand  so  stark  wie  möglich  zusammengedrückt  werden  (Methode  a). 
Der  Zeiger  gibt  die  Stärke  des  Druckes  an.  Da  er  beim 
Nachlassen  des  Druckes  zurückgeht,  würde  das  Ablesen 
des  Maximums  schwierig  sein.  Darum  ist  ein  zweiter 
Zeiger  angebracht,  der  mit  der  Feder  nickt  verbunden 
ist.    Er  wird  vom  ersten  Zeiger  vorgeschoben  und  bleibt 

in  der  äußersten  Lage  stehen. 

*)  Auf  diese  Übung  hat  mich  Herr  Dr.  Lipmann  airfmerksam  gemacht. 


Probleme  und  Apparate  zur  experiiuentellexi  Pädagogik 


25tS 


Wie  kräftig  kann  man  einmal  drücken?     Bleibt  Zeit  zum  Ablesen  oder  läßt 
man  den  Apparat  so  halten,  daß  man  dauernd  ablesen  kann,  so  kann  man  auch 
die  Abnahme  des  Druckes  bei  fortgesetzter  Wiederholimg  oder  bei  dauernder 
Ticistung  feststellen  (Methode  b,  a  und  ß). 
Der  Apparat  wird  in  zwei  Größen  geliefert. 

Zug-Dynamometer  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Um  auch  die 
Kraft  anderer  Bewegungen  messen  zu  können,  stellte  ich  folgenden  einfachen 
Apparat  zusammen.    An  beiden  Enden  einer  Zugfeder\vage 
werden   direkt  oder   mit   Zwischenschaltung   verstellbarer  |T~\-««.k^öe>'/~| 
Riemen  Griffe  befestigt.     Man  faßt  den  Apparat  ähnlich 
an  wie  die  bekannten  Streckapparate  und  sucht  die  Griffe  so  stark  als  möglich 
auseinander  zu  ziehen.   Wie  baim  Collinschen  Apparate  schiebt  der  mit  der  Feder 
verbundene  Zeiger  einen  zweiten  vor  sich  her,  der  in  der  äußersten 
Lage  stehen  bleibt.     Man  kann  eine  Wage  für  leichtere  oder  eine 
solche  für  schwerere  Gewichte  einsetzen. 

(Hand-Druck- )Dynamograph  nach  Sniedley  (Stoeltung  Co., 
Chicago).  Verwendung  wie  bei  1,  nur  andere  Konstruktion.  Man 
umfaßt  die  zwei  Griffe  mit  der  Hand  und  di'ückt  den  inneren,  beweg- 
lichen Steigbügel  gegen  den  äußeren.  Entfernung  der  Griffe  ver- 
stellbar; Griffe  handlich;  Skala  außen,  so  daß  bequem  abgelesen 
werden  kann. 

Man  kann  die  Bewegungen  durch  Laftüber tragung  auf  ein  Ky- 
mographion  aufzeichnen  (daher  „Dynamo graph");  zu  dem  Zwecke  wird  oben 
ein  Schlauch  angesetzt.  Dies  verwendet  man  hauptsächlich  für  die  Versuche 
b,  a  und  ß. 

(Zug-  und  Druck- )Dynamometer  nach  Sargent  (Stoel- 
ting  Co.,  Chicago).  Man  stellt  sich  auf  das  Fußbrett,  nimmt 
die  Griffstange  mit  beiden  Händen  und  zieht  sie  so  stark  als 
möglich  nach  oben.  Das  kaim  durch  Beugen  der  Arme, 
durch  Aufrichten  des  vorher  vorgebeugten  Oberkörpers  oder 
durch  Strecken  der  vorher  etwas  gebeugten  Knie  geschehen. 
Die  Länge  der  Kette  wird  entsprechend  geregelt. 

Ferner  kann  die  Kraft  gemessen  werden,  mit  der  die  seit- 
lichen Knöpfe  zusammengedrückt  werden  können. 

(Hand-Druck- )Dynamograph  nach  Weyler  (Sendtner, 
München).  Der  Griff  des  Apparates  besteht  &,m  zwei  über- 
einandergreif enden  Teilen;  er  soll  so  stark  wie  möglich  zu- 
sammengedrückt werden.  Am  Ende  des  Griffes  ist  eine  Dose  angesetzt,  die 
einen  Registrierapparat  enthält.  Man  legt  auf  der  oberen  Seite  der  Dose 
eine  der  beigegebenen,  mit  konzentrischen  Ringen  versehene 
Scheibe  ein.  Auf  dieser  wird  durch  darübergelegtes  Kopier- 
papier registriert.  Über  der  Scheibe  bewegt  sich  nämlich  bei 
-^  --^^  jedem  Zusammendrücken  ein  Schreiber  in  radialer  Richtung;  die 
r^  Länge  des  Radius  zeigt  den  Druck  an.  Beim  Aufhören  des 
^  Druckes  dreht  sich  die  Scheibe  automatisch  ein  wenig  weiter. 
Der  beim  nächsten  Druck  gezeichnete  Radius  ist  also  etwas  verschoben. 
Der  Apparat  dient  vor  allem  für  die  Versuche  ha. 


Nr. 


Nr.  ? 


254 


Hans  Rupp 


Ergograph  nack  Mosso  (Mechaniker  Spindler  und  Hoyer,  Göttingen).    Der 
Apparat  dient  vor  allem  für  die  Versuche  b,  y  und  «5.  und  zwar  für  Bewegung 


eines  mittlorcn  Fingers.  Kr  ist  so  bekannt,  daß  es  genügen  wird,  Abbildungen 
beizufügen. 

An  St^elle  des  umständlichen  Arm-  und  Handlagers  kann  das  einfachere  Hand- 
lager des  folgenden  Apparates  verwendet  werden.  Setzt  man  an  Stelle  des  Ge- 
wichtes das  Zug-D}mamomet«r  Xr.  2,  so  kann  auch  die  maximale  Leistung 
geraessen  werden  (Versuche  b,  a  oder  /5).  Faßt  man  den  Schlitten  des  Schreib- 
apparates, der  die  Feder  trägt,  mit  der  Hand,  so  karni  man  die  langsamste  oder  die 
gleichmäßige  Bewegung  aufzeichnen  und  imtersuchen  (Versuche  f,  gundh  Anm.). 

Ergograph  nach  Dubois  (Mechaniker  Zimmermanu,  Ticipzig).  Für  dieselben 
Versuche  \s^  a  ^  y  fi  wie  der  vorige  Apparat.  Die  Hand  umfaßt  einen  Zapfen, 
ein  Finger  hebt  das  Gewicht.    Der  Schreibapparat  ist  so  konstruiert,  daß  kein 


Kymographion  nötig  ist  wie  beim  vorigen  Apparat.  Die  zum  Gewicht  laufende 
Sclimir  nimmt  einen  vertikalen  Bleistift  mit,  der  auf  dem  darunter  liegenden 
Papierstreifen  einen  der  Hubhöhe  entsprechenden  Strich  schreibt.  Nach  jeder 
Hebung  wird  das  Papier  automatisch  ein  wenig  weiter  geschoben  (ähnlich  wie 
bei  Nr.  5). 

Koutaktbrett  für  Schnelligkeitsmessungen  nach  Rupp  (Mechaniker 
Marx,  Berlin),  zur  Bestimmung  der  maximalen  Geschwindigkeit  einer  Bewegimg 
(Versuch  c).  Längliches  Brett,  die  geschrafften  Teile  me- 
tallisch, jedoch  in  einer  Ebene  mit  dem  mittleren  Teil  des  '^ 
Brettes.  Man  streicht  mit  einem  Metallstift  oder  mit 
einem  Fingerhut  möglichst  schnell  von  einer  Seite  zur 
anderen.  Die  Zeit  zwischen  den  zwei  Kontakten  wird  am  Chronographen  (vgl. 
Gruppe  VIII,  Nr.  6 — 10)  gemessen.  Je  kürzer  die  Zeit,  desto  schneller  war 
die  Bewegung. 


ii 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


255 


Orientiert  man  das  Brett  verschieden,  so  kann  man  verschiedene  Bewegungen 
prüfen.  Um  Ausdauer  in  schnellen  Bewegungen  zu  prüfen  (Versuch  d),  kann 
man  dauernd  hin  und  her  streichen  lassen. 

Der  Apparat  läßt  sich  auch  in  der  Weise  des  Apparates  Nr.  U  verwerten. 
Ringkontaktbrett  für  Schnelligkeitsraessungen, 
nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin),  um  die  Bewegungen 
von  einem  Punkte  aus  nach  verschiedenen  Richtungen  hin- 
sichtlich ihrer  maximalen  Schnelligkeit  bequem  vergleichen 
zu  können.     Verwendung  wie  bei  8. 

Tasterklavier  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Tasten  einer    *       ^^^"^ '      n» 

oder  zweier  Oktaven,  genau  vne  beim  Klavier.    Beim  Nieder- 
drücken jeder  Taste  entsteht  ein  Kontakt,  durch  den  auf  dem  Chronographen 
(Gruppe  VIII,  besonders  Nr.  7)  eine  Marke  gezeichnet  wird.    Der  Apparat  dient 
vor  allem  für  die  Versuche  d:  Wie  schnell  kann  getrillert  werden?  wie  bei  län- 
gerer Fortsetzung  ?   wie  mit  verschiedenen  Fingern  ? 

Auch  für  sonstige  Versuche,  z.  B.  über  den  Fingersatz  oder  über  den  Rhythmus 
br'im  (stummen)  Klavierspielen,  dürfte  der  Apparat  gut«  Dienste  leisten. 

Man  vergleiche  auch  die  Taster  Xr.  18  und  19  in  Gruppe  III,  mit  denen  man  die 
Schnelligkeit  des  wiederholten  Tastens  auf  dieselbe  Taste  prüfen  kann. 

Klopfbrett  (tappingboard)  nach  Whipple  (Mechaniker  Stoeltung  Co..  Kr.  ii. 
Chicago.),  ziu*  Prüfiuig  der  Schnelligkeit  des  Klopfens.  Der  Apparat  sieht  ähnlich  aus 
wie  Nr.  8,  nur  sind  die  Metallplatten  aufgelegt,  nicht  eingelassen.  Bei  Prüfvmg  (h^' 
rechten  Hand  liegt  der  Ellbogen  am  rechten  Ende,  die  Hand  mit  dem  Kontaktstift 
links  über  der  Metallplatte:  bei  Prüfimg  der  linken  Hand  umgekehrt.  Daher  die 
2  Metallplatten.  Für  den  gleichen  Z^veck  läßt  gich  natürlich  das  Kontaktbrett  Nr.  S 
verwerten. 

für  Schnelligkeitsmessungen  nach  Lipmann  (Me-  niii 
chaniker  Marx,  Berlin).  Man  bewegt  einen  Kontakt- 
stift, den  man  in  der  Hand  hält,  möglichst  schnell 
zwischen  den  zwei  vertikalen  Böcken  hin  und  her  (sielio 
die  Pfeile),  so  daß  man  jedesmal  an  dieselben  anschlägt 
und  Kontakte  erzeugt.     Die  Entfernung  der  Böcke  kann  variiert  werden. 

W^ie  schnell  gelingt  die  Übung,  wie  mit  der  rechten,  wie  mit  der  linken 
Hand?  Wie  mit  der  Hand,  wie  mit  dorn  ganzen  Arm?  Wie  bei  verschiedener 
Entfernung  der  Böcke  ? 

Kontaktfingerhüte  und  Kontaktstifte  (Mechaniker  Marx,  Berlin)  zum    n»  i  •• 
Klopfen  auf  eine  metallische  Unterlage,  statt  der  Taster.  Man  kann  an  mehnre 
Finger  passende  Hüte  stecken  und  verschiedene  Trillerübungen  ausführen. 

Kymograph  nach  Minnemann  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Auf  dem  Reiß-  Nr.  ii. 
brett  wird  ein  nicht  zu  dickes  Papier  befestigt.  Unter  demselben  wird  durch  die 
Reibung  der  Rollen  r  r  ein  von  der  Rolle  R  kom- 
mender Papierstreifen  vorbeigezogen.  Zwischen  Zei- 
chenpapier und  Streifen  ist  Kopierpapier  befestigt, 
so  daß  sich  die  Zeichnimg  auf  dem  Streifen  ab- 
tlrückt,  imd  zwar  um  so  mehr  auseinander  gezogen, 

je  langsamer  gezeichnet  und  je  schneller  der  Streifen  bewegt  wird.  Die  Be- 
wegung des  Streifens  ^\ird  durch  die  Hand  oder  durch  einen  Motor  bewirkt, 
der  an  der  einen  Rolle  r  angreift  (durch  Gewicht  angedeutet). 


I 


256 


Hans  Rupp 


Man  kann  die  langsamste  Bewegung  (f,  g),  die  gleichmäßige  Bewegung 
(h  Anm.)  und  das  schnellste  Hin-  und  Herbewegen  (d),  endlich  die  Genauigkeit 
prüfen,  mit  der  dieselbe  Bewegung  wiederholt  wird  (i  ß).  Die  Bewegung  muß 
senkrecht  zum  Streifen  ausgeführt  werden. 
j^^  jr,  Tremograph  nach  Vierordt-Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Er  dient  zur 
Aufzeichnung  des  Tremors  (h),  ferner  zur  Bestimmung  der  kleinsten  Bewe- 
gungen (f,  g).  Der  zeichnende  Stift  steckt  in  einer  Hülse, 
aus  der  er  durch  eine  leichte  Spiralfeder  nach  außen 
gedrängt  wird.  Das  hat  den  Zweck,  daß  er  die  Schreib- 
fläche (berußte  Glas-  oder  Metallplatte)  auch  berührt, 
wenn  er  schräg  gehalten  oder  etwas  ziu-ückgezogen  wird. 
E^  werden  nur  die  Schwankungen  in  den  zwei  Dimen- 
;•  sionen  der  Schreibplatte  aufgezeichnet. 
f         [jj         '^  Ich  ließ  den  Apparat  so  einrichten,  daß  er  für  ver- 

I  \      schiedene   Bewegungen    verwendbar  ist.    Um  z.  B.  die 

~  Schwankungen  der  Hand  zu  zeigen,  wird  er  an  einen 
geeigneten  Fingerhut  oder  an  eine  an  der  Hand  angebmidene  Platte  geschraubt; 
für  Schwankimgen  des  Kopfes  oder  des  Körpers  oder  Gewehres  beim  Zielen  an 
einer  am  Kopf,  am  Körper  oder  Gewehr  zu  befestigenden  Platte;  usf. 

^,._ni        ^ ,        Ruheprüfer   (steadiness   tester)  nach  Whipple   (Mechaniker 

Stoelting  Co.,  Chicago).    Die  Metallplatte  hat  neun  Löcher,  deren 
Durchmesser  immer  kleiner  werden.     Man  führt  eine  Nadel  in  ein 
Loch  imd  soll  sie   einige  Zeit  (z.  B.  1/4  Min.)  ruhig  halten,   ohne 
den  Rand  des  Loches  zu  berühren.  "Geschieht  das  letztere,  so  ertönt  eine  Glocke 
oder  es  wird  eine  Marke  aaf  dem  Chronograph  gezeichnet. 
>;j  j7        Zieltafel  (target  blank)  mit  Halter  nach  Whipple  (Me- 
chaniker Stoelting  Co.,   Chicago).      Das  nahezu   quadratische 
Papier   von   ca.  20   cm    Seite  mit   10  Kreuzen  wird  auf  dem 
Halter  befestigt.   Der  Apparat  ist  aufgehängt  und  kann  je  nach 
der  Größe  des  Schülers  höher  oder  tiefer  gezogen  werden.    Der 
Schüler  steht  gerade  davor,    z.  B.  so,   daß   er  die  Tafel  bei 
ausgestrecktem  Arm  gerade  berührt,  und  fährt  mit  einem  Blei- 
stift schnell  auf  die  Kreuze  hin.  Wie  groß  sind  die  Fehler  ? 
Nr.is.       Zieltafel  für  radiale  Bewegungen  nach  Rupp  (Mecha- 
niker Marx,  Berlin).     Ein  quadratisches  Papier  von  ca.  50  cm 

Seite  wird  in  einen  Rahmen  gespannt.    Es  trägt  einen  größeren 
oder  kleineren  Kreis  von  12  Pmikten.    Man  soll  vom  Mittel- 
punkte   aus    nach    verschiedenen   Randpunkten    schnell    hin- 
fahren.   Welche  Punkte  werden  genauer  getroffen?     Wie  bei 
verschiedener  Haltung  des  Armes  ?  oder  verschiedener  Orien- 
tierung der  Tafel  (vertikal,  horizontal)  ?    Man  zeichnet  entweder 
direkt  auf  das  Papier  mit  den  Zielpunkten  oder,  um  dieses  zu 
schonen  und  für  mehrere  Versuche  verwenden  zu  können,  auf  ein  darunter  aus- 
gespanntes,   leeres    Papier,    indem   man  Kopierpapier    zwischenlegt  und  mit 
einem  stumpfen  Holzstift  zeichnet. 

Man  kann  auch  die  Aufgabe  stellen,  möglichst  gerade  Radien  zu  ziehen. 
Welche  gelingen  besser?     Wie  bei  verschiedener  Schnelligkeit? 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


267 


Kontaktspalt  (tracing  board)  nach  Bryan  (Mechaniker  Stoelting  Co., 
Cliicago).  Man  fährt  mit  einem  Metallstift  mit  vorgeschriebener  Geschwindig. 
keit  den  Spalt  entlang,  vom  breiteren  Ende  beginnend.  Stößt 
man  an  den  Rand,  so  ertönt  eine  Glocke  oder  es  wird  ein 
Zeichen  auf  dem  Chronograph  notiert.  Wie  weit  kommt 
man  ohne  Fehler?    Wie  bei  verschiedenen  Richtungen? 

Kontaktspalt    nach    Bolton-Rupp    (Mechaniker    Marx, 

Berlin).  Drei  parallele  Spalte  von  verschiedener  Breite.  Wie 
oft  stößt  man  an,  wenn  man  den  Spalt  entlang  fährt?  Man 
kann  die  Übung  länger  fortsetzen,  indem  man  im  bestimmten 
Tempo  hin  und  her  fahren  läßt.     Wer  hält  besser  aus? 

Ring-Kontaktspalt  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Ber- 
lin). Drei  Platten,  jede  mit  drei  verschieden  großen  Ring- 
spalten, jedoch  jede  Platte  mit  anderer  Spaltweite.  Zum 
Unterschied  von  Apparat  20  ist  hier,  namentlich  bei  den 
kleineren  Ringen,  die  Richtung  fortwährend  zu  ändern.  Man 
kann  dauernd  im  Kreise  herumfahren  lassen.  Das  Loch  in 
der  Mitte  kann  für  dieselben  Versuche  verwendet  werden  wie 
Apparat  16. 


Nr.  H) 


Nr.  20. 


Nr  Jl. 


Außer  diesen  Apparaten  sind  noch  an  anderen  Stellen  beschriebene  Apparate 
für  Versuche  dieser  Gruppe  verwertbar.  Der  Bewegungsmesser  nach  Gold- 
scheider,  den  ich  bei  Besprechung  der  passiven  Bewegungsschwelle  erwähnte 
(Gruppe  V  B  Nr.  9) ,  dient  auch  zur  Bestimmung  der  aktiven  Schwelle  (Ver- 
such f);  für  die  Klopfversuche  eignen  sich,  wie  schon  erwähnt,  die  Taster,  die 
in  Gruppe  III  unter  Nr.  18  und  19  beschrieben  wurden.  Für  Reaktions ver- 
suche, bei  denen  die  Zeit  bis  zum  Beginn  der  Reaktionsbewegimg  gemessen 
werden  soll,  sind  eine  Reihe  der  in  Gruppe  VIII  zu  beschreibenden  Anordnungen 
verwendbar. 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  und  der 
experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hermann  Götz. 

„Die  größte  methodische  und  zugleich  materiale  Neuerung,  welche  die 
experimentelle  Pädagogik  mit  sich  brachte,  ist  die,  daß  wir  alle 
Probleme  der  Pädagogik  vom  Kinde  aus  zu  entscheiden 
suchen.''^)  Als  formale  Neuerung  kommt  die  Anwendung  des  Experiments 
als  Mittel  pädagogischer  Forschung  hinzu.  Wollte  Meumann  sagen,  daß 
die  Vertreter  der  experimentellen  Pädagogik  sich  energischer,  zielbewußter 
als  frühere  Pädagogen  um  die  Erkenntnis  der  kindlichen  Psyche  bemühten, 
so  kann  man  mit  seinen  Worten  einverstanden  sein,  aber  unberechtigt  wären 
sie,  wenn  sie  den  Sinn  haben  sollten,  daß  erst  mit  der  experimentellen  Päda- 

'»  Meumann,  E.,  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik.    Bd.  I,  S.  32, 
Vgl.  2.  Au«.,  Bd.  I,  S.  46,  47. 
Zeitschrift  f.  padagog  Psychologie  17 


258  Hermann  Götz 

gogik  die  Erkenntnis  gekommen  sei,  das  Vertrautsein  mit  den  Besonderheiten 
des  kindlichen  Innenlebens  sei   die   unerläßliche  Bedingung  der  Pädagogik. 
Im  Jahre  1753  erschien  in  Berlin  ein  Buch  unter  dem  Titel:  „Versuch  einer 
Theorie  von  dem  Menschen  und  dessen  Erziehung."    Der  Verfasser, 
Friedrich  Engel,  war  Hauslehrer  bei  dem  Grafen  Heinr.  Adrian  von  Borcke, 
dem  er  sein  Werk  gewidmet  hat.   Engel  ist  von  dem  französischen  Ästhetiker 
Charles  Batteux^)  beeinflußt.  Er  betrachtet  gleich  diesem  die  schönen  Künste 
als  Nachahmungen  der  Natur.   Sie  ist  als  die  weiseste  Verfassung  keiner  Ver- 
besserung,   wohl    aber   einer  Verschlimmerung    fähig.     Aufgabe    der  Kunst, 
natürlich  auch  der  Erziehungskunst,  ist  es,  durch  die  in  der  Natur  gegründeten 
Mittel  die  Verschlimmerung  zu  verhüten.     „Kein  Mensch  ist  das,   was   nach 
der  Anlage  der  Fähigkeiten  aus  ihm  hätte  werden  können."    Es  gelingt  der 
Natur  niemals,  ihren  Zweck  völlig  zu  eiTeichen.2)   Diese  Gedanken  begegnen 
uns  später  extrem  und  schroff  in  den  Sätzen,  mit  welchen  Rousseau  seinen 
„Emil"  beginnt:  „Alles  ist  gut,  wie  es  hervorgeht  aus  den  Händen  des  Urhebers 
der  Dinge;  alles  entartet  unter  den  Händen  des  Menschen." 3)    Wie  Kant,  so 
ist  auch  Engel  der  Meinung,  daß  die  Erziehung  ihrem  innersten  Wesen  nach 
nicht  Beeinflussung,  sondern  Lenkung,  Leitung  ist.    „Die  Eindrücke  von  den 
auswärtigen  Dingen  bestimmen  ein  Kind  nicht  in  seinem  Verhalten,  sondern 
diese  sind  nur  Veranlassung,  sich  nach  seinem  inneren,  in  der  Natur  gegrün- 
deten Plan   zu    bilden  (§  85).     Die  besten   Übungen  werden  von   der  Natur 
veranlaßt.    Das  Kind  erwartet  nur  Beistand,  den  wir  schlecht  leisten  werden, 
wenn  wir  seine  Natur  nicht  kennen.     „Die  große  Regel  der  Weisen:  Folge 
der  Natur,  verbindet  uns  auf  die  dringendste  Art,  uns  in  eiiie  nähere  Be- 
kanntschaft mit  einem  Kinde  einzulassen,  um  die  Natur  eines  Kindes,  dafür 
wir  jetzt  die  nötigen  Beschäftigungen  wählen  sollen,  kennen  zu  lernen,  weil 
auf  dieser  Kenntnis  das  ganze  Glück  der  Wahl  und  zugleich  der  Erziehung 
beiiihet."*)    Die  Vorzüge  des  Menschen  sind  Vernunft  und  Freiheit.    Zu  beant- 
worten hat  deshalb  der  Erzieher  die  Frage:  Was  sind  Vernunft  und  Freiheit 
bei    einem  Kinde  ?^)     „Es   ist    falsch,    von  allen  Menschen   auf  ein  Kind  zu 
schließen."     Man  kann  das  so  wenig,  „als  wir  von  dem,  was  die  Menschen 
wirklich  sind,  auf  das,  was  sie  sein  können,   einen  Schluß  machen  können. 
Desto  richtiger  und  bündiger  aber  ist  der  Schluß,  den  man  von  Kindern  auf 
die  Menschen  macht  und  vielleicht  besteht  das  einzige  Mittel,  den  Menschen 
nach  einem  aus  der  Natur  hergeleiteten  Begriff  recht  kennen  zu  lernen,  darin, 
daß  man  mit  Kindern  durch  einen  näheren  Umgang  bekannt  wird."^)    „Daß 
ein  Philosoph  ein  Kind  nicht  kennte,   das  kann  man  ihm  vergeben,    daß  er 
aber  seinen  Schlüssen,   die  er  von  dem  Menschen,  wie  er  wirklich  ist,   auf- 
die  menschliche  Natur  und  auf  ein  Kind  macht,  soviel  zutrauet,  das  kann  man 
ihm  nicht  vergeben."')     „Vernunft,  Klugheit,  Verstand,   Scharfsinnigkeit  des 
Geistes,  diese  Vorzüge  wirkhch  gioßer  Männer,  dadurch  sie  der  Welt,  sowohl 
als  sich  selbst  in  allen  Umständen  so  nützlich  werden,  müssen  in  ihren  ersten 
Zügen,  ihrer  Anlage  nach,  in  der  Seele  eines  Kindes,  ob  zwar  gleichsam  als 
eingewickelt  Hegen."     „Diese  Fähigkeiten  eines  Kindes,   sowohl  als  ihr  Ver- 


«)  Geb.  1713  in  Allandhuy  b.  Vouziers,  gest.  1780   in   Paris.     Hauptwerk:   Cours  de   belles- 
lettres.     5  Bde. 

•^)  Vergl.  a.  a.  O.,  §  1,  19,  20,  95,  22.  ^)  Übers,  von  E.  von  Sallwürk.     Bd.  I,  S.  9. 

'^)  Engel  a.  a.  0.,  §  95.  *)  A.  a.  0.,  §  42.  «)  A.  a.  0.,  §  43.  ")  A.  a.  0.,  §  90. 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  u.  der  experimentellen  Pädagogik      259 

hältnis  zu  seiner  Bestimmung  müssen  wir  von  einem  Kinde  selbst  lernen.**') 
Engel  beschränkt  sich  nicht  auf  allgemeine  Forderungen,  sondern  er  ist  be- 
müht, eine  Analyse  des  kindlichen  Seelenlebens  zu  geben.  Alle  Handlungen 
des  Menschen  sind  aus  „der  einzig  wirkenden  Kraft  der  Seele"  herzuleiten, 
nicht  von  drei  Seelen.  Es  gibt  nur  eine  Seele  mit  einer  gewissen  starken 
und  schwachen  Seite,  mit  gewissen  Ober-  und  Unterkräften.  Die  Aufmerk- 
samkeit ist  das  erste  Merkmal  des  Verstandes,  wie  Engel  bemerkt.  Er  zeigt, 
wie  sie  durch  Empfindungen  bestimmt  wird.  Dann  behandelt  er  die  Neigung 
des  Kindes,  zu  gefallen,  seinen  Nachahmungstrieb,  seine  Wißbegierde,  seinen 
Geschmack,  der  nach  Engel  unter  allen  Fähigkeiten  die  erste  Stelle  einnimmt. 
Die  Kinder  sind  „individuell  verschieden".  Der  Geschmack  ist  es,  der  durch 
seine  verschiedenen  Grade  die  Gaben  eines  Kindes  unterscheidet  und  auf 
den  die  ganze  Bildung  des  Geistes  und  des  Herzens  ankommt."^)  ^Der  Irr- 
tum, den  der  Mensch  in  der  Wahl  des  Guten  und  Bösen  begehet,  ist  ihm 
gar  nicht  natürlich,  am  wenigsten  aber  einem  Kinde,  weil  sich  die  Empfindung 
allezeit  weniger  irret  als  die  Vernunft."  „Wir  haben  also  nicht  nötig,  einem 
Kinde  die  Wahl  und  die  Unterscheidung  des  Guten  und  Bösen  durch  fremde 
Mittel  zu  erleichtern".  Der  Mensch  weiß  seine  Gedanken  zum  Vorteil  seines 
Handelns  zu  drehen,  weiß  sein  Tun  zu  beschönigen,  „das  gilt  besonders  von 
einem  Kinde". 3)  Die  Bedeutung  der  Sprache  füi*  die  geistige  Entwicklung 
des  Kindes  hebt  Engel  ganz  besonders  hervor.  Von  einem  unrichtigen  Aus- 
druck eines  Kindes  dürfen  wir  nach  ihm  nicht  auf  eine  mangelhafte  Vor- 
stellung schließen.  Es  ist  also  falsch,  ein  Kind  nach  seinen  Ausdrücken  zu 
beurteilen.  Man  bedenke,  wie  schwer  es  selbst  für  den  Erwachsenen  oft  ist, 
für  einen  richtigen  Gedanken  das  ganz  richtige  Wort  zu  finden.'*)  Die  erste 
Handlung,  welche  auf  die  höhere  Bestimmung  des  Kindes  hinweist,  ist  die 
lallende  Nachbildung  gehörter  Laute,  die  sich  auch  bei  Geschöpfen  der  nied- 
rigsten Art  findet.  Höher  steht  die  Bildung  nichtgehörter  Laute.  Gedächtnis, 
Witz  und  Geschmack  bedingen  die  Bildung  der  Kindessprache. 'O  Das  Kind 
lernt  leichter  eine  vollkommene  als  eine  unvollkommene  Sprache.  Man  darf 
es  nicht  nach  vorausgesetzten  und  vorher  bekannt  gemachten  Regeln  unter- 
richten. Übungen  der  Sprache  sind  zugleich  Übungen  des  Verstandes.  Die 
Worte  sind  Zeichen  unserer  Gedanken.  Beide  haben  notwendige  Beziehungen 
aufeinander,  darum  müssen  die  Regeln  der  Sprache  zugleich  Regeln  der  Ver- 
nunft sein.^)  Das  Seelenleben  des  Kindes  wird  zunächst  durch  Gedächtnis 
und  Einbildungskraft  beherrscht.'')  „Aus  dem  Auswendiglernen  ein  besonderes 
Geschäft  machen,  heißt  nichts  anderes,  als  dasjenige,  was  ein  Kind  notwen- 
dig und  mit  Lust  venichtet,  einem  unnatürlichen  Zwang  unterwerfen."  Wenn 
der  Unterricht  interessant  gestaltet  wird,  tut  das  Gedächtnis  von  selbst,  ohne 
Zwang  seine  Schuldigkeit.^)  Eine  höhere  Fähigkeit  als  die  Einbildungskraft 
und  das  Gedächtnis  ist  der  Witz,  mit  dessen  Hilfe  das  Kind  schon  die  Ähn- 
lichkeit zwischen  den  beiden  ersten  Tönen  entdeckt.  Während  er  bei  dem 
Tiere  keiner  Erweiterung  fähig  ist,  sind  bei  dem  Kinde  immer  höhere  Grade 
möglich.  Auf  dem  Witz  beruhen  alle  großen  Eigenschaften  des  Geistes.  Er 
befähigt  das  Kind,  „bloß  aus  dem  Grunde  der  Ähnlichkeit,  von  der  Beschaff en- 

')  A.  a.  O.,  §  115.  2)  Vgl.  a.  a.  0.  §§  53—80.  »)  §§  83,  85,  86  o.  a.  0. 

*)  Vgl.  a.  a.  0.,  §  87,  88.  *)  Vgl.  a.  a.  O.,  §96.  97.  ")  Vgl.  a.  a.  O.,  §  111.  112. 

')  Vgl.  a.  a    O.,  §  116.  *)  A.  a.  O.,  g  121,  123. 

17* 


260  Hermann  Götz 


heit  ganzer  Arten,  Gattungen  und  Geschlechter  richtig  zu  schließen  und  also 
von  einem  Ding  alle  anderen,  die  unter  einen  allgemeinen  Begriff  gehören, 
zu  lernen."  „Es  ist  grausam,  ein  Kind  mit  trockenen  Lehren  unterhalten,  die 
es  selbst  erfinden  will,  erfinden  kann,  erfinden  muß."  Die  Natur  hilft,  zeigt 
dem  Kinde  „die  Ähnlichkeiten  in  den  Verhältnissen  zwischen  Ursache  und 
Wirkung,  Mittel  und  Zweck  und  zwischen  dem  Ganzen  und  seinen  Teilen. 
Ein  Kind  findet,  so  klein  auch  der  Bezirk  seiner  Erfahrungen  ist,  daß  in 
einerlei  Umständen  immer  einerlei  erfolget,  daß  jede  Wirkung  eine  Absicht, 
ein  Mittel  zu  einer  höheren  Absicht  sei,  dadurch  alles  um  ihn  in  einer  Ver- 
knüpfung erscheinet.  Das  große  Warum?  das  ein  Kind,  fast  sobald  es  die 
Augen  öffnet,  unaufhörlich  und  unendlich  oft  wiederholet,  beweiset,  daß  es 
von  einer  Welt,  die  mit  seinen  Bedürfnissen  übereinstimmen  und  für  ihn  ge- 
macht sein  soll,  Ordnung,  Zusammenhang  und  Übereinstimmung  erwarte." 
„Ein  Kind  setzet  voraus,  daß  alles  seinen  zureichenden  Grund  haben  muß."') 
„Die  Aufmerksamkeit  ist  eine  Anwendung  der  Vorstellungskraft  auf  einen 
äußeren  Gegenstand,  deren  Grad  jedesmal  nach  dem  Grade  der  Vollkommen- 
heit, die  sich  in  dem  Gegenstande  befindet,  bestimmt  wird."  Der  Verstand 
denkt  nur  insoweit  richtig,  als  er  von  dem  guten  Geschmack  geleitet  wird, 
der  alle  Vorzüge  des  Geistes  und  Herzens  in  sich  begreift.  „Der  Geschmack 
macht  auch  die  inneren  Beweggründe  und  wahren  Triebfedern  aus,  dadurch 
der  Geist  in  einer  beständigen  Wirksamkeit  erhalten  wird;  er  ist  die  Kraft, 
durch  die  sich  der  Geist,  durch  sich  selbst,  zu  seiner  Vollkommenheit  auf 
die  richtigste  Art  ausbildet."  Belohnung  und  Strafe  sind  äußere  Beweggründe, 
aber  sie  können,  weil  sie  nicht  natürlich  sind  wie  der  Geschmack,  großes 
Unheil  anrichten.  Beschäftigungen,  gegen  die  ein  Kind  beständig  Unlust  äußert, 
müssen  unnatürlich  sein. 2)  Im  Kinde  werden  große  Empfindungen  durch  wohl- 
getroffene Schilderungen  eines  edlen  Charakters  allzeit  erweckt.  Die  guten 
Muster  wählt  sich  ein  Kind  selbst.  Eigensinn,  Schalkheit,  Unlust  zu  nützhchen 
Beschäftigungen  sind  schon  bei  kleinen  Kindern,  oft  in  nicht  geringer  Stärke 
anzutreffen.  „Der  Eigensinn  ist  ein  Wille,  der  sich  bloß  durch  das  Gegenteil 
dessen,  was  angeraten  oder  befohlen  wird,  bestimmt,  es  mag  an  sich  gut  oder 
böse  sein,  nach  dem  bekannten  Satze:  Nitimur  in  vetitum,  temper  capimusque 
negata.  Quellen  des  Eigensinns  sind:  Mißtrauen  gegen  Andere  und  allzu- 
großes Vertrauen  auf  sich  selbst;  Verbote,  die  dem  Kinde  mißfallen,  Ton  und 
Mienen  bei  Befehlen  und  Verboten  können  das  Mißtrauen  des  Kindes  erwecken. 
Mit  dem  Mißtrauen  aber  gegen  andere  wächst  das  Vertrauen  zu  sich  selbst. 
„Wenn  man  nun  vom  Eigensinn  alles  das  absondert,  was  durch  eine  schlechte 
Erziehung  dazu  kommt,  nämlich  Mißtrauen  gegen  andere  und  allzu  großes 
Vertrauen  zu  sich  selbst,  so  bleibt  nichts  übrig  als  ein  gewisser  Widerstand 
im  Gemüt,  der  den  Eindrücken  von  außen  das  Gegengewicht  hält,  daß  sie 
nur  nach  dem  Grade  des  Guten  und  dadurch  sich  die  Dinge  unterscheiden, 
auf  das  Gemüt  wirken.  Und  in  dieser  Betrachtung  ist  der  Eigensinn  die 
schönste  Eigenschaft  des  Kindes."  „Unterdrückt  man  diesen  Eigensinn,  so 
raubt  man  einem  Kinde  nicht  nur  alles  Verdienst,  sondern  macht  es  auch, 
durch  den  unausbleiblichen  Erfolg,  entweder  zu  einer  Maschine  oder  zu  einem 
Bösewicht."  Die  Triebe  zeigen  sich  bei  verschiedenen  Kindern  in  sehr  ver- 
schiedener Stärke.   Gegen  Neigungen  und  Leidenschaften  ist  bei  Kindern  mit 


»)  A.  a.  0.,  §  t26,  127,  128.  '')  Vgl.  a.  a.  O.,     131—133. 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  u.  der  experimentellen  Pädagogik      261 


Vernunftschlüssen  wenig  auszurichten,  da  sie  Vorurteile  des  Herzens  und  da- 
mit stärker  und  gefährlicher  als  die  Vorurteile  des  Verstandes  sind.  Kinder 
haben  solche  Vorurteile  des  Herzens  nur  so  weit,  als  sie  ihnen  nach  ein«r 
festgesetzten  Gewohnheit  beigebracht  werden.  An  sich  hat  ein  Kind  ein 
richtiges  Gefühl  für  das  Gute,  wie  für  das  Böse.  Die  bösen  Neigungen  des 
Kindes  sind  entweder  feindsehge,  d.  i.  solche,  die  eine  Beleidigung  zum  Grunde 
haben.  Und  dann  ist  das  einzige  Mittel,  sie  zu  unterdrücken,  daß  man  jene 
unterläßt  und  das  Kind  mit  den  sanften  Gefühlen  bekannt  macht,  oder  sie 
sind  töricht,  „d.  i.  solche,  die  aus  dem  Irrtum,  welchen  wir  in  Absicht  unseres 
Wertes  begehen,  indem  wir  solchen  zu  hoch  oder  zu  niedrig  setzen  oder  ihn 
aus  falschen  Gründen  bestimmen.  Diesen  Irrtum  begeht  ein  Kind  niemals, 
wenn  wir  nicht  gegen  es  gebieterisch  strenge,  oder  ängstlich  zärtlich  oder 
niederträchtig  gefällig  sind  und  dadurch  seinen  Wert  zu  weit  heruntersetzen 
oder  zu  sehr  über  sein  Verdienst  erhöhen,  wenn  wir  nicht  selbst  Verehrer 
von  den  Dingen  sind,  die  Geiz,  Wollust  und  Ehrsucht  vergöttert  haben  und 
es  dadurch  veranlassen,  seinen  Wert  aus  falschen  Gründen  zu  bestimmen."  0 
Längere  Zeit  galt  in  Deutschland,  nachdem  die  Franzosen  Michelan  und 
Perez  auf  seine  Verdienste  hingewiesen  hatten,  der  nicht  unbedeutende  Anti- 
kantianer  Diedrich  Tiedemann  als  Begründer  der  Kinderpsychologie, ^)  bis 
Theodor  Fritzsch  nachwies,  daß  Tiedemann  „nur  ein  Glied  in  der  großen  Reihe 
der  Forscher  auf  dem  Gebiete  der  Pädologie  in  der  zweiten  Hälfte  des  18. 
Jahrhunderts  ist". 3)  Nun  haben  wir  gezeigt,  daß  Friedrich  Engel  nicht  nur 
die  Notwendigkeit  der  kinderpsychologischen  Forschung  und  ihre  Bedeutung 
für  die  Grundlegung  der  Pädagogik  erkannte,  daß  er  sie  nicht  nur  entschieden 
forderte,  sondern  daß  er  es  auch  unternahm,  die  Entwicklung  des  kindlichen 
Seelenlebens  darzustellen.  Mithin  dürfen  wir,  solange  nicht  ein  früherer  Ver- 
treter derselben  gefunden  wird,  die  Anfänge  der  Kinderpsychologie 
in  Deutschland  bei  Friedrich  Engel,  ihren  Anfang  also  um  das 
Jahr  1750  suchen. 

Elf  Jahre  später  als  das  Werk  Engels,  erschien  eine  klar  und  leicht  ver- 
ständlich geschriebene  Psychologie  des  Verstandes  und  des  Willens.^)  Ihr  Ver- 
fasser war  David  Nikol.  Schönfeldt,  Pastor  an  der  deutschen  Marienkirche  zu 
Bergen  in  Norwegen.  Er  sagt:  „Die  Erziehung  der  Kinder  und  die  Regie- 
rung anderer  Menschen  wird  niemals  recht  von  statten  gehen,  wenn  man 
die  Gemüter,  die  regiert  und  gebessert  werden  sollen,  nicht  recht  erkennet."^) 
Aber  wie  erlangt  man  diese  notwendige  Erkenntnis?  Es  ist  bedeutsam,  wie 
der  Verfasser,  der  nur  an  wenigen  Stellen  auf  die  Eigen tümUchkeiten  des 
kindlichen  Seelenlebens  eingeht,  diese  Frage  beantwortet.  Er  meint,  die  Er- 
fahrung sei  die  Hauptsache  in  der  Seelenlehre.  Da  fast  gar  keine  fremden 
Erfahrungen  und  Versuche  hinterlassen  worden  seien,  hätten  einige  Gelehrte 
gewisse  Meinungen  und  Grundsätze  angenommen.  Leicht  sei  die  Einbildung 
entstanden,   daß  die  Erfahrung  damit  tibereinstimme.     Dem  Mangel  an  Er- 

»)  Vgl.  a.  a.  O.,  §  150  bis  161. 

*)  Geb.  1 748  zu  Bremervörde  b.  Bremen,  gest.  1 803  zu  Marburg.  Er  veröffentlichte  a.  a.  „Be- 
obachtungen über  die  Entwicklung  der  Seelenfähigkeiten  bei  Kindern,"  erschienen  1787  in  den 
, Hessischen  Beiträgen  zur  Gelehrsamkeit  und  Kunst,"     Bd.  U,  Stück  2  und  3. 

^)  Die  Anfänge  der  Kinderpsychologie  und  die  Vorläufer  des  Versuchs  in  der  Pädagogik,  Zeitschr. 
f.   päd.  Psych.,  Path.  u.  Hygiene,  1910,  S.  14'>. 

*)  Der  Titel  lautet :  ,  Anweisung  zur  Erkenntnis  seiner  selbst  nach  der  natürlichen  Beschaffenheit 
seiner  Seele."     Bützow  u.  Wismar  1764.  *)  A.  a.  0 ,  S.  8. 


262  Hermann  Götz 


fahrungen  müsse  abgeholfen  werden.  Die  Großen,  welche  die  Sozietäten  der 
Wissenschaften  stiften  und  regieren,  müßten  die  Seelenlehre  zu  einer  Haupt- 
klasse ihrer  gelehrten  Gesellschaft  machen.  Außer  den  Erfahrungen  seien 
besondere  Versuche  notwendig.  Durch  ausgesetzte  Belohnungen  soll  man 
„andere  fähige  Köpfe,  vornehmlich  solche,  die  mit  der  Unterweisung  und 
Erziehung  der  Kinder  zu  tun  haben,  ermuntern,  sich  um  die  zur  Erkenntnis 
der  Seele,  besonders  der  Kinder,  dienenden  Erfahrungen  genauer  zu  bekümmern 
und  was  sie  nützliches  entdecken,  zum  allgemeinen  Besten  kundzumachen." 
Die  Lehre  von  der  Seele  ist  einer  der  allerwichtigsten  und  schwersten  Teile 
der  Naturlehre.  Darum  sind  bei  der  ersteren  wie  bei  der  letzteren  mehr 
Erfahrungen  und  genauere  Versuche  notwendig.  Hier  finden  wir,  vielleicht 
zum  ersten  Male,  die  Forderung,  die  kindliche  Psyche  durch  Ver- 
suche zu  ergründen.  Gleichzeitig  verlangt  ein  Aufsatz,  der  im  Berlinischen 
Magazin  erschien  (III,  583),  eine  Geschichte  von  allem,  „was  in  der  Seele 
eines  Kindes  von  der  ersten  Empfindung  oder  vielmehr  von  der  ersten  Be- 
wegung seines  Lebens  an  bis  zum  ersten  Gebrauch,  den  es  von  seiner  Ver- 
nunft gemacht,  vorgegangen  ist."  Dadurch  werde  ein  helleres  Licht  über 
das  Wesen  der  Seele  verbreitet  als  durch  alle  Lehrgebäude,  welche  die 
Philosophen  von  Anfang  der  Welt  aufgeführt  haben.  Im  Jahre  1769  erschien 
in  Berhn  Christian  Garves')  Preisschrift  „Ob  man  die  natürlichen  Neigungen 
vernichten  oder  welche  erwecken  könne,  die  die  Natur  nicht  erzeugt  hat." 
Der  Verfasser  knüpft  mit  „großer  Vorliebe  an  die  ersten  Regungen  der 
Kindesseele  an".  „Die  Beispiele  zeichnen  sich  durch  die  vom  Kindesalter 
ausführlich  handelnde  genetische  Betrachtung  aus.  "2)  Der  namhafte  Philolog 
Christian  Gottfried  Schütz^)  übersetzte  1770  Bonnets  „Essai  analytique*  und 
begleitete  ihn  mit  eigenen  wertvollen  Bemerkungen.  „Im  einzelnen  verlangt 
er  Untersuchungen  über  den  Ursprung  der  Fähigkeiten  und  Neigungen  in 
den  Kindern,  ferner  eine  genauere  Erforschung  verschiedener  außerordent- 
licher Seelenzustände.  Nun  erst  sind  als  Freunde  und  Vertreter  der  Kinder- 
psychologie die  Philanthropisten  und  Männer,  die  ihnen  nahestanden,  zu 
nennen.  Theodor  Fritzsch  führt  besonders  auf^)  Sneedorf,  einen  Verwandten 
Basedows,  Johann  Karl  Wezel,^)  „der  eine  ganze  Theorie  der  pädagogischen 
Beobachtung  entwickelt",  Christian  Heinrich  Wolke, 0)  Ernst  Christian  Trapp,') 
dessen  noch  heute  wertvoller  „Versuch  einer  Pädagogik"  von  Fritzsch  neu 
herausgegeben  wurde,  die  Erziehungsrevisoren,  Karl  Philipp  Moritz,^)  der  das 
„Magazin  zur  Erfahrungsseelenkunde"  herausgab  (1783 — 1793),  den  Württem- 
bergischen Theologen  Immanuel  David  Mauchart  (1764 — 1826,)  der  ein  „All- 
gemeines Repertorium  für  empirische  Psychologie  und  verwandte  Wissen- 
schaften" leitete  (1792 — 1801),  und  den  schon  erwähnten  Dietrich  Tiedemann.^) 
Das  Interesse  für  die  Kinderpsychologie  bleibt  auch   weiterhin.     Wir  be- 


1)  Geb.  1742  zu  Breslau,  gest.  daselbst  1798.  , 

2)  Max  Dessoir,  Gesch.  der  neueren  deutschen  Psychol.,  2.  Aufl.,  S.  151,  262,  264. 
^)  Geb.  1747  zu  Dederstedt  im  Mansf eidischen,  gest.   1832  in  Halle. 

*)  A.  a.  O.,  S.  150  ff. 

*)  Geb.  1747  in  Sondershausen,  gest.  1819  ebenda. 
^)  Geb.  1741  zu  Jever,  gest.  1825  in  Berlin. 
'')  Geb.  1745  zu  Drage  b.  Itzehoe,  gest.  in  Wolfenbüttel  1818. 

*)  Geb  1757  in  Hameln,  gest.  1793  als  Prof.  der  Altertumskunde  bei  der  Äkad.  d.  bild.  Künste 
zu  Berlin. 

"j  Geb.   1748  in  Bremervörde  b.  Bremen,  gest.  als  Prof.  der  Philos.  zu  Marburg  1803, 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  u.  der  experimentellen  Pädagogik      263 

gegnen  ihm,  und  das  ist  nicht  allzu  verwunderlich,  bei  einer  Anzahl  mehr 
oder  minder  bedeutender  Pädagogen,  Pestalozzi  führte  über  sein  Söhnlein 
.laqueli  vom  27.  Januar  bis  zum  19.  Februar  1774  ein  Tagebuch,  das  erst  1828 
veröffentlicht  wurde.  ^)  Friedrich  Heinrich  Christian  Schwarz'^)  schickt  dem 
dritten  Bande  seiner  Erziehungslehre,  in  dem  er  das  System  der  Erziehung 
behandelt,  einen  Abriß  der  physiologisch-psychologischen  Entwicklung  des 
Kindes   voraus.^)     Er   betrachtet  I.   Das    werdende   Kind:    1.  Lebensanfang. 

2.  Embryo.  3.  Perioden  seiner  Entwicklung.  4,  Einfluß  der  Mutter.  II.  Die 
Jugend.  1.  Periode:  Die  Kindheit:  1.  Das  neugeborene  Kind.  2.  Neuer  Zu- 
stand des  Organismus.  3.  Die  wichtigsten  Erscheinungen  in  dem  menschlichen 
Lebensprozesse  in  ihrer  Beziehung  auf  das  Geistige:  a)  Das  Atmen,  b)  Das 
Gähnen,  c)  Das  Seufzen,  d)  Die  Beklemmung  und  Bangigkeit,  e)  Das  Weinen, 
f)  Das  Lachen,  g)  Das  Schreien  (vagitus,  Wimmern),  h)  Das  Zittern,  i)  Der 
Takt.  Die  erste  Kindheit.  Der  Säugling:  a)  Erste  Lebenswoche.  Es  wird 
Licht,  b)  Die  ersten  fünf  Monate.  Das  Chaos  scheidet  und  formt  sich,  c)  Vom 
6.  Monate  bis  zum  10.  oder  bis  zum  Ende  des  12.  Die  Vollendung  der  Kind- 
heit. Das  laufende  und  sprechende  Kind  bis  zur  völligen  Entwicklung  des 
Selbstbewußtseins  d.  h.  bis  gegen  das  Ende  des  3.  Jahres,  a)  Körperliche 
Entwicklung,    b)  Geistige  Entwicklung.    1.  Der  Sinne.    2.  Des  inneren  Sinns. 

3.  Der  Seele  bis  zum  Selbstbewußtsein.  4.  Der  Gefühle  und  Neigungen. 
5.  Der  Sprache.  6.  Übersicht.  2.  und  3.  Periode :  Das  Knaben  und  Mädchen- 
alter. Der  Jüngling  und  die  Jungfrau:  I.  Wachstum  des  Körpers.  II.  Entwick- 
lung des  Geistes.  1.  In  der  Sinnestätigkeit.  2.  In  der  Denkfähigkeit.  3.  In 
dem  Fühlen  und  Begehren.  Der  erwachsene  Mensch.  —  Angeregt  durch  Schwarz, 
gibt  Bernhard  Gottlieb  Denzel*)  dem  ersten  Teile  seiner  Erziehungs-  und 
Unterrichtslehre  auf  Seite  1 — 75  eine  psychologische  Einleitung,  in  welcher 
er  u.  a.  behandelt:  Entfaltungsgang  der  menschlichen  Natur:  Die  Kindheit. 
Das  Knaben-  u.  Mädchenalter.  Das  Jünglingsalter.  Hauptperioden  der  geistigen 
Entwicklung*).  Namentlich  die  Psychologie,  der  kindlichen  Fehler  und  Tugen- 


»j  Mitgeteilt  bei  Fritzsch,  a.  a.  0.,  S.  159. 

^)  Geb.  1766  in  Gießen,  gest.  als  Prof.  d.  Theologie  1837  zu  Heidelberg.  »)  8.  96—328. 

'•)  Geb.  1773  zu  Stuttgart,  gest.  1838  als  Rektor  und  Inspektor  des  evangel.  Seminars  zu  Eß- 
lingen. 

•)  Anmerkung:  Denzel  beruft  sich  unter  anderem  auf  ein  Buch  Joh.  Christian  Aug.  Groh- 
manns,  der  Professor  der  Philosophie  in  Hamburg  war:  ,Die  Psychologie  des  kindlichen  Alters. 
Hamburg  1812,  Das  Buch  erschien  erweitert,  wohl  1816  und  scheint  viel  gelesen  worden  zu 
sein,  da  1824  eine  wohlfeile  Ausgabe  verbreitet  wurde,  welche  den  Titel  trägt:  „Ideen  zu  einer 
Geschichte  der  Entwicklung  des  kindlichen  Alters."  Im  Vorworte  sagt  der  Verfasser :  „Erziehungs- 
lehre, das  war  das  Ganze,  was  man  glaubte  aus  dem  Kinde  machen  und  nehmen  zu  müssen. 
Und  doch  studierte  man  selbst  in  dieser  Hinsicht  weniger  die  kindliche  Natur,  als  daß  man  die 
kindliche  Natur  nach  der  Erziehungslehre  formte,  nicht  wissend,  ob  dasjenige,  was  man  aus  der 
Natur  nahm,  Wahrheit  oder  Einfall  war."  Gr.  will  dazu  beitragen,  daß  es  anders  wird.  Er  ist 
angeregt  von  Moritz  und  Mauchart,  weicht  aber  von  der  Methode  seiner  Vorgänger  bewußt  ab. 
Er  ist  überzeugt,  „daß  sich  der  Mensch  nach  eben  den  Gesetzen  ausbilde,  nach  welchen  sich 
das  Menschengeschlecht  bildet"  (V.,  auch  VI.),  „Das  Kind  ist  der  kleine  Naturmensch,  der  Natur- 
mensch das  großgewordene  Kind"  (41.).  Das  will  er  zeigen  in  einer  auf  Erfahrung  gegründe- 
ten Entwicklungsgeschichte  der  kindlichen  Psyche.  Er  unterscheidet  drei  Entwicklungsstufen. 
1.  Die  animale,  auf  welcher  die  niederenTriebe  vorherrschen,  2.  die  humane,  auf  welcher  sich 
die  spezifisch  menschlichen  Neigungen  entwickeln,  3.  die  intellectuelle  und  moralische.  Auf 
jeder  Stufe  werden  betrachtet  „Begehrungsvermögen",  „Empfindungsvermögen",  „Erkenntnis- 
vermögen"     Der  Verfasser  besitzt  Geist,  er  hat  scharf  beobachtet,  aber  sein  an  sich  sehr  in- 


264  Hermann  Götz 


den  findet  verständlicherweise  die  Beachtung  bedeutender  Pädagogen.  Tief- 
gehendes Verständnis  für  die  Eigenart  der  kindlichen  Psyche,  namentlich  für 
die  tadelnswerten  Regungen  derselben,  verrät  bekanntlich  Christian  Gotthilf 
Salzmann  in  seinem  „Krebsbüchlein".!)  Als  trefflicher  Kinderpsycholog  er- 
weist sich  auch  Aug.  Herrn.  Niemeyer, 2)  der  hervorragende  Kanzler  und 
Rector  perpetuus  der  Universität  Halle  in  den  folgenden  vorzüglichen  Aus- 
führungen, die  in  seinen  Grundsätzen  der  Erziehung  und  des  Unterrichts 
enthalten  sind: 3)  Ausartende  Lebhaftigkeit.  Natürliche  Trägheit  der  Kinder, 
Untugenden  aus  Trägheit.  Aufrichtigkeit  und  Lügenhaftigkeit.  Überstarke 
und  schwache  Reizbarkeit  der  Kinder  im  früheren  Alter.  Untugenden  aus 
zu  starker  Reizbarkeit;  Empfindlichkeit,  Eigensinn,  Geist  des  Widerspruchs, 
Trotz,  natürliches  Wohlwollen  der  Kinder,  Bekämpfung  übelwollender  und 
feindseliger  Neigungen.  Über  Selbstsucht,  Neid,  Eigennutz,  Gewinnsucht. 
Über  Einbildung,  Stolz,  Ehrgeiz,  Behutsamkeit  in  der  Schwächung  selbst- 
süchtiger Triebe.  Beförderung  des  Triebes  zu  gemeinnütziger  Tätigkeit. 
Vaterlandsliebe.  Einfluß  der  Erziehung  auf  FamiUe  und  Freundschaftssinn. 
Einfluß  der  Erziehung  auf  Geschlechtsliebe.  Auch  vorher  begegnen  wir  da 
und  dort  guten  Ausführungen  Niemeyers  über  psychische  Eigentümlichkeiten 
des  Kindes.  Zahlreiche  psychologische  Einstreuungen,  die  Fehler,  Tugenden 
und  andere  innere  Wesensbesonderheiten  des  Kindes  zum  Gegenstand  haben, 
finden  sich  in  der  Erziehungs-  und  Unterrichtslehre  Friedrich  Eduard  Benekes*) 
und  bei  Tiuskon  Ziller^),  in  dessen  „Vorlesungen  über  allgemeine  Pädagogik" 
und  in  seiner  „Grundlegung  vom  erziehenden  Unterricht".  Auch  den  be- 
deutendsten Denker  Herbartscher  Richtung,  Ludwig  Adolf  von  Strümpell,*^) 
mtissen  wir  hier  nennen.  Es  sei  hingewiesen  auf  seine  Schrift  „Die  Ver- 
schiedenheit der  Kindernaturen"  von  1844,  deren  Neudruck  mit  Nachwort 
1894  erschien.  Dem  Interesse  Strümpells  an  der  Psyche  des  Kindes  ver- 
danken wir  die  grundlegende  „Pädagogische  Pathologie  oder  die  Lehre  von 
den  Fehlern  der  Kinder"  (1890).  Wie  klar  er  sich  des  Zusammenhanges 
zwischen  der  Kinderpsychologie  und  der  Pädagogik  bewußt  ist,  bezeugt  er 
selbst,  wenn  er  sagt:  „Unter  der  psychologischen  Pädagogik  verstehe  ich  die 
Wissenschaft,  von  der  geistigen  Entwicklung  des  Kindes  bezogen  auf  die 
Zwecke,  welche  die  Erziehung  des  Kindes  durch  die  Erwachsenen  im  An- 
schluß an  die  Individuahtät  desselben  zu  erreichen  strebt."^)  So  dürfen  wir 
sagen,  daß  in  Deutschland  das  Interesse  an  der  Kinderpsychologie  spätestens 
um  1750  n.  Chr.  erwachte  und  daß  es  nicht  wieder  erlosch,  bis  dann  die 
Vorläufer  und  die  eigentlichen  Vertreter  experimenteller  Pädagogik  die 
Kinderforschung  energisch  in  die  Hand  nahmen. 

Wenden  wir  uns   nun  zur  formalen  Neuerung  der  experimentellen  Päda- 
gogik,  zur  Anwendung  des  Experiments  in  der  pädagogischen  Forschung. 

teressantes  Buch  liest  sich  nicht  gut,  da  die  Darstellung  schwülstig  ist  und  häufige,  völlig  un- 
nötige Wiederholungen  auftreten.  Wo  dem  Verfasser  die  Beobachtungen  fehlen,  konstruiert  er. 
Auf  den  von  ihm  hervorgehobenen  Parallelismus  weist  er  nur  anfangs  an  wenigen  Stellen  hin. 

*)  Geb.   1744  zu  Sömmerda,  gest.  1811  zu  Schnepfenthal. 

»)  Geb.  1754  zu  Halle,  gest.  1828  ebenda. 

3)  Herausgegeben  von  Rein,  2.  Abt.  Bd.  I,  S.  125  bis  232. 

*)  Geb.  1798  in  Berlin,  gest.  1854  daselbst. 

^)  Geb.  1817  in  Wasungen,   gest.  1882  in  Leipzig. 

")  Geb.  1812  in  Schöppenstedt,  gest.  IS99  in  Leipzig. 

')  Psychol.  Pädagogik,  Leipzig  1890,  S.  V. 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  u.  der  experimentellen  Pädagogik      265 

Nach  Max  Dessoir  bezeichnete  man  seit  dem  16.  Jahrhundert  mit  langsam 
wachsender  Einsicht  als  die  Aufgabe  wissenschaftlicher  Psychologie:  Den 
ursächlichen  Beziehungen  nachzuspüren,  die  einerseits  zwischen  außen  und 
innen,  anderseits  zwischen  den  Elementen  des  Seelenlebens  selbst  bestehen; 
die  Naturgesetze  der  Seele  aufzufinden;  die  Methoden  der  naturwissen- 
schaftlichen Beobachtung  und  des  Experiments,  der  Messung  und  mathe- 
raathischen  Berechnung  anzuwenden.')  Der  Tübinger  Professor  Georg  Bern- 
hard Bilfinger,2)  ein  Wolffianer,  fordert  in  seinem  Hauptwerke:  Dilucidationes 
philosophicae  de  Deo,  anima  humana,  mundo  et  generalibus  rerum  affectionibus 
(Tübingen  1725),  man  solle  die  psychischen  Erscheinungen  durch  sorgfältige 
Beobachtungen  und  Versuche  erforschen,  die  Tatbestände  vergleichen  und 
daraus  gewisse  Regeln  ableiten  und  die  so  gefundenen  Kräfte  zu  einer  all- 
gemeinen Idee  vereinigen.  3)  Reichlich  ein  Vierteljahrhundert  nach  der  viel 
gelesenen  Schrift  Bilfingers  erschien:  „Versuch  einer  Experimentalseelenlehre"^), 
von  Johann  Gottlob  Krüger^),  der  Professor  der  Medizin  in  Halle  und  Helm- 
städt  war.  Er  will  sich  nur  an  die  Erfahrung  halten.  Erfahrungen  sind  so- 
wohl Wahrnehmungen  als  Versuche.  Die  Absicht,  Experimente  anzustellen, 
ist  ihm  „nicht  bloßer  Scherz".  Zum  Experimentieren  mit  der  Seele  braucht 
man  „nicht  Instrumente  aus  der  Kammer  des  Naturforschers".  Man  kann 
die  Seele  nicht  durch  die  Sinne  wahrnehmen,  aber  durch  das  Verbundensein 
der  Seele  mit  dem  Leibe  „wird  der  Körper  ein  Spiegel,  darin  sich  die  Seele 
selber  erbUckt"  (S.  7.).  Es  ist  natürlich,  „von  dem,  was  in  dem  Leibe  Ver- 
änderliches vorgeht,  auf  die  Veränderungen  der  mit  ihm  verbundenen  Seele 
einen  Schluß  zu  machen"  (S.  11).  Beim  Experimentieren  „versetzen  wir  die 
Seele  in  Umstände,  darein  sie  sonst  nicht  gekommen  sein  würde  und  da- 
durch wir  die  Natur  zwingen,  uns  das  zu  zeigen,  was  sie  sich  vorgesetzt 
hatte  für  unsere  Augen  zu  verbergen"  (S.  15).  Ins  „Innere  der  Natur"  kann 
niemand  dringen,  aber  die  Experimente  haben  uns  ihr  ein  gutes  Teil  näher 
gebracht,  darum  muß  man  zur  besseren  Erkenntnis  der  Seele  eine  Experi- 
mentalseelenlehre  begründen,  die  einen  Teil  der  empirischen  Psychologie 
bilden  wird"  (S.  17).  Die  Experimentalseelenlehre  soll  ihre  Hände  nicht  mit 
Menschenblut  besudeln,  obwohl  es  um  große  Missetäter  nicht  schade  wäre. 
Es  lassen  sich  Versuche  mit  Tieren  anstellen,  und  bei  zahlreichen  Krank- 
heiten experimentiert  die  Natur  von  selbst,  indem  sie  außergewöhnUche  Ver- 
änderungen des  Leibes  hervorruft.  Die  Ärzte  können  da  viel  wertvolles  Ma- 
terial sammeln  (S.  20).  Krüger  hat  nicht  selbst  psychologische  Experimente 
angestellt.  Er  behandelt  die  Wirklichkeit  der  Seele,  das  Erkenntnisvermögen, 
die  Empfindung,  die  Einbildungskraft,  das  Dichtungsvermögen,  Wachen, 
Schlafen  und  Träumen,  Gedächtnis,  Verstand,  Witz,  Vernunft,  Gleichgültig- 
keit, Lust  und  Unlust,  die  Gemütsbewegungen,  die  Freiheit,  die  Vereinigung 
des  Leibes  und  der  Seele,  die  Seelen  der  Tiere.  Krüger  ist  von  dem  Wolffianer 
Baumeister  in  seinen  Anschauungen  beeinflußt.  Er  trägt  sie  mit  Witz  und 
Humor  vor,  die  ihm  regelmäßig  da  helfen  müssen,  wo  er  ein  Problem  nicht, 
oder  doch  nicht  restlos  zu  lösen  vermag.  Von  den  Berichten,  welche  er 
seiner  Seelenlehre  zu  ihrer  Erläuterung  und  Begründung  anfügt  und  welche 


'»  Gesch.  der  neueren  deutsch.  Psychol.,  2.  Aufl.,  S.  22. 

2)  Geb.  1693,  gest    1750.  »)  Vgl.  dazu  Dessoir,  a.  a.  0.,  S.  83. 

')  Halle  u.  Helmstädt  1756.  »)  Geb.  1715,  gest.  1759. 


266  Hermann  Götz 


er  in  geringer  Zahl  auch  im  Texte  benutzt,  ist  auch  uns  der  über  den  von 
Cheseldon  1729  operierten  Blindgeborenen  bekannt.  Von  den  übrigen  er- 
wecken die  meisten,  obwohl  sie  von  seinerzeit  berühmten  Medizinern  stammen, 
unsere  Heiterkeit,  so  z.  B.,  wenn  wir  von  einem  Kranken  lesen,  der  acht 
oder  wohl  gar  sechzehn  Wochen  lang  an  Stricken  in  der  Schwebe  gehalten 
worden  sei,  da  ein  Grind  von  einem  Zoll  Dicke  den  ganzen  Körper  des  Leiden- 
den bedeckt  und  ihm  das  Stehen,  Sitzen  und  Liegen  gänzhch  unmöglich  ge- 
macht habe.  Doch  dem  sei  wie  ihm  wolle,  das  Verdienst  muß  man  Krüger 
zubilligen,  daß  er  die  Notwendigkeit  einer  Experimentalpsychologie  ganz  in 
modernem  Sinne  begründet  hat.  Kurz  nach  dem  Erscheinen  seines  „Ver- 
suches einer  Experimentalseelenlehre",  1764,  verlangte  Dav.  Nie  Schönfeldt, 
wie  schon  erwähnt  wurde,  die  Erhebung  der  Seelenlehre  zu  einer  Haupt- 
klasse der  Beschäftigungen  der  Gesellschaften  der  Wissenschaften  und  bezeich- 
nete es  —  zum  ersten  Male  —  als  notwendig,  daß  Pädagogen  zu  Experimenten 
mit  Kindern  ermuntert  würden.  Durch  das  hervorragende  Werk  „Philoso- 
phische Versuche  über  die  menschliche  Natur  und  ihre  Entwicklung"  ^)  wurde 
Johann  Nicolau»  Tetens  der  größte  empirische  Psycholog  Deutschlands  in  der 
vorkantischen  Zeit.  Er  sagt,  er  habe  sich  folgender  Methode  bedient:  „Die 
Modifikationen  der  Seele  so  nehmen,  wie  sie  durch  das  Selbstgefühl  erkannt 
werden;  diese  sorgfältig  wiederholt  und  mit  Abänderung  der  Umstände 
gewahrnehmen,  beobachten,  ihre  Entstehungsart  und  die  Wirkungsgesetze 
der  Kräfte,  die  sie  hervorbringen,  bemerken;  alsdann  die  Beobachtungen  ver- 
gleichen, auflösen  und  daraus  die  einfachsten  Vermögen  und  Wirkungsarten 
und  deren  Beziehung  aufeinander  aufsuchen.  Dies  sind  die  wesenthchsten 
Verrichtungen  bei  der  psychologischen  Analysis  der  Seele,  die  auf  Erfahrungen 
beruhet.  Diese  Methode  ist  die  Methode  in  der  Naturlehre  und  die  einzige, 
die  uns  zunächst  die  Wirkungen  der  Seele  und  ihre  Verbindungen  unter- 
einander so  zeiget,  wie  sie  wirklich  sind."  Das  meiste  bei  der  beobachtenden 
Methode  beruhet  auf  einer  richtigen  Beobachtung  der  einzelnen  Wirkungen, 
ihrer  Zergliederung  und  dann  besonders  auf  ihrer  Vergleichung,  wodurch 
einzelne  Sätze  zu  Allgemeinsätzen  der  Erfahrungen  erhoben  werden.  Jede 
dieser  Operationen  hat  ihre  Hindernisse.  Es  gibt  bei  dem  inneren  Sinn  wenn 
nicht  mehrere,  so  doch  ergiebigere  Quellen  zu  Blendwerken,  als  bei  dem 
äußern,  wogegen  ich  kein  Mittel  weiß,  das  wirksam  genug  wäre,  um  sich  da- 
für zu  verw^ahren,  als  die  Wiederholung  derselbigen  Beobachtung  sowohl  unter 
gleichen,  als  unter  verschiedenen  Umständen,  und  jedesmal  mit  dem  festen 
Entschluß  vorgenommen,  das,  was  wirkhch  Empfindung  ist,  von  dem,  was 
hinzu  gedichtet  wird,  auszufühlen  und  jenes  stark  gewahr  zu  nehmen."  Doch 
Tetens  beschrieb  nicht  nur  die  Methode  der  Naturlehre,  die  experimentelle 
Methode,  sondern  er  wendete  sie  auch"" an.  Zunächst  gab  er  dem  Begriffe 
der  Empfindung,  der  zu  seiner  Zeit  ein  sehr  verworrener  war,  fast  durchaus 
die  Prägung,  die  heute  als  die  richtige  anerkannt  ist.  „Er  weist  die  Haupt- 
schuld der  sogen.  Sinnestäuschungen  in  den  Wahrnehmungen  selber  nach" 
und  geht  so  weit,  auch  die  scheinbare  Größe  eines  sich  entfernenden  Gegen- 
standes auf  eine  Modifikation  der  Empfindung  zurückzuführen.  Er  verbessert 
den   ehedem  unklaren  Begriff  der  Nachempfindungen,   indem  er  sie  richtig 

^)  2  Bde,  1777.     In  vorzügl.  Ausstattung  1913  neu  herausgeg.   von   der  Kantgesellschaft  bei 
Reuther  &  Reichard  in  Berlin. 

2)  Geb.  1736  in  Tettenbüll  in  der  Landschaft  Eiderstädt,  gest.  1807  in  Kopenhagen. 


Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  u.  der  experimentellen  Pädagogik      267 

auf  die  Dauer  des  Reizes  bezieht.  Er  verweist  auf  die  schnell  bewegte  glühende 
Kohle,  die  nur  infolge  der  Nachempfindung  den  Schein  eines  ganzen  Licht- 
kreises hervorbringt,  und  er  behauptet  sogar,  durch  Versuche,  die  er  leider 
nicht  näher  beschreibt,  die  Dauer  der  Gesichtsnachbilder  auf  6  —  7  Terzen, 
das  Abklingen  akustischer  Wahrnehmungen  auf  etwa  5  Terzen  festgestellt  zu 
haben.  Selbst  die  Nachempfindungen  des  Getastes  hat  Tetens  experimentell 
untersucht  und  zwar  ebenso  wie  70  Jahre  später  der  Physiolog  Valentin."') 
Um  dieselbe  Zeit,  in  welcher  Tetens  seine  „Philos.  Versuche  über  die  mensch- 
liche Natur  und  ihre  Entwicklung"  veröffentlichte,  kehrte  die  Forderung  Schön- 
feldts  wieder,  daß  Pädagogen  mit  Kindern  Experimente  anstellen  sollten.  Die 
Philanthropisten  gingen  bei  ihren  Untersuchungen  von  dem  Gedanken  au>;, 
daß  durch  die  Beobachtung  von  Kindern  „in  das  Innere  des  menschlichen  Geistes 
eingedrungen  imd  seine  eigentümliche  Gestalt  aufgedeckt"  werden  könnte. 
Die  Sammlung  von  solchen  Beobachtungen  ist  deshalb  eine  wichtige  Aufgabe, 
die  sich  das  Organ  des  Dessauer  Philanthropins  („Pädagog.  Unterhandlungen" 
1777  ff.)  gestellt  hat."-)  Man  beginnt,  sich  der  Tagebuchmethode  zu  bedienen, 
welche  pädagogische  Beobachtung  durch  genaue  chronologische  Aufzeichnungen 
festhält.  Ernst  Christian  Trapp  ist  damit  nicht  zufrieden.  Wie  Job.  Gottfr.  Herder 
klipp  und  klar  den  Gedanken  ausgesprochen  hatte:  „Meines  Erachtens  ist 
keine  Psychologie,  die  nicht  in  jedem  Schritte  bestimmte  Physiologie  sei, 
möglich"  ='),  so  forderte  Trapp,  der  von  Tetens  beeinflußt  ist,  ebenso  die  ex- 
perimentelle Psychologie.  Er  klagt:  „Das  Studium  der  menschlichen 
Natur  ist  zurzeit  noch  das  schwerste  unter  allen,  teils  wegen  der  Beschaffen- 
heit derselben,  teils,  weil  noch  so  wenig  darin  vorgearbeitet  ist,  und  teils,  weil 
aus  Mangel  einer  Experimentalpsychologie  so  wenig  darin  getan  werden  kann." 
„Wir  haben  keine  Experimentalpsychologie,  so  wie  wir  eine  Experimental- 
physik haben.  Daher  können  manche  Zweifel  in  der  Psychologie  nicht  so  gut 
aufgelöst  werden,  als  manche  der  Naturlehre.  "4)  Trapp  fordert  auch  das  Ex- 
periment in  der  Pädagogik.  So  z.  B. :  „Man^ebe  mehreren  Kindern  von  einer- 
lei Alter  verschiedene  Gegenstände,  Spielzeuge,  Bücher,  Modelle,  Gemälde  usw. 
und  lasse  sie  darin  nach  Belieben  schalten  und  walten.  Nun  gebe  man  acht 
auf  die  Verschiedenheit  ihrer  Äußerungen,  Empfindungen,  Handlungen,  Er- 
findungen usw.  Man  sehe,  welche  Gegenstände  sich  dieser,  und  welche  sich 
der  wählt,  wie  bald  er  ermüdet,  wie  lange  er  bei  einem  Gegenstande  aus- 
halten kann.  Man  zähle,  wieviele  und  welche  Ideen,  Empfindungen  und  da- 
durch veranlaßte  Äußerungen  und  Handlungen  in  einer  gewissen  Anzahl  von 
Minuten  und  Sekunden  in  den  Kindern  entstehen  und  zum  Vorschein  kommen. 
Man  mache  dies  Experiment  mit  Kindern  von  zwei  bis  sechzehn  Jahren  und 
noch  weiter."  „Man  führe  das  Experiment  durch  alle  mögliche  Kombinationen 
von  Alter  der  Kinder,  von  Zahl,  Beschaffenheit,  Verschiedenheit  der  Kinder 
und  der  Gegenstände  durch." s)  Fritzsch  weist  darauf  hin,  daß  die  philan- 
thropistische  Pädagogik  zur  Forderung  besonderer  Versuchsschulen  kommen 
mußte  und  daß  das  Philanthropin  zu  Dessau  mit  der  ausgesprochenen  Absicht 
gegründet  worden  ist,  eine  „Experimentalschule"  zu  sein,  „in  welcher  neue 
Versuche  und  immer  wieder  neue  Vei-suche  zur  Abschaffung  der  vielen  Mängel 

*)  M.  liessoir,  a.  a.  0.,  S.  346.    Vgl.  Tetens  a.  a.  0.,  S.  31  ff.    Der  ausgez.  Physiolog  Gabriel 

Gust.  Valentin  wurde  g6b.  1810  zu  Breslau  u.  starb  188»  zu  Bern.  ")  Fritzsch,  a.  a,  0.,  S.  150. 

*)  Vom  Erkennen  und  Empfinden.    1778.    Sämtliche  Werke,  herausg.  v.  Suphan,  Bd.  VIll,  8. 

*)  Versuch  einer  Pädagogik,  herausgeg.  von  Th.  Fritzsch,  S.  8.  35.  »)  A.  a.  O.,  S.  36,  37. 


268  Hermann  Götz,  Zur  Geschichte  der  Kinderpsychologie  usw. 

des  Schulwesens  angestellt"  werden  sollten  (Pädag.  Unterhandlungen!.  J.,  I.Stück 
S.  23  u,  125).  „Diese  Versuche  bezogen  sich  auf  die  physische,  moralische  und 
wissenschaftliche  Erziehung."!)  Der  Gedanke  der  „Experimentalschule"  war  Kant 
sehr  sympathisch.  Er  sagt:  „Erst  muß  man  Experimentalschulen  errichten, 
ehe  man  Normalschulen  errichten  kann."  „Man  bildet  sich  zwar  insgemein 
ein,  daß  Experimente  bei  der  Erziehung  nicht  nötig  wären,  und  daß  man  schon 
aus  der  Vernunft  urteilen  könne,  ob  etwas  gut  oder  nicht  gut  sein  werde. 
Man  irret  hierin  aber  sehr  und  die  Erfahrung  lehrt,  daß  sich  oft  bei  unsern 
Versuchen  ganz  entgegengesetzte  Wirkungen  zeigen  von  denen,  die  man  er- 
wartete. Man  sieht  also,  daß,  da  es  auf  Experimente  ankommt,  kein  Menschen- 
alter einen  völHgen  Erziehungsplan  darstellen  kann.  Die  einzige  Experimental- 
schule, die  hier  gewissermaßen  den  Anfang  machte,  Bahn  zu  brechen,  war 
das  Dessauische  Institut.  Man  muß  ihm  diesen  Ruhm  lassen,  ungeachtet  der 
vielen  Fehler,  die  man  ihm  zum  Vorwurf  machen  könnte;  Fehler,  die  sich 
bei  allen  Schlüssen,  die  man  aus  Versuchen  macht,  vorfinden,  daß  nämhch 
noch  immer  neue  Versuche  dazugehören.  Es  war  in  gewisser  Weise  die  ein- 
zige Schule,  bei  der  die  Lehrer  die  Freiheit  hatten,  nach  eigenen  Methoden 
und  Plänen  zu  arbeiten,  und  wo  sie  unter  sich  sowohl,  als  auch  mit  allen  Gelehr- 
ten in  Deutschland  in  Verbindung  standen."-)  Die  Forderung,  die  kindliche  Psyche 
durch  Experimente  zu  erforschen,  die  wir  schon  1764  nachweisen  konnten, 
geriet  in  Vergessenheit.  Als  aber  E.  H.  Weber  den  Versuch  in  die  Psycho- 
logie einführte'^)  undalsG.Th.Fechner^)  und  Wilhelm  Wundt 5)  die  experimentelle 
Methode  mit  Erfolg  anwandten  und  ausbauten,  da  fand  sie  auch  bei  der 
Kinderforschung  und  bei  der  experimentellen  Pädagogik  eine  Wirkungs- 
stätte. 

So  haben  wir  nachgewiesen,  daß  die  Grundgedanken  der  experimentellen 
Pädagogik  bereits  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts  ausgesprochen  wurden, 
das  ist  erheblich  früher  als  E.  Meumann  annahm,  da  er  die  Worte  schrieb: 
„Die  experimentelle  Pädagogik  ist  ebenso  wie  ihre  geistige  Mutter,  die  experi- 
mentelle Psychologie,  nicht  auf  einen  Schlag  entstanden.  Wissenschaftliche 
Neuerungen  entstehen  nie  mit  einem  Male,  und  sie  sind  nie  etwas  absolut 
Neues,  sondern  sie  erscheinen  bei  genauerer  Betrachtung  stets  als  allmähliche 
Weiterbildungen  früherer  Gedanken."'') 


Literaturbericht. 

Abhandlungen  aus  der  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie, 

Bd.  11  u.  12. 

Von  W.  J.  Ruttiiiann. 

Die  im  Kriege  mit  einem  Male  wirklich  praktisch  in  den  Vordergrund  tretende 
Personenfrage  hat  weite  Gebiete  der  angewandten  Psychologie  völh'g  neu  erschlossen 
oder  klarer  orientiert.  Dazu  gehört  in  erster  Linie  die  Frage  der  Berufseignung 
und  Berufsberatung.     Die  Zeitschrift  für  angew.   Psychol.  hat  sich  in  großzügiger 

»)  A.  a.  0.,  S.  156. 157.  ^)  J.  Kant,  Über  Pädagogik,  herausg.  von  Th.  Vogt,  3.  Aufl.  S.  78.  79. 

*)  Der  Tastsinn  u.  d.  Gemeingefühl  1849. 

<)  Elemente  der  Psychophysik  1860.    In  Sachen  der  Psychophysik  1877.    Revision  der  Haupt- 
punkte der  Psychophysik  1882. 

*)  Grundzüge  der  physiologischen  Psychologie.     1.  Aufl.,  1874. 
*)  Vorlesungen  zur  Ein!,  i.  d.  exp.  Päd.,  2.  Aufl.,  Bd.  I,  S.  2. 


Literaturbericlit  269 


Weise  als  Sammelstätte  der  Untersuchvmgen  und  Bestrebungen  dazu  eingerichtet. 
Nachdem  hierüber  in  der  Z.  f.  p.  Psych,  gesonderte  Berichterstattung  schon  mehr- 
fach erfolgte  und  weiterhin  erfolgen  wird,  bleibt  für  unsere  Berichterstattung  nur 
dsr  Teil  übrig,  der  sich  auf  andere  Fragen  bezieht. 

Bd.  11,  Heft  1. 

W.  Stern,  Der  Intelligenzquotient  als  Maß  der  kindlichen  Intelligenz,  insbesondere 
der  untemormalen.  S.  1 — 18. 
Gegenüber  der  Differenzmethode  (Intelligenz- Rückstand  oder  Intelligenz- Vor- 
sprung) empfiehlt  Stern  als  Mali  der  Intelligenz  den  Intelligenzquotienten,  der  aus 
Intelligenzalter  und  Lebensalter  zu  gewinnen  wäre.  Er  scheint  etwa  vom  7.  bis 
zum  12.  Jahre  annähernd  konstant  zu  sein.  Alsdann  fällt  er  und  verliert  rasch 
seinen  rechnerischen  Sinn.  Das  Intelligenzalter  beträgt  für  noch  außerhalb  des 
Schwachsinns  stehende  Kinder  durchschnittlich  über  0,80,  bei  Debilen  etwa  0,75  und 
bei  Imbezillen  unter  0,70.  Er  ist  bei  Kindern  einer  bestimmten  Altersstufe  um 
so  höher,  je  höher  die  Klasse  ist,  in  der  sie  sich  befinden.  Seine  prognostische 
Bedeutung  für  die  Art  über  die  Intelligenz-Entwickhmg  hinaus  wird  erst  klar,  wenn 
die  Beziehungen  der  Entwicklungswerte  zur  Entwicklungshöhe  (Intelligenz-Stillstand) 
einmal  genauer  bestimmt  sind. 

F.  E.  Otto  Schnitze,  Eine  neue  Weise  der  Auswertung  der  Intelligenzteste  (Methode 
der  Intelligenzzensur).   S.  19 — 28. 

2  (100— H«>) 
Die  Methode,  einen  Intelligenzkoefizienten  (=  — — -  wobei  H''=jedesH, 

dessen  Aufgabe  bestanden  ist  und  Hp  jedes  H,  dessen  Aufgabe  überhaupt  dem  betr. 
Kinde  ■  gestellt  ist  und  die  zu  einem  klaren  Ergebnis  geführt  hat)  zu  bestimmen, 
hat  gegenübar  der  B.-S.  Methode  den  Vorteil  einfacher  Handhabung,  weiterhin  ist 
die  bestimmte  Anzahl  Tests  für  eine  Altersstufe  avisgeschaltet,  wozu  noch  einige 
theoretische  Vorteile  kommen,  unter  denen  uns  besonders  wichtig  erscheint,  daß  auch 
die  Umwelteinflüsse  zahlenmäßig  einigermaßen  ausgedrückt  werden  können. 
W.  Stern,  Über  Alterseichtmg  von  Definitionstests.  Eine  methodologische  Unter- 
suchung auf  Grund  der  Massenversuche  von  A.  Gregor.  S.  90 — 96. 
Die  Auswertung  Sterns  an  dem  Gregorschen  Material  ergibt  für  Knaben  und 
Mädchen,  daß  Halbabstrakta  (soziale,  politische  Begiüffe)  nicht  vor  dem  VI.  Schul- 
jahre, reine  Abstrakta  (logische,  ethische  Begriffe)  nicht  vor  dem  VII.  Schuljahr 
reif  werden.  ,,Für  jene  Begriffsgruppe  ist  das  VI.  und  VII.  Schuljahr,  für  diese 
das  VII.  und  VIII.  das  eigentliche  Eichungsgebiet." 

Heft  2  und  3. 

S.  Koväcs,   Untersuchimgen  über  das  musikalische  Gedächtnis.     S.   113 — 135. 

Der  Verfasser   weist   auf  die  Bedeutung  des  musikalischen  Lesens  hin.     Vor- 
bedingung dazu  ist:   1.  ein  durchgebildetes  äußeres  wie  inneres   Gehör  und  2.  ein 
umfassender  technischer  Vorrat. 
H.  Schüßler,  Das  unmusikalische  Kind.    S.  136 — 166. 

Nach  einer  literarischen  Studie  über  die  musikalische  Veranlagung  folgen  sta- 
tistische Untersuchungen,  wonach  es  nur  ungefähr  5 — 10%  unmusikalische  Menschen 
gibt.  Von  den  Unmusikalischen  erreichen  nach  Sohüßlers  Material  nin:  41  "/o,  von 
den  Halbmusikalischen  57  "/o  und  von  den  Musikalischen  79  "/<>  das  Schulziel,  und 
die  Arbeitsleistung  der  Musikalischen  ist  im  Durchschnitt  um  15  "/<>»  die  der  Halb- 
musikalischen um  6,6  %  höher  als  die  der  Unmusikalischen, 
S.  Bernfeld,  Über  Schülervereine.     S.   167—213. 

Ein  interessanter  Beitrag  zu  dem  selten  erörterten  Problem  der  Entwicklung 
des  sozialen  Bewußtseins,  der  insbesondere  für  die  Analyse  der  praktischen  Jugend- 
pflege, der  von  Erwachsenen  geleiteten  und  durch  die  Jugend  selbst  gewollten, 
Ausblicke  bietet. 

Heft  4  und  5. 

A.  Jaederholm,  Untersuchimgen  über  die  Methode  Binet-Simon  I.    S.  289 — 340. 
Die  Arbeit  bildet  einen  Anzug  aus  dem  zweibändigen  Werke  über  Intelligenz- 


270  Literaturbericht 


forschung  und  Intelligenz  prüf  uiig,  das  der  schwedische  Gelehrte  1914  veröffentlichte. 
Sie  bringt  eine  Art  Fortschritt  in  der  mathematischen  Aviswertung  der  Intelligenz- 
Prüfung  nach  Binet- Simon,  indem  sie  die  Gültigkeit  der  Gaußschen  Fehlerkurve 
für  die  Intelligenzstufen  zu  beweisen  sucht.  Dazu  kommt  die  errechnete  Tatsache, 
daß  die  Zunahme  der  Leistimgsfähigkeit  in  einzelnen  Intelligenztests  (in  der  Alters- 
periode 6 — 12  Jahre)  linear  im  Verhältnis  zum  physischen  Alter  vor  sich  geht  und 
eine  Bestätigung  von  Binets  Berechnung  mit  einer  kleinen  Revision.  Der  praktischen 
Erprobung  empfiehlt  sich  die  Jaederholmsche  Tabelle  der  Intelligenzkoordinaten 
nach  der  Minimalmethode. 

Anna  Wiese,  Zur  Frage  nach  den  Geschlechtsdifferenzen  im  akademischen  Studium. 
Ergebnisse  einer  Studentenenquete.     S.   341 — 401. 

Nach  den  Befunden  unterscheidet  sich  das  akademische  Studium  beider  Ge- 
Kchlechter  in  einem  für  die  Frauen  ungünstigen  Sinne. 
E.  Warschauer,  Rechtspsychologische  Versuche  an   Schulkindern.     S.  402 — 412. 

Eine  vorlätif ige  Mitteihing,  die  in  Bezieh img  gesetzt  werden  muß  zu  den  Arbeiten 
Levy- Suhls  und  M.  Schaefers.  , 

Heft  6. 
G.  Heymansund  E.  Wiersma,  Verschiedenheiten  der  Altersentwicklung  bei  mäniv 
lichen  und  weiblichen  Mittelschülern.     S.  441 — 464. 

Die  bekannte  Umfrage  des  Verfassers  fördert  auch  in  der  neuen  Teilbearbeitung 
eine  Fülle  von  Ergebnissen.  Die  Mädchen  zeigen  ein  entschiedenes  Maximum  in 
Verhaltungsweisen,  die  auf  inneres  Gleichgewicht,  Selbstbeherrschung,  Widerstands- 
fähigkeit gegen  äußerliche  Reize,  auf  Liebe  und  Hilfsbereitschaft,  Wahrhaftigkeit, 
Ehrlichkeit,  Sittsamkeit,  auf  Eifer,  Interesse,  Schulleistungen  sich  beziehen  im 
Alter  von  15  Jahren,  wogegen  sich  beim  17-  bezw.  18  jährigen  Mädchen  in  den  be- 
?ipichneten  Richtungen  ein  Minimum  bemerkbar  macht.  Bei  unerwünschten  Eigen- 
schaften liegt  das  Minimum  bei  15  Jahren,  das  Maximum  bei  16  Jahren.  Beim 
Knaben  finden  wir  mit  15  Jahren  kein  Maximum,  dagegen  mit  17  Jahren  dann, 
wenn  es  sich  um  Eigenschaften  des  Temperaments  handelt.  Für  Schulverstöße  gilt 
das  Urngekehrte.  Die  Oszillationen  der  Entwicklung  müssen  in  künftigen  Unter- 
suchvmgen  in  Parallele  zu  den  physiologischen  Erkenntnissen  über  das  Alter  ge- 
bracht werden,  wozu  die  Verfasser  bereits  Anregung  geben. 

H.  Schüßler,  Ist  die  Behauptung  Meumanns  richtig:  Kinder  können  im  allgemeinen 
vor  dem   14.  Lebensjahre  nicht  logisch  schließen?    S.  480 — 497. 

Für  die  4  Schlußfigiuren,  welche  der  Verfasser  in  seiner  Untersuchung  anwandte, 
ergab  sich,  daß  unter  50  Mädchen  im  Alter  von  11 — 14  Jahren  keines  war,  das 
alle  Schlüsse  richtig  ziehen  konnte.  Bei  der  ersten  Figur  waren  ^js,  bei  der  2.  Vs 
richtig  ;nach  der  dritten  konnten  unterZurechnung  vonUnsicherheiten  etwa '/«schließen. 
Den  vierten  Schluß  vollzog  nur  ein  einziges  Kind. 
»and  12,  Heft  1  und  2. 

L.  Nagy,  Ergebnisse  einer  Umfrage  über  die  Auffassimg  der  Kinder  vom  KJriege. 
S.  1—63. 

Die  Untersuchung  wurde  vorgenommen  auf  Grund  einer  Datensammlung  der 
Ungarischen  Gesellschaft  für  Kinderforschung  (Herbst  1914),  die  die  Wirkung  des 
Krieges  nach  der  sittlichen  Richtung  erkim.den  sollte.  Der  Umfang  der  Umfrage 
vermindert  ihre  natürlichen  Fehlerquellen.  Über  zwei  Fragen  berichtet  Nagy  ein- 
gehend: 1.  „Was  ist  die  Ursache  der  Krieges  ?'*  2.  „Was  gefiel  am  besten  imter 
den  Ereignissen  des  Krieges  ?    Warum?" 

Unter  den  Beantwortungen  ergaben  sich  folgende  Gruppen:  subjektiv- typische, 
objektiv-konkret-typische  und  abstrakt-typische.    Die  Verteilung  der  Typen  ergibt 
bei     9— 14jährigen  4,8%,   77%  und  18%, 
„     15-18       „  -    ,  25%      „     75%. 

Während  im  ersten  subjektiven  Entwicklungsabschnitt  die  Geistesarbeit  der 
Phantasie  vorherrscht,  ist  der  zweite  durch  reflektive  Geistesfunktionen  gekenn- 
zeichnet. Der  Prozentsatz  der  gefühlsmäßigen  Antworten  zeigt  folgende  Zahlen- 
bewegung : 


Literaturbericht 


271 


Lebensalter 


8   j 

9 

10 

11 

12 

13 

14 

15 

16 

17 

27,5  1 

18 

14,1 

10,4 

28,4 

26,3 

28,3 

41.7 

51,4 

51 

18   I  19 

45  |33,3% 


Besonders  reichhaltig  ist  Nagys  Untersuchung  an  Ergebnissen  über  die  sitt- 
liche Entwicklung,  wo  er  eine  Parallele  zwischen  dem  8.  bis  9.  und  dem  18.  bis  19. 
Lebensjahre  findet. 
M.  Lobsien,   Einfluß  des  Tempos  auf  die  Arbeit  der  Schulkinder,     S.  64 — 98. 

Verhältnismäßig  spät  wird  in  der  Schülerkunde,  trotz  der  Anregungen  dxirch 
Ebbinghaus  und  Meumann,  das  Tempo  der  Arbeit  in  Beziehxmg  zu  ihrer  Leistung 
gebracht.  Die  Gegenüberstellung  von  Einzelleistung  und  Gruppenleistung  drängt, 
geradezu  auf  das  Problem  hin.  Lobsien  benutzt  Kopfrechnungen  und  Diktate  über 
Gleichschreibung.  Aus  den  Rechen  versuchen  geht  hervor,  daß  Temposteigerung 
geradezu  verheerend  wirken  kann,  namentlich  bei  der  Subtraktion;  dagegen  zeigen 
die  Rechtschreibversuche  keine  Einheitlichkeit  der  Fehlersteigerung.  Der  psycho- 
logischen Betrachtung  des  Verfassers  über  die  inneren  Zusammenhänge  der  Fehler- 
quellen können  wir  nur  teilweise  folgen. 

Heft  3.  und  4. 

A.  Franken,  Bilderkombination.  Ein  Beitrag  zum  Problem  der  Intelligenzprüfung. 
S.  173—229. 
Neben  dem  Ausbau  der  Auswertung  der  mehr  oder  weniger  anerkannten  Test-^ 
Serien  dürfen  jene  Versuche  nicht  unbeachtet  bleiben,  die  Einzeltest«  namentlich 
in  bezug  auf  bestimmte  Sorten  der  Intelligenz  erproben.  Durch  eine  recht  prak- 
tisch angewandte  Aufgabe  der  Bilderkombination  kommt  Franken  neben  zahlreichen 
anderen  Teilergebnissen  zn  folgender  Entwicklungsreihe  der  Kombi nationsfähigkeit ; 


Alter  7 
Trefferprozente  4,6 

Fehlerprozente  34 

Form  der  Arbeit  in  %  11,9 


8 

9 

10 

11 

12 

13 

7 

9,2 

16,6 

27,4 

39 

36,6 

23,2 

28,4 

22,4 

25,8 

27,2 

26,4 

23,5 

24,6 

42,5 

51,6 

58,7 

58,1 

14 
47 
26,4 
64 


„Der  korrelative  Zusammenhang  zwischen  Treff  er  prozenten  und  Kombinations- 
treue, Unterrichts-  und  Testleistung  prägt  sich  mit  dem  Alter  immer  deutlicher  aus." 
H.  J.  und  W.A.  Pannenberg,  Die  Psychologie  des  Zeichners  imd  Malers.  S.230 — 275. 

Vergl.  den  nächsten  Sammelbericht  zur  , .Psychologie  des  Zeichnens!" 

Heft  5  und  6. 
O.  Lipmann,  Die  Entwicklvmg  der  grammatisch-logischen  Fmiktionen  S.  347 — 371. 

,, Erkennt  das  Kind,  in  welchem  logischen  Verhältnis  einzelne  Teile  des  Satzes 
und  einzelne  Sätze  zueinander  stehen  und  vermag  es  diese  Beziehimgen  durch  das 
richtige  Wort  (Bindewort)  zu  bezeichnen  V  Diese  Frage  wurde  durch  eine  Arbeite- 
gemeinschaft untersucht,  wozu  Lipmann  in  einer  vorläufigen  Mitteilung  folgende 
Sonderfragen  stellt,  die  auch  anderweitig  nachgeprüft  werden  könnten: 

„1.  Welche  der  Lücken  (Einfügimg  des  richtigen  Bindeworts)  sind  am  schwersten. 
.  auszufüllen  ?     In  welchem  Zusammenliange  steht  die  Schwierigkeit  der  richtigen 
Ausfüllung  einer  Lücke  zu  der  betr.  logischen  Funktion  ? 

2.  Werden  die  einzelnen  Lücken  besser  von  Knaben  oder  Mädchen  ausgefüllt, 
d.  h.  bei  welchem  Geschlecht  sind  die  betr.  sprachlich-logischen  Fähigkeiten  besser 
ausgebildet  7 

3.  Wie  entwickeln  sich  diese  sprachlich-logischen  Fähigkeiten  mit  wachsendem 
Lebens-  und  Schulalter  bei  jedem  der  beiden  Geschlechter  ?  In  welcher  Beziehimg 
steht  die^e  Entwicklung  zum  Lehrplan  ? 

4.  In  welchen  der  an  den  Versuchen  beteiligten  Schulen  sind  die  sprachlich- 
logischen Funktionen  am  besten  entwickelt,  in  welchen  am  schlechtesten  ?  Steht 
diese  Rangordnung  der  Schulen  in  Beziehmig  zu  der  Bevölkerungsschicht,  aus  der 
sie  ihr  Schulmaterial  bezieht? 

5.  Welche  Worte  der  deutschen  Sprache  werden,  wenn  Worte  gleicher  Bedeu- 
tung zur  Verfügung  stehen,  bevorzugt  7  Evtl.  Hinweis  auf  dialektische  Besonder- 
heiten. 

6.  In  welcher  Beziehung  steiht  die  von  einem  Kinde  gelieferte  Textergänzung  zu 
seinen  sonstigen  Leistungen,  besonders  in  Deutsch,   und  zu  seiner  Intelligenz? 


272 


Literaturbericht 


Ein  Beispiel  der  Ergebnisse  sei  durch  die  nachfolgend  beigegebene  Reihe  einer 
Untersuchung  geboten.  Die  ausführlichen  Tabellen  der  Arbeit  selbst  können  aber 
allein  nur  eine  wissenschaftliche  Vergleichsmöglichkeit  bieten,  worauf  deshalb  aus- 
drücklich hingewiesen  sei. 


Lücke 

(Bindewort) 

3. 
m  f 

4. 

m  f 

5. 
m  f 

6. 
m  f 

7. 
m  f 

8.  Schul- 
jahr 
m  f 

Stu- 
denten 
m  f 

„oder" 

44;  89 

61;  62 

61;  98 

61;  88 

90;  88 

88;  88 

96  95  •/.. 

„da" 

14;  22 

29;  35 

38;  71 

41;  66 

51;  78 

54;  63 

89  90  •/(. 

„weder -noch" 

24;  45 

44;  59 

66;  85 

69;  89 

84;  75 

88;  86 

96  100  7o 

„als" 

15;  35 

51;  46 

59;  63 

69;  82 

81;  87 

90;  84 

100  100  7„ 

„während" 

1;  1 

1;  1 

3;  16 

2;  25 

15;  19 

33;  26 

70  90  Vo 

„abei" 

24;  23 

57;  52 

42;  60 

63;  80 

76;  77 

86;  73 

92  lOOVo 

„denn" 

24;  30 

61;  57 

69;  75 

74;  86 

86;  92 

100;  93 

100  100«/ 

O.  Deuchler,  Über  die  Bestimmung  von  Kangkorrelationen  aus  Zeugnisnoten, 
S.  395—439. 
Die  schon  mehrfach  angeregte  statistische  Nutzung  der  Zeugnisnoten  baut 
Deuchler  ähnlich  seinen  den  Lesern  der  Z.  f.  p.  Psych,  längst  bekannten  mathe- 
matischen Versuchen  zu  einer  praktischen  Auswertung  aus.  Das  praktische  Er- 
gebnis der  Überlegungen  bezieht  sich  in  der  vorliegenden  Arbeit  auf  Rangkorrela- 
tionen zwischen  Begabung,  Aufmerksamkeit,  Fleiß,  Betragen  und  häuslichen  Ver- 
hältnissen bei  31  10/1 1jährigen  Volksschülerinnen.  Die  Noten  gewann  der  Lehrer 
xmter  sorgfältiger  Beachtung  der  in  Betracht  kommenden  Faktoren. 

Sammelberichte  sind  enthalten  in  Band  XI  u.  XII  über:  gerichtl.  Psychol. 
^Lipmann),  Schlaf  und  Traum  (H.  Keller),  Psychol.  d.  neusprachl.  Unterrichts 
(Hans Keller),  Spuren  interessebetonter  Erlebnisse  und  ihrer  Symptome  (Lipmann), 
Krieg  und  Schule  (H.  Keller),  Entwicklungspsychologie  (E.  Rothacker),  Psychoana- 
lyse (Friedländer,  Norgall,  Fürst<^nheim,  J.  H.   Schultz). 


Ein  Preisausschreiben 

zum  Problem  der  Begabtenauslese 

«rläßt  der  „Verein  zur  Förderung  des  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen 
Unterrichts"  in  seinem  Organ,  den  „Unterrichtsblättern  für  Mathematik  u.  Natur- 
wissenschaften" (Jahrg.  XXIII,  Nr.  4).  Es  lautet:  „Im  Hinblick  auf  die  künftig 
noch  nlfehr  als  bisher  erforderliehe  Auslese  der  Begabten  erscheint  das  Rechnen 
als  ein  besonders  geeignetes  Mittel  zur  Prüfung  der  Intelligenz  der  Schüler.  Es 
soll  dargelegt  werden,  wie  die  Aufnahmeprüfung  für  Sexta  zu  handhaben  und  wie 
der  Rechenunterricht  in  den  Klassen  Sexta  bis  Quarta  zu  gestalten  ist,  damit 
dieses  Ziel  in  möglichst  vollkommener  Weise  erreicht  wird."  —  Von  den  Be- 
arbeitern wird  erwartet,  daß  sie  Kenntnis  von  den  Methoden  und  den  Ergeb- 
nissen der  neueren  Begabungsforschung  haben.  Die  Bewerbungsarbeiten  müssen 
in  gut  lesbarer  Schrift  geschrieben  sein  und  sind  bis  zum  31.  Dezember  1918  an 
den  Vorsitzenden  des  Vereins  (zurzeit  Professor  Dr.  P  o  s  k  e ,  Berlin  -  Lichter- 
felde W,  Friedbergstr.  5)  einzusenden.  Sie  müssen  mit  einem  Kennwort  versehen 
sein ;  in  einem  verschlossenen  Umschlag,  der  mit  demselben  Kennwort  bezeichnet 
ist,  sind  Name  und  Anschrift  des  Verfassers  anzugeben.  Der  Preis  beträgt  300  M. 
Das  Veröffentlichungsrecht  geht  mit  der  Zuweisung  des  Preises  an  den  Verein 
über. 


über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen 

Universitäten. 

Gutachtliche  Äußerungen  zu  der  Pädagogischen  Konferenz  im  Preußi- 
schen Ministerium  der  geistlichen  und  Unterrichts-Angelegenheiten  am 

24.  und  25.  Mai  1917. 

Zweite  Reihe. 

Von 
Dr.  E.  R.  Jaenscb,  Prof.   der  Philosophie  an  der  Universität  in  Marburg, 
Karl  Muthesius,  Schulrat,  Seminardirektor  in  Weimar, 
Anton  Sickinger,  Geheimrat,  Stadtschidrat  in  Mannheim. 

Leitsätze  zur  Hoehschulvertretung  der  Pädagogik. 
Von  E.  R.  Jaensch. 

Von  Herrn  Geheimrat  Natorp  aufgefordert  und  von  der  Leitung  der  Zeit- 
schrift ermächtigt,  fasse  ich  meine  Anschauungen  über  die  Hoehschul- 
vertretung der  Pädagogik  in  folgenden  Sätzen  zusammen: 

Die  BerlinerThesen,  insbesondere  die vonTroeltsch,  weisenauf 
einen  Mißstand  hin,  der  aber  nicht  durch  Begründung  eines  neuen 
Faches,  sondern  nur  durch  den  Ausbau  des  Bestehenden  zu  be- 
heben ist.  Förderung  schon  in  Gang  befindlicher  Entwicklungen 
wird  hier  auf  natürlichem  Wege  Abhilfe  bringen. 

1.  Zuzugeben  ist,  daß  es  an  Persönlichkeiten  fehlt,  die  fähig  sind,  unserem 
Bildungssystem,  damit  aber  der  Gegenwartskultur,  Ziel  und  Richtung  zu 
weisen.  Diese  Aufgabe  wurde  in  älterer  Zeit  für  das  Gesamtgebiet  von 
Kultur  und  Bildungswesen  von  Männern  wie  Aristoteles,  Leibniz  oder  Goethe 
gelöst,  in  neuester.  Zeit  nur  für  Einzelgebiete  der  Kultur  von  hervorragenden 
Fachgelehrten  —  wie  von  Bonitz,  Harnack,  Klein  oder  Suess  —  in  Angriff  ge- 
nommen. Ein  ausreichender  Befähigungsnachweis  für  diese  Aufgabe  ist  weder 
die  von  dem  Pädagogikprofessor  geforderte  historische  Kenntnis  von  Kultur- 
und  Bildungssystem,  noch  die  von  ihm  erwartete  Freiheit  von  jener  „Mutlosigkeit 
und  vornehmen  Konfliktscheu",  die  die  gegenwärtige  Philosophie,  angeblich 
unvorteilhaft,  unterscheidet.  Unserm  Bildungssystem  die  Richtung  zu  weisen, 
sind  nur  solche  befugt,  in  denen  die  schaff  enden  Kräfte  der  Gegenwarts- 
kultur und  -Wissenschaft  selbst  wirksam  sind.  Nur  dem  Selbstschaffenden 
kommt  die  Kultur-  und  Bildungsintention  der  Zeit,  damit  aber  der  Weg,  der 
der  aufstrebenden  Generation  gewiesen  werden  muß,  zu  voller  Klarheit.  Nur 
Persönlichkeiten,  die  sich  selbst  zu  hoher  Warte  erhoben  haben,  würden  die 
von  Troeltsch  gestellte  Aufgabe  lösen  können. 

2.  Vorbildlich  für  die  Behandlung  der  Gesamtaufgabe  ist  das  auf  engerem 
Gebiet  bereits  Geleistete.    Das  Unterrichtswerk  der  Mathematiker  zeigt,  daß 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  18 


274        Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

nicht  nur  die  Einzelfragen  der  speziellen  Didaktik,  sondern  auch  die  prin- 
zipiellsten Probleme  des  Unterrichtszieles  nur  durch  souveräne  Beherrschung 
des  gesaraten  Lehrguts  zu  lösen  sind. 

3.  Daß  wir  aber  im  Gegensatz  zu  früheren  Zeiten  nur  auf  Einzelgebieten 
der  Kultur  Führer  besitzen,  liegt  an  der  Entfremdung  und  Spannung  zwischen 
Philosophie  und  Einzelwissenschaft,  in  der  die  jetzt  führende  Gelehrtengene- 
ration aufgewachsen  ist.  Indes  schon  bei  ihr  ist  zu  bemerken,  wie  die  zu- 
nehmende Annäherung  zwischen  Einzelwissenschaft  und  Philosophie  die  Dis- 
kussion der  Bildungsfragen  von  dem  Standort  im  Einzelgebiet  aus  auf  eine 
immer  höhere  Warte  hebt.  Dieser  allmählich  und  ohne  Begründung  neuer 
Fächer  zum  Ziel  führende  Entwicklungsgang  wird  gefördert  durch  eine  der 
Wichtigkeit  des  Gegenstands  angemessene  und  der  gekennzeichneten  Lage 
entsprechende  Vertretung  der  Philosophie  an  den  Universitäten. 

4.  Vor  allem  aber  wird  diese  Entwicklung  dadurch  gefördert,  daß  nicht 
nur  die  Fachmänner  der  Philosophie  und  Psychologie  sowie  geeignete  Prak- 
tiker, sondern  auch  Vertreter  der  Einzelwissenschaft  sich  in  einem  pädago- 
gischen Seminar,  wie  in  Halle,  zusammenschließen.  Nach  Erfahrungen,  die 
Verf.  bei  der  Vertretung  des  einen  philosophischen  Ordinariats  in  Halle  ge- 
macht hat,  schien  sich  diese  —  auch  in  Marburg  erstrebte  —  Organisation 
zu  bewähren.  Auch  eine  Gelehrtengeneration,  die  philosophischen  Fragen 
wieder  näher  steht,  wird  die  pädagogische  Auswertung  des  Lehrguts  nur  in 
gemeinsamer  Arbeit  vollziehen  können. 

5.  Erfahrene  Schulmänner  von  Ansehen  und  Rang  führen  lebhaft  Klage, 
daß  die  Thesen  gerade  den  Schwierigkeiten,  mit  denen  der  Praktiker  am 
schwersten  ringt,  nicht  Rechnung  tragen.  Nicht  wie  das  Unterrichtsziel  zu 
bestimmen  sei,  sondern  wie  man  Zugang  zmu  Geist  des  Zöglings  finde,  sei 
die  dringendste  Frage  des  Praktikers.  Die  moderne  Psychologie,  durch  die 
Arbeit  von  Dilettanten  und  durch  voreilige  praktische  Reformen  zuweilen 
diskreditiert,  wird,  wenn  durchweg  fachmännischen  Händen  anvertraut,  diese 
Aufgabe  in  zunehmendem  Maße  lösen.  Täglich  mehr  liefert  sie  den  Beweis, 
daß  das  Seelenleben  der  Kinder  und  Heranwachsenden  ein  uns  unbekanntes 
Land  ist,  das  sich  nicht  dem  intuitiven  Blick  und  dem  einfühlenden  „Ver- 
stehen", sondern  nur  methodischer  Tatsachenforschung  erschließt.  Das  für  den 
Lehrer  allerdings  unerläßliche  einfühlende  „Verstehen"  dieser  neuen  Welt 
und  der  Blick  für  sie  wird  erst  erzogen  durch  Beschäftigung  mit  der  wissen- 
schaftlichen Psychologie,  wie  sich  ja  auch  in  der  Geschichte  das  „Verstehen" 
in  Diltheys  Sinn  erst  über  gründlicher  Tatsachenforschung  erhebt.  Die  Förde- 
rung der  Psychologie  ist  auch  die  unerläßliche  Voraussetzung  für  die  Lösung 
der  unter  1.  —  4.  erwähnten  Fragen,  da  die  Zerrissenheit  unserer  Kultur,  ins- 
besondere der  fast  ständige  Konflikt  zwischen  Natur-  und  Kulturwissenschaft, 
von  der  späten  Erforschung  des  vermittelnden  Zwischengebietes,  eben  des 
psychologischen,  herrührt.  Wie  sehr  die  Psychologie,  für  die  ein  unerläßliches, 
wenn  auch  keineswegs  das  einzige  Hilfsmittel  das  Experiment  ist,  in  Preußen 
noch  der  Förderung  bedarf,  das  zeigen  eindringlich  die  Angaben  G.  E.  Müllers, 
dessen  psychologisches  Institut,  ungeachtet  seiner  unzureichenden  Ausstattung, 
seit  Jahrzehnten  einen  wichtigen  Anziehungspunkt  der  Universität  Göttingen 
bildet  (vgl.  Bericht  über  den  VI.  Kongreß  für  experimentelle  Psychologie  in 
Göttingen  1914.     Leipzig  1914.     S.  106  ff.). 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.    Mutheeius  275 

Zur  Frage  der  Lehrstühle  für  Pädagogik  an  den  Universitäten. 

Von  Karl  Muthesius. 

Aus  der  großen  Zahl  von  Fragen,  die  in  der  pädagogischen  Konferenz  im 
Kultusministerium  verhandelt  worden  sind,  möchte  ich  zwei  herausheben: 
1.  Die  Einbeziehung  der  Volksschulpädagogik,  2.  Die  Übungsschule. 

1. 

Troeltsch  hat  in  seinem  Leitsatz  6  hervorgehoben,  daß  die  Pädagogik 
nur  etwas  Ganzes  sei,  wenn  sie  die  Volkserziehung  als  Ganzes,  also  die  Volks- 
schule mit  eingeschlossen,  behandle.  Und  in  seinem  Schlußwort  erkläit  er 
es  für  „selbstverständlich",  daß  die  Volksschule  in  die  Universitätspädagogik 
einbezogen  werden  müsse  als  Gegenstand  ihrer  Forschung.  „Es  handelt  sich 
ja  gerade  um  die  Gesamtheit  des  nationalen  Unterrichtswesens  und  um  die 
Spezifikation  eines  einheitlichen  Geistes  nach  den  verschiedenen  Schulgattungen 
und  Schulstufen  hin." 

Die  Einheitlichkeit  der  Pädagogik  ist  damit  treffend  zum  Ausdruck  gebracht 
worden.  Die  Tragweite  dieses  Urteils  erstreckt  sich  weiter  als  es  auf  den 
ersten  Blick  scheinen  mag.  Wird  anerkannt,  daß  Volksschulpädagogik  und 
Pädagogik  der  höheren  Schulen  nicht  zwei  grundsätzlich  verschiedene  Dinge 
sind,  so  müssen  alle  die  bis  in  die  neueste  Zeit  wiederholten  Behauptungen  über 
die  grundsätzlich  verschiedene  Lehrweise  an  beiden  Schulgattungen  aufgegeben 
werden,  es  kann  dann  auch  nicht  bestritten  werden,  daß  es  grundlegende 
Richtlinien  für  eine  gewisse  Einheitlichkeit  in  der  Ausbildung  der  beiden 
Lehrergattungen  gibt.  Die  pädagogische  Konferenz  hat  also  dadurch,  daß  sie 
sich  zu  der  Einbeziehung  der  Volksschulpädagogik  in  die  Universitätspäda- 
gogik bekannte,  dem  Bestreben  nach  innerer  VereinheitHchung  des  gesamten 
Schulwesens  und  seiner  Lehrerschaft  einen  wesentlichen  Dienst  geleistet. 

Die  nächstliegende  Folgerung  aus  ihrer  Stellungnahme  hat  zwar  die  Kon- 
ferenz nicht  umgangen,  es  aber  dann  doch  nicht  zu  einer  widerspruchslosen 
Meinungsäußerung  über  sie  gebracht :  über  die  Zulassung  von  Volksschullehrern 
zur  Universität.  Zwar  hatte  Ziehen  nicht  ganz  unrecht,  wenn  er  behauptete,  man 
habe  zu  dem  Streben  der  Volksschullehrer  nach  der  Universität  nicht  Stellung 
zu  nehmen,  sondern  „lediglich  die  Frage  der  inneren  Konstituierung  der 
Pädagogik  als  Universitätsdisziplin  zu  erörtern".  Aber  ein  innerer  Zusammen- 
hang zwischen  beiden  Dingen  besteht  zweifellos.  Für  wen  soll  denn  Volks- 
schulpädagogik an  der  Universität  gelehrt  werden,  wenn  nicht  für  diejenigen, 
welche  in  der  Volksschule  arbeiten?  Gewiß  liegt  es  in  der  Auffassung  des 
Bildungswesens  als  einer  Einheit,  daß  auch  andere  Studierende,  die  künftigen 
Oberlehrer,  einen  Überblick  über  das  Gesamtgebiet,  in  dem  die  Volksschul- 
pädagogik einen  notwendigen  Teil  bildet,  erhalten,  aber  die  eigentliche  Ver- 
tiefung in  das  Sondergebiet  wird  doch  von  denen  erwartet,  die  ihr  Sonder- 
beruf zu  ihm  in  die  lebendigste  Beziehung  setzt.  So  hat  denn  auch  Troeltsch 
von  allem  Anfang  an  das  hier  vorliegende  Verhältnis  aufgefaßt.  Schließe 
man,  sagt  er  in  Leitsatz  6,  die  Volksschule  in  die  Volkserziehungswissenschaft 
ein,  so  ergäbe  sich  von  da  aus  „eine  Erweiterung  und  ein  Wechsel  des  Hörer- 
kreises, aber  nur  unter  der  Bedingung,  daß  auch  die  zukünftigen  Volksschul- 
lehrer oder  doch  wenigstens  eine  gewisse  Auswahl  aus  ihnen  an  diesen 
Kollegien  beteiligt  würden".  In  vorsichtigerer  Form  erklärte  er  dann  in  seinem 
Schlußwort,  er  wage  nichts  darüber  zu  sagen,  wie  weit  aus  der  Einbeziehung 

18* 


276       Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

der  Volksschule  in  den  Gegenstand  auch  eine  irgendwie  geartete  Beteiligung 
von  Volksschullehrern  als  Hörern  gefolgert  werden  solle  und  müsse.  Ihre 
Forderungen  würden  jedenfalls  in  Zukunft  gesteigert  auftreten,  es  scheine 
ihm  aber  genügend,  wenn  die  Kontaktstelle  vorhanden  sei,  an  die  später 
etwaige  Verbindungsschnüre  angelegt  werden  könnten. 

Zwischen  Leitsätzen  und  Schlußwort  Troeltschs  liegen  eine  Anzahl  Äuße- 
rungen, die  in  verschiedener  Abschattierung  zu  der  Frage  des  Studiums  der 
Volksschullehrer  Stellung  nehmen.  Ziehen  zollt  diesem  Streben  nach  Weiter- 
bildung höchste  Anerkennung  und  hält  es  für  erwünscht,  wenn  den  einzelnen 
Volksschullehrern  Gelegenheit  gegeben  wird,  als  Gasthörer  auch  den  Vor- 
lesungen über  Pädagogik  an  der  Universität  beizuwohnen;  die  Behandlung 
der  Disziplin  dürfe  aber  natürlich  durch  diesen  Kreis  von  Zuhörern  keinerlei 
Änderung  in  ihrem  grundsätzhchen  Charakter  erfahren.  „So  verlockend  es 
für  den  Universitätslehrer  der  Pädagogik  sein  mag,  den  mächtigen  Resonanz- 
boden fruchtbar  zu  machen,  den  der  deutsche  Volksschullehrerstand  mit 
seinem  rühmlichen  Streben  nach  Weiterbildung  ohne  Zweifel  darstellt,  so 
unverbrüchhch  muß  auf  der  andern  Seite  daran  festgehalten  werden,  daß 
die  Pädagogik  als  Universitätsdisziplin  in  bezug  auf  die  Hochhaltung  ihres 
Wissenschaf tUchen  Charakters  keinerlei  Zugeständnisse  machen  darf." 

Den  gleichen  Vorbehalt  machte  auch  Kuck  ho  ff.  Es  sei  gegen  das  Studium 
^Hochqualifizierter"  nichts  einzuwenden,  nur  dürfe  „dasNiveau  der  Vorlesungen 
um  ihretwillen  nicht  niedriger  gehalten  werden".  Heinrich  Maier  be- 
hauptete, in  Tübingen  hätten  die  Volksschullehrer  zu  den  eifrigsten  Hörern 
gehört,  aber  nicht  auf  der  erforderlichen  Bildungshöhe  gestanden.  Völlig  ab- 
ablehnend verhielt  sich  Oberlehrer  Litt.  Die  zu  wünschende  Kulturpädagogik 
setze  einen  Einblick  in  die  Kulturzusammenhänge  voraus.  „Einen  solchen 
Einblick  in  das  Wesen  einer  Kultur  zu  gewinnen,  ist  aber  dem  Volksschul- 
lehrer seiner  ganzen  Bildung  nach  versagt,  also  ist  ihm  die  Teilnahme  an 
diesen  Vorlesungen  nicht  zu  gestatten."  Unmittelbar  nach  ihm  kam  Spranger 
zum  Wort,  der  auf  Grund  seiner  Leipziger  Erfahrungen  berichtete,  daß  dort, 
wo  die  Volksschullehrer  seit  1865  zum  Studium  der  Pädagogik  zugelassen 
seien,  das  Niveau  durch  sie  keineswegs  herabgezogen  werde.  „Ja  ihre  Teil- 
nahme wirkt  belebend  auf  die  Diskussion  ein,  da  die  Lehrer  aus  der  eigenen 
Praxis  berichten  können."  Für  den  Dozenten  ergebe  sich  allerdings  leicht 
die  Gefahr  politischer  Abhängigkeit,  die  aber  schwinde,  wenn  man  sich  rein 
auf  den  akademischen  Ton  einstelle. 

Unter  den  Volksschullehrern  ist  vielfach  die  Meinung  verbreitet,  die  Uni- 
versitäten würden  sie,  wenn  nur  die  Regierung  die  nötigen  Anordnungen 
erlasse,  mit  offenen  Armen  aufnehmen.  Sie  mögen  aus  den  Verhandlungen  der 
pädagogischen  Konferenz  von  neuem  ersehen,  wie  irrig  das  ist.  Selbst  so  offen- 
kundige Freunde  der  Volksschullehrer  wie  Ziehen  machen  ihre  Zustimmung 
von  Vorbehalten  aller  Art  abhängig,  die  Ansicht,  daß  die  Volksschullehrer  „nicht 
auf  der  erforderlichen  Bildungshöhe"  stünden,  ist  verbreiteter,  als  man  in 
Lehrerkreisen  glaubt,  und  die  von  Litt  mit  so  apodiktischer  Sicherheit  hin^ 
gestellte  Behauptung:  „Einen  solchen  Einblick  in  das  Wesen  einer  Kultur  zu 
gewinnen,  ist  dem  Volksschullehrer  seiner  ganzen  Bildung  nach  versagt", 
spiegelt  mit  ihrer  ohne  jede  Einschränkung  gezogenen  Folgerung,  daß  dem 
Volksschullehrer  die  Teilnahme  an  den  Vorlesungen  nicht  zu  gestatten  sei, 
das    durchschnittliche  Urteil   der  Oberlehrerschaft  Norddeutschlands   wieder. 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.    Muthesius  277 

Eins  ergibt  sich  jedenfalls  mit  zwingender  Sicherheit  aus  den  Verhandlungen: 
Der  Zusammenhang  zwischen  Volksschullehrerbildung  und  Universität  kann 
nur  dadurch  hergestellt  werden,  daß  zunächst  einmal  eine  Auswahl  „Höchst- 
qualifizierter" zum  Studium  zugelassen  wird.  Erst  wenn  diese,  wie  es  in 
Sachsen  geschehen  ist,  den  Beweis  erbracht  haben,  daß  ihnen  keineswegs  die 
., erforderliche  Bildungshöhe"  mangelt  und  deshalb  die  Befürchtung  unbegrün- 
det ist,  daß  sie  „das  Niveau  herabdrücken  werden"  i),  erst  dann  werden  sich 
die  Pforten  der  Universität  weiter  öffnen.  Man  mag  darin  nicht  die  letzte 
Lösung  der  ganzen  Frage  sehen,  man  mag  darin  mehr  nur  eine  Station  auf 
dem  Wege  nach  dem  Hauptziele  erblicken:  ohne  diese  Übergangszeit  ist  es 
überhaupt  unmöglich,  in  der  Frage  vorwärts  zu  kommen.  Sie  ist  vor  allen 
Dingen  (leshalb  nicht  auszuschalten,  weil  in  ihr  erst  einmal  die  Lehrerbildungs- 
anstalten mit  akademisch  gebildeten  Lehrkräften,  die  aus  dem  Volksschullehrer- 
stande stammen,  versorgt  werden  müssen,  wodurch  allein  ihre  Lehrweise  und 
ihre  Leistungen  so  ausgestaltet  und  gesteigert  werden  können,  daß  alle  Zweifel 
an  der  wissenschaftlichen  Zulänglichkeit  schwinden.  Die  Volksschullehrer 
aber  haben  mit  dem  gänzlich  unvermittelten  Verlangen,  sofort  allen  den  Zu- 
gang zur  Universität  zu  gestatten,  nur  die  Widerstände  gesteigert  und  damit 
selbst  die  Entwicklung  gehemmt. 

2. 

In  der  Ablehnung  von  Übungsschulen  waren  die  Mitglieder  der  Konferenz 
einig;  wenigstens  wurde  von  keiner  Seite  ein  Wort  für  sie  eingelegt.  Zwar 
forderte  man  zur  Ergänzung  der  Vorlesungen  pädagogische  Seminare,  aber 
so  erklärte  z,  B.  Frischeisen-Köhler:  „Da  die  Anleitung  zur  Erziehungs- 
praxis und  zum  Unterricht  nicht  Aufgabe  der  Universitätspädagogik  sein  kann, 
kann  das  pädagogische  Seminar  nur  ein  Seminar  für  theoretische  Pädagogik 
sein;  die  praktische  pädagogische  Einführung  ist  dem  Gymnasialseminar  aus- 
schließlich vorbehalten."  Zu  dieser  dürfe,  meinte  Troeltsch,,  an  der  Uni- 
versität „keine  Dublette  geschaffen  werden". 

Mir  scheint,  es  liegt  hier  zum  mindesten  eine  recht  einseitige  Auffassung 
vom  eigentlichen  Wesen  der  pädagogischen  Bildung  vor. 

Pädagogik  ist  nicht  nur  Wissenschaft,  sondern  auch  Kunst,  und  wie  es  im 
Wesen  jeder  wahren  Bildung  liegt,  daß  sie  nach  Betätigung,  nach  Produktivität 
geradezu  hindrängt,  so  namentlich  im  Wesen  der  pädagogischen  Bildung. 
Für  alle  großen  Erzieherpersönlichkeiten  ist  der  Drang  nach  pädagogischer 
Betätigung  kennzeichnend;  Pestalozzi  ist  ein  typisches  Beispiel  hierfür.  Die 
Pädagogik  als  bloße  Theorie  betreiben,  heißt  sie  blutleer  machen.  Überall 
verfällt  die  Theorie  der  Verdörrung,  wenn  sie  nicht  fortlaufend  in  ein  leben- 
diges Verhältnis  zur  Praxis  gesetzt  wird.  Zugestandenermaßen  ist  es  der  Vor- 
zug der  ärztlichen  Berufsbildung,  daß  hier  die  Organisation  eine  befruchtende 
Wechselwirkung,  ein  vollständiges  gegenseitiges  Durchdringen  von  Theorie 
und  Praxis  gewährleistet.  Würden  wir  nicht  den  Vorschlag,  die  Kliniken  von 
der  medizinischen  Fakultät  zu  trennen,  als  ganz  undurchführbar  empfinden  ? 
So  werden  auch  pädagogische  Lehrstühle  an  den  Universitäten  nur  eine  tiefere 
Wirkung  hervorbringen  können,  wenn   sie  in   irgendeiner  Weise  mit  päda- 


•)  Vergl.  Pädagogische  Blätter  1911,  S.  43  u.  328:  Die  Erfolge  der  sächsische» 
Studieneinrichtungen  für  Volksschullehrer. 


278       über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 


gogischen  Beobachtungs-  und  Übungsfeldern  verbunden  werden,  so  daß  sie 
fortlaufend  das  Bild  der  Verwirklichung  neben  sich  haben. 

In  dem  Satze  Sprangers:  „Gerade  dies  ist  die  Seelennot  des  Ordinarius, 
daß  ihm  die  Berührung  mit  der  ganzen  Breite  der  pädagogischen  Praxis  fehlt", 
ist  das  Bedürfnis  in  Rücksicht  auf  den  Dozenten  überzeugend  ausgesprochen, 
und  auch  Ettlinger  hat  darauf  hingewiesen,  daß  es  „vielleicht  für  den  Lehrer 
der  Pädagogik  selbst"  einer  Übungsschule  bedürfe.  Ist  es  aber  nicht  ein 
Widerspruch,  das  Bedürfnis  mit  so  eindringlichem  Wort  zuzugestehen  und 
doch  die  Verwirklichung  abzulehnen?  Als  gleichen  Widerspruch  empfinde 
ich  es,  wenn  z.  B.  Kuckhoff  fordert,  die  pädagogische  Psychologie  solle  dem 
Hörer  die  Mittel  an  die  Hand  geben,  die  verschiedenen  Begabungen  zu  er- 
kennen, in  einem  Atem  damit  jedoch  erklärt:  „Eine  Übungsschule  aber  ist  ab- 
zulehnen". Wo  soll  der  Hörer  Gelegenheit  finden,  Begabungen  zu  erkennen, 
wenn  nicht  an  lebendigen  Kindern? 

Erythropel  rät  von  der  Errichtung  einer  Übungsschule  mit  der  Be- 
gründung ab:  „Die  Technik  des  Unterrichts  ist  noch  lange  nicht  das  Wesent- 
liche". So  wahr  dieser  Satz  an  sich  ist,  so  muß  doch  mit  allem  Nachdruck 
betont  werden,  daß  die  Einübung  der  Unterrichtstechnik  eben  nicht  als  das 
Wesentliche  einer  Übungsschule  angesehen  werden  darf.  Diese  mag  getrost 
den  Gymnasialseminaren  als  deren  eigentliche  Aufgabe  vorbehalten  bleiben. 
Hier  handelt  es  sich  zunächst  um  etwas  anderes  und  weit  Wertvolleres:  die 
Begründung  der  rechten  pädagogischen  Gesinnung.  Das  kann  nur  geschehen 
in  lebendigem  Umgang  mit  der  Jugend.  Goldbeck  beklagt  es  bei  aller  An- 
erkennung des  Eifers  und  des  Wohlwollens  der  Lehrer,  daß  ihnen  „das  Ver- 
ständnis für  die  kindliche  Seele,  die  Fähigkeit  des  Sicheinfühlens"  fehle.  Dem 
Mangel  kann  aber  auf  keine  andre  Weise  abgeholfen  werden,  als  daß  der 
Lehrer  gleich  beim  Beginn  seiner  Berufsbildung  in  ein  inniges  Gemeinschafts- 
verhältnis zur  Jugend  gesetzt  wird.  Mit  warmen  Worten  hat  Becker  auf 
die  tiefer  liegenden  Werte  der  pädagogischen  Berufsbildung  hingewiesen. 
Wenn  Troeltsch  in  seinen  Leitsätzen  gleichsam  als  Nebenaufgabe  der  neuen 
Pädagogik  erwähnt  habe,  die  Studenten  in  die  Ideale  und  in  die  Ethik  des 
Lehrerberufs  einzuführen,  so  müsse  er  mit  Entschiedenheit  betonen,  daß  hierin 
gerade  das  Allerwesentlichste  enthalten  sei.  Im  allgemeinen  werde  von  den 
Lehrern  der  einzelnen  Fächer  jede  Beziehung  auf  die  Schule,  d.  h.  auf  ihre 
erziehlichen  Zwecke,  abgelehnt,  die  Studenten  würden  zu  Gelehrten,  aber  nicht 
zu  künftigen  Lehrern  erzogen  und  nähmen  deshalb  von  der  Universität  eine 
falsche  Berufsethik  mit  ins  Leben.  „Diese  Dissonanz  zu  lösen,  den  beiden 
großen  Gefahren  der  Intellektualisierung  und  der  Spezialisierung  zu  begegnen, 
ist  die  neue  pädagogische  Professur  vor  allem  berufen:  sie  soll  ausgleichen 
und  verbinden,  soll  schon  auf  der  Universität  den  Studenten  mit  dem  Ideal 
seines  künftigen  Berufes  ganz  durchdringen."  Sehr  gut  gesagt.  Meint  man 
aber,  derartige  Wirkungen  zu  erzielen,  wenn  man  die  Studenten  bloß  an- 
redet? Ein  in  seiner  Tiefe  erfaßtes  Ideal  drängt  mit  der  Macht  der  Natur- 
notwendigkeit nach  Verwirklichung,  nach  Betätigung;  es  verblaßt  wieder,  wenn 
diese  Betätigung  auf  fernere  Zeiten  verschoben  wird.  Nur  im  eigenen  Tun 
findet  es  Nahrung,  nur  in  der  unmittelbaren  engen  Berührung  mit  der  Jugend 
kann  das  Berufsideal  des  künftigen  Lehrers  gedeihen. 

Das  Bedürfnis  nach  irgendwelcher  Beziehung  zur  Praxis  ist  in  der  Kon- 
ferenz  namentlich  von  mehreren  praktischen  Schulmännern  wiederholt  aus- 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.     Sickinger  279 

drücklich  hervorgehoben  worden.  Borbein  fordert  die  praktische  Berührung 
mit  der  Jugendbewegung;  Reinhardt  erhofft  eine  gegenseitige  Befruchtung 
von  Theorie  und  Praxis  davon,  daß  der  Professor  der  Pädagogik  den  Sitzungen 
der  Gymnasialseminare,  dem  Unterricht,  den  Prüfungen  am  Schluß  der  prak- 
tischen Ausbildung  beiwohnt.  Das  alles  sind  aber  nur  notdürftige  Ersatz- 
mittel für  den  Dozenten,  gelegentUche ,  flüchtige  Annäherungen  an  die 
Wirklichkeiten  des  pädagogischen  Lebens,  die  noch  lange  nicht  die  Gewähr 
bieten,  daß  dieses  Leben  mit  allen  seinen  flutenden  Erscheinungen  in  dem 
Universitätsunterricht  seine  befruchtenden  Wirkungen  ausübt.  Aber  was  die 
Hauptsache  ist:  der  Hörer  geht  dabei  vollständig  leer  aus,  er  soll  künstlich 
von  jeder  Gelegenheit,  sich  selbst  irgendwie  zu  betätigen,  ja  auch  nur  mit 
eigenen  Augen  zu  beobachten,  abgesperrt  werden. 

Das  ist  unnatürlich,  und  deshalb  unhaltbar.  Errichtet  man  pädagogische 
Professuren  mit  pädagogischen  Seminaren,  so  werden  Professor  und  Studenten 
bald  von  innen  heraus  dazu  gedrängt  werden,  die  Verbindung  mit  der  päda- 
gogischen Wirklichkeit  aufzusuchen,  es  werden  aus  innerer  Notwendigkeit  heraus 
Einrichtungen  entstehen,  die  für  Lehrer  «und  Hörer  die  Möglichkeit  bieten, 
in  irgendeiner  Form  pädagogisches  Empfinden  und  Denken  in  Tun  umzu- 
setzen. Sie  brauchen  durchaus  keine  Dubletten  der  Gymnasialserainare  zu 
sein,  es  lassen  sich  Organisationen  denken,  die  eine  Vorwegnahme  der  Auf- 
gaben jener  vermeiden.  Die  Technik  des  Unterrichts  bis  zu  einem  erheblichen 
Grade  der  Fertigkeit  einzuüben,  ist  nicht  ihr  Zweck,  wenn  sie  auch  zu  den 
ersten  Lehrversuchen  Gelegenheit  bieten  mögen.  Sie  sollen  vor  allen  Dingen 
dem  künftigen  Lehrer  in  planmäßigen  Veranstaltungen  Gelegenheit  geben,  in 
ein  enges  Gemeinschaftsverhältnis  zur  Jugend  zu  treten.  Nur  dadurch  kann  er 
in  die  rechte  pädagogische  Temperatur  versetzt  werden,  nur  dadurch  kann  in 
ihm  die  Stimmung  rege  werden,  daß  der  Lehrer  etwas  anderes  ist  als  ein 
Stundenhalter  und  Sklave  des  Uhrzeigers,  nur  dadurch  kann  sich  in  ihm  alles 
das  entfalten,  was  man  in  den  Ausdruck  pädagogisches  Berufsideal  zusammen- 
fassen mag. 

SchHeßlich  noch  eine  kurze  allgemeine  Bemerkung.  Borbein  machte  dar- 
auf aufmerksam,  daß  der  Name  Herbarts  kaum  genannt  worden  sei.  Das 
ist  überhaupt  das  Kennzeichen  der  Konferenz :  sie  hat  das  Problem  in  seinem 
ganzen  Umfange  ab  ovo  behandelt,  sie  hat  (mit  Ausnahme  eines  kurzen  Hin- 
weises durch  Ziehen)  unbeachtet  gelassen,  daß  die  Frage  der  pädagogischen 
Professuren  anderwärts  bereits  gelöst  ist,  daß  insbesondere  'auch  die  beiden 
Einzelfragen,  auf  die  wir  die  Aufmerksamkeit  lenken  wollten,  ihre  Geschichte 
haben :  die  Zulassung  von  Volksschullehrern  zur  Universität  und  die  Errichtimg 
pädagogischer  Seminare  mit  Übungsschulen.  Vielleicht  hätte  es  doch  zur 
Klärung  der  Anschauungen  beigetragen,  wenn  man  dieses  ganze  Erfahrungs- 
und Tatsachengebiet  nicht  so  ohne  weiteres  als  nicht  vorhanden  betrachtet  hätte. 

Zum  Begriff  der  Hochschulpädagogik  nach  den  Bedürfnissen 
der  Jugend-  und  der  Volkserziehung. 

Von  Anton  Sickinger. 

„Die  Welt  soll  nicht   so   rasch  zum  Ziele  als  wir  denken  und  wünschen. 

Immer  sind  die  retardierenden  Dämonen  da,   die  überall  dazwischen-   und 

überall  entgegentreten,  so  daß  es  zwar  im  ganzen  vorwärts  geht,  aber  sehr 

langsam."    Dieses  Goethewort  trat  mir  in  den  Sinn,  als  ich  nach  der  Lektüre 


280     Über  die  zukünftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

der  Thesen  und  des  Verhandlungsbeiichts  der  im  preußischen  Ministerium 
der  geistlichen  und  Unterrichts- Angelegenheiten  am  25.  u.  26.  März  1817 
abgehaltenen  Pädagogischen  Konferenz  die  zurückliegenden  50  Jahre  in 
Gedanken  durchwanderte,  in  denen  mir  nacheinander  als  Schüler  der  Volks- 
schule und  des  Gymnasiums,  als  Student  der  klassischen  Philologie,  als 
Gymnasiallehrer  (zugleich  Lehrer  des  Turnens)  und  seit  23  Jahren  auf 
einem  leitenden  Posten  mit  weittragender  Verantwortung  reichlich  Gelegenlieit 
geboten  ward,  die  ganze  Tragweite  des  pädagogischen  Problems  passiv  und 
aktiv  zu  erleben  und  so  an  mir  selbst  und  dazu  an  ungezählten  anderen, 
die  am  Erziehungswerke  in  den  verschiedensten  Stellungen  tätig  sind  und 
mit  denen  ich  Erfahrungen  austauschte,  einen  Maßstab  für  das,  was  in 
der  Sache  nottut,  zu  gewinnen.  Ja,  es  ist  langsam,  aber  mit  Genugtuung 
sei  es  gesagt,  es  ist  vorwärts  gegangen.  In  scharf  ausgeprägter  Form 
kommt  diese  erfreuliche  Tatsache  in  den  vom  Minister  zum  Beginn  und 
zum  Beschluß  der  Verhandlungen  gesprochenen  Sätzen  zum  Ausdruck:  die 
alte  Pädagogik  sei  reformbedürftig  und  müsse  auf  eine  neue  Basis  gestellt 
werden.  Die  Universitäten  und  Fakultäten  müssen  den  praktischen  Be- 
dürfnissen Rechnung  tragen.  Da  die  Universität  die  Lehrer  vorbildet,  so  habe 
sie  auch  die  Oberlehrerschaft  mit  dem  Geist  der  Pädagogik  zu  erfüllen. 
Schon  auf  der  Universtät  müsse  dies  geschehen  —  in  diesem  Geiste  der 
Pädagogik  sei  das  Schönste  des  Lehrerberufs  beschlossen.  Unserer 
Oberlehrerschaft  fehle  es  noch  daran.  Es  müsse  dahin  kommen,  daß  der 
nicht  als  volles  Glied  des  Standes  gelte,  der  nicht  eine  Stellung  zu  den  großen 
kulturphilosophischen  Fragen  zu  finden  suche  und  in  ihnen  lebe.  Dies  Ziel 
müsse  erreicht  werden,  wenn  wir  die  Schule  auf  die  notwendige  Höhe  heben 
wollen.  Das  sind  unzweideutige  und  im  Munde  des  Kultusministers  des 
führenden  Staates  besonders  bedeutsame  Worte,  auf  denen  sich  ein  Neues 
wohl  aufbauen  läßt.  Schade,  daß  für  das  Neue  nicht  schon  in  den  der 
Aussprache  zugrunde  gelegten  Leitsätzen,  die  nach  außen  hin  als  die  Willens- 
raeinung  der  Konferenz  gelten,  die  genügend  breite  Basis  gewählt  worden 
ist.  Die  neue  Hochschulwissenschaft  wurde  nämlich  in  den  Leitsätzen  nicht 
nach  den  praktischen  Bedürfnissen  (vgl.  die  Worte  des  Ministers),  sondern 
in  erster  Linie  nach  formalen  Rücksichten,  der  Einfügbarkeit  des  Neuen  in 
den  Rahmen  der  philosophischen  Fakultät  und  weiterhin  mit  dem  Zuschnitt 
auf  die  Tragfähigkeit  einer  Person,  des  neuen  Professors  der  Pädagogik, 
abgegrenzt  und  als  die  selbständige  und  umfassende  Wissenschaft  vom  gesamten 
staatlichen  Schulwesen  einschließlich  der  Volksschule,  seine  Geschichte  und 
seine  Ziele  gekennzeichnet.  Gewiß,  die  wissenschaftlich  historisch  philo- 
sophische Bearbeitung  der  tatsächlich  bestehenden  nationalen  Schuleinrich- 
tungen ist  eine  Aufgabe  der  neuen  Erziehungswissenschaft.  Darin  waren 
die  Konferenzteilnehmer  einig,  und  insofern  geben  die  Leitsätze  die  Anschauung 
der  Konferenz  wieder.  Allein  das  nationale  Schulwesen  ist  doch  nur  ein  Teil 
der  pädagogischen  Wissenschaft,  von  der  unser  Volk  durchgreifende  Förderung 
erwartet.  In  ihren  Begriff  fallen  sämtliche  Institutionen  der  Volkserziehung 
und  der  Volksbildung,  die  der  Mündigen  so  gut  wie  die  der  Unmündigen, 
sie  alle  mit  der  einheitlichen  Zielrichtung,  in  umfassender  Menschenökonomie 
die  ungeheuren  quantitativen  Verluste  des  Volkskörpers  an  gesundem  Leben, 
an  Menschengeist,  Kultur-  und  Wirtschaftskraft  qualitativ  dadurch  zu  ersetzen, 
daß  auf  dem  Wege  des  organisierten  Zusammenwirkens  der  in  Familie,  Schule, 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.     Sickinger  OQj 

Staat  und  Gesellschaft  wirkenden  Erziehungsmächte  jede  im  Volksnachwuchs 
schlummernde  Einzelkraft  durch  die  richtigen  Mittel  zunächst  zu  dem 
erreichbaren  Höchstmaß  individueller  Kultur  und  sozialer  Leistungsfähigkeit 
entwickelt,  sodann  zur  Erzeugung  entsprechender  Kultur-  und  Gebrauchswerte 
am  rechten  Platze  in  die  nationale  Gesamtwirtschaft  eingeordnet  und  mög- 
lichst lange  produktiv  erhalten  wird.  Wenn  je,  so  gilt  für  uns  heute  und 
künftighin  das  Wort:  „die  Nation  lebt  nicht  von  der  Vergangenheit,  sondern 
von  der  Zukunft".  Nur  die  gekennzeichnete,  in  die  Tiefe  und  in  die  Weite 
greifende  Mitarbeit  an  der  Kultur  des  kostbarsten  Besitzes  der  Nation  ent- 
spricht der  Würde  und  der  in  großer  Vergangenheit  wurzelnden  Tradition 
der  deutschen  universitas.  Nur  der  aus  solcher  Auffassung  geborene  Geist 
der  Pädagogik  wird  bewirken,  daß  die  Lehrenden  ihren  Blick  über  den  engen 
Rahmen  der  Schule  hinauslenken  und  die  grundsätzlichen  Zusammenhänge 
einerseits  ihres  Sondergebietes  mit  den  übrigen  Gebieten  der  Jugenderziehung, 
andererseits  der  Schulerziehung  mit  der  Volkserziehung  und  der  Volkswohl- 
fahrt klar  erkennen,  wodurch  ihr  Verantwortlichkeitsgefühl,  aber  auch  ihre 
Befriedigung  an  der  eigenen  Arbeit  gesteigert  wird,  indem  sie  sich  als  Ver- 
walter und  Mehrer  der  idealen  und  damit  auch  der  wirtschaftlichen  Güter 
unseres  schwer  ringenden  Volkes  fühlen  lernen  und  aus  dieser  Gesinnung 
heraus  ihre  Arbeit  möglichst  ertragsreich  zu  gestalten  bemüht  sind. 

Indessen  ist,  und  damit  komme  ich  auf  den  Kern  meiner  Ausführungen,  die 
ertragsreiche  Berufsausübung  auf  irgendeinem  Posten  des  Erziehungswesens 
nicht  schon  sicher  gestellt  durch  eine  klare  und  gehobene  Berufsauffassung 
als  Frucht  der  Einfühlung  in  die  sachlichen  Inhalte  einer  kultur-  und  staats- 
politisch orientierten  Hochschulpädagogik,  sondern  mindestens  ebenso  wich- 
tige Vorbedingung  dafür  ist  die  Vertrautheit  mit  den  Forderungen,  die  sich 
für  die  erzieherische  und  unterrichtliche  Tätigkeit,  für  Lehrkunst  und  Lehr- 
handwerk aus  der  physischen  und  psychischen  Natur  des  zu  erziehenden 
und  zu  bildenden  Menschen  als  unbedingt  zu  beachtenden  Normen  ergeben. 
Denn  die  Natur  läßt  sich  nicht  vergewaltigen.  Wir  meistern  die  Natur  nur, 
wenn  wir  ihre  Gesetze  befolgen.  Die  höchste  Weisheit  der  Pädagogik 
ist  deshalb,  der  Natur  getreu  zu  verfahren.  In  der  unzulänglichen 
Beachtung  dieser  Grundnorm  aller  Erziehung  wurzeln  in  der  Hauptsache  die 
Mißerfolge  der  alten  Pädagogik.  Der  von  Troeltsch  hervorgehobene  Umstand, 
die  heutige  Schule  sei  in  Inhalt  und  Methode  dem  modernen  Menschen 
vielfach  nicht  ganz  angepaßt  (Verhandlungsbericht  S.  24),  der  tief  eingewurzelte 
Irrtum,  die  Aufgabe  des  Oberlehrers  erschöpfe  sich  im  Gegensatz  zu  der  des 
Volksschullehrers  im  Lehren,  und  wer  eine  Wissenschaft  gut  verstehe,  sei 
auch  schon  imstande,  sie  andern  gut  zu  lehren,  ferner  die  starken  Mißgriffe 
nicht  bloß  bei  Behandlung  des  Lehrgutes  (Verhandlungsbericht  S.  12  und  25), 
sondern  auch  bei  der  Behandlung  der  Schüler,  das  leider  so  häufig  gespannte 
Verhältnis  zwischen  Lehrern  und  älteren  Zöglingen,  die  nicht  zur  Ruhe  kommen- 
den Klagen  der  Überbürdung  und  die  Häufigkeit  der  Einstellung  von  Haus- 
lehrern selbst  bei  Schülern,  die  bei  verständigerem  Betrieb  auf  eigenen  Füßen 
stehen  könnten,  „die  noch  immer  herrschende  Neigung  der  Lehrer  zu  ganz 
schematischerBeurteilung  der  Schüler,  die  zuweilen  geradezu  menschenmordend 
wirkt"  (Verhandlungsbericht  S.  22),  weiterhin  das  Versagen  gegenüber  der 
Notwendigkeit  der  gegenseitigen  Rücksichtnahme  bei  den  an  die  Schüler  der 
gleichen  Klasse  zu  stellenden  täglichen  Arbeitsforderungen,  die  geradezu  un- 


282      Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 


sinnigen  Stofforderungen,  die  hier  und  dort  für  die  neu  einzurichtenden  Über- 
gangsklassen gestellt  worden  sind,  die  verhältnismäßig  geringe  Einwirkung 
der  Schule  aufs  Elternhaus  (Verhandlungsbericht  S.  26),  die  befremdende 
Unkenntnis  der  Lehrer  hinsichtlich  der  außerschulischen  Interessen  und  Be- 
tätigungen der  Schüler,  die  ablehnende  Stellungnahme  gegenüber  dem  Erlaß 
des  Ministers,  durch  den  auch  den  Lehrern  der  höheren  Schulen  die  Berufs- 
beratung der  Schüler  zur  Pflicht  gemacht  wird  —  diese  und  andere  dem 
mit  der  Praxis  Vertrauten  wohlbekannten  Erfahrungstatsachen  erweisen  zur 
Genüge:  das  Hauptstück  des  auf  der  Hochschule  zu  legenden  theore- 
tischen Unterbaues  der  Pädagogik  hat  die  Einführung  in  die  Forschung 
und  die  Forschungsergebnisse  der  physio-psychologischen  Jugend- 
kunde zu  bilden. 

Im  Hinblick  auf  das  Gewicht  dieses  menschenkundlichen  Bestandteils 
der  Pädagogik,  der  in  den  Leitsätzen  entschieden  zu  kurz  gekommen  ist,  sei 
noch  auf  einiges  besonders  hingewiesen. 

Die  bisherige  einseitige  Ausbildung  der  Studierenden  zu  Philologen,  Mathe- 
matikern hat  gar  leicht  eine  Überschätzung  des  Stofflichen,  zumal  seiner  quanti- 
tativen Seite  und  die  Trübung  des  Blicks  für  die  Unteilbarkeit  des  Erziehungs- 
objektes zur  Folge.  Dafür  ein  sprechender  Beleg  aus  der  Praxis.  Zur  Zeit 
der  Einführung  der  dritten  Turnstunde  wurde  im  Gymnasiallehrei*- Verein  einer 
unserer  größten  Städte  folgende  These  einstimmig  gutgeheißen :  „Die  Delegierten- 
konferenz erblickt  in  der  immer  mehr  sich  steigernden  Berücksichtigung  der 
Körperpflege  im  Schulbetrieb  ein  Hindernis  zur  Erreichung  der  in  den  Lehr- 
plänen festgesetzten  Ziele."  Dieser  vom  Standpunkt  des  Ganzen  der  Er- 
ziehung befremdenden  Stellungnahme  liegt  die  Befürchtung  zugrunde,  durch 
die  stärkere  Betonung  der  körperlichen  Seite  dei  Erziehung  gingen  unsere 
Schulen  ihres  geschichtlichen  Charakters,  Pflegestätten  des  Geistes,  Übungs- 
stätten für  gründliches  Lernen  zu  sein,  verlustig.  Diese  Befürchtung  ist  nichtig. 
Einmal  ist  die  Körperübung  zugleich  auch  eine  Übung  des  Geistes,  insofern 
mit  jedem  bewußten  Üben  der  Muskeln  ein  Üben  des  nervösen  Zentralorgans 
parallel  geht  und  von  den  Leibesübungen  Wirkungen  auf  den  Intellekt,  das 
Gemüts-  und  Willensleben  ausgehen,  die  in  ihrer  Eigenart  durch  nichts  an- 
deres ersetzt  werden  können.  Sodann  ist  Gründlichkeit  und  Ergiebigkeit  des 
Lernens  nicht  gleichbedeutend  mit  systematischer  Vollständigkeit  der  Lern- 
stoffe. Diese  alte  Weisheit  hat  zu  Anfang  des  Krieges  durch  einen  die  Sich- 
tung und  Kürzung  des  Geschichtsstoffes  betreffenden  Erlaß  des  preußischen 
Unterrichtsministers  eine  bemerkenswerte  Bekräftigung  erfahren.  Wenn  daher 
durch  Abbau  der  überkommenen  Lernstoffe  die  rein  geistigen  Arbeitsleistungen, 
die  zu  einem  guten  Teil  reine  Gedächtnisleistungen  sind,  eingeschränkt  werden 
und  dafür  Wissen,  Können  und  Wollen  in  einer  gesunden  Körperlichkeit 
verankert  werden,  so  bedeutet  dies  eine  wertvolle  Steigerung  der  der  Gesamt- 
erziehung zum  Ziele  gesetzten  Lebenstüchtigkeit  des  Individuums.  Es 
ist  deshalb  verständlich •,  daß  der  angeführte  Beschluß  des  Lehrervereins  von 
hygienischer  Seite  ^)  eine  scharfe  Verurteilung  erfahren  hat:  „Ein  schrecklicher 
Gedanke,  daß  eine  solche  Anschauung  gerade  in  den  Kreisen  Raum  gewinnen 
und  gebilligt  werden  konnte,  welchen  das  Höchste  und  Kostbarste  unseres 
Volkes,  unsere  Jugend,  lange  Jahre  zwangsweise  anvertraut  ist.    Der  jugend- 

')  Generaloberarzt  und  stellv.  Korpsarzt  Dr.  Leu,  „Die  Lebenslehre ",  Berlin  1907. 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.    Sickinger  283 


liehe  Körper  soll  sich  nicht  nach  den  Lehrplänen  modeln.  Vielmehr  müssen 
sich  die  Lehrpläne  dem  in  der  Entwicklung  begriffenen  Organismus 
anpassen,  damit  er  keinen  Schaden  nimmt  und  untauglich  für  das  schaffende 
Leben  wird."  In  der  Tat:  der  gesundheitliche,  der  biologische  Gesichts- 
punkt, der  verlangt,  daß  der  jugendliche  Mensch  zu  dem  der  individuellen 
Anlage  erreichbaren  Höchstmaß  von  Gesundheit  im  prägnanten  Sinn, 
d.  i.  zur  vollen  leiblichgeistigen  Leistungstüchtigkeit  heranreift,  muß  in  der 
deutschen  Erziehung  stärker  als  bisher  zum  Ausdruck  kommen  und  zwar 
dadurch,  daß  alle  erzieherische  Betätigung  bewußter  unter  die  Idee  der 
richtigen  Betätigung  gestellt  wird  —  richtig  im  Sinne  von  physischer, 
physiologischer  und  psychologischer  Gemäßheit,  die  ebenso  ein  zu  leicht 
und  zu  wenig,  wie  ein  zu  schwierig  und  zu  viel  der  Anforderungen  ausschließt. 
Diese  aus  der  fortgeschrittenen  Erforschung  der  kindlichen  Natur  und  ihrer 
Wachstumsbedingungen  hervorgegangene  Forderung  ist  in  der  Neuzeit  zuerst 
mit  Nachdruck  für  die  physische  Seite  der  Erziehung  erhoben  worden.  ^ 
Während  früher  das  Turnen  als  Bewegungsschule  und  die  körperliche  Aus- 
bildung als  Aneignung  bestimmter  Fertigkeiten  aufgefaßt  wurde  und  man 
dementsprechend  den  aufsteigenden  Altersstufen  den  vielgestaltigen  Übungs- 
stoff des  deutschen  Turnens  nach  der  Schwierigkeit  der  Ausführung  zuordnete, 
erblickt  man  heute  —  entsprechend  der  eigentlichen  Bedeutung  von  „Bildung" 
als  vollendeter  Ausgestaltung  des  in  einem  Lebewesen  angelegten  Formprinzips  — 
die  Aufgabe  der  *köiperlichen  Ausbildung  darin,  alle  im  heranwachsenden 
Kinde  vorhandenen  Wachstumsanlagen  zur  bestmöglichen  Entfaltung  zu  bringen, 
und  ordnet  zu  diesem  Zwecke  den  einzelnen  Altersstufen  die  Übungen  so 
zu,  wie  sie  dem  physiologischen  Übungsbedürfnis  der  Altersstufen  entsprechen. 
Der  Physiologie  kommt  also  heute  bei  Aufstellung  der  Turnlehrpläne  das 
entscheidende  Wort  zu,  und  die  Turnlehrer  sind  mit  der  physiologischen  Eigen- 
art der  kindlichen  Entwicklungsstufen  und  ihrer  Bedürfnisse  vertraut  zu  machen. 

Das  gleiche  biologische  Gesetz  gilt  nun  auch  für  das  seehsche  Wachstum. 
Wie  jeties  andere  Organ  erreicht  auch  das  Gehirn  seine  vollendete  Ausbildung 
und  damit  die  höchsterreichbare  Qualität  der  Leistung  nur  dann,  wenn  bei 
der  Bildungs-  und  Unterrichtsarbeit  Art  und  Maß  der  Betätigung  mit  der 
individuellen  Funktionsfähigkeit  des  Denkorgans  in  Einklang  stehen.  Nur  unter 
dieser  Vorausetzung  kommt  es  zum  selbsttätigen  Erwerb  der  Bildungsstoffe, 
der  allein  die  Entwicklung  der  intellektuellen  Kräfte  gewährleistet.  Andernfalls 
kommt  es,  da  die  Fähigkeit  des  geistigen  Verdauens  so  wenig  wie  die  des 
leiblichen  erzwungen  werden  kann,  höchstens  zur  Anhäufung  gedächtnis- 
mäßigen Wissens,  das  Steine  statt  Brot  bedeutet,  denn  das  vom  Gehirn  nur 
mechanisch  Aufgenommene  stärkt  nicht  nur  nicht  die  Erkenntnisfähigkeit, 
sondern  schwächt  die  Kräfte  der  Anschauung  und  des  Urteils. 

Wirksame  Entwicklung  des  Intellekts  als  Folge  des  richtigen  Verhältnisses 
zwischen  Leistungsforderung  und  Leistungskraft  ist  aber  selbst  wieder  Vor- 
aussetzung der  Entfaltung  des  Gemüts-  und  der  Erstarkung  des  Willenslebens; 
denn  nur  aus  der  innerlichen  Verarbeitung  der  Kenntnisse  und  ihrer  Um- 
setzung in  geistige  Kraft  erwächst  das  für  die  Bildung  des  Charakters  so 
wichtige  Selbstvertrauen  und  in  dessen  Gefolge  Arbeitslust  und  Arbeitsfreude 


')  Vgl.  insbesondere  F.  A.  Schmidt  „Physiologie  der  Leibesübungen*  und  .Das  Scliulkind  nach 
seiner  körperlichen  Eigenart  und  Entwicklung".  Leipzig,  R.  Voigtländers  Verlag. 


284        Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 


und  hieraus  hinwiederum  das  Verlangen  nach  weiterer  Betätigung  und  die 
Kraft  des  Beharrens,  die  unversiegliche  Nährquelle  für  die  Erstarkung  des 
sittlichen  Willens,  das  Endziel  aller  erzieherischen  Beeinflussung. 

Mit  diesen  aufbauenden  Wirkungen  der  zwischen  Sollen  und  Können 
harmonisch  abgestimmten,  d.  i.  psychologisch  richtigen  Erziehungsarbeit  ver- 
gleiche man  die  niederhaltenden  Wirkungen  ihres  Gegenstücks  nach  der  zutreffen- 
den Schilderung  Meumanns: ')  „Unser  ganzes  pädagogisches  und  didaktisches 
System  krankt  an  einem  fundamentalen  Übel.  Es  gibt  noch  immer  zahlreiche 
Pädagogen,  die  keine  Ahnung  davon  haben,  wie  außerordentlich  wichtig  die 
Behandlung  des  Gemüts-  und  des  Willenslebens  der  Kinder  für  alle  ihre 
intellektuellen  Leistungen  und  ihren  gesamten  geistigen  Fortschritt  ist.  Jeder 
falsche  Tadel,  jede  Versäumnis  zur  Aufmunterung  des  Kindes,  jedes  unberechtigte 
Mißtrauen,  alle  Art  ironischer  und  spöttischer  Behandlung  der  Kinder,  jede 
falsche  Beurteilung  ihrer  Leistungen,  jedes  Nichtverstehen  ihrer  Individualität 
und  ihres  Begabungstypus,  jede  Zurücksetzung  hinter  andere  vermag  bis  aufs 
einzelne  Wort,  das  der  Erzieher  oder  Lehrer  spricht,  in  dem  Gemüts-  und 
Willensleben  des  Kindes  eine  Hemmung  oder  Depression  zu  verursachen,  durch 
die  es  die  nachhaltigste  Schädigung  davon  trägt.  Die  ganze  Pädagogik  der 
Demütigung,  der  Depression,  der  Schädigung  des  Selbstbewußtseins,  der  Unter- 
drückung oder  Nichtentwicklung  der  Selbsttätigkeit  der  Kinder  ist  ein  Ver- 
brechen an  der  Kindesseele ;  an  ihre  Stelle  muß  die  Pädagogik  des  Vertrauens, 
der  Aufmunterung,  der  Aufmunterung  um  jeden  Preis,  der  Belebung,  der 
Selbsttätigkeit  und  Selbständigkkeit,  des  gründlichen  Eingehens  auf  die  In- 
dividualität und  Begabung  der  Kinder,  der  Einfühlung  in  ihre  Entwicklungs- 
stufe und  des  vertieften  Verständnisses  der  gesamten  kindlichen  Eigenart  treten". 

Die  Pädagogik  des  gründlichen  Eingehens  auf  die  Individualität 
und  die  Begabung  der  Kinder,  die  Einfühlung  in  die  Entwick- 
lungs-  und  Wachstumsgesetze  und  des  vertieften  Verständ- 
nisses der  gesamten  kindlichen  Eigenart  —  ja,  das  ist  die  leben- 
weckende Pädagogik,  die  an  die  Stelle  der  alten  Pädagogik  zu  treten  hat, 
die  nach  den  Worten  des  Ministers  reformbedürftig  ist  urfÖ  auf  eine  neue 
Basis  gestellt  werden  muß.  Darnach  bestimmt  sich  innerhalb  des  Gesamt- 
begriffs der  Hochschulpädagogik  die  Bedeutung  der  „psychologischen"  Päda- 
gogik, die  lehrt,  was  in  Erziehung  und  Unterricht  erreicht  werden  kann, 
neben  der  „philosophischen"  Pädagogik,  die  lehrt,  was  erreicht  werden  soll. 
Es  ist  kein  Zufall,  daß  sich  die  mit  den  lebendigen  Bedürfnissen  der  Schule 
vertrauten  Konferenzteilnehmer  in  ihrer  übergroßen  Mehrheit  für  erstere 
mit  Nachdruck  eingesetzt  haben,  daß  vor  allem  auch  Reinhardt,  der  Verfasser 
der  gehaltvollen  Erläuterungen  zu  der  Ordnung  der  Prüfungen  und  zu  der 
Ordnung  der  praktischen  Ausbildung  für  das  Lehramt  an  höheren  Schulen 
in  Preußen,  Psychologie  und  Jugendkunde  in  eine  Reihe  mit  der  Philosophie 
gestellt  hat  und  daß  auch  von  den  Universitätslehrern  immerhin  eine  starke 
Minderheit  dem  menschenkundlichen  Faktor  in  der  pädagogischen  Berufslehre 
gerecht  geworden  ist.  Dies  sei  ausdrücklich  festgestellt,  um  der  Auffassung 
entgegen  zu  wirken,  daß  die  in  den  Leitsätzen  und  noch  mehr  in  deren  Be- 
gründung sich  kundgebende  Auslegung,  die  Psychologie  komme  im  wesent- 
lichen nur  für  die  Technik  des  Unterrichtens  in  Betracht  und  falle  deshalb 


')  Vorlesungen  II,  421. 


Gutachtliche  Äußerungen,  Zweite  Reihe.    Sickinger  285 


vornehmlich  dem  Praktiker,  d.  i.  dem  Leiter  des  2iährigen  praktischen  Vor- 
bereitungsdienstes zu,  der  Standpunkt  der  Konferenz  gewesen  sei. 

Für  das  Bedürfnis  einer  vollkräftigen  Auswirkung  des  psychologischen 
Einschlags  der  Pädagogik  auf  der  Hochschule  selbst  sprechen  auch  gewisse 
tatsächliche  Feststellungen  aus  dem  akademischen  Lehrbetrieb  der  Gegen- 
wart. Einmal  das  auf  der  Konferenz  von  Frischeisen-Köhler  hervorgehobene 
starke  Interesse  bei  den  Studierenden  an  der  Jugendkunde  sowie  an  den 
großen  Erziehungsproblemen  und  Reformbewegungen  der  Gegenwart,  während 
nur  sehr  wenige  Studierende  „Geschichte"  der  Pädagogik  ohne  Rücksicht 
auf  das  Examen  hören.  Sodann  eine  auf  den  Vorlesungsverzeichnissen  für 
das  Winterhalbjahr  1917/18  beruhende  Zusammenstellung  darüber,  wie  zur 
Zeit  die  Pädagogik  als  Gesamtbegriff  an  den  22  deutschen  Universitäten  in 
die  Erscheinung  tritt.')  Darnach  ist  die  Geschichte  der  Pädagogik  mit 
25  Kollegien  vertreten,  allgemein  pädagogische  Themen  (Unterrichtslehre,  Er- 
ziehungslehre, Spezialfragen)  werden  in  25  Vorlesungen  und  Übungen  be- 
handelt. Die  Psychologie  dagegen  ist  mit  70  Veranstaltungen  aufgeführt, 
dazu  Psychopathologie  mit  11,  experimentelle  Pädagogik  mit  3,  Hygiene 
mit  4,  Jugendfürsorge  mit  1  Veranstaltung.  Nach  den  Fakultäten  geordnet 
wurden  pädagogische  Fragen  behandelt:  von  21  Dozenten  der  theologischen, 
24  der  philosophischen,  32  der  psychologischen,  22  der  medizinischen  und 
2  der  wirtschaftlichen  Fächer:  ein  zahlenmäßiger  Beweis  dafür,  daß  eine 
dem  Leben  zugewandte  Pädagogik  sich  nicht  fakultätsmäßig  einhegen 
läßt,  sondern  ihre  Wurzeln  auch  in  benachbartes  Erdreich  schickt,  wenn 
sie  dort  assimilationsgerechte  Nahrung  findet.  Auf  diesen  freieren  lebens- 
volleren Begriff  der  Pädagogik  weisen  auch  zwei  Bemerkungen  Ziehens: 
die  Anregung,  es  möge  zugunsten  der  staatsbürgerlichen  Belehrung  die 
Rechtskunde  in  irgendeiner  Form  als  Zusatzfach  für  die  Oberlehrerprüfung 
hinzugenommen  werden,  sodann  der  Hinweis  darauf,  wie  wertvoll  auch  für 
die  Theologen  und  die  in  der  Schulverwaltung  tätigen  Juristen  die  Universi- 
tätsvorlesungen über  Pädagogik  seien.  Ziehen  hätte  hinzufügen  dürfen: 
auch  für  die  zukünftigen  Richter,  die  Ärzte  und  nicht  zuletzt  für  die  Offiziere, 
denn  sie  alle  sind  zur  Mitarbeit  an  der  Fülle  volkserzieherischer  Aufgaben 
berufen. 

Dem  freieren  Begriff  der  pädagogischen  Disziplin  entsprechend  wird  ihr 
organisationsmäßiger  Ausbau  an  den  einzelnen  Hochschulen  ein  verschiedenes 
Bild  gewähren.  Daraus  erwächst  kein  Nachteil,  denn  die  Vollständigkeit  der 
Teilgebiete  wird  durch  die  gegenseitige  Ergänzung  der  Hochschulen  erreicht. 
Das  Hauptbestreben  muß  darauf  gerichtet  sein,  daß  an  allen  Hochschulen  ein- 
schließlich der  technischen  und  Handelhochschulen  haupt-  oder  nebenamtliche 
Vertretung  der  Pädagogik  mit  entsprechenden  Pflege-  und  Übungsstätten  einge- 
richtet werde  und  daß  die  Studierenden  des  Lehrfaches  unter  allen  Umständen 
schon  auf  der  Hochschule  und  nicht  erst  im  praktischen  Vorbereitungsdienst  in 
die  Grundfragen  der  die  Physiologie  und  Psychologie  der  Jugendlichen  umfassen- 
den Jugendkunde  in  möglichst  anregender  Form  eingeführt  werden.  Weiterhin 
ist  mit  allen  Mitteln  anzustreben,  daß  die  großen  Städte,  die  der  Hochschulen 
entbehren,  wenigstens  psychologische  Forschungsinstitute  (in  natürlicher  Ver- 
bindung mit  den  überall  zum  Bedürfnis  gewordenen  Beruf sberatimgsämtern) 


')  Frankfurter  Schulzeitung  1918,  Nr.  12. 


286        Über  die  künftige  Pflege  der  Pädagogik  an  den  deutschen  Universitäten 

ins  Leben  rufen.  An  diese  schließen  sich  ungezwungen  Vorträge  über  päda- 
gogisch-psychologische Zeitfragen  an,  für  die  das  gebildete  Publikum  durch 
ihre  Behandlung  in  der  Presse  angeregt  steigendes  Interesse  zeigt.  Natürlich 
sind  alle  für  pädagogisch-psychologische  Zwecke  bestehenden  Einrichtungen 
auch  den  im  Dienst  befindlichen  Lehrern  aller  Schulgattungen  nutzbar  zu 
machen;  außerdem  sind  für  die  Lehrerschaft  besondere  Vortragsreihen  mit 
entsprechenden  Vorführungen  sowie  Ferienkurse  zu  veranstalten. 

Die  pädagogisch-psychologische  Wissenschaft  wird  unter  dem  unserem  Volke 
auferlegten  Zwange  der  größtmöglichen  Ausnutzung  jeder  Energie  und  der 
größtmöglichen  Ersparnis  an  Kraft,  nachdem  nunmehr  von  ihr  der  tote  Punkt 
überwunden  ist,  in  der  Vergangenheit  Versäumtes  in  rascherem  Tempo  nach- 
holen. Dafür  können  zahlreiche  Tatsachen  angeführt  werden.  Ich  begnüge 
mich  hier  mit  zwei  Hinweisen  aus  meinem  eigenen  Erfahrungskreis.  An  der 
technischen  Hochschule  in  Karlsruhe  wurde  vor  Kurzem  auf  Antrag  des 
Senats  einem  Dozenten  Lehrauftrag  für  Psychologie  unter  Einschluß  der 
Arbeits-  und  Wirtschaftspsychologie  und  der  Pädagogik  erteilt,  und  an  der 
Handelshochschule  in  Mannheim  ist  in  diesem  Jahre  eine  Wilhelm  Wundt- 
Professur  für  Philosophie,  Psychologie  und  Pädagogik  errichtet  worden. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  HansRupp. 
(Fortsetzung.) 

VII.  Gruppe:  Oedächtnis. 

Das  Gedächtnis  ist  eine  der  elementarsten  Fälligkeiten  des  Gehirns  und  der 
Seele.  Kein  Urteil,  keine  Willenshandhmg  ist  okne  Gedächtnis  möglich;  schon 
bei  Wahrnehmungen  wirkt  es  mit.  Ja,  man  vermutet  in  dem  Gedächtnis  di  e  oder 
wenigstens  eine  Grundfunktion  alles  Lebendigen  überhaupt;  bis  zu  sehr  ein- 
fachen Lebewesen  hinab  sind  Gedächtniswirkungen  beobachtet. 

Die  Psychologie  sucht  die  Gesetze  und  Bedingungen  dieser  elementaren  Fähig- 
keit zu  erforschen.  Auch  für  die  Pädagogik  haben  diese  Probleme  hohe  Be- 
deutung. Verschiedene  Schüler  haben  verschiedenes  Gedächtnis;  und  in  dem- 
selben Schüler  kommt  den  einzelnen  Sinnen  verschiedene  Gedächtniskraft  zu. 
Ruht  die  Verschiedenheit  in  den  Grundfähigkeiten  ?  und  in  welchem  der  Gesetze, 
in  welcher  der  Bedingungen? 

Leider  können  wir  heute  nur  in  wenig  Fällen  diese  Fragen  sicher  beantworten. 
Die  Eindrücke,  die  auf  uns  wirken,  die  wir  einprägen  sollen,  sind  nicht  einfach, 
sondern  sehr  zusammengesetzt  —  man  denke  an  ein  Bild,  eine  Situation,  an  ein 
Gedicht;  und  selbst  wenn  einfachere  Eindrücke  wirken,  so  werden  sie  doch  von 
uns  in  der  mannigfaltigsten  Weise  verarbeitet  —  man  erinnere  sich  an  die  Ge- 
dächtnisfarben, an  die  räiunliche  Apperzeption.  Es  ist  heute  in  den  meisten 
Fällen  unmöglich,  aus  dem  Labyrinth  von  Kräften  und  Wirkungen  das  Ver- 
halten der  Grundkraft  des  Gedächtnisses  herauszuschälen. 

Die  angegebenen  Probleme  sind  aber  auch  durchaus  nicht  die  einzigen,  welche 
Psychologie  und  Pädagogik  interessieren.    Können  wir  der  Grundkraft  schwer 


Hans  Rupp,  Probleme  und  Apparate  eur  experimentellen  Pädagogik     287 


beikommen,  so  können  wir  doch  die  Gesetze  und  Bedingungen  des  praktischen 
Lernens  untersuchen.  Wir  nehmen  die  komplizierteren  Eindrücke  und  Stoffe, 
so  wie  sie  eben  in  der  Praxis  einzuprägen  sind,  und  suchen  nach  den  Gesetzen  und 
Bedingungen  des  Lernens,  gleichgültig,  wie  dieselben  durch  Zusammenwirken 
elementarer  Kräfte  zustande  kommen  mögen.  Darauf  zielen  wohl  die  meisten 
Untersuchungen.  Zugleich  ergibt  sich  oft  Gelegenheit,  Unterschiede  zwischen 
Individuen,  Alters-  und  Entwicklungsstufen  festzustellen,  die  für  die  Pädagogik 
von  Wert  sind,  auch  wenn  sie  nicht  die  elementare  Bedeutung  haben  wie  die  oben 
besprochenen  Unterschiede. 

Ich  erläutere  das  Gesagte  durch  einige  Beispiele,  die  zugleich  die  Mannigfaltig- 
keit der  Fragen  zeigen  sollen. 

Es  gibt  sehr  verschiedene  Arten  von  Lernstoffen.  Man  halte  z.  B.  neben- 
einander: das  Alphabet,  ein  Gedicht,  Geschichtsdata,  Atomgewichte,  eine  geo- 
graphische Zeichnung,  ein  Landschaftsbild  (z.  B.  zur  Orientierung  beim  Wan- 
dern), ein  Musikstück,  die  Bewegungen  bei  verschiedenen  Fertigkeiten  (z.  B. 
Sprechen,  Zeichnen,  Klavierspiel,  Schreibmaschine,  Tanz).  Es  ist  fast  selbst- 
verständlich, daß  so  verschiedene  Stoffe  auch  verschiedene  Lernverfahren  zur 
Einprägung  verlangen,  so  z.  B.  von  der  bloßen  lebhaften  Vergegenwärtigung, 
vom  lebendigen  Erleben  (Anschauungsunterricht,  Verständnis,  Erarbeiten) 
durch  die  mannigfaltigen  mnemotechnischen  Hilfsmittel  bis  zum  stumpfen  me- 
chanischen Wiederholen  eines  wenig  Anhaltspunkte  liefernden  sinnlosen  Lern- 
stoffes. 

Vielfach  genügt  gründliches  Verstehen,  lebhaftes  Erleben  zur  Einprägung.  Manche 
wollen  in  solchen  Fällen,  selbst  wenn  die  Absicht  der  Einprä^ng  besteht,  noch 
nicht  von  ,, Lernen",  ja  nicht  einmal  von ,, Gedächtnis"  sprechen.  Die  experimentelle 
Gedächtnislehre  rechnet  dagegen  auch  diese  Verfahren  zu  den  Lern-  und  Gedächtnis- 
verfahren. Sie  sucht  das  sinnvolle  Lernen  immer  mehr  in  den  Kreis  ihrer  Unter- 
suchungen zu  ziehen. 

Nicht  nur  der  Lernstoff  kann  sehr  verschieden  sein,  sondern  auch  die  Art 
der  Darbietung  und  die  Aufgabe  oder  das  Ziel  des  Lernens.  Ein  Gedicht 
kann  laut  oder  leise  gelesen  oder  vorgesprochen  werden,  ein  Musikstück  in  Noten 
gegeben  oder  vorgespielt  werden.  Verschiedene  Ziele  sind  z.  B.:  Wörtliches 
Lernen  oder  Einprägen  dem  Sinne  nach,  momentanes  oder  dauerndes  Einprägen; 
Vokabeln,  Atomgewichte  sind  bloß  paarweise  zu  lernen,  das  Alphabet,  die  Härte- 
grade, Geschichtsdata  in  ihrer  ganzen  Reihenfolge,  usf.  Wie  paßt  sich  das  Lern- 
verfahren diesen  Verschiedenheiten  der  Darbietung  und  des  Lernzieles  an? 

Die  experimentelle  Pädagogik  sammelt  nun  die  verschiedenen  Arten  von 
Stoffen,  Darbietungen  und  Aufgaben  und  sucht  die  für  das  Lernen  wesentlichen 
Unterschiede  derselben  herauszuarbeiten.  Sie  sammelt  vor  allem  die  verschie- 
denen Lern  verfahren,  die  bei  den  einzelnen  Stoffen  usw.  angewendet  werden 
können,  sucht  auch  nach  neuen  Verfahren.  Sie  prüft  dann,  welches  Verfahren 
für  diesen,  für  jenen  Stoff  das  beste  ist,  ob  es  vielleicht  allgemeine  Regeln  (z.  B. 
über  Verteilung  der  Wiederholungen,  Lernen  im  Ganzen  oder  in  Teilen,  Lernen 
mit  und  ohne  Rezitieren)  gibt.  Das  sind  die  Probleme  der  Technik  und  Öko- 
nomik des  Lernens. 

Zugleich  untersucht  sie,  ob  verschiedene  Schüler,  Altersstufen  usw.  verschie- 
dene Stoffe  oder  auch  alle  Stoffe  verschieden  leicht  lernen,  ob  sie  aus  freien 
Stücken  verschiedene  Verfahren  wählen,  imd  ob  nicht  für  den  einen  dieses,  füi 


288  Hans  Rupp 

den  anderen  jenes  Verfahren  vorteilhafter  ist  (z.  B.  für  den  einen  visuelles,  für 
den  andern  akustisch-motorisches  Lernen),  Das  sind  die  Fragen  der  differen- 
ziellen  Psychologie  des  Lernens. 

Die  Gedächtnisexperimente  werden  auch  zur  Untersuchung  anderer  Fähigkeiten 
als  der  des  Gedächtnisses  verwertet.  Wenn  eine  Reihe  von  Wörtern  mit  bestimmten 
logischen  oder  sachlichen  Beziehungen,  bestimmte  Bilder,  Gegenstände  besser  gemerkt 
werden,  so  ist  es  wohl  ein  Zeichen,  daß  das  Verständnis  für  sie  besser  entwickelt  ist. 
Wenn  an  Bildern  besonders  die  Farben  oder  besonders  die  Formen  gemerkt  werden, 
ist  es  ein  Zeichen,  daß  der  Lernende  (dauernd  oder  momentan)  besonders  auf  Farben 
oder  Formen  achtet.  Endlich,  wenn  ein  Schüler  sich  in  neue  Lernstoffe  schnell  hinein- 
lebt, wenn  er  bei  neuen  Aufgaben  rasch  das  günstigste  Lernverfahren  herausfindet, 
ist  es  ein  Zeichen  von  Intelligenz,  Anpassungsfähigkeit.  Man  kann  also  dvirch  Ge- 
dächtnisleistimgen  (wie  durch  manche  aifdere  Leistimgen)  auch  Aufmerksamkeits- 
richtung, Verständnis,  Intelligenz  u.  dgl.  m.  prüfen. 


Wenn  man  prüfen  will,  wer  ein  besseres  Gedächtnis  hat,  welches  Lernver- 
fahren vorteilhafter  ist,  muß  man  sich  schlüssig  werden,  was  man  imter  besserem 
Gedächtnis  und  besserem  Verfahren  verstehen  will,  und  muß  nach  Methoden 
suchen,  sie  exakt  prüfen  und  messen  zu  können.  Die  experimentelle  Ge- 
dächtnislehre hat  eine  Reihe  solcher  Maße  entwickelt;  sie  gehen  zum  Teil  auf 
verschiedene  imd  unabhängige  Seiten  der  Gedächtnisleistung.  Ich  führe  die 
wichtigsten  an. 

Das  bessere  Gedächtnis,  das  bessere  Verfahren  erkennt  man  vor  allem  an 
dem  besseren  und  längeren  Behalten.  Ferner  nennt  man  ein  Gedächtms, 
ein  Verfahren  besSer,  wenn  es  weniger  Anstrengung  beim  Lernen  verlangt 
oder  wenn  es  mehr  Freude  beim  Lernen  bereitet. 

Anstrengung  und  Freude  sind  schwer  objektiv  zu  prüfen.  Man  wird  sich  auf 
den  subjektiven  Eindruck  stützen,  wenn  er  deutlich  ausgeprägt  ist. 

Dagegen  gibt  es  für  das  Behalten  eine  Reihe  objektiver  Meßmethoden.  Zwei 
Hauptmethoden  sind  zu  scheiden.  Die  eine  geht  auf  die  Reproduktion,  auf 
die  Fähigkeit,  den  Stoff  auswendig  wiederzugeben.  Die  genaueren  Maße  gebe 
ich  noch  an.  Vielfach  sind  wir  aber  zur  Reproduktion  nicht  mehr  imstande, 
während  doch  eine  Gedächtniswirkung  noch  vorhanden  ist.  So  liegt  uns  oft  ein 
Name  „auf  der  Zunge",  ohne  daß  er  ans  einfällt,  d.  h,  ohne  daß  er  reproduziert 
werden  könnte.  Bei  solchen  schwächeren  Einprägungen  prüft  man  entweder 
das  Wiedererkennen:  man  kann  den  Namen  sofort  erkennen,  wenn  er  vor- 
gesagt wird,  mid  man  erkennt,  wenn  ein  anderer  Name  genaimt  wird.  Oder  man 
prüft  die  Einprägungsfähigkeit  beim  Wiederlernen:  wenn  eine  Erinnerung 
zurückgeblieben  ist,  geht  das  Wiederlernen  leichter  und  schneller.  Man  spricht 
im  Gegensatz  zur  Reproduktion  von  besserer  Disposition  oder  Aufnahmefähig- 
keit (Suszeptibilität). 

Innerhalb  beider  Hauptmethoden  gibt  es  wieder  verschiedeDe  Maße.  Die 
Reproduktion  kann  verschieden  genau  sein,  z.  B.  bei  Wiedergabe  eines  Tones, 
einer  Farbe,  einer  Bewegung,  oder  von  komplizierten  Gebilden,  wie  eines  Bildes, 
einer  Geschichte,  eines  Musikstückes  (Genauigkeit).  Bei  zusammenge- 
setzten Stoffen  besitzt  m.an  oft  ein  bequemes  und  klares  Maß  in, der  Anzahl  der 
richtig  behaltenen  Teile,  7.  B.  Anzahl  der  Vokabeln,  der  Wörter  oder  der  richtigen 
Aussagen  in  einem  Beriebt  (Menge  des  Be;haltenen,  Treffer  zahl).    Dazu 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  289 


kommt  als  drittes  Maß  die  Schnelligkeit  der  Reproduktion  (Trefferzeit),  Der 
Schüler  antwortet  z.  B.  beim  Vokabelabfragen  prompt  oder  zögernd,  er  sagt 
das  Gedicht  fließend  oder  stockend.  —  Dieselben  Maße  der  Genauigkeit,  Treffer- 
zahl und  Treff  er  zeit  gibt  es  beim  Wiedererkennen  und  selbstverständlich  auch 
bei  der  Reproduktion  nach  dem  Wieder  lernen. 

Statt  das  Behalten,  wie  es  eben  vorhanden  ist,  zu  messen,  kann  man  auch 
einen  bestimmten  Grad  des  Behaltens  vorschreiben,  z.  B.  eo  lange 
lernen  lassen,  bis  der  Stoff  (wenigstens  für  den  Augenblick)  richtig  wiedergegeben 
werden  kann,  und  die  Lernzeit  oder  die  Zahl  der  Wiederholungen,  die  zum  vor- 
geschriebenen Ziel,  in  unserem  Beispiel  zimi  Erlernen,  nötig  war,  messen. 
Wenn  ein  Verfahren,  ein  Individuum  mehr  Zeit  braucht,  ist  das  Behalten 
schlechter.  —  Den  gleichen  Weg  gibt  es  beim  Wiederlernen.  Man  mißt  die  Zeit 
oder  Wiederholungszahl,  die  z.  B.  zum  Wiedererlemen  nötig  ist;  je  kleiner  sie 
ist,  je  mehr  man  im  Vergleich  zu  einem  neuen  Lernen  spart,  desto  besser  war 
die  Einprägung. 

Alle  diese  Methoden  sind  zu  scheiden  von  solchen,  die  die  Art  des  Lernens, 
das  Lemverfahren  bestimmen,  z.  B.  das  verschiedene  Tempo,  die  Beteiligung  ver- 
schiedener Sinne,  das  Heranziehen  von  Hilfen.  Unsere  Methoden  untersuchen  nicht 
das  Lernverfahren,  sondern  messen  das  Behalten. 

Die  Prüfungen  sollten  öfter  ausgeführt  werden,  damit  man  die  Dauer  des 
Behaltens  erfährt  (Abfallskurve,  Kurve  des  Vergessens).  Es  genügt  nicht,  wenn 
ein  Schüler  schnell  lernt;  er  soll  auch  lange  behalten.  (Die  zuletzt  erwähnte 
Methode  des  Erlernens  z.  B.  prüft  nur  das  augenblickliche  Können  unmittelbar 
nach  dem  LerneD.) 

Wo  der  Stoff  zusammengesetzt  ist,  können  verschiedene  Teile,  ver- 
schiedene Verknüpfungen  getrennt  geprüft  werden.  Welche  Teile  eines 
Gedichtes,  einer  Vokabelreihe  (Anfang,  Mitte,  Ende)  sitzen  erfahrungsgemäß 
besser  ?  Sind  die  Verbindungen  von  der  fremden  zur  deutschen  Vokabel  oder 
die  in  umgekehrter  Richtimg  fester  ?  Und  vieles  andere. 

Wenn  die  experimentelle  Pädagogik  verschiedene  Maßmethoden  angibt,  so 
ist  es  nicht  so  aufzufassen,  daß  es  gleichgültig  wäre,  ob  man  dieses  oder  jenes  Maß 
anwendet,  daß  man  sich  also  das  jeweils  bequemste  heraussuchen  könnte,  als 
ob  jedes  Maß  das  (als  einfache  Funktion  gedachte)  Gedächtnis  prüfen  würde. 
Die  verschiedenen  Maße  beziehen  sich  vielmehr  auf  verschiedene  Wirkungen , 
Seiten  des  Gedächtnisses,  die  häufig  unabhängig  voneinander  sind.  Wer 
z.  B.  schneller  lernt,  braucht  nicht  länger  zu  behalten;  ein  Schüler,  der  mehr 
kann,  braucht  nicht  auch- schnellere  Antworten  zu  geben;  ein  Schüler,  der  weniger 
reproduzieren  kann  als  ein  anderer,  hat  vielleicht  viel  mehr  Wissen  latent,  in 
Bereitschaft,  so  daß  er  beim  Wiedererkennen  oder  nach  Auffrischen  viel  mehr 
leistet  als  der  andere. 


Die  Apparate,  die  man  bei  Gedächtnisversuchen  verwendet,  dienen  teils 
zur  Beobachtung  des  Lernvorganges  (wenn  z.  B.  das  verschiedene  Tempo  beim 
Lernen  registriert  wird),  teils  zur  Prüfung  der  Gedächtnis  Wirkungen  nach  den 
verschiedenen  Methoden,  wie  sie  eben  beschrieben  wurden,  teils  endlich  dazu, 
den  Lernstoff  zu  erzeugen  (Töne,  Farben)  oder  ihn  in  bestimmter  Weise  darzu- 
bieten (z.  B.  in  bestimmtem  Tempo). 

2^itschrift  f.  pädagog.  Psychologie  1^ 


290 


Hans  Rupp 


I  up 


gösch 


Als  Gedäclitnisapparate  im  engeren  Sinne  des  Wortes  bezeicknet  man 
solche,  durch  die  man  Keihen  von  Silben ,  Wörtern  usw.  in  gleichmäßiger  Ge- 
schwindigkeit beliebig  oft  vorführen  kann.  Ich  beschreibe  diese  Apparate  unter  A. 

Die  übrigen  Apparate,  die  man  zu  Gedächtnisversuchen  verwenden  kann,  sind 
in  anderen  Gruppen  beschrieben.  So  können  zur  Untersuchung  des  Gedächt- 
nisses für  Farben,  Größen  und  Formen,  Töne,  Bewegungen  mancherlei  Apparate 
imd  Serien  der  Gruppen  I  bis  VI,  zur  Messung  der  Besinnungszeit  die  unter 
Gruppe  VIII  beschriebenen  Apparate  für  Reaktionsversuche,  zur  Registrierung 
des  Tempos,  der  Atmung  usw.  Chronographen  und  Kymographien  derselben 
Gruppe  verwertet  werden. 

Unter  B  führe  ich  Reihen  an,  die  als  Lernstoffe  verwendet  werden  können, 
und  zwar  wieder  hauptsächlich  solche,  die  den  Apparaten  A  angepaßt  sind. 
Bezüglich  weiterer  Stoffe  und  Tests  muß  auf  die  Sammlung  des  Instituts  für 
angewandte  Psychologie  verwiesen  werden  (siehe  Einleitung). 

A.  Gedächtnisapparate  (im  engeren  Sinne  des  Wortes). 

jj,.  1         Gedächtnisapparat  nach  Lipmann-Marx  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Der 
Apparat  dient  dazu,  Reihen  von  Silben,  Wörtern,  Zahlen  usw.  in  beliebigem, 

meßbarem  Tempo  vorzuführen.   Die  Silben 
werden  auf  einen  Papierstreifen  geschrieben 
und   der    Streifen    mittels    eines    Gummi- 
bändchens   auf   einer   Trommel    befestigt. 
Die  Trommel  wird  durch  einen  Federmotor 
gedreht,  und  zwar  ruckweise,  so  daß  bei- 
iedem  Ruck  eine  neue  Silbe  in  dem  Aus- 
schnitte des  davorstehenden  Schirmes  er- 
echeint.  Der  Mechanismus  ist  aus  der  Skizze 
ersichtlich.     Die    Ruckbewegimg    erfolgt 
schnell,  ohne  Zittern  und  fast  geräuschlos.    Ein  Tourenzähler  an  der  Schmal- 
seite des  Apparates   zählt  die  Umdrehungen  der  Achse  mit  den  Mitnehmer- 
stiften s  s,  aus  denen  sich  leicht  die  Umdrehimgen  der  Trommel,  die  Wieder- 
holungen der  Reihe  berechnen  lassen. 

Der  Streifen  wird  so  befestigt,  daß  die  Silben  den  außen  an  der  Trommel  an- 
gebrachten Ziffern  entsprechen .  Die  Silben  stehen  dann  genau  in  der  Mitte  des 
Schirmausschnittes,  und  man  kann,  was  „für  Treff  er  versuche"  (analog  dem 
Vokabelabfragen)  wichtig  ist,  bald  diese,  bald  jene  Silbe  in  den  Ausschnitt 
bringen. 

Es  sind  zwei  Trommeln  vorgesehen,  eine  für  14,  eine  für  20  Rucke,  entsprechend 
den  unter  B  angeführten  gedruckten  Lernreihen.  Durchmesser  und  Breite  sind 
ebenfalls  der  Normalgröße  dieser  Reihen  angepaßt. 

Der  Federmotor  läuft  sehr  konstant,  nicht  wie  bei  den  gewöhnlichen  Kymo- 
graphien erst  schneller,  am  Ende  langsamer.  Geschwindigkeit  kann  durch  eine 
Bremsvorrichtung  bis  auf  ein  Viertel  der  vollen  Geschwindigkeit  reduziert  werden. 
Ferner  kann  man  einen  der  zwei  Mitnehmerstifte  s  s  zurückschieben,  so  daß  sich 
die  Ruckfolge  nochmals  auf  die  Hälfte  verlangsamen  läßt. 

Der  Apparat  ist  mit  anderen  Apparaten  zu  kombinieren.  Durch  das  Episkop 
Nr.  7  kaim  man  die  Silben  projizieren,  also  einer   größeren  Zahl  von    Be- 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


291 


obaclitern  zum  Zweck  von  Demonstrationen  vor  führen.  Für  den  unten  (Nr.  5) 
beschriebenen  Expositionsapparat  sowie  für  das  Pendeltachistoskop  Gruppe  IX 
Nr.  4  dient  der  Apparat  als  Träger  der  zu  exponierenden  Silben,  Wörter  usw., 
sofern  die  Größe  der  Felder  geeignet  ist. 

Der  sehr  konstante  Motor  kann  zum  Betrieb  der  Chronographen  Gruppe  IX 
Nr.  6  und  7  verwendet  werden. 

Gedächtnisapparat    nach  Lipmann    ohne    Motor    (Mechaniker  Marx.   Nr  2 
Berlin).    Der  etwas  kostspielige  Motor  ist  fortgelassen;  das  Kad  mit  den  Mit- 
nehmerstiften wird  durch  irgendeinen  getrennten  Motor,  über  den  man  gerade 
verfügt,  getrieben.     Auf  Wunsch  wird  ein  Tourenzähler  mitgeliefert. 

Gedächtnis apparat  nach  Müller-Schumann   (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Nr. 3 
Wie  1,  nur  ohne  den  Mechanismus  zur  Ruckbewegung;  die  Trommel  wird  kon- 
tinuierlich gedreht.  Die  Dimensionen  sind  (zum  Unterschied  von  den  ursprüng- 
lichen Müller- Schumann- Apparaten)  den  Normalstreifen  angepaßt. 

Derselbe  ohne  Motor  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Nr.  4 

Für  größere  Streifen  kann  man  die  Kymographien,  Gruppe  VIII,  Nr.  8,  10 — 12,  ver- 
wenden.   Man  achte  jedoch  darauf,  ob  die  Konstanz  der  Rotation  ausreicht. 

Zu  1 — 4:  Einfacher  Expositionsapparat  nachRupp  (Mechaniker  Marx.  Nr.  5 
Berlin).  Hinter  dem  vor  der  Trommel  stehenden  Schirm  mit  rechteckiger  Öffnung 
ist  ein  kleines  Schirmchen  angebracht,  das  zunächst  die  Silbe  verdeckt,  durch 
Druck  auf  einen  Hebel  aber  weggeschleudert  wird,  so  daß  die  Silbe  plötzlich 
sichtbar  wird.     Gleichzeitig  wird  ein  Kontakt  geöffnet. 

Der  Apparat  dient  zur  Messung  der  Besinnungszeit  bei  Versuchen  analog  dem 
Abfragen  von  Vokabeln,  sowie  zu  sonstigen  Reaktionsversuchen. 

Gedächtnisapparat  nach  Schulze  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).  Um  die  Nr.« 
Trommel  des  Studentenkymographions  nach  Petzold  (vgl.  Gruppe  VIII, 
Nr.  8)  wird  ein  Mantel  aus  Kaliko  gelegt,  welcher  17  oder  33  Taschen  trägt, 
in  die  Taschen  werden  Papiere  oder  Kar- 
tons mit  den  zu  exponierenden  Wörtern 
usw.gesteckt.  Bei  der  Drehung  des  hori- 
zontal in  einem  Kasten  befestigten  Kymo- 
graphions  fällt  eine  Tasche  nach  der  anderen 
herunter,  so  daß  die  Wörter  ruckweise 
exponiert  werden.  Vor  dem  Fallen  wird 
jede  Tasche  durch  den  Anschlag  a  eine 
Zeitlang  zurückgehalten,  um  dann  um  so 
plötzlicher  herabzuschnellen.  Die  Kontakte 
bei  a  und  b  dienen  für  Zeitmessungen 
(Fallzeiten,  Pausen  zwischen  den  Rucken, 
Reaktionszeiten). 

Es   werden   auch   doppelseitige   Taschen 
geliefert,   bei  denen  man   auf  der  Vorder- 

und   auf  der  Rückseite   ein  Papier   einstecken  kann.     Dadurch  können  bei 
jedem  Ruck  zwei  übereinander  stehende  Wörter  exponiert  werden. 

Die  Taschenzahlen  17  und  33  sind  berechnet  für  16-  bezw.  32-gliederige 
Reihen.  Zwischen  je  zwei  Wiederholungen  der  Reihe  wird  eine  Pause  von 
einem  Ruck  eingeschaltet. 

19* 


292 


Hans  Rupp 


Nr.' 


Nr.  8 


Über  andere  Konstruktionen  von  Gedächtnisapparaten  vgl.  den  Katalog  des  Me- 
chanikers Spindler  vind  Hoyer  (Göttingen).  Ich  glaube  sie  hier  übergehen  zu  dürfen, 
da  sie  mir  alle,  auch  der  Apparat  von  Ranschburg,  durch  die  hier  beschriebenen 
Modelle  an  Einfachheit  übertroffen  zu  werden  scheinen. 

Episkop  nach  Schmidt  und  Haensch  (Optische  Werkstätten  Schmidt  & 
Haensch,  Berlin).  Projektionsapparat  für  episkopische  Projektion.  Seine 
Vorzüge  sind  folgende:  man  kann  den  gewöhnlichen  elektrischen  Lichtstrom 
verwenden;  der  Apparat  ist  klein,  leicht  in  der  Hand  zu  tragen  und  ent- 
wickelt keine  unangenehme  Hitze. 

In  seiner  ursprünglichen  Form  wird  er  auf  ein  horizontal  liegendes  Buch 
oder  Papier,  dessen  Schrift  oder  Zeichnung  man  projizieren  will,  aufgesetzt. 
Siehe  die  1.  Figur,  jedoch  ohne  Unterteil  für  Diaskopie. 


cr> 


Objekt- 


u^ 


Ich  ließ  den  Apparat  ein  wenig  umbauen,  so  daß  er  auch  zur  Projektion 
der  vertikal  stehenden  Wörter  der  Gedächtnisapparate  1 — 4  verwertet  werden 
kann.    Siehe  die  2.  Figur. 

Bei  episkopischer  Exposition  ist  das  beleuchtete  Objekt  selbst  die  Licht- 
quelle. Es  kann  nur  so  stark  beleuchtet  werden,  als  es  das  Papier  ver- 
trägt. Die  Beleuchtung  reicht  daher  nur  für  mittelgroße  Räume  aus.  Auch 
ist  nötig,  durch  gute  Verdunklung  das  Auge  an  Dunkelheit  zu  gewöhnen 
(z.  B.  nicht  gegen  etwaige  helle  Spalten  an  den  Fenstern  sehen,  die  Episkop- 
lampen  gut  abblenden!). 

Das  episkopische  Bild  darf  nicht  glänzend  sein;  ebenso  darf  keine  Glas- 
platte darüber  gelegt  werden. 

Epidiaskop  nach  Schmidt  und  Haensch  (Optische  Werkstätten  Schmidt 
&  Haensch,  Berlin).  Das  eben  beschriebene  Episkop  wird  auf  einen  Kasten 
gestellt,  in  dem  eine  Projektionslampe  eingesetzt  ist.  Siehe  1.  Figur,  unterer 
Teil.  Diese  Lampe  wird  ebenfalls  durch  den  gewöhnlichen  Lichtstrom  ge- 
speist. Ihre  Stärke  ist  so  berechnet,  daß  die  diaskopisch  projizierten  Bilder 
ebenso  hell  sind  wie  die  episkopisch  projizierten.  Zwischen  dem  erwähnten 
Kasten  und  dem  Episkop  werden  Rahmen  eingeschoben,  in  die  sowohl  die 
diaskopischen ,  wie  die  episkopischen  Bilder  gelegt  werden  können.  Man 
kann  abwechselnd  nach  Bedarf  beide  Arten  von  Bildern  projizieren.  Bei 
der  diaskopischen  Projektion  werden  die  Episkoplampen  ausgelöscht. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


293 


Streifen 


'Heft 


B.  Lernstoffe. 

180  sinnlose  Silbenreihen  mit  ungeradzaliligen  Treffersilben  nach  Nr.i 
Müller- Schumann,  herausgegeben  von  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin;  Me- 
chaniker Spindler  und  Hoyer,  Göttingen).  Die  Reihen  sollten  einen  Stoff  bilden, 
der  in  seinen  Gliedern  und  namentlich  in  seinen  Verbindungen  möglichst  fremd 
ist.  Bei  sinnvollem  Stoff  bestehen  bereits  vielerlei  Beziehungen,  die  das  Lernen 
unkontrollierbar  beeinflussen.  Will  man  wissen,  welche  Lerngesetze  für  relativ 
einfache  Verhältnisse  bestehen,  so  muß  man  zu  sinnlosen  Reihen  greifen. 

Die  Silben  bestehen  aus  Anfangskonsonant,  Vokal  oder  Diphthong  und  End- 
konsonant (z.  B.  lap).  Jede  Reihe  hat  12  Silben.  Vereinzelt  kommt  eine  sinn- 
volle Silbe  vor  (z.  B.  reich);  jedoch  sind  sinnvolle  Folgen  (z.  B.  reich  mir)  ver- 
mieden. 

Neben  der  vertikalen  Silbenreihe  ist  eine  zweite  Reihe  mit  den  ungeraden 
Silben  (1.,  3.  bis  11.)  gedruckt,  aber  nicht  in  natürlicher,  sondern  in  bunt  wech- 
selnder Folge.  Diese  Silben  dienen  für  das  Abfragen;        , 
es  soll   jedesmal   die  folgende  Silbe    aus    dem    Ge- 
dächtnis genannt  werden. 

Die  Reihen  werden  in  Streifen  oder  in  Heften  ge- 
liefert..  Die  Streifen  sind  den  oben  beschriebenen 
Gedächtnisapparaten  angepaßt.  Unter  den  12  Silben 
sind  zwei  Felder  frei,  damit  zwischen  je  zwei  Wieder- 
holungen eine  Pause  von  zwei  Rucken  eingeschaltet 
wird.  Daher  sind  die  Trommeln  für  14  Rucke  kon- 
struiert.    In  den  Heften  ist  neben  den  Reihen  ein  Raum  für  Notizen  frei. 

Näheres  über  den  Aufbau  der  Reihen  siehe  im  Katalog  des  Mechanikers  Spindler 
und  Hoyer  in  Göttingen. 

Mit  solchen  Reihen  sind  die  meisten  grundlegenden  Versuche  angestellt  worden : 
über  das  Lernen  im  Ganzen  und  in  Teilen,  über  Häufung  und  Verteilung  der 
Wiederholimgen,  über  die  Wirkung  der  einzelnen  Wiederholungen,  über  Tempo, 
über  die  Bedeutung  des  Rezitierens,  über  den  Unterschied  optischer  und  aku- 
stischer Darbietung,  usf.    Sie  werden  auch  in  Zukunft  vielfach  Dienste  leisten- 

Manche  dieser  Versuche  lassen  sich  in  Übungen  im  Massenversuch  wieder- 
holen, ohne  daß  viel  Zeit  benötigt  würde:  so  über  die  Wirkung  der  einzelnen 
Wiederholungen  (wie  viel  Silben  werden  nach  1,2, 
.  .  .  Wiederholungen  gemerkt?),  über  die  Bedeutung 
verschiedener  Tempos,  über  die  Wirkung  des  Rezi- 
tierens, der  optischen  und  akustischen  Darbietung, 
Zugleich  lassensich  Beobachtungen  über  Lokalisation, 
Zusammenfassen,  sinnvolle  Hilfen,  über  die  senso- 
rische Art  des  Lernens  anstellen. 

48  sinnlose  Silbenreihen   (Mechaniker  Marx,     t  ::::::;:  :1:  :  :       Nr.  2 
Berlin).     Ähnlich  wie  1,  nur  etwas  andere  Regeln 
imd  andere  Anordnung.  So  sind  sinnvolle  Silben  ver- 
mieden.   Keine  Treffersilben.     Anordnung  wie  das 

Schema  zeigt;  sie  hat  den  Vorzug,  daß  man  auch  längere  Reihen  (bis  zu  24  Glieder) 
verwenden  kann.    Die  Silben  sind  sorgfältig  geschrieben  und  vervielfältigt. 


18   13    M    U    «J    n  it 


294 


Hans  Rupp 


Nr.  4 


Nr.  5 


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Nr.3  40  Keihen  ein-  und  zweisilbiger  Wörter  (Mechaniker,  Marx,  Berlin). 
Die  Wörter  sind  so  gewählt,  daß  sie  auch  Kindern  geläufig  sind.  Anordnung 
ähnlich  wie  bei  2,  nur  10  statt  12  Eeihen  rebeneinander. 

Sie  dienen  zu  ähnlichen  Versuchen  wie  1  und  2.  Für  Übungen  haben  sie  den 
Vorzug,  daß  sie  schneller  gelernt  werden,  also  weniger  Zeit  erfordern. 

Man  kann  das  Lernen  der  Reihen  2  und  3  vergleichen  und  den  Unterschied 
studieren.  Bei  Wörtern  treten  z.  B.  häufig  (nicht  immer)  Sachvorstellungen  hinzu. 

48  sinnlose  Silbenreihen  mit  gerad-  und 
ungeradzahligen  Treffersilben  (Mechaniker 
Marx,  Berlin).  Aufbau  der  Reihen  wie  bei  2. 
Anordnung  wie  Schema  zeigt.  Gerade  und  ungerad- 
zahlige Treffersilben  in  bunter  Folge.  Trefferreihen 
aeben  den  Lernreihen. 

Man  läßt  in  Paaren,    trochäisch  oder  jambisch 
lernen.   Beim  Abfragen  wird  bald  eine  betonte,  bald 
eine  unbetonte  Silbe  gegeben.    Läßt  man  stets  die 
folgende  nennen,  so  vergleicht  man  die  Verbindung 
der  Silben  eines  Taktes  mit  der  Verbindung  der  auf- 
einanderfolgenden   Silben    zweier    Takte    (,, Takt- 
schonung und  Taktlös ang").  Stellt  man  die  Aufgabe,  immer  die  andere 
Silbe  desselbsn    Taktes   zu  nennen,    so    vergleicht    man    die    zwei    Repro- 
duktionsrichtungen  innerhalb   eines   Taktes.    Welche  Verbindung  ist 
stärker?    Wie   bei  jambischem,  wie  bei  trochäischem  Rhythmus? 

24  sinnlose  Silbenreihen  für  Wiedererkennungsversuche  (Mecha- 
niker Marx,  Berlin).  Anordnung  wie  für  4,  nur  12  statt  6  Silben  in  der  Prüfreihe. 
Erst  wird  die  links  stehende  Lernreihe  mehrmals  gelesen.  Dann  werden  die 
Silben  der  rechtsstehenden  Prüfreihe  vorgeführt.  Bei  jeder  ist  zu  entscheiden, 
ob  sie  in  der  Lernreihe  vorhanden  war  oder  nicht.  Die  Prüfreihe  enthält  2 — 6 
Silben  der  Lernreihe,  ferner  2 — 4  ähnliche  Silben,  und  zwar  solche,  die  2  Buch- 
staben gemeinsam  habsn,  während  der  Rest  aus  fremden  Silben  besteht. 

Stellt  man  zum  Vergleich  Versuche  an,  in  denen  die  behaltenen  Silben  aus- 
wendig wiederzugeben  sind,  so  erhält  man  ein  Bild,  um  wie  viel  das  Reproduzieren 
schwerer  ist  als  das  Wiedererkennen  (auch  für  Übungen  geeignet). 

Nr.6— 8  24  sinnlose  Silbenreihen  mit  Reimpaaren,  24  mit  Alliterations- 
paaren, 24  mit  vokalgleichen  Paaren  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Anord- 
nimg wie  bei  2.  Bei  den  Reihen  6  haben  je  zwei  aufeinanderfolgende  Silben 
gleichen  Vokal  und  Endkonsonant,  bei  7  gleichen  Vokal  und  Anfangskonsonant, 
bei  8  nur  gleichen  Vokal.  Vergleicht  man  das  Lernen  dieser  Reihen  mit  dem 
der  Reihen  2,  so  erhält  man  ein  Bild  von  der  Wirkung  von  Reim,  Alliteration  und 
gleichem  Vokal. 

Nr.9  10  Reihen   von   Paaren:  Wort  —  sinnlose    Silbe   (Mechaniker  Marx 

Berlin).    Anordnung  wie  3,  nur  links  Wort,  rechts  sinnlose  Silbe;  man  benützt 
also  zwei  Felder  nebeneinander.    5  Reihenpaare  nebeneinander. 

Die  Aufgabe  ist  ähnlich  der  Aufgabe  des  Vokabellernens.  Man  kann  die  Auf- 
gaben 4  mit  diesem  Lernstoff  wiederholen. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


296 


Statt  der  sinnlosen  Silben  kann  man  natürlich  auch  Worte  einer  fremden  Sprache 
wählen.  Niu'  dürften  mehr  Ungleichmäßigkeiten  (Aussprache,  durch  Fremdwörter 
bekannte  Vokabeln)  vorhanden  sein  als  in  den  künstlichen  Reihen. 

10  Reihen   von  Paaren:   Wort  —  Zahl  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  An-  Nr  lo 
Ordnung  ähnlich  wie  bai  9,  nur  statt  der  Silben  dreistellige  Zahlen.  Man  kann  eine 
oder  zwei  Ziffern  abdecken  und  erhält  dann  zwei-  oder  einstellige  Zahlen. 

Die  Aufgabe  ist  ähnlich  den  praktischen  Aufgaben,  zu  Geschichtsdaten  oder 
Peisonennamen  Jahreszahlen,  zu  Städten  Einwohnerzahlen,  zu  Bergen  Höhen- 
zahlen, zu  Stoffen  Atomgewichte  oder  spezifische  Gewichte  zu  lernen,  usf. 

Man  kann,  zu  unseren  Versuchen  Parallelversuche  mit  den  eben  erwähnten 
praktischen  Stoffen  anstellen.     Bestehen  Unterschiede? 

10  Reihen  Konkreta,  10  Reihen  Abs  trakta  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Nrti 
Auf  der  linken  Hälfte  des  Bogens  oben  und  unten  je  fünf  Reihen  Konkreta,  auf 
der  rechten  Hälfte  die  Abstrakta.   Welche  Reihen  werden  leichter  gelernt?    Bei 
verschiedenen  Altersstufen  ?    Man  achte  auf  Unterschiede  im  Lernverfahren ! 

Je  10  Reihen  von  Paaren:  über-  und  untergeordneter  Begriff  Nr.12-1 
(z.  B.  Möbel  —  Schrank),  nebengeordnete  Begriffe  (z.  B.  Schrank  —  Bett), 
Ganzes  und  Teil  (Armee  —  Regiment),  Art  und  Individuum  (Stadt  — 
Berlin),  Paare  mit  sonstigen  Beziehungen  (Sonne  —  Wärme,  Tinte  — 
Feder)  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Anordnung  wie  bei  9.  Welche  Paare  werden 
leichter  gelernt  ?  Man  kann  nach  zwei  Richtungen  abfragen :  welche  liefert  mehr 
Treffer? 

Die  Reihen  sind  auch  zu  folgenden  Versuchen  verwertbar :  Man  läßt  zu  einem  Be- 
griff einen  untergeordneten  nennen,  ohne  daß  der  in  der  Reihe  angegebene  Begriff 
voi'her  eingeprägt  worden  ist.  Welche  der  verschiedenen  Aufgaben  ist  leichter  ?  Wie 
spielt  sich  der  psychologische  Vorgang  ab  ?  Das  sind  nicht  mehr  Gedächtnis-,  sondern 
Denkversuche. 

24  Reihen  von  je  36  Ziffern  und  von  je  36  Konsonanten  (Mecha-  Nr.  17,1 
niker  Marx,  Berlin).  Anordmmg  wie  Schema.  Man 
kann  den  Bogen  in  Streifen  schneiden  und  im 
Gredächtnisapparat  exponieren;  jeder  Streifen  um- 
faßt 6  nebeneinanderstehende  Ziffern  oder  Buch- 
staben. Durch  Abdecken  kann  man  auch  weniger 
exponieren. 

Welche  Vorstellungen  (akustisch,  optisch  usw.) 
werden  beim  Lernen  benützt?  Welche  Gruppen 
werden  gebildet  (durch  Hersagen  von  hinten  leicht 
zu  erweisen)  ?  Welche  arithmetischen  oder  sonstigen 
Hilfen  werden  herangezogen?  Wie  bei  simultaner 
Darbietmig  des  ganzen  Streifens  und  wie  bei  suk- 
zessiver im  Gedächtnisapparat?  Wie  bei  monotonem  und  wie  bei  rhyth- 
mischem  Vorlesen  ?     usw. 

Endlich  kann  man  die  sogen.  Gedächtnisspanne  prüfen.  Man  liest  erst  drei 
Elemente  vor;  auch  die  jüngeren  Schüler  können  sie  nachsprechen.  Dann  liest 
man  vier  (natürlich  andere)  vor,  dann  fünf,  sechs  usf.,  bis  der  Schüler  nicht  mehi- 
imstande  ist,  die  Gruppe  richtig  nachzusagen.  Die  Anzahl,  die  er  noch  nach- 
sagen konnte,  ist  die  ,, Spanne";  so  viel  kann  er  umspannen.  Man  achte  auf  kon- 


396  Hans  Rupp 

stantes  Tempo  (z.  B.  V2  Sekunde)  und  auf  den  Rhythmus  (am  besten  gleich- 
mäßiges Vorlesen  ohne  jegliche  Betonung).  — 

Ich  führe  noch  einige  Reihen  an,  die  nicht  in  Verbindung  mit  den  erwähnten 
Gedächtnisapparaten  verwendet  werden,  die  aber  den  besprochenen  Reihen  ganz 
verwandt  sind. 
Nr.  19  12  sinnlose  Silbenreihen  auf  Kartons,  ca.  15x30  cm,  für  Massen- 
versuche nach  Pohlmann  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Auf  jeden  Karton  ist 
eine  Silbe  geschrieben.  Man  zeigt  die  Kartons  der  Reihe  nach  in  bestimmtem, 
z.  B.  Zwei- Sekunden-Tempo  vor. 

Mit  solchen  Reihen   zeigte  Pohlmann  u.  a, ,  daß  vorgezeigte  .Silben  besser 
gelernt  und  behalten  werden  als  (deutlich)  vorgesprochene.   Die  Versuche  eignen 
sich  auch  für  Übungen. 
Nr.  20       4  Reihen  von  Wörtern  auf  Kartons  ca.  15  x30  cm  nach  Pohlmann  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin). 

Nach  Pohlmann  werden  in  dieser  Weise  vorgezeigte  sinnvolle  Wörter  nicht 
besser  behalten  als  vorgesprochene  Wörter. 
Nr.  Li        4  Reihen  von  Gegenständen  nach  Pohlmann  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Die  Gegenstände  entsprechen  den  Wörtern  Nr.  20. 

Mit  den  Reihen  20  und  21  kann  man,  auch  in  Übungen,  die  interessanten 
Versuche  Pohlmanns  wiederholen,  nach  denen  Gegenstände  besser  gemerkt 
werden  als  vorgezeigte  oder  vorgesprochene  Wörter.  Der  anschauliche  Stoff  ist 
eben  eindringlicher. 

Mit  den  Materialien  19,  20  und  21  läßt  sich  auch  folgende  praktische  Frage 
untersuchen.  Beim  Vokabellernen  kann  entweder  der  Gegenstand  selbst  gezeigt 
und  mit  der  Vokabel  (oder  der  sinnlosen  Silbe)  verbunden  werden,  oder  es 
wird  bloß  die  Bezeichnung,  das  sinnlose  Wort  genannt  oder  gezeigt.  Ist 
zwischen  beiden  Fällen  für  das  Lernen  ein  Unterschied? 
^^.22,       ^^ — ^_ — 8    sinnlose    Silben  reihen    zur    Prüfung    des   Ein- 

flusses   der   Lokalisation  nach  Pohlmann  (Mechaniker 
Marx,  Berlin).  Jede  Reihe  ist  auf  vier  Kartons  ca.  45  X  30  cm 
"  verteilt,  wie  das  Schema  zeigt.    Die  vier  Kartons  I  bis  IV 

werden  nacheinander  gezeigt,  aber  einmal  alle  an  derselben  Stelle  (A),  einmal 
nebeneinander  (B). 

Nach  Pohlmann  wird  im  Falle  B  besser  gelernt,  offenbar,  weil  die  Silben  infolge 
der  verschiedenen  Lokalisation  in  der  Erinnerimg  leichter  auseinander  gehalten 
werden.    Auch  diese  Versuche  eignen  sich  für  Übungen. 


Über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern. 

(Aus  dem  päd.  Seminar  der  Universität  Tübingen.) 
Von  Karl  Köhn. 

I.  Frühere  Untersuchungen;  die  Problemstellung  der  vorliegenden. 

Untersuchungen,  welche  die  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichts- 
fächern zum  Gegenstand  haben,  wurden  schon  in  ziemlich  großer  Zahl  durch- 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  297 


geführt.  Die  erste  dieser  Art  stammt  von  Marx  Lobsien^);  wichtiger  geworden 
ist  dann  die  folgende,  die  W.Stern  veranlaßt  hat^);  auch  wurde  das  gewonnene 
Material  von  ihm  bsarbsitet.  Verschiedene  zusammenfassende  Darstellmigen 
geben  einen  Überblick  über  die  Art  und  die  Ergebnisse  der  auf  Sterns  Unter- 
suchungen folgenden  Erhebungen^).  Es  kann  aus  diesem  Grunde  unterlassen 
werden,  auf  sie  im  einzelnen  einzugehen. 

Gemeinsam  ist  einer  Reihe  von  ihnen  —  man  darf  dazu  den  größten  Teil  der 
"Arbeiten  zählen  —  das,  daß  sie  in  Beziehung  gesetzt  werden  zu  Darlegungen  über 
daslnteresse  der  Schulkinder;  viele  gehen  sogar  so  weit,  daß  sie  in  den  Beliebt- 
heitsuntersuchimgen  geradezu  Interesse  Untersuchungen  sehen.  Walsem  ann*) 
z.  B.  tut  dies  in  seiner  Schrift  über  „das  Interesse",  Hoff  mann  über- 
schreibt sein  Sammelreferat  „Das  Interesse  der  Schüler  an  den  Unterrichts- 
fächern"5).  Stern  und  nach  ihm  auch  Br  andelH)  bilden  die  Gleichung  Interesse 
==  Beliebtheit,  d.  h.  die  Fächer  sind  beliebt,  für  welche  die  Kinder  Interesse  be- 
sitzen. Diese  Gleichung  läßt  sich  nach  ihren  Ausführungen  auch  umkehren. 
Auch  Meumann  neigt  zu  dieser  Auffassung.  Er  reiht  in  seinen  ,, Vorlesungen" 
die  Untersuchungen  über  die  Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer  da  ein,  wo  er  von 
der  Untersuchung  des  kindlichen  Interesses  spricht.  Er  führt  dort  u.  a.  aus,  daß 
die  Bsliebtheitsuntersuchungen  auf  eine  ,,  auf  steigende  Interessenentwicklung" 
hinweisen').  Der  Grundgedanke  ist  hier  immer:  Untersucht  man  die  Aus- 
sagen der  Kinder  über  die  Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer, 
dann  gewinnt  man  Einblick  in  die  Interessenrichtungen  der  Schul- 
kinder. Ob  dies  tatsächlich  der  Fall  ist,  aus  welchen  Gründen  dies  zutreffen 
könnte,  das  wurde  dabei  nicht  weiter  erörtert;  ob  das,  was  man  mit  Interesse 
bezeichnet,  sich  deckt  mit  dem,  was  die  Beliebtheit  eines  Faches  bedingt,  das 
wurde  dabei  ganz  aus  dem  Auge  gelassen. 

Es  ist  ein  Verdienst  von  0.  Pommer,  auf  dieses  Problem  aufmerksam  gemacht 
zu  haben.  Er  sagt,  ,,daß  nicht  der  Lehrstoff  als  solcher  allein,  sondern  nur  mit 
der  Methode  und  den  Anforderungen  zusammen  dem  Schulfach  sein  Gepräge 
gibt,  und  daß  nicht  das  gegenständliche  Interesse  die  einzige  psychische  Disposi- 


*)  M.  Lobsien,  Über  Kinderideale,  Zeitschr.  für  pädag.  Psychologie,  V,  1903» 
S.  323  ff. 

*)  W.  Stern,  Über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Schulfächer,  Zeitschrift  für 
pädag.  Psychologie,  VII,  1905,  S.  267  ff. 

')  H.  Keller,  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Unterrichtsfächer,  Zeitschrift 
für  angew.  Psychologie  III,  1910  und  P.  Hof  f  mann,  Das  Interesse  der  Schüler  an  den 
Unterrichtsfächern,   Zeitschrift  für   pädag.    Psychologie,     XII,    1911,    S.    458 — 470. 

*)  Walsemann,  Das  Interesse,  2.  Aufl.,  1907. 

*)  Hoffmann  führt  z.  B.  S.  459  aus:  „Bei  der  Erforschung  des  geistigen  Lebens 
ist  es  nun  gewiß  eine  wichtige  Aufgabe,  in  Erfalirung  zu  bringen,  in  welchem  Verhält- 
nis der  Schüler  zu  dem  Lehrstoff  steht,  der  ihm  in  den  verschiedenen  Fächern  darge- 
boten wird,  oder  kurz:  sein  Interesse  an  den  Unterrichtsfächern  kennen  zu  lernen." 

Auch  bei  E.  Seekel,  Über  die  Beziehungen  zwischen  der  Beliebtheit  und  der 
Schwierigkeit  der  Schulfächer,  Zeitschrift  für  angew.  Psychologie  IX,  1915,  S.  268 
bis  277  weisen  manche  Ausführungen  darauf  hin,  daß  sie  dieselbe  Gleichung  macht. 

•)  G.  Brandell,  Das  Interesse  der  Schulkinder  an  den  Unterrichtsfächern. 
10.  Beiheft  der  Zeitschrift  für  angew.  Psychologie. 

')  E.  Meumann,  Vorlesungen  zvir  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik. 
1911,  Bd.  T,  S.  661. 


298  ,  Karl  Köhn 

tion  ist,  welche  von  dem  Scliulbstrieb  dieses  Faches  in  Anspruch  genommen  wird"« ) . 
Er  weist  ferner  darauf  hin,  daß  ,, ziemlich  oft  trotz  lebhaften  gegenständlichen 
Interesses  das  Schulfach  entschieden  als  unbeliebt  bezeichnet  wurde "s).  Nach 
ihm  kann  also  die  Gleichung  Interesse  =  Beliebtheit  oder  umgekehrt  nicht  gelten. 
In  dieselbe  Richtung  weisen  auch  Aussagen,  die  von  einer  Reihe  von  Schülerinnen 
bei  meinen  Versuchen  gemacht  wurden.  Es  wurde  angegeben,  ein  Fach  sei  beliebt, 
,,weil  man  in  diesem  Unterricht  sprechen  imd  lachen  dürfe",  oder  ,,weil  man  das 
gut  könne",  oder  ,,weil  man  sich  nicht  anstrengen  müsse",  oder  weil  man  das, 
was  man  dort  lerne,  ,,fürs  Leben  brauchen  könne".  Diese  Beispiele  könnten  noch 
beträchtlich  Vermehrt  werden.  Man  sieht  hier  sofort,  daß  die  angegebene  Glei- 
chung nicht  gilt.  Daß  sie  nicht  stimmen  kann,  das  leuchtet  auch  sofort  ein,  wenn 
man  das  Problem  etwas  allgemeiner  faßt  und  fragt,  ob  Personen,  oder  Gegenstände, 
die  uns  interessieren,  auch  beliebt  sein  müssen  (oder:  gerade  deshalb  auch 
beliebt  sein  müssen).  Man  wird  sofort  einwenden,  daß  wir  uns  für  Personen  oder 
Dinge  interessieren  können,  die  wir  nicht  nur  nicht  lieben,  die  wir  sogar  hassen, 
(in  Frankreich  z.  B.  interessiert  man  sich  für  unsere  Ernte  1916*),  für  unseren 
Heeresersatz  usw.,  das  geschieht  sicher  nicht  aus  Liebe  zu  uns,  auch  nicht  aus  der 
Beliebtheit,  die  wir  dort  genießen). 

Aus  dem  Dargelegten  ergibt  sich  eine  Aufgabe  für  das  Folgende.  Ehe  an  eine 
Erörterung  der  Ergebnisse  der  Beliebtheitsuntersuchuiig  gegangen  werden  kann, 
muß  dreierlei  geklärt  sein :  L  ist  zu  untersuchen,  was  man  damit  meint,  wenn  man 
voninteressespricht,  2.  ist  festzustellen,  was  man  imter  beliebt  bzw.  Beliebt- 
heit versteht,  3.  ist  das,  was  über  das  Interesse  festgesetzt  wurde,  in  Beziehung 
zu  setzen  zu  dem,  was  man  mit  Beliebtheit  meint. 

1.  Wir  sagen,  diese  Nachricht  interessiere  uns,  sie  errege -unser  lebhaftes 
Interesse.  Dann  steht  sie  mit  früher  erlebten  Ereignissen,  mit  bestimmten  Wün- 
schen und  Erwartungen  in  Beziehung.  Wir  wenden  uns  dieser  Nachricht  zu, 
suchen,  sie  so  vollständig  als  möglich  zu  erfassen,  sie  mit  unseren  Vorstellungen 
und  Erwartungen  in  Beziehung  zu  setzen. 

Ein  Vortrag  interessiert  uns,  er  weckt  unser  Interesse.  Wir  haben  vielleicht 
bestimmte  Vorstellungen  über  den  zu  behandelnden  Gegenstand,  wir  haben 
vielleicht  schon  gewisse  Erfahrungen  gemacht,  die  sich  auf  denselben  beziehen; 
nun  möchten  wir  mehr  darüber  hören,  möchten  die  vom  Redner  vertretenen  An- 
schauungen mit  unseren  in  Verbindung  bringen. 

Eine  Person  interessiert  uns.  Wir  haben  schon  dies  und  jenes  von  ihr  gehört, 
vielleicht  auch  schon  manches  mit  ihr  erlebt,  wir  haben  uns  gewisse  Vorstellungen 
über  sie  gebildet.  Wir  wenden  uns  nun  ihr  zu,  wir  wünschen,  von  ihr  noch  mehr 
zu  erfahren,  sie  noch  genauer  kennen  zu  lernen. 

Wir  hatten,  solange  wir  die  Schule  besuchten,  Interesse  für  einen  bestimmten 
ünterrichtsgegenstand,  sagen  wir  für  Mathematik.  In  diesem  Fall  besaßen 
wir  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  in  Mathematik.  Ein  Mitschüler  konnte  sie  in 
demselben  Maß  besitzen ;  er  interessierte  sich  nicht  für  das  Fach.  Bei  uns  waren  sie 
eben  in  besonderer  Weise  in  der  Mannigfaltigkeit  unserer  Erlebnisse  ausgezeichnet, 


*)  u.  2)  O.  Pommer,  Die  Erforschung  der  Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer,  Jahres- 
bericht des  k.  k.  Staatsgymnasiiims  XVIII  in  Wien,  1914,  S.  31. 

')  Die  Abhandlung  wurde  Sommer  1916  niedergesclirieben ;  die  Erhebvuigen 
dagegen  waren  bereits  Frühjahr  1915  abgeschlossen. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  299 

daraus  ergab  sich  bei  uns  ein  besonderes  Verhalten  der  Mathematik  gegenüber, 
das  in  dem  Wunsch  gipfelte,  weiteres  Wissen  in  diesem  Fach  zu  erwerben. 

Charakteristisch  bei  diesen  Interesseerlebnissen  ist  also,  daß  ein  gewisses 
Wissen  vorhanden  ist,  das  in  irgendeiner  Beziehung  mit  dem  uns  interessieren- 
den Gegenstand  steht,  daß  dieses  Wissen  in  besonderer  Weise  in  der  Mannig- 
faltigkeit der  Erlebnisse  ausgezeichnet  und  herausgehoben  ist, 
daß  daraus  sich  ein  inneres  Zuwenden  zu  dem  neuen  Gegenstand 
ergibt,  womit  zugleich  das  Streben  (u.  a.  auch  der  Wunsch)  nach 
weiteren  Wissensinhalten   verbunden  ist. 

Pommer  weist  darauf  hin,  daß  dieser  Wunsch  ,, meist  begleitet  ist  von  einer 
phantasiemäßig  nacherlebten  Lust  an  vorhergegangenen  Akten  des  Wissens  über 
diesen  Gregenstand"^).  Er  hält  dies  aber  nicht  für  einen  notwendigen  Inhalt 
des  Interesseerlebnisses.  Daß  dies  zutrifft,  wird  durch  folgendes  bewiesen:  Ein 
Offizier  hatte  eine  Verwundung  am  linken  Oberarm  erhalten  (ein  Granatsplitter 
war  bis  auf  den  Knochen  eingedrungen  und  hatte  diesen  zerrissen),  die  Heilung 
machte  durch  Hinzutreten  von  Rotlauf  usw.  langsamen  Fortschritt,  die  Übungen 
im  mediko-mechanischen  Institut  waren  sehr  schmerzhaft.  Er  interessiert  sich 
nun  für  alle  ähnlichen  Verwundungen. 

Ebenso  darf  nicht  in  die  Begriffsbestimmung  aufgenommen  werden,  daß  der 
Interessierte  dem  zu  erwerbenden  Wissen  besonderen  Wert  —  abgesehen  vom 
Wissenswert  —  zuschreibt.  Es  kann  ihm  wertvoll  sein,  er  kann  aber  auch 
ein  Verhalten  einnehmen,  das  ganz  frei  ist  von  einer  Wertung. 

Der,  Umkreis  dessen,  was  unter  den  Begriff  des  Interesses  fällt,  ist  damit  keines- 
wegs erschöpft;  die  Erörterung  genügt  aber  für  die  folgende  Betrachtung. 

2.  Bei  der  Analyse  des  Beliebtheitserlebnisses  gehen  wir  von  den  Tat- 
beständen des  Gernhabens  und  Gerntuns  aus. 

Ich  arbeite  gerne,  das  bekundet  sich  in  mehreren  Richtungen.  Die  Tätigkeit 
des  Arbeitens  habe  ich  schon  wiederholt  ausgeführt  und  dabei  Lustgefühle  verspürt. 
Denke  ich  an  die  Arbeit,  wird  mir  eine  besondere  Arbeit  aufgetragen,  so  erfüllt 
mich  das  mit  Freude ;  bei  der  Verrichtung  der  Arbeit  erlebe  ich  als  Grundzug  das- 
selbe, schließlich  schätze  ich  auch  die  Arbeit  als  solche. 

Ich  ging  gerne  in  die  Schule.  In  der  ersten  Zeit  des  Schulbesuches  konnte 
ich  nichts  in  dieser  Richtung  aussagen.  Als  ich  bestimmte  Erfahrungen  gemacht, 
eine  Reihe  von  Gefühlen  erlebt  hatte,  kam  es  zu  einer  Wertung;  ich  besuchte  nun 
mit  einer  bestimmten  Haltung  die  Schule,  das  Schulleben  kam  in  der  Haupt- 
sache diesen  Erwartungen  entgegen,  das  Leben  in  der  Schule  wurde  mir  wertvoll. 

Kaum  verschieden  hiervon  ist  die  Wendung:  der  Lehrer  ist  beliebt.  Das 
Kind  hat  eine  Reihe  von  Erfahrungen  im  Zusammensein  mit  dem  Lehrer  gemacht; 
eine  besondere  Haltung  ihm  gegenüber  hat  sich  gebildet,  eine  Werthaltung;  da« 
Zusammensein  mit  ihm  wird  vom  Schüler  positiv  ge wertet. 

Ein  Unterrichtsfach  ist  beliebt.  Der  Schüler  hat  vielleicht  in  diesem 
Fach  sich  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  erworben,  eine  besondere  Haltung  ihm 
gegenüber  hat  sich  herausgebildet,  die  urteilsmäßig  formuliert  zur  Wertung 
führt;  damit  verbindet  sich  sehr  leicht  der  Wunsch,  noch  mehr  zu  erfahren,  das 
Unterrichtsfach  wird  nun  dem  Schüler  wertvoll.     Aber  diese  selbe  Haltung,  wenn 

>)  A.  ».  O.  S.  13. 


300  Karl  Köhn 

auch  mit  etwas  anderer  „Färbung",  kann  sich  auch  ohne  besondere  Beziehung 
zum  Lsbansinhalt  des  Faches  herausbilden,  und  sie  kann  ohne  den  Wunsch,  mehr 
zu  erfahren,  bestehen. 

So  viel  zum  Verständnis  des  Beliebtheitsbegriffs  im  Gegensatz  zum  Begriff 
des  Interesses, 

3.  Man  sieht,  beide,  das  aktuelle  Interesse  und  die  Beliebtheit,  haben  manche 
Seiten  gemeinsam.  In  beiden  Fällenistunser  Inneres  einem  Gegenstand  zugewendet, 
wir  sind  ihm  zugewandt.  Aber  a)  beim  Interesse  drängt  diese  Zuwendung  zu 
weiteren  Erfahrungsinhalten,  bei  der  Beliebtheit  bleibt  sie  beim  Ge- 
genstand, der  durcheinen  auszeichnenden  Erlebnischarakter  aus  den 
übrigen  herausgehoben  und  zu  anderen  in  einen,  wenn  auch  latenten 
Gegensatz  gesetzt  wird.   Das  ist  eben  der  Akt  der  Wertung. 

b)  Diese  Gegensätzlichkeit  fehlt  beim  Interesse;  es  findet  ebenfalls 
Heraushebung  statt;  an  der  Stelle  des  Entgegengesetzten  steht  das  Indiffe- 
rente, das  zum  Interessierenden  im  Verhältnis  des  Unterschiedes  steht. 

c)  Etwas  Unbsliebtes  ist  ein  negativ  Ge wertetes.  Das  Nichtinteressierende  ist 
das  Indifferente;  es  kann  sich  natürlich  darauf  auch  ein  negatives  Werturteil 
bauen  wie  auf  das  Interessante  ein  positives.  Eine  Wertung  kann  das  Interesse- 
erlebnis gleichsam  umhüllen,  in  diesem  Fall  ist  es  aber  dann  eigentlich 
kein    Interesseerlebnis    mehr,    sondern    ein    Beliebtheitserlebnis. 

Daraus  folgt:  Untersuchungen  über  die  Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer 
geben  nicht  ohne  weiteres  Aufschluß  über  die  Interessenrichtungen  des 
Schulkindes,  sondern  zunächst  eben  bloß  über  Wertungen,  die  das  Schulkind 
dem  Begriff  der  Beliebtheit  bzw.  Unbeliebtheit  unterordnet. 

Nun  kann  auf  das  Problem  der  folgenden  Arbeit  eingegangen  werden.  Es  handelt 
sich  um  die  Untersuchung  der  Beliebtheit  und  der  Unbeliebtheit 
von  Unterrichtsfächern.  Dabei  soll  neben  der  tatsächlidlien  Fächer- 
wahl vor  allem  auf  die  Konstanz  des  Beliebtheits-  bzw.  des  Unbeliebt- 
heitsurteils geachtet  werden.  Damit  dies  möglich  wird,  sind  die  Versuche  in 
einem  Zeitraum  von  1^4  Jahren  in  derselben  Form  (je  mit  einer  etwa  ^4  jährigen 
Unterbrechung)  in  derselben  Klasse  durchgeführt  worden. 

Herrn  Dr.  Deuchler,  dem  Dozenten  der  Pädagogik  an  der  Universität  Tü- 
bingen, der  durch  eine  Reihe  von  Anregungen  diese  Arbeit  förderte,  sei  auch  an 
dieser  Stelle  herzlich  gedankt^). 

II.  Die  Versuchspersonen  und  die  Durchführung  der  Versuche. 

1.  Die  Versuchspersonen. 

Versuchspersonen  waren  Schülerinnen  der  evangelischen  Volksschule  in  Gmünd 
(Württemberg),  sie  waren  im  Frühjahr  1914  im  6.,  seit  1.  Mai  1914  im  7.  Schuljahr. 
Am  1.  Februar  1914  waren  die  Altersverhältnisse  die  folgenden: 


Durchschnittsalter 


Alter 
der  ältesten 


zweitjüngsten 


jüngsten  Schülerin 


12;  8  Jahre 2)  13;  i- 


12;  2 


11;  7 


^)  Vgl.  auch  G.  Deuchler,  Der  gegenwärtige  Stand  der  Beliebtheitsuntersuchun- 
gen; Die  Lehrerfortbildung  II,  Heft  1 — 3. 
")  12;  8  Jahre  =  12  Jahre  8  Monate. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


301 


Die  soziale  bzw.  gesellschaftliche  Schicht,  aus  der  diese  Schülerinnen  kommen, 
läßt  sich  aus  den  Berufen  erschließen,  denen  ihre  Väter  angehörten.   Es  wafen 


Beruf  der  Väter 

Anzahl 
der  Schülerinnen 

1.  Industriearbeiter    (Gold-,    Silberarbeiter,  Fasser,   Gürtler, 
Ringmacher  usw.) 

16 

2.  Gewerbetreibende    (Schneider.    Schreiner,    Kubier,   Maler, 
Bäcker,  Friseur,  Monteur,  Wirt)       

11 

3.  Niedere   Befimte    (Schutzmann,   Aufseher,  Kasernen-  und 
Bahnwärter)       

6 

4.  Ungelernte  Arbeiter  (Taglöhner,  Fuhrleute,  Packer)       .     . 

5.  Landwirte 

6 
3 

Zusammen 

41 

Fine  größere  Anzahl  der  Schülerinnen  hat  Beziehungen  zu  den  Berufen,  die  mit  der 
Edelmetallbearbeitung  zusammenhängen  (die  unter  1.  genannten).  Zeichnen,  Ent- 
werfen, Beiu'teilungen  auf  künstlerischen  Wert  oder  Unwert  spielen  hier  eine  große 
Rolle.    Dieser  Einfluß  macht  sich  im  Zeichenunterricht  geltend. 

Von  den  41  Mädchen,  die  an  den  Versuchen  teilnahmen,  wohnten  38  in  der  Stadt 
Gmünd  selbst  (23  000  Einwohner),  3  wohnten  auf  dem  Land  in  der  Nähe  der  Stadt 
(Vi — Vi  Stunden  davon  entfernt). 

Das  sittliche  Verhalten  der  Schülerinnen  war  durchaus  gut;  über  mangelnden 
Fleiß  konnte  nicht  geklagt  werden.  Mit  Rücksicht  auf  die  Begabung  müssen  be- 
zeichnet werden: 


ausgezeichnet 

sehr  gut 

gut 

befriedigend 

genügend  bis 
kaum  genügend 

1 

2 

13 

16 

9 

Will  man  drei  Grade  der  Begabung  unterscheiden,  dann  müssen  16  als  gut,  16  als 
mittel  und  9  als  schwach  begäbt  bezeichnet  werden. 

Die  körperliche  Entwicklung  war  im  allgemeinen  eine  normale;  nur  einige  Mäd- 
chen waren  etwas  schwächlich. 

Man  sieht,  daß  die  für  die  Versuche  zur  Verfügung  stehende  Klasse  eine  ganz 
normale  genannt  werden  kann. 

Die  Auswahl  der  Versuchspersonen  könnte  eine  einseitige  genannt  werden,  insofern 
als  nur  Mädchen  einer  Altersstufe  in  Betracht  kommen.  Die  Auswahl  wurde 
mit  Absicht  so  getroffen.  Für  die  ins  Auge  gefaßten  Konstanzuntersuchungen  sollten 
die  Verhältnisse  so  einfach  als  möglich  gewählt  werden.  Dies  wurde  dadurch 
erreicht,  daß  nvu"  Versuchspersonen  eines  Geschlechtes  und  einer  Altersstufe  gewählt 
wurden,  daß  eine  Klasse  gewählt  wurde,  in  der  der  Klassenlehrer  während  der  Versuche 
nicht  wechselte,  in  der  neben  dem  Klassenlehrer  nxir  wemge  Fachlehrer  und  Fach- 
lehrerinnen unterrichteten.  Dazu  kam  noch  ein  nicht  zu  unterschätzender  Umstand ; 
es  wurde  die  Klasse  gewählt,  in  der  der  Verfasser  selbst  über  die  Dauer  der  Ver- 
suche Klassenlehrer  war. 

2.  Die  Aufgaben. 

Die  Aufgaben,  die  gestellt  wurden,  waren  folgende: 

1.  welches  Fach  treibst  (hast)  du  am   liebsten; 

2.  welches  Fach  kommt  dann  (treibst  du  am  zweitgernsten); 

3.  welches  gefällt  dir  am    wenigsten; 

4.  welches  treibst  du  auch  noch  ungern,  aber  nicht  so  ungern  wie  das  vmter 
3.  genannte  (kurz :  am  zweitungernsten)  ? 


302 


Karl  Köhn 


Jede  Frage  wurde  vorgesprochen  und  sofort  schriftlich  (von  allen  Schülerinnen) 
beantwoftet.  Zu  jeder  Nennung  sollte  die  Begründung  angegeben  werden;  es  wurde 
daher  jeder  Frage  beigefügt:  Schreib,  warum  du  das  Fach  gern  (oder  ungern)  treibst! 
Waren  alle  Schülerinnen  mit  der  Beantwortung  der  ersten  Frage  (samt  Begründung) 
fertig,  dann  wurde  die  2.  vorgesprochen,  dann  folgte  die  3.  usw. 

Bei  der  Nennung  der  Fächer  hatten  die  Schülerinnen  so  weit  Freiheit,  daß  sie  nur 
ein  Fach  jeder  Gruppe  nennen  dvirften,  wenn  sie  glaubten,  kein  zweites  Fach  mehr 
nennen  zu  können;  wenn  also  ein  Mädchen  erklärte,  es  könne  kein  zweitbeliebtes 
Fach  nennen,  dann  unterblieb  eben  die  Nennung  eines  solchen;  dasselbe  gilt  auch  von 
der  Unbeliebtheit.  Von  dieser  Freiheit  wAirde  öfter  Gebrauch  gemacht  und  zwar  bei 
den  unbeliebten  Fächern  häufiger  als  bei  den  beliebten,  von  gut  und  mittel  begabten 
Mädchen  häufiger  als  von  schwach  begabten. 

Es  sollten  vier  Fächer,  zwei  beliebte  und  zwei  unbeliebte,  genannt  werden.  Daß 
man  sowohl  beliebte  als  auch  unbeliebte  Fächer  nennen  ließ,  das  bedarf  keiner  Begrün 
düng  mehr.  Darauf  muß  hingewiesen  werden,  warum  je  zwei  derselben  Art  genannt 
werden  sollten.  Es  hat  sich  nämlich  gezeigt,  daß  es  dem  Schüler  oft  schwer  geht,  das 
beliebteste  Fach  zu  nennen.  Es  sind  meist  mehrere  Fächer,  die  an  erster  Stelle  ge- 
nannt werden  könnten.  Darf  nur  ein  Fach  genannt  werden,  dann  entsteht  die  Gefahr, 
daß  eben  irgendeines  dieser  Fächer  genannt  wird;  eine  Zusammenstellung  dieser 
Fächer  und  die  daraus  gezogenen  Schlüsse  werden  dann  nicht  immer  den  tatsächlichen 
Verhältnissen  entsprechen.  Man  wird  denselben  näher  kommen,  wenn  man  je  zwei 
Fächer  nennen  läßt. 

3.  Die  Versuchstage. 

Die  angegebenen  vier  Aufgaben  wurden  viermal  gegeben.    Die  Versuchstage  waren 


I.  Versuch 

n.  Versuch 

III.  Versuch 

IV.  Versuch 

20.  Januar  1914 

7.  April  1914 

2.  Dezember  1914 

9.  April  1915 

Zahl  der  Schülerinnen,  die  am  Versuch  teilnahmen: 


36 


40 


37 


38 


Die  erste  Beantwortung  erfolgte  zwei  Monate  nach  Übernahme  der  Klasse  diirch 
den  Verfasser,  die  zweite  am  Ende  des  6.  Schuljahres,  die  dritte  vier  Monate  nach  Aus- 
bruch des  Krieges,  die  vierte  kurz  vor  Austritt  der  Schülerinnen  aus  der  Schule,  kurz 
vor  ihrer  Konfirmation. 

Es  ist  dies  das  erstemal,  daß  dieselbe  Axif  gabenreihe  über  Beliebtheit  und  Unbeliebt- 
heit von  Fächern  viermal  denselben  Schülern  zvir  Beantwortung  aufgegeben  wurde. 
Nun  ist  es  möglich,  aixf  Grund  dieser  Aussagen  Aufstellungen  über  die  Konstanz 
des  Beliebtheits-  Tind  Unbeliebtheitsurteils  zu  machen,  die  Ursachen  aufzu- 
zeigen, die  eine  Änderung  in  der  Wertung  herbeifiihrten. 

Avif  zwei  Gesichtpunkte  mehr  allgemeiner  Art  nrnß  noch  hingewiesen  werden. 

1.  Auf  das  Verständnis  für  die  gestellten  Fragen.  Meumann  schließt  aus 
den  teilweise  starken  Abweichungen  der  Ergebnisse  bei  den  verschiedenen  Versuchen, 
daß  die  Fragen  nicht  richtig  verstanden  worden  seien.  Er  sagt:  „Ich  vermute,  die 
Schüler  haben  die  Fragestellung  wohl  oft  nicht  richtig  aufgefaßt .  .  .  Unter  „Beliebt- 
heit" konnte  der  Schüler  ebensowohl  das  verstehen,  was  ihm  am  bequemsten  ist,  was 
am  wenigsten  anstrengt,  als  auch  das,  was  im  höheren  Sinne  ihn  sachlich  interessiert 
und  ihm  wertvoll  erscheint."^)    Dem  ist  entgegenzuhalten,  daß  sowohl  das  Verhalten 


^)  E.  Meumann,  Vorlesungen  usw.,  1911,  Bd.  I,  S.  661. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  303 

der  Schülerinnen  bei  der  Beantwortung  der  Aufgaben  als  auch  die  Antworten  selbst 
durchaus  den  Eindruck  machen,  daß  die  Fragen  verstanden  word^  sind.  Mädchen 
in  diesem  Alter  verstehen  sicher,  was  damit  gemeint  ist.  Versuche  in  anderen  Klassen 
haben  gezeigt,  daß  man  mit  dieser  Fragestellung  sogar  ziemlich  weit  (bis  ins  3.  und 
4.  Schuljahr)  heruntergehen  kann  und  daß  man  immer  noch  verstanden  wird.  Die 
Verschiedenheit  der  Ergebnisse  hat  andere  Ursachen.  Meuma,nn  weist  darauf  hin. 
Der  Umkreis  dessen,  was  die  Beliebtheit  oder  Unbeliebtheit  eines  Unterrichtsfaches 
bestimmt,  ist  sehr  groß,  viel  größer  als  man  bisher  angenommen  hat.  Alles  das,  was 
Meumann  anführt,  kommt  bei  der  Wertung  in  Betracht.  Daß  dies  tatsächlich  der 
Fall  ist,  folgt  aus  den  späteren  Ausführtmgen.  Diese  Tatsache  beweist  mm  aber  nicht, 
daß  die  Frage  nicht  richtig  aufgefaßt  wurde,  sondern  sie  zeigt,  daß  eben  der  Beliebt- 
heitsbegriff von  den  Forschern  zu  eng  gefaßt  worden  ist,  daß  man  keine 
Interessenvmtersuchung  durchführt,  wenn  man  nach  der  Beliebtheit  fragt;  will  man 
dies,  dann  muß  man  anders  fragen.  Hat  man  dies  eingesehen,  dann  versteht  man, 
weshalb  die  Ergebnisse  verschiedener  Versuche  nur  noch  im  großen  ganzen  überein- 
stimmen können:  bei  einem  Versuch  stehen  die  einen,  bei  einem  andern  die  andern 
Gesichtspunkte  der  Wertung  mehr  im  Vordergrund.  Die  Vielgestaltigkeit  der  Ur- 
sachen der  Wertung  führt  zu  einer  Vielgestaltigkeit  der  Wertung. 

2.  Man  hat  bisher  volle  Anonymität  für  die  Antworten  der  Schüler  ver- 
langt' )  und  hat  sich  gegen  die  Angabe  des  Namens  gewendet.  Dies  läßt  sich  für  ge- 
wisse Verhältnisse  begründen.  Hier  war  dies  durchaus  nicht  notwendig.  Das  Verhält- 
nis, das  sich  zwischen  Lehrer  und  Schülerinnen  herausgebildet  hatte,  war  das  des  gegen- 
seitigen Vertrauens.  Die  Schülerinnen  scheuten  sich  nie,  ihre  Ansicht  zum  Ausdruck 
zu  bringen  auch  dann,  wenn  sie  der  des  Lehrers  entgegenstand.  Dafür  lassen  sich  nicht 
bloß  Beweise  aus  dem  Schulleben  anfüliren,  das  beweisen  aiich  andere  psychologische 
Versuche,  in  dene»  sie  ilire  Meinung  sehr  offen  aussprachen,  das  zeigen  auch  die  später 
folgenden  Beispiele  aus  den  Beliebtheitsversuchen  selbst.  Die  Schülerinnen  wußten 
auch  —  darauf  wxirden  sie  wiederholt  hingewiesen  — ,  daß  sie  nicht  nach  ihren  Angaben 
eingeschätzt  wurden.  Es  war  also  kein  Grtmd  vorhanden,  von  der  Namensangabe  ab- 
ausehen.  Es  wurde  jeder  Schülerin  ein  Heftchen  übergeben,  das  den  Namen  derselben 
trug;  dorthin  wurden  alle  Antworten  für  diese  und  ähnliche  Versuche  geschrieben. 
Dieses  Vorgeben  hat  manche  Vorteile;  so  nur  ist  es  z.  B.  möglich,  die  Konstanz  des 
Beliebtheitsurteils  beim  einzelnen  Kind  durch  die  vier  Versuche  hindurch  zu 
bestimmen.  Auf  weitere  Vorteile,  die  noch  daraus  folgen,  soll  später  hingewiesen 
werden. 


III.  Die  Fächerwahl. 

Ein  Einblick  in  die  Fächerwahl  im  Verlauf  der  vier  Versuche  soll  durch  eine 
Auswahl  typischer  Beispiele  gegeben  werden  (Tafel  1). 

Hier  sind  die  in  der  1.  Zeile  genannten  Fächer  die  beliebtesten,  die  in  der  2.  die 
an  zweiter  Stelle  beliebten,  die  in  der  4.  Zeile  die  unbeliebtesten,  die  in  der  3.  die 
zweit  unbeliebtesten.  Mi  treibt  also  im  1.  Versuch  Geschichte  am  liebsten,  Kon- 
firmandenunterricht am  zweitliebsten;  Diktat  hat  sie  am  wenigsten  gern,  dann 
konmit  Lesen.  Entsprechendes  gilt  für  den  2.,  3.  und  4.  Versuch  und  für  M^, 
Mzo  usw. 

Von  den  früher  angegebenen  Problemen  der  Beliebtheitsuntersuchung  lassen 
sich  im  Anschluß  an  diese  Haupttabelle  zwei  besprechen,  das  der  tatsächlichen 
Fächerwahl  und  das  der  Konstanz,  bzw.  der  Variabilität  der  Fächerwahl.  Von 
beiden  ist  das  letztere  das  interessantere,  wichtigere,  bisher  noch  nicht  behandelte ; 
ihm  wenden  wir  uns  zunächst  zu. 


*)  O.  Pommer,  a.  a.  O.,  S.  23. 


304 


Karl  Köhn 


CD 

P 


p: 


n 


^ 


^ 


I 


^ 

CO 

ST 

c> 
3. 

3 

unbeliebt 

'beliebt 

unbeliebt 

beliebt 

unbeliebt 

beliebt     | 

H-                   tO 

to    '     t-' 

H-           to 

to         t-* 

H-                   tO 

•         1 

Diktat 
Lesen 

Biblische 
Geschichte 

Konfirm.- 
Unterricht 

Natur- 
geschichte 

Diktat 
Aufsatz 

Lesen 
Diktat 

Ge- 
schichte 

Konfirm.- 
Unterricht 

M 

Diktat 
Zeichnen 

Lesen 

Schön- 
schreiben 

Repe- 
titionen 

Aufsatz 
Rechnen 

Naturlehre 

Repe- 
titionen 

Ge- 
schichte 

Lesen 

1— i 

Diktat 
Rechnen 

Handarbeit 
Aufsatz 

Rechnen 
Naturlehre 

Handarbeit 
Diktat 

Lesen 
Rechnen 

Handarbeit 

Ge- 
schichte 

H-l 
1— ( 
M 

Naturiehre 

Schön- 
schreiben 

Singen 

Aufsatz 

Konfirm.- 
Unterricht 

Rechnen 

(Kopf)- 
Rechnen 

Ge- 
schichte 

Erdkunde 

CD 
CO 

p 

a 

^ 

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^ 

00 

CS 

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Ci 

CD 

2. 

3 

unbeliebt 

beliebt 

unbeliebt 

beliebt 

unbeliebt 

beliebt 

CR  7 

H-           to 

to         *-• 

j-         50 

tO                H- 

H--           to 

tO                H- 

1           1 

1           1 

Natur- 
geschichte 

Erdkunde 

Konfirm.- 
Unterr. 

(Kopf)- 
Rechnen 

Lesen 

Zeichnen 
Turnen 

JH 

Aufsatz 
Diktat 

Lesen 
Erdkunde 

Memorieren 

Repe- 
titionen 

Rechnen 
Erdkunde 

(Kopf)- 
Rechnen 

Repe- 
titionen 

Konfirm.- 
Unterricht 

Lesen 

ö 

Aufsatz 
Diktat 

Lesen 

Schön- 
sehreiben 

Naturlehre 
Rechnen 

Handarbeit 
Geschichte 

Diktat 
Aufsatz 

Handarbeit 
Singen 

Rechnen 
Diktat 

Singen 
Erdkunde 

Rechnen 
Diktat 

Konfirm.- 
Unterr. 

Zeichnen 

Aufsatz 

Naturlehre 
Geschichte. 

CD 

P 
CS 

3" 

a> 

CO 

5* 


O 

CT- 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


306 


1.  Konstanz  und  Variabilität  der  Fächerwahl. 

Die  Konstanzbetrachtung  kann  von  zwei  verschiedenen  Standpunkten  aus  ge- 
macht werden :  ich  kann  mich  als  Beobachter  undErzieher  der  einzelnen  Schü- 
lerin gegenüber  stellen,  ich  kann  die  Werturteile  auf  die  einzelne  Schülerin  be- 
ziehen, ich  kann  Individualpsychologie  treiben.  Ich  kann  aber  auch  die  Urteile 
auf  die  ganze  Klasse  beziehen,  ich  kann  fragen,  wieviel  mal  etwa  Rechnen 
positiv,  bzw.  negativ  gewertet  wird  bei  den  einzelnen  Erhebungen  von  der  Ge- 
samtheit der  Schülerinnen,  wie  ausgebreitet  die  Tendenz  zu  einer  bestimmten 
Wertung  in  der  Klasse  ist.  Als  Gruppenpsychologe  frage  ich  nach  dem  bestimmten 
Willens-  und  Wertungsrelief  oder  Willens-  und  Werthaltungsgepräge  der  Klasse 
als  eines  Ganzen,  das  sich  aus  der  Verarbeitung  der  Angaben  der  Schülerinnen 
ergibt.  Beide  Betrachtungsweisen  können  dasselbe  Ergebnis  zeitigen.  Dies  ist 
aber  nicht  notwendig,  da?  Willens-  und  Wertungsgepräge  kann  in  allen  diesen 
Versuchen  konstant  sein,  während  die  Werthaltung  der  einzelnen  Schülerin  völlig 
wechseln  kann.  Wollte  man  in  diesem  Fall  Schlüsse  ziehen  auf  Grund  der  gruppen- 
psychologischen Betrachtungsweise,  dann  würden  diese  nicht  ganz  den  Tatsachen 
entsprechen.  Eine  wichtige  Ergänzung  wird  hier  durch  die  individualpsycholo- 
gische Betrachtungsweise  geliefert;  sie  ist  aber  nur  möglich,  wenn  man  die  Anony- 
mität der  Antworten  beiseite  läßt;  nur  in  diesem  Fall  ist  es  möglich,  die  Antworten 
derselben  Schülerin  zusammenzustellen. 

Wir  stellen  uns  nun 

a)  auf  den  Standpunkt   des    Individualpsychologen. 

1.  Auf  die  Konstanz  der  Fächerwahl  wird  in  Tafel  1  aufmerksam  gemacht. 
Dort  sind  die  Fächer,  die  während  der  4  Versuche  von  derselben  Schülerin  wi  e  - 
derholt  entweder  als  beliebt  oder  als  unbeliebt  genannt  wurden,  im  Druck  her- 
vorgehoben. M^  z.  B.  nennt  als  beliebtes  Fach  viermal  nacheinander  Geschichte, 
als  unbeliebte  Fächer  zweimal  nacheinander  Rechnen  und  zweimal  (diesmal  aber 
nicht  nacheinander)  Lesen;  M^^  nennt  als  beliebtes  Fach  zweimal  Schönschreiben, 
als  unbeliebtes  Fach  dreimal  nacheinander  Diktat. 

Diese  Konstanzfälle  sind  nun  in  der  folgenden  Tafel  zusammengestellt  (Tafel  2). 

Tafel  2:    Konstanz  der  Fächerwahl. 


Art  der  Wertung 

Dasselbe 
4  mal 

Fach  wurde 
3  mal 

genannnt 
2  mal 

Zusammen 

[          nach- 
!       einander 

3 

3 

30 

36 

überhaupt 
noch 

1 

4 

26 

30 

Beliebtheit    <■ 

Summe  der 
i      Konstanz- 
fälle 

Zahl  der 

i 

3 

58 

7 

56 

66 

möglichen 

80 

151 

— 

[              Fälle 

1 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie. 


20 


306 

- 



Karl  Köhn 

Art  der  Wertung 

Dasselbe 
4  mal 

Fach  wurde 
3  mal 

genannt 
2  mal 

Zusammen 

' 

nach- 
einander 

2 

9 

1 
22 

3, 

überhaupt 
noch 

— 

5 

9 

14 

Unbe- 
liebtheit 

Summe  der 
Konstanz- 
fälle 

2 

14 

31 

47 

Zahl  der 

möglichen 

Fälle 

28 

60 

105 

1 

Hier  sind  in  der  1.  (wagerechten)  Zeile  die  Fälle  zusammengestellt,  in  denen 
vier,  drei-,  zweimal  nacheinander  dasselbe  beliebte  Fach  genannt  wurde,  in  Zeile  2 
stehen  die  noch  übrigen  Fälle,  in  denen  dasselbe  Fach  mehreremal  (nun  nicht  mehr 
nacheinander)  als  beliebtes  genannt  wurde;  in  Zeile  3  sind  diese  Fälle  zusammen- 
genommen. Entsprechendes  gilt  für  die  Unbeliebtheit.  Bei  M^  ist  also  ein  Fall 
zu  zählen,  in  dem  dasselbe  Fach  —  Geschichte  —  viermal  nacheinander  als 
beliebtes  genannt  wurde,  ein  Fall,  in  dem  ein  Fach  —  Rechnen  —  zweimal  nach- 
einander unbeliebt  war  und  ein  Fall,  in  dem  ein  Fach  —  Lesen  —  eben  zweimal 
(diesmal  nicht  nacheinander)  als  unbeliebtes  genannt  wurde.  Entsprechendes  gilt 
für  die  übrigen  Schülerinnen. 

Die  absolute  Zahl  der  Konstanzfälle  läßt  keine  Schlüsse  zu;  ja  sie  würde  geradezu 
auf  falsche  Schlüsse  hinführen ;  man  könnte  z.  B.  schließen,  daß  die  Konstanz  bei 
der  positiven  Wertung  eine  größere  ist  als  bei  der  negativen,  dort  sind  es  66, 
hier  47  Fälle ;  wir  werden  später  sehen,  daß  das  Gegenteil  gilt.  Es  muß  dazu  kom- 
men die  Angabe  der  möglichen  Fälle.  Diese  Zahlen  findet  man  auf  Tafel  2  in 
Zeile  4  und  8.  Diese  Zahlen  erhält  man  durch  einfaches  Auszählen.  Man  wird 
vermuten,  daß  für  die  einzelne  Kategorie  (viermal  dasselbe  Fach,  dreimal  usw.) 
die  Zahl  der  möglichen  Fälle  der  Beliebtheit  gleich  ist  der  Zahl  der  möglichen  Fälle 
der  Unbeliebtheit;  tatsächlich  sind  es  aber  für  die  Kategorie  viermal  dasselbe 
Fach  dort  58,  hier  28  mögliche  Fälle.  Die  Zahlen  für  dieselbe  Kategorie  weichen 
bei  den  verschiedenen  Wertungen  (positiv  und  negativ)  stark  voneinander  ab. 
Die  Ursache  ist  aus  Tafel  1  leicht  zu  erkennen :  man  beachte  etwa  die  Angaben  von 
M20;  dieses  Mädchen  hat  viel  mehr  Angaben  für  die  Beliebtheit  als  für  die  Unbe- 
liebtheit. Diese  Eigentümlichkeit  geht  durch.  Es  sind  weniger  mögliche  Fälle  bei 
der  Unbeliebtheit  als  bei  der  Beliebtheit,  da  dort  weniger  Urteile  abgegeben  wur- 
den als  hier. 

Setzt  man  nun  die  Zahlen,  welche  die  Konstanzfälle  im  einzelnen  angeben,  ins 

Verhältnis  zur  Zahl  der  jeweils  möglichen  Fälle,  dann  erkennt  man,  daß  die  Zahl 

der  Konstanzfälle  verhältnismäßig  gering  ist  im  Vergleich  zu  der  Zahl  der  mög- 

.3         17         1     56        1 
liehen  Fälle;  denn  man  erhält  für  die  Beliebtheit  —  --^  — i);  r-  '^  77 ;  7^-  '^ 5  5 

00       17       oO       11    15!        »j 


3  1  3  1 

*)   —  «N*   — -  soll    bedeuten:  —  ist  beinahe  —  — . 
oo  17  58  17 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern.  307 

,   ,    .    2        1     14       1     31        1  .  ,     ,  .  ,  „   ,. 

für  die  Unbeliebtheit  —  -^  77;  —  ~  , ;  ttt^'^  z',  man  ersieht  hieraus,  daß  die 
28      14   60      4    lOo       0 

Konstanz  verhältnismäßig  gering  ist.   Wir  dürfen  also  behaupten : 

1)  die  Konstanz  des  Beliebtheits-  und  Unbeliebtheitsurteils  ist 
bei  der  einzelnen  Person  innerhalb  größerer  Zeiträume  verhältnis- 
mäßig gering. 

Man  kann  nun  auch  eine  Vergleichimg  zwischen  den  Konstanzfällen  der 
Beliebtheit  und  denen  der  Unbeliebtheit  vornehmen;  dabei  darf  man  aber 
nicht  bloß  nach  den  absoluten  Summenzahlen  sehen.  Ein  besseres  Bild  geben  die 
oben  angegebenen  Verhältnis{Bruch-)Zahlen.  Die  absolute  Summe  dieser  Brüche 
ist  nun  beinahe  gleich  (0,48  gegen  0,52) ;  die  Konstanz  ist  demnach  beinahe  dieselbe 
bei  der  Beliebtheit  und  bei  der  Unbeliebtheit,  bei  letzterer  etwas  größer  als  bei 
ersterer.  Daß  sie  bei  der  Unbeliebtheit  tatsächlich  größer  ist  als  bei  der  Beliebtheit, 
das  sieht  man  sofort,  wenn  man  die  Konstanzfälle  im  einzelnen  betrachtet.  Ein 
Konstanzfall,  bei  dem  dasselbe  Fach  dreimal  genannt  ist,  ist  höher  zu  bewerten 
als  ein  solcher,  in  dem  dasselbe  Fach  nur  zweimal  genannt  ist;  diese  Wertung  er- 
reicht einen  noch  höheren  Grad,  wenn  die  Nennung  dreimal  nacheinander  erfolgt. 
Entsprechendes  gilt  für  viermalige  Nennung.  Wendet  man  diese  Betrachtung 
auf  die  Konstanzfälle  an,  dann  sieht  man  :  der  Unbeliebtheit  fallen  mehr  höher- 
wertige Konstanzfälle  zu  als  der  Beliebtheit,  dort  sind  es  die  Verhältniszahlen 

1  l  .       . 

—  für  viermalige,  —für  dreimalige  Nennung,  hier  sind  die  entsprechenden  Zahlen 
14  4 

—  bzw.  — ;  dort  wurde  dasselbe  Fach  in  2  Fällen  viermal  nacheinander  und  in 
17  11 

9  Fällen  dreimal   nacheinander   genannt,    hier  in  3,  bzw.  3  Fällen.     Es  folgt 
daraus : 

2)  Die  Konstanz  in  der  Werthaltung  der  Fächer  ist  größer  auf 
der  Seite  der  unbeliebten  Fächer  als  auf  der  der  beliebten!),  mit 
andern  Worten :  die  Abneigung  gegen  ein  bestimmtes  Fach  ist  im 
allgemeinen  ausgesprochener  und  anhaltender   als  die   Zuneigung. 

Endlich  ist  noch  eine  Vergleichimg  möglich  zwischen  den  verschiedenen  Be- 
gabungsgraden. Wir  wählen  zu  diesem  Zweck  nur  gut  begabte  und  schwach 
begabte  Schülerinnen  und  achten  auf  die  Verhältnisse  zwischen  diesen  beiden 
extremen  Begabungsgraden.  Von  den  9  Schwachbegabten  Schülerinnen  ziehen 
wir  nur  diejenigen  in  den  Rahmen  der  Betrachtung,  die  alle  4  Versuche  mitgemacht 
haben,  es  sind  dies  5,  nämlich  M^^,  M^q  M37,  M^g  und  M^o',  es  bedarf  wohl  kaum 
einer  Begründung  dieses  Vorgehens.  Dieser  Tatsache  entsprechend  wurden  eben- 
falls 5  Schülerinnen  guter  Begabung  gewählt,  welche  alle  4  Versuche  mitgemacht 


^)  Die  Konstanz  verhält  sich  in  beiden  Fällen  ungefähr  wie  32: 23.  Setzt  man  näm- 
lich den  Konstanzgrad  bei  viermaligem  Auftreten  gleich  100%,  den  bei  dreimaligem 
gleich  67%,  den  bei  zweimaligem  gleich  33%  und  den  bei  nur  einmaligem,  d.  h.  bei 
ständigem  Wechsel  gleich  0  %,  so  erhält  man  aus  obigenZahlen  für  die  Beliebtheit  23%, 
für  die  Unbeliebtheit  32%.    Anm.  von  Dr.  Deuchler. 

20* 


308 


Karl  Köhn 


hab3n,  es  sind  dies  Mj^,  M^^M^,  M^  und  ikf«. 
(Tafel  3). 


Die  Konstanzfälle  sind  die  folgenden 


Tafel  3:    Konstanzfälle  extremer  Begabungsgrade. 


Begabungs- 
grad 


Beliebtheit 
4  mal  3  mal  2  mal 


Unbeliebtheit 
4  mal      1      3  mal       2  mal  genannt 


gut 
begabt 

schwach 
begabt 


4 

10 


Man  sieht,  die  Konstanz  ist  größer  bsi  schwach,  bsgabten  Schülerinnen  als 
bsi  gut  bsgabten;  dies  zeigt  sich  in  den  Summen;  für  die  schwach  begabten 
Schülerinnen  habsn  wir  bei  der  Bsliebtheit  11,  bei  der  Unbeliebtheit  9  Konstanz- 
fälle, bai  den  gut  bsgabten  dort  6  und  hier  7,  in  bsiden  Fällen  sind  es  also  auf  der 
Ssite  der  schwach  bsgabten  Kinder  mehr  Konstanzfälle;  dasselbe  folgt  auch  aus 
der  Bstrachtung  der  Konstanzfälle  im  einzelnen.  Bei  der  Beliebtheit  kommen  auf 
die  viermalige  Nennung  desselben  Faches  je  ein  Fall,  bei  der  dreimaligen  bei  den 
gut  begabten  einer,  bei  den  schwachen  0  Fälle,  dieser  Abmangel  wird  aber  durch 
die  zweimalige  Nennung  reichlich  ausgeglichen;  denn  dort  sind  es  4,  hier  10  Fälle. 
Noch  bestimmter  als  bei  der  Bsliebtheit  liegen  die  Verhältnisse  bei  der  Unbeliebt- 
heit (s.  die  Tafel).   Daraus  folgt: 

3)  Das  gut  begabte  Kind  ist  in  der  Wertung,  bzw.  Wahl  eines  Un- 
terrichtsfaches viel  veränderlicher   als  das  schwach  begabte. 

Die  Ursache  liegt  in  der  größeren  und  reicheren  Entwicklungsfähigkeit  des  gut 
bsgabten  Kindes.  Ein  Bsispielsoll  dies  zeigen.  M^,  das  Mädchen  auf  dem  letzten 
Klassenplatz,  hat  nur  3  Versuche  mitgemacht  (s.  Tafel  1).  Es  nannte  als  unbe- 
liebtestes Fach  dreimalDiktat,  das  ist  begreiflich,  denn  es  konnte  selbst  im  7.  Schul- 
jahr  nur  leichte  Wörter  fehlerlos  schreiben;  es  nannte  zwei  mal  Lesen  als  beliebtestes 
Fach;  das  kann  es  noch  verhältnismäßig  gut.  Können  und  Nichtkönnen  heben 
sich  bsi  schwach  bsgabten  Schülerinnen  scharf  voneinander  ab.  Anders  ist  dies 
bei  M^  oder  M^  (Tafel  1).  Die  Fertigkeit  ist  im  allgemeinen  in  verschiedenen  Fä- 
chern beinahe  gleichgroß;  wechselnde  Einflüsse  bestimmen  hier  das  Urteil  und 
rufen  Veränderungen  in  der  Fächerwahl  hervor. 

2.  Zur  bisherigen  Konstanzbstrachtung  möge  ergänzend  eine  Überlegung  über 
die  Variabilität  der  Wertung  hinzutreten. 

Aus  Tafel  1  ist  bei  genauer  Betrachtung  eine  Eigentümlichkeit  in  der 
Wertung  zu  erkennen  *).  Bei  M^  z.  B.  ist  Lesen  zunächst  zweitunbeliebtes,  dann 
zweitbsliebtes,  schließlich  wieder  zweitunbeliebtes  Fach.  Dieser  Umschlag  der 
Wertung  von  der  positiven  Seite  zur  negativen  oder  umgekehrt  ist  auch  bei  Mg, 
M.2Q,  Mqo  usw.  zu  bemerken.  Eine  Zusammenstellung  dieser  Fälle  gibt  die  fol- 
gende Tafel  (4);  sie  gibt  einen  Überblick  über  die  Schwankung  des  Urteils, 
bzw.  der  Wertung  bei  derFächerwahl. 


*)  Leider  ließ  sie  sich  im  Druck  nicht  deutlicher  machen,  da  Pfeile  in  die  Tafel 
schwer  einzusetzen  sind. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


309 


Tafel  4:    Variabilität  der  Wertung. 


Die  Wertung  schlug  um 


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Am  häufigsten  trat  die  ,, Umwertung"  ein  beim  Lesen,  dann 
folgt  Rechnen  —  bei  diesem  Fach,  allerdings  nur  einseitig  — , 
ihm  schließt  sich  an  Diktat,  in  einigem  Abstand  folgen  Ge- 
schichte, Erdkunde  usw.  Überall  ist  —  mit  Ausnahme  von  Rechnen,  — 
weniger  bedeutend  auch  bei  Natur  lehre  und  Singen  — der  Umschlag  häufiger  von 
der  negativen  zur  positiven  Seite  als  umgekehrt,  man  darf  daher  wohl  behaupten : 
die  Beliebtheit  der  Unterrichtsfächer  nimmt  im  großen  ganzen 
mit  dem  wachsenden  Alter  der   Schülerinnen   zu. 

Als  Motive ,  die  eine  Umwertung  herbeiführen,  kommen  nach  den  Beobachtun- 
gen des  Klassenlehrers  in  der  Klasse  und  nach  den  Aufzeichnungen  der  Schülerin- 
nen in  Betracht: 

1)  Beim  Lesen  z.  B.  die  besondere  Art  des  dem  Unterricht  zugrunde  liegenden 
Lehrstücks  und  die  Form  seiner  Verarbeitung;  sie  erregen  Lustgefühle  oder  auch 
Unlustgefühle,  nach  denen  sich  die  Wertung  richtet.  Waren  die  Lesestücke  lang, 
unterhaltend  —  besonders  voll  Humor  —  und  wurden  sie  nur  einmal  gelesen, 
dann  gefiel  dieses  Fach,  andernfalls  mißfiel  es;  damit  ist  der  doppelte  Umschlag 
im   Lesen   bei  M^  zu  erklären. 

2)  Wurden  die  Anforderungen  in  einem  Fach  gesteigert,  dann  trat  ein  Umschlag 
ins  Negative  ein.  Dies  war  zu  beobachten  im  Rechnen,  besonders  im  Kopfrech- 
nen, so  bei  M30,  wo  ein  intensiverer  Betrieb  dieses  Faches  und  schwierigere  Auf- 
gaben die  Ursache  zur  Umwertung  wurden;  beim  Rechtschreiben,  bei  ilfig,  wo 
durch  die  unvorbereiteten  Diktate  —  bisher  waren  sie  vorbereitet  —  die  An- 
forderungen wuchsen. 

3.  Sobald  sich  mit  zunehmendem  Alter  ein  Können  entwickelte,  schlug  die  Wer- 
tung ins  Positive  um.  Dies  war  im  Rechtschreiben  besonders  bei  gut  begabten 
Schülerinnen,  z.  B.  bei  Mg,  zu  beobachten. 


310  Karl  Köhn 

4)  Tritt  Freitätigkeit,  besonders  freie  WaH  des  Gegenstandes,  mit  dem  man  sich 
zu  beschäftigen  hat,  an  Stelle  des  Zwangs,  des  Vorgeschriebenen,  so  kann  ein 
Umschlag  vom  Negativen  ins  Positive  eintreten.  Diese  Freitätigkeit  trat  besonders 
als  Wahlfreiheit  in  der  Auswahl  der  Themen  im  Aufsatz  (,, freier  Aufsatz")  auf, 
darauf  ist  der  Umschlag  zurückzuführen  bei  Mig  und  Mzi. 

5)  Endlich  kann  die  Umwertung  erfolgen  auf  Grund  der  erkannten  stärkeren 
oder  seil  wacheren  Beziehungen  des  Unterrichtsfaches  zur  Heimat  oder  zum  Leben 
des  Kindes,  besonders  in  Geschichte  und  Erdkmide.  Bei  Mn  z.  B.  war  die  Wer- 
tung der  Erdkunde  zunächst  eine  positive,  wurde  dann  negativ  imd  dann  wieder 
positiv  und  blieb  auch  im  4.  Versuch  positiv.  Beim  1.  Versuch  wurde  Asien  be- 
handelt, es  wirkte  aber  neben  der  Neuheit  des  Gegenstandes  das  kurz  vorher  be- 
handelte Europa  herein;  beim  2.  Versuch  handelte  es  sich  immer  noch  um  Asien, 
dem  aber  um  diese  Zeit  wenig  Beziehungen  zur  Heimat  abgewonnen  werden 
konnten;  baim  3.  Versuch  wurden  die  deutschen  Kolonien  in  Afrika  und  Afrika 
selbst,  beim  4.  deutsche  Wirtschaftsgeographie  behandelt;  je  bestimmter  die  Be- 
ziehung zur  Heimat  (und  zum  Leben)  wurde,  desto  bestimmter  war  die  positive 
Wertung. 

Fassen  wir  die  einander  ergänzenden  Betrachtungen  über  Konstanz  und  Variabi- 
lität der  Fächerwahl  bzw.  der  Wertung  zusammen,  dann  dürfen  wir  sagen:  Die 
Fächerwahl,  bzw.  die  Wertung  derselben  zeigt  verhältnismäßig 
große  Schwankungen  im  Gesamtverlauf  der  Versuche.  Die  Ursache  derselben 
ist  in  der  Vielgestaltigkeit  der  Motive  begründet,  welche  die  Fächerwahl, 
bzw.  ihre  Wertung  bestimmen. 

b)  Wir  nehmen  nun  den  Standpunkt  des  Gruppenpsychologenein  und  fragen 
nach  dem  Willens-  und  Wertungsgepräge  der  Klasse  als  eines 
Ganzen,    bzw.  nach   der    Konstanz   desselben. 

Der  Einfachheit  halber  ist  zur  Bestimmung  dieser  Konstanz  die  Methode 
der  Rangkorrelationen  benützt.  Es  wird  dabei  in  folgender  Weise  vorge- 
gangen :  auf  Grund  der  Nennungen  kann  für  jeden  einzelnen  Versuch  eine  Häufig- 
keitstafel aufgestellt  werden,  sowohl  für  die  an  L  Stelle  als  beliebt  genannten 
Fächer  als  auch  für  die  zweitbeliebten;  ebenso  für  die  unbeliebten.  Es  können  aber 
auch  die  Nennungen  für  das  1.  und  2.  beliebte  Fach  zusammen  genommen 
werden,  ebenso  die  für  das  L  und  2.  unbeliebte^).  Man  erhält  auf  diese  Weise 
für  den  1.  Versuch  für  die  Beliebtheit  für  Rechnen  16,  für  Lesen  11,  für  Konfirman- 
denunterricht 10,  .  .  .  für  Zeichnen  und  Singen  je  .5  Nennmigen  usw. ;  für  die  Un- 
beliebtheit im  Rechtschreiben  14,  in  Erdkunde  10  usw.  Nennungen.  Die  Beliebt- 
heitsfächer lassen  sich  für  jeden  Versuch  nun  nach  ihrer  Häufigkeit  in  eine  Reihe 
bringen,  diese  Reihe  lautet  beim  1.  Versuch:  1.  Rechnen,  2.  Lesen,  3.  Konfirman- 
denunterricht, 4.  Erdkunde,  5  imd  6.  Zeichnen  und  Singen,  7.  usw.;  beim  2.  Ver- 
such: 1.  Lesen,  2.  Rechnen  usw.  Auf  diese  Weise  erhält  man  vier  Reihen  für  die 
Beliebtheit  der  Fächer,  auf  dieselbe  Weise  erhält  man  auch  vier  Reihen  für  die 
Unbeliebtheit.  (Die  aus  den  absoluten  Zahlen  gewonnenen  Prozentzahlen, 
nach  denen  sich  diese  Reihen  bilden  lassen,  finden  sich  auf  Tafel  9.)  Eine 
Zusammenstellung,  in  der  die  jeweilige  Stellung  des  Faches  in  der  betreffenden 
Versuchsreihe  angegeben  ist,  findet  sich  auf  der  folgenden  Tafel  5. 

^)  Für  die  Begründung  dieses  Vorgeheiis   sind  auf   S.  318  Gesichtspunkte  ange- 
geben. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


311 


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312 


Karl  Köhn 


Das  Vorgehen  bsi  der  Bestimmung  der  Korrelationskoeffizienten  ist  von 
Deuchler  auseinander  gesetzt  und  begtündet  worden^).  Es  kann  daher  unter- 
lassen werden,  zu  zeigen,  wie  die  Werte  gewonnen  werden.  Die  Werte  selbst  sind 
in  der  folgenden  Tafel  6  zusammengestellt. 


Tafel  6:    Korrelation  der  Fächerwahl. 
1.  Beliebtheit. 


Reihe 

I— II 

I-III 

I— IV 

II— III 

II— IV 

III— IV 

Durch- 
schnitt 

Streu- 
ung 

Korrelations- 
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-1  0,57 

+0,32 

-fO,34 

-1-0,48 

+0,43 

40,26 

-1  0,40 

±0,10 

2.  Unbeliebtheit. 


Reihe 

I-II 

I— III 

I— IV 

II— III 

II— IV 

III-IV    ^^"'■ch- 
^^^    ^^    schnitt 

Streu- 
ung 

Korrelations- 
wert Sfl  = 

+  0,44 

+0,57 

+0,40 

+0,43 

+0,37 

+0,45       4-0,44 

±0,08 

Die  angegebenen  Korrelations  werte  sind  ein  Maß  für  die  Konstanz  der  Häufigkeit 
des  Vorzugs-  bzw.  Ablehnungsurteils  der  Klasse,  diese  als  Ganzes  betrachtet. 
Sie  besagen  folgendes :  wäre  die  Korrelation  gleich  +  1  oder  nahe  bei  +  1,  so  hieße 
das,  die  Bsliebtheit,  bzw.  die  Unbeliebtheit  haben  bei  denselben  Fächern  eine 
konstante  Häufigkeitsordnimg  —  bei  den  einzelnen  Schülern  kann  dabei  immer 
noch  eine  Änderung  in  der  Bevorzugung  oder  Ablehnung  der  Fächer  eintreten  — , 
dies  würde  sich  in  der  oben  angegebenen  Tafel  5  oder  Häufigkeitsordnung  der 
Werturteile  darin  zeigen,  daß  die  beiden  aufeinander  bezogenen  Häufigkeits- 
ordnungen, etwa  I  und  II,  dieselben  oder  nahezu  dieselben  wären.  Sind  die  Werte 
kleiner  als  +1,  dann  folgt  daraus,  daß  das  Beliebtheits-,  bzw.  Unbeliebtheits- 
urteil von  einem  zum  aiidern  Versuch  sich  ändert,  daß  also  das  Willens-  imd 
Wertungsgepräge  der  Klasse  von  einem  zum  andern  Versuch  em  anderes  wird, 
daß  es  sich  auf  andere  Fächer  bezieht,  daß  also  die  "Häufigkeitsverteilung  eine 
andere  wird;  mit  solchen  Fällen  haben  wir  es  in  Tafel  5  und  6  zu  tun. 
Die  in  Tafel  6  angegebenen  tatsächlichen  Werte  sagen  nun : 
1)  daß  die  Häufigkeitsrangordnung  in  den  aufeinander  folgenden  Versuchen 
zwar  nicht  in  besonders  hohem  Maße  gleich  bleibt,  sonst  müßte  der  Korrclations- 
koeffizient  dem  Wert  +  1  nahe  kommen,  daß  sie  sich  aber  auch  nicht  nach 
Belieben  ändert,  denn  sonst  müßte  di  im  wesentlichen  ^  0  sein,  sondern  daß 
eine  gewisse  Konstanz  vorhanden  ist,  sowohl  in  Beziehung  auf  den 
Fortschritt  von  einem  Versuch  zum  andern,  das  zeigen  die  Extremwerte  +  0,57 
und  +  0,26,  als  auch  im  großen  ganzen,  darauf  weisen  die  Durchschnittswerte 
von  +0,40  und  +0,44  hin;  diese  Konstanz  ist  eine  solche  von  nahezu 


*)  G.  Deuchler,  Über  die  Methoden  der  Korrelationsrechnung  in  der  Pädagogik 
und  Psychologie.   Zeitschrift  iür  pädag.  Psychologie,  XV.  Jahrgang,  1914,   S.  146  tf. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  313 


mittlerem  Grad;  anders  ausgedrückt:  das  Willens-  und  Wertungs- 
gepräge  der  Klasse  als  Ganzes  ändert  sich  nicht  beliebig  im  Ver- 
lauf der  Schulzeit,  sondern  weist  einen  gewissen  konservativen 
Zug,  eine  Konstanz  von  nahezu  mittlerem   Grade  auf. 

2)  Diese  Konstanz  wird  eine  geringere,  sobald  bedeutende,  vonein- 
ander verschiedene  Ereignisse  aufs  Schulleben  einwirken.  Dies 
zeigt  sich  in  der  Beliebtheitsreihe  I — III,  hier  ist  der  Krieg  die  Ursache,  daß 
ffi  nur  gleich  0,32  wird,  ebenso  bei  I — IV;  hier  ist's  die  Konfirmation  mit  ihrem 
Drum  und  Dran,  und  bei  III — IV,  hier  kommt  der  Wettstreit  der  Ereignisse  Krieg 
(Versuch  III)  und  Konfirmation  in  der  Höhe  ^  =  0,26  deutlich  zum  Ausdruck. 

3.  Es  scheint  auch  charakteristisch  zu  sein,  daß  das  (positive)  Vorzugs- 
urteil veränderlicher  ist  als  das  negative.  Darauf  weist  Verschiedenes 
hin:  Der  Durchschnittswert  der  Korrelations koeffizienten  ist  bei  der  Beliebtheit 
gleich  0,40,  bei  der  Unbsliebtheit  gleich  0,44;  ebenso  sind  die  Koeffizienten  dort 
mehr  verschieden  (0,57  und  0,26)  als  hier  (0,57  und  0,37),  was  sich  in  der  größeren 
Streuung  +0,10  gegen  +0,08)  ausdrückt. 

Dies  ist  gut  verständlich:  für  das  positive  Vorzugsurteil  kommen  mehr 
Faktoren  in  Frage  als  für  das  negative.  Ich  nenne  nur  die  Neuheit 
sowohl  des  Unterrichtsfaches,  etwa  des  Konfirmandenunterrichtes,  als  auch  des 
Lehrers,  der  Geistliche  im  neu  beginnenden  Konfirmandenunterricht.  Diese 
Faktoren  sind  bei  dem  Wechsel  viel  stärker  unterworfen  als  die 
das  negative  Urteil  bestimmenden.  Dies  zeigt  sich  wieder  an  der  Neuheit ; 
sobald  der  Konfirmandenunterricht  nicht  mehr  neu  ist,  wechselt  auch  die  Wer- 
tung; dasselbe  zeigt  die  Wertung  der  Handarbeit:  im  3.  Versuch  wirkte  der  Krieg 
und  seine  Folgen  als  neues  Ereignis  herein,  die  Wertung  wurde  positiv,  im  4.  Ver- 
such war  nichts  mehr  von  Neuheitswirkung  zu  bemerken,  die  Wertung 
wechselte. 

Wir  fassen  das  Ergebnis  der  Konstanz-  und  Variabilitätsbe trachtung  zu- 
sammen: die  Fächerwahl  bzw.  die  Wertung  derselben  weist  innerhalb 
größerer  Zeiträume  eine  verhältnismäßig  große  Schwankung, 
bzw.  eine  Konstanz  von  nicht  ganz  mittlerem  Grade  auf;  dies  gilt 
sowohl  für  die  Werthaltung  der  einzelnen  Schülerin  —  Standpunkt  der 
Individualpsychologie  —  als  auch  für  das  Willens-  und  Wertungs- 
gepräge der  Klasse   als    Ganzes  —  Standpunkt  der  Gruppen psychologie. 

2.  Die  tatsächliche   Fächerwahl  und  ihre  wahrscheinlichen 

Ursachen. 
Einen  Ein  blick  in  die  tatsächliche  Fächerwahl  gibt  Tafel  1 .  Auf  Grund  der  voll- 
ständigen Tafel,  der  diese  Beispiele  entnommen  sind,  läßt  sie  sich  zahlenmäßig 
darstellen.  Man  kann  nun  in  zweifacher  Weise  vorgehen.  Man  kann  in  eine  Tafel 
die  Anzahl  der  Nennungen  des  1.  beliebten,  2.  beliebten  usw.  Faches  aufnehmen. 
Diese  Tafel  der  Rohwerte  gestattet  aber  nur  einen  Vergleich  innerhalb  desselben 
Versuchs,  da  ja  die  Zahl  der  Versuchspersonen  von  Versuch  zu  Versuch  wechselte. 
Will  man  Häuf  igkeits werte,  die  einen  Vergleich  durch  alle  Versuche  und  schließ- 
lich auch  mit  den  Ergebnissen  anderer  Untersuchungen  gestatten,  dann  muß 
man  Prozentzahlen  berechnen.  Man  kann  dabei  so  vorgehen,  daß  man  die  Zahl 
der  Nennungen  des  Faches  in  der  betreffenden  Wertkategorie  (1.,  2.  beliebtes  usw.) 


314  Karl  Köhn 

ins  Verhältnis  setzt  zur  Summe  der  Nennungen  dieses  Faches  in  der  betreffenden 
Wertkategorie  und  diese  Verhältniszahl  mit  100  vervielfacht;  man  erhält  also 

Zahl  der  Nennungen  des  Faches  einer -Wertkategorie 
Summe  der  Nennungen  des  Faches  einer  Wertekategorie 
so,  dann  erhält  man  als  Häufigkeitszahlen  die  Werte  der  Tafel  7. 

Es  sollen  einige  Bemerkungen  zu  dieser  Tafel  folgen : 

a)  Die  Fächerwahl  erstreckt  sich  auf  vier  Wertungskategorien. 
Die  Hauptfrage,  die  sich  mit  Hilfe  dieser  Tafel  lösen  läßt,  ist:  Welches  ist 
das  beliebteste,  das  unbeliebteste  usw.  Fach? 

a)  Das  beliebteste  Fach  ist  hier  besonders  ausgezeichnet.  Die  Häufigkeits- 
zahlen für  dieses  Fach  sind  im  I.  Versuch  30,  im  II.  17i/2,  im  III.  64^4,  im  IV.  50. 
In  den  anderen  Kategorien  bleiben  die  Häufigkeitszahlen  im  großen  ganzen  unter 
diesen  Werten.  Innerhalb  der  Kategorie  bleiben  die  übrigen  Häufigkeitswerte  — 
ausgenommen  ist  der  II.  Versuch  —  beträchtlich  unter  denen  für  das  beliebteste 
Fach.  Die  Nennungen  häufen  sich  also  innerhalb  dieser  Wertungskategorie 
stärker  als  in  anderen  um  ein  bestimmtes  Fach.  Bezieht  man  dies  auf  die  Klasse, 
dann  kann  man  sagen: 

1)  In  der  Klasse  ist  zu  einem  bestimmten  Zeitpunkt  ein  Fach  als 
beliebtestes  in  der  Gesamtheit  der  Fächer  deutlich  herausgehoben. 

Dieses  Maximum  wird  im  I.  Versuch  im  Rechnen,  im  II.  neben  dem  Rechnen 
auch  im  Aufsatz,  im  III.  in  der  Handarbeit  und  im  IV.  vom  Konfirmandenunter- 
richt erreicht;  es  findet  also  ein  Wechsel  zwischen  verschiedenen  Fächern  statt; 
man  darf  daher  wohl  annehmen: 

2)  die  Heraushebung  eines  Faches  als  beliebtestem  wechselt 
innerhalb    größerer    Zeiträume    zwischen    verschiedenen    Fächern. 

Die  Häufigkeitswerte  beim  erstbeliebten  Fach  schwanken  beim  I.  Versuch 
zwischen  0  mid  30%;  die  Nennungen  sind  dabei  auf  11  Fächer  verteilt;  beim 
II.  Versuch  wird  das  Maximum  schon  bei  17  ^%  erreicht,  es  sind  diesmal  15  Fächer 
genannt.  Es  ist  also  beidemal  eine  verhältnismäßig  große  Zahl  von 
Fächern  und  eine  verhältnismäßig  geringe  Schwankung.  Dies  wird 
anders  beim  III.  und  IV.  Versuch.  Beim  III.  Versuch  liegt  das  Maximum  bei 
64^%  (Handarbeit),  die  Zahl  der  genannten  Fächer  hat  sich  nun  um  mehr  als 
die  Hälfte  verringert,  sie  ist  auf  7  gesunken,  was  auf  Einwirkungen  besonderer 
Art  hinweist.  Es  ist  der  Krieg,  der  gesteigert  und  gesammelt  hat.  Ähnlich 
ist  es  beim  IV.  Versuch.  Hier  wird  das  Maximum  bei  50%  erreicht  bei  einer  Ver- 
teilung auf  11  Fächer.  Auch  hier  machen  sich  Einflüsse  geltend,  die  die  Schülerin- 
nen in  besonderer  Weise  in  Anspruch  nphmpn :  die  in  naher  Zukunft  stehende  Kon- 

^)  Diese  Art  der  Verrechnung  weicht  von  der  bisher  gebräuchlichen  ab.  W.  Stern 
z.  B.  führt  aus  (Zeitschrift  für  pädag.  Psychologie,  VII,  1905,  S.  272):  Die  Berechnun- 
gen ,,sind  stets  prozentuell:  die  abfeolute  Zahl  der  Vorzugs-  ( +  )  oder  Ablehnungs-  ( — ) 
Urteile  wurde  ins  Verhältnis  gesetzt  zu  derjenigen  Schülerzahl,  die  in  dem  Fach  unter- 
richtet wurde."  Diese  Art  der  Verrechnung  hat  einen  Sinn,  wenn  die  Schüler  alle  ein 
bzw.  zwei,  bzw.  vier  Urteile  abgegeben  haben.  Bei  den  durchgeführten  Versuchen 
hat  nun  eine  größere  Zahl  von  Schülern  nur  drei  bzw.  zwei  Urteile  in  einem  Versuch 
abgegeben.  Bei  dieser  Art  der  Verrechnvmg  würde  die  Sujnme  der  Prozentzahlen  beim 
zweitunbeliebten  Fach  beim  I.  Versuch  gleich  45.  beim  IV.  sogar  nur  37.  %  sein.  Sollen 
es  Prozentzahlen  sein,  dann  muß  die  Summe  jedesmal  gleich  100  werden.  Dies  wird 
erreicht  bei  der  durchgeführten  Verrechnung. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


315 


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316  Karl  Köhn 

firmation  bindet  einen  bedeutenden  Teil  der  geistigen  Energie  und  lenkt  sie  in 
eine  bestimmte  Richtung,  wodurcli  sie  einer  Reihe  von  anderen  Unterrichtsfächern 
entzogen  wird.  Beachtenswert  ist  bei  beiden  Fächern,  daß  sie  in  normalen  Zeiten 
in  der  Wertung  ziemlich  tief  stehen :  bei  der  Handarbeit  sind  es  0,  2  ^,  64  ^,  0  %  ; 
beim  Konfirmandenunterricht  3,  5,  0,  50%.  Daß  die  Steigerung  auf  50  und  64^4% 
nicht  durch  Kräfte  herbeigeführt  werden  kann,  die  aus  dem  Unterricht  entsprin- 
gen, leuchtet  durchaus  ein. 
Im  Hinblick  auf  die  geschilderten  Verhältnisse  darf  behauptet  werden : 
3). verhältnismäßig  geringe  Schwankungen  in  der  Häufigkeit  der 
Nennung,  Verteilung  der  Nennungen  auf  eine  verhältnismäßig 
große  Zahl  von  Unterrichtsfächern  ist  typisch  für  normale  Unter- 
richtsverhältnisse, normale  Begabungsverteilung  und  normalen 
Unterrichtsbetrieb.  Ist  die  Verteilung  eine  andere,  dann  muß  man  erwarten, 
daß  es  irgendwo  fehlt;  dann  sind  gewisse  äußere  Verhältnisse  vorhanden,  die  auf 
das  Schulleben  hereinwirken,  dann  ist  die  Klasse  einseitig  begabt  oder  ist  der 
Unterricht  des  Lehrers  kein  gleichmäßiger,  d.  h.  dann  bevorzugt  er  —  als  Klassen- 
lehrer, der  beinahe  in  allen  Fächern  unterrichtet  —  manche  Fächer,  während  er 
andere  vernachlässigt. 

ß.  Beim  zweitbeliebten  Fach  liegt  das  Maximum  beim  I.  und  II.  Versuch 
bei  25,  beim  III.  bei  16^,  beim  IV.  bei  13^%;  die  Nennungen  sind  auf  11 — 13 
Fächer  verteilt.  Auf  eine  Eigentümlichkeit  muß  hier  besonders  aufmerlcsam  ge- 
macht werden :  beim  III.  Versuch  wird  das  Maximum  von  zwei,  beim  IV.  sogar  von 
vier  Fächern  erreicht,  beim  I.  und  beim  II.  Versuch  erreicht  beidemal  ein  2.  Fach 
beinahe  das  Maximum.     Man  darf  behaupten: 

4)  Ein  einzelnes  zweitbeliebtestes  Fach  läßt  sicli  in  der  Klasse 
als   Ganzem  kaum   aufzeigen. 

y)  Beim  erstunbeliebteii  Fach  schwanken  die  Häufigkeitswerte  zwischen 
39  und  0  %,  die  Maxima  liegen  hier  zwischen  25  und  39  %.  Beim  beliebtesten  Fach 
liegen  sie  zwischen  17^  und  64^%.  Man  erkennt  daran  die  geringe  Höhe  der 
Maxima  beim  erstunbeliebtesten  Fach.  Die  nächstniederen  Häufigkeitswerte 
liegen  zwischen  18^  und  25%;  die  Verteilung  erstreckt  sich  auf  7 — 11  Fächer. 
Daraus  folgt:  die  Nennungen  sind  um  ein  Fach  gehäuft,  die  Häufigkeit  ist  in 
allen  vier  Versuchen  beinahe  dieselbe ;  es  finden  um  einige  andere  Fächer  herum 
ebenfalls  Häufungen  statt,  die  von  geringerem  Grade  sind,  relative  Maxima.  Es 
darf  demnach  behauptet  werden: 

5)  Ein  bestimmtes  Fach  wird  als  unbeliebtestes  aus  der  Reihe 
der  Unterrichtsfächer  herausgehoben;  diese  Heraushebiing  ist 
beim  unbeliebtesten  Fach  keine  so  deutliche  wie  beim  beliebtesten. 

Man  kann  hier  wieder  nach  dem  Wechsel  innerhalb  der  Fächerreihe  fragen. 
Das  unbeliebteste  Fach  des  I.  Versuches  ist  Erdkunde  (25%),  darauf  folgt  Recht- 
schreiben (19  %);  im  II.  Versuch  ist  es  Rechtschreiben  (31%),  im  III.  Rechnen 
(36%),  dann  folgt  wieder  Rechtschreiben  (25%),  im  IV.  wieder  Rechtschreiben 
(39%): 

6)  Ein  Wechselinnerhalb  der  Fächerreihe,  tritt  beim  unbeliebte- 
sten Fach  überhaupt  nicht  oder  nur  selten  ein  innerhalb  größerer 
Zeiträume. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


317 


6)  Beim  zweitbeliebteu  Fach  werden  die  Maxima  zwischen  18  und  45% 
erreicht;  die  nächstniederen  Häuf igkeits werte  liegen  zwischen  10%  und  21^4%, 
die  Maxima  sind  also  ziemlich  deutlich  zu  erkennen : 

7)  Das  zweitunbeliebteste  Fach  wird  also  ziemlich  deutlich  aus 
der   Reihe   der   Fächer   herausgehoben. 

Fassen  wir  diese  Darlegung  übsr  das  bsliebteste  bzw.  unbsliebteste  Fach  zu- 
sammen:  das  beliebteste  Fach  ist  in  jedem  Versuch  deutlich  zu  erkennen, 
es  ist  Rechnen  (T),  Rechnen  bzw.  Aufsatz  (II),  Handarbeit  (III),  Kon- 
firmandenunterricht (IV);  weniger  deutlich,  aber  doch  noch  bestimmt 
hebt  sich  das  unbeliebteste  Fach  heraus,  es  ist  Erdkunde  (I),  Rechtschrei- 
ben (II  und  IV),  und  Rechnen  (III);  auch  ein  zweitunbeliebtestes  kann  man 
noch  mit  einiger  Sicherheit  nennen;  am  wenigsten  bestimmt  ist  das 
zweitbeliebteste  Fach. 

Die  bisherige  Betrachtung  läßt  sich  ergänzen.  Wir  haben  bisher  die  Häufigkeit 
der  Nennungen  für  das  einzelne  Fach  berücksichtigt.  Wir  können  nun  auch  Sum- 
men bilden  und  die  Summen  für  die  einzelnen  Kategorien  usw.  miteinander  ver- 
gleichen. Dabei  läßt  sich  die  bisher  benützte  Tafel  7  nicht  mehr  verwenden,  da 
wir  ja  dort  Prozentwerte  haben.  Wir  gewinnen  diese  Summenzahlen  am  besten 
aus  der  Tafel  der  Roh  werte  (Beispiel  hiervon  s.  Tafel  1).  Damit  sich  die  Werte 
vergleichen  lassen,  berücksichtigen  wir  nur  die  Fälle,  in  denen  die  Schülerinnen 
sämtliche  vier  Versuche  mitmachten.  Zählen  wir  nun  alle  Nennungen  einer 
Kategorie  in  allen  vier  Versuchen  zusammen,  so  erhalten  wir : 


Tafel  8:  Summe  der  Vorzugs-,  bezw.  Ablehnungsurteile 


Wertung 


Anzahl 
der  Urteile 


1.  beliebtes  Fach 

2.  beliebtes  Fach 


116 
116 


Wertung  ( — ) 


Anzahl 
der  Urteile 


1.  unbeliebtes  Fach 

2.  unbeliebtes  Fach 


Beliebt  (zusammen) 


232 


Unbeliebt  (zusammen) 


110 
59 


1€9 


Sieht  man  in  der  Anzahl  der  abgegebenen  Urteile  ein  Maß  für  die  Schwierig- 
keit der  Urteilsbildung,  dann  kann  man  sagen: 

8)  Es  fällt  dem  Schüler  verhältnismäßig  leicht,  das  beliebteste 
bzw.  zweitbeliebte  Fach  zu  nenneji,  schwerer  ist  für  ihn  das  un- 
beliebteste, am  schwierigsten  das  zweitunbeliebte  Fach  zu  nennen; 
denn  dort  wurden  je  116,  hier  110  bzw.  59  Urteile  abgegeben. 

Man  kann  nun  auch  die  Summenzahlen  für  die  Vorzugsurteile  mit  denen  für  die 
Ablehnungsurteile  vergleichen,  es  sind  232  und  169;  dort  sind  es  bedeutend  mehr 
als  hier.  Kommt  darin  die  gemütliche  Wirkung  des  Unterrichts  bzw.  des  Schul- 
lebens auf  das  Schulkind  zum  Ausdruck,  dann  darf  man  behaupten: 

9)  Die  Gemüts-  bzw.  Gefühlswerte,  die  dem  Schüler  aus  dem  Schul- 
leben mit  seiner  Unterrichtsgestaltung  fließen,  sind  mannigfalti- 
ger  auf  der  positiven   als   auf  der  negativen   Seite. 

Endlich  kann  man  die  Verteilung  der  Vorzugs-  bzw.  Ablehnungsurteile  auf  die 
verschiedenen  Begabungsgrade  berücksichtigen.  Es  genügen  für  unsere  Zwecke 
die  beiden  extremen  Begabungsgrade,  gut  und  schwach  begabt.  Wir  berücksich- 


318 


Karl  Köhn 


tigen  die  Verhältnisse  bei  M^,  M^,  Afg,  M7  und  M^  einerseits  und  M^,  M^^,  M37, 
Mss  und  M40  andererseits.  Es  sind  dieselben  Schülerinnen,  die  wir  früher  schon 
(S,  308)  zum  Vergleich  herangezogen  haben.  Die  Zusammenstellung  der  Urteile 
gibt  Tafel  9. 

Tafel  9:  Zusammenstellung  der  Urteile  gut  begabter  und  schwach  begabter 

Schülerinnen. 


Gut  begabte  Schülerinnen 

Schwach  begabte  Schülerinnen 

Wertung                          ,^-Sue 

Wertung 

Anzahl 
der  Urteile 

1.  beliebtes  Fach    ...                20             | 

2.  beliebtes  Fach    •    •    •  1            20 

1.  beliebtes  Fach  .     .     . 

2.  beliebtes  Fach  .     .     . 

20 
20 

1                             1 

1.  unbeliebtes  Fach    .     .  |             19             j 

2.  unbeliebtes  Fach    •     •  j             H             i 

1.  unbeliebtes  Fach 

2.  unbeliebtes  Fach  .     . 

20 
15 

Über  die  bsliebtesten  Fächer  sind  von  beiden  Gruppen  gleichviel  Urteile  ab- 
gegeben worden.  Über  die  unbeliebten  Fächer  wurden  von  den  schwach  begabten 
Schülerinnen  mehr  Urteile  abgegeben  als  von  den  gut  begabten;  die  schwach  be- 
gabten Schülerinnen  lehnen  also  mehr  Fächer  ab  als  die  gut  begabten.  Damit 
stimmen  sonstige  Erfahrungen  bei  diesen  Versuchen  überein.  Das  gut  begabte 
Mädchen  M^  z.  B.  erklärte,  es  könne  kein  zweitunbeliebtes  Fach,  überhaupt  kein 
unbeliebtes  Fach  nennen,  es  „treibe  alle  Fächer  gern";  schwach  begabte  dagegen 
hätten  gern  eine  ganze  Reihe  von  imbeliebten  Fächern  genannt.  Sieht  man  hierin 
wieder  ein  Zeichen  für  die  verschiedene  Gemütswirkung  des  Unterrichts,  dann 
darf  man  behaupten : 

10)  Die  gut  begabten  Schülerinnen  erfahren  durch  den  Unter- 
richt  weniger    Gemütshemmungen    als    die   schwach   begabten. 

b)  In  den  folgenden  Betrachtungen  beziehen  wir  die  Fächerwahl  nicht 
mehr  auf  vier,  sondern  nur  noch  auf  zwei  Wertungskategorien,  auf  die 
Kategorien  beliebt  und  unbeliebt. 

Dadurch  werden  die  folgenden  Zusammenstellungen  einfach  und  übersichtlich. 
Dies  ist  notwendig.  Man  könnte  dies  dadurch  erreichen,  daß  man  nur  das  erst- 
beliebte und  erst  unbeliebte  Fach  berücksichtigen  würde  und  die  übrigen  fallen 
ließe.  Man  sieht  aber  aus  Tafel  7,  daß  das  nicht  der  richtige  Weg  wäre.  Beide, 
das  erstbeliebte  und  das  zweitbeliebte  Fach,  entsprechend  auch  die  unbeliebten 
Fächer,  ergänzen  einander  und  werden  daher  zweckmäßigerweise  zusammen 
genommen.  Darauf  weisen  auch  Bemerkungen  der  Schülerinnen  hin;  sie  sagten 
häufig:  ,,Das  zweite  Fach  treibe  ich  eigentlich  so  gerne  wie  das  erste".  Man 
könnte  nun  so  vorgehen,  daß  man  in  Tafel  7  die  Häufigkeitswerte  von  je  zwei  ent- 
sprechenden Kategorien  (1.  und  2.  beliebtes,  bzw.  1.  und  2.  unbeliebtes  Fach) 
für  jedes  einzelne  Fach  zusammen  nimmt.  Dann  erhält  man  aber  keine  Prozent- 
zahlen. Will  man  diese  erhalten,  dann  muß  man  noch  durch  zwei  teilen;  denn 
die  Summe  der  Prozentzahlen  für  zwei  Kategorien  ist  200. 

Man  kann  natürlich  diese  Prozentzahlen  auch  aus  den  Summenzahlen  der 
tatsächlichen  Nennungen  eines  Faches  berechnen,  man  hat  dann  zu  rechnen 


über  Beliebtheit  und    Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


319 


Summe  der  Nemimigen  eines  Faches  in  zwei  Katep:orien 


X  100.      Diese  Art  der 


Summe  der  Nennungen  aller  Fächer  dieser  Kategorien 
Verrechnung  ist  der  andern  vorzuziehen,  da  sie  genauere  Werte  gibt;  denn  in 
Tafel  7  wurden  die  Zahlen  auf-  bzw.  abgerundet.  Man  erhält  auf  diese  Weise 
die  Werte  von  Tafel  10^)  (S.  320). 

Diese  Tafel  bedeutet  in  mancher  Hinsicht  einen  Fortschritt  gegen  Tafel  7. 
Das  verschieden  große  Gewicht,  das  dort  einer  Nennung  in  den  verschiedenen 
Kategorien  bei  verschiedenen  Versuchen  zukommt,  hat  für  die  Erörterungen,  die 
sich  an  diese  Tafel  anschloß,  keine  nachteiligen  Folgen.  Für  die  nun  folgenden 
Darlegimgen  könnte  es  bedeutsam  werden.  Durch  die^  große  Zahl  der  Nennungen 
wird  dies  nun  ausgeglichen;  nun  ist  das  Gewicht  jeder  Nennung  für  jeden  Fall 
beinahe  dasselbe. 

Wir  können  nun  in  dieser  Tafel  ein  Abbild  des  Willens-  bzw.  Wertungsgepräges 
der  Klasse  als  eines  Ganzen  erblicken ;  darauf  haben  wir  früher  schon  hingewiesen. 
Wir  können  sie  aber  auch  so  ansehen,  daß  sie  zum  Ausdruck  bringt,  welche 
Fächer  mit   Gefühlen  behaftet  sind,  in   welcher  Weise  und  dgl. 

a)  Mit  Hilfe  von  Tafel  10  läßt  sich  für  jeden  Versuch  eine  Betontheitsreihe 
aufstellen.  Wir  gehen  dabei  so  vor,  daß  wir  die  Prozentzahlen  für  die  Beliebtheit 
und  für  die  Unbeliebtheit  zusammenzählen  und  wieder  durch  zwei  teilen.  Nach 
der  Höhe  dieser  Zahlen  lassen  sich  dann  die  Fächer  in  eine  Rangordnung  bringen. 
Wir  geben  einen  Ausschnitt  aus  dieser  Zusammenstellung. 


Tafel  11 2):    Ausschnitt  aus  einer  Betontheitsreihe. 


Versuch 

Recht- 
schreiben 

Rechnen 

Lesen 

Aufsatz 

Turnen 

Sprach- 
lehre 

I 

(1.) 

15 

(6.) 

'-      13" 

(3.) 

4 
(8.-9.) 

IV. 

(11.-19.) 

0 
(11.-19.  ; 

11 

1 

(2.) 

12  V. 
(1.) 

IIV. 
3. 

8^/4 
(6.) 

3V. 
(10.-11.) 

0 
(19.) 

III 

14V4 
(2.) 

14 

(3.) 

7 
(6.) 

7V. 
(5.) 

IV. 

(12.— 14.) 

IV4 
(12.— 14.) 

IV 

15V. 
(1.) 

14  V» 

(2.) 

3V. 

(9.-10.) 

9V, 
•  (5-) 

0 

V, 

(17.) 

Durch- 
schnitt 

UVa 

li'U 

9 

1      vu 

1 

IV. 

1 

V, 

1 

Es  ist  hier  Rechtschreiben  ein  mittel  bis  stark  betontes,  Rechnen  ein  mittel 
betontes,  Lesen  und  Aufsatz  ein  schwach  betontes  und  Turnen  und  Sprachlehre 
ein  unbetontes  Fach.    Die  Berechtigung  dieser  Bezeichnungen  folgt  aus  späteren 


^)  Man  könnte  ini  Zweifel  über  die  Berechtigung  dieser  Verrechnung  in  den  Fällen 
sein,  in  denen  ein  Fach  nur  in  einer  Kategorie  genannt  ist  statt  in  zwei.  Es  handelt 
sich,  wie  aus  früheren  Ausführungen  folgt,  n\ir  vun  die  Unbeliebtheit.  Hier  ist  eben  die 
eine  Nennung  als  zweifache  Nennung  aufzufassen.  Denn  man  denkt  sich  eben  die  Lage 
80,  daß  die  Unbeliebtheit  so  ausgedehnt  ist,  daß  dieses  Fach  an  1.  und  an  2.  Stelle  7u 
stehen  kommt. 

*)  Die  in  Klammer  gesetzten  Zahlen  geben  die  Stellung  innerhalb  der  Unbeliebl- 
heitsreihe  für  den  betr.  Versuch  an. 


320 


Karl  Köhn 


< 

M 
1— < 
M 

l-l 

1— 1 

< 
<-t 

OD 
C5 

beliebt 
unbeliebt 

CD                 K 

er         <^ 

et- 

ö         er 
er*          CD 

CD                 K 

tr;          CD 
er         ^ 

(2 

CS            u- 

CT              CD 
CD                P 
K               CD 

a>          0" 
u"         «■ 

Wertung 

S 

<Ä              0 

Go               10 

Rechnen 

i           -^ 

oo              Ol 

=-              g 

»^              1— ' 

Lesen 

1                   Ül 

j 

1                •<- 

1                 i"' 
1                 )f>- 

Konfirm.- 
Unterricht 

fco               «0 

^     :^ 

Erdkunde 

h*                       Hb 

Co              bO 

1      ^ 

Oi                -4 

Zeichnen 

^                     W 

1                - 

1                1 

i 

Singen 

§ 

Recht- 
schreiben 

'=^               00 

n^            1^ 

i 
Aufsatz     j 

-5          w 

^               Ol 

s       »^ 

Geschichte 

1         ! 

1           ^ 

1                  ^ 

1 

Bibl. 
Geschichte 

!         1 

^       ! 

~^                 1 

1             ^ 

Turnen 

^       1 

1         1 

^               ^ 

1                t— ' 

Memorieren 

4k 

«NO            ,_:; 

Naturlehre 

1        ;^ 

•^                   ^ 

1             Oi              .^ 

►—1 

10^ 

Schön- 
schreiben 

i 

1                       '^ 

1      1 

1         1 

Sprachlehre 

^        1 

1                        1 

5S    V    - 

1         1 

Repe- 
titionen 

1         ^ 

1                        1 

s<a            ~c 

'*^               1 

Natur- 
geschichte 

! 

1                 Ol 

1              -S 

i                 1 

Handarbeit 

i         1*^ 

i              i 

i              5 

1                 ' 

Religions- 
unterricht 

über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  321 


Darlegungen.  Wir  dürfen  also  behaupten:  Die  Gefühlsbetontheit,  bezogen 
auf  die  Klasse  als  Ganzes,  ist  am  meisten  ausgebreitet  beim  Recht- 
schreiben und  beim  Rechnen,  weniger  beim  Lesen  und  Aufsatz, 
hierher  ist  auch  Geschichte,  Erdkunde  zu  rechnen;  keine  oder  kaum 
eine  Gefühlsbetontheit  ist  zu  verzeichnen  bei  Turnen,  Sprach- 
lehre, Naturgeschichte,  Naturlehre,  Schönschreiben,  Memorieren, 
Religionsunterricht,   Biblischer    Geschichte. 

ß)  Die  bisherige  Betrachtung  soll  durch  eine  weitere  ergänzt  werden,  die 
etwas  andere  Wege  einschlägt. 

Diese  knüpft  zimächst  an  Ausführungen  W.  Sterns  an.  Die  Beliebtheits- 
und Unbaliebtheitsurteile  scheiden  sich  deutlich  in  vier  Gruppen.  Die  erste  Gruppe 
wird  gebildet  durch  die  Fächer  mit  weit  überwiegender  Beliebtheit:  ,, positive 
Fächer";  die  letzte  Gruppe  durch  diejenigen  mit  weit  überwiegender  Unbeliebt- 
heit: ,, negative  Fächer".  Dazwischen  stehen  die  ,, indifferenten  Fächer",  welche 
weder  starke  Baliebtheits-  noch  starke  Unbgliebtsheitswerte  zeigen  und  die  „bi- 
polaren Fächer",  welche  sowohl  starke  Beliebtheits-  wie  Unbaliebtheitswerte 
zeigen  ...  Zu  den  eindeutigen  Fächern  (Gruppe  1  und  4)  rechnete  ich  stets  die- 
jenigen, bei  denen  die  vorherrschende  Richtung  mehr  als  5%  und  mindestens  den 
doppelten  Wert  der  entgegengesetzten  Richtung  betrug  ...  Zu  den  indifferenten 
rechnete  ich  alle  Fächer,  bei  denen  keine  Richtung  mehr  als  das  doppelte  des 
andern  betrug  imd  keine  den  Wert  von  10  %  überstieg .  .  Bipolar  dagegen  ist  das- 
jenige Fach,  das  nach  einer  Seite  mehr  als  10  %  imd  nach  der  andern  mehr  als 
die  Hälfte  der  überwiegenden  Seite  zeigt"^). 

Man  erkennt  sofort  die  Willkürlichkdt  der  Bestimmungen,  die  Zufälligkeit  des 
Maßes.  Besser  wird  dies,  wenn  man  den  Maßstab  aus  den  gegebenen  Verhältnissen 
heraus  folgerichtig  gewinnt.   Eine  solche  Ableitung  kann  gegeben  werden^). 

Man  nimmt  an,  es  seien  s  =  100  Schülerinnen;  diese  Annahme  macht  man,  weil 
man  ja  mit  Prozentzahlen,  also  mit  100  fingierten  Schülerinnen  rechnet.  Verhalten 
sich  diese  s  Schülerinnen  gegen  die  f  Fächer  unentschieden,  geben  aber  der  Forderung 
entsprechend  ein  Urteil  ab,  so  wären  die  einzelnen  Nennungen  Zufallsergebnisse. 
Würde  man  unter  dieser  Voraussetzung  den  Versuch  genügend  oft  wiederholen 
(theoretisch  u  =  oo  oft),  so  würde  die  Häufigkeit  der  Nennung  für  jedes  Fach  schließ- 
lich gleichgroß  werden.  Als  Gesamtzahl  der  Nennungen  für  alle  Fächer  hätten  wir 

8  '  u 

8  •  t*  und  für  jedes  einzelne  Fach  —7-  als  Häufigkeit.    Als  Durchschnittsgröße  für  einen 

8-U         8  100 

Versuch  erhalten  wir  J  =- —  =  -,  =  — ;-.     Diese  Größe   kann  man  als  Zufalls- 

f-u       f  f 

b e r e i c h  oder  Unbetontheitsbereich  betrachten .  In  den  vorliegenden  Versuchen 

ist  nun  //  =  18  (da  in  diesem  Versuch  die  Repetitionen  nicht  mitgezählt  werden 

dürfen);  fii-iv  =  19  (vom  II.  Versuch  ab  sind  die  Repetitionen  bekannt).  Es  ist  also 

j/  _  —  5,5;  Jri-iv  =  —^  =  5,3.     Der  Zufallsbereich  beträgt   also    im  I.   Ver- 
ls lo 

such  5,5  Vo;  im  II.— IV.  Versuch  5,3  «/o- 

Nim  kann  eineEingliedertmg  der  zahlenmäßig  charakterisiertenErgebnisse  (TafellO) 
in  ein  System  qualitativ  tmterschiedener  Begriffe  erfolgen. 


1)  W.  Stern,  Über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  der  Schulfächer,  Zeitschrift  für 
pädag.   Psychologie,   VII.  Jahrgang,    1905,   S.   275. 

*)  Ich  folge  nun  Entwicklungen  von  Herrn  Dr.  Deuchler  (Tübungen).  Vgl.  auch 
seine  Ausführungen  darüber  in  der  Zeitchrift  für  pädag.  Psychologie,  Bd.  17,  S.  13  ff. 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  21 


322 


Karl  Köhn 


1)  Wenn  die  Prozentzahl  der  Nennungen  der  einzelnen  Fächer  p  ^J  ist,  bei   + 
oder  — ,  so  haben  wir  ein  (  +  oder  — )  unbetontes  Fach. 

Ist  p  >  J,  so  haben  wir  ein  gefühls-  oder  wertbetontes  Fach. 

2)  Ist  p  einseitig  (  +  oder  — )  größer  als  J,  so  haben  wir  ein  einseitig  betontes  Fach 
und  zwar  ein  positives  oder  ein  negatives. 

Bei  diesen  Fächern  kann  nun  mit  Hilfe  von  J  auch  der  Grad  der  Betontheit 
ausgedrückt  werden. 

Ist  J  <.p  ^2J,  so  ist  das  Fach  schwach  positiv, 
,,  2J  <.p  ^SJ,  ,,  „  ,,  ,,  mittelstark  ,,  , 
„  dJ  <p  ^4:J,    „    „      „        „      stark  „      , 

,,     p  >.  4  J,  ,,    ,,      ,,         ,,      überstark        ,, 

Entsprechendes  gilt  für  die  negativen  Fächer. 

3.  Ist  p  beiderseitig  größer  als  J,  so  haben  wir  es  mit  zweiseitig  betonten 
Fächern  zu  tun,  diese  sind  a)  gleichseitig  betont,  wenn  1.  beide  p  >J  und  2.  inner- 
halb des  gleichen  Vielfachen  von  J  sind.  Sie  können  wieder  abgestuft  werden  nach  den 
vorhergehenden  Festsetzungen  in  gleichseitig  schwach,  mittelstark,  stark  und  über- 
dtark  betont; 

b)  ungleichseitig  betont,  wenn  1.  beide  p>  J  und  2.  der  Unterschied  beider  p 
mehr  als  J  ist.  Die  Ungleichseitigkeit  kann  sein  positiv  oder  negativ,  je  nachdem 
Pb  >•  Po.  oder  umgekehrt  ist  vmd  sie  kann  wieder  bloß  schwach,  mittel,  stark  oder  über- 
stark sein,  je  nachdem  beide  p  um  1,  2  3  und  mehr  als  drei  Vielfache  von  J^  auseinander - 
liegen. 

Nun  haben  wir  ein  absolutes  Maß,  das  von  Willkürlichkeiten  frei  ist.  Dieses 
gestattet  nun  aber  auch,  da  die  Zahl  der  in  Betracht  kommenden  Fächer  darin 
enthalten  ist,  einen  Vergleich  der  Ergebnisse  auch  der  Versuche,  in  denen  die 
Fächerzahl  nicht  dieselbe  war.  Dies  war  bisher  nicht  möglich. 

Wir  wenden  nun  diese  Festsetzmigen  auf  die  Ergebnisse  unseres  I.  Versuches 
an.   Wir  erhalten  dann  aus  Tafel  10: 

Tafel  12:  Gefühlsbetontheit  der  Unterrichtsfächer  des  1.  Versuches. 


Grad  der 
Betontheit 


unbetont 
0 


einseitig  betont 


I  positiv     negativ 


zweiseitig  betont 


gleichseitig 


positiv 

<-) 


negativ 


0.  Grad 
(unbetont) 

1.  Grad 
(schwach) 

2.  Grad 
(mittelstark) 

3.  Grad 

(stark) 

4.  Grad 

(überstark) 


Religion,  Memo- 
rieren, Bibl.  Ge- 
schiclite;  Aufsatz, 
Sprachlelire ;  Natur- 

feschichte ,   -Lehre ; 
Urnen,  Handarbeit 


[Memo- 
rieren, Bibl. 
Geschichte, 

Turnen] 


[Natur- 
gesch.] 


Singen   |     Schön- 
I  schreiben, 
Geschichte 


Konfir- 
manden- 
unterricht 


Recht- 
schreiben 


[Religion, 
iandarbeit, 

Sprach- 
lehre, 

Aufsatz] 


Zeichnen 


Lesen 


Rechnen 


Erd- 
kunde 


*)  Bei  den  zweiseitig  positiven  und  negativen  Fächern  wird   nicht    der    Grad 
der  Betontheit,  sondern  der  Grad  der  Ungleichseitigkeit  angegeben. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  323 

Es  fällt  ohne  weiteres  die  große  Zahl  der  unbetonten  Fächer  in  die  Auger ; 
es  sind  9,  also  die  Hälfte  aller  in  Betracht  kommenden  Fächer.  Darunter  sind 
drei  Rsligionsfächer  —  alle  Religionsfächer  mit  Ausnahme  von  Konfirmanden- 
unterricht— ,  zwei  Sprachfächer,  die  beiden  naturwissenschaftlichen  Fächer  und 
zwei  technische  Fächer.  Von  den  übrigen  erreichten  5  den  1.,  3  den  2.  und  nur 
eines  den  4.  Grad  der  Betontheit.  Man  darf  daher  behaupten:  die  Zahl  der 
Gefühls-  oder  wertbetonten  Fächer  ist  im  allgemeinen  niedrig, 
ein  großerTeil  der  Fächer  ist  unbetont,  verschiedene  sind  schwach, 
manche  mittelstark  betont,  nur  eine  ganz  geringe  Zahl  von  Fä- 
chern erreicht  einen  höheren  Grad  der  Betontheit;  es  scheint,  daß 
diese  vor  allem  in  die  Reihe  der  negativ  betonten  Fächer  gehören. 


Nun  wenden  wir  uns  den  in  Tafel  12  gebildeten  Fächergruppen  und  den 
einzelnen  Fächern  des  I.  Versuches  zu. 

l)  Die  unbetonten  Fächer:  Wir  haben  hier  vor  allem  Fächer,  die  nur 
gelegentlich  oder  nur  in  wenigen  Wochenstunden  erteilt  werden. 
Sprachlehre  soll  nur  gelegentlich  erteilt  werden,  sie  ist  nach  dem  Lehrplan  für  die 
württembergischen  Vollcsschulen  kein  selbständiges  Unterrichtsfach ;  für  Memorie- 
ren und  Biblische  Geschichte  stehen  zusammen  nur  2  Wochenstunden  zur  Ver- 
fügung, Turnen  wurde  in  höchstens  einer,  Religion  zurzeit  des  Versuchs  ebenfalls 
in  einer  Wochenstunde  erteilt;  Naturgeschichte  und  Naturlehre  werden  halbjährig 
im  Wechsel  je  in  zwei  Wochenstunden  erteilt.  Für  Handarbeit  stehen  vier,  für 
Aufsatz  zweieinhalb  Stunden  zur  Verfügung. 

Daraus  läßt  sich  aber  die  Unbetontheit  nicht  vollständig  erklären.  Wir  achten 
noch  auf  den  jeweils  behandelten    Stoff  u.  a. 

a)  Daß  der  Religionsunterricht  des  Geistlichen  keine  besonders  tiefe 
lebendige  Wirkung  erzielte,  zeigt  die  gänzliche  Unbetontheit.  Dies  ist  um  so  auf- 
fälliger, als  dieser  Unterricht  von  einem  Fachlehrer,  in  diesem  Fall  also  von  einem 
, »fremden"  Lehrer  erteilt  wurde  und  als  im  allgemeinen  ein  Fach,  das  von  einem 
,, fremden"  Lehrer  erteilt  wird,  häufigere  Betonung  und  zwar  meist  eine  positive 
erhält  als  eines,  das  der  Klassenlehrer  erteilt,  der  Reiz  des  Neuen,  Außergewöhn- 
lichen liegt  über  einer  solchen  Unterrichtsstunde.  Die  Art  des  Unterrichts,  be- 
sonders auch  der  etwas  „strenge  Ton",  der  in  diesen  Stunden  üblich  ist,  die  Pro- 
bleme, zu  denen  wohl  nur  wenige  ein  persönliches  Verhältnis  erhalten,  lassen  keine 
Betontheit  entstehen. 

b)  Im  Memorieren  werden  an  den  Fleiß  zu  Haase  einige  Anforderungen  ge- 
stellt; daher  entsteht  keine  positive  Wertung.  Da  es  sich  während  der  Versuche 
nur  um  die  Wiederholmig  schon  gelernter  religiöser  Sprüche  und  Lieder  handelte, 
kam  es  auch  zu  keiner  negativen .  Das  Memorieren  machte  den  Schülerinnen  keine 
besonderen  Schwierigkeiten,  die  schwäclisten  Mädchen  durften  nur  einen  Teil  des 
für  die  übrigen  in  Betracht  kommenden  Stoffes  lernen;  diese  Aufgabe  konnten 
sie  bewältigen.  Eine  Vorliebe  für  das  Auswendiglernen  religiösen  Stoffes  war 
kaum  zu  bemerken;  so  kam  es  zu  keiner  Betontheit.  Nur  ein  einziges  Mädchen 
hatte  eine  Freude  am  Aufsagen  (Betonen!). 

c)  In  der  Biblischen  Geschichte  wurde  das  Leben  Jesu  (nach  Matthäus) 
behandelt.  Die  Schülerinnen  konnten  sich  nicht  einleben  in  den  Stoff,  dazu  war 

21* 


324  Karl  Köhn 


die  Zsit  (je  etwa  ^  Stunde)  zu  kurz,  sie  wurden  nicht  warm,  daher  fehlt  die  Be- 
tontheit. Die  Aufmerksamkeit  wurde  nicht  so  lange  und  teilweise  auch  nicht  so 
stark  in  Anspruch  genommen  wie  in  anderen  Fächern  —  es  wurde  viel  gelesen  — , 
daher  kam  es  auch  nicht  zu  einer  negativen  Wertung. 

Zusammenfassend  darf  man  wohl  von  den  religiösen  Fächern  sagen:  Unter- 
richtsstoff und  häufig  auch  die  Unterrichtsform  bahnen  kein 
persönliches  Erleben,  kein  Verhältnis  zum  Ich  des  (verhältnismäßig 
jungen)  Kindes  an,   und  daher  bleiben  diese  Fächer  unbetont. 

d)  Im  Aufsatz  wurden  bis  zu  der  Zeit,  in  der  der  I.  Versuch  gemacht  wurde, 
vor  wiegend",, gebundene"  Aufsätze  geschrieben.  Für  manche  Kinder  ist  es  eine 
Erleichterung  (hierher  gehören  mittel  und  schwach  begabte),  wenn  der  Stoff  ge- 
boten wird;  nacherzählen  können  sie  schon  etwas,  selbständig  bearbeiten  kaum; 
andere  sind  in  Sorge,  sie  könnten  etwas  vergessen,  etwas  anders  schreiben  als 
gewünscht  wird;  sie  negieren  bei  der  Fächerwahl.  Im  großen  ganzen  wirken  aber 
weder  ünterrichtsform  noch  Themenwahl,  die  meist  dem  kindlichen  Denken 
wenig  entspricht,  wertbetonend  auf  das  Kind. 

e)  In  der  Sprachlehre  wurden  in  dieser  Zeit  die  verschiedenen  Wortarten  und 
Satzteile  behandelt,  der  Unterricht  wurde  etwas  formalistisch,  logizistisch 
gegeben.  Dem  Stoff  konnten  kaum  Beziehungen  zum  Schüler,  seiner  Umgebung 
und  seinem  Leben  abgewonnen  werden.  Für  logische  Unterscheidungen  und  Be- 
stimmungen lassen  sich  Kinder  in  diesem  Alter,  besonders  Mädchen,  kaum 
erwärmen. 

Diese  beiden  Sprachfächer  blieben  also  indifferent,  weil  die  Beziehung  des 
Unterrichtenden   zur    Schülerin   und  zu  ihrem   Leben   fehlte. 

f)  Naturgeschichte  wurde  in  dem  Zeitraum,  in  dem  der  I.  Versuch  durch- 
geführt wurde  und  der  ihm  unmittelbar  voranging,  nicht  erteilt.  Darin  liegt  eine 
Ursache  für  die  Unbetontheit.  Die  Stoffe,  die  vorher  behandelt  worden  waren, 
gruppierten  sich  um  den  Wald.  Diese  Lebensgemeinschaft  liegt  den  Gmünder 
Mädchen  etwas  fern.  Die  Beschreibung,  die  hier  wohl  stark  überwog,  faßt  die 
Kinder  nicht;  sie  sind  mehr  für  biologische  Verhältnisse  zu  haben.  Aber  auch 
dann,  wenn  man  darauf  eingeht,  wird  dieses  Fach  sich  keiner  besonderen  Betont- 
heit erfreuen;  das  Beobachten  liegt  den  Mädchen  nicht;  die  Beziehungen  zum 
Leben  derselben  fehlen  häufig. 

g)  Naturlehre  wurde  erteilt.  Es  handelte  sich  um  das  spezifische  Gewicht, 
den  Luftdruck  usw.,  also  um  Dinge  aus  der  Statik  und  Dynamik.  Es  sind  meist 
unanschauliche  oder  doch  wenig  anschauliche  Dinge,  die  eine  streng  logische 
Behandlang  erfordern.  Dafür  haben  Mädchen  in  diesem  Alter  kaum  Sinn.  An- 
ders würde  die  Wertung  wohl  ausfallen,  wenn  mit  anschaulicheren  Dingen,  etwa 
mit  magnetischen  und  elektrischen  Vorgängen  und  Einrichtimgen,  die  darauf  be- 
ruhen, begonnen  würde. 

Wir  sehen:  die  naturwissenschaftlichen  Fächer  sind  indifferent  —  bei 
Mädchen  —  wegen  des  teilweise  trocken-beschreibenden  —  Natur- 
geschichte — ,  teilweise  unanschaulich-logizistischen  Betriebs  — 
Naturlehre  — ,  dem  häufig  die  Beziehung  zum  Schüler  und  seiner 
Umwelt    fehlt.    Anders  könnte  die  Wertung  wohl  bei  Knaben  ausfallen. 

h)  Das  Mädchenturnen  mußte  im  Klassenzimmer  erteilt  werden.  Das  brachte 
manche  Unzuträglichkeiten.  Der  Unterrichtsstoff  war  dadurch  sehr  beschränkt, 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  326 


esunußte  häufig  dieselbe  Übung  gemacht  werden.  Es  wurde  zwar  nach  Abwechs- 
lung gesucht;  die  Hälfte  durfte  z,  B.  singen,  die  andere  turnte  darnach,  es  wurden 
Übungen  im  Gleichtakt  gemacht;  durch  das  alles  konnte  aber  keine  positive 
Betontheit  erzielt  werden. . 

i)  Handarbeit  wurde  in  wöchentlich  vier  Stunden  erteilt.  Es  scheint,  daß 
ein  so  umfassend  erteiltes  Fach  ohne  tiefergehende  Aufgaben  allmählich  imbetont 
wird,  daß  sich  die  Schülerinnen  ihm  gegenüber  allmählich  gleichgültig  verhalten. 
Ferner  scheint  es  auch,  daß  der  methodische  Unterricht  mit  seinem  Zwang,  mit 
dem  gleichförmigen  Fortschreiten  der  ganzen  Klasse,  mit  den  doch  zum  Teil  mehr 
theoretischen  Betrachtungen  das  sicher  Gefühlsbetonte  des  Tätigseins  neutralisiert. 
Dazu  kommt  wohl,  daß  die  Gmünder  Mädchen,  die  zum  großen  Teil  Arbeiter- 
familien entstammen,  keinen  Sinn  für  praktische  ,, häusliche"  Arbeiten  haben. 

Die  Einreihung  dieser  beiden  te  chnis  chen  Fächer  in  die  Gruppe  der  indifferen- 
ten steht  mit  Ergebnissen  anderer  Untersuchungen  im  Wider- 
spruch. Die  Ursache  davon  mag  zum  Teil  in  den  besonderen  Verhältnissen 
Gmünds  liegen,  teilweise  ist  sie  in  den  Eigentümlichkeiten  der  Volksschule,  viel- 
leicht der  Württembergs  im  besondern,  begründet. 

2)  Die  einseitig  betonten  Fächer:  Hierher  gehören  zwei  technische  Fächer, 
ein  sprachliches,  ein  religiöses  Fach  und  Geschichte,  zusammen  also  fünf  Fächer. 
Es  sind,  verhältnismäßig   viele   Fächer,   die   einseitig    betont  sind. 

a)  Singen  ist  positiv.  Dies  hat  verschiedene  Ursachen:  das  Stimmenmaterial 
war  ein  gutes,  ebenso  das  musikalische  Gedächtnis;  es  konnten  daher  viele  Ge- 
sänge eingeübt  und  in  ansprechender  Form  zum  Vortrag  gebracht  werden. 
Eingeübt  wurden  vor  allem  weltliche  Lieder ;  in  den  Hintergrund  traten  die  metho- 
dischen Übungen  und  die  Choräle.  Die  Umgebung  der  Schülerinnen  ist  meist 
musikalisch ;  es  wird  in  Gmünd  sehr  viel  Musik  getrieben ;  sie  erfreut  sich  im  Eltern- 
haus einer  gewissen  Wertschätzung.  Dies  alles  wirkt  wertbetonend. 

b)  Konfirmandenunterricht  wurde  neu  erteilt  von  zwei  Geistlichen,  also 
von  „fremden"  Lehrern.  Der  eine  davon  erzählte  viele  Geschichten.  Schülerinnen 
anderer  Klassen  und  anderer  Anstalten  beteiligten  sich  an  diesem  Unterricht. 
Es  ist  also  vor  allem  das  Neue,  das  positiv  wirkt.  Dazu  kommt  der  anekdotische 
Einschlag  des  Unterrichts;  man  genießt  mehr,  als  daß  man  produktiv  tätig  ist. 
Die  große  Schülerzahl  —  73  —  ist  die  Ursache,  daß  die  einzelne  Schülerin  nicht 
sehr  häufig  zum  Antworten  kommt,  daß  sie  nicht  scharf  beaufsichtigt  werden 
kann,  daß  sie  sich  gehen  lassen  kann.     Auch  dies  macht  das  Fach  beliebt. 

c)  Zu  den  negativ  betonten  Fächern  gehört  Schönschreiben.  Hier  ist  es  vor 
allem  das  Lateinschreiben,  das  das  Fach  unbeliebt  werden  läßt.  Das  Lateinschrei- 
ben setzt  erst  im  4.  Schuljahr  ein.  Die  Übungim  Deutschschreiben  ist  eine  größere, 
man  schreibt  deutsch  im  Aufsatz,  im  Rechtschreiben  usw.  Schwächeren  Kindern 
macht  daher  das  Lateinschreiben  auch  im  6.  Schuljahr  noch  Schwierigkeiten. 
Dazu  kommt  noch:  Im  Schönschreiben  müssen  die  vorgeschriebenen  Formen, 
Wörter  und  Sätze  peinlich  genau  abgeschrieben  werden;  dies  wirkt  hemmend. 

d)  Auch  Geschichte  ist  negativ.  Eine  Ursache  liegt  im  Unterrichtsstoff.  Es 
handelte  sich  in  dieser  Zeit  um  die  Ereignisse  etwa  von  1793 — 1809.  Es  sind  Stoffe, 
die  den  Schülerinnen  etwas  fern  liegen,  deren  Bedeutung  sie  nicht  ganz  erfassen. 
Dazu  kommt,  daß  in  diesem  Fach  die  Schülerinnen  die  ganze  Stunde  hindurch 
aufmerken  mußten,  daß  sie  nicht  abschweifen,  nicht  ihren  Gedanken  nachhängen 


326  Karl  Köhn 

durften;  jeden  Augenblick  kann  ein  Abschweifen  an  den  Tag  kommen.  Das  wirkt 
nicht  positiv  auf  die  Wertung. 

e)  Im  Rechtschreiben  wird  der  höchste  Grad  der  Betontheit  erreicht.  Nur  ein 
Teil  der  Schülerinnen  üb3rwand  die  Schwierigkeiten,  die  um  diese  Zeit  neu  auf- 
traten :  die  Zsichensetzung  mußten  die  Schülerinnen  selbst  finden,  schwierigere 
Wortformen  kamen  vor.  Es  wurden  von  vielen  Schülerinnen  Fehler  gemacht, 
sie  erhielten  durch  die  Verb3sserung  der  Fehler  vermehrte  häusliche  Arbeit,  die 
Minderleistung  kam  häufig  und  deutlich  zum  Ausdruck,  das  Gefühl  des  Nicht- 
genügens  entstand,  und  aus  dem  allem  folgte  eine  entschiedene  Ablehnung  dieses 
Faches. 

Es  sind  also  unter  den  einseitig  betonten  Fächern  zwei  positiv  betonte,  die  ihre 
positive  Betonung  ihrer  Neuheit  und  den  geringen  Forderungen,  die 
sie  an  die  Leistungsfähigkeit  des  Schülers  stellen,  und  der  Anregung 
aus  der  Umgebung  des  Schülers  verdanken;  es  sind  drei  negativ-betonte 
Fächer,  in  denen  besondere  Anforderungen  an  Aufmerksamkeit  und 
Fleiß   gestellt  werden. 

3)  Gleichseitig  betont  ist  Zeichnen.  Auch  hier  kommt  die  Umgebung 
in  Betracht.  In  manchen  Häusern  erreicht  die  künstlerische  Durchbildung  eine 
bedeutende  Höhe.  Der  Vater  fertigt  zu  Hause  Entwürfe,  macht  Zeichnungen  usw. 
Daraus  erhält  das  Kind  Anregungen.  Es  sieht,  daß  man  das  Zeichnen  wertet,  es 
schätzt  dieses  Unterrichtsfach  ebenfalls.  Es  sieht  aber  auch,  daß  seine  Leistimg 
hinter  der  des  Vaters  zurückbleibt.  Technische  Schwierigkeiten,  das  Mischen  der 
Farb?n  usw.  kommen  dazu  und  hemmen  ebenfalls.  Dagegen  trägt  wieder  die 
Auswahl  der  Untörrichtsgegenstände  —  Gebrauchsgegenstände,  Monogramme  — 
zur  Wertschätzung  bsi.    So  kommt  es  denn  zu  einer  zwiespältigen  Wertung. 

4)  Zweiseitig  ungleichseitig  betont  sind  drei  Fächer.  Alle  drei  stehen 
in  der  Betontheitsreihe  weit  voran. 

a)  Lesen  ist  positiv.  Es  ist  besonders  bei  schwach  begabten  Schülerinnen  be- 
liebt. Die  Fertigkeit  des  Lesens  haben  sie  sich  im  Lauf  der  Schulzeit  angeeignet; 
das  ist  etwas,  das  sie  können.  Bei  gut  begabten  Schülerinnen  spielt  der  Inhalt 
des  Stückes  und  die  Behandlung  desselben  eine  Rolle.  Sie  möchten  durch  das 
Lesen  Neues,  womöglich  „etwas  zum  Lachen"  erfahren;  lesen  kann  man,  das 
ist  ihre  feststehende  Meinung,  man  liest  nicht  mehr,  um  das  Lesen  zu  lernen,  das 
haben  höchstens  die  Schwachbegabten  nötig;  man  liest,  um  sich  zu  unterhalten; 
das  wird  erreicht,  wenn  ein  Lesestück  ein-,  höchstens  zweimal  gelesen  wird;  muß 
man  es  öfters  lesen,  dann  ist  man  verstimmt, 

b)  Rechnen  ist  ebenfalls  positiv.  Ausgeführt  wurden  einfache  Zinsrechnungen. 
Diese  sind  verhältnismäßig  leicht  verständlich;  die  Beziehung  zum  Leben  ist  sehr 
deutlich.  Sie  ließen  in  einer  Reihe  von  Schülerinnen  das  Gefühl  des  Gelingens,  des 
Könnens  entstehen.  Sie  werteten  positiv.  Es  gibt  aber  auch  eine  Anzahl  Nicht- 
mathematiker,  die  auch  den  einfachen  Schlüssen,  die  bei  den  Zinsrechnimgen 
gemacht  werden  müssen,  keine  Evidenz  abgewinnen  können.  Sie  lehnten  das 
Fach  ab.  Zu  ihnen  kamen  noch  diejenigen,  welche  Rechnen  als  Kopfrechnen  ab- 
lehnten. Ihnen  fehlte  der  Blick  für  die  Vereinfachung  der  Rechnung,  durch  die 
sie  für  das  Kopfrechnen  leicht  wurde ;  ebenso  das  Gedächtnis  mid  die  notwendige 
Konzentration,  daß  die  Ergebnisse  der  Teiloperationen  schließlich  zum  Schluß- 
ergebnis zusammengefaßt  werden  konnten. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern 


32T 


c)  Erdkunde  ist  das  einzige  zweiseitig  negativ  betonte  Fach.  Behandelt  wurde 
Asien.  Die  Schilderungen  von  Land  und  Leuten,  das  Fremdländische,  das  in 
mancher  Richtung  Anschauliche  (durch  die  Karte  unterstützt)  erregte  in  manchen 
Schülerinnen  Zuneigung.  Die  wenigen  Beziehungen,  die  dieser  Stoff  in  der  da- 
maligen Zsit  für  die  Hsimat  der  Schülerin  hatte,  bewirkte  eine  Ablehnung  bei 
andern.  Dazu  kamen  die  straffe  Form  des  Unterrichts,  die  bedeutenden  Anfor- 
derungen an  Aufmerksamkeit  und  Gedächtnis,  alles  das  trug  bei  zur  Ablehnung. 


Unsere  weitere  Betrachtung  bezieht  sich  nun  wieder  auf  alle  vier  Ver- 
suche. 

Wir  gliedern  nun  auch  die  in  Tafel  10  für  die  Versuche  II — IV  gegebene  zahlen- 
mäßig charakterisierten  Ergebnisse  in  unser  System  qualitativ  unterschiedener 
Begriffe  ein.  Wir  erhalten  dadurch  Tafel  13. 

Tafel  13:  Übersicht  über  die  Betontheit  der  Fächer  in  den  4  Versuchen^) 


Versuch 

Memo- 
rieren 

Religions- 
unterricht 

Sprach- 
lehre 

Natur- 
geschichte 

Biblische 
Geschichte 

Turnen 

Handarbeit 

Konfir- 
manden- 
unterricht 

_     

Repe- 
tieren 

I 
II 
III 
IV 

©        ©        ©        © 

©        ©        ©        © 

©       ©       ©       © 

o        ©        ©        © 

0 

(1) 

0 

0 

0 
0 

0 
0 

(4) 

-1- 

(i) 

(2) 
0 

0 

(4) 

leer 

3 
0 

0 

a 

:§:2 
^  u 


Ö 
c 

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9 

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(4) 

(1) 

(4) 

(1) 

— 

< ' ) 

(4) 

(1) 

(4) 

(1)- 

(1) 
(1) 

0 


(1) 

(1) 

0 


(1) 

0 


(i) 


(1) 

^- 

(2) 


(2) 


(1) 
(1) 


(4> 
(1) 

•l- 
(3) 

+ 
(1) 

I. 

(1) 


(-> 
(2) 

(T) 

(1) 

(1) 


(-1  > 
(2) 

<+> 
(2) 

<-> 
(2) 

(-> 
(2) 


')  Die  in  Klammern  gesetzten  Ziffern  bezeichnen  den  Grad  der  Betontheit  bzw.  der 
Ungleichseitigkeit. 


328 


Karl  Köhn 


Es  folgen  zunächst  einige  allgemeinere  Bemerkungen  über  diese  Tafel. 
Es  sind  vier  unbetonte  und  ein  negativ  einseitig  betontes  Fach,  in  dem  in  der  Art 
der  Wertbetonung  keine  Änderung  eingetreten  ist.  Dies  sind  verhältnis- 
mäßig viele  Fächer,  Bei  den  übrigen  Fächern  ist  ein  Wechsel  in  der  Betont- 
heit im  Verlauf  der  Versuche  eingetreten.  Wir  stellen  die  Fälle  in  Tafel  14  zu- 
sammen. 


Tafel  14:  Konstanz  und  Wechsel  in  der  Betontheit  der  Fächer.') 


Betontheit 

0        - 

0:  + 

0:- 

0:  = 

-:<^> 

(  +  >:<-> 

+  :-=:<  +  > 

+  :  —  :(-> 

Anzahl  der 
Fächer 

4          1 

4 

•4 

2 

1 

1 

1 

1 

Es  sind  zwölf  Fälle,  in  denen  die  Betontheit  zwischen  zwei  ,  es  ist  ein  Fall,  in 
dem  sie  zwischen  drei,  und  es  ist  ein  Fall,  in  dem  sie  zwischen  vier  verschiedenen 
Gruppen  wechselt.  Man  darf  daher  behaupten :  In  der  Art  der  Wertbeto- 
nung der  Fächer  treten  im  Lauf  der  Zeit  nur  verhältnismäßig 
geringe   Änderungen   ein. 

An  Graden  der  Wertbetonung  kommen  in  Betracht  überwiegend  der  0.,  sehr 
häufig  der  1.,  seltener  der  2.,  nur  in  außerordentlichen  Fällen  der  3.  und  4.  Grad. 
Die  Werthaltung  der  Fächer  ist  also  in  der  Klasse  im  allgemeinen 
nur  in  niederem   Grade  ausgeprägt. 

Über  die  Verteilung  der  Betontheitskategorien  in  den  vier  Versuchen  gibt 
die  folgende  Zusammenstellung  Aufschluß  (Tafel  15). 

Tafel  15:  Verteilung  der  Betontheitskategorien  in  den  4  Versuchen. 


Versuch 

0 

+ 

— 

= 

<+> 

<— ) 

I 

9 

2 

3 

1 

2 

1 

II 

7 

3 

6 

2 

1 

0 

III 

11 

2 

2 

2 

1 

1 

IV 

9 

4 

3 

2 

0 

1 

Zusammen 

36 

11 

14 

7 

4 

3 

Von  den  75  möglichen  Fällen  ist  beinahe  die  Hälfte  den  imbetonten  zuzuzählen, 
ein  Drittel  davon  entfällt  auf  die  einseitig  betonten  und  nur  ein  schwaches  Fünftel 
gehört  zu  den  zweiseitig  betonten  Fächern.  Die  Mehrzahl  der  Fälle  gehört 
also  den  unbetonten  oder  einseitig  betonten  Fächern  an. 

Die  Art  der  Verteilung  ändert  sich  von  Versuch  zu  Versuch  we- 
nig. Im  II.  Versuch  ist  die  Zahl  der  einseitig  negativ  betonten  Fälle  verhältnis- 
mäßig groß  (6);  die  Ursache  davon  ist  wohl  die  gesteigerte  Anforderung,  die  nun 
an  die  Leistungsfähigkeit  der  Kinder  gestellt  wurde.  Im  III.  Versuch  fällt  die 
Zahl  der  unbetonten  Fächer  auf  (11).  Die  Ursache  davon  liegt  in  der  Einwirkung 
des  Krieges .     Handarbeit  erreichte  den  4.  Betontheitsgrad ;  nun  sind  einer  Anzahl 


*)  0:+  bedeutet:  Wechsel  zwischen  ünbetontheit  und  einseitig  positiver  Betont- 
heit; die  andern  Zeichen  sind  entsprechend  zu  deuten. 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  329 


von  Fächern  die  positiven  Nennungen,  teilweise  auch  die  negativen  entzogen,  die 
Folge  davon  ist  das  Anwachsen  dieser  Häufigkeitszahl. 

Nun  wenden  wir  uns  noch  den  einzelnen  Fächern  zu. 

1)   Die  unbetonten  Fächer. 

a)  In  Memorieren  änderten  sich  die  Verhältnisse  über  die  Versuchs  zeit  nicht. 
Das  Neulernen,  um  das  es  sich  beim  III.  Versuch  handelt,  bringt  keine  Änderung 
in  die  Wertung.  Es  macht  den  Kindern  auf  dieser  Altersstufe  keine  größere  Mühe 
als  das  Wiederholen  von  schon  Gelerntem. 

b)  Im  Religionsunterricht  des  Geistlichen  blieben  Lehrart  und  Problem- 
stellung dieselben.  Daß  sich  der  Unterricht  dem  Neuen  Testament  zuwendet 
und  Fragen  bespricht,  die  durch  diesen  Unterrichtsstoff  angeregt  wurden,  hat 
für  die  Wertung  keine  weiterreichende  Bedeutung. 

c)  Die  Stellungnahme  zur  Sprachlehre  blieb  dieselbe.  Daß  vom  Bedeutungs- 
wandel, vom  Bildergehalt  der  Sprache,  von  Orts-  und  Personennamen  usw.  ge- 
sprochen wurde  und  daß  häufig  der  Humor  zu  seinem  Recht  kam ,  das  führte  schließ- 
lich bei  einigen  Schülerinnen  zu  einer  Bevorzugung;  die  wenigen  Nennungen  im 
III.  und  IV.  Versuch  erreichten  aber  keine  solche  Höhe,  daß  das  Fach  in  die  Gruppe 
der  positiv  betonten  Fächer  hätte  eingereiht  werden  müssen. 

d)  Naturgeschichte  wurde  in  der  Zeit,  in  der  die  Versuche  durchgeführt 
wurden,  nie  erteilt.  Dies  ist  ein  Grund,  weshalb  es  zu  keiner  Betontheit  kam.  Wäre 
das  Fach  erteilt  worden,  dann  hätte  die  Betontheit  wohl  auch  keinen  hohen  Grad 
erreicht,  denn  Stadtmädchen  verhalten  sich  diesem  Unterrichtsfach  gegenüber 
wohl  meist  indifferent. 

2.  Das  einseitig  negativ  betonte  Fach  ist  Rechtschreiben.  Hier  erreicht  die 
Betontheit  durchgängig  den  höchsten  Grad.  Die  Schwierigkeiten  werden  auch 
im  7.  Schuljahr  nicht  kleiner  (Fremdwörter!),  die  Leistungen  bleiben  hinter  den 
Forderungen  des  Lehrers  und  der  eigenen  zurück,  die  Minderleistung  wird  deutlich 
auch  von  schwach  begabten  Schülerinnen  erkannt;  alles  dies  führt  vor  allem  bei 
schwach  begabten,  aber  auch  bei  einigen  gut  begabten  Schülerinnen  zu  einer  star- 
ken Ablehnung  des  Faches. 

3)  Die  unbetont-betonten  Fächer. 

a)  Der  Umschlag  nach  der  positiven  Seite  trat  ein 

a)  in  der  Biblischen  Geschichte  im  II.  Versuch.  In  allen  übrigen  Versuchen 
war  dieses  Fach  unbetont.  Die  Gefühlswirkung  war  im  großen  ganzen  also  gering. 
Der  Umschlag  nach  der  positiven  Seite  ist  zu  erklären  teilweise  aus  dem  Unter- 
richtsstoff.—  Die  Leidensgeschichte  Jesu,  die  in  dieser  Zeit  behandelt  wurde,  ver- 
fehlte bei  einigen  Mädchen  ihre  Wirkung  auf  das  Gemüt  nicht,  —  teilweise  aus  dem 
Abflauen  des  Interesses  am  Konfirmandenunterricht.  M^  z.  B.  namite  beim  I.Ver- 
such Konfirmandenunterricht  als  beliebtestes  Fach,  im  IL  Versuch  war  dies  die 
Biblische  Geschichte,  im  III.  Handarbeit  (Krieg!),  im  IV.  wieder  Konfirmanden- 
unterricht (zur  Zeit  der  Konfirmation).  Beide  Fächer  treten  wohl  zeitweise  in 
Wettbewerb. 

ß)  In  die  Handarbeit  brachte  der  Krieg  eine  neue  sehr  stark  nach  der  positiven 
Seite  gerichtete  Wertung.  Die  Bedeutung  dieses  Faches  für  die  Unterstützung  der 
kämpfenden  Soldaten  wurde  sofort  erkannt,  teilweise  auch  von  der  Schulleitung 
hervorgehoben,  die  Schülerinnen  fühlten  sich  in  diesem  Fach  als  Mitkämpfer; 
der  Zwang  des  methodischen  Unterrichts  fiel  weg,  der  einzelnen  Schülerin  wurdr^ 


330  Kai'J  Köhn 

mehr  Freiheit  eingeräumt.  Beim  IV.  Versuch  war  der  Betontheitsgrad  ein  be- 
deutend niedrigerer  als  b^im  III.,  die  abschleifende  Wi^ung  des  nun  schon  längere 
Zsit  dauernden  Krieg5b3trieb3s  machte  sich  geltend;  der  Konfirmandenunterricht 
trat  nun  in  Wettbawerb  mit  diesem  Fach  und  nahm  eine  Reihe  positiver  Nennun- 
gen weg ;  immsrhin  ist  noch  eine  Nachwirkung  der  durch  den  Krieg  bewirkten  Ein- 
stellung zu  bsmerken. 

y)  Konfirmandenunterricht  ist  im  I.  und  IV.  Versuch  positiv  von  ziemlich  hohem 
Grad.  Während  für  den  I.  Versuch  die  Neuheit  des  Unterrichts  und  des  Lehrers 
von  größter  Bsdeutung  ist,  kommt  für  den  IV.  die  Nähe  der  Konfirmation  in 
B3tracht.  Das  Einkaufen,  Zurichten,  Anprobieren  der  Konfirmationskleider, 
das  Bsschenken  der  Freundinnen  mit  Andenken,  das  Einladen  der  Paten,  das 
Austeilen  der  Konfirmationsfragen  nimmt  um  diese  Zeit  das  Mädchen  voll  in 
Anspruch,  hebt  und  bälebt  die  im  Unterricht  betonte  Bedeutung  des  Konfirma- 
tionsaktes, mit  dem  diese  Handlungen  ja  alle  telisch  verknüpft  sind.  Daß  diese 
Dinge  für  die  Wertung  von  bssonderer  Bedeutung  sind,  folgt  daraus,  daß  in  der 
Zeit,  in  der  kein  Unterricht  erteilt  wurde  (III.  Versuch),  auch  kein  Vorzugsurteil 
gefällt  wurde  —  der  Unterricht  war  also  von  keiner  besonders  nachhaltigen  Wir- 
kung —  und  daß  in  der  Zeit,  in  der  dieser  Unterricht  nichts  ,, Neues"  mehr  war, 
nur  wenige  Bsliebtheitsstimmen  abgegeben  wurden,  obwohl  in  diesem  Fach  noch 
unterrichtet  wurde. 

6)  Singen  ist  in  drei  Versuchen  positiv.  Es  wäre  wohl  im  III.  Versuch  auch  posi- 
tiv, wenn  nicht  durch  den  Krieg  eine  Anzahl  Stimmen  der  Handarbeit  zugewendet 
worden  wären,  z.  B.  bei  Mig,  Mig,  M23.  Daß  in  der  Stadt  „des  Singens  und  Gei- 
gens"  (man  vergleiche  J.  Kerner,  Der  Geiger  zu  Gmünd)  dieses  Fach  positiv 
gewertet  wird,  ist  leicht  zu  verstehen.  Ob  die  Betontheit  in  anderer  Umgebung 
dieselbe  ist,  kann  durch  diese  Versuche  nicht  entschieden  werden;  daß  sie  nicht 
dieselbe  ist,  darf  aber  wohl  angenommen  werden. 

b)  Ein  Umschlag  nach  der  negativen  Seite  fand  statt: 

a)  im  Turnen;  dieses  Fach  ist  dreimal  unbetont  und  einmal  negativ.  Der  Um- 
schlag trat  im  II.  Versuch  ein,  weil  das  Turnen  intensiver  als  beim  I.  betrieben  wuide. 
Manche  Mädchen  fühlten  nach  dem  Turnunterricht  eine  gewisse  Ermüdung, 
Schmerzen  in  den  Gliedern  usw.  Die  körperliche  Anstrengung  wujde  von  den  etwaa 
weichlichen  Mädchen  unangenehm  empfunden,  so  entstand  die  Ablehnung.  Diese 
Verstimmung  hielt  nicht  an.  Im  III.  und  IV.  Versuch  war  der  Turnunterricht 
eingestellt,  nun  wurde  das  Fach  wieder  unbetont, 

ß)  Re Petitionen,  d.  h.  Prüfung« aufgaben  vor  allem  in  Erdkunde  und  Ge- 
schichte, waren  den  Schülerinnen  beim  I.  Versuch  noch  nicht  bekannt.  Sie  durften 
daher  dort  auch  nicht  gezählt  werden.  Beim  II.  Versuch  hatten  sie  stark  einge- 
setzt. Die  Leistung  der  einzelnen  Schülerin  war  nach  der  Zahl  der  richtig  gelösten 
Aufgaben  leicht  zu  beurteilen ;  sie  blieb  oft  hinter  den  Erwartungen  zurück.  Die 
Vorbereitung  auf  die  Prüfung  brachte  manche  Arbeit  und  Aufregung.  Alles  dies 
machte  die  Repetitionen  unbeliebt.  Beim  III.  Versuch  waren  sie  etwas  Gewohntes, 
sie  kamen  nicht  mehr  so  zahlreich,  beim  IV.  hörten  sie  ganz  auf;  nun  wurde  die 
Einstellung  eine  indifferente. 

y)  In  der  Naturlehre  wird  aus  der  ursprünglichen  Gleichgiltigkeit  eine  Ab- 
lehnung. Die  großen  Anforderungen,  die  durch  dieses  Fach  an  die  Aufmerksam.- 
keit  gestellt  werden,  das  anhaltende  logische  Durchdenken  dieser  Sache  machen 


über  Beliebtheit  und  Unbeliebtheit  von  Unterrichtsfächern  33 1 


das  Fach  unbeliebt.  Diese  Unbpliebtlieit  verschwindet,  wenn  durch  den  Unter- 
richtsstoff (elektrische  und  magnetische  Erscheinungen)  das  gegenständliche 
Interesse  erregt  und  der  Anschaulichkeit  mehr  Rechnung  getragen  wird. 

(5)  Im  Schönschreiben  wird  die  anfängliche  negative  Wirkung  zur  indifferen- 
ten. Man  sieht  an  dem  Umschlag  der  Wertung  deutlich,  wie  die  Fertigkeit  im 
Lateinschreibsn  immer  mehr  zunimmt  und  schließlich  als  vollständig  genügend 
empfunden  wird. 

c)  Zu  gleichzsitig  betonten  wurden  zwei  Fächer. 

a)  Zeichnen  wurde  bsim  II.  Versuch  indifferent.  Die  Schwierigkeiten,  die  durch 
das  Mischen  der  Farben,  die  Wahl  des  zu  zeichnenden  Gegenstandes  usw.  ent- 
standen, waren  nun  überwunden;  die  negativen  Stimmen  fielen  weg.  Das  längere 
Verweilen  bei  demselben  Gegenstand  oder  bei  ähnlichen  wirkte  andererseits  ver- 
stimmend; von  den  positiven  Stimmen  fielen  auch  welche  weg.  Beim  IJI.  Versuch 
hatte  das  perspektivische  Zeichnen  eingesetzt.  Das  brachte  für  manche  Schwierig- 
keiten, für  andere  Neues,  das  reizte;  der  Krieg  ließ  die  ausein anderstrebende 
Stimmung  nicht  voll  zum  Durchbruch  kommen.  Beim  IV.  Versuch  war  die 
bindende  Wirkung  des  Krieges  nicht  mehr  so  stark.  Es  durften  nun  selbstgewählte 
Gegenstände  (patriotische  u.  a.)  gezeichnet  werden.  Diese  Probe  auf  das  Können 
führte  zu  einer  verhältnismäßig  häufigen,   aber  auseinandergehenden  Wertung. 

ß)  Irn  Aufs  atz  kommt  es  nach  dem  I.  Versuch  zu  einer  gleichbleibenden  gleich- 
seitigen Betontheit  vom  1.  Grad.  Ohne  Zweifel  ist  dies  die  Folge  des  ,, freien 
Aufsatzes".  Nun  handelt  es  sich  nicht  mehr  bloß  um  Wiedergabe,  sondern  um 
Gestaltung  eines  Stoffes,  um  eine  gewisse  Selbsttätigkeit  und  Freitätigkeit.  Dies 
ist  manchen  Schülerinnen  erwünscht,  andere  aber  empfinden  die  neuen  Schwierig- 
keiten und  sind  verstimmt.  Der  ,, freie  Aufsatz"  versucht  also  die  Betontheit, 
er  trennt  aber  auch  in  der  Wertung. 

4)  Das  einzige  von  negativ  zu  positiv  ungleichseitige  umschlagende  Fach 
ist  die  Geschichte.  Dieses  Fach  ist  in  drei  Versuchen  negativ,  DenMädchen  sind 
Kriegsgeschichte  (vor  dem  Krieg),  Kulturgeschichte  mit  Bürgerkunde  verhaßt; 
sie  sehen  keine  Beziehungen  zum  Leben,  fühlen  sich  zu  sehr  durch  den  Unterricht 
angestrengt.  Der  Krieg  bringt  in  diese  Wertung  eine  Änderung;  auch  der  Unter- 
richtsstoff, der  Krieg  1870/71  trägt  dazu  bei.  Beim  IV.  Versuch  hat  der  Krieg 
seine  umwertende  Kraft  verloren,  der  Konfirmandenm  terricht  nimmt  positive 
Nennungen  weg,  der  Unterrichtsstoff  nimmt  das  gegenständliche  Interesse  nicht 
mehr  gefangen ;  es  kommt  wieder  zur  negativen  Wertung. 

5)  Im  Rechnen  wird  vom  III.  Versuch  an  die  negative  Betonung  herrschend. 
Man  sieht  daran,  wie  allmählich  die  Anforderungen  steigen,  die  Leistungen  ent- 
sprechend geringer  werden.  Dies  hängt  mit  der  Art  der  Aufgaben  zusammen. 
Die  Teilungs-  und  Vielsatzrechnungen  sind  eben  viel  schwieriger  als  die  (leichteren) 
Zinsrechnungen . 

6)  Drei  Betontsheitsgruppen  gehört  Lesen  an.  Die  Betontheitszahl  nimmt  im 
allgemeinen  mehr  und  mehr  ab.  Die  Schüler  wenden  sich  im  III.  und  IV.  Versuch 
anderen  Fächern  zu.  Im  II.  Versuch  ist  die  positive  Betontheit  von  ziemlich  hohem 
Grad;  es  werden  eben  lange  Lesestücke  nur  ein-  bis  zweimal  gelesen. 

7)  Vier  Betontheitsgruppen  gehört  die  Erdkunde  an.  Sie  ist  im  II.  Versuch 
nicht  mehr  so  stark  betont  wie  im  I.,  denn  der  behandelte  Gegenstand,  A^ien,  hat 
seinen  Reiz  der  Neuheit  und  das  Abschreckende  der  Unbekanntheit  und  Schwierig- 


332  Erich  Stern 


keit  verloren.  Im  III.  Versuch  tritt  eine  Steigerung  der  positiven  Nennungen  ein; 
der  Krieg  hat  die  Augen  geöffnet  für  die  Bedeutung  der  Erdkunde ;  die  deutschen 
Kolonien  werden  als  Heimatkunde  im  weiteren  Sinn  aufgefaßt;  das  Hemmende 
wird  nicht  so  empfunden  wie  b^im  II.  Versuch.  B^im  IV.  handelt  es  sich  um  Wirt- 
schafts-, Verkehrs-  und  mathematische  Geographie,  das  sprichtMädchen  nicht  an, 
das  liegt  ihnen  nicht,  daza  kommt  noch  die  Konfirmation,  dieablenkt,  so  kommt  es 
schließlich  zu  einer  negativen  Wertung. 


Bemerkungen  zur  Frage  der  „Begabtenauslese**. 

Von  Erich  Stern. 

Es  liegt  im  Interesse  einer  jeden  Gemeinschaft,  daß  jede  Stellung  mit  einem 
geeigneten  Menschen  besetzt  wird,  und  daß  ein  jeder  zu  einer  seinen  Kräften 
und  Fähigkeiten  entsprechenden  Stellung  gelangen  kann :  die  Tüchtigsten  und 
Befähigtsten  müssen  zu  den  höchsten  und  verantwortungsreichsten  Stellen 
empordringen  können.  Nun  ist  aber  gerade  für  die  höheren  Berufe  auch 
eine  besondere  Schulbildung  erforderlich,  und  auch  das  Fortkommen  in  man- 
chem anderen  Beruf,  so  vor  allem  in  Industrie  und  Technik,  hängt  in  hohem 
Maße  von  den  auf  der  Schule  erworbenen  Kenntnissen  ab.  Es  muß  daher 
durchaus  begrüßt  werden,  daß  eine  Reihe  von  Städten  besondere  Einrichtungen 
getroffen  haben,  um  den  begabten  Volksschülern  den  Aufstieg  zu  ermöglichen. 
Die  Wege,  die  zu  diesem  Zweck  eingeschlagen  worden  sind,  sind  verschieden 
Handelt  es  sich  in  Berlin  darum,  die  Kinder  in  das  Gymnasium  oder  in  die 
Realschule  überzuführen,  so  sollen  sie  in  Hamburg  nur  in  eine  neunklassige 
Volksschule,  in  der  sie  in  den  fremden  Sprachen  unterrichtet  werden,  unter- 
gebracht werden.  Dafür  ist  die  Zahl  der  für  die  Begabtenschule  in  Hamburg 
in  Betracht  kommenden  Kinder  eine  wesentlich  größere  als  in  Berlin.  Auf 
die  näheren  Einzelheiten  kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 

Es  war  von  vornherein  zu  erwarten,  daß  die  Anzahl  der  Bewerber  die 
Zahl  der  verfügbaren  Stellen  bei  weitem  überschreiten  muß:  in  Berlin  kann 
nur  ein  sehr  geringer  Prozentsatz  der  Kinder  aufgenommen  werden,  in  Hamburg 
ist  es  so  geregelt,  daß  2/3  der  gemeldeten  Kinder  der  erweiterten  Volksschule 
zugeführt  werden.  Daß  man  sich  bei  der  Auswahl  der  Kinder  nicht  lediglich 
auf  das  Urteil  der  Lehrer  verlassen  kann,  haben  Moede  und  Piorkowski 
und  ebenso  auch  Stern  gezeigt;  aber  es  erwies  sich  auch  als  nicht  angängig, 
die  Aufnahme  lediglich  von  einer  gewöhnlichen  Schulprüfung  abhängig  zu 
machen.  Nun  hat  sich  die  experimentelle  Psychologie  schon  lange,  seit 
Binet  und  Simon  besonders,  damit  beschäftigt,  Methoden  zur  Untersuchung 
der  Intelligenz  auszuarbeiten  und  es  erschien  daher  als  das  Gegebenste,  bei 
der  Auswahl  der  zuzulassenden  Schüler  sich  dieser,  von  der  experimentellen 
Psychologie  ausgebildeten  Methoden  zu  bedienen.  Soweit  bisher  bekannt 
geworden  ist,  haben  sich  die  angewandten  Prüfungsverfahren  in  Berlin  (Moede 
und  Piorkowski)  aufs  beste  bewährt,  und  die  Kinder,  welche  in  der  auf 
Grund  der  Prüfungsergebhisse  aufgestellten  Rangordnung  die  ersten  bezw. 
letzten  Plätze  einnahmen,  kamen  auch  in  der  Schule  am  besten  bezw.  am 
schlechtesten  mit,  und   damit  ist  der  Beweis  für  die  Brauchbarkeit  der  an- 


Bemerkungen  zur  Frage  der  „Begab tenauslese"  333 


gewandten  Methoden  erbracht.  Allerdings  ist  die  Zeit,  die  zwischen  der 
Prüfung  und  den  Angaben  der  Lehrer  über  die  Leistungen  der  Kinder  liegt, 
noch  zu  kurz,  um  ein  abschließendes  Urteil  zu  gestatten.  Wir  wollen  uns 
aber  in  den  folgenden  Erörterungen  auf  den  Standpunkt  stellen,  daß  die 
Moede-Piorkowski'schen  Methoden  sich  auch  bei  weiteren  Nachprüfungen 
voll  bewähren.  Trotzdem  kann  man  nicht  umhin,  einige  prinzipielle  Einwände 
nicht  so  sehr  gegen  ihre  Methode  als  gegen  das  ganze  Problem  der  Begabten- 
auslese  überhaupt  zu  machen. 

Vergleicht  man  zunächst  die  Methoden  von  Moede  und  Piorkowski  mit 
denen  von  Stern,  so  scheint  mir  der  durchgreifendste  Unterschied  darin  zu 
bestehen,  daß  Stern  ein  bedeutend  größeres  Gewicht  auf  die  Beobachtungen 
der  Lehrer,  welche  die  Kinder  bis  dahin  unterrichtet  haben,  legt  als  die  beiden 
anderen  genannten  Autoren.  Geschieht  das  nun  mit  Recht?  Die  Berliner 
Untersuchungen  wurden  an  drei  aufeinander  folgenden  Tagen  angestellt,  man 
kann  also  sagen,  daß  die  Kinder,  selbst  wenn  sie  am  ersten  Tage  befangen 
und  aufgeregt  waren,  sich  an  den  folgenden  Tagen  den  Verhältnissen  der 
Prüfung  angepaßt  haben  müßten.  Das  erscheint  aber  nicht  ganz  berechtigt. 
Wer  selbst  Examina  gemacht  hat,  die  sich  über  viele  Tage,  ja  Wochen  hin- 
zogen, weiß,  daß  die  Spannung  durchaus  nicht  abzunehmen  braucht,  ja 
sich  sogar  steigern  kann.  Es  sind  nicht  immer  die  schlechtesten  Schüler,  die 
wenigst  Begabten,  die  bei  Prüfungen  versagen.  Das  Seelenleben  des  Menschen 
verläuft,  wenn  wir  uns  so  ausdrücken  dürfen,  nicht  in  einer  geraden  Linie; 
gewisse  klinisch  beobachtbare  psychische  Störungen  (ich  denke  hier  vor  allem 
an  die  zyklotomen  Seelenstörungen)  stellen  nur  die  ins  Pathologische  gestei- 
gerte Verlaufsform  des  normalen  Seelenlebens,  das  bei  allen  Menschen  starken 
Schwankungen  unterliegt,  dar.  Was  jede  psychologische  Untersuchung  er- 
gibt, ist  ein  Querschnitt,  und  da  wir  ja  die  Dispositionen  (und  um  solche 
handelt  es  sich  doch  bei  der  Untersuchung  der  Befähigung)  nie  direkt  unter- 
suchen, sondern  immer  nur  aus  den  vorliegenden  Leistungen  erschließen 
können,  so  entspricht  das  Bild,  das  wir  uns  von  der  Befähigung  eines  Schülers 
nach  der  Prüfung  machen,  in  gewissem  Sinne  stets  seinen  momentanen 
Leistungen.  Diese  sind  aber  nicht  nur  durch  die  für  sie  speziell  maßgeben- 
den Dispositionen  bedingt,  vielmehr  gehen  in  sie  auch  eine  ganze  Reihe  an- 
derer psychischer  Funktionen  mit  ein,  so  vor  allem  affektive  Momente,  die 
sich  einer  experimentellen  Prüfung  so  gut  wie  vollkommen  entziehen.  Gerade 
bei  beson  ders  begabten  Menschen  sind  nun  oft  die  Schwankungen  des  Gefühls- 
lebens sehr  stark  ausgeprägt  —  ich  erinnere  nur  an  Goethe,  der  ausgesprochen 
zyklotym  veranlagt  war  —  und  wenn  wir  nun  ein  Kind  in  einer  mehr 
depressiven  Phase  (womit  nicht  gesagt  sein  soll,  daß  diese  krankhaft  sein 
muß)  untersuchen,  so  werden  seine  Leistungen  schlecht  sein,  wir  werden 
uns  von  seiner  Leistungsfähigkeit  ein  ganzes  falsches  Bild  machen,  trotzdem 
das  Kind  gut,  ja  hervorragend  veranlagt  sein  kann.  Aus  diesem  Grunde  er- 
scheint es  durchaus  notwendig,  auch  die  Beobachtung  der  Lehrer,  die  das 
Kind  monatelang,  oft  jahrelang  kennen,  mit  heranzuziehen.  Allerdings  er- 
gibt sich  hier  die  Schwierigkeit,  wie  man  die  Ergebnisse  dieser  Beobachtungs- 
bogen zahlenmäßig  verwerten  soll.  Das  erscheint  aber  auch  durchaus  nicht 
erforderlich;  vielmehr  halte  ich  es  nur  für  notwendig,  die  Aufzeichnungen 
dieses  Beobachtungsbogens  in  den  Fällen  mit  heranzuziehen,  wo  sich  auf- 
fallende Unterschiede  zwischen  dem  Ausfall  der  Prüfung  und  den  früheren 


334  Erich  Stern 


Schulleistungen  ergeben.  Moede  und  Piorkowski  haben  sich  über  die 
Kinder  dadurch  ein  eigenes  Urteil  zu  verschaffen  versucht,  daß  sie  längere 
Zeit  mit  ihnen  in  dem  Schülerheim  Wendlitzsee  verbrachten;  ob  diese  Be- 
obachtung ausreichend  ist,  möchte  ich  hier  nicht  entscheiden;  sie  wird  aber 
nicht  in  allen  Fällen  durchführbar  sein.  Übrigens  sollen,  wie  Stern  mitteilt, 
in  Zukunft  auch  in  Berlin  neben  den  Testprüfungen  Beobachtungsbogen  ver- 
wandt werden. 

Von  größerer  Bedeutung  scheint  mir  ein  zweiter  Einwand  zu  sein,  der  sich 
mehr  gegen  die  Begabtenauslese  ganz  allgemein  richtet.     Ein  französischer 
Schriftsteller  hat  einmal  gesagt,  es  sei  doch  auffallend,  daß  es  in  Paris  so  viele 
kluge  Kinder  und  so  wenig  gescheite  Erwachsene  gebe.     Diese  Bemerkung 
ist  meines  Erachtens  von  prinzipieller  Bedeutung.     Man  erlebt   es  ja  nicht 
allzu  selten,  daß  Kinder,  die  sich  früh  entwickelt  haben,  die  zu  den  Wunder- 
kindern rechneten  und  von  denen  man  sich  ganz  besonders  viel  versprach, 
plötzlich  nachlassen,  versagen  und  auf  den  Durchschnitt  oder  unter  den  Durch- 
schnitt herabsinken.     Das  Alter,  in  dem  die  untersuchten  Kinder  stehen,  ist 
noch   zu  jung,    um  irgendwelche   sicheren  Schlüsse  auf   die  ganze   spätere 
Entwicklung  zuzulassen.     Mit  dem  Eintritt  der  Pubertät  macht  der  mensch- 
liche Organismus  gewaltige  Verändei-ungen  durch,  die  auch  auf  das  psychische 
Verhalten  und  die  Leistungsfähigkeit  nicht  ohne  Einfluß  sind.    Das  Pubertäts- 
alter ist  zweifellos,  und  zwar  bei  beiden  Geschlechtern,  ein  gefährliches  Alter, 
eine  Klippe,  an  der  mancher  hoffnungsvolle  junge  Mensch  scheitert.    Worin 
die  Ursache  für  diesen  Umschwung  des  Näheren  zu  suchen  ist,  das  entzieht 
sich  einstweilen  unserer  Kenntnis,  möglich,  daß  es  sich  um  Einflüsse  irgend- 
welcher innersekretorischer  Stoffe  auf  das  Zentralnervensystem  handelt;  so 
viel  steht  aber  mit  Sicherheit  fest,  daß  zur  Zeit  der  Pubertät  eine  tiefgreifende 
Wandlung  des  ganzen  psychischen  Verhaltens  auftreten  kann  und  in  nicht 
wenigen  Fällen  auch  auftritt.     Wohl  jedem  von  uns   sind  aus  der  eigenen 
Schulzeit  her  Mitschüler  in  der  Erinnerung,  die  bis  zu  einer  gewissen  Stufe 
zu  den  ersten  gehörten,  um  dann  plötzlich  zu  versagen;  mancher  wurde  dann 
noch  gerade  so  von  Klasse  zu  Klasse  mitgeschleppt,  mancher  aber  kam  über- 
haupt nicht  mehr  vorwärts  und  mußte  schließlich  die  Schule  verlassen.  Hervor- 
gehoben  sei,  daß   sich   auch   auf   dieser  Altersstufe  ausgesprochene  geistige 
Störungen  entwickeln  können,  so  vor  allem  die  Dementia  praecox,  eine  häufige, 
in  das  ganze  Wesen   der  Persönlichkeit  tief  eingreifende,   sie  erschütternde 
Erkrankung.    Andererseits  kann  man  es  aber  auch  nicht  selten  erleben,  daß 
Kinder,  die  schlecht  gelernt  haben,  kaum  mitgekommen  sind,  mit  dem  Eintritt 
der  Pubertät,  die  auch  den  Eintritt  neuer  Motive  in  das  seelische  Leben  be- 
deutet,  einen  bis  dahin  nie  bewiesenen  Eifer,   ein  Streben  zeigen,   das  nun 
auch  ihre  Anlagen,   die  bis  dahin  durch  die  Stumpfheit  und  Trägheit  ver- 
deckt waren,  zum  Vorschein  kommen.    Ich  führe  alle  diese  Dinge  an,  nicht 
weil  ich  zeigen  will,  daß  eine  Auslese  der  Begabten  falsch  ist  —  ich  möchte 
nicht  mißverstanden  werden  —  sondern  nur,  um  darauf  hinzuweisen,  daß 
dieser  Begabtenauslese  schwere  Mängel  anhaften,  die  man  kennen  muß,  wenn 
man  später  nicht  enttäuscht  werden  will;  und  das  wird  meiner  Ansicht  bei 
manchen  der  für  die  Begabtenschule  ausgelesenen  Kinder  zweifellos  eintreten. 
Andererseits  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß  doch  manchem  Kinde  Unrecht 
geschieht,  und  daß  auch  für  das  spätere  Alter  noch  Möglichkeiten  eines  Auf- 
stiegs geschaffen  werden  müssen,  etwa  in  der  Art,  daß  man  auch  den  Fort- 


Bemerkungen  zur  Frage  der  „Begabtenauslese"  335 

bildungsschulen  Förderklassen  angliedert,  welche  besonders  befähigten  Hand- 
werkslehrlingen und  Gesellen  die  Möglichkeit  verschaffen,  sich  auf  den  Be- 
such von  technischen  Lehranstalten  vorzubereiten,  damit  gerade  der  Technik 
möglichst  viele  hervorragende  Kräfte  zugeführt  werden,  die  ein  Handwerk 
von  Grund  auf  verstehen,  und  mit  diesen  und  besonderen  wissenschaftlichen 
Kenntnissen  ausgerüstet,  unseren  Handel  und  unsere  Industrie  fördern  können. 

Und  damit  komme  ich  auf  einen  weiteren  Einwand  gegen  die  Begabten- 
auslese.  Es  werden  viel  zu  sehr  allgemein  logische  Funktionen  geprüft,  und 
viel  zu  wenig  die  besonderen  Begabungen  der  Kinder.  Zwar  haben  auch 
Moede  und  Piorkowski  einige  Tests  eingeschaltet,  welche  die  technische 
Begabung  der  Kinder  zu  beurteilen  gestatten.  Aber  einmal  verschwinden 
diese  gegenüber  der  großen  Anzahl  der  anderen  Tests,  und  dann  wurde 
ihnen  eine  besondere  Bedeutung  für  die  Beurteilung  einer  speziellen  Befähigung 
nicht  beigemessen.  Außerdem  ist  für  das  Fortkommen  im  Leben,  und  das 
dürfen  wir  doch  nicht  vergessen,  daß  es  sich  in  letzter  Linie  darum  handelt, 
nicht  nur  eine  theoretische,  sondern  auch  eine  praktische  InteUigenz  erforder- 
lich. Deshalb  sollte  die  Prüfung  durch  Methoden  ergänzt  werden,  die  auch 
eine  Beurteilung  dieser  ermöglichen.  Derartige  Tests  können  aber  so  gewählt 
werden,  daß  sie  gleichzeitig  einen  gewissen  Einblick  in  die  technische  Be- 
gabung der  Kinder  gewähren;  weitere  Tests  müßten  diese  besonders  zum 
Gegenstand  der  Untersuchung  machen.  Es  ist  ja  doch  bekannt,  daß  manche 
Kinder  absolut  keine  Sprachen  lernen  können  und  deshalb  in  unseren  höheren 
Schulen  vollkommen  scheitern,  daß  sie  aber  ein  ausgezeichnetes  technisches 
Verständnis  besitzen.  Solche  Kinder  könnte  man  dann  frühzeitig  besonderen 
Schulen  überweisen,  die  ihnen  Gelegenheit  geben,  gerade  diese  Seiten  ihrer 
Befähigung  weiter  zu  entwickeln.  Das  würde  von  allergrößter  Wichtigkeit 
sein ;  hier  läge  auch  eine  besondere  Aufgabe  von  Förderklassen,  welche  den 
gewerblichen  Fortbildungsschulen  anzugliedern  wären.  Gerade  jetzt  nach  dem 
Kriege  wird  der  Bedarf  an  tüchtigen  Technikern  besonders  groß  sein,  und 
die  Bedingungen  des  Fortkommens  sind  hier  sicher  günstigere  wie  in  den 
meisten  akademischen  Berufen.  Und  diesen  Gesichtspunkt  dürfen  wir  nicht 
unterschätzen. 

Je  mehr  sich  die  Berufspsychologie,  die  ja  gerade  jetzt  im  Kriege,  nicht 
zum  mindesten  auch  durch  die  Verdienste  von  Moede  und  Piorkowski 
einen  ungeahnten  Aufschwung  genommen  hat  und  weiter  nehmen  wird,  je 
mehr  wir  ein  Verständnis  davon  gewinnen,  welche  psychischen  Funktionen 
für  bestimmte  Berufe  erforderlich  sind,  um  so  mehr  können  wir  bei  der  Aus- 
bildung differenzieren.  Allerdings  wird  diese  Differenzierung  immer  erst  in 
einem  späteren  Alter  einzutreten  haben,  wenn  die  ganze  Entwicklung  der 
Persönlichkeit  schon  in  festere  Bahnen  gekommen  ist.  Dann  werden  die  Erfolge 
steigen ;  so  viel  aber  steht  fest,  daß  wir  trotz  aller  Mängel,  die  der  Begabten- 
auslese  heute  noch  —  und  teilweise  vielleicht  überhaupt  —  anhaften,  auf 
dem  einmal  beschrittenen  Wege  fortfahren  müssen.  Wir  wollen  aber  darüber 
nicht  die  Sorge  für  die  Minderbefähigten  vergessen,  die  unserer  Hilfe  bedürfen. 
Auch  hier  ist,  wie  ich  an  anderer  Stelle  zu  zeigen  hoffe,  noch  manches  zu 
bessern,  und  auch  hier  leistet  uns  die  experimentelle  Psychologie  wertvolle 
Dienste  zu  einer  gerechten  Beurteilung  und  zu  einer  richtigen  Beratung  und 
Fürsorge,  die  in  gleichem  Maße  im  Interesse  des  Staates  sowie  des  Indi- 
viduums liegt. 


336  Literaturbericht 


Literaturbericht. 

Die  kindliche  Phantasie. 

Sammelbericht. 
Von  Ingeborg  Schönfeld. 

Das  Problem  der  kindlichen  Phantasie  wird  behandelt  in  Verbindung  mit  dem 
Gesamtaeelenleben  des  Kindes  bei  Ernst  Meumann*),  Paola  Lombroso'^),  William 
Stern^)  und  Karl  Groos*).  Als  besonderes  Kapitel  der  schöpferischen  Phantasie 
bespricht  Ribot'*)  die  Phantasie  des  Kindes.  Queyrat')  weist  den  Anteil  auf,  den 
die  Phantasie  am  kindlichen  Spiel  hat.  Valentiner'')  und  Lobsien')  prüfen  die 
Phantasie  des  Kindes  auf  Grund  seines  Aufsatzes.  Über  die  Methoden  zur  Er- 
forschung und  Beschreibung  der  Phantasie  finden  sich  Angaben  bei  A.  Fischer») 
und  in  der  oben  erwähnten  Arbeit  von  Meumann. 

Material  aus  neuen  Untersuchungen  und  spezielle  Problemstellungen  findet 
man  in  der  Zeitschrift  Kind  und  Kunst  ^°),  bei  Dyroff ")  und  bei  Giese*^).  Endlich 
sei  noch  genannt  Meumann :  Neuere  Ansichten  über  die  Phantasie  des  Kindes ") 
als  eine  Auseinandersetzung  des  Verfassers  mit  der  Auffassung,  die  Wundt  in  seiner 
Völkerpsychologie  von  der  Phantasie  vertritt. 

Meumann  zeigt  in  seinem  Aufsatze"),  daß  im  heutigen  wissenschaftlichen  Ge- 
brauche das  Wort  „Phantasie"  in  zwei  Bedeutungen  gefaßt  wird.  Für  eine  Gruppe 
von  Psychologen  wird  Phantasie  fast  synonym  mit  Vorstellung  überhaupt,  so  daß 
Phantasie  für  sie  jede  Art  von  gestaltender  und  bildender  Tätigkeit  ist,  die  über 
das  passive  Reproduzieren  von  Sinneseindrücken  herausgeht.  „Für  diese 
Psychologen  steht  es  dann  von  vornherein  fest,  daß  die  Abgrenzung  eines  spezielleren 
Phantasiebegriffs,  durch  welche  wir  eine  besondere  Gruppe  oder  Klasse  geistiger 
Vorgänge  innerhalb  der  übrigen  intellektuellen  Prozesse  unterscheiden  können, 
unmöglich  ist."  Gerade  um  die  Abgrenzung  des  Phantasiebegriffs  zur  Schaffung 
eines  wissenschaftlich  brauchbaren  terminus  technicus  bemüht  sich  die  andere 
Gruppe.  Damit  hängt  der  verschiedene  Bedeutungsgrad  zusammen,  den  die  Psycho- 
logen den  kindlichen  Phantasieleistungen  zubilligen.  Die  einen  neigen  dazu,  alle 
Äußerungen  des  kindlichen  Seelenlebens  als  Phantasie  aufzufassen  und  dement- 
sprechend der  Phantasie  die  Hauptrolle  im  Seelenleben  des  Kindes  zuzuschreiben. 
Sie  bezeichnen  das  Kindesalter  geradezu  als  das  Alter  der  Phantasie  und  sprechen 
von  der  Unbegrenztheit  und  Fülle  der  kindlichen  Phantasie,  die  die  der  Erwachsenen 
weit  übertreffe.  Andre  Forscher  sind  der  Meinung,  daß  das,  was  man  gemeinhin 
Phantasie  des  Kindes  nennt,  nicht  als  Phantasieleistung  anzusprechen  sei,  daß  die 

*)  E.  Meumann:  Vorlesungen  zur  Einführung  in  die  experimentelle  Pädagogik 
und  ihi'e  psychologischen  Grundlagen.    Bd.  L    Leipzig  1907. 

^)  P.  Lombroso:  Das  Seelenleben  der  Kinder;  deutsch  von  Helene  Goldstein. 

^)  W.  Stern:  Die  Psychologie  der  frühen  Kindheit.     Leipzig  1914. 

*)  Karl  Groos:  Das  Seelenleben  des  Kindes.     Berlin  1911. 

*)  Th.  Ribot :  Die  Schöpferkraft  der  Phantasie  (L'Imagination  Cröatrice)  Bonn  1901. 

•^)  Queyrat:  Le  Jeu  des  Enfants.    Paris  1905. 

'')  Th.  Valentiner:  Die  Phantasie  im  freien  Aufsatze  der  Kinder  und  Jugend- 
lichen.    Beihefte  zur  Zeitschr.  f.  angewandte  Psychologie.    Leipzig  1916. 

®)  M.  Lobsien:  Über  die  Phantasie  des  Kindes.  Pädagogisches  Magazin;  Heft  393. 
Langensalza  1910. 

*)  A.  Fischer:  Methoden  zur  experimentellen  Untersuchung  elementarer  Phan- 
tasieprozesse.    Zeitschr.  f.  pädagogische  Psychologie.    Leipzig. 

»°)  Kind  und  Kunst.     Illustrierte  Monatshefte,  Bd.  1—3.     Berlin  1906—1909. 

")  A.  Dyroff:  Über  das  Seelenleben  des  Kindes.    2.  Aufl.  Bonn  1911. 

")  Giese :  Das  freie  literarische  Schaffen  bei  Kindern  und  Jugendlichen,  2.  Teil. 
Beihefte  zur  Zeitschr.  f.  angewandte  Psychologie,  Leipzig  1914. 

**)  Zeitschrift  für  experimentelle  Pädagogik,  VI.  Bd.  Leipzig  1908. 

")  a.  a.  O.  S.  111. 


Literaturbericht  337 


kindlichen  Phantasievorstellungen  im  echten  und  engeren  spärlich  und  dürftig 
seien,  wenn  auch  —  das  wird  stets  eingeräumt  —  die  Phantasie  alle  übrigenSeelen— 
tätigkeiten  des  Kindes  in  hohem  Maße  beeinflußt.  Gewöhnlich  findet  man  beide 
Auffassungen  mit  und  nebeneinander. 

Meuraann  grenzt  in  seinen  Vorlesungen *)  den  Bereich  der  Phantasie  ab  von 
der  Sphäre  des  Erinnerungslebens.  Die  Phantasievorstellungen  unterscheiden 
sich  von  den  Erinnerungsvorstellungen  dadurch,  daß  sie  1.  nicht  dem  Zwecke  der 
Erinnerung  dienen,  2.  nicht  den  Charakter  des  beziehenden  Denkens  besitzen. 
Sondern  es  kommen  ihnen,  positiv  gewandt,  folgende  Merkmale  zu:  1.  Der  Vor- 
stellungs-  und  Denkinhalt  interessiert  als  solcher.  2.  Der  Vorstellungsinhalt  ge- 
winnt Wirklichkeitscharakter.  3.  Die  Phantasietätigkeit  geht  darauf  aus,  gegebene 
Vorstellungs-  und  Denkverbindungen  zu  lösen  und  neue  kombinatorisch  aufzubauen. 
Um  die  kindliche  Phantasie  zu  beschreiben,  stellt  Meumann  verschiedene  Arten 
der  Phantasiebegabung  zusammen,  wobei  er  betont,  daß  die  Unterschiede  relativ 
und  fließend  sind.  Teils  treten  sie  beim  selben  Individuum  als  verschieden  be- 
dingte und  verschieden  verlaufende  Phantasieprozesse  auf,  teils  sind  sie  bei  einzelnen 
Menschen  graduell  verschieden.     Die  Phantasie  kann  sein: 

aktiv  (planmäßig)  passiv  (relativ  planlos) 

anschaulich  abstrakt 

lebhaft  stumpf 

kombinatorisch-produzierend         reproduzierend 

determinierend  abstrahierend 

reich-produktiv  arm-unproduktiv 

subjektiv  objektiv 

•  nüchtern-kritisch  phantastisch-unkritisch. 

Die  Phantasie  der  Eander  ist  nach  Meumann  mehr  passiv,  anschaulich,  sub- 
jektiv, phantastisch-unkritisch.  Daher  ist  sie  scheinbar  produktiv  und  lebhaft. 
Dieser  scheinbare  Vorzug  ist  aber  Schwäche.  Er  ist  bedingt  durch  den  kindlichen 
Mangel  an  Kritik,  Beurteilung  und  Bewertung  des  Phantasiegebildes,  Unterordnung 
unter  Wahrnehmung  und  Erinnerung.  Daher  kann  man  sagen,  daß  das  Kind  mehr 
phantastisch  als  phantasiebegabt  ist.  Aus  Mangel  an  Hemmungen  wird  die  Phan- 
tasie der  Kinder  leicht  zur  Lüge.  Diese  ist  deshalb  nicht  stets  zu  verstehen  als 
Mangel  an  sittlichem  Können  und  sittlicher  Einsicht,  sondern  sie  hängt  zusammen 
mit  Mangel  an  Kritik  und  Urteil,  an  Stärke  der  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf 
das,  worauf  es  beim  Bericht  ankommt,  mit  Laune,  Suggestibilität,  besonders  mit  der 
Absicht,  durch  Nachgiebigkeit  .  .  .  (Gefallen  erregen  zu  wollen)  und  Gedächtnis- 
schwäche. 

Die  kindliche  Phantasie  ist  mehr  reproduktiv-nachahmend,  denn  sie  betätigt 
sich  fast  ausschließlich  im  Anschluß  an  Gehörtes,  Gelesenes,  Gesehenes, 
Erlebtes.  Als  besonderes  Merkmal  kommt  ihr  die  große  und  naive  Bereitschaft 
zu,  alle  Objekte  der  Umgebung  mit  Phantasiegehalt  zu  erfüllen.  Daher  spielt  die 
Personifizierung  eine  große  Rolle,  so  wie  die  Einfühlung  der  Kinder  und  die  Er- 
füllung der  ihrer  Erfahrung  entrückten  Dinge  mit  freien  Zutaten,  die  zusammen- 
geht mit  der  Ärmlichkeit  der  Vorstellungen,  so  daß  diese  Phantasiezutaten  durchweg 
Analogien  aus  dem  engen  Kreis  der  kindlichen  Erfahrungen  darstellen. 

Wenn  auch  die  höhere  Aktivität  dem  kindlichen  Phantasieleben  fehlt,  so  besitzt 
es  dafür  die  niedere  Aktivität,  den  reproduktiven  Tätigkeitsdrang,  der  sich  besonders 
deutlich  im  Spiel  kundtut.  Hier  zeigt  sich  dann  auch  ein  allmählicher  Fortschritt 
zur  produktiven,  selbständig  schaffenden  Phantasie  in  der  Einfühlung,  Belebung 
und  Gestaltung. 

Auf  dem  gleichen  Standpunkte  steht  Paola  Lombroso.  Sie  geht  davon 
aus,  daß  der  Selbsterhaltungstrieb  die  treibende  Grundkraft  aller  Äußerungen  des 
kindlichen  Seelenlebens  sei.  Dieser  Selbsterhaltungstrieb  äußert  sich  1.  in  einem 
instinktiven  Ausweichen  vor  Arbeit,  Mühe,  Qual,  Unbequemlichkeit,  Schmerz, 
2.  in  einer  wahrhaft  genialen  Fähigkeit,  aus  allen  Dingen  Freude  und  Genuß  zu 

')  S.  239  ff. 
Zeitsehrift  f.  pädagog.  Psychologie.  22 


338  Literaturbericht 

schöpfen.  Was  wir  Phantasie  nennen,  ist  oft  nichts  als  diese  erste  Betätigung 
des  Selbsterhaltungstriebes.  Kinder  haben  nur  eine  sehr  geringe  Phantasie.  Wir 
nehmen  mit  Unrecht  an,  daß  zum  Beispiel  die  Märchen  deshalb  von  Kindern  so 
geliebt  werden,  weil  ihre  Phantasie  gereizt  würde  von  den  wunderbaren  und  aben- 
teuerlichen Geschichten.  Diese  erschienen  den  Kindern  ganz  einfach  und  natürlich, 
um  nichts  wunderbarer  ale  alle  Geschehnisse  der  Wirklichkeit.  Ihre  Leichtgläubig- 
keit sieht,  in  Verbindung  mit  der  kindlichen  Trägheit,  die  sie  mit  dem  geringsten 
Schein  von  Analogie  mit  dem,  was  sie  schon  kennen,  von  Logik  und  Vernunft, 
sich  befriedigen  läßt,  wenn  sie  nach  Erklärung  suchen,  in  den  Märchen  eine  Antwort 
auf  viele  Fragen.  Und  die  Kinder  wollen  aufgeklärt  sein  über  alles,  wollen  gern 
alle  Dinge  klar  und  deutlich  sehen,  denn  jeder  Zweifel  und  jede  Unsicherheit 
quält  sie.  Diesen  Wissensdrang  befriedigen  Märchen  leichter  und  besser  als  alle 
wissenschaftlichen  Erklärungen  es  tun  könnten.  Märchen  deuten  eine  Menge  von 
unbegreiflichen  Naturgeschehnissen  für  kindliche  Begriffe  überraschend  einfach 
und  natürlich,  schon  weil  der  Anthropomorphismus  des  Märchens  der  kindlichen 
Tendenz  zum  Anthropomorphisieren  entgegenkommt,  die  den  Kindern  deshalb  so 
tief  eingewurzelt  ist,  weil  sie  eben  die  leichteste  Art  und  Weise  ist,  sich  die  Natur- 
erscheinungen zu  deuten. 

Die  Phantasie  spielt  dagegen  eine  Rolle  beim  Spiele  der  Kinder.  Sie  befähigt 
die  Kinder,  sich  aus  allen  Dingen  ein  Spielzeug  zu  schaffen,  und  alle  Erlebnisse, 
die  sie  gehabt  oder  die  sie  gehört  haben,  alle  Geschichten,  die  sie  kennen,  nach- 
zuerleben und  darzustellen.  Und  so  ist  das  Spiel  eine  Quelle  der  Freude  für  die 
Kinder  und  zugleich  eine  mühelose  Vorbereitung  auf  eine  künftige,  ernste  geistige 
Tätigkeit. 

Auch  Stern')  betont,  daß  die  einzelne  Phantasievorstellung  der  Kinder  unklar 
und  arm  an  Inhalt  ist.  Gerade  dieser  Mangel  aber  fördert  die  Unbeküramertheit, 
mit  der  die  Kinder  darauflos  phantasieren.  Stern  versteht  unter  Phantasie  kein 
selbständiges,  also  abgrenzbares,  Seelenvermögen.  „Wäre  die  Phantasie,  wie  man 
es  wohl  früher  annahm,  ein  selbständiges  Seelenvermögen,  das  sich  scharf  gegen 
die  anderen  Vermögen  der  Anschauung  und  der  Erinnerung  abgrenzte,  dann  würde 
natürlich  jedem  Vorstellungsinhalte  sofort  seine  Zugehörigkeit  zu  diesem  oder 
jenem  Seelenschubfach  anzumerken  sein;  es  würde  die  Phantasievorstellung  als 
subjektiver  Schein,  die  Wahrnehmung  und  Erinnerung  als  Zeichen  für  objektive 
Tatbestände  erlebt  werden."  Doch  ist  die  Durchdringung  von  Wirklichkeitsleben 
und  Phantasie  eine  Fundamentaltatsache  des  Seelenlebens.  Jedoch  kommen  der 
Phantasie  bestimmte  Eigenschaften  zu,  die  sie  nicht  mit  anderen  Seelenvermögen 
gemein  hat:  Jede  Phantasievorstellung  ist  konkret  und  gleicht  darin  der  Erinnerung 
und  der  Anschauung,  unterscheidet  sich  dadurch  aber  vom  Denken  mit  seinen 
abstrakten  Inhalten.  Die  konkrete  Bildhaftigkeit  ist  aber  nicht  wie  bei  Anschauung 
und  Erinnerung  Wirkung  oder  Nachwirkung  von  Eindrücken,  sondern  Ergebnis 
einer  inneren  Verarbeitung.  Also  ist  ihr  eigentümlich  der  Zug  der  Spontaneität. 
Das  Schöpferische  besteht  aber  nicht  im  Neuschaffen,  sondern  in  der  Verwendung 
gegebener  Elemente.  Nach  dem  Grade,  in  dem  die  Lösung  und  neue  Verknüpfung 
gelingt,  bestimmt  man  die  „Beweglichkeit"  der  Phantasie.  Die  „Anschaulichkeit" 
richtet  sich  nach  der  Sinnfälligkeit  der  Phantasievorstellungen.  Verschieden  ist 
ferner  die  „Reizbarkeit"  der  Phantasie  durch  Sinneseindrücke.  Verwechslung  von 
Phantasievorstellungen  und  wirklichem  Erleben  findet  auch  beim  Kind  nicht  statt, 
wenn  auch  der  Unterschied  von  Schein  und  Sein  nicht  immer  so  deutlich  bewußt 
ist  wie  bei  den  Erwachsenen.  Das  Illusionsbewußtsein  ist  schon  früh  vorhanden. 
Je  stärker  die  Illusionsfähigkeit  der  Phantasie  ist,  desto  stärker  ist  die  Lust,  die 
das  Kind  empfindet,  da  mit  der  Illusion  das  Gefühl  des  Befreitseins  von  Hemmungen 
wächst,  denen  das  Kind  im  wirklichen  Leben  überall  unterworfen  ist. 

Die  unterste  Stufe  der  kindlichen  Phantasie  ist  das  mechanische  Assoziieren 
von  Vorstellungen  an  gegebene  Vorstellungs-  und  Sinnesreize,  das  durch  die  relative 
Dürftigkeit  des  vorgestellten  Inhalts  gefördert  wird.  Eine  höhere  Stufe  ist  das 
Symbolbewußtsein,  d.  h.  das  Kind  hat  ein  Bewußtsein  von  der  Diskrepanz  zwischen 

')  Kap.  XVI  S.  184  ff. 


Literaturbericht  339 

Phantasievorstellung  und  dem  Phantasiereiz,  läßt  sich  aber  dadurch  nicht  in  seiner 
Illusion  stören.  Auf  dieser  Stufe  „bedeutet"  das  Objekt  das  Vorgestellte,  sinkt 
lediglich  zum  Symbol  herab.  Der  höchste  Grad  der  Unbekümmertheit  liegt  dort 
vor,  wo  die  Phantasie  überhaupt  auf  ein  gegenständliches  Äquivalent  verzichtet 
und  geradezu  der  Halluzination  ähnliche  Leistungen  ermöglicht.  In  der  Spiel- 
phantasie ist  eine  besondere  Nuance  des  halluzinatorischen  Zuges  enthalten,  das 
„Hantieren  mit  dem  Nichts".  (Stern  gibt  in  seinem  Werke  eine  große  Menge  von 
Beispielen  zur  Erläuterung  seiner  Darlegungen.)  Durch  die  Unbekümmertheit 
ist  die  kindliche  Phantasie  grundsätzlich  geschieden  von  der  ästhetischen  Phantasie 
des  Künstlers  und  des  Kunstgenießonden.  „Denn  zum  Ästhetischen  gehört,  daß 
die  Phantasievorstellung  eine  adäquate  objektive  Darstellung  finde.  Und  weil  eben 
für  dieses  Zusammenstimmen  von  innerem  Gehalt  und^äußerer  Gestalt  dem  kleinen 
Kinde  noch  ganz  das  Organ  fehlt,  ist  das  eigentliche  Prinzip  der  Kunst  ihm  noch 
wesensfremd.  Das  muß  hervorgehoben  werden  gegenüber  einem  Ästhetizismus, 
der  womöglich  schon  um  diese  Zeit  die  „Kunst  im  Leben  des  Kindes"  kultivieren 
will.  Die  wahre  Ähnlichkeit  der  kindlichen  und  der  künstlerischen  Phantasie 
liegt  nicht  auf  dem  Gebiete  der  Form,  sondern  auf  dem  der  Illusionsfähigkeit, 
des  spielenden  Sich-Hinwegsetzens  über  Zwang  und  Enge  der  Wirklichkeit.  Der- 
artige Phantasiebetätigungen  sind  aber,  wie  wir  sehen,  in  den  frühen  Jahren  ge- 
rade nur  durch  die  Unbekümmertheit  um  die  äußere  Darstellung  möglich;  wird 
diese  daher  unterbunden,  so  findet  leicht  eine  unerwünschte  Beeinträchtigung 
der  Phantasie  statt." 

Bei  der  Untersuchung,  wie  sich  die  einzelnen  Phantasievorstellungen  zu  Phan- 
tasieketten zusammenschließen,  fällt  zunächst  etwas  Negatives  auf:  das  Fehlen 
einer  beherrschenden  und  zusammenfassenden  Synthese  im  Gegensatz  zum  Vor- 
handensein einer  „determinierenden  Tendenz"  bei  der  Phantasie  der  Erwachsenen, 
besonders  des  Künstlers.  Die  kindliche  Phantasie  ist  rein  assoziativ  bedingt  und 
sprunghaft.  Im  Gegensatz  dazu  scheint  ein  anderes  Merkmal  zu  stehen,  das  der 
Perseveration.  Es  gibt  Phantasieketten,  die  in  der  eintönigen  Wiederholung  der- 
selben Glieder  bestehen.  Doch  auch  hier  fehlt  die  Synthese.  Erst  mit  steigendem 
Alter  wird  das  zu  Leistende  als  Aufgabe  antezipiert,  und  die  Determination  wird 
oine  längere  Zeit  lang  festgehalten,  so  daß  nun  zusammenhängende  Phantasie- 
komplexe zustande  kommen.  Diese  wachsende  Fähigkeit  hängt  aber  nicht  nur 
von  der  eigentlichen  Phantasieanlage  ab,  sondern  ist  letzten  Endes  bedingt  durch 
die  Stärke  des  Willenslebens.  Außer  der  determinierenden  Tendenz  gibt  es  noch 
eine  andere  Bedingung,  welche  allmählich  größere  Zusammenhänge  in  die  kindliche 
Phantasietätigkeit  bringt:  die  dauernde  Einstellung.  „Es  können  gewisse  Bewußt- 
seinsinhalte für  einige  Zeit  eine  Überwertigkeit  gewinnen  und  daher  in  den  ver- 
schiedensten Situationen  als  richtunggebende  Zielvoratellungen  wirksam  sein.  Das 
verbreitetste  Beispiel  hierfür  ist  die  Auffassung  der  Puppe  als  einer  bestimmten 
Individualität." 

Das  Fabulieren  zeigt  uns  in  paradigmatischer  Schärfe  alle  oben  besprocheneu 
Eigenschaften  der  kindlichen  Phantasiekotten.  Zunächst  hat  das  Kind  eine  rein 
stoffliche'  Freude  an  der  Fülle  und  dem  Wechsel  anschaulicher  Vorstellungen,  die 
es  an  sich  vorüberziehen  läßt.  Das  Interesse  an  Wahrheit  und  Unwahrheit  und 
am  logischen  Zusammenhang  tritt  zunächst  ganz  zurück.  Innerhalb  der  kindlichen 
Fabuliererzählungen  kann  man  mehrere  Gruppen  unterscheiden,  1.  die  fremd- 
bezüglichen, die  nichts  mit  der  Person  des  Erzählers  zu  tun  haben  und  die  sich 
durch  Zeitlosigkeit  des  Inhaltes  auszeichnen  (z.  B.  erfundene  Märchen,  Tier-  und 
Puppengeschichten.)  Diese  Zeitlosigkeit  verschwindet  bei  den  egozentrischen 
Konfabulationen,  die  auf  die  Lebenszeit  des  Kindes  in  Vergangenheit,  Gegenwart 
und  Zukunft  bezogen  sind.  Das  Ausmalen  künftiger  Freuden  ist  jedem  Kinde 
eigen,  beginnt  aber  erst  mit  dem  5.  und  6.  Jahre  und  bezieht  sich  meistens  auf 
die  nächste  Zukunft.  Werden  die  Konfabulationen  auf  die  Gegenwart  bezogen, 
so  haben  wir  es  mit  dem  eigentlichen  Spiel  zu  tun.  (Stern  behandelt  das  Spiel 
in  einem  besonderen  Kapitel  XVIII.)  Die  auf  die  Vergangenheit  bezogenen  Phan- 
tasieerzählungen wirken  der  Form  nach  wie  Aussagen  über  tatsächlich  Erlebtes, 

22* 


340  Literaturbericht 


sind  aber  trotz  des  unwirklichen  Inhalts  nicht  für  Aussagefälschungen  und  Lügen 
zu  halten,  denn  es  fehlt  ihnen  der  Charakter  des  Ernsterlebnisses.  Sie  sind  Spiel. 
Eine  illusionäre  Spielrolle  wird  als  vergangen  erlebt.  Über  die  Traum ph an tasie 
kann  man  we'nig  aussagen,  da  man  auf  die  Kinderträume  nur  schließen  kann  aus 
dem  Verhalten  der  Kinder  während  des  Träumens,  also  nur  aus  Angstzuständen, 
Rufen,  Nachtwandeln  usw.  Aus  den  Erzählungen  der  Kinder  über  ihre  Träume 
kann  man  kein  Material  gewinnen,  da  die  Erzählungen  meistens  in  hohem  Grade 
verquickt  sind  mit  Konfabulationen. 

Was  Groos  vom  Wesen  der  Phantasie  sagt,  beruht  auf  seiner  Scheidung  des 
Seelenlebens  in  die  Vorstellungsseite  und  die  Wertungsseite.  Im  Vorstellungs- 
leben  ist  zu  unterscheiden  das  Material  und  die  Synthesen  des  Materials.  Das 
Material  sind  die  sensorischen  und  die  reproduktiven  Daten.  Letztere  können 
selbständig  als  \  orstellungen  im  engeren  Sinne  auftreten  und  unselbständig  in 
Verwechslung  mit  sensorischen  Daten,  die  uns  in  den  Sinnesempfindungen  gegeben 
sind.  Vorstellungen  teilt  er  ein  im  Gegensatz  zu  der  gewöhnlichen  Unterscheidung 
von  Erinnerungs-  und  Phantasiebildern  in  Vergangenheitsbilder,  Zukunftsbilder 
und  freie  Imaginationen.  Die  Synthesen  des  Materials  teilt  Groos  ein  in  zwei 
Gruppen,  die  er  Verknüpfungen  und  Verwachsungen  nennt.  „Dieser  Unter- 
scheidung ')  liegt  die  fundamentale  Tatsache  zugrunde,  daß  die  in  einem  Bewußt- 
seinsfelde vereinigte  Mannigfaltigkeit  zeitlich-räumlich  auseinandergehalten  sein 
kann.  Wo  dies  der  Fall  ist,  wo  also  das  Mannigfaltige  in  einem  Feld  des  Bewußt- 
seins vereinigt  und  doch  zugleich  räumlich  oder  zeitlich  gesondert  ist,  sprechen 
wir  im  Anschluß  an  Külpe  von  Verknüpfungen."  „Es  gibt  auch  Synthesen,  die 
sich  als  die  Einheit  eines  nicht  zeitlich  oder  räumlich  gesonderten  Mannigfaltigen 
darstellen.  Weil  diese  Sonderung  fehlt,  handelt  es  sich  hierbei  um  viel  engere 
Verbindungen.  Wir  wollen  sie  ...  .  Verwachsungen  nennen.  Die  Verwachsung 
scheint  für  das  naive  Bewußtsein  gar  nichts  Mannigfaltiges  zu  enthalten,  während 
die  aufmerksame,  auf  Analyse  gerichtete  Beobachtung  entweder  tatsächlich  ver- 
schiedene Inhalte  an  ihre  Stelle  treten  sieht,  oder  doch  mittelbar  zu  dem  Schluß 
gelangt,  daß  Inhalte,  die  gesondert  erlebt  werden  können,  hier  zu  einer  einheit- 
lichen Gesamtwirkung  ineinandergefügt  sind."  „Es  ist  einleuchtend,  daß  auch  die 
Verknüpfungen  und  Verwachsungen  nur  in  der  Abstraktion  zu  trennen  sind.  Jede 
Verwachsung  schaltet  sich  dem  zeitlichen  Verlauf  des  Erlebens  und  damit  zeit- 
lichen Verknüpfungen  ein;  ebenso  enthalten  die  Teile  einer  Verknüpfung  immer 
Verwachsungen.  Eine  weitere  Art  von  Synthesen  existiert  auf  der  Vorstellungs- 
seite nicht." 

Die  Phantasie  des  Kindes  umfaßt  die  Illusionsfähigkeit  und  die  Kombinations- 
fähigkeit. Die  kombinatorische  Phantasie  besteht  in  Verknüpfungen  reproduktiver 
Daten.  Die  Phantasie  kann  von  jeder  der  oben  erwähnten  drei  Gruppen  repro- 
duktiver Daten  Gebrauch  machen.  Es  ist  möglich,  ein  Idealbild  der  Vergangenheit 
zu  entwerfen,  aber  das  Hauptgebiet  der  kombinatorischen  Phantasie  ist  bei  den 
freien  Imaginationen  und  den  Zukunftsbildern  zu  suchen.  Die  Kombinations- 
fähigkeit ist  ermöglicht  durch  die  Gesetze  der  Assoziation.  Das  ordnende  Prinzip 
ist  die  Nachwirkung  oder  „Sekundärfunktion"  der  „Obervorstellungen".  Was  Groos 
damit  meint,  führt  er  an  anderer  Stelle  aus'^).  „Auch  wenn  eine  Vorstellung  a,  auf 
welche  assoziativ  eine  zweite  Vorstellung  b  gefolgt  ist,  für  das  Bewußtsein  ver- 
schwindet, so  wird  der  ihr  zugrunde  liegende  Erregungsprozeß  doch  nicht  sofort 
zur  Ruhe  kommen.  Es  bleibt  vielmehr  für  kürzere  oder  längere  Zeit  eine  Nach- 
erregung (Sekundärfunktion)  bestehen,  deren  Vorhandensein  bei  absichtlich  fort- 
gesetzten Assoziationsketten  durch  das  nicht  seltene  „unmotivierte"  Wiederauf- 
tauchen der  Ausgangsvorstellungen  erwiesen  wird.  (Wenn  beim  Experiment  die 
Assoziationen  ins  Stocken  kommen,  kann  man  das  sehr  häufig  beobachten.)  Diese 
Nacherregung  a  wird  nun  nicht  ohne  Einfluß  sein,  wenn  von  b  aus  verschiedene 
Wege  offen  stehen.    Nehmen  wir  z.  B.  an,  es  seien  drei  Möglichkeiten  c*,  c\  c^  ge- 


»)  S.  34—35. 

^)  Otto  Groß:  Die  cerebrale  Sekundärfunktion.   1902. 


Literaturbericht  341 


geben,  die  an  sich  alle  eine  gleiche  Reproduktionstendenz  besitzen  würden,  sofern 
nur  b  in  Betracht  käme,  von  denen  aber  c*  auch  in  einem  Berührungsverhältnis 
mit  a  steht,  so  ergibt  sich  von  da  aus  die  Begünstigung  von  c*.  Und  wenn  wir 
uns  von  da  aus  weiter  Möglichkeiten  d*,  d^  d^  vorstellen,  so  wird  die  Nacherregung 
von  a,  b  und  c*  abermals  diejenige  unter  ihnen  begünstigen,  die  in  derselben 
Richtung  liegt."  Auf  solche  Weise  wird  die  schöpferische  Tätigkeit  der  Phantasie 
erst  möglich  gemacht. 

Die  Leistungen  der  Phantasie  sind  L  das  Vergrößern  und  Verkleinern,  analog 
den  Erinnerungstäuschungen  von  quantitativem  Charakter,  das  bis  zur  bewußten 
Übertreibung  geht.  2.  Das  Ablösen  einzelner  Eigenschaften  von  einem  Komplex 
und  ihre  Übertragung  auf  ein  anderes  Ganzes.  3.  Die  assoziative  Vereinigung  von 
ganzen  Vorstellungskomplexen,  die  noch  nicht  oder  nicht  so  vereinigt  waren,  als 
Hauptleistung  der  kombinatorischen  Phantasie.  Auch  Groos  unterscheidet  wie 
Stern  als  erste  Gruppe  die  reagierenden  Assoziationen.  Dann  folgt  das  Kom- 
binieren mit  Attraktionszentrum,  nach  einer  Idee,  einem  Einheitsprinzip.  Auch 
Groos  geht  hier  auf  den  Unterschied  der  kindlichen  Phantasie  von  de j  des  Künstlers 
ein*).  „Und  wenn  beim  Künstler  eine  solche  Idee  nur  ein  schwach  umrissener 
Aufbau  von  Vorstellungen  zu  sein  pflegt,  der  sich  während  der  Ausarbeitung  viel- 
fach verändert,  so  ist  das  hier  bei  dem  Kinde  noch  viel  deutlicher  zu  erkennen. 
Denn  der  Künstler  arbeitet  doch  in  viel  höherem  Maße  aktiv  und  planmäßig, 
während  die  Phantasie  des  jüngeren  Kindes  passiver  ist  und  leichter  die  Richtung 
ändert."  Aus  der  Fähigkeit  so  zu  kombinieren,  entwickelt  sich  bei  manchen  Kindern 
eine  Fertigkeit  des  Erzählens.  „Andere  Kinder  knüpfen  an  eine  beliebige  Ge- 
schichte oder  an  einen  dem  Leben  entnommenen  Gedankenkreis  an  und 
spinnen  das  Thema  in  einsamen  Träumereien  selbständig  weiter,  ohne  ihre  Er- 
findungen dem  Papier  anzuvertrauen.  Ein  solches  Nachträumen,  das  der  künst- 
lerischen Produktion  näher  steht,  als  das  Träumen  im  Schlafe,  ist  vermutlich  ver- 
breiteter als  man  weiß.  Die  meisten  Menschen,  Kinder  wie  Erwachsene,  verschließen 
dieses  verschwiegene  Walten  tief  in  der  Brust,  und  manche  mögen  ihr  Leben  lang 
in  dem  innigsten  Verkehr  der  Liebe  oder  Freundschaft  stehen,  ohne  je  durch  ein 
Wort  die  geheime  Traumwohnung  zu  verraten,  in  die  sie  sich  täglich  zurückziehen 
und  deren  Schlüssel  sie  niemals  ausliefern.  Hier  stoßen  wir  auf  ....  relativ  ab- 
geschlossene Erlebnissphären."  Um  so  kecker  zeigt  sich  eine  andere  Phantasie- 
leistung der  Kinder  am  hellen  Tageslicht,  nämlich  das  Lügen.  Als  Phantasieleistung 
kommen  weder  die  „heroische"  noch  die  „Partei"lüge  oder  die  „egoistische"  Lüge 
in  Betracht,  sondern  die  „phantastische"  und  die  „pathologische"  Lüge.'^)  „Die 
phantastische  Lüge  umfaßt  die  mancherlei  Einbildungen  und  partiellen  Selbst- 
täuschungen, die  in  den  Spielen  des  Kindes  überall  so  deutlich  hervortreten:  das 
Kind  gibt  vor,  ein  Bär,  ein  Soldat  zu  sein  etc.  Eine  letzte  Gruppe  ist  endlich 
durch  die  pathologische  Lüge  vertreten,  welche  von  der  krankhaften  Neigung 
zum  Prahlen  und  der  Lust,  Aufsehen  zu  erregen,  bis  zu  der  eigentlichen  „Lügen- 
sucht" reicht,  die  als  ein  unwiderstehlicher  Trieb  alle  Motive  der  Klugheit  und 
des  Interesses  überwindet."  Eine  Abart  der  phantastischen  Lüge  erblickt  Groos 
im  „erklärenden  Mythus",  einer  phantasieraäßig  erfundenen  Geschichte  zur  Er- 
klärung einer  sonst  unerklärbaren  Tatsache. 

Bei  der  Illusionsfähigkeit  hat  man  es  zu  tun  mit  Verwachsungen  sensorischer 
und  reproduktiver  Daten.  Nicht  in  Betracht  kommt  hier  diejenige  Art  von  Illusion, 
die  in  einem  wirklichen  Getäuschtwerden  besteht  und  keine  Phantasieleistung 
darstellt,  sondern  die  „bewußte  Selbsttäuschung«,  bei  der  sich  außer  der  unrich- 
tigen Apperzeption  auch  die  richtige  Auffassung  im  Bewußtsein  geltend  macht. 
Die  Illusion  bedeutet  hier  einen  um  seiner  selbst  willen  freudebringenden  Zustand, 
„den  man  als  ein  Spiel  der  Phantasie  bezeichnen  kann",  ein  Aufgehen  in  dem 
phantasiemäßig  Erlebten,  wobei  die  objektiv  richtige  Auffassung  auf  dem  Grunde 

»)  S.  16L 

**)  Die  Einteilung  übernimmt  Groos  von  Stanley  Hall:  Ausgewählte  Beiträge 
aur  Psychologie  und  Pädagogik.    Deutsch  von  Stimpfl  1902. 


342  Literaturbericht 


der  Seele  liegt  und  ihre  Wirkungen  ausübt.    Solche  Annahmen  nennt  Groos  nach 
Meinong  „Phantasieurteile",  die  mit  gewöhnlichen  Urteilen  in  allem  übereinstimmen, 
außer  im  Punkte  der  Überzeugung.    Einen  Unterschied,  den  Meinong  dem  analog 
zwischen  wirklichen  Gefühlen  und  Phantasiegefühlen  als  etwas  bloß  Gefühlsartigem 
aufstellt,  will  Groos  jedoch  nicht  gelten  lassen  und  verweist  auf  Meinongs  Schüler 
Witasek,  der  meint  *) :  „Vielleicht  aber  lassen  sich  die  erfahrungsmäßig  vorliegenden 
Unterschiede  zwischen  .  . .  Phantasie-  und  Ernstgefühl  nur  lediglich  darauf  zurück- 
führen, daß   jenes   Annahmen,    dieses  Urteile   zur  Voraussetzung  hat."    Die  Be- 
dingungen für  die  bewußte  Selbsttäuschung  sind  nicht  zu  starke  und  nicht  zu 
schwache  Nachwirkung  der  richtigen  Auffassung  und  eine  nicht  zu  große  Ähnlich- 
keit zwischen  dem  Dargebotenen  und  dem  willkürlich  Aufgefaßten.     Bei  der  be- 
wußten Selbsttäuschung  kann  man  einen  Unterschied  machen  zwischen  dem,  was 
Groos    der    Halluzination    in    der    unbewußten   Selbsttäuschung    analog     nennt, 
und   der  Illusion  im   engeren  Sinne.     Der  Halluzination  entspricht  das  Anhören 
und  Losen  von  Märchen  und  anderen  Erzählungen,  d.  h.   der  äußere  Anlaß  der 
Phantasievorstellungen  (Stimme   des  Erzählers,  gedrucktes  Papier)  kommt  nicht 
in  Betracht.     „Geht  nun  hierbei  der  Hörende  oder  Lesende  so  völlig  in  dem  In- 
halt des  Erzählten  auf,  daß  die  reale  Umgebung  in  seinein  Bewußtsein  immer  mehr 
zurücktritt,  während  die  von  dem  Bericht  erregten  Vorstellungen,  begleitet  von 
verschiedenartigen  Wertungen  und  unterstützt  durch  hinzutretende  Organempfin- 
dungen, das  Feld  beinahe  für  sich  allein  behaupten,  so  nähert  sich  sein  Zustand 
unverkennbar  den  Halluzinationen  eines  Hypnotisierten  an,  nur  daß  sich  die  voraus- 
gegangene und  wiederkehrende  Auffassung  der  realen  Umgebung  in  der  für  die 
bewußte  Selbsttäuschung  charakteristischen  Weise  geltend  macht."    Hierher  ge- 
hört auch  das  naive  ästhetische  Genießen.    Mit  Illusion  im  engeren  Sinne  haben 
wir  es  bei  den  eigentlichen  Illusionsspielen  zu  tun.    „Ob  nun  die  unbestimmtere 
sinnliche  Auffassung  oder  eine  weitergehende  Verengerung  des  Bewußtseins  oder 
die    damit   zusammenhängende  schwächere  Nachwirkung  der  objektiv  richtigen 
Apperzeption  den  Hauptgrund  bildete:  jedenfalls  haben  wir  hier  eine  Erscheinung 
vor  uns,  die  zu  dem  oftgehörten  und  in  Hinsicht  auf  die  Kombinationsfähigkeit 
irrigen  Ausspruch  berechtigen  kann,  daß  das  Kind  „mehr  Phantasie"  habe  als  der 
Erwachsene."    Bei  der  bewußten  Selbsttäuschung  im  Spiel  handelt  es  sich  um  ein 
doppeltes:  Nicht  nur  die  äußere  Gestalt  des  Vorgestellten  wird  in  beliebige  Ob- 
jekte hineingesehen,  sondern  es  findet  auch  ein  Hineinverlegen  psychischer  Vor- 
gänge in  den  toten  Gegenstand  statt. 

In  seinem  Werk  über  die  schöpferische  Phantasie  behandelt  Ribot  die  pro- 
duktive Phantasie  der  Kinder  im  Zusammenhang  mit  der  Entwicklung  der  Phan- 
tasie.2)  Der  Zeitpunkt,  in  dem  die  schöpferische  Phantasie  beim  Kinde  auftritt, 
ist  nicht  genau  zu  bestimmen,  denn  sie  löst  sich  ganz  allinählich  von  der  produk- 
tiven Tätigkeit  des  Geistes  los.  Gleichwohl  ist  aus  organischen  und  psychologischen 
Gründen  ihre  Entwicklung  eine  ziemlich  späte.  Die  organischen  Gründe  liegen 
in  der  erst  später  erfolgenden  Isolierung  und  Differenzierung  der  Sinnes-  und 
Assoziationszentren,^)  Die  psychologischen  Gründe  leuchten  ein,  wenn  man  sich 
erinnert,  daß  die  Phantasie  eine  Bildung  dritter  Ordnung  ist.  „Sie  setzt  ein 
Erstes  (Empfindungen  und  einfache  Erregungen)  und  ein  Zweites  (die  Bilder  und 
ihre  Assoziationen,  gewisse  logische  Elementaroperationen  usw.)  voraus.*'  Das 
Kind  muß  nun  erst  volle  Sicherheit  erlangt  haben  in  der  Ausübung  der  primären 
und  sekundären  Operationen,  ehe  die  schöpferische  Phantasie  möglich  ist.  Ribot 
sagt  dann  weiter:  „Mit  Baldwin  kann  man  vier  Epochen  in  der  geistigen  Ent- 
wicklung beim  Kinde  unterscheiden:  1.  die  affektive  (rudimentäre  Sinnesempfindung, 
Lust  und  Schmerz,  einfache  motorische  Anpassungen),  2.  und  3.  die  objektive,  in 
der  der  Verfasser  zwei  Stadien  unterscheidet:  im  ersten  Erscheinung  der  besonderen 
Sinne,  des  Gedächtnisses,  der  Instinkte,  besonders  zu  Verteidigungszwecken,  der 

')  Grundlinien  der  Psychologie,  Leipzig  1908.     S.  331. 

2)  S.  72. 

')  Ribot  stützt  sich  hier  auf  Flechsig:  Gehirn  und  Seele,  1896. 


Literaturbericht  343 

Nachahmung,  im  zweiten  ein  kompliziertes  Gedächtnis,  komplizierte  Bewegungen, 
aggressive  Aktionen,  rudimentärer  Wille.  4.  Die  subjektive  oder  endgültige  Epoche 
(bewußte  Gedanken,  fester  Wille,  ideale  Gefühle).  Wenn  dies  Schema  der  Wirk- 
lichkeit entspricht,  muß  die  Entstehung  der  Phantasie  in  die  dritte  Epoche  (d.  h. 
das  zweite  Stadium  der  objektiven  Epoche)  verlegt  werden,  welche  die  für  ihre 
Entstehung  und  Entwicklung  notwendigen  und  ausreichenden  Bedingungen  erfüllt." 
Bei  der  Entwicklung  der  kindlichen  Phantasie  lassen  sich  wiederum  vier  Haupt- 
stadien unterscheiden,  deren  zeitliche  Reihenfolge  natürlich  nicht  unabänderlich 
feststeht.  Das  erste  Stadium  ist  charakterisiert  durch  die  langsame  Entwicklung 
der  produktiven  Phantasie  aus  der  reproduktiven.  Ihr  Haupttyp  ist  die  Illusion, 
eine  Zwischenform,  die,  ohne  Schöpfung  im  eigentlichen  Sinne  zu  sein,  aus  Er- 
innerungsbildern bestehende  Konstruktion  ist.  Ihren  wirklichen  Charakter  zeigt 
die  schöpferische  Phantasie  im  zweiten  Stadium,  in  der  Form  des  Animismus, 
der  Belebung  aller  Dinge,  die  auf  einer  Art  Autosuggestion  beruht  und  etwas 
Wirkliches  als  Stütze  braucht,  so  gering  es  auch  sei,  das  der  Phantasievorstellung 
Objektivität  gibt.  Das  dritte  Element  des  Animismus  ist  der  Glaube,  d.  h.  die 
auf  rein  subjektive  Gründe  gestützte  Bejahung  des  Geistes,  die  abhängt  von  den 
motorischen  Elementen  unserer  Organisation.  Vollständig  ist  diese  Bejahung  nicht, 
denn  es  liegt  keine  Verwechslung  von  Phantasie  und  Wirklichkeit  vor.  Das  dritte 
Stadium  fällt  zeitlich  mit  dem  zweiten  zusammen,  das  Spiel,  das  eine  Kombination 
von  Bewegungen  und  Bildern  darstellt.  Es  beginnt  mit  Nachahmen  und  entwickelt 
sich  zu  kühneren  Versuchen,  Ideen,  die  dem  Kinde  vorschweben,  zu  verwirklichen. 
Im  vierten  Stadium  tritt  die  romantische  Erfindung  auf,  die  rein  innerlich  und 
nur  mit  Bildern  arbeitend,  ein  größeres  Verständnis  erfordert.  Sie  erwacht  im 
dritten  oder  vierten  Lebensjahre.  Die  Freude  der  Kinder  an  Geschichten  und 
Erzählungen  ist  ein  Vorspiel  zur  Schöpfung,  ein  halb  passiver,  halb  aktiver  Zu- 
stand. Die  ersten  Versuche  sind  mehr  Ntichahmungen  als  Neuschöpfungen.  „Die 
Phantasie  arbeitet  in  zwei  Richtungen.  Die  eine,  hauptsächliche,  ersinnt  Spiele, 
erfindet  Erzählungen  und  bereichert  die  Sprache.  Die  andere,  nebensächliche,  ent- 
hält den  Keim  eines  Gedankens  und  wagt  eine  chimärische  Erklärung  der  Welt, 
die  noch  nicht  aus  abstrakten  Begriffen  und  Gesetzen  verstanden  werden  kann." 

Queyrat  schreibt  in  seinem  Buche  über  das  Spiel  der  Kinder  in  Überein- 
stimmung mit  Ribot  der  kindlichen  Phantasie  folgende  Tätigkeiten  zu:  I.  das 
phantasiemäßige  Aufnehmen  von  Sinneseindrücken  (perception  illusoire),  das  be- 
steht 1.  in  der  Deutung  von  Sinneseindrücken  nach  der  Erfahrung  (einen  Ton  als 
Glockenton),  2.  im  Deuten  von  Formen  in  Formlosem,  3.  in  der  Umformung  der 
Wirklichkeit,  4.  in  der  Üertreibung  und  Umformung  auf  Grund  ungenauer  Erfah- 
rung, IL  die  Belebung  aller  Dinge,  die  stattfindet  L  im  Glauben  an  überall  ver- 
breitete Naturwesen,  2.  in  der  Personifikation  von  Sachen,  3.  in  der  Personifikation 
von  Abstraktionen,  III.  das  Spiel,  dem  die  Hauptausführungen  des  Buches  ge- 
widmet sind;  IV.  in  der  romantischen  Erfindung,  die  auftritt  a)  als  Belebung  der 
wirklichen  Welt  mit  Personen,  die  das  Kind  aus  Geschichten  kennt,  b)  als  Vor- 
stellung einer  ganzen  Begebenheit  nach  Anreiz  eines  Wortes,  einer  Erzählung,  c)  als 
Selbsterfindung  von  Erzählungen,  sei  es,  daß  die  Kinder  nachdenken  über  das, 
was  ihnen  auffällt  und  es  sich  zu  erklären  suchien,  oder  daß  sie  Gehörtes  weiter- 
spinnen oder  ganz  selbständig  Geschichten  erfinden. 

Queyrat  kommt  im  Verlaufe  seiner  Darlegungen  über  das  Spiel  noch  einmal 
auf  die  kindliche  Phantasie  zu  sprechen  und  zeigt  den  Anteil,  den  die  Illusion 
am  Spiele  hat.  Zunächst  ist  dem  Kinde,  so  meint  er,  die  Illusion  bewußt.  Dann 
vergißt  es,  daß  es  „eine  Rolle  spielt",  und  scheint  ganz  in  der  Wirklichkeit  zu 
leben.  Daher  sind  die  Kinder  gekränkt,  wenn  die  Illusion  gestört  wird,  wenn  z.  B. 
ein  Fremder  dazukommt,  oder  wenn  andere  Kinder  nicht  imstande  sind,  sich  in 
die  gleiche  Rolle  zu  versetzen.  Es  gehört  zu  dem  Wesen  der  Illusion,  daß  I.  ein 
Vorstellungskomplex  in  dem  Kinrde  vorhanden  ist,  daß  2.  eine  noch  so  gering« 
Unterstützung  von  Seite  der  Wirklichkeit  stattfindet,  daß  3.  der  Glaube  an  di« 
Illusion  vorhanden  ist.  Die  Stärke  der  Illusion  erklärt  Queyrat  auch  dadurch, 
daß  Vernunft,  Erfahrung  und  Kenntnis  der  Naturgesetze  noch  nicht  stark  genug 


344  Literaturbericht 


sind,  um  die  Illusion  zu  zerstören.  Doch  verhindern  andererseits  die  Umstände 
des  Spiels  selbst  und  das  Bewußtsein  seiner  eigenen  Tätigkeit,  daß  das  Kind  sich 
nicht  völlig  täuschen  läßt. 

Lobsien  und  Valentiner  untersuchen  die  Phantasie  des  Kindes  auf  Grund 
seines  Aufsatzes.  Valentiners  Untersuchung  zeichnet  sich  durch  ein  besonders 
reiches  Untersuchungsmaterial  aus.  Er  läßt  die  Kinder  eines  von  fünf  Themen 
wählen  und  darüber  einen  freien  Aufsatz  schreiben,  nachdem  er  einen  Anfangs- 
satz gegeben  hat,  und  untersucht  die  einzelnen  Phantasievorstelllungen  des  vor- 
liegenden Materials  auf  ihre  typische  un  d  symptomatische  Bedeutung  hin  und  sucht  sie 
zu  begreifen  in  Beziehung  auf  eine  größere  Einheit,  eine  besondere  Schaffensart  und 
einen  besonderen  Schaffensgegenstand  der  Phantasie.  Bei  diesem  Verfahren  — 
Valentiner  nennt  es  selbst  das  synoptische  —  erhält  er  eine  Anzahl  typischer  Bilder, 
die  jeweils  einen  Abschnitt  aus  der  gesamten  Phantasieleistung  zusammenfassend 
darstellen.  Diese  Bilder  erscheinen  einmal  als  geistige  Produkte  einer  größeren 
Anzahl  von  Schülern,  die  nach  Alter,  Geschlecht,  Begabung  zusammengehören. 
Weiter  aber  erscheinen  sie  auch  als  Komplexe  von  Phantasieleistungen  einer  be- 
stimmten Schaffensart.  Es  ergab  sich  nämlich,  daß  das  eigentlich  Charakteristische 
in  der  Regel  drei  verschiedenen  Typen  angehört,  dem  Kindheitsty  p(9 — 13  Jahre), 
dem  jugendlichen  (14 — 15  Jahre)  und  dern  Typ  der  über  15  Jahre  alten  Kinder. 
Ferner  ergab  sich,  daß  die  Phantasie  der  Kinder  in  drei  Erscheinungsformen  auf- 
trat: 1.  sie  vermenschlicht  leblose  Dinge  und  Tiere,  2.  sie  verknüpft  das  Ich  und 
Ichbestimmungen  mit  Vorstellungsgrenzen,  die  ohne  diese  Beziehungen  lediglich 
Reproduktionen  wären,  3.  sie  erschafft  Bilder,  Situationen,  Szenen,  ganze  Erzäh- 
lungen. Dazu  kommen  noch  andere  Phantasieleistungen,  die  mit  den  genannten 
zusammenhängen.  Am  einfachsten  veranschaulicht  vielleicht  das  folgende  Schema 
die  Art  und  die  Ergebnisse  von  Valentiners  Untersuchung.  Es  gibt  zugleich  eine 
Übersicht  über  die  Quellen  der  Phantasie.     (S.  Tabelle  S.  345.) 

Lobsien  schreibt  fünf  Worte  an  die  Tafel  und  läßt  darüber  freie  Aufsätze 
schreiben.  Er  untersucht  das  Material  auf  die  Qualitäten  der  Phantasie  hin,  wie 
sie  sich  in  den  einzelnen  Gedanken  äußert.  Er  gebraucht  zur  Vereinfachung  der 
Feststellung  ein  Schema,  dem  die  von  Meumann^)  aufgestellten  Eigenschaften  der 
Phantasie  zugrunde  liegen  in  Verbindung  mit  einem  anderen  Einteilungsprinzip, 
auf  das  auch  Meumann  hinweist  und  das  sich  nicht  ergibt  aus  dem  Wesen  der 
Phantasie,  sondern  sich  bezieht  auf  die  Gegenstände  und  Richtungen  der  Phan- 
tasie. „Darunter*)  sind  zwei  Hauptgruppen  zu  unterscheiden,  die  Phantasie  kann 
gerichtet  sein  auf  das  intellektuelle  Gebiet  und  auf  Werte.  Innerhalb  des  ersten 
Gebiets  ist  ihre  Tätigkeit  gerichtet  entweder  auf  die  Lösung  und  Kombination 
rein  sinnlich  anschaulicher  Momente  oder  auf  abstrakte  Gedankenreihen.  Innerhalb 
der  Werte  kann  die  Phantasie  gerichtet  sein  auf  praktische,  ethische,  ästhetische 
oder  religiöse." 

„Offenbar  lassen  sich  zwischen  diesen  beiden  Einteilungen,  der  psychologischen 
und  der  objektiven,  mancherlei  Beziehungen  herstellen;  denn  die  eine  weist  die 
Ziele,  die  andere  die  Art  der  Phantasietätigkeit  auf.  Weil  aber  die  Form  der  Phan- 
tasiebetätigung doch  auch  von  ihrer  Richtung  abhängig  ist,  lassen  sich  bei  einer 
Vereinigung  beider  Schemen  mehrere  der  formalen  Bestimmung  en  streichen.  In 
Frage  kommen  die  Bezeichnungen :  anschaulich-abstrakt,  und  ab^trahierend-deter- 
minierend,  d.  h.  für  das  intellektuelle  Gebiet  der  Phantasiebetätigung;  für  das 
andere  behalten  sie  natürlich  ihren  Wert.  Demnach  bleiben  zweimal  sechs  und 
vier  mal  acht,  zusammen  achtunddreißig  Möglichkeiten  verschiedener  Phantasie- 
betätigung bestehen,  bezw.  sechsundsiebzig  —  eine  sehr  große  Anzahl!  Die 
Schwierigkeit  wächst  noch  besonders  dadurch,  daß  die  Unterschiede  alle  relativer 
Natur  sind.  Ist  schon  nicht  einmal  leicht,  für  die  schriftliche  Arbeit  eines  Schülers 
die  Abwertung  vorzunehmen,  so  steigert  sich  die  Schwierigkeit  noch  erheblich,  wo 
es  darauf  ankommt,  die  einzelnen  Schüler  gegeneinander  abzuschätzen."    Immer- 


^)  Siehe  oben. 
»)  S.  23. 


Literaturbericht 


346 


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346 


Literaturbericht 


hin  kommt  Lobsien  zu  folgenden  Hauptergebnissen:')  ,,Die  Phantasie  tätigkeit  hat  bei 
keinem  der  Prüflinge  ganz  versagt,  sie  ist  überall  nachweislieh.  Als  typisch  gilt 
für  alle  untersuchten  Prüflinge,  mit  geringer  Ausnahme,  daß  die  Phantasietätigkeit 
gerichtet  ist  auf  intellektuelle  Dinge  und  unter  diesen  nach  der  Seite  der  An- 
schauung, Abstrakta  finden  wir  nie,  Werte  höchst  selten  bestimmend,  Das  trifft 
sowohl  bei  armer  wie  bei  reicher  Phantasiebegabung  zu.  Die  Art  und  Weise  der  Be- 
tätigung muß  als  nüchtern  charakterisiert  werden." 

Phantasie. 


Intellektuell 

Wert 

Richtungen 

anschau- 
lich 

abstrakt 

prak- 
tisch 

ethisch 

ästhe- 
tisch 

religiös 

aktiv 
lebhaft 

kombinatorisch-produk- 
tiv 
reich 
subjektiv 
phantastisch 

*  anschaulich 

*  abstrahierend 
passiv 
stumpf 

reproduzierend 
arm 

*  determinierend 
objektiv 
nüchtern-kritisch 

' 

.... 

„Vergleicht  man  die  einzelnen  Gruppen  untereinander,  dann  wird  man  zwar 
sagen  dürfen,  daß,  je  umfangreicher  die  Phantasiebegabung  ist,  auch  die  Art  ihrer 
Betätigung  im  allgemeinen  mannigfaltiger  wird,  man  sieht  sich  genötigt,  zur  Charak- 
terisierung des  Individuums  immer  mehr  Bezeichnungen  zu  wählen,  immer  mehr 
Mischformen  zu  konstatieren  Größere  qualitative  Mannigfaltigkeit  und  Umfangs- 
erweiterung quantitativer  Art  gehen  durchweg  Hand  in  Hand.  Den  Grundein- 
schlag bildet  trotz  aller  Umfangserweiterung  die  anschauliche  Richttuig  der  Phan- 
tasietätigkeit, und  diese  Anschaulichkeit  der  Richtung  ist  wohl  auch  die  Haupt- 
grundlage für  die  nüchterne  Art  der  Betätigung." 

„Hier  und  dort  konnte  die  Phantasiebetätigung  als  phantastisch  charakterisiert 
werden.  Das  äußerte  sich  teils  in  sprunghaften,  unvermittelten  Übergängen,  im 
Anfügen  von  Glückszufällen,  im  Drang  in  die  Ferne  und  Weite  —  oft  war  es 
nicht  zu  entscheiden,  ob  diese  Betätigung  eine  natürliche  oder  dtu*ch  Lektüre  von 
Märchen  vmd  Sagen  angelernte  Eigenart  war.  Doch  war  im  allgemeinen  die  Neigung 
zu  Phantastereien  in  sehr  geringem  Maße  vorhanden. 

Ethische  und  ästhetische  Richtungen  der  Phantasiebegabung  waren  nur  in 
einzelnen  Fällen  auffindbar  und  nur  bei  reicher  Phantasiebegabung." 

Wir  haben  in  den  oben  besprochenen  Arbeiten  schon  mehrere  Methoden  kennen 
gelernt,  die  zur  Erforschxmg  der  kindlichen  Phantasie  führen  können.  Die  Mehr- 
zahl der  Forscher  benützt  die  phänomenologische  Methode.  Sie  beschreiben  und 
deuten  die  ihnen  vorliegenden  Tatsachen,  die  sie  auf  Grund  von  Beobachtung  aa 
sich  selbst  oder  Kindern  festgestellt  haben  oder  die  sie  aus  Erzählungen  \ind  Be- 
richten anderer  entnommen  haben,  eine  Methode,  die  stets  die  wichtigste  Aufgabe 
bei  der  Erforschung  der  Phantasie  zu  lösen  haben  wird.  Die  beiden  letzten  Ver- 
fasser haben  die  experimentelle  Methode  angewandt,  indem  sie  zum  Zweck  der 
Untersuchung  Bedingungen  schufen,  die  die  Betätigung  der  kindlichen  Phantasie 


')  S.  41—42. 


Literaturbericht  347 


zur  Folge  hatten.  Beide  gehören  zu  der  Gruppe,  die  A.  Fischer  in  seiner  Be- 
sprechung der  Methoden')  Methoden  der  Erfindung  nennt.  Die  Methode  der  Er- 
findung besteht  in  der  Stellung  von  Aufgaben,  deren  Lösung  nicht  ohne  Kora- 
bination oder  Antizipation  möglich  ist.  Fischer  schlägt  folgende  Arten  der  Methode 
als  brauchbar  vor:  Die  Stichwortmethode  (wie  sie  Lobsien  angewandt  hat)  besteht 
darin,  daß  den  Kindern  ein  oder  mehrere  Wörter  gegeben  werden,  über  die  sie 
einen  Aufsatz  schreiben  sollen.  Oder  man  gibt  ihnen  einen  ,, Anfang",  eine  Ausgangs- 
situation (wie  Valentiner),  da  es  den  Kindern  bekanntlich  am  schwersten  wird, 
einen  Anfang  zu  finden,  so  daß  mitunter  die  ganze  Phantasietätigkeit  durch  diese 
Schwierigkeit  gehemmt  wird.  Oder  ,,man  erzählt")  den  Kindern  ein  Märchen,  eine 
Sage  oder  Geschichte  bis  zu  einem  bestimmten  Punkt  bzw.  man  liest  sie  vor, 
vielleicht  bis  mitten  in  die  Verwicklung  hinein,  oder  bis  die  Katastrophe  in  Sicht 
tritt.  Dann  wird  abgebrochen  mit  der  Instruktion,  den  Schluß  zu  finden."  Oder 
das  Kind  wird  veranlaßt,  zu  einer  Geschichte,  deren  Schluß  ilim  nicht  behagt, 
einen  neuen  Schluß  zu  finden.  Eine  Variante  dieser  Methoden  ist  die  Methode 
der  Parallelerfindung,  d.  h.  ,, Kindern  wird  eine  Geschichte  erzählt  mit  einer  be- 
stimmten Lehre  oder  einem  gewissen  Schlußeffekt  und  daran  die  Axifforderung 
geknüpft  eine  ähnliche  Geschichte  zu  erfinden.  Ein  andermal  ist  der  Ausgangs- 
punkt eine  zyklische  Zeichnung  wie  in  unseren  Witzblättern  oder  bei  Busch,  und 
die  Versuchsinstruktion  verlangt  vom  Kinde  eine  ähnlicherSzenenfolge.  Die  Methode 
läßt  viele  Anwendungen  zu,  wenn  man  die  Aufgaben  enger  und  weiter  faßt,  das 
Gebiet,  auf  dem  sich  die  Parallelerfindung  bewegen  soll,  bereits  festlegt  oder  offen 
läßt,  die  Methode  erlaubt  die  Verwendung  auch  im  Klassenexperiment."  Grüne- 
wald ^)  hat  diese  Methode  angewandt,  indem  er  eine  Anzahl  Kinder  im  Anschluß 
an  Geschichten  aus  dem  Lesebuche  ähnliche  Erzählungen  nachbilden  oder  frei  er- 
finden ließ.  Man  wird  bei  diesen  Experimenten  nie  reine  Phantasieleistungen  er- 
halten. Jedenfalls  darf  man  aber  eine  starke  Beteiligung  der  Phantasie  der  Kinder 
voraussetzen.  Fischer  empfiehlt  ferner  die  Analyse  der  Träume,  speziell  der  Wach- 
träume für  das  Studium  der  Phantasie,  obwohl  der  Traum  auch  keine  reine  Phan- 
tasieleistung ist,  sondern  wesentlich  eine  unwillkürliche  Assoziation  von  Bildern 
und   Einfällen. 

Um  festzustellen,  wie  stark  eine  Reproduktion  vom  Originaleindruck  abweichen 
muß  oder  welcher  Art,  wenn  sie  den  Charakter  der  Phantasie  annehmen  soll,  dienen 
die  Reproduktionsmethoden.  „Der  Methode  der  Reproduktion  stehen  heute  die 
günstigsten  Anwendungsmöglichkeiten  offen.  Man  kann  entweder  einen  einzelnen 
Eindruck  als  Reiz  verwenden,  diesen  verschieden  nach  dem  Sinnesgebiet  und  dem 
Grade"  der  Zusammengesetztheit  wählen,  oder  man  kann  kürzere  und  längere,  nach 
einem  bestimmten  Prinzip  aufgebaute  Reihen  von  Eindrücken  als  Material  ver- 
wenden. Variiert  man  Länge,  Einprägezeit,  Abstand,  so  können  die  einzelnen, 
ursächlichen  Momente  einigermaßen  isoliert  werden.".  • 

Meumann  empfiehlt  in  seinen  Vorlesimgen*)  als  brauchbar  außer  den  Repro- 
duktionsmethoden „die  Untersuchungen  der  Aussage  des  Kindes  zur  Kontrolle  des 
Verhältnisses  von  Phantasie,  Wahrnehmung,  Erinnerung,  Urteil,  sowie  jede  wirk- 
liche Kombinationsmethode".  Dazu  gehört  die  Methode  von  Ebbinghaus,  die  darin 
besteht,  den  Kindern  Sätze  zur  Ergänzung  vorzulegen,  bei  denen  Wörter  und 
Silben  ausgelassen  sind.  Meumann  ändert  diese  Methode  dahin  ab,  daß  er  die 
doppelte  Aufgabe  stellt,  1.  die  Auslassungen  in  einem  Text  einmal  auszufüllen, 
2.  die  Alisfüllung  mehrfach,  mit  synonymen  Worten  vorziinehmen.  Er  will  damit 
die  sprachlichen  Fähigkeiten  der  Kinder  von  ihrer  Ergänzungsgabe  für  seine  Leistung 
trennen.    Ferner  kommt  in  Betracht  das  Verfahren  von  Heilbrunner*),  der  stufen- 


M   Siehe  oben.  ^)   S.  500. 

^)  Versuch  einer  Prüfung  der  kindlichen  Phantasie tätigkeit.  Pädag.-psyohol. 
Studien   1900.     S.  57  ff .  *)  S.  250  ff. 

")  Karl  Heilbronner ,  Zur  klinisch  -  psychologischen  Untersuchungstechnik, 
Monatsschrift  für  Psychiatrie  und  Neurologie  von  Wernicke  und  Ziehen,  XVII. 
Heft  2,   S.    115  ff. 


348  Einzelbesprechungen 


weis  aneinandergereihte,  allmählich  an  Vollständigkeit  zunehmende  schematische 
Zeichnungen  wiedererkennen  und  interpretieren  läßt. 

Als  Ergänzimg  zu  den  beiden  Arten  der  Methoden,  der  phänomenologischen 
und  der  experimentellen,  erwähnt  Fischer  noch  ganz  kvirz  andere  Möglichkeiten, 
die  zur  Erforschung  der  Phantasie  in  besonderen  Zusammenhängen  dienen,  die 
biographische  Methode,  die  besonders  die  Entwicklung  der  Funktion  der  Phantasie 
in  einzelnen  Individuen  verfolgt,  die  charakterologische,  welche  Stellung  und  Be- 
deutimg im  Zusammenhang  eines  Begabungs-  und  Charaktertypus  studiert,  die 
völkerpsychologische,  die  auf  den  Anteil  der  Phantasie  an  den  Schöpfungen  der 
Kultur  abzielt. 

Bei  einer  Feststellung  dessen,  was  wir  positiv  von  der  kindlichen  Phantasie 
wissen,  ergibt  sich  folgendes: 

Die  kindliche  Phantasie  ist  verschieden  von  der  Phantasie  der  Erwachsenen, 
besonders  des  Künstlers.  Sie  nimmt  im  kindlichen  Seelenleben  eine  hervorragende 
Stellung  ein,  da  sie  verquickt  auftritt  mit  Wahrnehmung  und  Gedächtnis,  \ind  auf 
das  Erleben  und  die  Handlungen  des  Kindes  einen  großen  Einfluß  hat.  Trotz  dieser 
großen  Rolle,  die  die  Phantasie  spielt,  darf  man  nicht  jede  Äußerung  des  Kindes 
als  Phantasieleistung  ansprechen.  Auch  muß  man  die  große  Unbekümmertheit, 
mit  der  das  Kind  darauf  los  phantasiert,  nicht  für  einen  Vorzug,  sondern  für  eine 
Schwäche  halten.     Das  Kind  ist  mehr  phantastisch  als  phantasiebegabt. 

Die  einzelnen  Phantasievorstellungen  sind  dürftig  und  arm  an  Inhalt.  Typus 
der  „nüchternen  Phantasie".  Die  Phantasie  des  Kindes  tritt  auf  als  Lösen  und 
Verknüpfen  eines  gegebenen  Materials.  Die  kindliche  Phantasie  hat  mehr  einen 
reproduktiven  als  produktiven  Charakter,  doch  kann  man  aiich  beim  Kind  von 
schöpferischer  Phantasie  reden.  Sie  ist  beim  einzelnen  Kinde  verschieden  nach 
Anschaulichkeit,  Beweglichkeit,   Reizbarkeit. 

Die  Leistungen  der  kindlichen  Phantasie  zeigen  sich  im  Spiel,  im  Erfinden  und 
Ausmalen  von  Geschichten,  im  Wachtraum  und  erweisen  sich  als  die  Fähigkeiten 
der  Übertreibiing  und  Fälschung,  Vermenschlichung,  Belebung,  Beseelung,  Ein- 
fühlung und  der  freien  Erfindung. 

Die  Phantasieergebnisse  sind  gekennzeichnet  durch  die  Uneigentlichkeit  der 
Erlebnissphäre.  Die  Kinder  verwechseln  Phantasie  nicht  mit  Wirklichkeit,  sondern 
sind  sich  der  Illiision  bewußt. 

Die  Phantasie  wächst  mit  zunehmendem  Alter,  mit  der  Bereicherung  des 
Vorstellungslebens,  der  Erstarkung  von  Intelligenz  und   Wille. 


Einzelbesprechungen. 

Albert  Huth,  Ein  Jahr  Kindergartenarbeit.  Sammlung  Pädagogium.  Bd.  VIII.  Leipzig  1917. 
Klinkhardt.     156  S.     4,50  M. 

Huth  übte  seine  Tätigkeit  im  Kindergarten  des  Vereins  Versuchsschule  aus,  der  verschiedene 
Fragen  der  Schulreform  untersuchen  will,  und  faßt  die  Ergebnisse  seiner  Arbeit  und  seines 
Denkens  in  einem  theoretischen  Teil  —  Kindergartenlehre  —  und  einem  praktischen  Teil  — 
Beispiele  aus  dem  Kindergarten  —  zusammen. 

Die  Grundidee,  die  Huth  leitet,  ist  freie  Selbstbetätigung  der  Kinder,  Eingehen 
auf  das  Wesen  der  Kleinen  unter  Vermeidung  geisttötenden  Drills.  Huth  sucht  seinen  Weg 
aus  eigenem  Forschen  und  Beobachten  heraus,  stützt  sich  aber  auch  auf  Kenntnis  der  we- 
sentlichen einschlägigen  Literatur.  Doch  läßt  sich  das  Gefühl  nicht  ganz  unterdrücken,  als 
wenn  der  Verfasser  in  die  andrerorts  geleistete  praktische  Arbeit  nicht  so  tief  eingedrungen 
oder  in  seinem  Urteil  zum  mindesten  einseitig  geblieben  sei.  Er  bringt  zwei  Namen  in  merk- 
würdige Parallele;  Seite  5  seines  Buches  sagt  er:  „Durchaus  neue  Wege  zu  beschreiten  haben 
bisher  nur  zwei  Pädagoginnen  gewagt:  Marielly  Hiller  in  München  und  die  römische  Ärztin 
Dottoressa  Maria  Montessori".  Die  Montessori- Methode  wird  von  Huth  gänzlich  abgelehnt, 
wobei  er  sich  hauptsächlich  auf  das  in  den  meisten  Punkten  treffende  Urteil  Saffiottis')   stützt. 


1)  Zeitschrift  für  päd.  Psychologie  1914. 


Einzelbesprechungea  349 


Aber  um  einer  Persönlichkeit  wie  Montessori  gerecht  zu  werden,  müssen  auch  Stimmen  genannt 
werden,  die  sich  lobend  aussprechen.     Es  seien  nur  erwähnt: 

Lisa  Jaffee  in:   Zeitschrift  für  Schulgesundheitspflege.     XXVII,  1914  und  in:  Deutsche 

Schulpraxis  1914. 
K.  Wilker  in:  Die  deutsche  Schule.     XVII.  1913. 
Stern  in:  Die  Umschau.  XVIII.  1914. 
E.  V.  Sallwürk  in:  Pädagogisches  Magazin  543. 

Meines  Erachtens  verfällt  auch  Huth  in  den  Fehler  so  vieler  andrer,  Montessori  zu  einseitig 
nach  ihren  Sinnesübungen  zu  beiu-teilen,  die  hoffentlich  niemals  einen  deutschen  Kindergarten 
ganz  ausfüllen  werden.  Ihr  Buch  enthält  aber  noch  sehr  viel  Treffendes  und  Gutes,  daß  es 
hätte  erwähnt  werden  müssen.  Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  selbst  weiter  darauf  einzugehen. 
Albert  Huth,  der  mit  vollem  Recht  die  Verfrühung  des  Schreib-Lese-Unterrichts  bei  Montessori 
verurteilt,  hätte  sich  hier  auch  nicht  die  Gelegenheit  entgehen  lassen  sollen,  den  gleichen  Fehler 
zu  rügen,  der  im  Kindergarten  des  Vereins  Versuchsschule  begangen  wird,  umsomehr,  als  die 
dort  übliche  Methode  des  Biichstabenlottos  mir  weit  unpsychologischer  als  Montessoris  Versuch 
erscheint.  Dankbar  wären  ihm  außerdem  viele  gewesen,  hätte  er  hier  auch  ein  kräftiges  Wort 
gefunden  gegen  das  noch  immer  in  diesem  Kindergarten  gepflegte  Englischlernen.  Das  nur 
nebenbei. 

Jedenfalls  ist  Montessori  eine  wissenschaftlich  ernst  zu  nehmende  Persönlichkeit,  die  auf 
Grund  eingehender  Studien  einen  eigenen,  wenn  auch  vielleicht  falschen  Weg  beschritten  hat. 
Wir  können  ruhig  ihr  außerordentlich  fein  durchdachtes  System  der  Sinnesübung  fallen  lassen 
und  auf  die  überdies  reichlich  kostspielige  Anschaffung  des  stark  nach  der  experimentell- 
psychologischen Seite  gravitierenden  Materials  verzichten  —  dauernd  Wertvolles  bleibt  bestehen. 
Neben  der  sozialen  Bedeutung  ihres  Werkes  müssen  wir  auch  bei  objektiver  Beurteilung  Maria 
Montessori  dankbar  sein,  daß  sie  mit  Wort  und  Tat  gegen  die  Erstarrung  und  Mechanisierung 
des  Kindergartenbetriebs  gearbeitet  hat.  Die  Richtigkeit  der  Idee  der  Sinnesübung  im  frühen 
Kindesalter  wird  kein  Psychologe  leugnen  und  den  Wert  eigner  selbständiger  Kinderarbeit  kein 
Pädagoge  verkennen  Gerade  ihr  Vorwurf,  daß  die  Kindergärtnerin  zuviel  gibt,  zuviel  beauf- 
sichtigt, zuviel  befiehlt,  statt  zu  beobachten  und  daraus  zu  lernen,  trifft  leider  nur  allzu  häufig 
zu.  Auch  A.  Huth  ist  davon  vielleicht  nicht  ganz  frei  zu  sprechen,  wenn  er,  allerdings  aus 
dem  edlen  Motiv  aufopfernder  Kinderliebe,  nicht  wie  die  meisten  andern  aus  stumpfsinniger 
Schulpedanterie  heraus,  dem  Kinde  zuviel  sich  widmet.  In  dieser  Hinsicht  möchte  ich  Ellen 
Key's  Wort  verstanden  wissen:  „Das  Kind  nicht  in  Frieden  zu  lassen,  das  ist  das  größte  Ver- 
brechen der  gegenwärtigen  Erziehung  gegen  das  Kind."  Die  Freiheit  innerhalb  der  Betätigung, 
die  Huth  konsequent  und  mit  viel  Verständnis  für  die  Kinderseele  betont,  tut's  nicht  allein. 
Im  Kindergartenbetrieb  liegt  die  große  Gefahr,  daß  die  Kleinen,  ähnlich  wie  unter  der  Obhut 
einer  Mutter,  die  immer  mit  ihren  Kindern  spielt  und  arbeitet,  zur  Bequemlichkeit  des  Sich- 
Führen-Lassens  erzogen  werden,  daß  zarte  Keime  zum  Selbstbeschäftigen,  Selbstfinden  in  ihnen 
durch  die  zu  sehr  im  Vordergrund  stehende  Kindergärtnerin  frühzeitig  ersticken. 

Auf  alle  Fälle  hat  Montessori  versucht,  der  pädagogischen  Welt  etwas  Ganzes  und  etwas 
Neues  zu  geben.  Das  dürfte  bei  Marielly  Hiller  doch  nicht  der  Fall  sei.  So  nett  einige  ihrer 
Versuche  sind,  so  gut  sie  als  erfahrene  und  geschickte  Kindergärtnerin  den  Kinderton  zu  treffen 
sucht  und  weiß,  so  wenig  Geschlossenes  und  Positives  bleibt  übrig,  wenn  man  das  abzieht, 
was  Hut  sehr  treffend  an  ihrer  Arbeit  aussetzt.  Wer  durch  viele  Kindergärten  beobachtend 
gewandert  ist,  wird  überall  solch  persönliche  Ansätze  gesehen  haben,  wo  die  Leiterin  eben 
pädagogischen  Instinkt  besitzt.  Mit  demselben  Recht,  wie  Huth  M.  Hiller  als  neue  Pädagogin 
nennt,  müßten  dann  alle  jene  tüchtigen  Kindergärtnerinnen  erwähnt  werden,  deren  Arbeit  ich 
im  Pestalozzi-Fröbelhaus,  in  Leipzig,  Frankfurt  u.  a.  und  nicht  zuletzt  im  Münchner  Seminar- 
kindergarten beobachtet  habe.  Die  Artikel  Hillers  über  den  „Reformkindergarten",  den  ich  als 
solchen  nicht  anerkenne,  mögen  manchen  unkritischen  Leser  bestochen  haben. 

Umsomehr  Anhänger  wird  Huth  mit  seiner  Forderung  finden,  daß  Kindergärten  ,über  den 
Standpunkt  von  Bewahr-  und  Beschäftigungsanstalten  zu  erheben  sind"  (S.  15).  Vielen  wird 
er  zu  optimistisch  erscheinen  in  der  Verfechtung  seiner  Idee.  Im  wahren  Kindergarten  sieht 
er  ein  „Stück  der  vaterländischen  Einheitsschule"  (S.  154)  —  ob  er  damit  Recht  behält,  kann 
nur  die  Zeit  lehren.  Er  berührt  damit  die  alte  Streitfrage,  ob  der  Kindergartenbesuch  obliga- 
torisch gemacht  werden  soll  oder  nicht;  ich  halte  die  Entwicklung  der  nach  psychologischen 
Gesichtspunkten  orientierten  Kindergartenerziehung  noch  nicht  für  so  weit  gediehen,  um  die 
angeschnittene  Frage  nach  irgendeiner  Seite  bestimmt  zu  beantworten. 

Eine  reine  Freude  bereitet  Huth  dem  Leser  durch  die  psychologisch  und  pädagogisch 
begründete  Auswahl  des  Stoffes,  den  er  dem  Kindergarten  zuweist.    Anschauungs-Arbeitsunter- 


350  Einzelbesprechungen 


rieht,  unterstützt  durch  viele  Beobachtungsspaziergänge,  Sprechunterricht,  Gemütsbildung,  Zählen, 
außerordentliche  Mittel  der  Vorstellungsbildung  durch  sogenannten  „Gelegenheitsunterricht*, 
Körperbildung  —  und  das  alles  dienstbar  gemacht  der  gesamten  Charakterbildung,  das  sind 
Dinge,  die  wohl  jedermann  gerne  im  Kindergarten  gelten  lassen  wird,  zumal  Huth  eine  Fülle 
von  Ausführungen  und  Anregungen  dazu  gibt.  Drei  Stoffkreise  läßt  er  im  Kindergarten  neben- 
einander herlaufen:  Kindliches  Leben  —  vom  Nahen  zum  Entfernten  —  Was  das  Jahr  bringt. 
Die  Grundsätze,  die  heute  im  allgemeinen  maßgebend  sind  für  die  Stoff auswahl,  laufen  zum 
Teil  herzlich  weit  auseinander:  Die  einen  —  ich  nenne  sie  Jünger  des  mißverstandenen  Fröbel 
—  schwören  auf  den  technischen  Stufengang  und  sind  stolz,  wenn  die  Kinder  eine  fabelhafte 
Gewandtheit  im  vielgepriesenen  Karton- Ausnähen,  im  Falten,  Flechten  usw.  erreicht  haben;  ob 
damit  wertvolle  Erkenntnis  gewonnen,  Gemüt  und  Wille  gebildet  wird,  ist  Nebensache.  Albert 
Hutli  geißelt  diese  Richtung  mit  erfi-ischender  Offenheit.  Gegenüber  einer  anderen  Tendenz,  das 
kindliche  Interesse  mit  formalen  Begriffen,  losgelöst  von  jeglichem  Wirklichkeitsunterricht,  zu 
befriedigen,  betont  Huth  die  Notwendigkeit  des  Einheitsstoffes;  denn  die  Hauptaufgabe  des 
Kindergartens  ist,  „in  den  Kindern  Gegenstandsbegriffe  des  täglichen  Lebens,  der  realen  Um- 
welt wirklich  klar  werden  zu  lassen."  (S.  25.)  Dafür  bringt  Huth  nun  eine  Reihe  trefflicher 
Belege;  das  Wertvollste  daran  erscheint  mir  seine  Forderung  nach  einem  zweckmäßigen  Ganzen, 
das  aus  der  gemeinschaftlichen  Arbeit  der  Kinder  erstehen  soll.  Damit  deckt  Huth  einen 
Fehler  auf,  dem  fast  alle  Kindergärten  verfallen  sind:  soviel  Kleinzeug,  soviel  Nichtigkeiten, 
soviel  Zusammenhangloses.  Will  man  Anfänge  zu  sozialer  Gesinnung  im  Kindergarten  legen, 
so  muß  man  eben  dem  Kinde  reichlich  Gelegenheit  zu  Arbeiten  bieten,  die  ein  Ganzes  sind, 
entstanden  aus  der  Tätigkeit  ^vieler  Einzelner.  So  erzählt  uns  Huth,  wie  er  durch  Gruppen- 
beschäftigung z.  B.  eine  Straße  entstehen  läßt.  Die  Einheitsstoffe,  die  Huth  nennt,  sind  fast 
durchwegs  lebensfrisch,  nicht  um  jeden  Preis  ausgequetscht  bis  zum  letzten  Tropfen  und  in 
der  praktischen  Durchführung  sicher  noch  individueller  zu  gestalten,  als  sich  dies  in  einem 
Buch  darstellen  läßt.  Allerdings  werden  sich  manche  der  genannten  Arbeiten  nur  mit  großer 
Aufopferungsfähigkeit  einer  Kindergärtnerin  durchführen  lassen ,  die  in  ihrem  Beruf  sich  frisch 
erhält  und  stets  sich  fortzubilden  bemüht  ist.  Möchten  Huth's  Anregungen,  die  besonders  auch 
dem  „Gelegenheitsstoff"  in  seiner  großen  Bedeutung  gerecht  werden,  allen  jenen  in  die  Hand 
kommen,  die  bereits  im  Besitz  des  „Einheitsstoffes"  sind  imd  ihn  in  unglaublichem  Schema- 
tismus dahin  auslegen,  daß  man  sich  für  ungefähr  einen  Monat  mit  einem  Stoff  zu  versehen 
habe  —  ob  das  Kind  gerade  daraufhin  eingestellt  ist,  ei'scheint  nebensächlich  —  und  daß  man 
innerhalb  dieses  Rahmens  iftm  dem  technischen  Stufengang  mit  rührender  Engherzigkeit  gerecht 
zu  werden  sucht.  Der  Kindergarten  muß  sich  unbedingt  frei  halten  von  jeder  Angleichung  an 
die  Schule,  stofflich,  didaktisch  und  methodisch. 

Die  Unterrichtsgänge  und  Tagesausflüge,  die  Huth  vornimmt,  bringen  nicht  nur  Freude 
und  Abwechslung  ins  Kinderleben,  dienen  nicht  nur  dem  gesundheitsfördernden  Aufenthalt  in 
frischer  Luft,  sie  sind  auch  planmäßig  zusammengestellt  zur  systematischen  Erweiterung  des 
kindlichen  Vorstellungskreises.  Wege  nicht  nur  zu  gehen,  sie  auch  kennen  zu  lernen  —  wenn 
man  das  Planzeichnen,  selbst  in  Huth's  primitiver  Art,  auch  als  etwas  früh  betrachien  mag  — 
bedeutet  eine  wichtige  Aufgabe  der  ersten  Heimatkunde.  Trotzdem  darf  auch  hier  nicht  des 
Guten  zu  viel  getan  werden;  Kinderleistungen  im  Wandern,  wie  Huth  sie  erzielt,  gehen  hart 
an  die  Grenzen  der  Übermüdung. 

Sehr  viel  Beherzigenswertes  bringt  Huth  in  seinen  Bemerkungen  über  Singen,  Spielen  und 
Turnen.  Mit  Recht  wendet  er  sich  gegen  die  noch  weit  verbreitete  Sitte  des  zeilenmäßigen 
Eindrillens  eines  Gedichtes,  das  dadurch  jede  Kindertümlichkeit  verliert.  Auch  die  gesonderte 
Darbietung  von  Text  und  Melodie  verwirft  Huth.  Die  Wirkung  eines  Liedes  auf  das  Kinder 
gemüt  beruht  sicher  vor  allem  auf  der  Sangesweise ;  deswegen  aber  muß  beim  Einprägen  dem- 
Kind  ja  nicht  immer  beides  zugleich  gegeben  werden. 

Aus  Huth's  Ausführungen  geht  klar  hervor,  daß  Kindervers  und  Lied,  Märchen  und  Er- 
zählungen ihren  Eigenwert  im  Kindergarten  behalten  müssen»  dalS  sie  nie  lediglich  Mittel  der 
Sprachpflege  sein  dürfen,  soll  nicht  das  Kindergemüt  verflachen  und  verkümmern.  Daß  eine 
Sprachförderung  für  das  Kind  sich  daraus  von  selbst  ergibt,  ist  natürlich.  Mit  Recht  verweist 
nun  !der  Verfasser  die  reine,  gewollte  Sprachpflege  in  den  Sprechunterricht,  der  die  Mundart 
des  Kindes  allmählich  ins  Hochdeutsche  überführen  soll.  Seine  praktischen  Beispiele  (S.  118  ff.) 
lassen  jedoch  dieses  Bestreben  nicht  klar  erkennen ;  sollte  wirklich  die  Tätigkeil  des  Erziehers 
sich  darin  erschöpfen,  daß  er  selbst  hochdeutsche  Fragen  stellt,  die  Kinderantworten  weiter 
aber  nicht  auswertet?  Die  wichtige  Aufgabe  der  Sprachpflege  im  Volkskindergarten  wird 
meines  Erachtens  heute  noch  stark  vernachlässigt;  abgesehen  vom  Schreien  und  Leiern,  das 
gern  durch  die  Masse  großgezogen  wird,  klagt  manche  Mutter,  mancher  Lehrer  mit  Recht,  daß 


Einzelbesprechungen  351 


der  Kindergarten  die  Sprache  verbildet  statt  gebildet  hat.  Die  Notwendigkeit  rein  phonetischer 
Übungen  —  natürlich  in  kindlicher  Weise  vorgenommen  —  wird  in  den  meisten  Volkskinder- 
gärten gegeben  sein.  Das  Kapitel  Kindersprache  und  ihre  Pflege  umspannt  ja  ein  weites  imd 
umstrittenes  Gebiet.  Mit  den  Bestrebungen  Berthold  Ottos  kann  ich  mich  nicht  solidarisch 
erklären,  wie  der  Verfasser  dies  tut.  Kinder  wollen  gehoben  werden  und  fordern  nicht  vom 
Erwachsenen  ihre  eigene  Sprache,  er  braucht  deshalb  noch  lange  nicht  reines  Hochdeutsch  zu 
sprechen,  seine  Redewendungen  müssen  vor  allem  einfach  sein.  In  den  Erzählbeispielen,  welche 
Huth  gibt  und  die  an  Lebensfrische  nichts  zu  wünschen  übrig  lassen,  vermisse  ich  jeden  An- 
satz zur  langsamen  Sprachhebung;  die  Kindersprache,  die  anfangs  und  in  besonderen  Fällen 
auch  Sprache  des  Erziehers  sein  muß,  soll  doch  die  Tendenz  der  Entwicklung  zeigen ;  nur  so  ist 
eine  allgemeine  Hebung  möglich.  Erwähnen  möchte  ich  da  die  feine  Unterscheidung  von  Kl.  Groth, 
nach  welcher  Dialekt  nur  die  Sprechweise,  die  verschiedene  Aussprache  desselben  Wortstofi'es 
ist,  Mundart  dagegen  die  Sprechart,  die  Verschiedenheit  des  Wortstotfes.  Selbst  wenn  Huth 
die  Anwendung  der  Altersmundart  fordert,  wäre  ein  Dialekt  in  dem  AusmatJ,  wie  er  ihn  in 
seinen  Beispielen  zeigt,  wohl  zu  weitgehend.  Eine  eigene  Sache  ist  es  um  das  Verkindlichen 
der  biblischen  Geschichten;  auch  hier  kann  man  in  erster  Linie  den  Vorwurf  nicht  unter- 
drücken, daß  Huth  zu  weit  gegangen  ist.  Die  prinzipielle  Frage  wird  wohl  jeder  seinem 
Gefühl  nach  anders  beantworten. 

München.  Frieda  Seh  er  mau. 

Dr.  Thomas  Lenschau:  Deutschunterricht  als  Kulturkunde.  Leipzig  1917,  Quelle 
&  Meyer.     94  S.  2,56  M. 

Als  der  Bestand  unseres  Volkes  bedroht  war,  als  in  den  weitesten  Kreisen  noch  nicht  das 
Bewußtsein  des  starken  Eigenwertes  unseres  Volkstums  hinter  den  grauen  Sorgen  des  Alltags 
zurückgetreten  war,  da  regten  sich  überall  Stimmen,  die  unser  gesamtes  Bildungswesen  auf 
eine  völlig  neue,  vermeintlich  allein  völkische  Grundlage  gestellt  wissen  wollten.  Zu  dem 
Zwecke  wurden  geradezu  revolutionäre  Änderungen  verlangt,  und  es  war  wieder  einmal  das 
hufnanistische  Gymnasium,  das  am  meisten  herhalten  mußte.  Besonnene  Schulmänner  aber 
legten  sich  die  Frage  vor,  ob  sich  die  notwendige  Verstärkung  der  nationalen  Bildungselemente 
in  unserem  höheren  Schulwesen  nicht  auch  ohne  Revolution  erreichen  ließe.  Konkret  aus- 
gedrückt heißt  das:  Kann  man  den  deutschen  und  den  geschichtlichen  Unterricht  in  seinen 
Wirkungen  verstärken,  ohne  an  den  bewährten  Grundlagen  unseres  Bildungswesens  allzusehr 
zu  rütteln  V  Da  haben  wir  nun  für  den  deutschen  Unterricht  einen  schönen  Lösungsversuch 
in  dem  vorliegenden  Buch.  Hier  liefert  ein  erfahrener  Schulmann,  der  sein  Gebiet  mit  erstaun- 
licher Gelehrsamkeit  beherrscht,  einen  wertvollen  Beitrag  zur  Lösung  dieses  Problems,  einen 
Beitrag,  der  den  Vorzug  hat,  ohne  Umstura  vei-wirklicht  werden  zu  können. 

Schulfi-agen  regen  die  öffentliche  Meinung  eigentlich  nicht  auf.  Höchstens  finden  einmal 
temperamentvolle  Angriffe  auf  unser  Bildungswesen  jenen  lauten  Widerhall,  auf  den  revolutionäre 
Schriften  immer  rechnen  können ;  aber  durchgearbeitete  Reformvorschläge  erfordern  Nachdenken, 
das  der  moderne  Leser  von  Zeitungsartikeln  und  kurzen  Druckschriften  nun  einmal  nicht  liebt. 
Und  aufregend  ist  dieses  Büchlein  wahrhaftig  nicht,  aber,  was  unendlich  viel  besser  ist,  in 
hohem  Maße  anregend.  Und  darum  könnte  es  außerordentlich  viel  Segen  stiften,  wenn  es 
nicht  nur  in  dem  engeren  Kreise  der  Fachlehrer  gründlich  studiert  würde,  sondern  auch  die 
Beachtung  aller  derer  fände,  die  an  deutscher  Erziehung  mitwirken  sollen  und   wollen. 

Das  Buch  will  praktische  Arbeit  leisten-  Aber  es  ist  kein  Präparationsbuch  für  die  einzelnen 
Stunden,  sondern  es  zeigt  dem  Lehrer,  wie  riesengroß  das  Gebiet  ist,  das  er  zu  durchackern 
hat,  und  gibt  ihm  auch  Anleitung,  wie  er  seinen  Stoff  auswählen  und  für  jede  Stufe  fruchtbar 
machen  kann.  Indessen  zeigt  es  uns  die  Einführung  in  das  deutsche  Kulturleben  der  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart  nicht  nur  von  ferne;  es  ist  gerade  darin  eine  echt  philologische 
Leistung,  daß  es.  wie  Goethe  will,  die  Andacht  zum  Kleinen  erweckt  und  in  der  Betrachtung 
des  Naheliegenden,  des  täglichen  Lebens  und  seiner  Sprache,  der  Namen,  Sprichwörter  und 
Redensarten,  die  von  Mund  zu  Mund  gehen,  unserem  heranwachsenden  Geschlecht  gezeigt 
wissen  will,  wie  unsere  Väter  gedacht  und  gearbeitet  haben.  Bewußter  Gebrauch  der  Mutter- 
sprache soll  das  Ziel  der  deutschen  Sprachbildung  sein,  dazu  gehört  aber  nicht  nur  ortho- 
graphische und  grammatische  Richtigkeit  und  stilistische  Gewandtheit  in  ihrem  Gebrauch,  dazu 
gehört  auch  die  Einsicht,  wie  das  ■  gesamte  Leben  der  Vergangenheit  auf  den  Sprachgebrauch 
eingewhkt  hat  und  noch  viele  Jahrhunderte  nach  seinem  Absterben  in  ihm  fortlebt.  Aus  der 
Wortkunde  läßt  sich  die  ganze  Geschichte  der  deutschen  Kultur  mit  all  ihren  Verästelungen 
und  Verzweigungen  entwickeln.  So  wird  die  oft  als  langweilig  verschrieene  deutsche  Gram- 
matik zu  einem  höchst  lebensvollen  und  für  die  nationale  Bildung  fruchtbaren  Unterrichtszweig. 


352  Einzelbesprechungen 


U^d  je  weiter  diese  zunächst  zwanglose  Betrachtung  zu  der  Einführung  in  die  Gesetzmäßigkeit 
der  Sprachentwicklung  fortschreitet,  desto  mehr  leistet  sie  das,  was  keine  Übermittelimg  von 
Normen  und  Regeln  leisten  kann,  nämlich  Erziehung  zu  verständnisvollem  Gebrauch  der 
Muttersprache  und  Einsicht  in  ihr  organisches  Leben.  Jeder  Unterricht  aber,  der  nicht  in  die 
lebendige  Gegenwart  hineinführt,  ist  überflüssig  und  daher  schädlich.  Biologie,  Lebenslehre, 
wollen  die  Naturwissenschaften  sein,  und  darauf  beruhen  ihre  Lehrplanerfolge  in  den  letzten 
Jahren.  Wie  das  Kulturleben  der  Gegenwart  geworden  ist,  das  sollen  und  müssen  auch  die 
sogenannten  geisteswissenschaftlichen  Fächer  aufweisen,  und  darin  liegt  auch  die  besondere 
nationale  Aufgabe  des  deutschen  Unterrichts.  Als  Glied  des  schaffenden  Volkes  soll  sich  der 
Schüler  fühlen  und  einordnen  lernen,  die  Verpflichtung,  das  Erbe  der  Väter  zu  bewahren  und 
fortzubilden,  muß  ihm  in  Fleisch  und  Blut  übergehen. 

Doch  der  deutsche  Unterricht  ist  nicht  nur  Sprachlehre.  Freilich  gilt  es,  hier  am  meisten 
die  bessernde  Hand  anzvdegen,  weil  abgesehen  von  den  lateintreibenden  Schulen  hier  häufig 
eine  gar  zu  große  Belastung  mit  lediglich  formalen  Bildungselementen  vorliegt.  Hierfür  ist 
die  Muttersprache  eigentlich  zu  schade  und  auch  viel  weniger  geeignet  als  die  Fremdsprachen. 
Den  Mittelpunkt  soll  vielmehr  die  Lektüre  bilden,  die  von  immer  umfangreicher  werdenden 
Lesestücken  schließlich  zu  großen  einheitlichen  Kunstwerken  übergeht  Deutsches  Leben, 
Denken  und  Fühlen  der  Vergangenheit  und  der  Gegenwart  spiegelt  sich  in  ihnen,  und  darauf 
liegt  der  Hauptton  bei  der  Behandlung  und  nicht  etwa  auf  der  Herausarbeitung  von  Dispositionen. 
Je  wirkungsvoller  aber  die  Darstellung  des  Lebens  ist,  desto  höher  ist  der  Kunstwert.  Und 
hier  liegen  die  ästhetischen  Aufgaben  des  deutschen  Unterrichts.  Er  muß  zeigen,  wie  der 
Künstler  das  Leben  darstellt  und  es  zugleich  erhöht. 

So  führt  das  schöne  Büchlein  durch  das  ganze  Arbeitsgebiet  dieses  wichtigsten  Unterrichts- 
faches hindurch,  überall  reiche  Anregung  spendend.  Schließlich  zeigt  es  die  Notwendigkeit 
und  die  Möglichkeit  einer  zusammenhängenden  Geschichte  des  deutschen  Geistes  an  der  Hand 
seiner  hervorragendsten  Erzeugnisse  bis  in  die  Gegenwart  hinein.  Und  der  Verfasser  beschränkt 
sich  nicht  auf  die  Dichtung,  er  will  auch  für  die  Betrachtung  der  bildenden  Künste  und  der 
Musik  einen  Platz  in  diesem  großen  Zusammenhang  schaffen,  und  er  tut  recht  daran.  Denn 
auch  diese  Gebiete  sind  Auswirkungen  des  deutschen  Geistes  und  zeigen  deutsches  Leben  und 
Streben.     Den  Sinn  dafür  muß  also  auch  der  deutsche  Unterricht  erschließen. 

Aber  wehe,  dann  haben  wir  ja  wieder  das  Schreckgespenst  der  verrufenen  allgemeinen 
Bildung  mit  ihrem  enzyklopädischen  Notizenwissen!  Gemach,  den  organischen  Zusammenhang 
bringt  schon  die  Kunst  des  Lehrers  hinein,  wenn  er  selbst  nur  gute  Augen  für  die  Entwickelung 
und  Offenbarung  des  deutschen  Geistes  hat.  Aber  es  wäre  zu  wünschen,  daß  auch  die  Uni- 
versitätslehrer nicht  achtlos  an  diesem  Büchlein  vorbeigingen;  sie  könnten  daraus  ersehen,  was 
sie  dem  künftigen  Deutschlehrer  in  sein  Lehramt  mitgeben  müßten,  und  hier  wären  noch  viele 
Mängel  abzustellen. 

Berlin-Steglitz.  Gottfried  Brunner. 

Dr.  phil.  August  Graf  v.  Pestalozza,  Aufgabe  der.  geschichtlichen^  Darstellung 
der  Pädagogik.     Langensalza  1917.    Beyer  &  Co.     29  S.     0,  50  M. 

Pestalozza  führt  zwei  methodologisch  unterschiedene  Gruppen  von  geschichtlichen  Darstel- 
lungen der  Pädagogik  an  literarischen  Beispielen  vor:  die  diskursive  und  die  intuitive. 

Die  diskursiveMethode  unternimmt  den  Versuch,  die  Entwicklung  des  pädagogischen  Denkens 
darzulegen.  Sie  ist  evolutionistisch.  Die  innere  und  äußere  Organisation  des  Erziehungswesens 
tritt  bei  solchem  Verfahren  als  das  Mittel  entgegen,  das  der  Realisation  der  pädagogischen  Idee 
dient.  Die  diskursive  Methode  wird  daher  letzthin  reflektierend.  In  dem  geschichtlichen  Teil 
von  Rosenkranz'  „Pädagogik  als  System"  (1848)  wird  von  Pestalozza  ein  Beispiel  dieses  Ver- 
fahrens untersucht.  Dagegen  stellt  sich  nun  die  intuitive  Methode  darauf  ein,  den  zutage  treten- 
den Äußerungen  des  pädagogischen  Denkens  nachzugehen.  Sie  bringt  die  Tatsachen  der  Er- 
ziehungsgeschichte zur  Anschauung,  ist  also  nicht  erörternd,  sondern  beschreibend.  Es  wird  von 
Pestalozza  der  Nachweis  geführt,  daß  die  historisch-pädagogische  Literatur  fast  ausschließlich 
die  intuitive  Methode,  die  besser  als  deskriptive  zu  benennen  wäre,  angewandt  hat. 

Über  das  Verhältnis  beider  Verfahren  deutet  Pestalozza  an,  daß  keine  der  anderen  entraten 
könne:  Die  diskursive  Methode  würde  in  leeres  Worttum  ausarten,  wenn  sie  ablehnen  wollte, 
sich  von  der  intuitiven  Methode  das  Material  reichen  zu  lassen,  und  hinwiederum  bedarf  die 
letztere  der  ersteren  als  des  Kompasses,  wenn  sie  nicht  ziellos  und  ratlos  umherschweifen  will. 

Stollberg.  Paul  Ficker. 


Von  der  Denkverfassung  der  deutschen  Seele  in  der  Zeit 

der  großen  Krisis. 

Von  Hugo  Gaudig. 

Im  folgenden  gebe  ich  etwas  über  die  Denkverfassung  der  deutschen 
Seele,  wie  ich  sie  in  der  Zeit  der  großen  Krisis,  in  der  Zeitstrecke  von 
unserer  Bitte  um  Waffenstillstand  bis  zur  Erklärung  der  sozialen 
Republik,  schaute  und  vermutungsweise  erschloß.  Es  war  eine  Zeit, 
die  an  die  Seele  des  deutschen  Volkes  die  nachhaltigsten  Denk- 
forderungen stellte  und  zugleich  die  Erfüllung  der  Forderungen  aufs 
äußerste  erschwerte.  Das  deutsche  Volk  erlebte  in  dieser  Zeit  Schicksals- 
wandlungen wie  selten  in  seiner  schicksalsreichen  Geschichte;  Wand- 
lungen, die  durch  ihr  Zeitmaß  das  Denken  zu  atemloser  Hast  aufriefen; 
Wandlungen,  denen  die  Zusammenhängigkeit,  die  Kontinuität,  fehlte  und 
die  so  dem  Denker  besonders  schwere  Aufgaben  stellten;  Wandlungen, 
die  den  Geist  zum  Weiterdenken  in  die  Zukunft  hinein  zwangen  und 
ihm  so  die  Forderung  des  vermutenden,  ahnenden  Denkens,  so  z.  B.  der 
Schätzung  latentertKräf te,  auferlegten ;  Wandlungen  aber  vor  allem,  die 
das  Gemüt  aufs  tiefste  erregten  und  so  dem  Denkwillen  und  dem 
Streben  nach  Erkenntnis  alle  Hemmungen  der  starken  Gemütsbe- 
wegungen, der  positiven  und  der  negativen,  in  den  Weg  warfen;  end- 
lich noch :  Wandlungen,  die  zu  schwerwiegenden  Wertungen,  zu  grund- 
legenden Wertentscheidungen  fortrissen,  so  unsicher  solche  Wertungen 
ausfallen  mußten.  Mir  aber  war  diese  Beschäftigung  mit  der  Denk- 
verfassung der  deutschen  Seele,  der  deutschen  Menschen,  ein  harter 
Zwang,  dem  ich  mich  fügte,  weil  mir  das  Achten  auf  diese  Denkver- 
fassung namentlich  bei  den  Bewegungen  des  öffentlichen  Lebens  seit 
Jahren  eine  Lebensgewohnheit  war,  auf  die  ich  nicht  verzichten  durfte 
—  jetzt,  wo  es  so  schwer  geworden  ist,  über  das  Denken  des  deutschen 
Volkes  zu  denken. 

Die  Ereignisse,  die  schicksalsschwer  unseren  Zeitraum  füllen,  sind 
sich  in  einem  solchen  Zeitmaß  gefolgt,  daß  sie  vielfach  den  Geist  der 
Volksgenossen  betäubt  und  denkunfähig  gemacht  haben.  Vielen  war 
es  bei  den  einzelnen  Phasen  des  Geschehens,  als  verlören  sie  den 
Boden  der  Wirklichkeit  unter  den  Füßen;  sie  büßten  die  Orientierung, 
die  Möglichkeit  sich  zurechtzufinden,  ein;  es  war  ihnen  und  ist  ihnen 
noch  oft,  als  sei  die  Wirklichkeit  ein  Traum.  Umgekehrt  mag  es  denen, 
die  die  Zeit  der  Erfüllung  gekommen  glauben,  bei  ihrem  Denken  so 
sein,  als  wären  Träume  zu  Wirklichkeiten  geworden.  Bei  denen,  die 
das  Wirklichkeitsbewußtsein  und  das  Wirklichkeitsgefühl  verloren  haben, 

Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie.  23 


354  Hugo  Gaudig 


konnte  selbstverständlich  der  Denkwille,  wenn  er  sich  überhaupt  regte» 
nur  schwer  sich  durchsetzen. 

Naturgemäß  stand  die  Denkverfassung  der  Zeitgenossen  in  unserer 
Zeit  unter  dem  starken  Einfluß  des  bis  in  seine  Tiefe  aufgeregten  Ge- 
fühlslebens. Wie  war  unser  Leben  doch  bestimmt  durch  die  Spannungs- 
und Lösungsgefühle  der  Erwartung,  der  Hoffnung,  der  Ungeduld,  der 
Enttäuschung,  der  Überraschung,  des  Zweifels;  welche  Unsumme 
seelischer  Marter  haben  deutsche  Herzen  erlitten,  ehe  sie  zu  der  Ge- 
wißheit kamen,  daß  unsere  Widerstandskraft  erschöpft  war;  welches  Auf 
und  Ab  von  Hoffnung  und  Furcht;  wie  oft  haben  wir  die  Linie  krampf- 
haft festgehaltener  Gewißheit,  quälenden  Zweifels,  bitterer  Enttäuschung 
durchlaufen!  Und  dann  wirkten  auf  unsere  innere  Gesamtverfassung 
neben,  in  und  mit  den  Spannungsgefühlen  dank  unserer  Einfühlung 
in  unser  ringendes  Heer  die  Kraftgefühle:  „die  Gefühle  des  Gelingens, 
des  Vorwärtskommens",  „der  Erhobenheit"  —  und  ihr  Gegenteil:  „die 
Gefühle  des  Mißlingens,  des  Zurückmüssens",  des  „Abgeschlagenseins." 
Weil  aber  unseres  Volkes  Ehre  unsere  Ehre,  sein  Schwert  unser  Schwert 
ist,  so  war  unsere  Seele  dem  nationalen  Ehrgefühl  und  dem  nationalen 
Schmachgefühl  weit  geöffnet.  Vor  allem  aber  erweckte  doch,  was  ge- 
schah und  geschieht,  unsere  Zu-  und  Abneigung,  unsere  Liebe  und 
unseren  —  Haß,  unsere  Achtung  und  Verachtung,  unser  Vertrauen  und 
Mißtrauen,  unsere  Verehrung  und  unsere  Abscheu,  unsere  Mitfreude 
und  vor  allem  unser  Mitleid.  Und  diese  Gefühle  ergriffen  unsere  Seele 
nicht  vereinzelt  und  sauber  geschieden,  wie  sie  ein  psychologisches 
Lehrbuch  scheidet,  sondern  in  Verbindungen,  in  denen  sich  die  gesamte 
Gefühlserregung  zu  hohen  und  höchsten  Graden  steigerte.  Naturgemäß 
hatten  die  Gefühle  an  sich  den  Charakter  der  Affekte;  auch  die  ge- 
fühlsträgste Seele  wird  an  sich  erfahren  haben,  was  diese  „Chok- 
gefühle"  zu  besagen  haben,  die  Stärke-  und  Schwächeaffekte:  Zorn  und 
Wut,  Angst  und  Schrecken,  Trauer  und  Kummer.  Für  unsere  gesamte 
Gefühlslage  aber  war  kennzeichnend,  daß  die  Gefühle  den  Mittelpunkt 
unseres  Ich,  unserer  Persönlichkeit  angriffen  und  sich  zu  einer  ausge- 
sprochenen Gefühlslage,  einem  stark  fühlbaren  Lebensgefühl  aus- 
breiteten. In  unserer  Sorge,  unserem  Kummer,  unserer  Verzagtheit, 
unserer  Verzweiflung  erlebten  wir  Stimmungen,  „die  das  Ich  in  seiner 
Tiefe  berühren"  i). 

Gegenüber  diesem  Überdruck  der  Gefühle  konnte  sich  in  den  Seelen 
der  Zeitgenossen  der  Denkwille  oft  nur  schwer  durchsetzen.  Ja  hier 
und  da  dürfte  die  Forderung,  die  der  Denkwille  erhob,  daß  das  Sub- 
jekt „reines  Subjekt  des  Erkennens"  werde,  als  ein  Unrecht  gefühlt 
sein:  Denken  ein  Unrecht,  weil  die  Zeit  das  Gefühl  forderte. 

Vielfach  aber  konnte  es  ja  gar  nicht  anders  sein,  als  daß  die  Zeit- 
genossen trotz  aller  Inanspruchnahme  des  Gefühlslebens  dem  von  allen 
Seiten  auf  sie  eindringenden  Antriebe  zum  Denken  Raum  gaben. 
Dann  aber  blieb  zumeist  ihr  Denken  unter  der  Herrschaft  ihrer  Gefühle: 
ihre  Auffassung  des  Geschehenden,  die  Auswahl  dessen,  was  sie  be- 
achteten,  das  Maß   der  Wahrscheinlichkeit,   das   sie  den  Nachrichten 


*)  Vergl.  A..  Messer,  Psychologie,  S.  292  fg. 


Von  der  Denkverfassung  der  deutschen  Seele  in  der  Zeit  der  großen  Krisis     355 

beimaßen,  ihre  Stellungnahme  zu  Ereignissen,  Personen,  Ideen,  ihr 
Werten,  ihr  Ja  und  Nein  war  abhängig  von  ihren  Affekten,  ihren 
Stimmungen.  Nur  d  i  e  Gedanken  kamen  auf,  die  in  der  Richtung  ihrer 
Stimmung  lagen.  Daher  auch  die  auffällige  Erscheinung  des  starken 
Wechsels  im  Urteil,  besonders  auch  im  Werturteil  über  Menschen  und 
Dinge,  ein  Wechsel,  der  immer  wieder  die  Unruhe  der  Gefühlslage  ver- 
stärkte. Infolge  der  Schwankungen  zwischen  optimistischer  und  pessi- 
mistischer Stimmung  wurde  das  Denken  bei  der  Auffassung  der  Lage 
zwischen  grellen  Gegensätzen  hin-  und  hergeworfen.  Nicht  selten 
begegnete  allerdings  auch  ein  Denken,  das  dauernd  unter  dem  Einfluß 
einer  unüberwindlich  erscheinenden  pessimistischen  Grundstimmung 
stand,  während  die  Fälle  optimistischer  Auffassung  mehr  den  Charakter 
des  Gewollten,  gesteigert  bis  zum  Krampfhaften,  aufzuweisen  schienen; 
es  war  ein  Nichtsehnwollen,  ein  Weglenken  der  Aufmerksamkeit  von 
den  Momenten  der  Gesamtlage,  die  außerhalb  der  Richtung  der  be- 
jahenden Lebensstimmung  lagen. 

Vor  dem  Beginn  des  Krieges  stand  bei  uns  als  eine  bedenkliche  Ver- 
fallerscheinung das  Ästhetentum  in  Blüte.  Der  Krieg  mit  seiner 
furchtbar  harten  Realität  hatte  dem  Ästhetentum,  wie  es  schien,  ein 
Ende  bereitet.  Am  wenigsten  erschienen  die  Tage,  in  denen  wir  uns 
zu  der  Erkenntnis,  nicht  siegen  zu  können,  durchringen  mußten,  ebenso 
die  Tage,  in  denen  sich  ein  Kulturwandel  ohnegleichen  vollziehen 
will,  als  ein  Zeitraum,  der  für  die  Art  des  Ästheten,  die  Welt  zu  schauen, 
günstig  war.  Eine  reine  Anschauung  im  Stil  des  Ästhetizismus  mag 
auch  zu  den  Seltenheiten  gehört  haben.  Und  doch  habe  ich,  wenn 
ich  recht  gesehen  habe,  mindestens  die  Sehnsucht  nach  einer  ästhe- 
tischen Betrachtung  des  gewaltigen  Zeitverlaufs  beobachten  können. 
Da  regte  sich  eine  „ekstatische  Lust"  an  der  Bewegung,  an  der  unge- 
heuren Fülle  erregter  Kräfte,  an  den  aufwühlenden  Schicksalsverläufen, 
denen  das  deutsche  Volk,  die  europäischen  Völker,  die  Menschheit 
unterworfen  ist;  eine  ästhetische  Lust,  eine  Lust,  wie  man  sie  „genießt", 
wenn  man  im  Parkett  Zuschauer  einer  Tragödie  ist.  „Wenn  man  nur 
nicht  drin  stäke",  hörte  ich  aber  dann  wohl  klagen;  die  Ästheten- 
stimmung konnte  sich  nicht  behaupten.  Jedenfalls  waren  Menschen, 
die  zu  dieser  Richtung  neigten,  in  keiner  guten  Denkverfassung.  Ein 
sittlicher  Entschluß,  denken  zu  wollen,  weil  die  denkende  Erfassung 
der  Zeit  sittliche  Pflicht  ist,  konnte  in  ihnen  ebenso  wenig  aufkommen, 
wie  ein  lauteres  Erkenntnisstreben,  das  seine  Kraft  aus  dem  Bewußt- 
sein der  Erkenntniswürdigkeit  zieht,  die  dem  großen  Geschehen  unserer 
Zeit  eigen  ist.  Es  wird  also  zur  Abneigung  gegen  das  Denken,  viel- 
leicht zur  Denkflucht  kommen. 

Denkflucht  konnte  aber  auch  bei  einer  ganz  anderen  Stellungnahme 
zu  den  Zeitereignissen  eintreten  als  der  des  Ästheten.  „Ach  könnt' 
ich  fliehen!"  —  diese  Sehnsucht,  aus  der  Wirklichkeit,  die  uns  bannt,  zu 
entrinnen,  mag  in  vielen  Herzen  stark  gewesen  sein.  Menschen  dieser 
Art  empfanden,  zumal  wenn  sie  nicht  ganz  unmittelbar  in  die  Zeit- 
ereignisse verflochten  waren,  die  zurückstoßende  Gewalt  der  Gegen- 
wart; mancher  aber  entfloh  aus  der  Welt  der  Tatsachen  in  die  Welt 
des  Schönen  nicht  aus   ästhetischer  Sensationslust  wie  die  Ästheten, 

23* 


356  Hugo  Gaudig 

sondern  weil  sie,  die  Welt  des  schönen  Scheins,  jenseits  der  Welt  der 
harten  Wirklichkeit  liegt,  oder  auch  in  die  Welt  des  Überirdischen,  die 
erhaben  ist  über  die  Welt  der  menschlichen  Irrungen  und  Wirrungen, 
oder  aber  auch  in  die  Enge  der  FamiUe,  die  sich  gegen  den  Sturm  „da 
draußen"  zu  stiller  Ruhe  abgrenzt.  Alle  diese  Jenseitigen  brachten 
nicht  den  Denkwillen  auf,  der  entschlossen  ist,  die  wirkliche,  die  dies- 
seitige, die  große  Welt  der  Wirklichkeit  zu  meistern. 

Die  starke  Seite  des  deutschen  Bürgers  war  vordem  das  Denken  über 
pohtische  Dinge  nicht;  er  überiieß  das  Denken  am  liebsten  seiner 
Zeitung  und  seinen  Vertretern.  Als  nun  unsere  Zeit  mit  ihren  heftigen 
Denkanstößen  auf  uns  Deutsche  wirkte,  ließ  sich,  wenn  ich  recht  sah, 
sehr  viel  der  Mangel  an  Denkgewöhnung  spüren.  Nicht  gewöhnt, 
größere,  umfänglichere  Ganze  im  öffentlichen  Wesen  mit  dem  Denken 
zu  umspannen,  wurde  nur  einzelnes  in  dem  Gegenwartsbilde  zum  Gegen- 
stand der  Aufmerksamkeit  und  der  denkenden  Erfassung;  man  gab 
sich  kaum  die  Mühe,  den  allerdings  weiten  Schauplatz  der  Ereignisse 
in  seinen  verschiedenen  Teilen  zu  übersehen,  trotzdem  z.  B.  das  Geschehen 
auf  den  verschiedenen  Kriegstheatern  im  engsten  Zusammenhang  stand. 
Ging  das  Denken  so  nicht  in  die  Weite,  so  anderseits  nicht  in  die  Tiefe; 
es  drang  nur  bis  zum  Vordergrunde  vor,  etwa  bis  zu  dem  „Anstoß" 
der  Ereignisse,  während  es  den  Kräften,  die  durch  die  Anstöße  aus- 
gelöst wurden,  den  inneren  Dispositionen  der  miteinander  ringenden 
Mächte  auch  nicht  einmal  mit  den  allerdings  sehr  durch  die  Unzu- 
länglichkeit der  Bekundung  erschwerten  Versuchen  desErkennens  gerecht 
zu  werden  suchte.  So  blieb  man  denn  bei  den  äußeren  Symptomen 
des  Geschehens  hängen  und  ermüdete  leicht  bei  den  Vorstößen  zu- 
gunsten einer  tieferen  Auffassung.  So  geriet  man  auch  leicht  in  ein- 
seitige Auffassungs-  und  Bewertungsrichtungen,  wie  sie  besonders 
auch  das  Gefühls-,  Affekt-  und  Stimmungsleben  nahelegte  (s.  o.  S.  354); 
z.  B.  in  eine  Betrachtung  einseitig  unter  dem  Gesichtswinkel  des 
Tragischen  oder  in  die  leidige  Sucht,  überall  Schuld  zu  suchen,  oder 
in  das  Streben,  überall  den  „Unsinn"  aufzudecken. 

Mangelhafte  Denkverfassung  stellte  sich  auch  dar  in  keckem,  schnellem 
Hineindenken  in  den  großen  und  komplizierten  Zusammenhang  der 
Dinge,  einem  Denken,  dem  die  Achtung  vor  der  Schwierigkeit  des 
Gegenstandes  gebrach.  Mit  den  Mißerfolgen  dieses  Verfahrens,  die 
strenge  Selbstkontrolle  hätte  aufdecken  müssen,  stand  aber  gern  im 
Widerspruch  das  Selbstgefühl,  das  in  dem  Kehrreim:  „Das  habe  ich 
gesagt"  bei  gelegentlichen  „Treffern"  zum  Vorschein  kam.  Als  ein 
Zug  minderwertiger  Denkverfassung  wollte  mir  auch  das  „spielende" 
Denken,  wie  ich  es  nennen  möchte,  erscheinen;  da  wo  es  auftrat,  spielte 
das  Denken  mit  dem  Wirklichkeitsstoff,  ohne  seiner  Schwere  und  seiner 
unerbittlichen  Härte,  ohne'dem  natürlichen  Gewicht,  der  Schwerbeweg- 
lichkeit der  Dinge  gerecht  zu  werden;  die  Phantasie  arbeitete  mit  dem 
Wirklichkeitsstoff,  als  gälte  es  zu  dichten  und  nicht  zu  denken;  die 
Schnellfertigkeit,  mit  der  man  „Möglichkeiten"  hinstellte,  ohne  ihre 
Wahrscheinlichkeit  ernstlich  zu  zeigen,  ließ  dieses  Denkspielen  besonders 
in  die  Erscheinung  treten.  Eine  wertvolle  Denkverfassung,  wie  sie  die 
Zeit  fordert,  muß  vor  allem  auch  das  Streben  nach  geschichtlicher  Er- 


Von  der  Denkverfassang  der  deutschen  Seele  in  der  Zeit  der  großen  Krisis     357 

fassung  des  Gegenwartsgeschehens  als  wesentlichen  Zug  aufweisen.  Viel- 
fach fehlte  aber  dieses  Streben  nach  geschichtlicher  Auffassung  in  der 
Denkverfassung  der  Zeitgenossen;  das  Geschehende  wurde  in  seiner 
Gegenwärtigkeit  genommen,  als  habe  es  kein  Vorher  und  kein  Nach- 
her; was  wunder,  daß  die  Zusammenhängigkeit  des  Geschehens  nicht 
erkannt  wurde.  Dies  gilt  namentlich  von  den  eingreifenden  Ereignissen 
auf  sozialpolitischem  Gebiet.  Um  einen  gesellschaftlichen  Zustand 
richtig  analysieren  zu  können,  bedarf  es  ferner  klarer  und  deutlicher 
Begriffe  der  wirkenden  Kräfte ;  aber  eben  an  dieser  Klarheit  und  Deut- 
lichkeit dieser  Bauelemente  des  Denkens  gebrach  es  sehr  viel,  so  daß 
vor  allem  ein  gemeinsames  Denken  schwer  möglich  war  und  die  Ge- 
sprächführenden aneinander  vorbei  statt  miteinander  redeten.  Man 
versteht  z.  B.  vom  Sozialismus  nichts,  wenn  man  seine  Idee  der  Ver- 
gesellschaftung der  Produktionsmittel  nicht  klar  und  deuthch  in  ihren 
Merkmalen  und  in  ihren  Zusammenhängen  mit  dem  gesamten  sozia- 
listischen Begriffssystem  erkannt  hat.  Wie  oft  aber  stieß  man  hier 
bei  den  Zeitgenossen  auf  Undeutlichkeit  und  Verworrenheit  der  Be- 
griffe, ohne  die  man  in  einer  Streitverhandlung  über  moderne  Ge- 
sellschaftsfragen nicht  auskommen  kann.  So  machten  Gespräche 
nicht  selten  .den  Eindruck,  daß  sich  ungeklärte  Vorstellungsmassen 
gegeneinander  bewegten.  Die  Begriffe  des  Gesellschaftslebens  aber 
zeigten  ihre  Natur  hierbei  besonders  auch  insofern,  als  in  sie  „unser 
Eigenstes,  unser  Gefühlsleben"  leicht  und  stark  eindringt  und  so 
sich  „der  Einfluß  der  individuellen  Variation"  aufs  stärkste  geltend 
machte).  Bei  dieser  Unklarheit  der  Begriffe  versteht  man  eine  andere 
Erscheinung  im  Denkleben  unserer  Zeit,  das  Auftreten  der  schiefen 
Analogie.  Da  die  Auffassung  der  Dinge  nach  der  Analogie  eine 
scharfe  Scheidung  der  sonstigen  zwischen  ihnen  bestehenden  Ver- 
schiedenheit und  dem,  worin  sie  zu  vergleichen  sind,  fordert,  so  kann 
man  ermessen,  wie  leicht  bei  der  überhasteten  Denkweise  unserer  Zeit 
und  dem  Mangel  an  klaren  Begriffen  die  Schiefheit  der  Analogie  ein- 
trat ;  Beispiel  sei  das  Analogieschließen  von  Bolschewismus  auf  Sozialis- 
mus und  umgekehrt. 

Die  Denkverfassung  mußte  umso  wertvoller  erscheinen,  je  mehr  sie 
sich  von  dem  fälschenden  Einfluß  der  Gefühle  und  Affekte,  von  der 
Einwirkung  „drastischer  Anschauungen",  von  schiefen  Analogien,  von 
Zufallsansichten,  von  ungeschichtlicher  Betrachtungsweise  frei  hielt. 
Kennzeichnend  für  unsere  Zeit  als  Objekt  des  Erkennens  ist  außer  der 
großen  Gefühlsbetonung  der  Geschehnisse  die  Breite  des  Gesichtsfeldes 
und  vor  allem  die  Verschlungenheit  der  Fäden;  das  enge  Verflochten- 
sein des  eigenartig  politischen  und  sozialen  Geschehens  ist  geradezu 
ein  Charaktermerkmal  der  großen  Krisis,  in  der  wir  stehen:  ein  Krieg 
mit  auswärtigen  Mächten  ruft  nicht  nur  die  stärksten  politischen  Wand- 
lungen, sondern  auch  allem  Anschein  nach  die  wesentlichsten  Ver- 
änderungen in  der  Struktur  der  Gesellschaft  hervor.  So  erwuchs  hier 
dem  Denker  die  Aufgabe  des  Entwirrens  der  Fäden,  die  sich  in  dem 
Gewebe  des  Zeitgeschehens  verknüpften,   besonders    aber   des   Nach- 


»)  Vergl.  B.  Erdmann,  Logik  I,  S.  230  (2.  Aufl.). 


358  Hugo  Gaudig 

weises  der  Stellen,  an  denen  sich  die  Fäden  verschlangen  und  ver- 
knoteten. Beobachter  des  Denklebens  unserer  Zeit  mögen  urteilen,  ob 
dieser  Forderung  des  Auseinanderhaltens  und  Verknüpfens  die  Zeit- 
genossen im  allgemeinen  entsprochen  haben,  ob  sie  nicht  vielfach  infolge 
der  scheinbaren  Wirrnis  des  Geschehens  verwirrt  zuschauten.  Ein 
Merkmal  des  Zeitgeschehens  war  auch  die  sinnverwirrende  Fülle,  die 
sinnlich  drastische  Natur  des  Geschehens.  Es  handelte  sich  ja  um 
Ereignisse  auf  dem  „theatrum  mundi",  um  gewaltige  Massenbewegungen, 
um  Haupt-  und  Staatsaktionen  erster  Ordnung.  Die  Versuchung,  an 
der  Außenseite  hängen  zu  bleiben,  war  mithin  groß.  Umso  wertvoller 
war  die  Denkverfassung,  die  durch  die  anschauliche  Außenseite  hin- 
durch auf  den  Kern,  von  den  Bewegungen  auf  die  bewegenden  Kräfte 
vorzudringen  gestattete.  Man  wird  nicht  sagen  dürfen,  daß  unsere 
Zeit  nicht  bemüht  war,  Prinzipien  zu  entdecken.  Nicht  zuletzt  waren 
die  Feinde  Deutschlands  bemüht,  Prinzipien  aufzuweisen,  uns  und  sich 
selbst  als  Vertreter  großer  Kulturprinzipien  hinzustellen.  Nur  leider 
hat  man  bei  diesem  Aufweis  der  Prinzipien  nicht  den  Eindruck  der 
Klarheit  und  Wahrheit;  im  wilden  Kampf  der  gegen  uns  gekehrten 
öffentlichen  Meinungen  wurden  Prinzipien  aufgestellt  wie  das  Prinzip 
des  Militarismus,  um  damit  breite  Komplexe  von  Wirklichkeiten  zu 
bezeichnen,  die  eine  sorgfältige  Auflösung  in  ihre  sehr  verschieden- 
artigen Kräfte  forderten.  Hinter  dem  aber,  was  unsere  Gegner  als 
Prinzipien  ihres  Handelns  hinstellten,  mußte  man  ein  Vielerlei  von 
„Motiven"  vermuten,  das  mindestens  nur  zum  Teil  durch  die  Prinzipien 
(Freiheit  der  Völker  usw.)  gedeckt  wurde. 

Ein  sehr  schwerer  Denkgegenstand  ist  unsere  Zeit  durch  die  Natur 
des  Kräftespiels;  welche  Fülle  von  Kräften,  welches  Durcheinander! 
In  der  Schätzung  der  Kräfte  erwies  sich  die  Denkverfassung  als  wert- 
voll, die  sich  als  kritische  Besonnenheit,  als  Mäßigung  und  Zurück- 
haltung kennzeichnet.  Immer  wieder  von  neuem  erfuhr  übereiltes  Ein- 
schätzen der  „Kräfte"  nach  ihrer  Größe  und  Stärke,  ihrer  elementaren 
Zusammensetzung,  ihren  Angriffspunkten,  der  Richtung  ihres  Wirkens, 
vor  allem  aber  nach  ihrer  Auslösbarkeit  schwere  Rückschläge. 
Die  Notwendigkeit  der  Zurückhaltung  konnte  erlebt  werden  bei  dem 
Urteil  über  mechanische  und  psychische  Kräfte.  Die  jähe  Erkenntnis 
falscher  Einschätzung,  der  Zwang  zum  plötzlichen  Umdenken  brachte 
vielen  z.  B.  die  Erklärung  der  Obersten  Heeresleitung,  die  Beendigung  des 
Krieges  ohne  Sieg  sei  eine  Notwendigkeit.  Andere  konnten  hier  die 
wenn  auch  schmerzliche  Genugtuung  richtiger  Schätzung  erleben.  Eine 
Frage  schwerwiegender  Art,  bei  der  es  sich  hauptsächlich  um  die  Mög- 
lichkeit der  Auslösung  noch  vorhandener  Spannkräfte  handelte,  war  die 
Frage,  ob  das  deutsche  Volk  die  Kraft  zu  einem  letzten  Entscheidungs- 
kampfe aufbringen  werde.  Wir  wiesen  schon  darauf  hin,  wie  sehr  die 
Denkverfassung  der  Zeitgenossen  durch  die  Plötzlichkeit  der  mit  dem 
Charakter  von  Explosionen  eintretenden  Ereignisse  unserer  Zeit  be- 
einflußt wurde :  der  Zusammenbruch  des  Kriegswillens  in  weiten  Kreisen 
des  Volkes  und  des  Heeres,  die  Parlamentarisierung  und  Demokrati- 
sierung, die  Abdankung  der  Herrscher,  die  Einführung  der  sozialistischen 
Republik   —    das   alles   waren  Tatsachen,   bei   denen   die    wenigstens 


Von  der  Denkverfassung  der  deutschen  Seele  in  der  Zeit  der  großen  Krisis    359 

scheinbare  Plötzlichkeit  vielfach  die  Denkfäden  zerriß.  Da  wo  man 
aber  tiefer  in  die  Zusammenhänge  der  Dinge,  in  die  in  der  Tiefe 
schaffenden  bejahenden  und  verneinenden  Mächte  eingedrungen  war, 
wich  die  anfängliche  Gedankenstarre  sehr  bald  dem  Bekenntnis,  daß 
es  sich  hier  nicht  um  etwas  wunderhaft  und  unvermittelt  aus  dem 
Schoß  der  Gegenwart  Emporschießendes,  sondern  um  den  Abschluß 
einer  weitzurückreichenden  Vorgeschichte  handelte,  der  zum  Teil  durch 
äußere  Geschehnisse  ausgelöst  wurde.  So  stellte  sich  dann  schnell 
das  Bewußtsein  des  geschichtlichen  Zusammenhangs  (der  Kontinuität 
des  Geschehens)  wieder  her.  Diese  Einsicht  wurde  umso  tiefer,  die 
Denkfreiheit  des  Geistes  umso  größer,  je  weiter  die  Linien  zurückver- 
folgt wurden,  je  weiter  man  etwa  die  Vorbereitung  des  Sozialismus 
auf  eine  Lage  zurückverfolgte,  in  der  er  die  Herrschaft  in  die  Hand 
nehmen  konnte.  Je  weiter  die  Rückschau  (Rückwärtsperspektive),  um 
so  freier  und  sicherer  bewegt  sich  das  Denken.  Neue  Freiheit  erwächst 
dem  Denken  auch,  wenn  es  sich  nicht  auf  Vergangenheit  und  Gegen- 
wart beschränkt,  sondern  auch  (umsichtig  vorschließend)  in  die  Zu- 
kunft vordrängt.  Dann  wird  auch  eine  Denklage  verhindert,  die  einer 
freien  geistigen  Bewegung  sehr  ungünstig  ist  —  die  einseitige  Ein- 
stellung. So  könnte  z.  B.  das  Denken  in  dem  Gegensatz  der  bisherigen 
bürgerlichen  und  der  sozialistischen  Gesellschaftsordnung  befangen 
bleiben.  Für  den  seine  Denkfreiheit  behauptenden  Kopf  wird  hier 
neben  der  Möglichkeit  scharfer  Antithese  und  der  Möglichkeit  bedingungs- 
loser Zustimmung  die  Möglichkeit  schöpferischer  Synthesen  auftauchen, 
etwa  einer  Synthese,  die  dem  Gesellschaftssystem  der  Zukunft  die  Kräfte 
einer  individualistischen  Organisation  erhält,  die  „Verantwortungs- 
losigkeit" der  privatkapitalistischen  Wirtschaft  aber  aufhebt  und  durch 
gesellschaftliche  Einrichtungen  die  Verantwortlichkeit  des  einzelnen 
gegenüber  der  Gesellschaft  sichert.  Die  kulturellen  Anschauungen 
sollen  nach  der  Meinung  der  meisten  „transzendenzlos"  sein;  dieser 
Meinung  steht  die  Denkrichtung  entgegen,  die  auch  für  das  Kultur- 
denken das  Forschen  nach  den  transzendenten  Hintergründen  fordert. 
Daß  dem  Kulturdenken  durch  das  Suchen  nach  dem  letzten  „Sinn"  des 
Geschehens  ein  bedeutsamer  Zwang  zum  Tiefdenken  erwächst,  kann 
nicht  zweifelhaft  sein. 

Das  Denken,  zu  dem  uns  die  Zeit  zwang,  war  zum  guten  Teil  werten- 
des Denken.  Besonders  die  Proklamierung  der  sozialistischen  Republilc 
zwang  und  zwingt  die  Anhänger  der  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  Wert- 
vergleichen. Die  Denkverfassung  für  solche  Wertvergleichungen  war 
und  ist  umso  günstiger,  je  weiter  dies  Denken  ausgreift  und  je  mehr 
es  sich,  alle  Nebenfragen  beiseite  schiebend,  auf  die  großen  Prinzipien- 
fragen sammelt.  Leider  verweilt  das  Denken  der  Zeitgenossen  vielfach 
im  Vordergrund  als  echtes  „Vordergrundsdenken".  Die  Denkverfassung 
aber  ist  umso  günstiger,  je  mehr  man  sich  auf  die  Würdigung 
kultureller  Gesamtzustände  einstellt,  je  mehr  man  alle  Kulturgebiete, 
nicht  nur  das  politische  und  wirtschaftliche,  ins  Auge  faßt,  je  mehr 
man  die  Wechselbeziehungen  zwischen  den  einzelnen  Lebensgebieten 
und  die  Lebensgestaltungen  beachtet,  die  der  alte  und  der  neue  Zu- 
stand ihrer  innersten  Natur  nach  hervorbringen.    Vor  allem  wird  man 


360  Hugo  Gaudig 


die  beiden  großen  Gesellschaftsformen  dynamisch,  d.  h.  auf  das  ge- 
samte Kraftsystem  hin,  studieren,  mit  dem  sie  arbeiten.  Ebenso  wird 
man  sich  darüber  klar  sein  müssen,  daß  es  sich  bei  einem  Kultur- 
wechsel vor  allem  um  das  Maß  handelt,  in  dem  das  menschliche  Dasein 
rationalisiert,  die  menschliche  Seele  gewandelt  werden  kann.  Eine 
wichtige  Denkrichtung  wird  auch  sein  die  Einwirkung  der  Einrichtungen 
auf  die  Menschen  und  der  Menschen  auf  die  Einrichtungen  usw. 

Zum  Schluß  unserer  Bemerkungen  noch  eins:  Für  die  gesamte  Denk- 
verfassung der  Zeitgenossen  war  von  großer  Bedeutung  die  Stellungnahme 
des  Ich  zu  dem  Volke.  Als  Grenzformen,  die  aber  als  reine  Formen 
schwerlich  vorgekommen  sein  mögen,  indes  doch  wichtige  Bewegungs- 
richtungen erkennbar  machen,  seien  genannt:  1.  die  „egozentrische", 
in  der  auch  unsere  ungeheuere  Zeit  und  das  gewaltige  Volksschicksal 
das  denkende  Subjekt  nicht  dazu  vermocht  hat,  aus  seinem  Ichbewußt- 
sein herauszutreten  und  sich  mit  den  Volksgenossen  im  Wir-Bewußt- 
sein  zusammenzufasssen  und  2.  die  »ichlose"  Form,  bei  der  das  Ich 
ohne  Bewußtsein  seiner  selbst  lediglich  objektiv  dachte.  Das  Wir-Bewußt- 
sein  war  stark  und  bestimmt  beim  Beginn  des  Krieges;  das  Ende  des 
Krieges  mit  seiner  entscheidenden  Krisis  gefährdete  auf  beiden  Seiten, 
auf  der  der  Bürgerlichen  und  der  der  Sozialisten,  das  Einheitsbewußt- 
sein. Es  ist  die  große  Frage  der  Zukunft,  ob  die  beiden  großen 
„Parteien"  sich  auf  irgend  einer  Grundlage  zum  Einheitsbewußtsein 
zurückfinden.  Viele  Bürgerliche  mögen  das  Einheitsbewußtsein  mit 
der  Volksgemeinde  in  ihrer  empirischen  Form  eingebüßt  und  sich  viel- 
leicht in  den  Gedanken  einer  „unsichtbaren"  Gemeinschaft  gerettet  haben. 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charakter- 
eigenschaften und  als  Erziehungsziele. 

Von  F.  E.  Otto  Schultze. 

Die  Erziehungsziele  sind  praktisch  und  theoretisch  von  der  größten  Bedeutung, 
da  sie  bei  allen  Erziehungsmaßnahmen  entscheidenden  Einfluß  gewinnen.  Ob 
wir  einen  Zögling  loben  oder  strafen,  ob  wir  ihm  etwas  vorsagen  oder  ihn 
zu  selbständigem  Denken  führen  wollen,  ob  wir  einen  Lehrplan  ausarbeiten 
oder  eine  Lehrstunde  vorbereiten,  ist  dabei  gleichgültig,  stets  muß  einem  mit 
mehr  oder  minder  großer  Deutlichkeit  das  Erziehungsziel  vor  Augen  stehen. 
Fühlt  man  sich  während  der  Durchführung  einer  Aufgabe  unsicher,  so  kann 
das  Denken  an  die  Ziele  klärend  wirken;  hat  man  seine  Aufgabe  erfüllt  und 
prüft  sie  nachträglich  auf  ihren  Wert,  so  werden  einem  Fehler  und  Mängel 
klar,  an  die  man  vorher  gar  nicht  gedacht  hatte.  Und  bleiben  wir  bei  der 
Festlegung  der  allgemeinen  Erziehungsziele  stehen,  so  ist  es  gleichgültig,  ob 
wir  ein  kleines  Kind  oder  einen  Studenten,  den  Schüler  eines  Gymnasiiuns 
oder  einer  Realschule,  ja  ob  wir  einen  Knaben  oder  ein  Mädchen,  einen 
Deutschen  oder  Franzosen,  einen  Amerikaner  oder  einen  Neger  vor  uns  haben! 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.     3g  1 

Es  ist  dai-um  von  grundsätzlicher  Bedeutung,  daß  man  sich  immer  und  immer 
wieder  überlegt,  wieweit  man  zumal  in  den  Augenblicken,  wo  man  bei  seinem 
Zögling  Widerstand  spürte,  in  Widerstreit  mit  dem  Ziel  der  Erziehung  ge- 
kommen ist.  Man  muß  wiederholt  im  Laufe  des  Schuljahres  jedem  einzelnen 
Zögling  gegenüber  seine  Arbeit  an  dessen  Leistungszielen  prüfen  und  sich 
vor  allem  darüber  klar  werden:  was  hast  du  getan,  um  deine  eigenen  Zög- 
linge, den  Karl,  den  Fritz  usw.  zu  einem  ganzen  Menschen  heranzuziehen? 

Mit  dem  Wort  Persönlichkeit  ist  die  Richtung  bestimmt,  in  der  das  Erziehungs- 
ziel, obgleich  noch  verschwommen,  in  der  Ferne  liegt.  Es  bedarf  keines  langen 
Nachweises,  daß  es  geradezu  verwerflich  wäre,  die  Aufgabe  des  Lehrers 
lediglich  in  dem  staatlich  verlangten  Unterrichts-Pensum  zu  sehen.  Bedenken 
wir  z.  B.,  daß  von  den  24  Stunden  des  Tages  das  Kind  10  Stunden  schläft, 
14  Stunden  bleiben  dann  übrig,  und  von  ihnen  gehören  5  im  Durchschnitt 
der  Schule,  einschließlich  der  Schularbeiten  mögen  6  oder  7  herauskommen, 
d.  h.  30,  40  oder  50*^ '0  tl^s  Wachlebens -gehören  im  größten  Teil  des  Jahres 
der  Schule.  Wenn  nun  unser  Leben  überhaupt  charakterbildend  wirkt,  so 
muß  der  Einfluß  der  Schule,  der  gerade  in  die  bildsame  Jugendzeit  einströmt, 
von  größter  Bedeutung  werden.  Daß  es  sich  nicht  nur  um  Unterrichts-,  also 
um  Wissenseinflüsse  handelt,  die  wir  in  der  Schule  empfangen,  zeigt  auch 
die  Tatsache,  daß  ein  schlechter  Lehrer  einem  für  das  ganze  Leben  umfassende 
Wissensgebiete  verleiden  und  geradezu  verekeln  kann;  daß  einem  andererseits 
eine  gute  Arbeitsschule  eine  nie  versiegende  Freude  an  wissenschaftlichen 
Stoffen  zu  schaffen  vermag,  die  sich  sonst  überhaupt  nicht  entwickelt  hätte. 
Nicht  minder  deutlich  sind  die  Einflüsse  der  Schule  auf  scheinbare  Äußerlich- 
keiten, wie  Sauberkeit  in  der  Schrift  und  Buchführung,  sowie  Peinlichkeit 
und  Gründlichkeit  in  der  Arbeit,  also  auf  Gesamtmerkmale  des  Denkens  und 
Handelns,  die  weit  über  solche  des  einfachen  Wissens  hinausgehen.  Schließ- 
lich sei  noch  auf  den  Unterschied  der  weltgewandten,  eleganten  Jesuiten- 
erziehung und  des  nüchternen,  aber  soliden  preußischen  Schulmeistertums 
hingewiesen,  um  verschiedene  Weisen  zu  charakterisieren,  in  der  man  Arbeiten- 
Anfassen  lernen  kann.  Es  dürfte  eigentlich  nicht  nötig  sein,  auf  diese  Frage 
näher  einzugehen,  aber  die  Zahl  der  Männer,  die  grundsätzlich  der  Schule 
den  Unterricht,  dem  Hause  aber  die  Erziehung  zuweisen  wollen,  ist  nicht  gering. 

Für  den  Praktiker  ist  es  nun  von  der  größten  Bedeutung,  daß  ihm  die 
Ziele  des  Unterrichts  und  der  Erziehung  in  möglichst  präziser  und  hand- 
licher Form  zur  Verfügung  stehen,  damit  sie  in  seinem  Lebenswerk  wirksam 
und  fruchtbringend  werden  können..  Versuche  in  diesem  Sinne  sind  oft  ge- 
macht worden.  Ich  erinnere  nur  an  die  Begriffe  des  guten  und  schönen 
Menschen  bei  den  Griechen,  an  die  Kardinaltugenden  der  Römer,  an  die 
Gelübde  der  mittelalterlichen  Mönche,  an  den  homo  sapiens  atque  eloquens 
des  Humanismus,  an  den  Gentleman  des  Engländers  und  die  zahllosen  Wahl- 
sprüche der  Erziehung  und  des  Lebens,  die  wir  in  der  Literatur,  an  Gebäuden 
und  auf  Wappen  verstreut  finden. 

Es  ist  eine  historische  Notwendigkeit,  daß  sie  von  Volk  zu  Volk,  von 
Periode  zu  Periode  wechseln.  Sie  können  auch  richtig  und  falsch,  ja  gefähr- 
lich sein.  Eins  der  schlimmsten  Schlagwörter  ist  in  diesem  Sinne  das  von  der 
Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlichkeit  geworden.  Ja  wir  sollten  frei  sein;  es 
wäre  schön,  wenn  wir  Brüder  wären,  aber  ich  glaube,  es  wäre  trostlos,  wenn 
wir  gleich  wären,  und  undurchführbar  wäre  es,  wollten  wir  uns  gegenseitig 


362  F.  E.  Otto  Schultze 


gleichstellen/  Die  Zeitlage  machte  es  verständlich,  daß  man  so  begeisternde 
Worte  in  die  Welt  hinaus  rief,  aber  der  Nachteil  aller  Schlagwörter  haftete 
ihnen  an.  Die  tiefen  historischen  und  philosophischen  Voraussetzungen,  unter 
denen  allein  diese  Worte  Wert  bekommen,  konnten  nicht  mit  ihnen  ausge- 
sprochen werden.  Was  sie  als  Bildungsgrundlagen  von  Lebensgemeinschaften 
tatsächlich  gebracht  haben,  kann  man  darum  in  seiner  Zerrform  in  mancher 
modernen  romanischen  Republik  sehen.  Freiheit  ist  dort  Hemmungslosigkeit, 
jeder  glaubt  machen  zu  dürfen,  was  er  mag,  von  Brüderschaft  ist  nicht  viel 
zu  spüren;  Oligarchien  und  Günstlingswesen  herrschen.  Die  straffen  preußischen 
Begriffe  Pflicht  und  Unterordnung  sind  als  Grundlagen  von  Staatsgebilden 
wertvoller  als  die  begeisternden  Ideale  Freiheit,  Gleichheit  und  Brüderlich- 
keit, denn  aus  ihnen  entwickeln  sich  Freiheit  und  Gerechtigkeit  gleichsam 
von  selbst.  Der  Praktiker  braucht  darum  Worte,  die  nicht  so  schweren 
Mißverständnissen  ausgesetzt  sind.  —  Auf  Grund  von  Lebenserfahrungen, 
philosophischen,  psychologischen  und  biologischen  Überlegungen  habe  ich  nun 
versucht,  diesem  Bedürfnis  entgegenzukommen  und  die  Merkmale  der  Per- 
sönlichkeit festzulegen,  die  mir  für  die  Erziehung  und  das  Leben  am  wich- 
tigsten zu  sein  scheinen.  Das  hochldingende  Wort  Persönlichkeit,  das  in  der 
modernen  Erziehung  eine  so  enorme  Rolle  spielt,  läßt  sich  schwer  bestimmen, 
es  ist  verwaschen  und  unklar  und  hat  nicht  viel  mehr  Wert,  als  die  Worte 
gut  oder  wertvoll.  Das  schlichte  Wort  tüchtig,  das  bekanntlich  von  taugen 
herkommt  und  mit  dem  Wort  Tugend  zu  tun  hat,  schiene  mir  noch  besser 
für  die  Praxis  zu  passen.  Immerhin  ist  mit  der  Forderung  von  Persönlich- 
keiten oder  tüchtiger,  Werte  erzeugender  Menschen  ein  brauchbarer  An- 
fang gemacht.  Gleichzeitig  ist  aber  auch  ein  neues  Problem  gesetzt,  das 
des  Guten  oder  Wertvollen,  und  wir  werden  dadurch  zu  der  schwierigen 
Scheidung  realer  und  normativer  Probleme  gedrängt.  Wir  werden  dieser 
Schwierigkeiten  am  besten  Herr,  wenn  wir  uns  überlegen,  wie  das  seelische 
Leben  sich  realiter  in  einem  unserem  Ziele  entsprechenden  Menschen  ge- 
staltet, wie  in  ihm  Werte  entstehen  und  wie  es  in  ihm  zur  Aufstellung  von 
Normen  kommen  kann. 

Die  seelischen  Vorgänge  der  Werterzeugung. 

Mehrere  Grundgedanken  müssen  uns  leiten,  wenn  wir  uns  über  die  Vor- 
gänge der  Werterzeugung  vom  psychologischen  Standpunkte  aus  klar  werden 
wollen. 

1.  Der  Mensch  bildet,  vom  biologischen  Standpunkte  aus  gesprochen,  eine 
scharf  abgegrenzte  Einheit  von  Lebenskräften.  Leib  und  Seele  sind  in  ihm 
untrennbar  vereint.  Der  Leib  besteht  aus  einer  Anzahl  von  Organen,  aus 
Lunge,  Herz,  Nieren  usw.,  und  auch  bei  der  Seele  müssen  wir  eine  ganze 
Anzahl  von  Organen  —  ich  halte  absichtlich  an  diesem  Ausdruck  fest  —  unter- 
scheiden, gleichviel  ob  wir  dafür  die  hirnanatomischen  Grundlagen  finden 
oder  nicht.  Das  Hauptorgan  ist  das  Bewußtsein,  dessen  Eigenart  an  dieser 
Stelle  nicht  näher  erörtert  weyden  kann,  sondern  als  bekannt  vorausgesetzt 
werden  muß.  Seine  Arbeit  wird  dadurch  möglich,  daß  andere  „Organe",  wie 
Sinnlichkeit,  Geist,  Gemüt  und  Wille  im  Bewußtsein  und  im  Körper  in  streng 
gesetzmäßiger  Weise  Veränderungen  hervorrufen.  (Die  Namen,  die  wir  für 
diese  Funktionen  wählen,  sind  verhältnismäßig  gleichgültig,  wenn  wir  sie  nur 
zur  gegebenen  Zeit  psychologisch  richtig  bestimmen.) 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.     363 

2.  Auf  Grund  der  Reize  der  Außenwelt,  der  Veränderungen  im  Körper  und 
der  Tätigkeit  von  Sinnlichkeit  und  Geist  treten  Sinneswahrnehmungen  auf, 
die  wir  mit  gutem  Rechte  als  „Produkte*  dieser  Vorgänge  bezeichnen  können. 
Von  den  Sinneswahrnehmungen  bilden  sich  Gedächtnisspuren,  die  zu  gegebener 
Zeit  „reproduziert"  werden  können  und  als  frühere  Erfahrungen  den  Be- 
wußtseinsverlauf bestimmen.  Infolge  des  Zusammenwirkens  neuer  Eindrücke, 
früherer  Erfahrungen  und  angeborener  und  erworbener  Anlagen  treten  —  aber- 
mals als  „Produkte"  dieser  Vorgänge  —  Gedanken  in  den  verschiedensten 
Formen  auf:  Einfälle,  Möglichkeiten,  Wünsche,  Hoffnungen,  Absichten,  Pläne 
usw.  In  dem  bunten  Wechsel  solcher  mehr  oder  minder  verschiedenartiger 
seelischer  Gebilde  greifen  schließlich  die  Gemütsbewegungen  mehr  oder 
weniger  tief  ein  und  verleihen  den  einzelnen  Bewußtseinsinhalten  ihren  Wert- 
charakter. Die  Dinge  der  Außenwelt  sind  an  sich  keine  Werte;  sie  werden 
es  erst  durch  den  Menschen.  Ohne  Repräsentation  im  Menschen  und  ohne 
Fühlen  gibt  es  keine  Werte ;  in  ihnen  aber  tut  sich  die  ganze  Persönlichkeit 
mit  ihrem  Für  und  Wider  kund.  —  Werden  die  so  entstandenen  Produkte 
der  Seele  stark  genug,  so  beeinflussen  sie  unseren  Bewußtseinsverlauf  und 
unseren  Körper  und  mit  seiner  Hilfe  gegebenenfalls  die  Außenwelt. 

3.  Ergänzend  zum  eben  Gesagten  sei  folgendes  ausgeführt:  Die  menschliche 
Seele  erweist  bei  diesen  Vorgängen  die  wunderbare  Fähigkeit,  gewissermaßen 
■die  Außenwelt  in  sich  aufzunehmen.  Es  treten  die  Reize  von  außen  an  sie 
heran,  und  in  ihr  entwickeln  sich  Bilder  von  den  Dingen  und  Gegenständen 
der  Umgebung,  die  in  ihrer  inneren  Struktur  und  ihren  relativen  Verhältnissen 
irgendwie  Ähnlichkeit  mit  den  Dingen  haben  müssen,  die  sie  darstellen,  ohne 
daß  sie  jedoch  mit  ihnen  identisch  wären.  Dauernd  strömen  solche  Eindrücke 
auf  uns  ein.  Von  den  Eindrücken  werden  Gedächtnisspuren  gebildet,  mehr 
oder  minder  lange  bewahrt  und  bei  neuen  ähnlichen  Eindrücken  wieder  ver- 
wertet. Aus  ihnen  als  Bewußtseinsgrundlage  bilden  sich  in  uns  Begriffe  oder 
Repräsentanten  von  den  Dingen,  mit  deren  Hilfe  wir  die  Welt  beherrschen 
lernen.  Unter  diesen  Repräsentanten  sind  die  wichtigsten  diejenigen,  in  denen 
sich  unsere  Mitmenschen  uns  darstellen.  Darum  besitzt  jeder  Mensch  von 
den  vielen  Menschen,  die  er  kennt,  ebenso  viele,  mehr  oder  weniger 
entwickelte  Begriffe.  Mit  ihrer  Hilfe  nimmt  er  zu  ihnen  Stellung  und 
beeinflußt  sie. 

4.  Alle  diese  Vorsätze  laufen  streng  gesetzmäßig  und  automatisch  ab. 
Wie  wir  das  Flackern  und  Wabern  der  Flamme,  so  unberechenbar  es  uns 
im  Augenblick  erscheint,  stets  als  Äußerung  strengster  Naturgesetze  auffassen 
und  auf  Vorgänge  der  Oxydation,  Wärmestrahlung  und  Lichtentwicklung 
zurückführen,  so  reduziert  sich  für  uns  das  seelische  Leben  auf  das  Spiel 
der  der  Seele  und  dem  Körper  innewohnenden  Kräfte.  Daß  sich  nun  Werte 
im  Menschenleben  herausbilden,  ist  vom  naturwissenschaftlichen  Standpunkt 
gleichfalls  als  ein  kausaler  Vorgang  aufzufassen.  Ich  brauche  an  dieser  Stelle 
nicht  von  den  vielen  Arten  von  Werten  zu  sprechen,  da  sie  sich  alle  auf 
Gefallen  oder  Mißfallen  seitens  des  Wertträgers  zurückführen  lassen.  Nur 
die  spezifisch  menschlichen  Werte  müssen  besonders  hervorgehoben  werden. 
Wie  zu  den  Dingen  der  Umwelt  nehmen  wir  auch  zu  unserem  Nebenmenschen 
mit  Sympathie  und  Antipathie,  Liebe  und  Haß,  Stolz  und  Verachtung  Stellung. 
Der  eine  kommt  leichter  zu  Bewunderung,  zu  Zuneigung,  zu  Achtung  oder  Ver- 
achtung seines  Mitmenschen  als  der  andere.     Der  Weitherzige  hat  für  fremdes 


364  F.  E.  Otto  Schultze 

Leben  mehr  Sinn  als  der  Engherzige;  er  kann  leichter  lieben  und  schwerer 
Jiassen  als  sein  Gegenpart.  Angeborene  und  durch  das  Leben  weiter  ge- 
bildete Anlagen,  die  wir,  ohne  uns  auf  besondere  psychologische  Theorien 
zu  verlegen,  als  Anlagen  einer  mehr  oder  minder  großen  sozialen  Phantasie 
und  des  Gefühlsreichtums  bezeichnen  können,  beeinflussen  so  den  Vorgang 
der  Wertung  des  Mitmenschen  in  entschiedener  Weise. 

5.  Nehmen  wir  so  in  den  Wertungsvorgängen  Stellung  zu  unserer  Umgebung 
und  zu  unseren  Mitmenschen,  so  sind  es  in  den  Wertungsvorgängen  selbst 
wieder  die  Gefühle,  die  uns  entscheidend  bestimmen.  Wenn  es  auch  nicht 
stets  lebhafte  und  vollständig  entwickelte  Gefühlserscheinungen  sind,  die 
hierbei  auftreten,  sondern  teilweise  nur  Gefühlstendenzen,  deren  Nachweis 
nicht  immer  eine  Selbstverständlichkeit  ist,  so  kann  ihr  maßgebender  Einfluß 
doch  nicht  abgestritten  werden.  Er  besteht  darin,  daß  sie  unter  den  vielen 
Einfällen,  die  in  unserem  Bewußtsein  auftreten,  die  gleichgerichteten  verstärken, 
die  entgegengesetzten  abschwächen  oder  unterdrücken.  Der  Weitherzige  neigt 
deshalb  z.  B.  dazu,  in  seiner  Mitfreude  die  Wünsche  und  Begehrungen  des 
gleichfalls  auf  Freude  eingestellten  Mitmenschen  zu  fördern  und  zu  heben, 
der  Engherzige  will  sie  dagegen  angreifen  und  unterdrücken,  denn  er  ver- 
mag ihn  nicht  zu  dulden  und  zu  hegen.  Ihm  fehlt  die  Toleranz  dazu;  er 
gönnt  dem  anderen  nicht  den  Platz  an  der  Sonne.  Er  ist  sogar  eher  fähig, 
sich  seines  Mißgeschickes  zu  freuen,  weil  die  Beschränkung  seines  Seins  der 
eigenen  Beschränktheit  gemäß  ist. 

Dieser  Mechanismus  der  Wirkung  von  Gefühlsreaktionen  auf  Begehrungen 
und  Wünsche  ist  als  biologisch-psychologischer  Prozeß  strenger  Gesetzmäßig- 
keit unterworfen.  Über  ihm  als  Grundlage  kann  sich  nun  ein  besonderer 
seelischer  Vorgang  abspielen,  eine  Spiegelung  des  Geschehenen  im  Urteile  des 
Handelnden  selbst.  Dieser  kann  sich  über  den  sozialen  Wert  der  in  ihm 
ablaufenden  Vorgänge  klar  werden  und  so  zu  einem  Werturteile  über  sich 
selbst  und  seine  Leistungen  kommen.  Der  Wertungsvorgang  wird  um  so 
umfassender,  auf  je  mehr  andere  Menschen  er  Rücksicht  nehmen  muß;  oft 
genug  zieht  ja  das  Handeln  das  Geschick  anderer  Menschen  in  Mitleidenschaft. 
Je  mehr  nun  die  Forderungen  anderer  in  unserer  Seele  berücksichtigt  werden, 
umso  höherwertig  ist  unser  Handeln,  um  so  mehr  Kulturwert  bekommt  es,  — 
mindestens  in  sozialer  und  rein  menschlicher  Hinsicht.  Die  Begriffe  „gemein- 
nützlich, gemeinschädlich  und  gemeingefährlich"  bekommen  so  auch  durch 
bestimmte  seelische  Mechanismen  ihren  Sinn. 

Die  in  den  letzten  Zeilen  gestreifte  Gruppe  reflektierender  Vorgänge  kann 
abermals  in  Beziehung  zu  dem  in  der  Seele  gegebenen  Bestände  treten.  Hier- 
durch kommt  es  zur  Entstehung  von  Begehrungen.  Auch  deren  Wert  kann 
gleichfalls  nach  dem  Maße  allgemeiner  Menschlichkeit  gemessen  werden. 

6.  Diese  Vorgänge  sind  es,  die  wir  als  Reaktionen  der  Persönlichkeit  be- 
zeichnen und  in  denen  sich  ihr  ganzer  Besitz  in  mehr  oder  weniger  vollem 
Umfange  geltend  macht.  Oft  gebrauchen  wir,  um  ihren  Einfluß  zu  bezeichnen, 
nicht  das  gleiche  Wort.  Wenn  wir  z.  B.  urteilsmäßig  solche  Reaktionen  und 
ihre  Wirkungen  antizipieren,  so  pflegen  wir  damit  gegebene  Leistungen  dem 
Willen  zuzuschreiben,  der  jedoch  nichts  ist  als  die  Persönlichkeit,  von  einer 
bestimmten  Seite  aus  betrachtet,  nämlich  von  der  der  Energieentwicklung  aus. 

Die  zahllosen  Vorgänge  der  Reaktionen,  Reflektionen  und  Antizipationen 
laufen  bei  dem  einen  spielend,   tief-  und  weitgreifend  ab,   bei  dem  anderen 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.    366. 

bleiben  sie  kümmerlich  und  mühsam.  Je  leichter  diese  Mechanismen  arbeiten, 
um  so  freier  ist  der  Mensch  oder  —  wie  wir  auch  gelegentlich  sagen  — 
unser  Wille.  Vorbild,  Übung,  Gewohnheit  und  natürliche  Anlage  haben  solche 
Überlegenheit  geschaffen.  So  ist  der  freie  Wille  kein  konstantes  und  kau- 
salitätsloses Gebilde,  sondern  er  besteht  in  einer  mehr  oder  minder  um- 
fassenden Einheit  seelischer  Faktoren,  die  in  sich  verwickelte  Beziehungen 
aufweisen  und  mit  ungeheurer  Feinheit  und  Leichtigkeit,  aber  stets  automa- 
tisch den  gesamten  seelischen  Haushalt  beeinflussen.  Eine  nicht  allzutief  ein- 
dringende Analyse  von  Einzelfällen  würde  auch  sehr  bald  zeigen,  daß  die 
mit  dem  Worte  „Willen"  bezeichneten  wirksamen  seelischen  Faktoren  von 
Fall  zu  Fall  wechseln,  und  daß  so  bald  diese,  bald  jene  Seit«  der  Persön- 
lichkeit als  Glied  des  Willens  wirksam  wird. 

Es  ist  an  dieser  Stelle,  wo  es  sich  nur  um  Grundgedanken  handelt,  natürlich 
ausgeschlossen,  Einzelheiten  näher  darzustellen.  Es  sei  nur  ausdrücklich  darauf 
hingewiesen,  daß  das  Handeln,  wertloses  wie  wertvolles,  so  gut  wie  aus- 
schließlich automatisch  im  engsten  Sinne  abläuft,  und  daß  in  unserem  All- 
tagsleben der  freie  Wille  in  dem  Sinne  eines  bewußt  wägenden  und  wählen- 
den nur  sehr  selten  wirksam  wird. 

7.  Ob  eine  Handlung  gut  oder  böse  ist,  finden  wir  nicht  durch  ihre  psycho- 
logische Analyse  heraus.  Gute  und  schlechte  Handlungen  sind  als  seelische 
Vorgänge  voneinander  so  wenig  verschieden,  wie  englische  und  deutsche 
Kreidefelsen  als  physische  Gegenstände.  Gut  und  böse  sind  keine  immanenten 
oder  konstitutiven  und  darum  auch  keine  psychologischen  Merkmale,  sondern 
relative  Eigenschaften.  Gut  heißt:  passend  zu  den  sozialen  Entwicklungs- 
tendenzen des  Menschengeschlechtes  oder  der  menschlichen  Würde ;  schlecht 
heißt  dem  widersprechend.  Ein  gutes  Handeln  ist  dem  psychologischen 
Mechanismus  nach  dann  gegeben,  wenn  seine  Endglieder  oder  seine  Folgen 
solchen  Forderungen  entsprechen.  Fraglich  bleibt  noch:  Wie  wird  solches 
Handeln  möglich?  Infolge  des  Spieles  unserer  Phantasie  können  sich  die  in 
den  Begriffen  des  Menschen  liegenden  Forderungen  zu  mehr  oder  weniger 
klaren  Bewußtseinsinhalten  in  uns  entfalten  und  unser  Handeln  bestimmen. 
Je  weiterblickend  und  je  tiefer  mitfühlend  der  Handelnde  ist,  und  je  mehr 
er  die  Forderungen  seines  Mitmenschen  hinsichtlich  dessen  materiellen  Vor- 
teils, seines  inneren  Wertes  und  seiner  Würde  berücksichtigt,  um  so  mehr 
gewinnt  sein  Handeln  an  Wert.  Das  Maß  der  Bewußtheit  ist  dabei  für  die 
psychologische  Struktur  eines  wertvollen  Handelns  nicht  entscheidend,  sondern 
allein  der  Umfang,  in  dem  es  den  eigenen  Forderungen  und  denen  der  Natur 
der  Mitmenschen  gerecht  wird.  Weitherzigkeit  und  Weitblick  sowie  Ein- 
stellung auf  kulturelle  Entwicklung  sind  deshalb  die  wichtigsten  psycholo- 
gischen Vorbedingungen  wertbildenden  tüchtigen  Denkens  und  Handelns. 

Die  erzieherisch  wichtigen  Gesamtmerkmale  der  Vorgänge  der  Wert- 
erzeugung. 
Die  soeben  entwickelten  sieben  Grundgedanken  gehören  im  wesentlichen 
dem  Gebiete  der  Psychologie  an,  da  sie  Tatsachen  erklären.  Auf  ihnen  als 
Grundlage  bauen  wir  nun  weiter  und  fragen,  was  soll  der  Mensch  tun,  der 
wertvoll  genannt  sein  will.  Auch  für  diese  Frage  gibt  uns  die  Biologie  die 
Tatsachengrundlage.  Wenn  wir  die  Entwicklung  des  menschhchen  Geschlechtes 
hernehmen,  so  wissen  wir,  daß  es  sich  aus  Tierformen  herausgebildet  hat  und 


366  F.  E.  Otto  Schultze 


in  einer  zwar  unendlich  langen,  aber  in  wunderbarer  Stetigkeit  der  Entwick- 
lung zu  der  Höhe  gelangt  is^  die  es  jetzt  einnimmt.  Entfaltung,  Evo- 
lution ist  das  Grundprinzip  dieses  Vorganges :  die  in  der  Natur  schlummern- 
den Kräfte  werden  zur  Ausbildung  gebracht.  Das  Einzelleben  ordnet  sich 
diesem  Entwicklungsgange  unter;  beim  Gebildeten  unterliegt  es  deshalb  dem 
normativen  Gesefz,  bewußt  den  in  ihm  liegenden  Schatz  von  Natur- 
kräften zur  höchstmöglichen  Blüte  zu  bringen.  Die  Grundfrage  bei 
der  Formulierung  der  Erziehungsziele  lautet  daher:  Wie  kann  ich  die  in  dem 
Zögling  schlummernden  Kräfte  durch  meine  Maßnahmen  zu  möglichst  hoher 
Entfaltung  bringen? 

Die  Bestintnung  dieses  Zieles  ist  noch  zu  allgemein,  um  im  Einzelfalle 
schnell  zu  klaren  Ergebnissen  zu  führen.  Es  müssen  gewisse  Gesamt- 
charaktere deutlich  hervortreten,  die  die  Einzelleistung  besitzen  soll. 

I.  Selbständigkeit. 
Abermals  sind  es  biologische  Analogien,  die  uns  fördern.  Das  Leben  ist 
ein  Kampf.  Zwar  scheint  dieser  Satz  manchem  in  glücklicher  Stellung  Leben- 
den als  platte  Redensart;  derjenige  aber,  der  Geld  verdienen  muß  —  und 
das  ist  doch  bei  weitem  die  größte  Anzahl  von  Menschen,  die  wir  zu  erziehen 
haben  —  fühlt  stets  mit  mehr  oder  weniger  großer  Deutlichkeit  das  Lastende 
und  Aufreibende  des  Lebenskampfes.  Mag  er  es  nun  mit  dem  Neid  von 
Gleichgestellten,  mit  der  Willkür  oder  Herrschsucht  von  Vorgesetzten  zu  tun 
haben,  mag  der  Kampf  hart  und  leidenschaftlich  geführt  worden  sein,  oder 
langsam  und  allmählich  den  Ringenden  zermürben  und  zerreiben,  stets  ist 
eine  widerstandsfähige  Natur  nötig,  um  ihn  auszuhalten.  Wir  brauchen  des- 
halb Menschen,  die  nicht  bei  dem  ersten  Widerstand,  den  sie  finden,  erschlaffen, 
zusammenbrechen  oder  beim  ersten  Sturmeshauch  gar  wie  ein  Kartenhaus 
umfallen.  Wir  brauchen  selbstsichere  Persönlichkeiten,  die  auf  ihren  Beinen 
fest  stehen,  die  ihre  eigene  Meinung,  ihren  eigenen  Willen,  eigenen  Geschmack, 
sicheres  Gefühl,  festes  Gewissen  besitzen.  Die  innere  Schwächlichkeit  des 
Denkens,  wie  sie  sich  im  hochgradig  suggestibelen  Menschen  zeigt,  ist  uns 
verächtlich.  Gibt  es  doch  Fürsten,  von  denen  man  sagt,  jeder  der  zuletzt 
bei  ihm  ist,  hat  bei  ihm  Recht!  Was  nützt  ein  Mensch  in  noch  so  hoher 
Stellung,  der  dem  Gerede  seines  Friseurs  und  seiner  Dienstboten  zugänglicher 
ist,  als  dem  der  fachlich  Untergebenen.  Darum  ist  es  nötig,  daß  der  Mensch 
es  lerne,  sich  eine  Meinung  zu  bilden.  Er  muß  selbständig  sein  im  Denken» 
Er  muß  wissen,  wie  man  für  seine  Ideen  die  Voraussetzungen  sucht  und 
findet,  wie  man  aus  Voraussetzungen  Schlußfolgerungen  ableitet,  wie  man 
sich  über  diese  Ergebnisse  und  ihre  Entstehung  Rechenschaft  gibt  und  sie 
gegen  falsche  Auffassungen  verteidigt  und  sichert.  Die  so  erzielte  Selbständig- 
keit ist  kritisch.  Sie  ist  für  den  Gebildeten  unentbehrlich  und  vermag  auch 
die  natürliche  Charakterschwäche  der  Meinungsbildung  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zu  beheben.  —  Die  Selbständigkeit  des  Denkens  hat  noch  eine  andere 
Voraussetzung,  die  wir  vom  Gebildeten  erwarten  müssen.  Es  ist  die  Selbständig- 
keit des  fachlichen  Wissens.  Jeder  muß  die  nötigen  Fachkenntnisse  haben, 
mag  es  sich  um  Erscheinungen  des  Alltagslebens  handeln,  in  denen  fachliche 
Beschlagenheit  nicht  erst  stets  durch  hohe  Studien  begründet  zu  werden 
braucht,  oder  mag  es  sich  um  spezifisch  wissenschaftliche  Kenntnisse  handeln. 
Blaustrumpfwissen   ist  um    so  gefährlicher,   je  verantwortlicher  die  Stellung 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.     3ti7 

seines  Besitzers  ist.  Ein  Kopf  ohne  Wissen  ist  —  wie  Napoleon  sagt  —  eine 
Festung  ohne  Kanonen. 

Wie  mit  der  Selbständigkeit  des  Denkens  steht  es  mit  der  Selbständig- 
keit des  Fühlen s.  Den  Dingen  der  Umgebung  gegenüber  erweist  sich  unser 
Gefühl  als  leistungsfähig  im  Geschmack.  Der  Geschmack  aber  kann  und  muß 
erzogen  werden.  Zwar  findet  sich  Selbständigkeit  dieser  edlen  menschlichen 
Fähigkeit  selten.  Dies  ist  jedoch  nur  eine  Folge  unserer  einseitigen  Er- 
ziehung. Die  meisten  Menschen  brauchten  in  ihren  Gefühlen  durchaus  nicht 
so  konventionell  zu  sein,  wie  sie  es  fast  stets  sind.  Sie  haben  es  nicht  ge- 
lernt, auf  die  Stimme  ihres  Gefühles  zu  horchen,  und  bleiben  so  abhängig 
von  dem,  was  sie  hören.  Gute  Gefühlserziehung  kann  aber  schon  von  früher 
Jugend  an  einsetzen  und  in  strenger  Folgerichtigkeit  das  ganze  Leben  hin- 
durch weitergeführt  werden;  sie  hat  dann  sicher  erfreulichen  Erfolg. 

Was  von  den  Gefühlsreaktionen  den  Dingen  gegenüber  gesagt  wird,  gilt 
in  gleicher  Weise  von  unserem  Fühlen  den  Mitmenschen  gegenüber.  Dieses 
Fühlen  erscheint  der  oberflächlichen  Betrachtung  von  jenem  so  verschieden, 
daß  der  Sprachgebrauch  dafür  ein  anderes  Wort  gebildet  hat  und  von  Gemüt 
redet.  Nur  gelegentlich  sagen  wir  z.  B.,  daß  jemand  in  der  Auswahl  seines 
Verkehres  guten  Geschmack  beweist;  aber  dann  meinen  wir  schon  wieder 
etwas  anderes  als  das  Fühlen  von  Mensch  zu  Mensch.  Über  der  Erziehung 
von  Geschmack  und  Gemüt  steht  das  große  Wort  von  Schopenhauer:  „Man 
muß  vor  einem  Kunstwerk  stehen  wie  vor  einem  Könige  und  warten,  bis  es 
einen  anspricht."  Es  treten  dann  Regungen  in  uns  auf,  die  rein  durch  die 
Sache  bedingt  und  zu  starker  ursprünglicher  Wirkung  fähig  sind;  erst  sie 
weisen  den  Dingen  in  unserer  Seele  die  Stellung  an,  die  sie  ihrer  Natur  nach 
verdienen.  Lernt  man  das  Fühlen  vielleicht  besonders  gut  an  Kunstwerken, 
so  heißt  es  doch  vor  allen  Dingen  dem  Mitmenschen  unbefangen  und  mit 
voller  Hingabe  gegenübertreten  und  spüren,  was  in  ihm  an  Wert  und  Un- 
wert liegt.  Die  Gefühle  sind  keine  bloße  Konvention,  wenn  sie  auch  von 
Sitte  und  Rede  auf  das  Stärkste  beeinflußt  werden  können.  Für  den,  der 
sich  von  beiden  frei  zu  machen  versteht,  sind  sie  das  feinste  und  sicherste 
Reagens  der  Seele  auf  die  Eindrücke,  die  an  sie  herantreten;  ja,  im  Grunde 
sind  sie  eines  Irrtums  nicht  fähig!  Am  deutlichsten  zeigt  sich  das  auf 
einem  Gebiet  seelischen  Lebens,  das  besonders  empfindlich  ist,  im  Gewissen, 
das  nur  eine,  aber  die  feinste  Gruppe  von  Bedingungen  seelischer  Reaktionen 
ins  Auge  faßt.  Allgemein  läßt  sich  sagen:  tritt  ein  positives  Wertgefühl 
in  uns  auf,  so  sagt  es  uns,  der  neue  Eindruck  findet  Übereinstimmung  mit 
unserem  Innern;  tritt  ein  negatives  Gefühl  ein,  so  liegt  ein  Widerspruch 
vor.  Urteilsfehler  können  nur  da  zustande  kommen,  wo  nicht  alle  Seiten 
des  betrachteten  Gegenstandes  und  alle  in  uns  liegenden  Anlagen  zur  Sprache 
kommen. 

Die  dritte  Seite  der  Selbständigkeit  ist  die  höchste.  Sie  hat  die  des  Denkens 
und  Fühlens  zur  Voraussetzung  und  setzt  ein  neues  Moment  hinzu,  die  Selb- 
ständigkeit der  Energie,  es  ist  die  Selbständigkeit  des  Willens.  Die  Alten 
haben  die  Tapferkeit  so  hoch  gestellt,  weil  sie  die  Selbständigkeit  des  Willens 
in  der  wichtigsten  Lebensaufgabe,  in  der  Selbstbehauptung  im  Kampfe  sahen. 
Es  scheint  aber,  daß  Tapferkeit  im  Wetlkampfe  leichter  zu  bewähren  ist  als 
Mut  in  dem  unblutigen  stillen  Existenzkampf  des  Alltagslebens,  der  nichts 
mit  Schwertern  und  Kugeln  zu  tun  hat.    Es  scheint,  daß  der  innere  Mut,  für 


368  F.  E.  Otto  Schultze 


den  Bismarck  den  kräftigen  Namen  Zivilkurage  gefunden  hat,  eine  seltenere 
Tugend  ist  als  der  äußere,  physische.  Psychologisch  ist  das  nicht  unverständ- 
lich, denn  im  Kampfe  herrscht  der  Affekt,  und  die  Gefahr  ist  groß;  in  solcher 
Lage  Energie  aufzubieten,  ist  leichter  als  in  der  ruhigen  Überlegung,  wo  der 
trieb  der  Leidenschaft  fehlt  und  die  Macht  nachteihger  Folgen  für  Besitz, 
Ehre  und  Vorteil  sich  leichter,  nachhaltiger  und  stärker  geltend  machen  können. 
Sophokles  hat  sehr  treffend  gesagt:  „Auch  der  Freigeborene  wird  in  der  Nähe 
des  Königs  schnell  zum  Sklaven." 

IL  Sachlichkeit. 

In  der  Selbständigkeit  erweisen  sich  die  seelischen  Leistungen  als  trieb- 
kräftig und  widerstandsfähig.  Triebkräftig  folgen  sie  dem  inneren  Drang  und 
den  äußeren  Anreizen,  und  widerstandsfähig  müssen  sie  sich  den  störenden 
Reizen  des  eigenen  Innenlebens  und  den  Hemmungen  und  Stürmen  der 
Außenwelt  gegenüber  bewähren.  Ist  die  Selbständigkeit  hierbei  ein  formales 
Gesamtmerkmal  der  Leistungen,  so  kommt  es  nun  darauf  an  zu  sehen,  welches 
die  materialen  Merkmale  der  seelischen  Vorgänge  sind.  Zur  Beantwortung 
dieser  Frage  müssen  wir  daran  denken,  daß  der  Mensch,  wie  bereits  gesagt, 
auf  Grund  seiner  Organisation  in  der  Lage  ist,  die  Außenwelt  gleichsam  in 
sich  aufzunehmen.  Er  bildet  in  sich  Repräsentanten  von  ihr  und  verarbeitet 
mit  ihrer  Hilfe].die  Gegenstände,  oder  wie  der  Sprachgebrauch  sich  ausdrückt, 
die  „Sache".  Der  materiale  Inhalt  wird  deshalb  von  der  Frage  aus  verständ- 
lich :  wie  können  wir  uns  auf  die  Sache  einstellen,  wie  können  wir  im  vollsten 
Sinne  sachlich  sein,  sachlich  denken,  fühlen  und  wollen?  Welche  Merk- 
male und  Tugenden  zeigt  der  Mensch,  der  sich  am  besten  und  vollsten  der 
Sache  widmet  und  ganz  in  ihr  aufgeht? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  finden  wir  gleichfalls  vom  Evolutionsprozesse  aus. 
Die  „Sache"  muß  zur  höchsten  „Entfaltung"  gebracht  werden! 
D.  h.  zunächst:  alle  Einzelheiten  müssen  herausentwickelt  werden.  Die 
Tugenden  der  Peinlichkeit,  der  Sorgfalt  werden  damit  selbstverständlich  als 
Tatsachen  und  Forderungen.  Weiter  ist  es  eine  psychologische  Notwendig- 
keit, daß  wir  bei  der  Verarbeitung  des  gegebenen  seelischen  Materiales  alle 
Beziehungen  herstellen,  die  zwischen  den  Gegenständen  selbst  und  zwischen 
ihren  Teilen  und  Merkmalen  bestehen.  Aus  diesen  Relationen  ergeben  sich 
jeweils  neue  Gedanken  und  Gefühle,  bis  schließlich  alle  Einzelheiten  mehr 
oder  weniger  eng  mit  einander  verwoben  sind.  Bilden  sich  dabei  zunächst 
auch  manche  überflüssigen  Einfälle,  so  sorgt  doch  die  Fülle  der  Beziehungen 
dafür,  daß  Unnötiges  abgestoßen  wird,  und  daß  die  Beziehungen,  die  mehr- 
fach fundiert  sind,  mit  besonderer  Eindringlichkeit  und  Triebkraft  sich  heraus- 
heben. So  ergibt  sich  ganz  von  selbst  auf  der  einen  Seite  die  Einfachheit 
und  Schlichtheit  als  Merkmal  hoher  Leistungen,  auf  der  anderen  Seite  ein 
Zug  und  ein  Bedürfnis  nach  Wahrscheinhchkeit,  Wahrhaftigkeit,  Notwendig- 
keit, nach  Logik,  Stil  und  Pflicht.  Für  das  Gebiet  des  Menschlichen  hat 
auch  hier  der  Sprachgebrauch  besondere  Begriffe  geschaffen.  Berücksichtigen 
wir  die  Forderungen,  die  die  Mitmenschen  auf  Grund  der  ihnen  innewohnen- 
den Eigentümlichkeiten  und  Merkmale  an  uns  stellen,  ihre  Bedürfnisse  und 
Rechte,  ihre  PfUchten,  den  in  ihnen  liegenden  Wert  und  ihre  Würde,  so  er- 
füllen wir  damit  von  selbst  die  Pflichten  der  Liebe,  Gerechtigkeit,  Treue 
und  Dankbarkeit.   Dabei  ist  es  gleichgültig,  ob  wir  einen  einzelnen  Menschen 


Ssibständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.     359 

oder  Menschengruppen  vor  uns  haben.  Was  vom  Einzelnen  gilt,  gilt  von  der 
Einheit,  der  Familie,  der  Freundschaft,  von  der  Arbeitsgemeinschaft,  dem  ge- 
schäftlichen Verkehr,  von  den  Gemeindebildungen  in  Stadt,  Staat  und  in  der 
Welt.  Damit  haben  die  zwar  vagen,  aber  ungeheuer  wichtigen  und  wertvollen 
Begriffe  Menschlichkeit  und  Humanität  ihren  Sinn  erhalten.  Siebezeichnen 
psychologisch  bedingte  Notwendigkeiten  oder  m.  a.  W.  Tatsachen  bezw. 
Forderungen,  die  sich  unter  der  Voraussetzung  voller  Empfänglichkeit  und 
Differenziertheit  der  menschlichen  Anlage  ganz  von  selbst  ergeben. 

So  wertvoll  sich  hiernach  ohne  weiteres  die  Organisation  der  menschlichen 
Seele  als  Grundlage  hochwertiger  Sachlichkeit  erweist,  so  müssen  wir  doch 
auch  in  Rechnung  ziehen,  daß  gleichzeitig  der  Trieb  zur  Macht  in  den  ein- 
zelnen Individuen  mit  verschiedener  Stärke  entwickelt  ist.  Der  Durchschnitts- 
mensch, wenigstens  alle  starken  Naturen,  setzen  in  die  Sache,  die  sie  ver- 
treten, ihre  ganze  Persönlichkeit.  Diese  muß  sich  geltend  machen.  Dies 
geschieht  aber  meist  im  Streben  zur  Macht.  Psychologisch  —  im  Sinne  der 
oben  kurz  entwickelten  Lehre  von  den  Begriffen  —  heißt  das:  der  Begriff  des 
Ichs  soll  und  muß  sich  unter  den  zahllosen  Begriffen,  die  jedes  Individuum 
von  anderen  Menschen  besitzt,  innerhalb  der  Einzelseele  zur  Herrschaft  er- 
heben. Der  Grund  dazu  liegt  darin,  daß  er  sowohl  von  selten  der  Sinnes- 
werkzeuge als  von  Seiten  des  Gemüts  und  der  mit  diesem  Worte  mitbezeich- 
neten angeborenen  Anlage  am  meisten  Nahrung  und  Triebkraft  erhält.  E» 
ist  dies  eine  der  wesentlichsten  Seiten  in  der  psychologischen  Grundlage  dessen, 
was  wir  als  Raubtiernatur  des  Menschen  zu  bezeichnen  pflegen.  Daß  wir 
körperlich  Eckzähne  haben,  ist  nicht  so  wesentlich,  als  daß  wir  Ellenbogen, 
Herrschsucht,  Geldgier  und  Ehrgeiz  besitzen.  Das  sind  Organe  oder  Kräfte 
dei;  Seele,  Mächte,  die  bei  vielen  Individuen  leider  ungleich  stärker  wirksam 
sind,  als  die  Sache  im  engsten  Sinne.  Um  den  enormen  Einfluß  dieser  und 
ähnlicher  subjektiver  Momente  zu  kennzeichnen,  müssen  wir  uns  die  Menschen 
vergegenwärtigen,  in  denen  geringer  seelischer  Besitz  und  wenig  differenzierte 
Eigenart  mit  hoch  entwickelter  Macht  gepaart  sind.  — 

Der  Typus  des  Feldwebels  sei  zunächst  in  diesem  Sinne  genannt.  Naturgemäß  ist  hier 
der  Durchschnittsfeldwebel  gemeint,  wie  ihn  der  Sprachgebrauch  kennt.  Die  Tatsache,  daß  viele 
solcher  Männer  Väter  der  Kompagnie  im  besten  Sinne  des  Wortes  sind,  und  daß  zumal  dem 
preußischen  Feldwebel  eine  ungeheure  Sachlichkeit  eigen  ist,  schließt  eine  wenig  erfreulicho 
Häufigkeit  der  Zerrforra  des  Machtgefühles  nicht  ans,  wie  sie  vom  großen  Durchschnitt  her 
bekannt  sind  Die  Neigung  zum  Befehlen  und  zu  geringschätziger  Behandlung,  das  Schikanieren, 
ja  das  Bedürfnis,  die  Leute  zu  schinden,  liegt  ungeheuer  tief  in  derartigen  Charakteren  begrün- 
det. Dazu  kommen  Gereiztheit,  gewohnheitsmäßiges  Schimpfen  und  unerzogene  Rücksichts- 
losigkeit. Naturgemäß  finden  sich  derartige  Züge  auch  in  anderen  Beamten-  und  Berufsstellen, 
denn  hohe  Organisationen  der  Seele  sind  selten,  und  unsere  Ausbildung  legt  auf  die  Entfaltung 
der  rein  menschlichen  Anlagen  wenig  Wert.  Im  Heeresdienst  ist  wegen  der  scharfen  Ai»beit8- 
teilung  und  der  besonders  hohen  Machtstellung  des  Vorgesetzten  dieser  Typus  nur  besonders 
ausgeprägt.  Eine  zweite  Gruppe  von  Fällen  von  gewisser  seelischer  Armut  und  unverfiftltnis- 
mäßig  großer  Macht  ist  in  dem  jetzt  so  bekannten  Typus  des  Munitionsarbeiters  und  Empor- 
kömmlings überhaupt  zu  sehen.  Auch  hier  darf  natürlich  nicht  kraß  verallgemeinert  werden. 
Tausende  von  Menschen  sind  durch  die  Munitiousarbeit  vorangekommen  und  haben  durch  ihre 
Sparsamkeit  die  Grundlage,  zu  einem  bescheidenen  Wohlstande  gelegt,  aber  ein  beängstigend 
großer  Teil  ihrer  Masse  gibt  sich  so  gut  wie  schrankenlos  dem  Lebensgenuß  hin  und  denkt  nicht 
einmal  an  die  Gefahren  der  eigenen  Zukunft,  sonst  wäre  ja  nichts  selbstverständlicher,  als  daß 
man  erst  einmal  sich  selbst  gegen  diese  Gefahren  der  Krankheit,  des  Alters  und  der  Arbeits- 
losigkeit sicherte,  anstatt  daß  man  die  eigenen  Bedürfnisse  in  luxuriöser  Weise  befriedigte.  Es 
bewährt  sich  damit  die  alte  Erfahrung,  daß  derjenige,  der  keine  Tradition  in  der  Sparsamkeit 
Zeitschrift  f.  pädagog.  Psychologie  24 


370  F-  ^-  ^^^^  Schultze 


und  im  Geldzußammenhalten  kennt,  das  Sparen  nicht  allzu  leicht  lernt,  und  daß  andererseits 
wohlhabende  Familien,  in  denen  die  Sparsamkeit  Gewohnheit  ist,  unverhältnismäßig  einfacher 
leben,  als  etwa  gleichgestellte  Familien  ohne  solche  Sitte.  —  Als  dritte  Gruppe  von  Fällen  müssen 
wir  an  die  Frau  im  allgemeinen  denken.  Bei  ihr  tritt  die  Sachlichkeit  hinter  dem  Gemütsleben 
leicht  zuiück.  Das  Gefühl  ist  bei  der  Frau  bekanntlich  im  großen  und  ganzen  wesentlich  reicher 
entfaltet  als  beim  Manne.  Die  Frau  ist  lebhafter  in  Zuneigung  und  Abneigung,  in  Liebe  und 
Haß,  sie  bringt  leichter  Opfer,  ist  aber  auch  viel  leichter  ungerecht,  gehässig  und  überhaupt  un- 
sachlich. 

Volle  Sachlichkeit  unterdrückt  darum  mit  psychologischer  Notwendigkeit 
die  subjektiven  Neigungen,  mögen  diese  herkommen  wo  sie  wollen;  strenge 
Sachlichkeit  ordnet  sich  der  Sache  vollständig  unter  und  sieht  in  ihrer  Ent- 
faltung die  unbeugsame  Pflicht.  Sachlichkeit  wird  damit  die  Grundlage  der 
inneren  Freiheit,  der  höchsten  sittlichen  Forderung,  die  wir  stellen  können. 

III.  Frohsinn. 

Würden  wir  uns  mit  der  Erfüllung  der  beiden  Forderungen:  Selbständig- 
keit und  Sachlichkeit  begnügen,  so  könnten  wir  es  sicher  leicht  zu  einer 
hohen  Leistungsfähigkeit  bringen.  Es  bleiben  aber  zwei  grundverschiedene 
Lösungen  des  Lebensproblems  möglich,  die  eine  der  puritanisch  strengen 
Sittlichkeit  und  Härte,  die  andere  der  sieghaften,  freiwilligen,  frohsinnigen 
Kräfteentfaltung.  Ja  selbst  eine  finstere,  harte,  nüchterne  Lebensführung 
-wäre  bei  solchen  Voraussetzungen  nicht  ganz  ausgeschlossen.  Von  diesen 
Möglichkeiten  scheint  uns  die  zweite,  die  hedonistisch-optimistische  Form,  die 
wesentlich  wertvollere  zu  sein,  denn  sie  läßt  das  Leben  nicht  nur  in  sitt- 
licher, sondern  zugleich  auch  in  rein  menschlicher  Beziehung  wertvoll  er- 
scheinen. Dabei  ist  sie  wesenthch  leichter  und  angenehmer  durchzuführen, 
als  die  andere.  V/eshalb  soll  man  daher  nicht  den  Frohsinn  gleichfalls  zu 
seinem  Rechte  kommen  lassen?  Ich  weise  auf  sehr  einfache  Erlebnisse  hin: 
Wenn  man  in  monatelanger  Pflichterfüllung  die  Tretmühle  des  Alltagslebens 
hat  klappern  lassen  und  dann  an  dem  ersten  schönen  freien  Tage  seiner 
Ferien  sorgenlos  und  hoffnungsfreudig  in  die  langentbehrte  Natur  hinaus- 
wandert, wie  atmet  man  dann  auf!  Man  freut  sich  seiner  Freiheit  und  der 
Schönheit  der  Welt  und  sagt  schließlich:  Warum  nimmt  man  das  Leben  so 
nüchtern  und  ernst?  Weshalb  genießt  man  es  nicht  öfters?  Und  wie  anders 
leistungsfreudig  fühlt  sich  der  Abgeschaffte  nach  einer  wohlverdienten  Arbeits- 
unterbrechung! Ja  noch  mehr:  der  Mensch  braucht  Feste  zur  rechten  Zeit, 
wenn  er  sich  jung  und  elastisch  erhalten  will;  sie  müssen  auf  unserem  Lebens- 
programm stehen.  Darum  ist  der  Frohsinn  nicht  nur  schön,  sondern  auch 
lebenswichtig. 

Abermals  sind  es  die  Gefühle,  die  mit  der  Forderung  des  Frohsinns  ent- 
scheidende Bedeutung  in  unserem  seelischen  Haushalt  gewinnen. 

Wir  hatten  gesagt,  daß  sich  in  uns  rein  gesetzmäßig  Einfälle,  Gedanken, 
Begehrungen  und  Absichten  bilden.  Wir  können  uns  nicht  verschweigen, 
daß  unsere  Gedanken  oft  wunderlich  und  nicht  selten  geradezu  töricht  sind. 
Darum  muß  zwischen  ihnen  eine  Auswahl  stattfinden.  Am  glücklichsten  und 
erfolgreichsten  wird  sie  sein,  wenn  sie  durch  Weitherzigkeit  und  Gefühle  der 
Lust  und  des  Glückes  begünstigt  wird.  Dem  Frohen  und  Weitherzigen  wird 
es  leichter  als  dem  Engherzigen,  dem  Neidischen  und  Mißgünstigen,  andere 
Menschen  glücklich  zu  sehen  und  ihnen  zur  Freude  zu  verhelfen;  dem  Eng- 
herzigen dagegen  wird  es  schwer,  ja  oft  unmöglich;  er  ist  darirni  gewisser- 


Selbständigkeit,  Sachlichkeit  und  Frohsinn  als  Charaktereigenschaften  usw.     37^ 

maßen  der  Typus  des  Bösen:  seine  Freude  ist  Freude  am  Mißergehen  und 
Unglück  des  anderen.  Dieses  negative  Moment,  das  Mißgeschick  und  Un- 
glück des  Anderen,  darf  nicht  über  unsere  Seele  Gewalt  gewinnen.  Seine 
Ausschaltung  kann  aber  nur  da  erfolgen,  wo  Weitherzigkeit  und  die  Fähig- 
keit, anderen  Gutes  zu  tun,  besteht.  Das  reichste  Maß  sich  zu  freuen  und 
anderen  Freude  zu  gönnen,  ist  also  der  Prüfstein  höchster  Leistungsfähigkeit 
auf  menschlichem  Gebiet.  Der  Engherzige  ist  in  diesem  Sinn  ein  beschränkter 
Mensch;  er  kann  sich  nicht  mehr  freuen,  wo  anderen  dies  noch  in  reichem 
Maße  vergönnt  ist.  Könnte  er  das,  so  stände  er  auf  einer  wesentHch  höheren 
Stufe  der  allgemeinen  Menschlichkeit.  Reichtum  an  Freude  ist  somit 
neben  Weitherzigkeit  ein  Zeichen  hoher  seelischer  Organisation 
und  Grundlage  für  Liebe,  Güte  und  Menschlichkeit. 

Auch  auf  anderen  Gebieten  geben  uns  die  positiven  Gefühle  einen  Hinweis 
auf  unsere  innere  Struktur.  Der  gesunde  Mensch  befindet  sich  wohl;  er  neigt 
dazu,  sein  körperliches  Befinden,  soweit  er  sich  darauf  einstellt,  angenehm 
zu  spüren.  Wer  am  Morgen  wohlausgeruht  erwacht  und  Herr  seiner  Kräfte 
ist,  ist  ein  anderer  als  der,  der  sich  am  Abend  übermüdet  auf  sein  Lager 
wirft,  jener  ist  glücklich,  dieser  gleichgültig  oder  unlustig.  Die  Kinder,  die 
übermüdet  sind,  besitzen  noch  nicht  die  Hemmungen  des  Erwachsenen  und 
weinen  und  schreien  darum  in  der  Übermüdung  grundlos,  ein  nicht  mißver- 
ständlicher Ausdruck  ihres  Mißbefindens.  GeHngt  es  deshalb,  unser  Leben 
so  zu  gestalten,  daß  es  körperlich  und  seelisch  von  glücklichen  Gefühlen 
durchzogen  und  durchwoben  ist,  so  ist  damit  die  Gewähr  gegen  Griesgram, 
Neid,  Mißgunst  und  gegen  körperliche  Leishingsherabsetzung  geschaffen.  Und 
so  will  es  uns  scheinen,  daß  der  Mensch,  der  im  Lebenskampf  steht,  sich  immer 
und  immer  wieder  zu  prüfen  hat,  ob  er  körperhch  und  seehsch  froh  und 
glücklich  ist.^)     Darum  frage  man  sich  von  Zeit  zu  Zeit: 

Sag',  bist  du  froh? 

Und  kann  man  nicht  freudig  ja  sagen,  so  besinne  man  sich  nicht  lange, 
sondern  spreche,  sich  selbst  anspornend,  weiter: 

Und  bist  du's  nicht,  so  sorge,  daß  du's  seist! 
Jean'Paul  hat  diese  Weisheit  in  einem  unendlich  feinen  Spruch  zum  Aus- 
druck gebracht,  als  er  sagte:  „Heiterkeit  ist  der  Himmel,  unter  dem  alles  ge- 
deiht, außer  den  Giften." 

Unser  Gefühlsleben  hat  mannigfaltige  Seiten.  Lust  und  Unlust  sind  die 
bekanntesten  und  auffälHgsten  Momente,  aber  es  gibt  noch  einen  anderen 
Gegensatz  der  positiven  und  negativen  Gemütsbewegungen,  der  damit  nicht 


•)  Ein  Mißverständnis  muß  an  dieser  Stelle  sofort  ausgeschlossen  werden.  Wir  reden  in  diesem 
Aufsatze  nur  von  den  Zielen  der  Erziehung  und  nicht  von  ihren  Wegen  und  Mitteln.  Man  könnte 
darum  meinen,  wir  zielten  auf  eine  Behandlung  der  Zöglinge  ab,  in  der  alles  von  Lustigkeit 
überströmt  und  in  der  alles  Unangenehme  erleichtert  und  alles  Bittere  überzuckert  würde.  Keines- 
falls! Sachlichkeit  und  Selbständigkatt  müssen  stets  stark  und  hart  sein  können.  In  dieser  Be- 
ziehung bleibt  die  preußische  Willenskraft  unentbehrlich.  Die  bekommt  man  aber  nur  durch  harte 
Arbeit,  straffe  Zucht  und  Gewöhnung  an  Entbehrung.  Man  muß  Hartholz  bohren  lernen !  Oder 
um  ein  anderes  Bild  zu  gebrauchen,  sei  es  gestattet,  eine  Stelle  zu  zitieren,  nach  der  Carneades 
von  Cirene  und  nach  ihm  Montaigne  die  Bemerkung  gemacht  haben,  daß  die  Fürstensöhne,  unter 
deren  Berührung  sich  alles  binsenhaft  biege  und  beuge,  nur  von  den  Pferden,  die  sie  bestiegen, 
rücksichtslos  abgeworfen  würden  und  daher  meistens  nur  das  Reiten  grümllich  lernten.  —  Preußischer 
Drill  ißt  bei  jeder  vollwertigen  Erziehung  unentbehrlich! 

24* 


372  F.  E.  Otto  Schul tze 


gleich  ist.  Das  Gefühl  der  Bewunderung  und  die  Gefühle  des  Großen  auf 
der  einen  Seite  und  das  Gefühl  des  Kleinmutes  unä  der  Schwäche  auf  der 
anderen  Seite  stehen  sich  mit  der  gleichen  Deutlichkeit  wie  jene  gegenüber; 
beide  Gefühlsreihen  können  unabhängig  voneinander  im  Bewußtsein  auftreten. 
Die  sachliche  Betrachtung  der  Welt  und  ihres  Baues  führt,  je  tiefer  sie  greift, 
ganz  von  selbst  zu  Gemütswirkungen.  Wir  freuen  uns  ihrer  Schönheit,  wir 
bewundern  ihre  Unendlichkeit  und  stehen  still  vor  ihrer  Macht.  Das  Erklärungs- 
bedürfnis leitet  uns  in  der  gleichen  Richtung  weiter  und  findet  hinter  der 
Welt,  wenn  auch  nicht  auf  wissenschaftlichem  Weg,  so  doch  mit  dem  Glauben, 
noch  etwas  stehen,  das  zwar  nicht  der  Verstand,  wohl  aber  die  Vernunft  und 
das  Gemüt  erfassen  kann.  Durch  Sachlichkeit  und  tiefes  Gefühl  kommen 
wir  ganz  von  selbst  zu  einer  rehgiösen  Auffassung.  Mag  man  das  Göttliche 
im  Sinne  des  alten  Griechentums,  des  Christentums,  des  Islams  oder  philo- 
sophischer Spekulationen  auffassen,  der  große  Grundzug  auf  das  Heilige  ist 
allen  gemeinsam.  Er  ist  wie  alle  Tugend  eine  psychologische  Notwendig- 
keit vollster  innerer  Entfaltung  und  umfassender  Verarbeitung  der  Welt  und 
des  Seins. 

Fügen  wir  unsere  Überlegung  zusammen,  so  erhebt  sich  von  selbst  als  Ziel 
unserer  Entwicklung  und  Erziehung  das  Bild  eines  Menschen  von  einfacher, 
klarer  Gestaltung  vor  unseren  Augen.  Es  ist  uns  fast  gleichgültig,  ob  er 
intellektuell  hochbegabt,  mittelgut  oder  schwach  veranlagt  ist.  Wichtiger 
ist,  daß  er  gesund  ist  und  seine  Kräfte  entfaltet,  die  die  Natur  und  seine 
Umgebung  von  ihm  fordern.  Er  ist  kraftvoll  und  selbstsicher,  läßt  sich  nicht 
von  jedem  Windstoß  umblasen,  ändert  nicht  von  AugenbUck  zu  Augenblick 
seine  Meinung,  hat  einen  ausgeprägten  Geschmack  und  ein  sicheres  Mit- 
gefühl und  besitzt  einen  starken  zielsicheren  Willen.  Der  Sache  ordnet  er 
sich  unter,  in  welcher  Gestalt  sie  kommen  mag.  Er  verarbeitet  sie  gründlich, 
bis  sie  ihm  einfach,  klar  und  notwendig  erscheint.  Er  bleibt  ihr  gegenüber 
mit  seinem  Gehirn  nicht  kalt  stehen,  sondern  erfaßt  sie  auch  gefühlsmäßig. 
Empfänghchkeit  und  Weitherzigkeit,  Gesundheit  und  Tatkraft  lassen  ihn  die 
an  sich  lebenskräftigen  Seiten  der  Sache  angreifen,  denn  diese  entsprechen 
seinen  gesunden  Anlagen.  Herrschsucht,  Eitelkeit,  Gehässigkeit  und  Gefühls- 
überschwang und  schließhch  all  die  kleinlichen  Süchte  kann  er  durch  seine 
Sachlichkeit  leicht  unterdrücken.  Dabei  durchzieht  sein  ganzes  Wesen  ein 
alles  versöhnender  Frohsinn,  und  im  Stillen  schlummert  und  wacht  stets  ein 
tiefreligiöses  Gefühl. 

Haben  wir  einen  Menschen  zu  beurteilen,  so  fragen  wir:  Ist  er  selbständig? 
Ist  er  sachlich?    Ist  er  froh? 

Haben  wir  einen  Menschen  zu  erziehen,  so  richten  wir  an  uns,  so  oft  wir 
pflichtgemäß  unsere  Leistungen  prüfen  und  unsere  Aufgaben  vorbereiten, 
Fragen  wie  diese:  Was  hast  du  bisher  getan,  um  alle  Kräfte,  die  in  deinem 
Zögünge  liegen,  zu  entfalten?  Hast  du  dazu  beigetragen,  ihn  selbständig, 
sachlich  und  froh  zu  machen?  —  So  führen  v^r  langsam  und  sicher  ihn  und 
auch  uns  selbst  zu  den  Zielen  der  Selbständigkeit,  der  SachUchkeit  und  des 
Frohsinns. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  373 

Ober  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel 
und  die  Einrichtung  öffentlicher  Spielzimmer  und  Beobachtungsstatten. 

Von  Oskar  Frey. 

Was  mich  veranlaßt,  in  dieser  schwierigen,  oft  erörterten,  kaum  an- 
nähernd gelösten  Frage  das  Wort  zu  ergreifen,  sei  zugleich  Erklärung  der 
Abgrenzung,  die  in  der  Aufschrift  liegt  und  der  besonderen,  auf  praktische 
Resultate  zugespitzten  Behandlung. 

Es  ist  leider  eine  merkwürdige  Tatsache,  daß  wir  eine  fast  unüberseh- 
bare Literatur  über  das  Spiel  und  eine  täglich  wachsende  Literatur  über 
neue  Spielmittel  besitzen  —  besonders  solche,  die  von  Kindern  selbst  her- 
gestellt werden  sollen  — ,  aber  keine  entsprechende  Organisation,  die  plan- 
mäßige Erfahrungen  sammeln  könnte  über  die  Berechtigung  der  vielen  aus 
biologischen  und  psychologischen  Theorien  abgeleiteten  Beurteilungen  der 
Spiele  und  Spielmittel. 

Die  Kindergärten  können  nicht  in  Frage  kommen,  da  sie  nicht  das 
ganze  spielfähige  Alter  umfassen.  Die  Bestrebungen,  das  körperliche  Spiel 
zu  fördern,  stellen  berechtigte  Forderungen  der  körperlichen  Ertüchtigung 
so  einseitig  in  den  Vordergrund,  daß  nach  Spieltrieb  und  seiner  Berück- 
sichtigung fast  nicht  mehr  gefragt  und  das  Spiel  in  solchen  Übungen  von 
der  Zielstrebigkeit  derselben  ganz  erdrückt  wird. 

Eine  wichtige  Bestrebung  unserer  Pädagogik  trägt  —  aber  wohl  gegen 
den  Willen  der  meisten  Führer  derselben  —  dazu  bei,  daß  der  Spieltrieb 
unserer  Jugend  in  seinen  edelsten  und  wertvollsten  Äußerungen  in  den  Dienst 
der  geistigen  Selbsterziehung  gestellt  wird.  Ich  meine  die  Bewegung  zur 
werktätigen  und  auf  eigenes  Experimentieren  hinstrebenden  Ausgestaltung 
des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts:  die  naturwissenschaftlichen  Schüler- 
übungen der  Höheren  Lehranstalten  und  das,  was  sich  unter  dem  Schlag- 
worte „Arbeitsschule"  in  der  Didaktik  des  Sachunterrichts  geltend  macht. 

Es  wäre  eine  verhängnisvolle  Selbsttäuschung,  wollten  wir  auf  diesem 
Gebiete  uns  in  den  Gedanken  einwiegen,  daß  wir's  schon  „herrlich  weit 
gebracht"  haben,  da  Lehrmittel  für  viele  Experimente  aus  fast  allen  Diszi- 
plinen erfunden  und  handelsfähig  gemacht  sind,  einige  Schulen  oder  Schul- 
kategorien auch  die  neuen  Forderungen  in  Einklang  gebracht  haben  mit  dem 
Kunstwerke  ihrer  Lehrpläne.  Die  Tatsache,  daß  mit  diesen  Arbeitsmethoden» 
mit  dem  Streben  durch  Eigenarbeit  und  Selbsterlebnis  wirklich  erzieherisch 
zu  individualisieren,  das  organisatorische  Rückgrat  unserer  Schulen,  der 
Klassenunterricht  mit  seiner  gleichmäßigen  Bewältigung  eines  vorgeschriebenen 
Arbeitspensums  zertrümmert  wird,  darf  nicht  übersehen  werden. 

Wollen  wir  aber  wissen,  was  wir  eigentlich  an  seine  Stelle  setzen 
können,  so  gilt  es,  unsere  Erfahrungsgrundlage  darüber,  wie  das  Kind 
reagiert,  wenn  es  nicht  dem  Zwange  der  Organisation  gehorcht,  sondern 
dem  eigenen,  wertvollen  Triebe  folgt,  bedeutend  zu  ei-weitern  und  planmäßig 
zu  vertiefen. 

Eine  vielversprechende  Möglichkeit  solcher  Kinderforschung  scheint  mir 
im  kindlichen  Spiel  zu  liegen.  Ich  weiß,  daß  damit  kein  neuer  Gedanke 
ausgesprochen    wird.     Der  Gedanke    gewinnt    aber    erst  Wert,    wenn   eine 


374  O.  Frey 

brauchbare  Organisation  gezeigt  wird,  dje  zu  einer  wenigstens  teilweisen 
Verwirklichung  der  Idee  führen  kann. 

Untersuchungen  mit  größerer  Kinderzahl  über  Spiel  und  Spieltrieb  sind 
nicht  zu  machen,  ohne  bestimmte  Berücksichtigung  der  Spielzeugindustrie 
und  ihrer  Erzeugnisse.  Soweit  mir  Ausführungen  der  pädagogischen  Presse 
über  die  Bedeutung  der  Spielzeugindustrie  bekannt  sind,  erschöpfen  sie  sich 
in  der  Kritik  einzelner  Spielmittel  oder  bestimmter  Gruppen  derselben.  Das 
unendlich  mannigfaltige  Angebot  der  Spielzeugindustrie  wird  verurteilt  und 
die  Qualität  der  Spielmittel  wird  in  Gegensatz  gestellt  zu  den  Forderungen 
der  „Kunsterziehung"  usw.  Ich  bin  weit  davon  entfernt,  die  Schwierigkeiten 
zu  unterschätzen,  die  durch  die  ungeheure  Vielgestaltigkeit  des  Angebotes 
in  bezug  auf  seine  pädagogische  Beurteilung  entstehen,  will  durchaus  nicht 
den  Schund  als  berechtigt  hinstellen,  bin  aber  der  Überzeugung,  daß  das 
Überbieten  durch  Abänderungen  desselben  Spielmittels  und  das  Unterbieten 
im  Preise  und  der  Qualität  notwendige  Entwicklungsstufen  der  Spielzeug- 
industrie sind,  über  die  sie  in  einigen  Zweigen  schon  hinausgewachsen  ist. 

Wir  haben  eine  weltumspannende  Spielzeugindustrie  oder  hatten  sie  vor 
dem  Kriege.  Die  Vertreter  derselben  wissen  sehr  wohl,  daß  sie  nach  dem 
Kriege  einen  schweren  Kampf  zu  kämpfen  haben,  um  deutschem  Spielzeuge 
den  Markt  wieder  zu  erobern,  sie  wissen  ebenso,  daß  dies  nicht  möglich 
sein  wird  mit  Marken,   die  das  Urteil  herausfordern:   „billig  und  schlecht". 

In  der  Spielzeugindustrie  ist  aber  die  Materialfrage,  d.  h.  die  Frage 
nach  dem  gediegenen  Material  und  der  materialgerechten  Ausführung  nicht 
die  einzige  Qaalitätsfrage.  Das  Urteil  über  „gut  und  schlecht"  ist  auch  nicht 
nur  von  einer  Steigerung  der  künstlerischen  Qualitäten  abhängig,  wenn  auch 
durch  die  Mitarbeit  der  Künstler  eine  allgemeine  Veredelung  des  Angebotes 
erreicht  worden  ist. 

In  gutem  Spielzeug  wird  immer  mehr  oder  weniger  bewußt  eine  er- 
ziehende Kraft  gesucht.  Spielzeuge  werden  von  den  Eltern  in  allen  Kultur- 
ländern —  um  einen  brauchbaren  Ausdruck  der  philanthropischen  Pädagogik 
zu  benutzen  —  als  „Miterzieher"  gewertet.  Die  Spielzeugindustrie  wird 
von  der  pädagogischen  Befähigung  der  Erfinder  mindestens  ebenso  abhängig 
sein  wie  von  ihren  Künstlern  und  Technikern.  Man  kann  aber  leider  nicht 
sagen,  daß  sie  sich  nach  modernen  pädagogischen  Ideen  orientieren  könnte. 
Selbst  der  allgemein  Orientierte  wird  die  Orientierung  in  pädagogischen 
Fragen  verlieren,  wenn  er  ein  bestimmtes  Spielmittel  nicht  nur  allgemein 
beurteilen,  sondern  Gedanken  zu  seiner  technischen  und  pädagogischen  Ver- 
besserung äußern  soll. 

Uns  fehlt  doch  zu  sehr  die  Kenntnis  der  Resonanzbedingungen,  die  das 
Spielzeug  im  Geistes-  und  Triebleben  vor  allen  der  höheren  Altersstufen 
findet.  Diese  für  die  Spielzeugindustrie  ebenso  wie  für  die  Pädagogik 
wertvollen  Kenntnisse  können  nur  durch  planmäßige  Beobachtungen  ge- 
wonnen werden. 

Grundsätze  einer  Organisation,  die  solche  Beobachtungen  ermöglichen 
wiU,  müssen  natürlich  unter  vollwertiger  psychologischer  Beratung  aufgestellt 
werden.  Es  darf  aber  die  Absicht  der  Beobachtungen  nicht  den  Charakter 
des  Spieles  zerstören. 

Die  Beobachtung  des  einzelnen  spielenden  Kindes  müßte  mit  der  Beob- 
achtung   von    Spielgemeinschaften    so    verbunden    werden,    daß    Vergleiche 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  375 

möglich  sind.  Gleichaltrige  verschiedener  Familien  und  Lebensverhältnisse, 
Geschwister  verschiedener  Altersstufen,  verschiedenen  Geschlechts  müßten 
mit  demselben  Spielzeuge  unter  gleichen  und  planmäßig  abgeänderten  Be- 
dingungen spielen. 

Die  Spielzeuge  dürften  auch  nicht  den  Charakter  von  Apparaten  für 
Reaktionsversuche  annehmen.  Trotzdem  müßten  die  Spielbedingungen  so 
beeinflußt  werden,  daß  vergleichbare  Resultate  erwartet  werden  dürfen. 

Im  einzelnen  die  Möglichkeiten  aufzuführen,  wie  sich  diesen  Schwierig- 
keiten begegnen  läßt,  ist  unmöglich.  Hier  hilft  nur  die  Tat,  und  das  Urteil 
wird  zu  fällen  sein,  wenn  bestimmte  Berichte  vorliegen. 

In  Leipzig,  der  Stadt  der  Spielzeugmesse,  ist  es  gelungen,  während  der 
Kriegsjahre  im  Anschluß  an  das  auch  im  Kriege  entstandene  Schulmuseum 
eine  derartige  Organisation  zu  gründen.  Wir  haben  Spielzimmer  eingerichtet, 
von  der  Industiie  die  dankenswerteste  Unterstützung  erhalten  und  bemühen 
uns,  Knaben  und  Mädchen  des  schulpfUchtigen  Alters  in  besonders  dafür 
eingerichteten  Zimmern  ein  Spielparadies  zu  schaffen.  Daß  die  Kinder, 
denen  die  Spielzimmer  bis  jetzt  zugänglich  gemacht  werden  konnten,  diese 
Einrichtung  als  die  schönste  Frucht  der  Kriegszeit  bezeichnen  und  ständig 
um  die  Erweiterung  der  bis  jetzt  möglichen  Spielstunden  bitten,  ist  aller- 
dings bisher  das  einzige  Ergebnis,  über  das  ohne  Bedenken  berichtet  werden 
kann  und  das  uns  in  der  Überzeugung  festigt,  die  Organisation  sei  in  ihren 
Grundzügen  gelungen. 

Die  Vorarbeiten,  die  nötig  waren,  um  die  Bereitwilligkeit  der  Industrie 
und  der  Verwaltung  des  Schulmuseums  zu  erreichen,  haben  mich  aber  ver- 
anlaßt, das  Angebot  an  Spielzeug,  über  das  die  Mustermesse  einen  einzig- 
artigen Überblick  ermöglicht,  zu  prüfen  und  zu  sichten.  Die  Ergebnisse 
scheinen  mir  wert,  daß  sie  der  Öffentlichkeit  übergeben  werden.  In  der 
bewußten  Beschränkung  auf  die  industriellen  Spielmittel  ist  die  Möglichkeit 
eröffnet,  daß  Elternbeobachtungen  herangezogen  werden  können.  Die  Not- 
wendigkeit, eine  gemeinverständliche  Darstellung  der  psychologischen  Auf- 
fassung zu  geben,  erschwerte  jene  Arbeit  nicht  unbedeutend,  und  ich  kann 
mir  die  Bitte  an  die  Kritik  nicht  versagen,  daß  jene  doppelte  Abhängigkeit 
dieser  Psychologie  des  Spieles  mit  Spielzeug  berücksichtigt  werden  möchte '). 

L  Zur  Psychologie  des  Spiels. 

Die  Industrie  unterscheidet  konsequent  Spiele  und  Spielzeug.  Zu  den 
Spielen  gehören  unsere  Brett-,  Karten-,  Würfel-,  Lottospiele,  also  alle  jene 
Spielmittel,  die  nicht  auf  Erwecken  oder  Verstärken  einer  Spielillusion  ein- 
gestellt sind,  daher  auch  nicht  eigentlich  „Kinderspielzeug"  sind. 

Uraltes  Kulturgut  der  Menschheit  findet  sich  unter  diesen  Spielen.  Um 
wenige  gute  alte  Formen  hat  sich  ein  Gerank  neuer  Erfindungen  geschlossen, 
die  die  alte  Spielform  nach  irgendeiner  Seite  übertreffen  sollen.  Im  all- 
gemeinen stammen  die  Neuerungen  selten  von  solchen,  die  Meister  der  alten 
Form   sind.     Eines   dieser   Spiele   —  und  sei   es   nur  eines  der  bekannten 


')  Zur  Orientierung  über  die  Probleme  und  die  Hauptformen  der  Auffassung  des  Spieles 
als  einer  Erscheinung  des  kindlicben  Seelenlebens  kommen  hauptsächlich  in  Frage :  Karl  Groß, 
Die  Spiele  der  Menschen.  Jena,  Gustav  Fischer,  1898;  W.  Stern,  Psychologie  der  frühen 
Kindheit.     Quelle  &  Meyer,  1^14. 


376  O.  Frey 

Familienbrettspiele  —  gut  spielen,  heißt,  sich  angenehm  und  anregend 
imterhalten,  bedeutet  für  viele  Menschen  Erholung  und  Sammlung. 

Was  sind  aber  diese  Spiele  unseren  Kindern  ?  Ist  jbs  wirklich  so,  daß  in 
den  Brettspielen  die  nie  versagenden  Erzieher  zu  Scharfsinn,  schnellem  Urteil,. 
Übersicht  über  komplizierte  Zusammenhänge  gegeben  wären?  Sind  die 
kindertümlichen  Formen  der  Kartenspiele  wirklich  die  besten  Rechenmeister, 
die  nicht  nur  das  Addieren  bis  zum  halb  unbewußten  Mitzählen  und  gleich- 
zeitigem Ablauf  mehrerer  Reihen  nebeneinander  üben,  sondern  auch  die 
wirklich  wertvollen  Grundlagen  aller  Wahrscheinlichkeitsrechnung?  Sind 
die  Brettspiele  wirklich  die  unersetzlichen  Übungsstätten  des  Raumsinnes, 
die  Karten-,  Würfel-,  manche  Lottospiele  die  kindertümlichsten  Formen  für 
das  Sich  tummeln  im  begrenzten  Zahlenraum?  Wer  Kinder  verschiedenen 
Alters  in  ihrer  Unterhaltung  mit  solchen  Spielen  beobachtet,  wird  wohl 
erstaunt  sein,  wie  wenig  zuverlässig  das  Urteil  über  die  Begabung  der 
Kinder  ausfällt,  das  aus  ihrem  Auffassen  und  Beherrschen  der  Spielregeln 
sich  ergiebt.  Ein  Sichversenken  in  das  Spiel,  die  volle  Konzentration  der 
Aufmerksamkeit  auf  die  in  der  Spiellage  vorhandenen  Möglichkeiten,  ist  bei 
Kindern  recht  selten  zu  finden.  Das  Kind  achtet  zunächst  sehr  auf  den 
Mitspielenden,  ist  meist  von  der  Richtigkeit  seiner  Maßnahmen  z.  B.  beim 
Brettspiel  durchaus  nicht  so  überzeugt,  wie  es  glauben  machen  möchte.  Die 
Spiele  könnten  also  den  Erfolg  erstreben,  Sicherheit  im  Handeln  nach  Über- 
zeugung zu  wecken.  Wäre  das  möglich,  so  wäre  ihre  erzieherische  Be- 
deutung hoch  anzuschlagen. 

Der  Verlauf  einer  Entwicklung,  wie  ihn  das  Erlernen  eines  Spieles 
darstellt,  ist  aber  meist  so,  daß  man  feststellen  muß,  das  Kind  sucht  die 
Spielregeln  nicht  nur  zu  erlernen,  sondern  sehr  bald  nach  seinen  Wünschen 
abzuändern.  Kinder  finden  oft  an  dem  Erfinden  neuer  Spielformen  und 
Regeln  mehr  Vergnügen  als  an  dem  Sichmessen  mit  dem  Gegner  nach  den 
Gesetzen  der  alten  Regeln. 

Nur  durch  regelmäßiges  Mitspielen  der  Erwachsenen  kann  das  Spiel  mit 
mit  diesen  Spielmitteln  allmählich  den  Charakter  einer  anregenden  Unter- 
haltung gewinnen.  Unterweisung  in  möglichst  raffinierter  Ausbeutung  der 
Spielregeln  überschreitet  offenbar  die  Grenzen  der  erzieherischen  Bewertung. 
Wer  aber  solche  Spiele  kauft  in  der  Erwartung,  die  Kinder  würden  sich 
nun  ganz  für  sich  recht  angenehm  unterhalten,  verfährt  so  wie  einer,  der 
ein  Wörterbuch  kauft  und  erwartet,  daß  das  Kind  nun  die  Anfangsgründe 
der  fremden  Sprache  aus  Liebe  zum  neuen  Buche  selbst  lernen  werde. 

Spielmittel,  die  nur  für  Kinder  erdacht  und  geschaffen  sind  und  die 
ohne  Erläuterung  vom  Kinde  verstanden  und  benützt  werden,  bezeichnet  die 
Industrie  als  Spielzeuge. 

So  vielgestaltig  die  Welt  der  Spielzeuge  ist,  sie  kennt  nur  drei  Grund- 
formen, nämlich  Puppen,  Baukästen,  Mechanismen.  Diese  Grundformen 
weist  auch  das  Spielzeug  alter  Zeit  und  das  primitiver  Völker  auf.  Alle  alt- 
eingesessenen Spielzeuge  haben  sich  eine  Menge  von  Mischformen  geschaffen. 
Puppenstuben  und  eine  Menge  alles  Puppenkrames  sind  die  Baukästen  des 
Puppenspiels.  Das  Soldatenspiel  ist  nicht  mehr  denkbar  ohne  die  Bau- 
klötzchen, die  das  Gelände  darzustellen  erlauben  und  ohne  die  Mechanismen 
(Kanonen,  Wagenpark  usw.). 

Daß  die  Spielzeugindustrie  trotz  ihrer  Bemühungen    keine  wesentliche 


über  Spielzeuge  ala  Erziehungsmittel  377 


Erweiterung  der  Spielforraen  gefunden  hat,  ist  ein  bündiger  Beweis  dafür, 
daß  diese  Grundformen  in  der  Eigenart  des  kindlichen  Geisteslebens  und  in 
der  Entwicklung  desselben  eine  Erklärung  finden,  Sie  sind  als  Anpassungs- 
formen an  das  kindliche  Ausdrucksleben,  die  kindliche  Ausdrucksfähigkeit 
aufzufassen.  *^ 

Im  Laufe  der  Jahrhunderte  haben  sich  die  Formen,  mit  denen  Kinder 
am  liebsten  spielten,  nicht  nur  erhalten,  sondern  auch  dem  Zeitgeschmacke 
entsprechend  gewandelt.  Aber  ihr  Einfluß  auf  das  kindliche  Geistesleben 
ist  derselbe  geblieben.  Untersuchungen  darüber,  ob  der  Spieltrieb  unserer 
Kinder  ein  anderer  ist  als  der  Kinder  früherer  Jahrhunderle,  sind  offenbar 
verfehlt,  weil  die  Themenstellung  unzulänglich  ist. 

Spielzeuge  wenden  sich  vornehmlich  an  das  Vorslellungsleben.  Es 
wäre  also  zu  fragen,  ob  vom  Spielzeug  eine  eigenartige  Beeinflussung  des 
Vorstellungslebens  ausgeht  und  ob  das  kindliche  Spiel  auch  in  bezug  auf 
den  Zustand  des  Vorstellungslebens  beim  Spiel  besondere  Kennzeichen  besitzt. 

Man  hat  die  Struktur  des  kindlichen  Geisteslebens  beim  Spiel  als  Spiel- 
illusion bezeichnet.  Spielzeuge  sind  alle  jene  Dinge,  die  eine  Spielillusion 
hen'orrufen  oder  verstärken.  Mit  den  Spielmitteln  baut  das  Kind  seine 
Scheinwelt  auf,  in  der  Beschäftigung  mit  denselben  schließt  es  sich  gegen 
die  Außenwelt  ab  und  arbeitet  mit  einem  durch  die  Spielmittel  charakteri- 
sierten Vorstellungsschatze.  Die  Tätigkeit,  die  das  Kind  im  Spiel  entfaltet, 
ist  ein  Nacherleben. 

So  sehr  der  Vorstellungsinhalt  bestimmend  sein  mag  für  die  Wahl  und 
Ausgestaltung  des  Spieles,  es  darf  doch  nicht  übersehen  werden,  daß  in 
dem  Nacherleben  nicht  nur  der  Ablauf  der  Vorstellungsreihen  und  nicht 
nur  der  mit  ihnen  verschmolzenen  Bewegungen  und  Tätigkeiten  gegeben  ist, 
sondern  daß  die  innige  Verbindung  beider  psychischer  Äußerungen  Voraus- 
setzung für  den  Zustand  der  Spielillusion  ist. 

Das  Kind  erlebt  im  Puppenspiel  alles  das  wieder,  was  als  vorwiegend 
körperliches  Erleben  sein  Vorstellungsleben  stark  beeinflußt,  ja  beherrscht. 
Es  objektiviert  mit  seinen  Puppen  all  den  Zwang  der  frühesten  körperlichen 
und  geistigen  Erziehung.  Die  Puppe  muß  genau  so  artig  sein,  muß  ihr 
Süppchen  essen,  sich  waschen  und  kämmen  lassen,  ruhig  sitzen  usw.,  wie 
das  Kind  es  soll.  An  und  mit  den  Puppen  werden  aber  auch  die  Höhe- 
punkte des  kindlichen  Erlebens  nachgekostet.  Die  Puppe  soll  das  ganz  feine 
Kleid  anziehen,  soll  in  der  Puppenküche  die  leckersten  Bissen  zubereitet 
bekommen,  soll  eine  Puppenstube  ihr  eigen  nennen,  die  alle  Freude  des 
Besitzes  an  gutem  Hausrate  nacherleben  läßt.  Und  wenn  das  Nacherleben 
den  Kreis  der  häuslichen  Verhältnisse  überschreitet,  wenn  Formen  des  Ver- 
kehrs nachgebildet  werden  —  Eisenbahn,  Elektrische,  Auto  — ,  wenn  die 
Mitspielenden  selbst  die  Rolle  von  Puppen  übernehmen,  immer  sind  Puppen 
die  unentbehrliche  Voraussetzung,  ohne  die  das  Spiel  nicht  in  Gang  kommt. 

Mit  zunehmendem  Alter  werden  die  äußeren  Bedingungen  des  Nach- 
erlebens zahlreicher.  Die  Nachahmung  muß  vollkommener  gelingen,  wenn 
die  Spielillusion  erreicht  werden  soll.  Je  weniger  sich  die  äußeren  Be- 
dingungen meistern  lassen,  desto  sorgfältiger  werden  die  Nachahmungen 
verbessert,  die  offenbar  für  das  Nacherleben,  für  das  Zustandekommen  der 
Spielillusion  besonders  wichtig  sind :  Bewegung  und  Sprache.  Mimische  und 
sprachliche  Nachbildungen  gelingen  im  Spiel   den  Kindern  viel   besser,   als 


378  O.  Frey 

wenn  sie  nach  Aufforderung  sich  die  größte  Mühe  geben,  die  im  Zustande 
der  Spielillusion  vortrefflich  gelungene  Nachbildung  zu  wiederholen.  In 
dieser  Anregung,  mimisch  und  sprachhch  zu  gestalten,  ist  jedenfalls  die 
wichtigste  und  für  alle  Stufen  des  spielfähigen  Alters  bleibende  Wirkung 
gegeben,  die  von  Puppen  ausgehen  kann.  Aus  derrT* Streben,  das  Nach- 
erleben der  Stufe  der  erreichten  Beobachtungsfähigkeit  anzupassen,  entsteht 
ein  Schaffen,  das  man  als  „Dramatisieren"  bezeichnen  kann.  Es  ist  nicht 
ein  Dichten  von  Handlungen,  sondern  trägt  den  Charakter  des  Nacherlebens. 
In  der  Spielillusion  ist  aber  ein  Zustand  der  Konzentration,  des  Sichversenkens 
in  eine  Situation  gegeben,  der  zum  sprachlichen  und  mimischen  Schaffen 
befähigt.  Vom  Spiel  mit  Puppen,  wie  man  es  bei  älteren  Mädchen  beob- 
achten kann,  bis  zum  Puppentheater  ist  nur  ein  Schritt,  allerdings  verbunden 
mit  einer  Einstellung  auf  eine  völlig  andre  Technik,  die  Anweisung  und 
v>^ohl  auch  besondere  Veranlagung  verlangt^). 

Die  Eigenart  der  Spielillusion,  w^ie  sie  das  Puppenspiel  braucht  und 
weckt,  erfährt  eine  interessante  Beleuchtung  durch  die  Tatsache,  daß  Tier- 
puppen sowohl  als  Puppen  an  sich  behandelt  werden  können  —  anderen 
Puppen  durchaus  gleichwertig  —  als  auch  zu  einem  ganz  anderen  Spiele 
anregen  können.  Tierformen,  wie  sie  die  alten  Häuser-  und  Tierschachteln 
anbieten,  wie  sie  neuerdings  für  zoologische  Gärten  und  Tierparke  angeboten 
werden,  veranlassen  ganz  andere  Spielformen. 

Das  Spiel  mit  Soldatenpuppen  besitzt  wieder  seine  Eigenheiten.  Zu- 
nächst sind  Soldaten  immer  als  Massen  angeboten  worden.  Der  Einzel- 
soldat könnte  höchstens  Denkmalfigur  werden.  Das  Aufbauen  der  Soldaten 
war  und  ist  immer  ein  wesentlicher  Bestandteil  dieser  Spielform.  Die  Illusion 
steigert  sich  aber  bis  zur  Lebhaftigkeit  des  Erlebens.  Unentbehrlich  scheinen 
dabei  die  Mechanismen  des  Soldatenspiels,  Kanonen  und  Wagenpark  usw. 
Im  Spiel  mit  Zinnsoldaten  wird  immer  mehr  oder  weniger  bewußt  das 
Soldatenspiel  im  Freien,  das  Wett-  und  Kampfspiel  mit  den  Spielgenossen  nach- 
erlebt. Spielsoldaten  und  Soldatenspiel  sind  die  beiden  Voraussetzungen  für 
die  Spielillusion. 

Das  Heer  der  Baukästen  ist  mindestens  ebenso  groß  und  vielgestaltig 
wie  das  der  Puppen.  Von  vornherein  scheint  es  fraglich,  ob  beim  Bauen 
mit  den  Baukästen  das,  was  oben  Spielillusion  genannt  wurde,  überhaupt 
entstehen  kann.  Das  Bauen  kann  nicht  als  Nachahmung  der  menschlichen 
Arbeit  bezeichnet  werden.  Das  Kind  vermag  die  Arbeitsvorgänge  kaum  mimisch 
nachzubilden,  hat  für  die  Zweckmäßigkeit  in  der  Aufeinanderfolge  der  Be- 
wegungen kein  Verständnis.  Und  doch  kann  wohl  von  einem  Nacherleben 
gesprochen  werden. 

Das  Kind  erschöpft  in  seinem  Nacherleben  den  Gefühlsinhalt  der  Arbeit 
nach  der  Seite  des  Schaffens,  des  Bildens  neuer  Werte.  Die  KausaUtät  der 
Materialbewältigung  bleibt  ihm  verschlossen,  aber  das  Erlebnis  des  Entstehens 
neuer  Werte  wird  nachgebildet. 

Baukästen  scheinen  doch  in  erster  Linie  Arbeitskästen  zu  sein.  Die 
Technik  ist  auf  die  einfachsten  Formen,  die  des  Legens  und  Stellens,  ge- 
bracht, die  Materialfragen  sind  ausgeschaltet.  Sowohl  die  Sorge  um  die 
Beschaffung  des  Materials  als  das  mit  der  Bearbeitung  verbundene  Kennen- 


•)  s.  Stern,  Psychologie  der  frühen  Kindheit,  S.  233  ff. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  379 


lernen  eines  bestimmten  Materials  fällt  weg.    Darin  liegt  offenbar  ein  wesent- 
liches Merkmal  aller  Baukästen. 

Ist  nun  das  Bauen  weiter  nichts  als  das  Nachahmen  des  im  Bilde 
gegebenen  Bauwerkes  —  der  Vorlage  — .im  Räume,  ein  Üben  jener  durch 
das  Bild  angeregten  Raum  Vorstellungen?  Wäre  das  der  Fall,  so  wären  die 
geometrischen  Baukästen  die  besten,  ließe  sich  nur  durch  Bauklötzchen  der 
Zweck  des  Spieles  erreichen,  die  einen  planmäßigen  Aufbau  der  Raumformen 
enthalten. 

Viel  wichtiger  als  jene  Auffassung  des  ruhenden  Raumes  ist  aber  das 
Bauen,  die  Tätigkeit,  das  Ausfüllen  der  Raumform,  und  für  diese  Tätigkeit 
ist  der  Baukasten  nicht  nur  deshalb  ein  geeignetes  Mittel,  weil  er  die  ein- 
fachsten Techniken  voraussetzt,  sondern  vor  allen  Dingen,  weil  er  die  Er- 
fatirungen  mit  Werkzeugen  an  bestimmtem  Material  ausschaltet. 

Gewöhnlich  werden  die  Schwierigkeiten,  die  das  Kind  findet,  wenn  es 
gegebenes  Material  mit  gegebenem  Werkzeuge  nach  bestimmten  Vorbildern 
bearbeiten  soll,  unterschätzt.  Es  wird  nur  auf  jenen  Vorgang  geachtet,  der 
sich  in  einer  allmählichen  Beherrschung  des  Werkzeuges,  also  in  einer 
immer  bestimmteren  Herausarbeitung  der  beabsichtigten  Form  ausspricht. 
Die  Bearbeitung  auch  eines  leicht  zu  bewältigenden  Materials  ist  aber  für 
das  Kind  nicht  nur  die  willkürliche  Darstellung  einer  bestimmten  Form, 
sondern  gleichzeitig  ein  Zustand  intensivster  Aufmerksamkeit,  gerichtet  auf 
die  beiin  Bearbeiten  sich  äußernden  Eigenschaften  des  Materials.  Das  Be- 
arbeiten ist  ein  Kampf  mit  dem  Material,  und  das  Kind  beobachtet  instinktiv 
alle  Äußerungen  des  zu  bewältigenden  Gegners.  Vom  Material  geht  eine 
suggestive  Wirkung  aus,  die  das  Kind  mehr  als  den  Eirwachsenen  zwingt, 
auf  das  fortwährende  Geschehen  zu  achten. 

Das  liegt  begründet  in  der  Fähigkeit  der  kindlichen  Psyche  zur  moto- 
rischen Aufmerksamkeit,  die  als  eines  ihrer  wesentlichen  Merkmale  doch 
meist  in  den  fortwährend  auftretenden  Auswirkungen  übersehen  wird.  Auf 
die  Abhängigkeit  der  Sprachbildung  von  der  Ausbildung  der  motorischen 
Organe  wird  immer  hingewiesen.  Das  Kind  findet  sich  aber  bei  allen  Nach- 
ahmungen, bei  all  seinem  Nacherleben  im  Spiel  in  ähnlichen  Verhältnissen 
zum  Erstrebten  wie  bei  seinen  Sprechversuchen. 

Jeder,  der  Kindern  das  Bauen  mit  einem  Baukasten,  das  Formen  mit 
plastischem  Material,  die  Handhabung  einfacher  Werkzeuge  gezeigt  hat,  wird 
das  „Spannen"  der  Kinder,  diese  Aufmerksamkeit,  die  zu  höchst  unzweck- 
mäßigem Anspannen  der  Muskeln  des  Körpers  führt,  beobachtet  haben.  Das 
Kind  sieht  nicht  nur,  wie  etwas  gemacht  wird,  es  empfindet  das  mit  seinem 
ganzen  Körper.  Und  diese  Spannung  der  motorischen  Aufmerksamkeit  ist 
die  Wurzel  der  Spielillusion  für  alles  Spiel  mit  Baukästen. 

Bei  den  ersten  Schreibversuchen  krampfen  die  Kinder  nicht  nur  die 
Hände  sehr  unzweckmäßig  zusammen,  sie  krümmen  auch  Bein-  und  Rücken- 
muskeln, arbeiten  mit  dem  ganzen  Körper  und  können  in  Schweiß  geraten 
durch  die  Aufgabe,  mit  der  leichten  Feder  einen  bestimmten  schwachen 
Linienzug  nachzumachen.  Auch  an  dem  kleinen  Baumeister,  der  seine 
Klötzchen  recht  genau  aufeinandersetzen  will,  kann  man  beobachten,  daß 
er  die  Beine  anzieht,  den  Rücken  krümmt,  den  Atem  verhält,  um  die  Ab- 
sicht zu  erreichen.  Jeder  neue  Angriff  erzeugt  die  neuen  Spannungsgefühle, 
und   jede  Erfüllung  einer  kleinen  Teilaufgabe  bringt   die   Lösung  der  Span- 


380  O.  Frey 

nungen.  Mit  zunehmender  Geläufigkeit  der  Bewegungen  erstreckt  sich  der 
Wechsel  der  Spannung  und  Lösung  auf  ganze  Gruppen  von  Bewegungen, 
und  man  geht  wohl  nicht  fehl,  wenn  man  in  diesem  durch  Übung  erzeugten 
Wechsel  des  Rhythmus  der  Gefühlswellen  die  Grundlagen  des  ersten  ästhe- 
tischen Urteils  sieht.  Daß  eine  Beziehung  von  Muskelerap findungen  und 
bestimmten  Vorstellungen  bestehen  und  unter  Umständen  durch  keine 
Willensanstrengung  beseitigt  werden  kann,  hat  neuerdings  Graßberger,  Wien 
durch  seine  Untersuchungen  über  die  Wünschelrute  bestätigt.  Nach  Aus- 
schaltung der  Bewegungen  seiner  SchuHer-Ellbogen-Handgelenke  gelangen 
Graßberger  schließlich  Drehungen  der  Rute  mit  nicht  sichtbaren  kleinsten 
Bewegungen  der  Hände  und  der  Nachweis,  daß  dabei  ganz  unscheinbare 
Fingerbewegungen  entscheidend  mitwirken.  Triebhafte,  ursprüngliche  unbe- 
wußte Greifbewegungen  riefen  die  Ausschläge  hervor.  Außerdem  gelang 
der  Nachweis,  daß  in  den  Fällen,  in  denen  die  Ausschläge  der  Rule  ohne 
ersichtlichen  Grund  erfolgt  waren,  Vorstellungen,  die  im  Unterbewußtsein 
geblieben  waren,  solche  Kausalbeziehungen  zum  Sinne  der  Rutenausschläge 
hatten,  daß  man  annehmen  muß,  diese  Vorstellungen  haben  jene  Ruten- 
bewegungen zu  Willenshandlungen  gemacht.  Das  kindliche  Vorstellungs- 
lebeji  ist  gekennzeichnet  durch  einen  Mangel  an  logischem  Zusammenhange. 
Das  Kind  ist  aber  den  Erwachsenen  überlegen  in  der  motorischen  Empfind- 
lichkeit. Dann  liegt  der  Schluß  nahe,  daß  im  Spiel  mit  Baukästen  alle  jene 
Vorstellungsverbindungen  sich  ausleben  wollen,  die  nur  motorisch  erfaßt 
Bind  und  die  einer  sprachlichen  Gestaltung  zunächst  gar  nicht  zugänglich 
Bind.  Das  Bauen  ist  nicht  nur  ein  Nachahmen  von  Bewegungen,  sondern 
ein  Nachahmen,  ein  Nacherleben  einer  Kausalität,  die  als  intuitive  Kausalität 
bezeichnet  werden  kann.  Die  unendlich  vielgestaltigen  Verbindungen  der 
Empfindungen  und  Vorstellungen,  die  hauptsächlich  nach  ihrem  motorischen 
Gehalte  aufgenommen  sind,  finden  eine  ihrer  Kausalität  entsprechende  Aus- 
drucksform im  Bauen. 

Baukästen  sind  im  allgemeinen  als  erziehende  Spielzeuge  anerkannt 
worden.  Die  große  Literatur  über  Bauen  und  Baukästen,  die  im  Anschluß 
an  die  Arbeit  im  Fröbelschen  Kindergarten  mit  den  Fröbelschen  Spielgaben 
entstanden  ist,  kann  aber  nur  zum  Teile  als  einschlägig  gelten.  Die  Grund- 
anschauung, daß  man  durch  eine  geometrische  Synthese  des  Raumes  auch 
den  kürzesten  Weg  für  die  Ausbildung  des  Raumsinnes  angeben  könne,  daß 
die  Sicherheit  der  pädagogischen  Wirkung  des  Spieles  mit  Baukästen  von 
einer  normalen  Gestaltung  und  Auswahl  der  Bauklötzchen  abhinge,  wird 
der  oben  gegebenen  Auffassung  von  der  Bedeutung  des  Spielmittels  beim 
Bauen  nicht  gerecht. 

Ebenso  liegt  in  jenen  Bestrebungen,  die  das  Bauen  mit  der  Bildung 
des  Geschmackes,  mit  einer  ästhetischen  Erziehung  unmittelbar  zu  verbinden 
trachten,  mindestens  eine  Unterschätzung  der  motorischen  Elemente  beim 
Zustandekommen  einfachster  ästhetischer  Urteile. 

Sowohl  die  pädagogisch  gerichtete  als  besonders  die  ästhetisch  ge- 
richtete Kritik  sind  einig  gewesen  in  der  Ablehnung  des  mechanischen  Spiel- 
zeuges. Man  hat  in  allen  Stanzartikeln  billigen  Schund  gesehen,  hat  die 
Mechanisierung  eine  Erziehung  zur  Gedankenlosigkeit  genannt.  In  dieser 
Ablehnung  kommt  aber  nicht  mehr  zum  Ausdruck  als  die  Tatsache,  daß  die 
verbreitetsten  Auffassungen  über  die  Spielillusion  und  die  unmittelbare  Wirkung 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  381 


des  Spielzeuges  auf  das  kindliche  Geistesleben  überhaupt  keine  Deutung 
eines  Einflusses  von  Mechanismen  auf  die  Förderung  des  Vorstellungslebens 
zulassen. 

Die  Kritik,  die  Jenen  Standpunkt  konsequent  vertritt,  wird  durch  die 
Entwicklung  der  Spielzeugindustrie  in  die  sehr  undankbare  Rolle  des  Propheten 
gedrängt,  der  nur  noch  Klagelieder  über  die  Verflachung  anstimmen  kann, 
aber  keinen  Anschluß  findet  und  schließlich  auf  die  Deutung  des  Fortschrittes 
verzichtet.    . 

Durch  Vergleich  mit  den  Spielformen  und  der  Wirkung  anderer  Spiel- 
mittel ist  die  Spielillusion  der  Mechanismen  nicht  zu  fassen.  Man  muß  ihr 
schon  eine  selbständige  Existenz  zuerkennen.  Und  nicht  nur  durch  die 
Tatsache,  daß  die  Spielzeugindustrie  durch  die  Entwicklung  der  Technik  in 
eine  Art  Notlage  versetzt  sei,  die  zur  Herstellung  mechanischen  Spielzeuges 
zwinge,  ist  die  stetige  Zunahme  des  Angebotes  zu  erklären.  Man  muß  an- 
erkennen, daß  in  dem  einzigen  Prinzip,  das  die  Spielzeugindustrie  für  die 
weitaus  meisten  Neuheiten  kennt,  die  Verkleinerung,  das  Handlichmachen 
und  die  Verbilligung  von  Nachahmungsformen  dessen,  was  das  Kind  sieht, 
womit  es  in  Berührung  kommt,  auch  wenn  man  es  als  pädagogisch  blind 
bezeichnet,  die  einzige  Möglichkeit  liegt,  eine  Anpassung  der  Spielmittel  an 
immer  neu  entstehende  Bedürfnisse  zu  versuchen.  Dem  Techniker,  der  seine 
Maschinen  für  Massenherstellung  eines  solchen  Gegenstandes  einstellt,  muß 
die  Freiheit  des  Künstlers  zugesprochen  werden,  der,  wenn  er  für  Kinder 
kindertümliche  Entwürfe  macht,  trotz  aller  Entwicklung  der  Kinderpsychologie 
doch  in  erster  Linie  auf  seinen  pädagogischen  Takt,  auf  sein  Mitfühlen  mit 
dem  Kindergemüt  angewiesen  ist. 

Es  ist  nicht  leicht,  den  Begriff  des  mechanischen  Spielzeuges  in  feste 
Grenzen  einzuschließen.  Ist  nicht  die  Gelenkpuppe,  sind  die  alten  Häuser- 
schachteln mit  beweglichen  Windmühlflügeln  und  Wasserrädern,  sind  nicht 
alle  Puppenwagen  und  -schaukeln,  die  Nachbildungen  von  Zeppelinen  und 
Flugzeugen  ohne  Uhrwerk  mechanisches  Spielzeug? 

Gewiß,  die  Puppe  mit  den  Schlafaugen  kann  wohl  einmal  das  Spiel- 
mittel sein,  an  dem  das  Wunder  eines  geheimnisvollen  Mechanismus  erlebt 
wird.  Der  in  der  Luft  pendelnde  Zeppelin,  an  dem  sich  im  Luftzuge  die 
beweglichen  Flügel  drehen,  kann  den  Mechanismus  vortäuschen.  Der  Unter- 
schied zwischen  diesen  Spielmilteln  und  der  so  sehr  beliebten  Eisenbahn 
mit  Uhrwerk  ist  aber  offensichtlich.  Es  muß  aber  ja  nicht  der  geheimnis- 
voll eingebaute  Federmotor  im  mechanischen  Spielzeuge  enthalten  sein.  Auch 
der  Kreisel  ist  ein  mechanisches  Spielzeug.  Man  möchte  sagen,  ein  echtes 
mechanisches  Spielzeug. 

Berechtigte  Angriffsflächen  für  eine  Kritik  scheint  das  Streben  der  In- 
dustrie zu  geben,  alle  Nachbildungen  mit  Federmotor  herzustellen.  Die 
Eisenbahn,  die  mit  Uhrwerk  oder  Elektromotor  getrieben  wird  und  doch  die 
Nachbildung  des  Gestänges  an  den  Rädern,  die  „Scheinzylinder"  an  der 
Seite  besitzt,  die  für  den  Dampfantrieb  nötig  sind  und  diesen  vortäuschen, 
ist  ja  wohl  der  Gipfel  des  Huuibugs,  der  auf  diesem  Gebiete  üblich  ist.  Eine 
ausgesuchte  Art  der  Vorspiegelung  falscher  Tatsachen!  —  Eine  bewußte  Er- 
ziehung zur  Unwahrhaftigkeit ! 

Schhmmer  als  alle  die  neueren  mechanischen  Spielzeuge  ist  aber  in 
dieser  Beziehung  die  uralte  Sandmühle.    Ein  Wasserrad,  das  mit  Sand  ge- 


382  O.  Frey 

trieben  wird,  bewegt  vier  Flügel,  und  das  Ganze  täuscht  eine  durch  den  im 
Zimmer  nicht  vorhandenen  Wind  bewegte  Windmühle  vor.   Ja,  ist  aber  nieh 
die   Sandmühle   ein    köstliches  Spielzeug?     Ihre    Rechtfertigung    durch    den 
Physiker  wollen  wir  jetzt   übergehen.     Sie  hat  als   eines   der  ältesten  und 
verbreitetsten  mechanischen  Spielmittel  ihre  Existenz  genügend  gerechtfertigt. 

Entscheidungen  aller  dieser  Streitfragen  sind  nicht  nur  vom  grünen 
Tisch  des  schriftstellernden  Pädagogen  aus  möglich.  Wenigstens  muß  er 
sich  herbeilassen,  die  Kinder  beim  Spiel  zu  beobachten  und  muß  es  über 
sich  gewinnen,  den  pädagogischen  Unsinn  geschehen  zu  lassen,  ohne  hinein- 
zureden. 

Er  muß  außerdem  noch  verschiedene  Kinder  mit  demselben  Spielmittel 
spielen  sehen,  Kinder  verschiedenen  Alters  und  verschiedener  Veranlagungen. 

Man  kommt  leicht  zu  der  Meinung,  daß  eine  Neigung  zum  Stiunpfsinn 
befördert  wird,  wenn  man  sieht,  wie  die  Kleinen  mit  einer  Uhrwerkeisen- 
bahn spielen.  Sie  kennen  nichts  Schöneres,  als  den  Mechanismus  immer 
wieder  aufzuziehen  und  in  Gang  zu  setzen,  können  nicht  genug  bekommen 
von  dem  Erleben  des  Wunders,  daß  die  Eisenbahn  lebendig  wird,  sobald 
man  sie  „aufgezogen"  hat.  Unter  „Aufziehen"  wird  sich  der  Kleine  zu- 
nächst sehr  wenig  vorstellen.  Und  wenn  er  schließlich  erkannt  hat,  daß  er 
mit  dem  Schlüssel  eine  Feder  spannt,  wird  er  immer  noch  nicht  erklären 
können,  wie  es  kommt,  daß  die  Räder  wie  rasend  laufen,  wenn  sie  sich  in 
der  Luft  drehen,  wird  aber  ganz  von  selbst  die  Räder  beim  Aufziehen  fest- 
halten und  erst  loslassen,  wenn  er  die  Maschine  auf  die  Schienen  gesetzt 
hat.  Das  Spielzeug  gibt  durch  seinen  Mechanismus  Anregungen  zu  Beob- 
achtungen. Es  will  richtig  bedient  sein  und  gibt  dafür  das  Gefühl  der 
Herrschaft  über  den  Mechanismus'). 

Damit  ist  aber  die  Wirkung  des  Mechanismus  nicht  erschöpft.  Von  den 
Arbeiten  an  dem  Maschinchen  geht  der  Knabe  über  zu  Arbeiten  mit  demselben. 
Eine  Steigerung  erfährt  jenes  Herrschergefühl  offenbar,  wenn  es  dem  kleinen 
Ingenieur  gelingt,  seinem  Maschinchen  angemessene  Aufgaben  zu  stellen, 
die  es  nach  seinen  Einstellungen  erfüllen  muß.  Die  Eisenbahn  muß  z.  B. 
Bauklötze  herbeischaffen,  muß  richtig  rangieren,  d.  h.  die  auf  verschiedenen, 
durch  Weichen  verbundenen  Gleisen  stehenden  Wagen  abholen. 

Dasselbe  Spiel  läßt  sich  auch  mit  Streichholzschachteln  durchführen,  die 
an  Fäden  über  den  Tisch  oder  die  Diele  gezogen  werden.  Es  dürfte  aber 
kaum  ein  Kind  geben,  das  die  Verwendung  des  Mechanismus  nicht  als  Er- 
höhung der  Spielillusion  empfindet. 

All  die  Spiele  mit  der  Eisenbahn  sind  in  erster  Linie  ein  Bauen  mit 
den  Elementen,  die  von  der  Industrie  ausgearbeitet  worden  sind.  Bei  dem 
Aufbau  steht  aber  im  Hintergrunde  die  Erwartung  auf  den  Augenblick  der 
Erfüllung,  wenn  das  Maschinchen  selbständig  seine  Arbeit  tut.  Darin  liegt 
eine  eigenartige  Lösung  der  Spannungsgefühle,  die  durch  den  Aufbau  erzeugt 
werden.  Die  oft  nicht  unbedeutende  Reihe  von  Handgriffen  und  Über- 
legungen, die  nötig  sind,  ehe  die  Spannung  sich  löst,  gibt  dem  Gefühls- 
verlauf einen  anderen  Rhythmus.  Was  aber  die  Hauptsache  ist,  die  Lösung 
der  Spannung  ist   nicht  direkt  von   dem  Willen    des  Spielenden    abhängig, 


')  Stern  a.  a.  0.  S.  294  ff. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  333 


sondern  eben  vom  Mechanismus.  Nur  wenn  dieser  richtig  „geht",  ist  ein 
normaler  Verlauf  des  Spieles  möglich. 

Die  wichtigste  Art  des  Spieles  mit  Mechanismen  ist  aber  noch  nicht 
gegeben,  wenn  das  Kind  den  Mechanismus  in  seine  Puppen-  und  Bauspiele 
eingliedert.  Erst,  wenn  so  viel  Klötzchen  aufgeladen  werden,  als  die  Eisen- 
bahn noch  eben  schleppen  kann,  wenn  die  Schienenbahn  so  schräg  gelegt 
wird,  daß  sie  eben  noch  fährt,  oline  zu  „trommeln",  ist  die  Aufmerksamkeit 
unmittelbar  auf  die  Entscheidung  gerichtet :  wenn  ich  das  und  das  tue,  bleibt 
die  Eisenbahn  gewiß  stehen.  Es  wird  also  probiert,  welche  Veränderungen 
der  Bedingungen  möglich  sind,  unter  denen  ein  Ereignis  eintritt.  In  diesem 
Sinne  behalten  die  Mechanismen  ihren  Wert  als  Spielzeug  weit  über  die 
Zeit  hinaus,  die  man  gewöhnlich  als  das  spielfähige  Alter  bezeichnet.  Durch 
Umfrage  kann  jeder  Lehrer  an  höheren  Schulen  einmal  feststellen,  bis  zu 
welchem  Alter  die  Schüler  mit  ihrer  Eisenbahn  spielen,  wenn  sie  den 
Wunsch  haben,  daß  der  ührwerksbetrieb  in  elektrischen  umgewandelt  werden 
möchte,  wenn  sie  selbst  versuchen,  solche  Verbesserungen  des  Betriebes 
durchzuführen.  Er  wird  nicht  nur  erstaunt  sein  darüber,  bis  zu  welch  reifem 
Alter  dieses  Probieren  seine  Macht  über  die  Jugend  behält,  sondern  auch, 
welch  selbstsicheres  Urteil  in  solchen  Fragen  Schüler  entwickeln,  die  bei 
ähnlichen  Gelegenheiten  im  physikalischen  oder  überhaupt  naturwissen- 
schaftlichen Unterrichte  solche  Urteilskraft  vermissen  lassen. 

Das  Probieren  zeigt  offenbar  alle  Eigenschaften  eines  selbständigen 
Experimentierens.  Die  Frage  nach  dem  Warum  ?  ist  nicht  an  den  Vater  oder 
den  Lehrer  gerichtet,  sondern  in  jene  Abänderungsversuche  eingekleidet,  und 
der  Mechanismus  gibt  die  Antwort  darauf. 

In  den  physikalischen  Schülerübungen  können  inhaltlich  ganz  dieselben 
Aufgaben  auftreten,  wie  sie  der  Knabe  in  der  oben  angedeuteten  Weise  mit 
seiner  Eisenbahn  sich  stellt.  Der  Lehrer  kann  an  Spiralfedern  und  Gummi- 
fäden untersuchen  lassen,  bis  zu  welcher  Grenze  belastet  werden  darf,  ehe 
die  dauernde  Deformation  eintritt.  Wenn  er  aber  die  Experimentiermittel 
ohne  jede  Erläuterung  den  Schülern  in  die  Hand  gibt,  würden  selbst  reifere 
Kinder  kaum  andere  Proben  damit  anstellen,  als  die  Federn  und  Fäden  aus- 
dehnen, bis  sie  verdorben  sind.  Auf  keinen  Fall  aber  würde  von  diesen 
Experimentiermitteln  derselbe  Reiz  zum  selbständigen  Experimentieren  aus- 
geübt wie  von  jenem  Spielmittel. 

Durch  diese  Parallele  soll  ja  nicht  empfohlen  werden,  die  Spielzeug- 
eisenbahn in  den  physikalischen  Schülerübungen  zu  benützen.  Wohl  aber 
taucht  die  Frage  auf,  ob  bei  näherem  Betrachten  nicht  schließlich  die 
„Spielerei"  mit  den  mechanischen  Spielmitteln  eine  wertvolle  Unterstützung 
für  den  Unterricht  werden  könnte.  Über  diese  Frage  der  experimentellen 
Hausaufgabe  wird  an  anderer  Stelle  noch  zu  sprechen  sein. 

Zunächst  noch  ein  Wort  über  das  Erleben  am  Mechanismus. 

Kein  Deutscher  wird  den  stolzen  Augenblick  vergessen,  da  er  zum  ersten- 
male  die  schlanke  Form  eines  Zeppelin  am  Horizonte  erscheinen  sah,  als 
er  erlebte,  wie  ein  schweres  Flugzeug  nach  kurzem  Anlauf  sicn  von  der 
Erde  löste  und  flog.  An  diesen  Ereignissen  gemessen,  verstehen  wir  erst 
den  Eindruck,  den  die  erste  Lokomotive,  ja  alle  epochemachenden  Erfindungen, 
durch  die  unser  technisches  Zeitalter  vorbereitet  wurde,  auf  die  Menschen 
jener  Zeit  machten. 


384  O.  Frey 

Von  den  allermeisten  Menschen  werden  und  wurden  diese  Erfindungen 
überhaupt  nur  in  diesem  Sinne  des  „Wunders  der  Technik"  erlebt.  Und  sie 
nehmen  zu  diesem  Erleben  wieder  Stellung,  wienn  ihnen  durch  irgendwelche 
Erfahrungen  die  wirtschaftlichen  Folgerungen  dieser  Erfindungen  evident 
werden.  Dann  setzt  die  „rechnende"  Kausalität  ein  und  verdrängt  jenes  Erlebnis. 

Das  Kind  erlebt  in  seinem  mechanischen  Spielzeuge  alle  jene  Wunder 
der  Technik  und  trotz  der  Kleinheit  der  Effekte  vielleicht  intensiver  als  der 
Erwachsene.  An  der  kleinen  Eisenbahn  wird  nicht  nur  das  Fahren  der 
kleinen  Wagen  auf  der  beschränkten  Schienenbahn  erlebt,  sondern  auch 
jene  Freude,  die  beim  Fahren  auf  der  „richtigen"  Eisenbahn  ausgelöst  wurde. 

Diese  Fülle  des  Erlebens  muß  berücksichtigt  werden,  wenn  man  den 
Wert  des  mechanischen  Spielzeugs  beurteilt.  Wie  feinfühlig  ist  dabei  die 
motorische  Aufmerksamkeit,  das  motorische  Empfinden  des  Kindes!  Wie  so 
ganz  anders  ist  das  Erleben,  wenn  das  stolze  Segelschiff  auf  dem  Teiche 
seine  Bahn  zieht,  wenn  der  „Uhrwerkdampfer"  trotz  Wind  und  Wellen  die 
ihm  durch  das  Steuer  vorgeschriebene  Reise  vollendet!  Welch  eine  neue 
Welt  schließt  der  Mechanismus  im  Wasser  auf!  Wenn  aber  die  Spielzeug- 
industrie nach  dem  Kriege  den  Mechanismus  für  die  Bewegung  in  der  Luft 
gemeistert  haben  wird,  wenn  also  das  Luftschiff  und  das  Flugzeug  in  Formen 
auf  dem  Markte  erscheinen  werden,  die  dem  großen  Fortschritte  entsprechen, 
den  wir  im  Baue  dieser  Mechanismen  im  Kriege  gemacht  haben,  dann  wird 
sowohl  die  Zeit  des  spielfähigen  Alters  eine  ganz  andere  Abgrenzung  er- 
fahren, als  auch  die  Anregung  zum  Probieren,  zum  Experimentieren  mit 
den  Dingen,  die  von  der  Spielzeugindustrie  angeboten  werden,  viel  inten- 
siver sein.  Die  notwendige  Folge  ist  nach  zwei  Richtungen  für  die  Schule 
bedeutungsvoll. 

Zunächst  wird  die  Verbreitung  dieser  Spielmittel  sehr  viel  größer  werden. 
Es  wird  keinen  Knaben  geben,  der  seine  Jugend  ohne  ein  Flugzeugmodell 
und  dem  heißersehnten  Spiel  mit  demselben  „vertrauern"  will.  Die  Schule 
hat  daran  nicht  nur  das  Interesse,  daß  sie  nachrechnet,  wieviel  Stunden  die 
Kinder  dadurch  von  ihrer  eigentlichen  Lebensaufgabe,  z.  B.  dem  Vokabel- 
lemen,  abgehalten  werden.  Sie  wird  versuchen  müssen,  diese  Zeit  des  Spieles 
durch  Anregungen  fruchtbar  zu  gestalten.  Ja  man  wird  von  ihr  erwarten, 
daß  sie  Mittel  und  Wege  findet,  Begabungen,  die  sich  gerade  im  Spiel  mit 
diesem  Spielzeuge  der  Zukunft  zeigen  können,  zu  erkennen  und  entsprechend 
zu  fördern. 

Außerdem  entsteht  aber  überhaupt  die  Frage,  ob  mechanisches  Spielzeug 
ein  notwendiges  Hilfsmittel  ist,  um  das  Ausdrucksleben  unserer  Kinder  in 
Beziehung  zu  bringen  zu  den  Erscheinungen,  die  nicht  nur  unser  Verkehrs- 
leben beherrschen,  sondern  in  ihrer  Gesamtheit  einen  immer  größer  werdenden 
Einfluß  auf  unsere  gesamte  Lebensführung  haben.  Ist  der  große  Unterschied, 
der  zwischen  der  Auffassung,  die  Knaben  im  physikalischen  Unterrichte  für 
solche  Fragen  haben  und  dem  vöUigen  Versagen,  das  bei  gleichaltrigen 
Mädchen  zu  beobachten  ist,  letzten  Endes  auf  den  Mangel  an  solchem  Er- 
leben zurückzuführen,  zu  dem  die  Mädchen  infolge  unseres  Urteils  über 
Mädchenspielzeug  bisher  verurteilt  sind?  Steht  das  im  Einklänge  mit  unserer 
Reform  der  Mädchenerziehung,  die  ja  doch  ohne  entsprechende  Steigerung 
dieser  Urteilskraft  öder  Verbalismus  bleiben  muß  ? ') 

>)  Vgl.  Stern,  8.  228/29, '23 1/32. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  335 


Und  nicht  nur  die  Frage  nach  der  Bereicherung  des  persönlichen  Er- 
lebens durch  solche  Spielmittel,  sondern  vor  allen  Dingen  die  Tatsache,  daß 
durch  das  Spielzeug  dieses  Erleben  in  viel  frühere  Lebensalter  verlegt  wird, 
in  denen  eine  auf  logisches  Verstehen  der  Vorgänge  aufbauende  schul- 
mäßige Behandlung  ausgeschlossen  ist,  gibt  zu  denken.  Es  entsteht  die 
Frage,  ob  das  Probieren  mit  solchem  Spielzeuge  in  einem  Alter,  in  dem 
das  Abstraktionsvermögen  nicht  ausreicht,  um  die  sprachliche  Formulierung 
der  für  die  unterrichtliche  Behandlung  notwendigen  Begriffe  durchzuführen, 
eine  im  besten  Sinne  des  Wortes  als  Erziehung  zum  kausalen  Denken  zu 
bezeichnende  Entwicklung  angebahnt  wird,  die  wir  bei  der  Schularbeit  und 
ihren  modernen  Zielen  stillschweigend  voraussetzen.  Es  ist  so  oft  gesagt 
worden,  daß  vor  allem  die  Kinder  der  Großstadt  dadurch  im  Nachteile  sind, 
daß  sie  nicht,  wie  die  Kinder  im  kleinen  Orte,  die  einfachsten,  leichtver- 
ständlichen Arbeiten  der  Handwerker  fortgesetzt  beobachten  können.  Für 
die  Lehraufgabe  des  Rechenunterrichtes  wie  für  Aufgaben  des  naturwissen- 
schaftlichen Unterrichts  ist  das  bedeutungsvoll. 

Ich  habe  schon  viele  Knaben  kennen  gelernt,  die  über  die  Zusammen- 
hänge, die  im  Ohmschen  Gesetz  ausgesprochen  sind,  richtige  Urteile  an  einem 
kleinen,  ihnen  vertrauten  Mechanismus  durch  die  Tat  geben  konnten  (An- 
passung eines  Widerstandes,  Mittel  zur  Erzielung  einer  größeren  Strom- 
stärke usw.),  ohne  daß  ihnen  bis  dahin  der  einfache  logische  Zusammenhang 
oder  die  für  die  Formulierung  notwendigen  Maßbegriffe  klar  gewesen  wären. 
Andrerseits  kenne  ich  eine  sehr  große  Zahl  von  Menschen,  die  das  Ohmsche 
Gesetz  „gelernt"  haben  und  doch  durch  den  einfachsten  Anwendungsfall  in 
Verlegenheit  kommen.  Ich  kenne  Betriebe,  in  denen  der  nichtstudierte 
Techniker  für  die  Abnahme  großer,  komplizierter  Maschinen  unentbehrlicher 
ist  als  der  leitende  Diplomingenieur,  habe  versucht,  solche  technische  Intelli- 
genzen über  ihre  Auffassung  auszufragen  und  durchaus  den  Eindruck  ge- 
wonnen, daß  sie  nicht  das  Bedürfnis  haben,  ihre  persönliche  Auffassung 
durch  die  wissenschaftliche  Darstellung  zu  vertiefen.  Sie  fühlten  sich 
durchaus  der  Situation  gewachsen  und  bilden  sich  ihre  eigene,  meist  auf 
Analogien  beruhende  Kausalreihe,  wenn  sie  überhaupt  das  Bedürfnis  einer 
logischen  Formulierung  ihres  Könnens  fühlen. 

Mit  solchen  Beispielen  kann  und  soll  natürlich  der  Wert  der  logischen 
Kausalität  nicht  herabgesetzt  werden.  Es  ließen  sich  mindestens  ebensoviele 
Beispiele  aus  der  Geschichte  der  Technik  finden,  die  da  zeigen,  wie  ein 
Fortschritt  nach  langer  Stagnation  in  einer  Entwacklungsreihe  erzwungen 
wurde,  nachdem  die  logische  Formulierung  gelungen  war.  Andrerseits 
sprechen  solche  Beispiele  doch  für  einen  gewissen  Wert  der  intuitiven  Er- 
kenntnis, die  aus  dem  Erleben  gewonnen  wird.  In  bezug  auf  das  Ver- 
ständnis elektrischer  Vorgänge  und  Mechanismen  kann  geradezu  behauptet 
werden,  daß  das  logische  Erfassen  auf  der  Stufe  des  leeren  Begriffsschemas 
bleibt,  wenn  nicht  voll  empfundene  Anschauung,  subjektives  Erleben  des 
Vorganges  hinzukommt.  Und  solches  Erleben  geben  unsere  Demonstrations- 
experimente, wie  sie  heute  sind,  nur  zum  kleinen  Teil. 

Spielzeuge  und  die  Beobachtung  des  Kindes  beim  Spiel  sind  von  jeher 
die  Hilfsmittel  gewesen,  mit  denen  die  Eltern  sich  ein  eigenes  Urteil  über 
die  Veranlagung  ihrer  Kinder  zu  bilden  suchten.  Zwei  an  sich  richtige 
Gedanken  kommen  dabei  mehr  oder  weniger  be^Änißt  zum  Ausdrucke.    Man 

Zeitschrift  f.  pUdagog.  Psycliologi«  •  '23 


386 O-  Frey 

glaubt,  im  Spiel  gibt  sich  das  Kind,  wie  es  ist,  also  unbeeinflußt  durch  seine 
Umgebung,  und  meint,  wenn  überhaupt  Spuren  von  besonderen  Kräften 
und  Neigungen  im  Kinde  schlummern,  so  müßten  sie  sich  im  unbeeinflußten 
Spiele  verraten.  Ohne  Zweifel  wird  in  unserer  Zeit  besonders  das  mecha- 
nische Spielzeug  vielfach  mit  dem  stillen  Wunsche  gekauft,  dieses  Spiel 
möchte  im  Kinde  Neigung  zur  Beschäftigung  mit  Dingen  wecken,  die  dem 
Kinde  im  Lebenskampfe  Vorteile  sichern.  Die  Eltern  formulieren  ihre  Über- 
zeugung gewöhnlich  in  die  Worte :  „wie  anders  wäre  ich  vorwärts  ge- 
kommen, wenn  ich  als  Kind  solches  Spielzeug  gehabt  hätte  und  wenn  die 
Schule  uns  nachher  die  Sache  näher  erklärt  hätte".  Sie  fassen  also  das 
Lernen  durch  „belehrendes  Spielzeug"  als  eine  Vorstufe  der  Lernarbeit  der 
Schule. 

Wären  diese  Schlüsse  in  dem  Umfange  richtig,  wie  sie  gezogen  werden, 
so  müßten  90  Proz.  unserer  Jungens  Ingenieure  werden.  Andrerseits  wäre 
es  unverständhch ,  wie  das  Spielzeug  unserer  Mädchen  immer  „mädchen- 
hafter" wird,  während  den  Eltern  doch  sehr  viel  daran  liegt,  eine  Neigung 
für  irgendeine  Berufsarbeit  in  ihnen  zu  entdecken. 

Und  doch  hegt  in  der  Stellung,  die  gerade  die  nachdenklichen  Eltern 
zum  Spiel  ihrer  Kinder  einnehmen,  die  wichtigste  Wurzel  für  die  Über- 
zeugung, daß  Erziehung  nach  psychologischen  Gesichtspunkten  geregelt 
werden  muß.  Sowohl  die  Bestrebungen  der  Schule,  mit  den  Eltern  Fühlung 
zu  bekommen  und  Aussprachen  über  Erziehungsfragen  auf  eine  gemein- 
verständliche Basis  zu  stellen,  als  auch  alle  Stellen  für  Berufsberatung  könnten 
aus  dieser  Tatsache  Vorteil  ziehen,  wenn  es  gelänge,  eine  Psychologie  des 
Spiels  nicht  nur  in  ihren  Grundzügen  zu  geben,  wenn  wenigstens  einige 
bestimmte  Züge  der  Entwicklung  der  Spielfähigkeit  unserer  Kinder  bis  an 
die  Grenze  des  spielfähigen  Alters  sich  als  typisch  aufstellen  ließen. 

Solche  Versuche  würden  sicher  nicht  durch  noch  so  tiefgründige  Ver- 
gleichung  der  Spielformen  aller  Zeiten  und  Völker  gefördert,  sondern  nur 
durch  planmäßige  Beobachtung  des  Spieles,  wie  es  sich  in  der  weitaus 
größten  Zahl  der  Familien  vollzieht,  wie  es  also  nach  einer  Seite  begrenzt 
und  charakterisiert  wird  durch  das  Angebot  an  Spielmitteln  der  Industrie. 

Soll  aber  für  solche  Versuche  eine  Art  Arbeitsplan  gewonnen  werden, 
so  ist  eine  gewisse  Sicherheit  über  die  Beurteilung  des  psychischen  Zu- 
standes  bei  solchem  Spiel  Voraussetzung.  Wenn  auch  nur  ein  Teil  der 
vorausgegangenen  Ausführungen  über  die  Spielillusion  vor  der  Kritik  be- 
steht, so  würde  dieser  Teil  doch  wahrscheinlich  schon  geeignete  Grundlagen 
für  die  Organisation  der  Spielzimmer  abgeben,  das  Beobachtungsmaterial  für 
die  Aussagen  über  individuelle,  schließlich  auch  typische  Entwicklungsformen 
der  Spielillusion  oder  der  Spielfähigkeit  der  Kinder  beiderlei  Geschlechts  von 
Kindern  im  schulpflichtigen  Alter  würde  sich  sichten  lassen,  die  schwere 
Frage  der  Auswahl  der  Spielmittel  wäre  erleichtert. 

Ein  Versuch,  Gedanken  über  solche  Entwicklungen  zu  geben,  müßte 
sich  eigenthch  mit  den  wichtigen  Problemen  unserer  Kinderpsychologie: 
Begabung  und  Begabungstypen  einerseits,  Entwicklung  des  Normalkindes 
andrerseits  auseinandersetzen.  Aber  auch  ohne  diese  Klarstellung  werden 
wohl  folgende  Ausführungen  sich  aus  dem  Gesagten  ableiten  lassen. 

Die  Unterscheidung  von  Formen  der  Spielillusion  in  der  Reihe:  Puppen- 
spiel,  Baukästen,  Mechanismen  als  Spielen,    Bauen,  Probieren  ist  eine  Ent- 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  387 

Wicklungsreihe.  Die  frühesten  Formen  einer  Fähigkeit  zur  Spielillusion  sind 
offenbar  mit  dem  Puppenspiel  gegeben.  Im  Puppenspiel  haben  wir  die 
elementarsten  Formen  einer  Ausdrucksfähigkeit  der  kindlichen  Psyche  zu 
erblicken.  Die  Puppe  ist  aber  nicht  nur  ein  Übungsmittel  für  die  Greif- 
. bewegungen,  nicht  nur  ein  Hilfsmittel  für  den  erwachenden  Intellekt,  an 
dem  und  mit  dem  er  die  Erfahrungen  seiner  Sinneswelt  objektiviert,  lange 
ehe  die  Sprache  weitere  Möglichkeiten  zur  Vorstellungsarbeit  gibt,  sie  bleibt 
während  der  ganzen  Kindheit  ein  Ausdrucksmittel,  das  gegenüber  allen 
anderen  Formen,  in  und  mit  denen  das  kindliche  Geistesleben  sich  äußert 
und  entwickelt,  gewisse  Vorzüge  besitzt.  Wenn  man  das  Puppenspiel  als 
die  anschaulichste  Form  der  Ausdrucksmittel  bezeichnet,  so  wird  der 
Anteil  der  Vorstellungsarbeit  zu  sehr  hervorgehoben.  Wenn  mit  der  Spiel- 
illusion ein  besonderer  Zustand  des  kindlichen  Geisteslebens  gekennzeichnet 
ist,  so  darf  jedenfalls  nicht  übersehen  werden,  wie  sehr  beim  Zustande- 
kommen desselben  der  von  den  motorischen  Empfindungen  stark  abhängige 
Gefühlston  der  Vorstellungen  ausschlaggebend  ist.  Was  die  Kinder  weder 
durch  Sprache  noch  durch  Zeichnung  auszudrücken  vermögen,  das  stellen 
sie  im  Puppenspiel  dar.  Die  wachsende  Sprach-  und  Sprechfähigkeit  ver- 
ändert Spielbedürfnis  und  Spielillusion.  Die  zunehmende  Verfeinerung  des 
motorischen  Empfindens  wirkt  aber  nach  derselben  Richtung.  Die  Ausdrucks- 
mittel müssen  vollkommener  gerade  diesen  Bedürfnissen  der  motorischen 
Empfindung  entsprechen.  Die  Spielform  des  Bauens  enthält  in  gewissem 
Sinne  einen  Verzicht  auf  die  Illusion,  die  in  der  Vollständigkeit  des  Erlebens 
besteht  (Puppenspiel)  zugunsten  einer  Befriedigung  der  gesteigerten  An- 
sprüche an  den  motorischen  Gehalt  der  Ausdrucksmittel  und  des  damit  ver- 
bundenen Erfassenn  kausaler  Vorstellungsverbindungen. 

Wenn  man  das  Bauen  als  eine  Stufe  der  Ausdrucksfähigkeit  des  kind- 
lichen Geisteslebens  faßt,  so  ist  diese  Steigerung  des  Kausalwertes  der  Vor- 
stellungsverbindungen der  wichtigste  Punkt  für  eine  Abgrenzung  gegen  das 
Puppenspiel.  Natürlich  darf  dann  das  Bauen  nicht  nur  als  die  Beschäftigung 
mit  dem  Ankersteinbaukasten  gelten.  Das  Kind  baut  auch  mit  seinen  Puppen, 
kann  umgekehrt  die  Bauklötzchen  als  Puppen  werten.  Aber  wenn  es  baut, 
so  drückt  es  ganz  andere  Zusammenhänge  seines  Vorstellungslebens  aus,  als 
wenn  es  „spielt"  (mit  Puppen).  Das  Bauen  bleibt  auch  eine  besondere  Form 
der  Ausdrucksfähigkeit  des  kindlichen  Vorstellungslebens.  Wenn  im  Spiel 
mit  den  Baukästen  nur  die  Beziehungen  des  Vorstellungslebens  zum  Raum 
(Raumvorstellen-Raumsinn)  erblickt  werden,  so  muß  wenigstens  hinzugefügt 
werden,  daß  unsere  Raumvorstellung  auf  den  motorischen  Elementen  des 
Vorstellungslebens  in  erster  Linie  fußt. 

Rückblick  und  Ausblick. 
Spielillusion  ist  ein  Zustand  der  kindlichen  Psyche,  den  man,  soweit  er 
Sache  des  Vorstellungslebens  ist,  als  Aufmerksamkeit  bezeichnen  kann. 
Wenigstens  hat  er  mit  dieser  die  Konzentration  auf  eine  bestimmte  Aus- 
wahl von  Vorstellungen  gemeinsam.  Diese  Aufmerksamkeit  ist  aber  wesent- 
lich mitbestimmt  durch  die  körperliche  Disposition  des  Kindes.  Die  Ent- 
wicklung des  motorischen  Empfindungs-  und  VorsteUungslebens  spiegelt  sich 
ab  in  den  Formen  der  Spielillusion,  die  bezeichnet  werden  können  als  ein 
Spielen,  ein  Bauen,  ein  Probieren. 

25* 


388  Ö.  Frey 

Spielzeuge  sind  für  das  Zustandekommea  der  Spielillusion  unerläßlich. 
Den  Namen  eines  Spielzeuges  werden  diejenigen  Gegenstände  verdienen,  die 
den  Zustand  der  Spielillusion  hervorrufen  oder  begünstigen. 

Der  ersten  und  frühesten  Form  der  Spielillusion  entsprechen  als  Spiel- 
mittel die  Puppen.  Die  Eigenart  der  Spielillusion  alles  Puppenspieles  ist 
ein  Nacherleben.  Zur  Totalität  des  Nacherlebens  sind  die  Spielmittel  unent- 
behrlich. 

Die  Entwicklung  der  Spielillusion  des  Puppenspiels  ist  wesentlich  ab- 
hängig von  der  Entwicklung  der  Sprachfähigkeit.  Wie  das  Puppenspiel 
diese  Entwicklung  fördern  kann,  wird  besonderen  Untersuchungen  vorbe- 
halten bleiben.  Sicher  liegt  in  den  mimischen  Ausdrucksformen  des  Spiels 
nicht  nur  eine  Ergänzung  der  jeweiligen  Sprachfähigkeit,  sondern  eine  Ver- 
tiefung, ein  für  das  Erfassen  der  Muttersprache  unentbehrliches  Mitwirken 
des  motorischen  Bewußtseins. 

Die  Vervollkommnung  der  mimischen  und  sprachlichen  Ausdrucksfähig- 
keit durch  das  Puppenspiel  läßt  sich  bezeichnen  als  eine  wachsende  Fähigkeit 
zum  „Dramatisieren".  Das  Nacherleben  steigt  von  bloßen  Formen  der  äußeren 
Nachahmung  zu  Formen,  die  den  psychischen  Inhalt  des  Erlebnisses  dar- 
zustellen versuchen. 

Das  Bauen,  als  Form  des  kindlichen  Ausdruckslebens  gefaßt,  ist  mehr 
als  Nachahmung  von  Formen  mit  gegebenen  Darstellungsmitteln.  Beim 
Bauen  stellt  das  Kind  fortgesetzt  einfachste  Kausalbeziehungen  her.  Die 
Zweckmäßigkeit  des  Nebeneinander,  Übereinander,  des  Legens,  Stollens,  aller 
jener  einfachen  motorischen  Begriffe  wird  beim  Spiel  mit  Baukästen  erlebt. 

Das  Bauwerk  ist  nicht  nur  die  nachgeahmte  Form,  sondern  die  in  der 
Form  bei  ihrer  Herstellung  empfundene  Zweckmäßigkeit. 

Die  Spielillusion,  die  durch  Bauen  geweckt  und  gefördert  wird,  zeichnet 
sich  aus  durch  ruhige  Gleichmäßigkeit.  Bauende  Kinder  zeigen  nicht  jene 
lebhafte  Neigung  zur  sprachlichen  Gestaltung  wie  diejenigen,  die  Puppen- 
spielen sich  hingeben.  Sie  stellen  Zusammenhänge  dar,  deren  Kausalität 
empfunden,  aber  nicht  sprachlich  formuliert  werden  kann. 

Im  Bauen  mit  Baukästen  werden  wichtige  Seiten  des  Raumsinnes,  so- 
weit er  einer  motorischen  Wertung  bedarf,  ausgebildet.  Von  ästhetischer 
Bildung  kann  zunächst  nur  gesprochen  werden,  als  wiederholte  Gruppen 
von  Bauelementen  als  Einheit  aufgefaßt,  also  die  motorische  Summe  über 
eine  größere  Zahl  von  Einzelempfindungen  gezogen  wird.  Die  Auffassung 
der  Symmetrie  ist  daher  für  den  Bauenden  eine  Vereinfachung  des  Bau- 
werkes, ermöglicht  eine  höhere  Art  der  Zweckmäßigkeit. 

Baukästen  sind  alle  jene  Spielmittel,  durch  welche  die  Ansprüche  an 
Materialkenntnis  und  Werkzeugbeherrschung  ausgeschaltet  oder  auf  ein 
Mindestmaß  herabgesetzt  werden. 

Alle  höheren  Formen  einer  motorischen  Kausalität  leben  sich  aus  und 
finden  ihre  Entwicklung  im  Spiel  mit  Mechanismen.  Die  dritte  Form  der 
Spielillusion  ist  als  „Probieren"  bezeichnet  worden.  Darin  liegt,  daß  das 
Kind  im  Spiel  mit  Mechanismen  motorische  Erfahrungen  erwartet  und  macht, 
die  durch  die  Bewegungen  beim  Spiel  nicht  entstehen,  die  aber  mitklingen 
und  für  das  Erfassen  der  Kausalität  unentbehrlich  sind.  Solche  mitklingen- 
den Empfindungskomplexe  sind  die  in  und  am  Wasser  gemachten  Erfahrungen, 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  389 


die  motorißchen  Empfindungen,  die  durch  das  Fahren,  Schaukeln,  Schwingen 
u.  a.  ausgelöst  werden. 

Die  Mechanismen  bedeuten  für  das  Kind  „lebendiges"  Spielzeug.  Es 
ist  wesentlich,  daß  das  Kind  den  Zustand  des  Lebendigseins  nach  seinem 
Willen  hervorrufen  und  abändern  kann.  Die  suggestive  Wirkung  des  Be- 
wegungszustandes auf  die  Aufmerksamkeit,  das  Mitklingen  der  Empfindungs- 
komplexe  gleicher  oder  ähnlicher  Bewegungsvorgänge  sind  Ursache,  daß 
fortgesetzt  geändert  wird.  In  dem  Probieren  ist  ein  Zustand  der  Spannung 
der  Aufmerksamkeit  eingeschlossen  auf  die  Ereignisse,  die  den  abgeänderten 
Bedingungen  entsprechen.  Das  Probieren  entwickelt  sich  zu  einem  elemen- 
taren Experimentieren. 

Spielzeuge  sind  nicht  nur  Anregung,  sondern  auch  Beschränkung  der 
Spielillusion.  Man  gibt  den  Kindern  wenige,  meist  nach  technischen  Gfe- 
sichtspunkten  ausgewählte  Hilfsmittel  für  ihr  Spiel  und  will  durch  die  Spiel- 
gaben erreichen,  daß  das  Spiel  der  Kinder  „stubenrein"  bleibt.  Ganz  allge- 
mein wird  in  Elternkreisen  die  Grenze  zwischen  kindhchem  Spiel  und  kind- 
licher Arbeit  oder  Beschäftigung  so  gezogen,  daß  man  das  Spiel  als  die 
salonfähige  Arbeit  auffaßt,  und  all  die  Beschäftigungen,  bei  denen  Späne 
und  Abfälle  entstehen,  in  die  Werkstatt  verweist  und  als  Anfänge  einer 
zunftmäßigen  Arbeit,  als  Nachahmungsformen  der  Handwerke  hinstellt. 

Die .  Entwicklung  des  Handfertigkeitsunterrichtes  ist  ein  fortwährender 
Kampf  gegen  diese  Oberflächlichkeit  gewesen.  Man  hat  erkannt,  daß  alles  Spiel- 
zeug arm  sein  und  bleiben  muß  in  seinen  Möglichkeiten,  eine  gesunde 
Materialkenntnis  zu  vermitteln,  und  man  hat  weiter  richtig  gesehen,  daß  sich 
diese  Materialkenntnis  mit  keinen  anderen  Mitteln  als  mit  den  Werkzeugen 
gewkinen  läßt,  die  der  Mensch  erfunden  hat.  In  der  Auswahl  von  Werk- 
zeugen, wie  sie  in  einer  Tischlerwerkstatt  zu  finden  ist,  ist  eine  bewährte 
Ausstattung  gegeben,  um  Kenntnis  der  Hölzer  und  ihrer  zweckmäßigen  Ver- 
wendung zu  sammeln.  Damit  ist  aber  noch  gar  nicht  gesagt,  ob  es  nicht 
noch  zweckmäßigere  Auswahl  von  Werkzeugen,  ob  es  vor  allen  Dingen 
durch  entsprechende  Wahl  der  Arbeiten  eine  Anpassung  an  die  Bedürfnisse 
des  Kindes  gibt.  Ein  Versuch,  kindertümlich  auszuwählen,  liegt  offen- 
bar in  den  weitverbreiteten  Bestrebungen,  die  Selbstanfertigung  von 
Spielzeug  in  die  Kurse  aufzunehmen.  Die  Mechanismen,  die  gebaut  wer- 
den, nehmen  vielfach  die  Gestalt  und  den  Charakter  von  physikahschen 
Apparaten  an. 

Eine  Frage,  die  gegenwärtig  viel  erörtert  wird,  ist  die  nach  der  Ab- 
grenzung der  Werkzeuge  und  Hilfsmittel  der  Handarbeit  nach  der  Seite  der 
maschinellen  Hilfe.  Sind  die  sogenannten  Werkzeugmaschinen  in  ihrer  ein- 
fachsten Form,  ist  z.  B.  die  Drechsel-  und  Drehbank  kindertümlich,  d.  h.  das 
für  die  Hand  der  Kinder  und  für  das  motorische  Verständnis  geeignete  Hilfs- 
mittel? Ist  es  richtiger,  für  die  Hilfsmittel  den  motorisch  wertvolleren  Fuß- 
antrieb oder  Motorantrieb  zu  wählen? 

Alle  diese  Fragen  haben  nicht  nur  Interesse  für  die  Bestrebungen,  die 
nach  stärkerer  Betonung  des  Handfertigkeitsunterrichts  in  den  Schulen  tätig 
sind.  Aus  den  oben  gegebenen  Zusammenhängen  geht  wohl  mit  Sicherheit 
hervor,  daß  ein  großer  Teil  dieser  Fragen  die  eigentliche  Domäne  der  Haus- 
erziehung, das  Spiel  mit  Spielzeug,  seine  Beurteilung  und  Entwicklung 
betreffen. 


390  '  O-  Frey  

Das  Bauen  kann  bei  geeigneter  Spielleitung  unmittelbar  übergehen  in 
ein  Schaffen  mit  Werkzeugen.  Die  in  den  Baukästen  ausgedrückte  Resig- 
nation in  bezug  auf  Materialkenntnis  und  Ausschaltung  von  Werkzeugen 
muß  ja  dazu  führen,  daß  der  Gegensatz  zwischen  Spielbetätigung  und  zweck- 
mäßiger, zielsicherer  Arbeit  nicht  nur  am  Unterschiede  der  Ergebnisse  er- 
kannt wird,  sondern  daß  man  ein  Schaffen  mit  Werkzeugen  als  die  motorisch 
reichhaltigere,  befriedigendere  Tätigkeit  empfindet.  Spielzeuge  sind  Dinge, 
die  überwunden  werden  wollen  und  sollen.  Sie  sind  aber  nicht  überwunden , 
wenn  die  Fähigkeit  der  Spiehllusion  infolge  zu  starker  Anstrengung  des 
Geistes  durch  Schularbeit  oder  durch  verfrühte  Entwicklung  des  logischen 
Denkens  eintrocknet.  Sie  werden  in  normaler  Weise  überwunden,  wenn  die 
Entwicklung  des  motorischen  Empfindens,  die  durch  das  Spiel  gefördert 
wird,  zum  vollen  Verstehen  derjenigen  Vorgänge  führt,  die  wir  als  Arbeit 
bezeichnen.  Dann  wird  oder  ist  der  Tätigkeitstrieb  in  Bahnen  geleitet,  auf 
denen  die  Spielillusion  ihre  Bedeutung  als  Führer  und  Förderer  der  Selbst- 
erziehung unmöglich  wird.  Das  logische  Denken  übernimmt  die  Führung. 
An  Stelle  des  Bedürfnisses  nach  Illusion  tritt  das  Bedürfnis  nach  Wahrheit 
und  Brauchbarkeit  (Zweckmäßigkeit). 

Es  scheint  aber  doch,  daß  nicht  nur  die  Spielillusion  des  Bauens  jener 
Entwicklung  fähig  ist  und  bedarf,  sondern  auch  die  des  Probierens.  Nicht 
nur  die  Sehnsucht  unserer  Jugend  nach  Beherrschung  und  Bewältigung  des 
Stoffes  muß  erkannt  und  gefördert  werden,  ebenso  wichtig  und  wertvoll  für 
Haus  und  Schule  ist  ihr  Streben,  durch  Beschäftigung  mit  geeigneten  Hilfs- 
mitteln Stellung  zu  nehmen  zu  den  Vorgängen,  die  zunächst  nicht  als  mensch- 
liche Arbeit  erscheinen,  in  denen  aber  das  Streben  der  Menschheit  nach  Be- 
herrschung der  Naturkräfte,  wenn  nicht  klar  erkannt,    so  doch  geahnt  wird. 

Charakteristische  Züge  der  Entwicklung  unserer  Spielzeug- 
industrie. 

Die  Darstellung  der  Beziehungen  des  Spielzeuges  zum  Geistesleben 
unserer  Kinder  hat  mehrfach  Veranlassung  gegeben,  auf  die  Bedeutung  des 
Angebotes  der  Spielmittel  durch  die  Industrie  hinzuweisen.  Man  muß  sich 
vergegenwärtigen,  welche  Rolle  im  Gemütsleben  der  Kinder  die  Weihnachts- 
freude spielt,  wie  sehr  diese  von  der  Freude  am  Spielzeuge  abhängt,  um  zu 
ermessen,  welche  Summe  von  Kräften,  die  auf  das  Geistesleben  des  Kindes 
starken  Einfluß  ausüben,  mit  dem  Spielzeuge  gegeben  ist. 

Die  Spielzeugindustrie  ist  eine  pädagogische  Macht,  deren  Bedeutung  in 
ihren  Einflüssen  auf  das  Geistesleben  der  Kinder  aber  noch  nicht  erschöpft 
ist.  Sie  schafft  auch  wichtige  ideelle  Werte  durch  die  Freude  der  Eltern  an 
der  spielenden  Kinderschar,  durch  die  glücklichen  Stunden,  die  im  gemein- 
samen Spiel  mit  Puppen,  Soldaten,  Baukästen  und  mechanischem  Spielzeuge 
verbracht  wurden.  Sie  ist  die  pädagogische  Macht,  die  viel  mehr  Zugänge 
zu  den  Herzen  der  Eltern  besitzt  als  alle  auf  Elternaufklärung  gerichtete  Be- 
strebungen der  Schule  und  als  alle  Organisationen,  die  Interesse  an  Erziehungs- 
fragen und  eine  Vertiefung  des  Verantwortlichkeitsgefühles  der  Eltern  in 
irgendeiner  Form  erstreben. 

Die  Spielzeugindustrie  erfindet  nicht  nur  immer  neue  Formen  für  die 
Anregung  der  Spielillusion,  sie  wertet  durch  ihr  Angebot  auch  die  Spielformen 
ständig  um.     Sie  schafft  Spielmoden,  und  kein  Pädagog  vermag  durch  noch 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  391 

SO  tiefschürfende  oder  volkstümliche  Aufklärung  ein  Spielzeug  zu  erhalten, 
wenn  es  von  der  Industrie  nicht  mehr  angeboten  wird.  Volkskundliche 
Forschung  interessiert  sich  für  die  Spielmittel  der  Kinder  vergangener  Zeiten. 
Man  hat  den  kulturgeschichtlichen  Wert  der  Puppensammlung  des  Ger- 
manischen Museums  sehr  hoch  eingeschätzt.  Es  wäre  wohl  an  der  Zeit,  die 
Bedeutung  des  Spielzeuges  unserer  Tage  für  unsere  Jugend  nicht  nur  zu 
erkennen,  sondern  die  Mittel  zu  weitgehenderer  Auswertung  der  erziehenden 
ICräfte  anzugeben,  die  in  unserem  Spielzeuge  schlummern.  Spielzeug  ist 
ein  pädagogischer  Volksschatz,  der  wie  die  volkstümliche  Literatur  ständig 
vermehrt  und  Zeitforderungen  angepaßt  wird,  der  aber  auch  in  seinen 
bleibenden  Teilen  eine  fortgesetzte  Umwertung  erfährt.  Im  Spielzeuge  offen- 
bart sich  eine  gewisse  Seite  der  pädagogischen  Produktivität  eines  Volkes. 
Die  mit  dem  Spielzeuge  gleichsam  im  Grundrisse  gegebene  Spieltradition  ist 
Ausdruck  sowohl  der  Spielfreudigkeit  der  Kinder,  ihrer  geistigen  Regsam- 
keit, als  auch  der  Erzieherfreudigkeit  der  Eltern. 

Ein  noch  so  vollständiges  Verzeichnis  der  industriellen  Spielzeuge  würde 
allerdings  noch  kein  naturgetreues  Bild  der  Spieltradition  einer  Zeit  geben. 
Es  fehlten  die  oft  sehr  wertvollen  Spielmittel,  die  in  der  Familie  erfunden 
werden,  die  besonders  in  gewerblichen  Kreisen  aus  Elternhand  hervor- 
gehen. In  steigendem  Maße  aber  hat  die  Industrie  solche  Anregungen  schon 
gesammelt  und  daraus  handelsfähiges  Spielzeug  gemacht.  Ob  immer  mit 
ganz  glücklicher  Hand,  mag  dahingestellt  bleiben. 

Ein  Versuch,  wichtige  Züge  der  Entwicklung  unserer  Spielzeugindustrie 
zu  zeichnen,  kann  sich  natürlich  nicht  mit  der  technischen  und  kauf- 
männischen Entwicklung  befassen.  Es  läßt  sich  aber  zeigen,  daß  in  der 
durch  die  Konkurrenz  geschaffenen  Notwendigkeit,  für  jede  Messe  wenigstens 
eine  oder  einige  Neuheiten  zu  bringen  oder  vorhandene  Spielmittel  zu  ver- 
bessern, nicht  nur  Änderungen  des  Angebots  erreicht  wurden,  sondern  Er- 
weiterungen und  Vertiefungen  der  pädagogischen  Wertung  dieser  Spielmittel. 

Die  Puppenindustrie  hat  eine  bedeutende  Verbesserung  der  Qualität 
ihrer  Erzeugnisse  aufzuweisen.  Eine  große  Zahl  auserlesener  Künstler  hat 
sich  bemüht,  die  Puppe  lebensvoller,  wahrer  im  Ausdrucke,  richtiger  in  der 
Proportion  und  Beweglichkeit  zu  machen.  Die  Schlagwörte  „Künstlerpuppe, 
Charakterpuppe"  haben  ja  in  erster  Linie  kaufmännische  Bedeutung.  Es 
wäre  aber  böswiUige  Verkennung,  wollte  man  diesen  Begriffen,  soweit  sie 
bestimmte  künstlerische  Intuition  bezeichnen,  nicht  die  Bedeutung  zuerkennen, 
daß  sie  zu  pädagogischer  Beurteilung  der  Puppenspielmittel  anregen. 

Wertvolle  Erweiterungen  der  Spielillusion  versprechen  die  vielen  künst- 
lerischen Durchbildungen  der  Tierpuppe,  sowohl  die  wunderbar  heraus- 
gearbeiteten Tierpuppen  der  Firma  Steiff  als  auch  die  gut  raodelherten 
Formen  der  Tiere  für  zoologische  Gärten,  Tierparke  usw. 

Interessant  ist  es,  zu  beobachten,  wie  das  neue  Puppenmodell  auch 
Einfluß  hat  auf  die  seinem  Charakter  entsprechende  Umgestaltung  des  zu- 
gehörigen Puppenkrams.  Das  Angebot  auf  diesem  Gebiete  hat  sehr  an  Ge- 
diegenheit gewonnen.  Wie  die  Spielzeugindustrie  auf  diesem  Gebiete  nicht 
nur  Neuheiten  schaffen,  sondern  auch  dazu  helfen  kann,  daß  wertvolles 
Volksgut  erhalten  und  Geschmack  für  landschaftliche  Eigenheit  schon  im 
Kinde  gebildet  wird,  zeigen  die  Puppenstuben  der  Dresdner  und  Darmstädter 
Werkstätten  und  deren  Häuserbaukästen.     Der  Künstler  hat   z.  B.  an  Stelle 


392  O.  Frey 

des  allgemeinen,  charakterlosen  Bauernhauses  das  typische  niedersächsische, 
hessische  Bauernhaus,  den  Heidehof  gestellt,  hat  den  gedrungenen,  malerischen 
Aufbau  der  heimatlichen  Kleinstadt  festgehalten.  Darin  sprechen  sich  Ideen 
aus,  die  alle  Herstellerkreise  zu  weiterer  Vertiefung  ihrer  Angebote  zwingen 
und  nicht  nur  in  der  Jugend,  sondern  auch  in  Elternkreisen  den  Sinn  fili 
Erhaltung  wertvollen  Volkstums  wecken  und  fördern. 

Eine  bedeutsame  Wandlung  der  Puppenstube  liegt  in  dem  Angebot  an 
Puppenkram  für  „Puppengesellschaften",  wie  sie  die  großen  Spielwarenhand- 
lungen in  ihren  Weihnachtsausstellungen  seit  Jahren  zeigen.  In  der  großen 
Auswahl  an  Puppentypen  gleicher  Größe  liegt  eine  Anregung  zur  Steigerung 
der  Spielillusion  nach  der  Seite  des  Dramatisierens.  In  derselben  Richtung 
wirken  die  neuen  Angebote  an  Puppen  für  Puppentheater,  die  neben  dem 
Streben,  von  der  schematischen  Gestalt  zur  charakteristischen  zu  gelangen, 
auch  Versuche  erkennen  lassen,  das  Puppentheater  durch  kindertümliche 
Typen  zu  bereichern. 

Die  Kriegsjahre  haben  natürlich  unsere  Soldatentypen  vollständig  um- 
gebildet. Aber  nicht  nur  die  Notwendigkeit,  mit  anderem  Material  zu  arbeiten, 
nicht  nur  die  Umwandlung  ins  Feldgraue  hat  neue  Typen  ergeben,  sondern 
auch  die  einzelne  Figur  ist  vielgestaltiger  geworden.  Zusammengehörige 
Gruppen  werden  angeboten,  die  eine  bestimmte  Kampfhandlung  oder  Szenen 
des  Verpflegungs-  und  Sanitätsdienstes  sinngemäß  darzustellen  erlauben. 

Wenn  man  bedenkt,  welcher  suggestive  Zwang  für  die  Ausgestaltung 
des  Spieles  in  diesen  Änderungen  gegeben  ist,  wird  man  sie  vielleicht  höher 
einschätzen  als  die  geradezu  wunderbare  Durchbildung  der  zum  Soldaten- 
spiel gehörigen  Mechanismen:  Kanonen,  Fahrpark,  Eisenbahnmaterial  usw» 
Zur  Würdigung  der  letzterwähnten  Spielgaben  muß  aber  hinzugefügt  werden, 
daß  sie  nach  anderer  Richtung  wertvolle  Anregung  geben.  Die  Vorstellung 
von  der  Kampfhandlung  wird  großzügiger,  wenn  die  Knaben  mit  diesen 
Mitteln  ihre  Pläne  aufbauen.  Die  räumliche  Vorstellung  gewinnt  an  Tiefe, 
das  Bedürfnis,  Terrain  darzustellen,  die  Kampfhandlungen  zu  begründen, 
wird  geweckt. 

Die  Neuheiten  auf  dem  Baukastenmarkte  haben  in  den  letzten  Jahren 
vor  dem  Kriege  und  noch  im  Kriege  für  die  Beurteilung  der  Baukästen  als 
Spielmittel  eine  ganz  neue  Lage  geschaffen.  Der  Baukasten  ist  zum  Spiel- 
mittel für  die  reifere  Jugend  geworden.  Dieser  Fortschritt  ist  sowohl  in 
einigen  Formen  der  Stein-  und  Holzbaukästen  erreicht,  die  nicht  nur  durch 
Menge  der  Bausteine  und  Kompliziertheit  der  Vorlagenwerke  zur  Auffassung 
von  Querschnitten  zwingen,  sondern  durch  neue,  konsequent  durchgeführte 
Aufteilung  der  Raumelemente  erreichen,  daß  auch  bei  der  Darstellung  ein- 
facher Formen  höhere  Ansprüche  an  die  Raumvorstellung  erhoben  werden. 
Der  Richtersche  Festungsbaukasten  stellt  z.  B.  Anforderungen,  denen  13  bis 
14 jährige  Knaben  erst  nach  einiger  Übung  genügen. 

Die  eigentlichen  Repräsentanten  des  Fortschrittes  sind  aber  die  Kon- 
struktionskästen. Die  Idee  lebt  schon  in  den  vor  Jahrzehnten  auftauchenden 
Versuchen,  Fachwerkhäuser,  Holzbrücken,  Puppengeräte  aller  Art,  also  Bau- 
werke der  Zimmermannstechnik  mit  Stäbchen  von  gegebener  Länge  und 
gleichförmigem  oder  wenig  verschiedenem  Querechnitt  nachzubilden.  Der 
Kreis  der  nachzubildenden  Gegenstände  blieb  aber  klein,  solange  man  sich 
auf  starre  Konstruktionen  beschränkte. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  393 


Mit  der  Aufnahme  der  Achse  als  Bauelement  wird  die  Zahl  der  Gegen- 
stände, die  das  Kind  nachbilden  möchte,  riesengroß.  Die  Konstruktions- 
kästen sind  deshalb  so  sehr  begehrt,  weil  sie  sämtlich  Maschinenbaukästen 
sind.  Sie  ermöglichen  den  Übergang  von  der  Spielforra  des  Bauens  zu  der 
des  Probierens,  sie  sind  Baukästen  und  gleichzeitig  mechanisches  Spielzeug. 

Selbstgebaute  Mechanismen  werden  in  ganz  anderer  Weise  „verstanden" 
als  fertiggekaufte.  Die  Funktion  der  einzelnen  Teile,  ihr  Zusannnenhang 
wird,  wenn  er  aus  dem  Vorbilde  (Vorlage  oder  Wirklichkeitsform)  noch  nicht 
ganz  erkannt  wurde,  beim  Zusammensetzen  erfaßt.  Das  Zusammenfügen 
bedeutet  meist  nicht  nur,  daß  Einsicht  in  den  einzelnen  Fall  erlangt  wird. 
Das  Typische  in  der  Lösung  technischer  Probleme  wird  wenigstens  geahnt. 
Es  bilden  sich  motorische  Begriffe,  auch  wenn  der  technische  Name  dafür 
fehlt.  Die  Funktion  wird  als  selbständiges  Glied  des  technischen  Zusammen- 
hanges empfunden,  und  damit  gibt  seine  Schöpfung  dem  Knaben  selbst  die 
Antwort  auf  seine  Fragen  nach  dem  Warum? 

Man  kann  den  Fortschritt,  den  der  deutsche  Ingenieur  durch  die  Aus- 
arbeitung dieser  Spielmittel  angestrebt  hat,  nicht  leicht  überschätzen.  Ihre 
Eigenart  wird  in  dem  oben  gekennzeichneten  Sinne  gefaßt,  wenn  man  sie 
als  belehrendes  Spielzeug  bezeichnet.  Ihre  Bedeutung  für  die  Schulung  des 
Raumsinnes  in  bestimmter  Richtung  wird  vielleicht  noch  deutlicher  erkannt, 
wenn  der  Aufbau  von  Maschinenraodellen  in  Beziehung  gebracht  wird  zu 
den  Aufgaben,  wie  sie  in  den  technisch  gegliederten  Fortbildungsschulen 
auftreten.  Technische  Zeichnungen  werden  im  allgemeinen  nm*  von  Modellen 
gemacht,  die  bis  in  ihre  Einzelheiten  bekannt  sind.  Das  technische  Zeichnen 
soll  aber  durch  die  verhältnismäßig  wenigen  Beispiele,  die  in  der  zur  Ver- 
fügung stehenden  Zeit  „durchgezeichnet"  werden  können,  die  Fähigkeit 
wecken,  Wirklichkeitsformen  zu  analysieren,  deren  Elemente  zu  erkennen. 
Der  Aufbau  soll  schließlich  zeichnerisch  festgehalten  werden.  Dabei  kann 
der  Konstruktionskasten  wesentliche  Hilfe  geben.  Er  ermöglicht  jene  Dar- 
stellung des  räumlichen  Nebeneinander,  von  der  der  Schüler  eine  richtige 
Vorstellung  haben  muß,  wenn  er  einen  Querschnitt  -vviedergeben  soll.  Der 
spielende  Knabe  wird  kaum  das  Bedürfnis  haben,  das  Verständnis  für  die 
erkannten  Zusammenhänge  durch  Zeichnung  zum  Ausdruck  zu  bringen.  Es 
genügt  ihm,  wenn  das  Maschinchen  „geht".  Die  Vorlagenhefte,  die  von  den 
Firmen  herausgebracht  worden  sind,  enthalten  aber  auch  dafür  Anregungen 
und  unterstützen  wesentlich  ein  Wachstmn  der  Ausdrucksfähigkeit  auf  einem 
Gebiete,  auf  dem  der  Anfänger  Beschreibungen  so  auffaßt,  als  wären  sie  in 
einer  ihm  unverständlichen  Sprache  abgefaßt.  Man  hat  der  Spielzeugindustrie 
den  Vorwurf  gemacht,  daß  sie  alles  Spielzeug  mechanisiere.  Die  Mechani- 
sierung des  Baukastens  wird  man  aber  als  berechtigt  anerkennen.  Die 
Spielform  des  Bauens  erweitert  den  Kreis  der  Vorstellungen,  die  eine 
motorische  Wertung  besitzen,  die  erlebt  sind. 

In  derselben  Richtung  arbeiten  mit  ganz  anderen  Mitteln  Bestrebungen, 
die  einfache  Techniken,  die  als  Basteln  bezeichnet  werden,  zur  Selbst- 
herstellung von  Mechanismen  anregen.  Diese  Anregungen  erscheinen  in 
Form  von  kleinen  Schriftchen,  die  den  Gang  der  Herstellung  eines  Maschinchens 
so  ausführhch  beschreiben,  daß  der  geschickte,  mit  der  Handhabung  der 
einfachsten  Werkzeuge  vertraute  Knabe  imstande  sein  soll,  dasselbe  nach 
den  gegebenen  Maßen  und  Grundrissen  herzustellen. 


394  O.  Frey 

Eine  Reihe  von  Firmen  bieten  die  beliebtesten  Mechanismen  (Feder- 
und  Gewichtsmotor,  Dampfmaschine,  Elektromotor)  als  Halbfabrikate  in 
einer  Form  an,  daß  in  der  Hauptsache  nur  noch  die  Arbeit  des  Zusammen- 
bauens zu  leisten  ist. 

So  auffallend  der  erzieherische  Wert  oder  die  belehrende  Absicht  dieser 
Spielmittel  übereinstimmt,  so  erfahren  sie  doch  in  Elternkreisen  noch  eine 
ganz  verschiedene  Wertung.  Die  Industrie  bezeichnet  diese  Dinge  als  „Spiel- 
und  Lehrmittel".  Sie  empfindet,  daß  mit  diesen  Dingen  die  Grenze  für  die 
Bezeichnung  als  Spielzeug  in  vielen  Fällen  überschritten  wird. 

Eine  ähnhche  Grenzüberschreitung  liegt  in  dem  vor,  was  die  Spielzeug- 
industrie als  Experimentierkästen  bezeichnet.  Man  hat  versucht,  für  physi- 
kalische, auch  für  bestimmte  Gebiete  der  Chemie  Baukästen  zu  schaffen. 
Nach  den  Gliederungen,  die  diese  Gebiete  in  bewährten  Lehrbüchern  erfahren, 
sind  die  Bausteine  so  ausgeführt,  daß  Nachbildungen  bewährter  Demon- 
strationsmittel zusammengestellt  werden  können.  Das  Bauen  mit  diesen 
Hilfsmitteln  soll  in  die  Technik  des  Laboratoriums  einführen,  soll  aber  gleich- 
zeitig Naturerscheinungen  in  der  Art  hervorrufen,  daß  dieses  Erleben  zum 
Erfassen  der  ihnen  innewohnenden  Kausalität  führt.  Das  erläuternde  Wort 
des  demonstrierenden  Lehrers  soll  durch  die  gedruckte  Anleitung  ersetzt 
werden. 

Solche  Versuche  müssen  zu  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  führen, 
sobald  sie  das  Gebiet  der  Statik  fester  Körper  rerlassen.  Schon  die  Dynamik 
fordert  die  Beobachtung  des  Geschehens  in  der  Zeit.  Das  Spiel  ist  zeitlos. 
Die  Zeit  als  Funktionsbegriff  eröffnet  sich  dem  motorischen  Verständnis  in 
den  Arbeitsvorgängen.  Würden  die  Bausteine  der  Experimentierkästen  so 
gewählt,  daß  sie  zur  Nachahmung  solcher  Arbeitsvorgänge  anregen,  deren 
motorischer  Gehalt  erfaßt  werden  kann,  dann  würde  ein  Selbsterarbeiten  des 
Verständnisses  in  das  Bereich  des  Möglichen  rücken.  Die  sprachliche  Formu- 
lierung des  allgemeinen  Falles,  das  Herausarbeiten  des  qualitativen  Experi- 
mentes würde  in  vielen  Fällen  wegfallen,  aber  jeder  ähnliche  Fall,  der  im 
praktischen  Leben  beobachtet  wird,  würde  aufs  neue  zum  Probieren  anregen, 
ein  Beurteilen  herausfordern.  Es  scheint  nicht  unmöglich,  daß  die  Schwierig- 
keit, die  der  physikalische  Unterricht  von  heute  meist  kaum  überwindet  (die 
quantitative  Auffassung  der  Erscheinung,  das  unmittelbare  Schätzen  der 
arbeitenden  Kräfte),  viel  geringer  wird,  daß  ein  solcher  Selbstunterricht 
eine  intuitive  Sicherheit  in  der  Beobachtung  und  Beurteilung  von  Natur- 
erscheinungen leichter  ausbildet  als  ein  Unterricht,  der  auf  dem  Umwege 
über  die  logische  Formulierung  sich  an  das  motorische  Verständnis  wendet. 
Mit  dem  Begriffe  eines  planmäßigen  Unterrichts  ist  uns  untrennbar  ver- 
bunden das  widerspruchslose  Zusammenfügen  der  Erscheinungen,  das  Streben 
nach  System.  Systematisierung  der  Erkenntnisse  ist  nicht  nur  Ausdruck 
eines  logischen  Bedürfnisses,  sondern  auch  eine  ökonomische  Forderung 
alles  Unterrichtes.  Will  man  Berechtigung  und  Wert  der  belehrenden  Spiel- 
mittel gerecht  abwägen,  so  muß  man  betonen,  daß  jene  beiden  Gründe  für 
diesen  Selbstunterricht  des  Spieles  wegfallen.  Das  Spiel  hat  durchaus  nicht 
darnach  zu  streben,  daß  in  möglichst  kurzer  Zeit  und  auf  bequeme  Weise 
Erkenntnisse  gewonnen  werden,  es  würde  sich  mit  solchen  Grundsätzen  selbst 
aufheben.  Ihm  kann  es  nur  darauf  ankommen,  daß  der  Spielende  sein 
persönliches  Erleben  mit  diesen  Erscheinungen  verknüpft. 


über  Spielzeuge  als  Erziehungsmittel  395 

Man  kann  auf  dem  Standpunkte  stehen,  daß  solches  Erleben  zwecklos, 
eben  eine  Spielerei  sei.  Damit  wird  man  aber  die  Tatsache  nicht  aus  der 
Welt  schaffen,  daß  das  Bedürfnis  nach  solchem  zwecklosen  Erleben  gerade 
in  unserer  Zeit  sehr  stark  ausgebildet  ist.  Ganz  besonders  gilt  das  von  den 
elektrischen  Erscheinungen.  Die  Sehnsucht  nach  elektrischem  Spielzeug  ist 
in  unserer  Jugend  sehr  lebendig.  Das  industrielle  Angebot  bevorzugt  durch- 
aus solche  Spielmittel,  die  für  ein  Verständnis  der  Zusammenhänge  wenig  Be- 
deutung haben,  aber  einzelne  auffällige  Erscheinungen  zeigen.  Induktions- 
apparat und  Elektrisiermaschine  sind  die  Kernpunkte,  um  die  sich  die 
Auswahl  gruppiert.  Geschickte  Vereinfachungen  der  Apparatur  für  Funken- 
telegraphie,  kleine  Ausführungen  der  Hilfsmittel  für  Strahlungserscheinungen, 
die  in  eben  noch  erkennbarer  Weise  die  überraschenden  Effekte  darstellen, 
sind  die  gesuchten  Neuheiten. 

Die  Nachfrage  reguliert  auch  hier  das  Angebot.  Das  hauptsächlichste 
Verdienst  der  Spielzeugindustrie  besteht  darin,  daß  sie  diese  Hilfsmittel  eines 
geistigen  Genießens  zu  einem  Preise  anbietet,  der  erschwinglich  ist. 

Pädagogische  Vertiefung  ihres  Angebots  ist  noch  nicht  allgemeines 
Prinzip  der  Spielzeugindustrie.  Wohl  aber  läßt  sich  zeigen,  daß  alle  tief- 
gehenden Bestrebungen  der  pädagogischen  Praxis  sich  auch  in  Anregungen 
für  die  Spielzeugindustrie  ausleben.  Die  Parallele  zwischen  Kunsterziehung 
und  künstlerischer  Ausgestaltung  des  Puppenspiels  und  der  Baukästen  ist 
offensichtlich.  Wenn  die  Umwertung,  die  sich  in  der  Auffassung  von  Weg 
und  Ziel  des  naturwissenschaftlichen  Unterrichts  vollzogen  hat  und  noch  im 
Werden  begriffen  ist,  auch  im  Spielzeugangebot  zum  Ausdrucke  kommen 
sollte,  so  müßten  neben  den  physikalischen  Spielmitteln  solche  der  chemischen 
und  biologischen  Wissensgebiete  entstehen.  Die  oben  erwähnten  chemischen 
Experimentierkästen  können  nicht  als  verheißungsvoller  Anfang  angesprochen 
werden.  Die  Technik  des  Photographierens  bringt  aber  so  vielseitige  An- 
regungen, daß  von  ihrer  Verbreitung  viel  erwartet  werden  darf.  Die 
Dunkelkammer  ist  zwar  ein  einseitiges,  aber  jedenfalls  das  verbreitetste 
Chemische  Laboratorium.  Mit  den  als  Schülerkameras  angebotenen  Apparaten 
ist  der  Jugend  ein  Werkzeug  in  die  Hand  gegeben,  das  zu  selbständiger 
Natm-beobachtung  reizt. 


Probleme. und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik. 

Von  Hans  Rupp. 
(Schluß.) 

VIII.  Gruppe:  Zeitmessung. 

(Chronoskopie,  Chronographie,  Kymographie.) 

Die  Zaitmessung  spielt  in  der  experimentellen  Psychologie  und  Pädagogik  eine 
große  Rolle. 

Wir  brauchen  sie,  um  den  Verlauf  psychologischer  und  physiologischer  Vorgänge 
zu  beschreiben.  Wie  schnell  entsteht  ein  Gedanke,  wie  schnell  reift  ein  Ent- 
schluß?  Welche  Zsit  baanspruchen  die  einzelnen  Teile,  Stadien  einer  längeren 


396  Hans  Rupp 

Überlegung,  Arbeit  ?  Wie  sclmell  oder  langsam  steigt  ein  Affekt  an,  wie  echnell 
klingt  er  ab?  Wie  rasch  führen  wir  Bewegungen  aus,  wie  lange  halten  wir  bei 
Kjaftleistungen  aus  ?  U.  dgl.  m.  Zeiten  in  großem  Maßstabe  brauchen  wir, 
wenn  wir  Entwicklungsfortschritte  im  Laufe  der  Lebensiahre  oder  der  Schul- 
jahre beschreiben,  wenn  wir  das  allmähliche  Verblaßsen  und  Entschwinden  V-on 
Erinnerungen  verfolgen  usf. 

Wir  beschreiben  den  zeitlichen  Verlauf  nicht  nur,  um  uns  überhaupt  einmal 
ein  Bild  von  der  Schnelligkeit  eines  Gedankens,  eines  Entschlusses,  der  Lösung 
einer  Aufgabe  zu  machen,  um  festzustellen,  wer  schneller,  gewandter  denkt,  schnel- 
ler arbeitet,  schneller  sich  entwickelt,  sondern  wir  suchen  vor  allem  gesetzliche 
Zus  ammenhänge ,  suchen  die  Ursachen  und  Wirkungen  verschiedener  Schnellig- 
keiten. Unter  welchen  Bedingungen  wird  eine  Aufgabe  schneller  gelöst,  welche 
M3thoden  der  Lösung,  des  Arbeitens  führen  schneller  zum  Ziel  ?  Oder  umgekehrt  : 
Welche  Wirkung  hat  es,  wenn  man  in  schnellerem  Tempo  lernt,  rechnet  usw.? 
Wieviel  erfaßt  man  bei  flüchtiger,  wieviel  bei  längerer  Betrachtung? 

Diese  Verwendungsweisen  der  Zeit  sind  uns  aus  dem  täglichen  Leben  be- 
kannt. Wir  halten  eine  Methode  für  besser,  die  eine  schnellere  Lösung  der  Auf- 
gabe bewirkt,  oder  die  Aufgabe  für  leichter^  die  schneller  gelöst  wird;  bei  Eigen- 
schaften wie  Gewandtheit,  Schlagfertigkeit,  Geistesgegenwart  verlangen  wir  nicht 
nur  richtiges,  sondern  auch  schnelles  Urteilen  und  Handeln. 

Die  experimentelle  Psychologie  und  Pädagogik  gehen  jedoch  insofern  über  den 
Gebrauch  der  Zeit  im  täglichen  Leben  hinaus,  als  sie  die  Zeiten  sorgfältig  messen 
und  dadurch  oft  zuErgebnissen  kommen,  die  der  unmittelbaren  Beobachtung  ent- 
gehen, und  insofern,  als  sie  sich  der  Zeitmessung  in  ihren  verschiedenen  Formen 
(wie  ich  sie  gleich  besprechen  werde)  viel  bewußter  und  in  viel  größerem  Umfange 
bedienen.  Nach  den  bisherigen  Erfolgen  kann  man  sagen,  daß  sich  die  Zeit- 
messung meistens  lohnt,  daß  sie  meistens  neue  und  wertvolle  Ergebnisse  zutage 
fördert. 

Eine  bsf  ondere  Stellung  nimmt  die  Zeitmessung  ein  bei  der  Untersuchung  der 
subjektiven  Zeit-  und  Bewegungseindrücke.  Wir  können  Zeiten, 
Schnelligkeiten  von  Bewegungen  und  anderen  Veränderungen  subjektiv  schätzen 
und  vergleichen.  Stimmt  unser  Urteil  mit  den  wirklichen  Verhältnissen  überein  ? 
Welche  Zeitsn  und  Schnelligkeiten  nehmen  wir  unmittelbar  wahr,  welche  er- 
schließen wir  ?  und  auf  Grund  welcher  Kriterien  erschließen  wir  sie  ? 


Von  Zeitbestimmung  handeln  diese  und  die  nächste  Gruppe.  In  dieser  Gruppe 
VIII  bespreche  ich  solche  Versuche,  in  denen  die  Vorgänge,  wie  sie  sich  f  ben  ab- 
spielen, in  ihrem  zeitlichen  Verlauf  bestimmt  werden.  Bei  den  Versuchen  der  näch- 
sten Gruppe  werden  die  Zeiten  künstlich  geregelt,  z.  B.  die  Dauer  oder  das  Tempo 
des  Arbeitens  vorgeschrieben  oder  ein  bestimmter  Takt,  Rhythmus  vorgegeben, 
oder  Eindrücke  von  sehr  kurzer  Dauer,  wie  beim  flüchtigen  Hinblicken,  erzeugt. 
Ich  spreche  im  ersten  Falle  von  Zeitmessung,  im  zweiten  von  Zeitrege- 
lung. Man  kann  oft  dasselbe  Problem  auf  beide  Weisen  untersuchen. 

Man  kann  drei  Arten  von  Zeitmessung  scheiden,  die  namentlich  ihrer 
technischen  Ausführung  nach  sehr  verschieden  sind. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  397 

A.  Wir  bestimmen  die  Dauer  eines  einzelnen  Vorganges  oder 
einer  einzelnen  Pause,  oder  den  Zeitpunkt  eines  einzelnen  Vor- 
ganges. Nach  den  typischen  Zeitinstrumenten  für  diese  Zwecke,  den  Chrono- 
skopen  oder  Chronometern,  kann  man  die  Problem^  als  die  der  Chronoskopie 
oder    Chronometrie  bazeichnen. 

Hierfür  gibt  es  viele  B3i3piele.  Wie  lange  brauchen  wir  zur  Erkennung 
von  Farben,  Tönen,  Gewichten  usw.?  wie  lange  bei  verschiedenen  (z.  B. 
selbständigen,  ausgeprägten  und  unselbständigen)  Farben  ?  Sind  die  Eindrücke 
der  Gsdächtnisfarbs,  der  ,, scheinbaren  Größe"  und  die  analogen  Eindrücke  auf 
anderen  Sinnesgebieten,  die  alle  als  Produkt  geistiger  Verarbeitung  des  unmittel- 
bar gegebanen  Rsizes  anzusehen  sind,  sofort  vorhanden  oder  verursacht  die  Ver- 
arb3itung  eine  Verzögerung  ?  Wie  bsim  Erwachsenen,  wie  beim  Kinde  ?  Ähnliche 
Fragen  ergeban  sich  für  die  räumliche  Auffassung.  Wird  die  zusammen- 
gesetzte Form  (z.  B.  ein  Gesicht)  ebenso  schnell  erkannt  wie  eine  geometrisch  ein- 
fache (z.  B.  eine  Gerade)  ?  Ist  die  Plastik,  die  sinnfällige  Tiefe  eines  Körpers,  eines 
Stereoskopbildes  sofort  beim  Hinsehen  vorhanden  oder  entwickelt  sie  sich  erst  ? 
Ähnlich  bei  Tast-,  Gelenk-,  Gehörsempfindungen,  deren  Lokalisation  im  Leben 
umgelernt  (der  optischen  angepaßt)  oder  ganz  neu  gelernt  werden  muß. 

Natürlich  ist  in  allen  diesen  Fällen  wie  auch  in  den  folgenden  Beispielen  zu 
beachten,  ob  man  nur  die  Zeit  der  Erkennung  mißt,  oder  ob  auch  die  Zeit  der  Be- 
nennung, z.  B.  des  Findens  der  richtigen  Farbennamen,  enthalten  ist. 

Wie  nach  Erkennung  sinnlicher  Qaalitäten  oder  Eigenschaften,  so  kann  man 
nachder  Erkennung  irgendwelcher  Gegenstände  fragen  und  wieder  die  Zeit 
messen.  Wenn  die  Zeitmessung  auch  nichts  über  die  Hauptfrage  sagt,  woran, 
an  welchen  Kriterien  wir  den  Gegenstand  erkennen,  so  macht  doch  die  längere  oder 
kürzere  Erkennungsdauer  darauf  aufmerksam,  ob  eine  Erkennung  schwieriger, 
oder  ob  sie  leichter,  geläufiger  ist.    Die  Frage  ist  noch  wenig  bearbeitet. 

Mehr  Untersuchungen  liegen  vor  über  die  Schnelligkeit  des  Lesens. 
Welche  Buchstaben  werden  schneller,  welche  langsamer  erkannt  ?  Wie  bei  ver- 
schiedener Schrift  (Fraktur,  Antiqua)  ?  Wie  bei  verschiedener  Größe,  verschiede- 
ner Dicke  der  Linien,  bei  verschiedenen  Maßverhältnissen  (Länge  :  Breite, 
Mittel-  :  Oberzeiler)?  Wie  —  was  man  bisher  kaum  berührt  hat  —  bei  ver- 
schiedenen Handschriften  ? 

Aber  nicht  nur  auf  einzelne  Buchstaben,  auf  das  Lesen  der  Wörter  und  Phrasen 
kommt  es  an !  Braucht  man  zum  Lesen  eines  Wortes  von  vier  Buchstaben  vier- 
mal so  viel  Zeit  wie  zu  einem  einzelnen  Buchstaben  ?  Bei  welcher  Schrift  werden 
die  Worte  imd  Phrasen  schneller  erfaßt  ? 

Ähnliche  Fragen  wie  über  die  Lesezeit  bestehen  über  die  Schreibezeit. 
Welche  Schrift  kann  schneller  geschrieben  werden  (bei  gleicher  Lesbarkeit!), 
einerseits  in  einzelnen  Buchstaben,  andererseits  und  vor  allem  in  ganzen  Wör- 
tern ?  Welche  Buchstaben  oder  Zusammensetzungen  von  solchen  bieten  besondere 
Schwierigkeit  ?  Diese  Fragen  haben  besonders  für  die  Stenographie  praktische 
Bedeutung. 

In  ähnlicher  Weise  kann  man  die  Lesbarkeit  und  Schrei bbarkeit  von 
Zahlen  prüfen.  Man  stellt  die  Zahlen  durch  Ziffern,  im  ersten  Unterricht  durch 
Punktgruppen  dar.  Welche  Anordnung  der  Punkte  ist  günstiger,  welche  Anzahlen 
werden  schneller  erkannt? 


398  Hans  Rupp 

Übergehend  zu  zusammengesetzteren  Vorgängen,  sei  zunächst  auf  die  Messung 
der  Lernzeit  unter  Anwendung  verschiedener  Lernmethoden  und 
auf  die  Messung  der  Besinnungszeit  (Trefferzeit)  hingewiesen,  die  in  der 
vorigen  Gruppe  (VII)  besprochen  wurden. 

Ferner  hat  die  Zeitmessling  bei  Rechenaufgaben  Wertvolles  geleistet. 
Welche  Aufgaben  werden  schneller  gelöst,  sind  schwieriger  (z.  B.  größere  Zahlen, 
Addition  mit  Überschreiten  eines  Zehners)? 

Ähnlich  kann  man  logische  und  grammatikalische  Fragen  stellen 
und  die  Schnelligkeit  der  Beantwortung  bestimmen.  Zum  Beispiel:  Welches 
Verhältnis  besteht  zwischen  zwei  vorgegebenen  Begriffen  (Unter-,  Über-,  Neben- 
ordnung, Ganzes  —  Teil,  Art — 'Individuum,  usw.)?  Welche  grammatische  Form 
hat  ein  vorgegebenes  Wort  (z.  B.  des  Vaters)  ?  Es  ist  zu  einer  Form  eines  Wortes 
(z.  B.  Singular  oder  Präsens)  eine  bestimmte  andere  Form  (z.  B.  Plural  oder 
Perfektum)  anzugeben. 

Diese  Fragen  sind  eindeutig.  Vielfach  stellt  m an  ganz  analoge  Fragen  mehr- 
deutig. Zum  Erfassen  der  logischen  oder  grammatischen  Kategorie  kommt  dann 
noch  das  Suchen  des  besonderen  Falles  hinzu.  Maij  suche  zu  einem  bezeichneten 
logischen  Verhältnis  ein  Beispiel  (Ganzes  :  Teil  —  x:y).  Oder  zu  einem  bezeichne- 
ten logischen  Verhältnis  und  einem  gegebenen  Begriff ,  einen  zweiten  Begriff, 
der  zu  dem  ersten  in  dem  bezeichneten  Verhältnis  steht  (Ganzes  :  Teil  =  Baum :  x). 
Oder  man  bezeichnet  das  gewünschte  Verhältnis  nicht  abstrakt,  sondern  selbst 
wieder  durch  ein  Beispiel  (Baum  :  Wurzel  =  x:y',  Baum  :  Wurzel  =  Haus  :x). 

Ähnlich  bei  grammatikalischen  Formen.  Man  suche  zu  einer  abstrakt  bezeich- 
neten Form  ein  Beispiel  (Hauptwort  schwacher  Biegung).  Oder  zu  einer  kon- 
kreten Form  (gehen)  eine  andere  abstrakt  bezeichnete  Form  desselben  Wortes 
(Partizipium  des  Perfekts).  Oder  zu  einem  konkreten  Form  Verhältnis  ein  anderes 
Beispiel  derselben  Art  (Hauptwort  mit  ähnlicher  Biegung  wie :  der  Bär,  des  Bären). 

Ähnliche  Aufgaben  wie  bei  logischen  und  grammatikalischen  Verhältnissen 
kann  man  bei  sachlichen  Verhältnissen  (Ursache,  Wirkung,  äußerliche 
Ähnlichkeit,  äußerlicher  Zusammenhang,  Verwandtschaft,  usw.)  stellen.  Die 
Fragen  können  wieder  ein-  oder  mehrdeutig  sein.  ;• 

Endlich  gibt  es  noch  tausenderlei  andersartige  Fragen:  Erraten  von  Gegen- 
ständen oder  abstrakten  Begriffen  nach  Beschreibungen,  Andeutungen  (Rätsel), 
Erkennen  von  Bildern  aus  unvollkommenen  Formen,  oder  Aufgaben  wie  diese: 
Was  könnte  diese  (unvollkommene)  Form  (z.  B.  Rechteck)  alles  vorstellen? 
Was  würdest  du  in  dieser  oder  jener  Situation  tun  ?   Und  vieles  andere. 

Immer  wird  die  Zeitmessimg  mehr  oder  weniger  wertvolle  Dienste  leisten, 
indem  sie  auf  Unterschiede  in  der  Leichtigkeit  oder  Geläufigkeit  der  Aufgaben 
hinweist.  Natürlich  ist  die  Dauer,  wie  schon  erwähnt,  nur  eine  äußerliche  Seite; 
sie  sagt  nichts  darüber,  wie  die  Lösung  gefunden  wurde,  und  nichts  über  die  Güte 
der  Lösung.  Es  sollten,  soweit  möglich,  stets  Selbst-  oder  Fremdbeobachtung» 
Studium  der  Fehler  uff.  hinzutreten.  — 

Bisher  war  von  Denkaufgaben  die  Rede.  Zeitmessung  kommt  auch  bei  den 
gewöhnlichen  Reaktions versuchen  vor,  bei  welchen  auf  ein  Zeichen  hin  mit 
einer  Bewegung  zu  antworten  ist.  Die  Versuche  sind  in  Gruppe  VI  (Punkt  e) 
erwähnt  worden.  — 

Bei  längeren  Zeitstrecken  messen  wir  vielfach  nicht  unmittelbar  die  Dauer, 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  399 

sondern  den  Zeitpunkt  in  einem  festen  Zeitsystem.    So  bestimmen  wir  das  Alter, 
in  dem  die  erste  absichtliche  Handlung,  die  erste  Lüge,  der  erste  Nebensatz, 

auftritt,  u.  dgl.  Wir  halten  uns  an  das  Alter,  Schuljahr  oder  Kalenderdatum. 

B.  Im  Falle  A  konnte  nur  eine  einzelne  Zeit,  die  Dauer  eines  abgeschlcssenen  Vor- 
ganges bestimmt  werden.  Das  hängt  mit  der  technischen  Natur  der  dort  verwen- 
deten Uhren  zusammen.  Sie  müssen  nach  Ablauf  der  Zeit  angehalten  und  abge- 
lesen werden.  Vor  der  neuen  Messung  sind  vielfach  noch  vorbereitende  Griffe 
(z.  B.  auf  Null  Zurückstellen  der  Uhr)  nötig.  Es  vergehen  also  eine  Reihe  von 
Sekunden,   ehe   die  neue   Messung   beginnen   kann. 

Vielfach  aber  will  man  fortlaufend  Zeiten  messen.  Dies  ermöglichen  die 
Chronographen,  die  natürlich  auch  einzelne  Zeiten  zu  messen  gestatten.  Ich 
bezeichne  die  Probleme  als  die  der  Chronographie. 

Baispiele  sind:  Man  bestimmt  die  Dauer  der  einzelnen  Abschnitte  einer  Rech- 
nung oder  anderer  längerer  und  zusammengesetzter  Denkaufgaben.  Man  mißt 
die  Schnelligkeit,  mit  der  die  einzelnen  Teile  eines  eingeprägten  Stoffes  (z.  B.  einer 
Silbanreihe)  reproduziert  werden.  Man  läßt  eine  größere  Anzahl  gleichwertiger, 
kleiner  Aufgaben,  z.  B.  kleine  Additionen,  ausführen,  läßt  fortlaufend  lesen, 
schreiben  und  mißt,  wie  schnell  anfangs,  wie  schnell  später  gearbeitet  wird, 
um  den  Einfluß  von  Übung,  Ermüdung  usw.  zu  bestimmen.  Oder  man  mißt 
beim  Musizieren  die  Dauer  der  Töne  und  der  Pausen,  den  zeitlichen  Rhythmus. 
Oder  man  läßt  möglichst  schnell  trillern  und  bestimmt  das  Tempo  und  das  all- 
mähliche  Nachlassen  der   Geschwindigkeit.    Und  vieles   andere. 

C.  Bei  den  Versuchen  B  werden  in  der  eindimensionalen  Zeitlinie  Marken  ver- 
zeichnet. Was  die  Marken  bedeuten,  muß  separat  notiert  werden.  Die  Versuche  C 
bringen  einen  weiteren  Fortschritt.  Sie  geben  nicht  nur  Zeitpunkte,  sondern 
auch  den  Grad  einer  Veränderung  in  den  Zeitpunkten.  So  wird  beim  Heben  von 
Gewichten  nicht  nur  angegeben,  wann  gehoben  wird,  ob  das  Tempo  z.  B.  allmäh- 
lich langsamer  wird,  sondern  auch  wie  hoch,  ja  sogar  wie  schnell  gehoben  wird. 
Oder  es  wird  beim  Aufschreiben  von  Atem  und  Puls  nicht  nur  das  Tempo,  sondern 
auch  die  Tiefe  des  Atems,  die  Stärke  "des  Pulses  bestimmt.  Man  erhält  zwei- 
dimensionale Kurven:  Die  Abszissen  geben  die  Zeitpunkte,  die 
Ordinaten  geben  den  Grad  der  Änderung  an.  Man  bezeichnet  die  Pro- 
bleme am  besten  nach  den  Apparaten  als  die  der  Kymographie,  der  Wellen- 
oder Kurvenschreibung, 

Andere  Beispiele  sind:  Wie  schnell  wird  eine  Linie  in  den  einzelnen  Teilen  ge- 
zeichnet ?  Wie  schnell  werden  die  einzelnen  Striche  beim  Schreiben  eines  Buch- 
stabens geschrieben,  wie  schnell  die  einzelnen  Buchstaben  ?  wie  schnell  die  Zahlen 
bei  einer  Rechnung  ?  wie  schnell  die  Teile  einer  Zeichnung  ?  Wie  stark  ist  der 
Druck  der  Feder  oder  des  Stiftes  bei  den  einzelnen  Strichen  eines  Buchstabens 
{Schriftdruck)?  wie  beim  Zeichnen?    Usw. 

Eine  Einrichtung  für  die  Versuche  C  läßt  sich  natürlich  auch  für  die  einfacheren 
Aufgaben  B  und  A  verwenden. 


Ich  bespreche  nun  die  Apparate.  Die  Zeitmeßinstrumente  für  die  Versuche  A 
heißen  Chronoskope  oder  Chronometer  oder  auch  einfach  Uhren;  die  für 
B  und   C   Chronographen    und    Kymographien. 


400  Hana  Rupp 

Bei  den  Versuchen  A  reichen  für  größere  Zeitmessmigen  gewöhnliche  Uhren 
aus.  Vielfach  absr  sind  Messungen  auf  Bruchteile  von  Sekunden  (bis  auf  ^/loo  Se- 
kunden) nötig.  Dazu  sind  natürlich  feinere  Instrumente  erforderlich.  Eine  ähn- 
liche Genauigkeit  wird  gelegentlich  bei  B  und  C  verlangt. 

Nicht  nur  das  Zsitinstrument  muß  bsi  genauen  Messungen  Bruchteile  von  Se- 
kunden anzeigen,  sondern  es  muß  auch  die  Markierung  der  Zeitpunkte  ent- 
sprechend exakt  sein.  Will  man  z.  B.  die  Dauer  der  Lösung  einer  Aufgabe  genau 
bastimmen,  so  muß  die  Uhr  genau  zu  B3ginn  des  Lösungsversuches  anlaufen  und 
genau  am  Ende  der  Lösung  stehen  bleiben.  Bei  den  Chronoskopversuchen  nach 
Art  der  Reaktions versuche,  bsi  denen  eine  Aufgabe  (Reiz)  gestellt  wird,  mißt 
man  die  Zeit  vom  Stellen  der  Aufgabe  an.  Man  verwendet  Apparate,  die  zugleich 
die  Aufgabe  (möglichst  plötzlich)  stellen,  z.  B.  ein  Wort  exponieren,  und  die 
Uhr  (mechanisch  oder  elektromagnetisch)  in  Gang  bringen.  Sie  heißen  Reie- 
ap parate.  Die  Beendigung  der  Lösung  muß  sofort  durch  eine  Bewegung  (z.  B. 
Drücken  auf  eine  Taste)  kundgegeben  werden,  durch  die  die  Uhr  angehalten 
werden  kann.    Die  hierzu  dienenden  Apparate  heißen  Reaktionsapparate. 

Bsi  den  Versuchen  B  und  C  sind  Apparate  nötig,  die  die  zu  registrierenden  Be- 
wegungen aufnehmen  und  direkt  oder  mittels  eines  separaten  Schreibers  auf 
den  Chronograph  oder  das  Kymographion  übertragen.  Ich  bezeichne  sie  als 
Aufnahmeapparate.  Ferner  sind,  wie  eben  angedeutet,  vielfach  Schreiber 
erforderlich  mit  entsprechenden  Stativen.  Endlich  Zeitmarkierapparate, 
die  je  nach  Bedarf  Minuten  oder  Sekunden  oder  Bruchteile  von  Sekunden  auf- 
zeichnen (s.  Gruppe  IX). 

Zeitmeßinstrumente, 

i^'i.  1  Stoppuhr  für  1/5,  i/m,  i/go  oder  1/50  Sekunden  mit  1  Zeiger  und 
1  Drücker.  Wie  der  Sekundenzeiger  der  Taschenuhr  alle  Sekunden  einen 
Strich  weiterrückt,  so  b^W3gt  sich  um  Teilstriche  der  Zeiger  der  Stoppuhr  5,  IG, 
20,  50  Rucke  in  der  Sekunde  weiter.  Er  wird  dadurch  in  Gang  gesetzt,  daß 
man  auf  den  oben  an  der  Uhr  bsfindlichen  Knopf  drückt;  er  bleibt  stehen, 
wenn  man  ein  z  wetes  Mal  drückt;  er  springt  in  die  Nullstellung  zurück,  wenn 
man  ein  drittes  Mal  drückt.  Die  Uhr  mißt  die  Zeit  zwischen  dem  ersten  und 
zweiten  Drücken. 

N«'.  2  Man  hält  die  Uhr  sicher  in  der  rechten  Hand  und  drückt  mit  dem  Zeigefinger 
oder  Daumen.  Der  Finger  liegt  schon  vorher  auf  dem  Knopf  und  drückt  ihn  so 
weit,  daß  für  die  eigentliche  Reaktion  nur  mehr  das  letzte  Stück  der  Bewegung 
auszuführen  bleibt  (man  ,, nimmt  den  Druckpunkt"). 

Doppelstoppuhr  für  ^/g,  ^/^o,  720  ^^^^  Vso  Sekunden  mit  awei  Zeigern 
und  zwei  Drückern.  Man  kann  ztmächst  die  zwei  Zeiger  zugleich  laufen 
lassen,  wie  wenn  man  nur  einen  Zeiger  und  einen  Druckknopf  hätte.  Der  Apparat 
wird  dann  benützt  wie  der  vorige. 

Oder  man  benützt  beide  Zeiger.  Man  kann  dann  zwei  aufeinanderfolgende 
Zeiten  messen.  Beim  Druck  auf  den  einen  Knopf  beginnen  beide  Zeiger  zu 
laufen,  beim  Druck  auf  den  zweiten  bleibt  ein  Zeiger,  beim  Druck  auf  den  ersten 
Knopf  bleibt  der  zweite  Zeiger  stehen. 

Ni •  3  Hebeleinrichtung  zur  Doppelstoppuhr  (Tasterstoppuhr)  nach 
Rupp  (Mechaniker  Marx,    Berlin).     Die  Uhr  ist    auf  einem   Holzblock  sehr 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


401 


sicher  gelagert.  Auf  die  zwei  Druckknöpfe  legen  sich  zwei  Hebel  HH.  Man 
drückt  nicht  direkt  auf  die  Knöpfe,  sondern  auf  die  Hebel.  Abgesehen  davon,  daß 
dies  namentlich  für  ungelenkige 
Hände  viel  bequemer  ist,  können- bei 
dieser  Einrichtung  verschiedene  Per- 
sonen auf  die  Uhr  wirken.  Wird  z. 
B.  von  der  einen  durch  Schlag 
auf  den  einen  Hebel  ein  Schallreiz 

erzeugt,  so  kann  die  andere  ihren  Hebel  als  Reaktionsinstrument  benutzen 
und  reagieren,  sobald  sie  den  Reiz  hört. 

Übt  man  sich  darauf  ein,  genau  mit  dem  Aussprechen  eines  Wortes  den  Hebel 
niederzudrücken,  so  kann  man  die  vielen  Reaktionsversuche  mit  sprachlichem 
Reia  und  sprachlicher  Reaktion  anstellen. 

Dieselbe,  mit  Kon  takten  (Kontakt- Taster«  toppuhr)  nachRupp(Me-  i 

chaniker  Marx,  Berlin).  Im  Augenblick, 
wo  die  Drücker  auf  die  Zeiger  wirken,wird 
ein  Kontakt  geschlossen.  Das  hat  z.  B. 
den  Vorteil,  daß  man  die  Uhrzeit  mittel» 
eines  Chronographen  kontrollieren  kann, 
ferner  daß  man  andere  als  akustische, 
elektrisch  auslösbare  Reize  geben  kann. 

Chronoskop  nach  Vernier-San-  - 
ford  (Mechaniker  Spindler  und  Hoyer, 
Göttingen;  Mechaniker  Zimmermann, 
Leipzig).  Das  Instrument  vereinigt,  wii 
die  eben  beschriebene  Tasterstoppuhr, 
Zaitmeßinstrument,  Reiz-  und  Reaktions- 
apparat.  An  einem  Galgen  hängen  zwei 
Pendel  von  etwas  verschiedener  Länge. 
Ihre  Schwingungsdauern  unterscheiden  sich 
um  1/50  Sekunde.  Jedes  Pendel  wird  durch 
Druck  auf  einen  Taster  losgelassen.  Der 
eine  Taster  dient  für  den  Reiz,  der  andere 
für  die  Reaktion;  das  erste  Pendel  wird 
also  im  Augenblick  des  Reizes,  das  zweite 
im  Augenblick  der  Reaktion  losgelassen.  Da  aber  das  eine  etwas  schneller 
schwingt,  so  holt  es  nach  einer  Anzahl  von  Schwingungen  das  zweite  ein.  Eine 
einfache  Überlegung  zeigt,  daß  die  Reaktionszeit  so  viel  1/50  Sekunden  beträgt, 
:als  man  Schwingungen  bis  zum  Einholen  gezählt  hat.  (Näheres  über  Apparat 
und  Handhabung  ist  im  Katalog  des  Mechanikers  Spindler  und  Hoyer  zu  finden). 
Das  Zählen  der  Schwingungen  ist  umständlich  und  mühsam,  das  genaue  Er- 
kennen des  Einholens  erfordert  Übung.  Dennoch  empfiehlt  sich  das  Instrument 
'durch  seine  Einfachheit. 

Neben  den  imter  Nr.  3  angeführten  Versuchen  kann  man  auch  optische  Reize 
und  Reizwörter  exponieren.  An  dem  Reiztaster  ist  ein  Stab  mit  einem  Schirm 
;angebracht.  Drückt  man  auf  den  Taster,  so  verschiebt  sich  der  Schirm  und 
►deckt  ein  dahinterstehendes  Wort,  eine  Rechenaufgabe  u.  dgl.  auf. 

Zeitschrift  f.  päd»gog.  Psychologie  26 


402 


Hans  Rupp 


Kr.  6 


Kr.  7 


Kr  8 


Bandchronograph  mit  2  Schreibern,  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx, 
Berlin).  Der  Apparat  ist  ein  typischer  Apparat  für  die  Versuche  B.  Die  Kon- 
struktion ist  ähnlich  der  bei  den  Morsetelegraphen.  Der  Apparat  kann  an  den 
Li pmann -Gedächtnisapparat  angeschraubt  werden.  Die  Rolle  B,  welche  das 
Band  weiter  zieht  und  welcher  die  Friktionsrolle  r  entgegenwirkt,  wird  durch  den 
Motor  des  Gedächtnisapparates  b3wegt.  Infolge  der  konstanten  Geschwindigkeit 

dieses  Motors  braucht  man  für 
die  meisten  Fälle  keine  Zeitmarke. 
Die  Abstände  der  aufgeschrie- 
benen Marken  sind  genau  den 
Zeiten,  die  zwischen  den  Auf- 
schreibungen  lagen,  proportional. 
Stellt  man  den  Motor  z.  B,  so 
ein,  daß  der  Streifen  in  der 
Sekunde  5  cm  zurücklegt,  so  be- 
deutet jeder  mm  Y50  Sekunde. 
Der  Streifen  kommt  von  der 
Speicherrolle  Sp,  biegt  ziemlich 
scharf  um  den  Stab  St,  damit 
das  Schreibrädchen  T,  das  in  ein  Gefäß  mit  Tinte  taucht,  trotz  seines  relativ 
großen    Durchmessers    mit  einem  kleinen  Teil  seines  Umfanges  schreibt. 

Wenn  man  Reaktionszeiten  bestimmen  will,  läßt  man  entweder  den  einen  der 
zwei  Schreiber  den  Reiz,  den  andern  die  Reaktion  schreiben,  oder  man  läßt  einen 
beides  aufzeichnen  und  verwendet  den  zweiten  zum  Schreiben  einer  Zeitmarke. 
Man  braucht  eigene  Reiz-,  Reaktions-  bzw.  Aufnahmeinstrumente,  die  elektrisch 
arbeiten  (vgl.  unten). 

Bandchronograph  mit  mehr  als  zwei  Schreibern,  nach  Rupp  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin).  Der  vorige  Apparat  kann  auch  für  mehr  Schreiber  ge- 
baut werden.  Mechaniker  Marx  hat  z.  B.  einen  Apparat  für  12  Schreiber  gebaut. 
Die  Konstruktion  der  Schreiber  ist  eine  andere  als  bei  No.  6.  Man  kann  dann  mit 
mehreren  Personen  zugleich  Versuche  anstellen,  was  für  Übungen  sehr  vorteilhaft 
ist.  Oder  man  kann  die  zeitlichen  Verhältnisse  beim  Spielen  einer  Melodie  auf- 
zeichnen, wenn  jede  Taste  einen  Kontakt  erhält  mid  mit  einem  Schreiber  ver- 
bunden wird.     U.  dgl.  m. 

Studentenkymographion  nach  Petzold  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig). 
Einfaches  Kymographion,  vertikal  und  horizontal  zu  stellen,  mit  oder  ohne  Uhr- 
werk. Die  Geschwindigkeit  kann  durch  eine  Regulierung  des  Federmotors  oder 
durch  Verschieben  der  Mitnehmerrolle  an  der  Friktionsscheibe  in  üblicher  Weise 
variiert   werden. 

Damit  die  Schreiber  nach  einer  Umdrehung  der  Trommel  nicht  wieder  in  die 
frühere  Kurve  hineinschreiben,  muß  man  sie  nach  jeder  Umdrehung,  oder  besser 
schon  während  der  Umdrehung  entsprechend  verschieben.  Dazu  dient  das  Stativ 
mit  Trieb  Nr.  27.  Dieses  muß  so  aufgestellt  werden,  daß  die  Schreiber  genau 
parallel  zur  Trommelachse  verschoben  werden.  (Näheres  über  die  Schreibung 
siehe  im  Hauptkatalog  des  Mechanikers  Spindler  &,  Hoyer,  Göttingen.) 

tTber  die  Verwendung  des  Kymographions  als  Gedächtnisapparat  vgl.  Gruppe 
VII,  Nr.  7. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  403 

Federkymographion  nach   Scliulze   (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).    Den  Nr.  e 
Grundbestandteil  bildet  das  vorerwähnte   Studentenkymographion,  und  zwar 
das  ohne  Uhrwerk.  Dazu  treten  eine  Schleudereinrichtung  und  verschiedene 
Kontakte. 

Eine  Uhrfeder  S  ist  mit  dem  einen  Ende  an  der  Trommelachse  befestigt,  während 
das  andere  gegen  das  Widerlager  W  aufgesetzt  wird.  Die  Feder  sucht  sich  von 
dieser  Lage  aus  ruckartig  zusammenzuziehen 
und  reißt  dabei  die  Trommel  einmal  herum. 
Zunächst  aber  wird  die  Trommel  in  der  Aus- 
gangslage festgehalten  durch  den  nach  oben 
federnden  Drücker  F,  der  einen  Einschnitt  be- 
sitzt, in  denein  an  der  Trommelachse , befestigter 
Zahn  Z  eingreift.  Drückt  man  also  F  nieder,  so 
wird  die  Trommel  frei  und  wird  durch  die  Spi- 
ralfeder herumgeschleudert.  Am  Ende  einer 
Umdrehung  schnappt  der  Zahn  Z  wieder  in 
den  Einschnitt  ein. 

Um  die  Spannung  der  Uhrfeder  und  damit 
auch  die  Schnelligkeit  der  Drehung  der  Trommel 
nach  Bedarf  ändern  zu  können,  ist  die  Feder 
nicht  unmittelbar  an  der  Achse  befestigt,  sondern 
an  einer  Rolle  R,  mit  der  sie  um  die  Achse  ge- 
dreht werden  kann.  Ein  Sperrad  Sp  hält  die 
Rolle  in  den  einzelnen  Lagen  fest.  Man  regelt 
die  Spannung  der  Feder,  indem  man  die  Rolle 
dreht. 

Die  durch  die  Feder  erzeugte  Bewegung  der 
Trommel  steigt  schnell  bis  zum  Maximum  an  und 
bleibt  dann  fast  gleichmäßig  während  der  ganzen  Drheung. 

Unterhalb  der  Spiralfeder  sind  an  der  Achse  zwei  verstellbare  Arme  angebracht, 
die  an  dem  äußeren  Ende  nach  unten  stehende  Federn  tragen.  Die  Federn 
berühren  Kanten  oder  Streifen  aus  Metall,  die  auf  dem  Fuß  des  Apparates  be- 
festigt sind,  und  erzeugen  dadurch  an  bestimmten,  beliebig  zu  wählenden  Stel- 
lungen  der  Trommel  kurze  oder  dauernde  Kontakte. 

Die  Schleudereinrichtung  dient  zur  Messung  einzelner  kurzer  Zeiten",  die  klei- 
ner sind  als  die  Dauer  einer  Trommelumdrehung.  Sie  dient  also  für  die  Versuche  A, 
vor  allem  für  Reaktions versuche. 

Als  akustischen  Reiz  kann  man  das  Geräusch  beim  Loslassen  der  Trommel  ver- 
wenden. Um  dieses  zu  verstärken,  kann  man  z.  B.  mit  einem  Fingerhut  auf  den 
Drücker  F  schlagen.  Einen  optischen  Reiz  kann  man  ebenfalls  in  einfacher  Weise 
mit  dem  Apparat  selbst  erzeugen.  Man  steckt  z.  B.  oben  an  den  Trommelrand 
eine  kräftige  Klammer,  die  eine  kleine  schwarze  Karte  trägt.  Davor  wird  ein 
weißer  Schirm  aufgestellt,  der  in  der  Höhe  der  Karte  einen  vertikalen  Schlitz  hat. 
Kurz  nach  Beginn  der  Drehung  erscheint  hinter  dem  Schlitz  die  schwarze  Karte 
als  optischer  Reiz.  Die  Stellung  des  Auges  soll  dabei  immer  dieselbe  sein ;  man 
bedient  sich  z.  B.  des  Kopfhalters  Gruppe  II,  Nr.  90. 

Die  Reizmarke  kann  schon  vor   dem  Versuch  gezeichnet  werden,   da  mim 

26* 


404 


Hans  Rupp 


)tr.  10 


Rr 


RA. 


-K^ 


die  Ausgangslage  der  Trommel,  bzw.  die  Lage,  in  welcher  der  Reizkontakt  er- 
folgt, kennt. 

An  Stelle  dieser  unmittelbar  durch  den  Apparat  zu  erzeugenden  Reize  kann  man 
die  oben  erwähnten  Kontakteinrichtungen  benutzen  und  durch  die  Kontakte 
Reize  erzeugen,  z.  B.  Telephon  knalle  oder  elektrische  Funken  eines  Induktors. 

Zur  Reaktion  verwendet  man  irgendeines  der  elektrischen  Reaktionsinstrumente. 
Man  kann  auch  Aufnahmeapparate  mit  Luftübsrtragung  verwerten.  Auf  dem 
Kymographion  schreibt  ein  elektromagnetischer  oder  Luftschreiber,  der  die 
Reaktionsmarke  aufzeichnet. 

Die  Geschwindigkeit  der  Drehung  ist  bei  allen  Versuchen,  sofern  an  der  Feder- 
spannung nichts  geändert  wurde,  genau  dieselbe.  Es  genügt  also  für  alle  unter- 
einandergeschriebenen Versuche  (z.  B.  40)  eine  einzige  Zeitkurve  (z.  B.  die  V20  Sek.- 
Wellen  der  Feder  Gruppe  IX  No.  8  oder  die  ^/g  Sek. -Marken  der  Uhr  No.  5). 
Bei  jedem  folgenden  Versuch  muß  der  Schreiber  ein  wenig  nach  oben  oder  unten 
verschoben  werden,  damit  die  nächste  Kurve  nicht  die  frühere  überdeckt.  Dazu 
dient  das  Stativ  mit  Zahntrieb  No.  27.  Die  Reizmarken  stehen  dann  alle  genau 
untereinander  (ein  vertikaler  Strich),  die  Reaktionsmarken  zeigen  übarsichtlich 
und  anschaulich  die  Schwankungen  der  aufeinanderfolgenden  Reaktionszeiten, 
Die  Versuche  sind  für  Übungen  sehr  zu  empfehlen. 

Schul-Kymographion  nach  Rupp,  mit    Schleudervorrichtung  nach 

Schulze  (Mechaniker  Marx,  Berlin). 
Das  Kymographion  imterscheidet  sich 
von  No.  8  und  9  hauptsächlich  da- 
durch, daß  gewissermaßen  das  Stativ 
mit  Trieb  fest  mit  dem  Kymo- 
graphion verbunden  ist.  Das  ge- 
naue Einstellen  des  Stativs  fällt  daher 
weg,  und  es  können  keine  Störungen 
durch  Verschiebungen  des  Kymogra- 
phions  oder  des  Stativs  entstehen. 

Der  zweite  Hauptunterschied  besteht 
darin,  daß  die  Verschiebung  der  Schrei- 
ber am  Stativ  automatisch  gleichzeitig  mit  der  Drehung  der  Trommel  ausgelöst 
werden  kann. 

Die  Trommel  Tr  wird  durch  einen  getrennten  Motor  bewegt,  der  an  der  Stufen- 
rolle R^  angreift.  Von  derselben  Rolle  aus  wird  durch  zweifache  Schnurübersetzung 
B.^  B^  die  Spindelachse  Sp  gedreht.  Auf  ihr  und  auf  der  Führungsstange  St  be- 
wegt sich  der  Schlitten  Seh  mit  den  Schreibern.  Er  kann  frei  mit  der  Hand  ver- 
schoben oder  durch  die  Spindel  fortbewegt  werden.  Im  letzteren  Falle  wird  er  je 
nach  der  gewählten  Schnurübersetzung  während  einer  Trommelumdrehung 
ca.  4 — 40  mm  weitergeschoben.  Die  automatische  Verschiebung  durch  die  Spindel 
hat  den  Vorzug,  daß  man  die  Schreiber  nicht  beständig  mit  der  Hand  zu  ver- 
schieben braucht,  wie  es  z.  B.  beim  Kymographion  No.  8  nötig  ist. 

Die  Schulzesche  Schleuder einrichtung  S  ist  rechts  an  die  Ti'ommel  angesetzt. 
Die  Kontakthebel  iC  reichen  unmittelbar  an  die  Trommel  heran.  Wenn  man  daher 
auf  dem  Rande  der  Trommel  eine  Zeitkurve,  z.  B.  mittels  der  schwingenden  Feder, 
Gruppe  IX,  No.  8,  aufschrauBt,  so  kann  man  die  Hebel  auf  bestimmte  Punkte  der 


Tr 


O 


Sf 


Sp 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  405 

Zeitkurve  einstellen  und  auf  diese  Weise  Kontakte  in  bestimmten,  bekannten 

Zeitabständen  erzeugen.  Diese  Anordnung  gehört  zu  den  Versuchen  der  nächsten 

Gruppe. 
Der  Apparat  ist  wie  No.  8  außer  für  chronographische'  und  kymographische 

Versuche  auch  für  Gedächtnisversuche   verwertbar    (vgl.  Gruppe  VII,   No.  7, 

Bemerkimg). 
Zum    Schulkymographion :    Schirm    zur    Exposition    sehr    langer 

Reihen  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Man  will  manchmal  sehr  lange 
Reihen  von  Wörtern,  Zahlen,  Zeichen,  kleinen  Rechenaufgaben  in  bestimmtem 
Tempo  nacheinander  exponieren,  z.  B.  um  die  allmähliche  Ermüdung  zu  prüfen. 
Zu  dem  Zwecke  schreibt  man  die  Reihen  entweder  ähnlich  wie  bei  Gedächtnis- 
versuchen in  mehreren  getrennten  Ringen  oder  spiralenartig  fortlaufend  um  die 
Trommel  herum  auf  (siehe  Figur).  Vor  der  Trommel  wird  ein  Schirm  mit  einem 
horizontalen  Schlitz 
aufgestellt,  der  nur  eine 
Zeile  sichtbar  werden 
läßt.  In  dem  Schlitz 
ist   ein    Schieber    mit 


TT 


einem   zweiten   Schlitz       \ 1 


L 


i 


am  verschieben,  der  von  "    getrennte  Ringe  Spirale 

den  verschiedenen  Wör- 
tern einer  Zeile  nur  eins  herausgreift.  Wird  die  Reihe  in  mehreren  getrennten 
Ringen  aufgeschrieben,  so  verschiebt  man  die  Schieber  nach  jeder  vollen  Um.- 
drehung  mit  der  Hand  bis  vor  den  nächsten  Ring.  Verwendet  man  aber  die  spi- 
ralige Anordnung,  so  wird  der  Schieber  an  dem  früher  erwähnten  Schlitten  be- 
festigt und  durch  diesen  allmählich  verschoben. 

Die  Wörter  usw.  bewegen  sich  bei  dieser  Anordnung  in  dem  Schlitz  mit  gleich- 
förmiger Geschwindigkeit  vorbei.  Man  sieht  die  Schrift  sich  bewegen.  Will  man  dies 
vermeiden,  so  wird  man  zu  Konstruktionen  wie  bei  den  Gedächtnisapparaten  mit 
ruck  weiser  Bewegung  geführt.  Eine  derartige  einfache  Konstruktion  ist  auch  hier 
in  Arbeit. 

übrigens  lassen  sich  die  Gedächtnisapparate  selbst  für  diesen  Zweck  verwerten,  so- 
fern nur  die  Anzahl  der  Wörter  usw.,  die  die  Trommel  faßt,  ausreicht.  (Beim  Apparat 
Gruppe  VII,  1  oder  2,  faßt  die  größere  Trommel  40  Wörter. )  Zur  Not  könnte  auch  nach 
Verbrauch  eines  Trommelstreifens  jedesmal  eine  Pause  eingeschaltet  werden,  um  einen 
neuen  Streifen  aufzuziehen. 

Zum  Schul-Kymographion :  Expositionsapparat  nach  Duchessi- 
Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Der  Apparat  dient  dazu,  längere  Reihen  von 
Lese-  und  Rechenaufgaben  u.  dgl.  zu  exponieren,  aber  nicht  wie  beim  eben 
beschriebenen  (No.  11),  in  bestimmtem,  gegebenem  Tempo,  sondern  in  der  Weise, 
daß  ein  Gehilfe  oder  der  Rechnende  oder  Lesende  selbst  durch  Druck  auf  einen 
Taster  die  Exposition  der  nächsten  (Aufgabe  bewirkt,  sobald  die  vorhergegangene 
gelöst  ist.  Gleichzeitig  mit  jeder  Exposition  wird  ein  Kontakt  erzeugt  und  auf 
eine  Lufttrommel  gedrückt,  so  daß  man  die  Zeitpunkte  auf  einem  Chronographen 
oder   Kymographion    aufzeichnen   kann. 

An  die  Trommelachse  des  Kymographions  ist  ein  Zahnrad  von  32  (auf  Wunsch 
auch  mehr  oder  weniger)  Zähnen  angesetzt.  Ein  Gewicht  sucht  die  Trommel  in 
bestimmtem  Sinne  zu  drehen.   Eine  einfache  Sperrvorrichtung  bewirkt,  daß  die 


406  Hans  Rupp 

Trommel  sich  nur  dann,  wenn  man  auf  einen  Knopf  drückt,  weiterbewegt,  und 
zwar  jedesmal  um  einen  Zatn. 

Die  zu  exponierenden  Wörter,  Zahlen  usw.  werden  wieder  (vgl.  No.  11)  ent- 
weder in  mehreren  getrennten  Ringen  oder  spiralenartig  um  die  Trommel  herum 
aufgeschrieban.  Und  man  verwendet  Schirm  und  Schiebsr  in  denselben  zwei  Wei- 
sen, wie  es  unter  No.  11  bsschrieben  ist. 

Ziim  Gedächtnisapparat  nach  Lipmann-Marx  (Griippo  VII,  Nr.  1)  hat  Lewin  Vor- 
richtungen für  mechanische  xmd  für  elektrische  Auslösimg  der  Rucke  konstruiert 
(Mechaniker  Marx,  Berlin),  ßo  daß  der  Apparat  auch  für  die  eben  erwähnten  Versuche 
verwertet  werden  kann,  sofern  die  Anzahl  der  Wörter,  die  auf  die  Trommel  aufge- 
schrieben werden  können,  ausreicht.  Zur  Not  könnte  auch,  ähnlich  wie  bei  den  unter 
Nr.  11  Anmerkung  angeführten  Versuchen,  nach  Verbrauch  eines  Streifens  jedesmal 
eine  Paixse  eingeschaltet  werden,  urai  einen  neuen  Streifen  avifzuziehen. 

NMii  Kymographion  nach  Minnemann  (Mechaniker  Marx,  Bariin).  Der  Apparat 
ist  bsreits  in  Gruppe  VI,  Nr.  14,  bsschrieben  worden.  Außer  den  dort  angeführten 
Versuchen  lassen  sich  z.  B.  folgende  Versuche  mit  ihm  ausführen.  Man  läßt 
Buchstabsn,  Wörter,  Sätze,  Zahlen  schreiban,  während  der  Kymographstreifen 
unter  dem  Papier,  auf  dem  geschrieben  wird,  vorbaizieht.  Dann  kann  man  aus 
dem  Maßa,  in  dem  die  Schrift  auseinandergezogen  wird,  erkennen,  welche  Buch- 
staben oder  Teile  von  Buchstaban  schneller,  welche  langsamer  geschrieben  wer- 
den, an  welchen  Stellen  des  Wortes  oder  Satzes  abgesetzt  wurde  u.  dgl.  m. 

Läßt  man  eine  Rechnung  schreiben,  so  zeigt  die  Schreibung,  bei  welchen  Ziffern 
länger  nachgedacht  wurde,  welche  schneller  hingeschrieben  wurden.  Läßt  man 
eine  Zeichnung  ausführen,  so  zeigt  die  Schreibung,  welche  Teile  zuerst,  welche 
später  gezeichnet  wurden,  wann  eine  Pause,  wann  eine  Skizze  eingeschaltet,  wann 
nachgebessert  wurde  usw. 

Der  Apparat  wird  meist  für  rohere  Zeitmessungen  verwendet  werden.  Für  die- 
sen Zweck  ist  er  außerordentlich  vielseitig  verwertbar.  Er  gehört  ohne  Zweifel 
zu  den  brauchbarsten  und  empfehlenswertesten  Apparaten  der  experimentellen 
Psychologie  und  Pädagogik. 

Reiz-,  Reaktions-  und  Aufnahme-Apparate. 

Kp.  14  Elektrischer  Taster  (Mechaniker  Marx,  Bariin).  Der  Taster  ist  bereits 
in  Gruppe  III,  Nr,  18  angeführt  worden.  Er  dient  zur  Reaktion  bei  Reaktions- 
versuchen, zum  Markieren  von  Zeitpunkten  bei  den  Versuchen  B  (z.  B.  dazu,  den 
Zeitpunkt  der  Lösung  jeder  Aufgabe  oder  Teilaufgabe  zu  markieren  oder  zur 
Registrierung  eines  geklopften  Rhythmus).  Er  kann  auch  als  Reizinstrument  ver- 
wertet werden,  entweder  in  der  Weise,  daß  das  Geräusch  beim  Niederschlagen  des 
Tasters  als  akustischer  Reiz  gebraucht  wird,  oder  so,  daß  man  sich  darauf  einübt, 
genau  gleichzeitig  mit  dem  Aussprechen  des  Reizwortes  oder  der  Aufgabe  auf  den 
Taster  zu   drücken    oder   den   Taster   loszulassen. 

Kr.  15  Taster  für  Luftübertragung  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Unter  dem 
Tasterhebsl  ist  eine  Lufttrommel  aus  Gummi  eingesetzt,  welche  beim  Tasten  ein- 
gedrückt wird  und  dadurch  eine  Bewegung  des  Luftschreibers  (Nr.  26)  auf  dem 
Chronograph  oder  Kymograph  bewirkt.  Der  Taster  hat  entweder  einen  festen 
Anschlag,  so  daß  der  Schreiber  immer  um  den  gleichen  Betrag  ausschlägt  (a). 
Oder  er  hat  keinen  Anschlag;  dann  ist  der  Ausschlag  je  nach  der  Stärke  des 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


407 


Druckes  verschieden  (b).  Der  Taster  dieser  letzteren  Art  ist  bareits  in  Gruppe  III, 
Nr.  19  erwähnt  worden. 

Elektrischer  Lippenschlüssel  nach  Miiller-Pilzecker  (Mechaniker  Spind- 
ler und  Hoyer,  Göttingen).  Da3  Instrumentchen  dient  für  sprachliche  Reize 
und  Reaktionen  bei  den  Versuchen  A.  Es 
wird  an  einem  Stativ  befestigt.  Man  drückt 
den  unteren,  mit  einem  auswechselbaren  Bein- 
Mundstück  versehenen  Hebel  mit  der  Unter- 
'lippe  nach  oben  und  läßt  ihn  beim  Sprechen 
wieder  los.  Beim  Hinaufdrücken  ist  der  Kon- 
takt bsi  Ki  geschlossen,  der  bei  ^3  geöffnet; 
beim  Loslassen  wird  der  erstere  geöffnet,  der 
letztere  geschlossen.     Man  muß  sich  darauf 

einüben,  genau  gleichzeitig  mit  dem  Sprechen   den  Schlüssel  loszulassen,  imd 
muß  schnell,  stoßartig  sprechen,  damit  die  Zeitmessimg  genau  wird.   Das  Ver- 
fahren ist  genauer  und  sicherer  als  das  oben  erwähnte  Ver- 
fahren, gleichzeitig  mit  dem  Sprechen  einen  Taster  loszu- 
lassen. 

Einfacher  elektrischer  Zahnschlüssel  nach  Rupp 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).  Der  Zahnschlüssel  wird  ähnlich 
gebraucht  und  verwertet  wie  der  Lippenschlüssel.  Eine 
schraubsnartig  gebogene  Feder  drückt  die  zwei  Hebel  aus- 
einander. Man  beißt  diese  bei  ZZ  mit  den  Zähnen  zu- 
sammen und  läßt  sie  beim  Aussprechen  des  Reiz-  oder 
Reaktionswortes  los.  Dabei  wird  der  Kontakt  bei  K  ge- 
öffnet. 

Das  Instrument  hängt  lose  an  dem  Griff  Gr,  damit  man, 
während  man  es  im  Munde  hält,  nicht  mittels  des  Griffes 
einen  Druck  ausübt  und  ein  krampfhaftes  Zusammenbeißen 
des  Schlüssels  hervorruft. 

Einfacher  Zahnschlüssel  für  Luftübertragung 
nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).  Derselbe  Apparat  wie  der  vorige,  nur 
ist  an  Stelle  des  elektrischen  Kontaktes  eine  kleine  Gummitrommel  zwischen 
den  Hebeln  eingesetzt,  welche  beim  Zusammen- 
beißen des  Schlüssels  eingedrückt  wird  und  einen 
Ausschlag  des  Luftschreibers  (vgl.  Nr.  26)  ftuf  dem 
Chronograph  oder  Kymograph  bewirkt. 

An  Stelle  der  in  den  Mund  zu  nehmenden  Lippen- 
oder Zahnschlüssel  kann  man  auch  Schallschlüssel 
verwenden,  bei  denen  in  einen  Schalltrichter  gesprochen 
wird.  Die  Apparate  sind  empfindlich,  weshalb  ich  sie 
hier  nicht  anführe.  Eine  sehr  gute  Form  des  Schall- 
schlüssels hat  Lewin  konstruiert  (Mechaniker  Marx, 
Berlin). 

Einfacher  elektrischer  Expositionsschirm 
(Mechaniker  Marx,  Berlin).    Das  Objekt  wird  erst 

durch  den  Schirm  S  verdeckt,  dann  plötzlich  durch  Wegziehen  desselben  auf- 
gedeckt.   Bei   Beginn   der   Expasition  wird  ein   Kontakt  geöffnet,   indem  die 


j^^-A^-^*-^ 


Nr. 


408  Hans  Rupp 

Feder  F  am  unteren  Rande  des  Schirmes,  die  vorher  durch  das  Aufsetzen  des 
Schirmes  auf  den  Tisch  (u.  dgl.)  niedergedrückt  war  und  den  Kontakt  bei  K 
geschlossen  hatte,  nimmehr  beim  Wegziehen  des  Schirmes  zurückschnellt. 

Je  größer  das  Objekt,  desto  länger  dauert  die  Exposition.  Bei  kleinen  Objekten^ 
z.  B.  bei  dem  kleinen  Loch  in  einem  Schirm  des  Nuancierungsapparates  {Gruppe  I,. 
Nr.  20  und  21),  ist  die  Zeitmessung  daher  genau,  bei  Exposition  von  großen 
Bildern,  plastischen  Objekten  ist  sie  ungenau. 

Elektrische  Schreibfeder  nach  Kraepelin  -  Rupp  (Mechaniker  Spindler 
und  Hoyer,  Göttingen).   In  der  (stark  gezeichneten)  Griffhülse  ist,  um  die  Achse 

A  drehbar,  ein  Doppel- 
hebel    eingesetzt ,    der 
vorne  einen  Bleistift  (für 
Tastreize    einen    gebo- 
genen Hartgummistift) 
trägt.      Die    Feder     F 
drückt  den  hinteren  He- 
belarm     nach       oben. 
Drückt  man  aber,  z.  B.  beim  Schreiben  oder  bei  einem  Tastreiz,  den  Bleistift 
nieder,  so  wird  der  hintere  Arm  nach  unten  gedrückt  und  der  Kontakt  1 — 2  ge- 
öffnet, der  Kontakt  2 — 3  geschlossen. 

Der  Apparat  dient  für  Tastreize  und  für  die  Registrierung  fortlaufender  Schrift- 
marken, So  kann  man  z.  B.  eine  Reihe  einfacher  Rechenaufgaben  vorlegen  imd 
nach  Lösung  jeder  Aufgabe  einen  Strich  machen,  oder  das  Ergebnis  hinschreiben 
lassen.  Der  Chronograph  zeigt  die  Zeit  des  Striches  oder  des  Schreibens. 
sr.  21  Telephon,  als  akustischer  Reizapparat.  Es  gibt  beim  öffnen  oder  Schließen 
des  Stromes  ein  schlagartiges  Geräusch,  das  als  akustischer  Reiz  für  Reaktions- 
versuche  verwendet  werden  kann. 
"*'•  ^^  Schallhammer.  Er  dient  wie  das  Telephon  als  akustischer  Reizapparat. 
Ein  kleiner  Hammer  schlägt,  durch  einen  Elektromagneten  angezogen,  auf  einen 
Amboß.  Dabei  wird  ein  Kontakt  geschlossen,  der  zur  Registrierung  des  Zeitpunk- 
tes des  akustischen  Reizes  dient.  Der  Reiz  ist  stärker  als  im  Telephon. 

AkTistische  Reize  mit  gleichzeitigem  elektrischen  Kontakt  kann  man  auch  einfach 
durch  Aufschlagen  eines  Hammers  auf  eine  metallische  Unterlage  erzeugen.  Nur  ist 
die  Stärke  auch  bei  guter  Übung  nicht  so  gleichmäßig  wie  bei  elektromagnetischer 
Anziehung  das  Hammers. 

Cr.  2j  Einfacher  Pulsschreiber  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).  Ein  auf  einer 
verstellbaren  Feder  sitzender  Hartgummiknopf  drückt  auf  die  Pulsader  am  Hand- 
gelenk und  folgt  ziemlich  genau  den  Hebungen  und  Senkungen  der  Haut.  Durch 
Luftübsrtragmig  wird  die  Bewegung  einem  Luftschreiber  (vgl.  Nr.  26)  mitgeteilt. 

Jr.  2i  Einfacher  Atemschreiber  (Mechaniker  Zimmermann,  Leipzig).  Ein  luft- 
gefüllter Schlauch  wird  um  Brust  oder  Bauch  gebunden  und  mit  einem  Luft- 
schreiber  gekoppelt.  Wenn  sich  die  Brust  beim  Atmen  ausdehnt,  wird  der  Schlauch 
zusammengedrückt  und  ein   Ausschlag  des   Schreibers  erzeugt. 

Über  weitere  Aufnahmeapparate  zur  Bestimmung  des  Sclu-iftdruckes,  von  Augen- 
bewegungen (z.  B.  beim  Lesen),  der  Stärke  des  Atems,  der  Volimiänderung  des  Airmes, 
infolge  des  Pulses,  der  Bewegungen  beim  Betasten  von  Strecken  visf .  vergleiche  man  die 
KÄtaloge  der  Mechaniker  Marx-Berlin,  Petzold-Leipzig,  Spindler  und  Hoyer- Qöttingen 
und  Zimmennann-T-«ipzig. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  409 


Schreibvorrichtungen  u.  dgl. 

Einfacher   elektrischer    Schreiber  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).  Nr. 2ä 

Einfacher     Luftschreiber    {Mechaniker   Petzold,    Leipzig),   mit   Marey-    Nf.  aß 
Trommel  für  Luftübertragung. 

Stativ  mit  Zahntrieb  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).  Durch  Drehen  einer   Kr.i^ 
Kordelschrauba  wird  der  Schlitten  mit  den  Schreibern  nach  oben  oder  unten 
bewegt.    Das  Stativ  ist  so  aufzustellen,  daß  die  Verschiebung  genau  parallel 
zur  Trommelachse  erfolgt  (vgl.  den  Hauptkatalog  des  Mechanikers  Spindler  und 
Hoyer,  Göttingen). 

Berußungseinrichtung  (Mechaniker  Petzold,  Leipzig).  nv.  öm 

Die  Apparate  zum  Auslösen  oder  immittelbaren  vSchreiben  von  Zeitmarken  (Minuten, 
Sekunden,  ^'5  Sekunden,  V20  Sekimden  visw.)  sind  in  Gruppe  IX.  angeführt. 

Apparate  anderer  Gruppen,   die  auch  hier  verwertbar  sind. 

Als  optische  Reizapparate  für  Reaktionsversuche  sind  folgende  Apparate  zu 
verwerten. 

Die  Gedächtnisapparate  mit  Ruckbewegung ,  Gruppe  VII,  Nr.  1,  2 
und  6,  sofern  im  Augenblick,  wo  der  Ruck  erfolgt  nnd  das  Reizwort  erscheint, 
ein  Kontakt  geöffnet  oder  geschlossen  wird.  Die  Kontakteinrichtung  ist  bei  allen 
Apparaten  vorgesehen. 

Bei  der  Ruckbewegung  sieht  man  das  Wort  in  dsts  Feld  hineinrücken.  Das  wird 
vermieden  bei  dem  Expositionsapparat.  Gruppe  VII,  Nr.  5  zu  den  Gedächtnis- 
apparaten 1 — 4.  ^ 

Die  in  der  letzten  Gruppe  IX  zu  beschreibenden  Tachistoskope  sind  mit  Kon- 
takten versehen,  die  im  Augenblick  der  Exposition  geschlossen  oder  geöffnet  werden, 
sodaß  die  Apparate  als  Reizapparate  dienen  können.  Die  Exposition  braucht  dabei 
nicht  tachistoskopisch  zu  sein;  der  Spalt  kann  meistens  so  weit  gewählt  werden,  daß 
dauernd  exponiert  wird. 

Wie  die  Gedächtnisappate  mit  Ruckbewegiuig,  so  ist  auch  der  oben  erwähnte 
Expositionsapparat  nach  Duchessi  -  Rupp  Nr.  12  als  Reizapparat  für  optische 
Reaktions versuche  zu  verwerten. 

Endlich  gehört  das  Stereoskop  für  plötzliche  Exposition  nach  Rupp, 
Gruppe  II,  Nr.  70  hierher,  sofern  man  einen  Kontakt  anbringt,  der  bei  der  Ex- 
position geschlossen  wird. 

Als   Tast-    und    Gewichts-Reizapparate   sind    zu   verwerten: 

Das  einfache  Gewichtsästhesiometer  nach  Rupp,  Gruppe  IVA,  Nr.  2,  vmd 
die  Gewichtsvariationen,  Gruppe  IVB,  Nr.  12  und  13,  wenn  man  Kontaktvor- 
richtungen anbringt,  die  im  Augenblick  des  Reizes  geöffnet  werden. 

An  Reaktionsinstrumenten  früherer  Gruppen  ist  das  Tasterklavier,  Gruppe  VL 
Nr.  10  zu  erwähnen.  Man  kann  auf  das  Vorzeigen  versclüedener  Noten,  Buclistaben, 
Ziffern  usw.  verschiedene  Taster  mederdrücken  lassen  (analog  dem  Klavier  und  analog 
der  Sclireib-  \ind  Rechenmaschine)  und  die  Reaktionszeiten  und  ihre  allmähliche  Ver- 
kürzung studieren.  Wie  die  einfachen  Taster  kann  auch  das  Klavier  mit  elektrischen 
KontakteiT  oder  für  Luftübertragung  eingerichtet  werden. 
An  Aufnahmeapparaten  sind  in  Gruppe  VI  beschrieben: 

Dynamograph  nach  Smedley  JN^r.  3;  Dynamograph  nach  Weyler  Nr.  5,  die 
Ergographen  nach  Mosso  vmd  Dubois,  Nr.  6  und  7;  die  Kontaktapparate  Nr.  8 
bis  13  und  16  bis  21;  endlich  der  Tremograph  nach  Vierordt  Nr.  15. 

Auch  der  Phonograph  Gruppe  III,  Nr.  17,  gehört  zu  den  kymographischen  Auf- 
«ahmeappar  a  ten . 


410  Haois  Rupp 

IX.  Gruppe:  Zeitregelung. 

(Arbeitunterbrechende,  reizunterbrechende  oder  tachistoskopische 

und   Zeitsinn-Versuche). 

Bei  der  Zeitmessung  werden  die  Vorgänge  in  den  zufälligen  Längen  und 
Pausen,  in  denen  sie  sich  eben  abspielen,  gemessen.  Hier  wird,  wie  schon  früher 
auseinandergesetzt,  die  Zeit  geregelt;  man  gibt  z.  B.  eine  bestimmte  Zeit  vor 
imd  prüft,  was  in  dieser  Zeit  geleistet  wird,  oder  prüft,  wie  diese  Zeit  beurteilt 
wird.    Dort  wird  die  Zeit,    hier  der  Erfolg,  die  Arbeit,   das  Urteil  bestimmt. 

Die  Regelung  der  Zeit  kann  verschiedene  Zwecke  haben;  ich  führe  die  wich- 
tigsten an. 

1.  Früher  b  :!Z8ichneten  wir  diejenige  Aufgabe  als  leichter  oder  geläufiger,  welche 
in  kürzerer  Zeit  gelöst  wurde.  Hier  vergleichen  wir  die  Aufgaben  dadurch,  daß 
wir  die  Arbeitszeit  beschränken  und  fragen,  welche  Aufgabe  in  dieser  Zeit  gelöst 
wird,  welche  nicht;  welche  besser,  welche  schlechter  gelöst  wird;  von  welcher 
ein  größerer,  von  welcher  ein  kleinerer  Teil  gelöst  wird.  In  ähnlicher  Weise  wie 
die  Aufgaben  vergleichen  wir  Arbeitsmethoden,  Individuen,  Übungs-  und  Er- 
müdungsstadien, usw. 

Wir  müssen  die  Arbeitszeit  so  beschränken,  daß  die  Aufgaben  im  allgemeinen 
nicht  vollständig  gelöst  werden ;  denn  sonst  würden  die  Unterschiede  zwischen  den 
Lösungen  der  Aufgaban  wegfallen.  Wir  müssen  vielmehr  die  Arbeit  vor  der  Voll- 
endung imterbrechen.  Ich  will  die  Versuche  als  Versuche  mit  Arbeits- 
unterbrechung bezeichnen. 

Bei  kurzen  Arbeiten,  z.  B.  beim  Lesen  einzelner  Worte,  beim  Auffassen  einzelner 
Bilder,  Gegenstände  müßte  der  Vorgang  durch  sehr  schnell  und  sicher  wirkende  ab- 
lenkende Reize  künstlich  unterbrochen  werden.  Die  Technik  solcher  Versuche  ist 
noch  wenig  entwickelt. 

So  hat  man  in  der  Gedächtnislehre  untersucht,  welche  Stoffe  in  einer  bestimm- 
ten,  gegebenen  Zeit  besser  gelernt  werden,  welche  Lernmethoden,  welche  Arten 
der  Darbietung  eine  bessere  Einprägung  ergeben.  Auch  Individuen  und  verschie- 
dene Altersstufen  hat  man  auf  diese  Weise  verglichen. 

Die  erwähnten  Baispiele  entsprechen  den  Versuchen  A  der  vorigen  Gruppe: 
es  wird  ein  einzelner  Vorgang  unterbrochen.  Ebenso  gibt  es  zu  den  Versuchen  B 
analoge  Versuche  in  dieser  Gruppe.  Man  unterbricht  eine  länger  dauernde  Arbeit 
oder  eine  Reihe  gleichartiger  Aufgaben  (z.  B.  Rechnungen,  Unterstreichen  aller  e 
in  einem  Text,  Druckfehlerkorrektur)  in  bestimmten  Zeitpunkten,  etwa  alle  Minu- 
ten, und  stellt  den  Erfolg  in  jeder  Minute  fest.  Früher  wurde  bestimmt,  wieviel 
Zeit  die  einzelnen  natürli  chen  Abschnitte  der  Arbeit  beanspruchen.  Hier  werden 
künstliche  Einschnitte  gemacht,  und  es  wird  der  Erfolg  in  jedem  Abschnitt 
bestimmt.  Man  kann  auch  hierbei  einigermaßen  entnehmen,  welche  Teilaufgaban 
langsamer,  welche  schneller  gelöst  werden.  Vor  allem  aber  erfährt  man,  wie  in- 
folge der  Übung,  des  In -Zug -Kommens  usw.  in  gleichen  Zeiten  allmählich 
mehr,  zufolge  Ermüdung,  Abstumpfung  usw.  allmählich  weniger  Aufgaben  gelöst 
werden. 

Die  Versuche  C  sind  für  die  «ettmessenden  und  «eitregelnden  Versuche  meist  gleich. 
Gewöhnlich  wird  nämlich  bei  den  kymograplüschen  A\if nahmen  der  Erfolg  kontinuier- 
lich fortlaufend,  also  für  jeden  Zeitpunkt  aufgeschrieben ^  In  einer  solchen  Kurve 


Problem©  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  4.XI 

ist  ebensowohl  der  Erfolg  in  künstlich  gewählten  Zeitpunkten  (z.  B.  am  Ende  jeder 
Minute)  wie  in  den  natürlichen  Abschnitten  enthalten.  — 

Sind  solche  Versuche  mit  Zeitregelung  nicht  überflüssig?  Ist  es  nicht  einfacher 
und  natürlicher,  die  Zeit  jeder  einzelnen  Aufgabe  und  Teilaufgabe  zu  messen, 
also  zeitmessende  Versuche  anzustellen?  Die  Versuche  mit  Zcitregelimg  bieten 
manche  Vorteile,  die  ihre  Verwendung  neben  den  zeitmessenden  Versuchen  recht- 
fertigen. Man  kann  ohne  Vermehrung  der  Apparate  Massenversuche  an- 
stellen; denn  das  unterbrechende  Zeichen  gilt  für  alle  Beobachter,  während  bei 
Zeitmessung  die  zufällige  Arbeitszeit  jedes  einzelnen  Beobachters  bestimmt  wer- 
den muß.  Zweitens  ist  die  Technik  insofern  einfacher,  als  die  Beschränkung 
der  Arbeitszeit  auch  für  verschiedene  Versuche  mit  ein  und  demselben  Be- 
obachter die  gleiche  bleibt,  während  die  volle  Arbeitszeit,  die  bei  den  zeit- 
messenden Versuchen  bestimmt  wird,  beständig  wechselt. 

Arbeitsunterbrechung  kann  auch  andere  als  die  oben  angegebenen  Zwecke 
haben.  Man  unterbricht  einen  geistigen  Vorgang  an  verschiedenen  Stellen,  ledig- 
lich um  die  einzelnen  Entwicklungsstadien  besser  beobachten  zu  können  oder 
um  aus  den  Fehlern  auf  die  Stadien  schließen  zu  können.  Ferner  kann  die 
Unterbrechung  bezwecken,  den  Vorgang  zu  erschweren  und  damit  zu  verzögern, 
80  daß  er  wieder  leichter  zu  beobachten  ist.  — 

2.  Wie  die  Arbeit,  so  kann  man  auch  den  Reiz  unterbrechen.  Man  kann  solche 
Versuche  als  Versuche  mit  Reizunterbrechung  bezeichnen;  gewöhnlich 
nennt  man  sie  tachistoskopische,  d.  h.  Kurzseher-Versuche. 

Eine  Farbe,  ein  plastischer  Eindruck  oder  sonstige  Eindrücke  müssen  eine  ge- 
wisse Zeit  wirken,  damit  sie  erkannt  werden.  Ebenso  muß  ein  Wort,  eine  Zahl, 
ein  Bild  eine  gewisse  Zeit  gegeben  sein,  damit  sie  voll  erfaßt  werden  können. 
Je  schwieriger,  zusammengesetzter  der  Eindruck  ist,  eine  je  genauere  Erfassung 
verlangt  wird,  desto  länger  muß  der  Reiz  wirken.  Man  kann  von  Zeitschwelle  oder 
von  minimaler  Reizdauer  sprechen. 

Eine  erste  Aufgabe  der  reizunterbrechenden  oder  tachistoskopischen  Versuche 
ist,  die  minimale  Reizdauer  zu  bestimmen.  Wir  machen  den  Reiz  syste- 
matisch länger  und  kürzer  und  suchen  die  kürzeste  Dauer  heraus,  bei  welcher 
der  Reiz  vollständig  erfaßt  wird.  So  hat  man  die  Schwelle  verschiedener  Farben 
für  Normal-  und  für  Schwachsichtige  bestimmt. 

Ähnlich  könnte  man  bei  Arbeitsunterbrochung  verf  ahpen,  um  die  Zeitdauer  einer  Auf- 
gabe oder  der  einzelnen  Teile  einer  zusammengesetzten  Aufgabe  zu  bestimmen.  Man 
müßte  die  Arbeit  zu  verschiedenen  Punkten  unterbrechen  und  die  kürzeste  Zeit 
suchen,  bei  welcher  sie  gelöst  wird.  Allein  meistens  steht  lüer  der  viel  einfachere  Weg 
zur  Verfügung,  daß  man  den  Zeitpunkt,  in  dem  die  Arbeit  vollendet  ist,  direkt  markiert, 
z.  B.  mittels  einer  Reaktion,  und  so  die  Arbeitsdauer  schon  aus  einem  einzigen  Ver- 
«uch  bestimmt.  Zur  Bestimmung  der  minimalen  Reizdauer  ist  dieses  letztere  zeit- 
messende  Verfahren  wegen  der  kurzen  Reizdauer   nicht  zu  gebrauchen. 

Die  wichtigste  Aufgabe  der  reizunterbrechenden  Versuche  ist  ganz  analog  der 
Aufgabe  der  unter  1  beschriebenen  arbeitunterbrechenden  Versuche.  Man  ver- 
gleicht verschiedene  Aufgaben,  Individuen  usf.,  indem  man  die  Reizdauer  be- 
schränkt, so  daß  die  Aufgaben  im  allgemeinen  nicht  vollständig  gelöst  werden. 
Diejenige  Aufgabe  ist  leichter,  geläufiger,  die  besser,  mit  weniger  Fehlern,  voll- 
ständiger, oder  —  bei  Wiederholung  derselben  Aufgabs  —  die  häufiger  gelöst 
wird. 


412  Hans  Rupp 

Auf  diese  Weise  kann  man  die  Erkennbarkeit  verschiedener  Buchstaben,  Wör- 
ter, Zahlen,  vön  verschiedenen  Schriften,  Zahlenbildern  (beim  ersten  Rechen- 
unterricht), Gegenständen,  Bildern  usf.  vergleichen,  indem  man  bestimmt,  welche 
Objekte  bei  kurzer  Exposition  erkannt  werden,  welche  nicht,  welche  besser  erkannt 
werden,  welche  schlechter,  welche  bsi  Wiederholung  der  Versuche  häufiger  richtig 
erkannt  werden,  welche  seltener.  So  konnte  man  feststellen,  daß  kurze  Wörter 
bei  ebenso  kurzer  Exposition  erkannt  werden  wie  einzelne  Buchstaben,  zwei- 
und  dreistellige  Zahlen  in  ebenso  kurzer  Zeit  wie  einstellige.  Ähnlich  werden 
Figuren,  Gestalten  vielfach  bei  ebenso  kurzer  Exposition  erfaßt  werden  wie  ein- 
fache Linien,  die  als  Teile  in  ihnen  vorkommen  usf. 

Reizunterbrechung  kann,  ähnlich  wie  die  Arbeitsunterbrechung,  auch  ledig- 
lich den  Zweck  haben,  über  die  Natur  des  Vorganges  der  Erkennung  usw.  Auf- 
schluß zu  geben,  indem  sie  die  Beobachtung  erleichtert  und  charakteristische 
Fehler  erzeugt.  Wenn  der  Vorgang  infolge  des  zu  kurzen  Reizes  imvollkommen 
ist,  kommen  die  Entwicklungsstadien  klarer  zum  Bewußtsein,  oder  er  wird 
länger  auseinander  gezogen,  was  wieder  die  Beobachtung  fördert.  Ferner  ent- 
stehen Fehler,  aus  denen  man  auf  die  Entwicklungsstadien  schließen  kann. 

Die  reizunterbrechenden  Versuche  haben  ebenso  wie  die  arbeitunter  brechenden 
den  Vorzug,  daß  man  Massen  versuche  anstellen  kann,  und  daß  die  Technik  relativ 
einfach  ist. 

3.  Die  zeitregelnden  Versuche  werden  vielfach  zur  Bestimmung  des  sogenannten^ 
„Umfanges  der  Aufmerksamkeit"  benützt.  Man  will  feststellen,  wieviel 
Arbeit,  geistige  Energie  zu  gleicher  Zeit  geleistet  werden  kann. 

Man  hoffte  durch  einen  fast  momentanen  Reiz  auch  eine  fast  momentane  Arbeit 
zu  erreichen.  Was  aber  fast  in  einem  Zeitpunkt  geschieht,  kann  nicht  aus  mehreren 
aufeinanderfolgenden  Vorgängen  bestehen ;  wenn  also  überhaupt  mehrere  Leistun- 
gen enthalten  sind,  müssen  sie  gleichzeitig  nebeneinander  herlaufen. 

Diese  Folgerungen  treffen  allerdings  nicht  zu.  Dem  momentanen  Reiz  entspricht, 
namentlich  bei  chemischen  Sinnen  wie  dem  Auge,  keineswegs  eine  ebenso  momen- 
tane Empfindung;  dazu  kommt,  daß  der  Eindruck  durch  das  Gedächtnis  fest- 
gehalten werden  kann.  Vor  allem  aber  dauert  die  Verarbeitung,  Auffassung,  Be- 
nennung usw.  wesentlich  länger  als  der  tachLstoskopische  Reiz,  Es  sind  Fälle 
sicher  beobachtet,  wo  ein  Wandern  der  Aufmerksamkeit,  ein  sukzessives  Durch- 
arbeiten verschiedener  Teile  stattgefimden  hat.  Immerhin  kommt  man  dem 
Ziel  näher  als  bei  längeren  Reizen. 

Es  liegt  nahe,  die  Arbeitsdauer  statt  der  Reizdauer  zu  beschränken.  Solche  Ver- 
suche sind  noch  nicht  ausgeführt;  es  fragt  sich,  ob  es  hinreichend  sicher  ablenkende 
Reize  gibt. 

Die  üblichen  Versuche  zur  Bestimmung  des  Aufmerksamkeitsumfanges  werden 
so  ausgeführt,  daß  man  feststellt,  wieviel  Buchstaben,  Ziffern  u.  dgl.  bei  sehr  kurzer 
Expositionszeit  (z.  B.  Ics  =  Vioo  Sek.)  entweder  deutlich  gesehen  oder  gezählt 
oder  gelesen  werden  können,  indem  angenommen  wird,  daß  infolge  der  kurzen 
Exposition  die  Erfassung  aller  Buchstaben  usw.  gleichzeitig  stattfindet.  Die  Zu- 
sammenstellimg  der  Buchstaben  soll  sinnlos  und  ungewohnt  sein,  damit  jeder  ein- 
zelne Buchstabe  für  sich  erfaßt  werden  muß.  Es  soll  ja  durch  die  Zahl  der  Buch- 
stabenerfassungen der  Umfang  der  Energie  gemessen  werden.    Man  darf  also 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik 


41S 


nicht  sinn  volle  Wörter  oder  selbst  aussprechbare  Zusammenstellungen  von  Buch- 
staben wählen, 

4.  Zeitregelnde  Versuche  sind  endlich  zur  Untersuchung  des  Zeitsinns  nötig. 
Man  gibt  Töne,  Geräusche,  Lichtreize  usf.  von  verschiedener  Dauer  oder  klopft 
oder  gibt  Lichtblitze  in  verschieden  schneller  Folge  und  läßt  Dauer  imd  Zeitfolge 
beurteilen  und  mit  anderen  vergleichen.  Weitergehend  kann  man  fortlaufende 
Tempi  und  kompliziertere  Rhythmen  beurteilen  und  vergleichen  lassen.  Wer 
kann  fester,  richtiger  beurteilen,  genauer  vergleichen  ?  Von  praktischem  W^ert 
sind   auch  Versuche  mit  längeren  Zeiten   von  Minuten,  Stunden,  Tagen  usf. 

Zu  den  Zeitsinnversuchen  gehören  auch  die  sog.  Komplikations versuche. 
Es  ist  zu  bsurteilen,  ob  zwei  verschiedenartige  Reize  gleichzeitig  erfolgen  oder 
nicht,  und  welcher  früher  kommt.  Die  Durchgangsbeobachtmigen  der  Astronomen 
bieten  ein  Baispiel.-  Je  nachdem  die  Aufmerksamkeit  mehr  dem  einen  oder  andern 
Reiz  zugewendet  ist,  entstehen  Zeittäuschungen.  Der  mehr  bsachtete  Reiz 
scheint  früher  zu  kommen. 


Kr. 


Ich  führe  nun  die  Apparate  an:  Tachistoskope  (Kurz- Seher),  Kontaktapparate 
zur  Herstellung  von  Zeiten  verschiedener  Länge;  Zeitmarkierer,  die  fortlaufend 
Kontakte  in  schnellerem  oder  langsamerem  Tempo  erzeugen,  z.  B.  für  die  Zeitkurve 
bei  chronoskopischen  und  kymographischen  Versuchen.  Zum  Schluß  einige  Reiz- 
serien für  bestimmte  Versuche. 

Einfaches  Falltachistoskop  (Mechaniker  Zimmermann,  Leipzig).  Das  »t.  t 
Prinzip  des  Apparates  ist  hinreichend  bekannt.  Maximale  Feldgröße 
15  X  6  cm.  Größere  Änderungen  der  Ge- 
schwindigkeit des  Fallschirmes  S  werden  durch 
entsprechende  Gegengewichte  G  erzeugt,  die 
feinere  Regulierung  durch  Verengen  und  Er- 
weitern des  Spaltes.  Die  Klappe  D  dient  dazu, 
das  Reizobjekt  zu  verdecken,  während  der 
Fallschirm  hochgezogen  wird  (z.  B.  vor  Wie- 
derholung eines  Versuches). 

Schul -Falltachistoskop  (Mechaniker  Zim- 
mermann, Leipzig).  Der  vorige  Apparat  ist  ver- 
einfacht. Fallschirm  ohne  Gegengewicht,  Spalt- 
öffnung nicht  verstellbar.  Die  Fallgeschwin- 
digkeit wird  durch  eine  Feder  verändert,  die 
durch  eine  Regulierschraube  mit  Ablesung 
mehr  oder  weniger  an  den  fallenden  Schirm 
angedrückt  wird  und  dadurch  die  Bewegung 
mehr  oder  weniger  dämpft.  Ausführung  mög- 
lichst einfach  in  Holz. 

Rotationstachistoskop  nach  Netschajeff 
(Mechaniker  Zimmermann,  Leipzig).    Die  Figur 

zeigt  den  Apparat  von  hinten  gesehen.  Der  Beobachter  hat  die  Vorderseite, 
ein  gleichmäßig  schwarzes  Brett  mit  dem  Ausschnitt  D  (65  x  50  mm)  vor 
sich,  durch  welches  er  das  Reizobjekt  0  sieht,  das  in  der  Figur  nach  links 
zurückgeklappt  gezeichnet  ist. 


Nr.  S 


414 


Hans  Rupp 


Nr.  4 


Spa/r 


Die  tachistoskopische  Exposition  wird  dadurch  bewirkt,  daß  die  zwei 
Flügel  F  und  N  durch  die  Kraft  des  Gewichtes  G  an  der  Öffnung  D  vor- 
beibewegt werden.  In  der  Ausgangslage 
deckt  der  untere  Flügel  N,  in  der  End- 
lage der  obere,  verstellbare  Flügel  F  die 
Öffnung.  In  der  Zwischenzeit  ist  das 
Objekt  so  lange  sichtbar,  als  der  freie, 
zwischen  den  Flügeln  liegende  Sektor  an 
D  vorbeizieht.  Diese  Zeit  beträgt  je 
nach  der  Stellung  des  Flügels  F  0 — 15 
CS  (es  =  i/ioo  Sek.). 

Pendeltachistoskop  nach  Rupp  (Me- 
chaniker Marx,  Berlin).  Der  Apparat  hat, 
ähnlich  dem  vorigen  Apparat  (mit  dem 
er  ungefähr  gleichzeitig  entstanden  ist) 
zwei  gegeneinander  verstellbare  Sektoren 
S1S2.  Die  Bewegung  wird  jedoch  durch 
ein  Übergewicht  (geschrafft)  erzeugt,  das 
die  Sektoren  in  eine  Pendel-Bewegung 
versetzt.  Das  zweite  Gewicht  (schwarz)  hat  nur  den  Zweck,  das  Gewicht 
des  verstellbaren  Sektors  S2  auszugleichen,  so  daß  der  Schwerpunkt  des 
Pendels  durch  Verstellen  des  Sektors 
nicht  wesentlich  verschoben  wird. 

In  der  Ausgangslage,  wie  sie  die 
Figur  zeigt,  deckt  der  untere  Rand 
von  Si  die  Öffnung  eines  davorste- 
henden Schirmes  und  damit  das  Reiz- 
objekt. Dieses  letztere  wird  sichtbar, 
wenn  das  Pendel  seine  tiefste  Lage, 
also  die  größte  Geschwindigkeit —  be- 
sitzt. Beim  Weiterschwingen  deckt 
der  zweite  Sektor  S2  das  Objekt  ab. 
Nahezu  am  Ende  der  Schwingung, 
also  wenn  das  Pendel  fast  still  steht, 
wird  es  von  einer  federnden  Nase 
aufgefangen.     Man  kann  den  Sektor 

S2  so  weit  nach  unten  schieben,  daß  er  auch  bei  der  Endlage  des  Pendels 
die  Öffnung  noch  nicht  verdeckt.  In  diesem  Falle  wird  das  Objekt  nicht 
tachistoskopisch  (d.  h.  kurze  Zeit),  sondern  dauernd  exponiert,  wie  bei 
den  meisten  Reizapparaten  für  Reaktionsversuche  (vgl.  Gruppe  VII,  Nr.  5, 
Gruppe  VIII,  Nr.  12  und  19). 

In  den  Momenten,  in  denen  die  Mitte  des  Objektes  0  abgedeckt  und  ver- 
deckt wird,  wird  je  ein  Kontakt  erzeugt.  Dadurch  kann  man  die  Exposi- 
tionszeiten mittels  eines  Chronographen  bestimmen,  ferner  kann  der  erste 
Kontakt  für  Reaktionsversuche  verwertet  werden  (mit  tachistpskopischer 
oder  Dauerexposition,  vgl.  Gruppe  VIII). 

Zum  Unterschied  von  anderen  Apparaten   sind  hier  die  Sektoren  so  ge- 


Pende/tac/j/s/os/cop    6ec/äc/?/-msspp. 


Probleme  und  Apparate  zur  experimentellen  Pädagogik  415 


arbeitet,  daß  man  sie  dicht  vor  irgendwelchen  Objekten  vorbeischwingen 
lassen  kann,  ohne  daß  Teile  des  Apparates  im  Wege  stünden.  Insbesondere 
läißt  sich  der  Apparat  mit  den  Gedächtnisapparaten  Gruppe  VII,  1—4,  ver- 
binden (vgl.  die  Figur). 

Die  Sektoren  sind  weiß,  damit  beim  Erscheinen  der  meist  auf  weißes 
Papier  geschriebenen  oder  gedruckten  Reizzeichen  kein  störender  Lichtwechsel 
entsteht. 

Da  das  ursprüngliche  Modell  für  pädagogische  Zwecke  zu  teuer  wäre,  so  ist  ein 
einfacheres  und  dennoch  für  unseren  Zweck  ausreichendes  Modell  vorbereitet 
worden. 

Momentverschlußtachistoskop  nach  Minnemann  (Mechaniker  Marx,  Ni-s 
Berlin).  Der  übliche  Jalusieverschluß  der  photographischen  Kamera  ist  in  größe- 
ren Dimensionen  ausgeführt,  so  daß  ein  horizontales  Objekt  von  ca.  40  cm  Breite 
und  10  cm  Höhe  exponiert  werden  kann.  Kontakte  ermöglichen  die  Messung  der 
Expositionszeit  mittels  eines  Chronographen.  Der  Jalusieverschluß  funktioniert 
nicht  so  exakt  wie  die  übrigen  Tachistoskope. 

Vor  den  Tachistoskopen  Nr.  1—3  hat  der  Apparat  den  Vorzug,  daß  er  trotz  des 
größeren  Expositionsfeldes  weniger  Raum  einnimmt  und  bequemer  zu  trans- 
portieren ist. 

Zum  Gedächtnisapparat  nach  Lipmann-Marx  (Gruppe  VII,  Nr.  1  und  2):  sr.ts 
Schleudertachistoskop  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Zwei  inein- 
andergesteckte  Kymographiontrommeln,  an  der 
rechten  Seite  offen;  beide  haben  einen  horizon- 
talen Schlitz   von  mehr  als  einem  Viertelkreis 
Höhe.  Der  Schlitz  der  äußeren  Trommel  reicht        k 
von  a  bis  a',  der  der  inneren  von  i  bis  i' .    Die      ^- 
innere  Trommel  ist  an  der  Achse  A  befestigt. 
Die  äußere  wird  durch  die  innere  getragen  und 
kann    um  sie  gedreht   werden.      Durch   diese 
Drehung  kann  der  Spalt  a  i   weiter  oder  enger 
gemacht  werden. 

Die  Doppeltrommel  wird  durch  eine  Feder  ganz  ähnlich  wie  das  Federkymo- 
graphion  nach  Schulze  (Gruppe  VII,  Nr.  9)  einmal  herumgeschleudert.  Dabei 
zieht  der  Spalt  a  i'  vor  der  Trommel  des  Gedächtnisapparates  innen  vorbei  und 
läßt  Worte  (u.  dgl.)  nur  einen  Augenblick  sehen.  Damit  nur  ein  Wort  expo- 
niert wird,  wird  der  Schirm  des  Gedächtnis apparates  vor  dem  Tachistoskop  be- 
festigt. Je  nach  der  Größe  des  Spaltes  a  i'  ist  die  Expositionszeit  länger  oder 
kürzer.     Bei  der  größten  Öffnung  wird  das  Objekt  dauernd  exponiert. 

An  der  Achse  t  sind  zwei  verstellbare  Stäbe  angebracht,  welche  bei  der  Drehung 
Kontakte  auslösen.  Stellt  man  sie  so  ein,  daß  die  Kontakte  im  Augenblick  be- 
tätigt werden,  wo  das  Objekt  sichtbar  wird  bzw.  verschwindet,  so  kann  man  die 
Expositionszeit  für  jede  Spaltweite  bestimmen. 

Einfaches    Kontaktpendel  nach  Rupp  (Mechaniker  Marx,  Berlin).    Das  Nr.  7 
untere  Ende  der  Pendelstange  schwingt  an  einem  Kreisbogen  vorbei,  der  mit  einer 
Teilung  versehen  ist,  und  auf  dem  Kontakte  an  bsliebigen  Stellen  aufgesetzt 
werden  kann.    Das  Pendel  löst  bsim  Vorb^ischwingen  Kontakte  aus. 

Die  Schwingungsdauer  des  Pendels  kann  durch  Verschieben  des  unteren  Pendel- 


416 


Hans  Rupp 


Nr.  8 


Nr.  9 


Mr.    1« 


gewichtes  G  nach  unten  und  des  obsren  Gewichtes  G'  nach  oben  stark  verlängert 
werden.   Sie  ist  bei  gleicher  Stellung  der  Gewichte  sehr  konstant,  wird  auch  (in- 
folge der  relativ  großen  Masse  des  Pendels) 
durch  das  Auslösen  der  leichten  Kontakte 
nicht  merkbar  beeinflußt. 

Man  bestimmt,  nachdem  man  die  Stellung 
der  Gewichte  gewählt  hat,  die  Zeitpunkte, 
in  welchen  das  Pendel  bei  der  Hin-,  event. 
auch  Rückschwingung  an  mehreren  Stellen 
des  Bogens  vorbeischwingt,  indem  man  meh- 
rere Kontakte  auf  den  Bogen  verteilt  und  sie 
mit  einem  elektromagnetischen  Schreiber 
eines  Chronographen  verbindet.  Durch  Inter- 
polation (am  einfachsten  zeichnerisch)  er- 
hält man  auch  für  die  übrigen  Stellen  der 
Kreisteilung  die  Zeitpunkte,  und  hat  somit- 
die  Teilung  geeicht. 

Man  kann  nunmehr  durch  entsprechendes 
Einstellen  der  Kontakte  sofort  jedes  bäliebige  Zeitintervall  zwischen  zwei  oder 
mehreren  Kontakten  herstellen,  durch  Telephon-  oder  Klingelzeichen  usw.  ent- 
sprechende Reize  geben  und  die  Zeiten  und  Rhythmen  vergleichen  und  be- 
urteilen lassen. 

Einfacher  Zusatz  für  Komplikationsversuche  nach  Rupp  (Mecha- 
niker Marx,  Bariin).  Unter  dem  Bogen  mit  der  Kreisteilung  wird  ein  ähnlich 
gebogener  Blechstreifen  mit  einer  deutlich  sichtbaren  Teilung  befestigt.  Davor 
wird  ein  Schirm  aufgesteckt,  welcher  alles  Übrige  verdeckt.  Ferner  wird  an 
das  Pendel  ein  Zeiger  befestigt,  welcher  vor  der  eben  erwähnten  Teilung  spielt, 
ManJäßt  nun  den  Zeiger  an  der  Teilung  vorbeischwingen  und  zugleich  an  irgend- 
einer Stelle  einen  Kontakt  imd  durch  diesen  ein  Klingelzeichen  u.  dgl.  auslösen. 
Der  Beobachter  soll  angeben,  bei  welchem  Teilstrich  der  Zeiger  war,  als  er  das 
Zeichen  hörte. 

Chronometer  nach  Jaquet.  Der  Schreibhebel  d  wird  entweder  alle  Sekunden 
oder  alle  Vs- Sekunden  em- 
porgeschnellt.    Man  kann 
also    auf    Rußpapier  eine 
Zeitmarke  schreiben. 

Gleichzeitig   wird  bei  e 
alle  Sekimden  oder  Vs" Se- 
kunden   ein  Kontakt    ge- 
öffnet.   Man  kann  also  die 
2Seitmarke       auch      durch 
einen   elektromagnetischen 
Schreiber  schreiben. 
Die  Uhr  geht  sehr  exakt  und  konstant  etwa  6  Stunden. 
Die  genauere  Beschreibung  und  Handhabung  siehe  im  Katalog  des  Mechanikers 
Spindler  und  Hoyer  (Göttingen). 
Kontaktmetronom.    Die  Stift«  Ss'  tauchen  am  Ende  jeder  Schwingung  de^ 


Probleme  und  Apparate  zur  exporimentellen  Pädagogik 


417 


Mstronompendsls  in  die  der  Höhe  nach  verstellbaren  Qaecksilb^.niäpfe  Q.    Man 
kann  also  neb2n  dan  gewöhnlichen  M itronomschlägen  auch  elektrische  Kontakte 
auslösen  und  dadurch  z.  B.  eine  Zeitmarke  auf  einem 
•Chronographen  schreiben  lassen. 

Man  achte  darauf,  daß  das  Metronom  nicht  schräg 
steht  und  achte  auf  die  Einstellung  der  Stifte  und  Queck- 
silbsrnäpfe.  Nur  so  erhält  man  gleichmäßige  Schläge  und 
Kontakte. 

Das  Metronom  steht  an  Genauigkeit  hinter  Pendel 
und  Chronometer  zurück;  die  Schwingungen  sind  nicht 
ISO  regelmäßig  und  werden  allmählich  langsamer. 

Signal- Uhr  nach  Fischer  (Mechaniker  Sendtner,  Mün- 
ohen).  Wecker-Uhr,  die  alle  Minuten  ein  Glockenzeichen 
gibt. 

Läßt  man  z.  B.  bei  längeren  Arbeiten  bei  jedem  Klingelzeichen  einen  Strich 
oder  ein  sonstiges  Zeichen  in  das  Heft,  in  das  geschrieben  wird,  machen,  so  kann 
man  verfolgen,  wieviel  jeder  einzelne  in  jeder  Minute  geleistet  hat. 

Schwingende  Feder  von  20  Schwingungen  in  der  Sekunde  (M'^chani- 
ker  Patzold,  Leipzig),  zur  direkten  Schreibung  einer  Zeitmarke  auf  dem  Kymo- 
graphion.  Die  Feder  wird  mechanisch  angeregt  und  schwingt  daher  nur  kurze 
Zeit,  reicht  aber  für  Reaktionsversuche  (z.  B.  mittels  des  Schulzeschen  Feder- 
kymographions)  aus. 


Zur  Frage  der  Vertretung  der  Pädagogik  an  der  Universität. 

Von  Max  Brahn. 

Über  die  Frage,  ob  Professuren  der  Pädagogik  an  den  Universitäten  zu 
errichten  sind,  sollte  eine  Aussprache  nicht  mehr  nötig  sein.  In  keiner  Be- 
ziehung hat  die  Pädagogik  einen  Anlaß,  sich  hinter  die  anderen  Geisteswissen- 
schaften zu  stellen,  und  wenn  ihre  Methoden  noch  nicht  so  entwickelt  sind, 
80  kann  darin  kein  grundsätzlicher  Einwand  liegen.  Auch  darüber,  ob  es 
sich  mehr  um  geschichtlich-systematische  oder  um  psychologisch-empirische 
Professuren  handeln  sollte,  dürften  die  Akten  wohl  geschlossen  sein.  Es 
liaben  sich  so  viel  Stimmen  dafür  erhoben,  daß  beide  Richtungen  nötig  sind, 
daß  zwischen  den  beiden  durchaus  kein  unauflöslicher  Streit  herrscht  und 
daß  es  schließlich  immer  nur  darauf  ankommt,  die  richtigen  Persönlichkeiten 
zu  bekommen,  um  das  Studium  der  Pädagogik  fruchtbar  zu  machen.  Sowohl 
<üe  Dozenten  wie  die  Studenten  sind  in  ihrer  Anlage  darin  grundverschieden: 
die  Einstellung  auf  die  pädagogischen  Fragen  ist  bei  dem  einen  mehr  von 
gewissen  Idealen,  bei  dem  andern  mehr  von  Tatsachen  bestimmt,  und  jede 
Richtung  muß  zu  ihrer  Vertretung  kommen,  schon  damit  den  verschiedenen 
Schülertypen  Recht  geschieht.  Die  Personenfrage  kann  unmöglich  als  ernstes 
Hindernis  gelten.  Nimmt  man  die  beiden  Richtungen  zusammen,  so  dürften 
sich  schon  heute  genügende  Kräfte  finden;  sonst  aber  werden  sie  eben  all- 

Zfilschrii't  f.  püdagog  Psychologie  27 


418     Max  Brahn,  Zur  Frage  der  Vertretung  der  Pädagogik  a.  d.  Universität 

mählich  an  den  Stätten  sich  entwickeln,  an  denen  heute  Lehrkräfte  vorhanden 
sind,  und  es  kann  ja  nur  eine  Frage  von  wenigen  Jahren  sein,  wann  die 
Zahl  der  notwendigen  Dozenten  vorhanden  ist. 

Drängend  aber  wird  die  Frage,  ob  es  weiterhin  möglich  ist,  sich  mit  diesen 
beiden  Richtungen  zu  begnügen,  und  ob  nicht  immer  mehr  an  jeder  Universität 
darauf  gesehen  werden  muß,  daß  die  Pädagogik  als  Lehre  von  der  Volks- 
erziehung und  Volksbildung  im  weitesten  Sinne  vertreten  ist.  Selbst  die 
längsten  Vorlesungen  über  Geschichte  der  Pädagogik,  systematische  Pädagogik, 
über  Jugendkunde  und  Psychologie,  über  Didaktik  und  Methodik  genügen 
heute  diesem  Bedürfnis  nicht.  Sieht  man  die  Interessen  der  weitesten  päda- 
gogisch interessierten  Kreise,  die  ja  nicht  mehr  nur  Lehrerkreise  sind, 
{Tenauer  an,  so  findet  man,  daß  sie  immer  mehr  in  sehr  vielen  Strahlen  nach 
der  Seite  der  über  die  Schule  herausgreifenden  bildenden  Erziehungseinflüsse 
gehen.  Diese  ganze  Richtung,  die  sich  heute  noch  nicht  einmal  mit  einem 
Worte  umschreiben  läßt,  die  von  dem  Kindergarten  und  dem  Hort  über  Jugend- 
fürsorge und  Wandervogel  zu  Volksbibhothek  und  Volkstheater  führt,  bedeutet 
für  Erziehung  und  Unterricht  die  umfassendsten  und  zukunftsreichsten  Probleme. 
Die  deutsche  Universität  darf  sich  die  Führung  in  diesen  für  jeden  wahren 
Pädagogen  so  schönen  und  wissenschaftlich  so  fruchtbaren  Problemen  nicht 
nehmen  lassen. 

Am  schwierigsten  aber,  wenn  man  die  Frage  Pädagogik  an  den  Universitäten 
ganz  ernst  fassen  will,  ist  die  Organisation  des  pädagogischen  Unterrichtens 
an  der  Universität  selbst,  und  die  richtige  Einführung  der  Pädagogen  in  ihr 
Amt.  Die  Hochschulpädagogik  ist  ja  viel  behandelt  worden,  aber  bisher  ist 
das  Lehren  an  der  Universität  selbst  sozusagen  ein  wilder  Beruf,  für  den 
es  keinerlei  Vorbildung  gibt  und  für  den  auch  keine  verlangt  wird.  Zum  Teil 
daher,  geschichtlich  aber  natürlich  auch  aus  anderen  Quellen,  stammt  die  viel 
schlimmere  Tatsache,  daß  die  Wissenschaften  selbst  an  der  Universität  so 
gelehrt  werden,  daß  ihre  Übertragung  auf  das  Lehramt  dabei  kaum  berück- 
sichtigt wird.  Die  Mathematiker  und  Naturwissenschaftler  haben  sich  der 
Frage  bereits  angenommen,  und  es  gibt  schon  einige  wenige  Lehraufträge 
für  Pädagogik  der  Chemie  usw.  In  den  Geisteswissenschaften  wird  dagegen 
so  unterrichtet,  daß  irgend  eine  Rücksicht  darauf,  wie  der  Student  das  Lehr- 
gut später  einmal  als  Lehrer  braucht,  nicht  genommen  wird.  Als  Beispiel 
dafür  möchte  ich  nur  die  berüchtigt  gewordenen  Aufsatzthemata  angeben,  die 
in  der  Volksschule  nicht  viel  vorkommen,  wohl  aber  in  den  höheren  Schulen, 
weil  der  ganze  germanistische  Unterricht  das  Wort  „Aufsatz"  wohl  garnicht 
kennt.  Hier  entsteht  die  schwierige  Frage:  Wie  wird  der  Universitätsunter- 
richt selbst  für  den  Pädagogen  pädagogisch  gestaltet? 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen. 

Die  Vertretung  der  Psychologie  und  Pädagogik  an  den  deutschen  Uni- 
versitäten im  Sommerhalbjahr  1918*).  Berlin:  Mahling  (theol.  F.):  Katech. 
Semin.  (2).    Forster  (med.    F.):    Psychiatrie   des  Kindesalters  (1).  —  Stier 

*)  Erklärung  der  Abkürznngen:  med.  F.  ==  medizinische  Fakutät,  theol.  F.  ==  theolo- 
giedie  FakiiltJ't.    naturw.  F.  =  natnrwissenschafO.  Fakultät,  jur.  F.  =  juristische  Fakultät. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  419 


(med.  F.):  Psychische  und  nervöse  Störungen  des  Kindesalters  (1).  —  Karl 
Schaefer  (med.  F.):  Physiol.  Psychol.  (2).  —  Moeli  (med.  F.):  Die  Be- 
ziehungen geist.  Abnormität  zur  Rechtspflege  (1)  —  Jacob  söhn  (med.  F.): 
Über  die  Kriminalität  der  Jugendlichen,  für  Mediz.,  Jurist,  und  Pädag.  (1).  — 
Erdmann:  Psychologie  (4).  —  Vierkandt:  Allgem.  Psychol.  (2).  —  Ferd. 
Jakob  Schmidt:  Pädagog.  Ethik  (4).  Pädag.  Sem.:  Übungen  über  Fichtes 
Reden  an  die  deutsche  Nation  (l'/a).  —  Wertheimer:  Im  psychol.  Institut: 
Experiment,  psychol.  Übungen  (2),  Pädagog.  Übungen  (2).  —  Stumpf:  Im 
psychol.  Inst.:  Theoret.  Übungen  (1)  —  Sa.  ==  24'/2  Std.  —  Bonn:  Lauscher 
(kaih.lheol.  F.):  Katechetik  (4).  Katech.  Semin.  (1).  —  Pfennigsdorf  (ev.- 
theol.  F.):  Katech.  Sem.  (1).  —  Hübner  (jur.  F.):  Forensisch -psychol.  Praktikum 
(1).  —  Störring:  Psychologie  (4).  Im  psychol.  Laborat.:  Selbst,  experiment. 
Arbeiten  für  Vorgeschr.  gemeinsam  mit  Erismann  und  Kutzner.  Täghch  vor- 
und  nachm.  —  Wentscher:  Pädagogik  (2).  Im  philos.  Semin.:  Grundpro- 
bleme der  Pädagogik(l  1/2).  —  Erismann  zus.  m.  Kutzner:  Im  psychol.  Labor. : 
Einführungskursus  in  die  experiment.  Psychol.  mit  Übungen  (2).  —  Kutzner: 
Ausgew.  Kapitel  aus  der  experiment.  Didaktik  (1).  Sa.=  17^2,  dazu  die  experim. 
Arbeiten  bei  Störring.  Breslau:  Steinbeck  (ev.-theol.  F.):  Katech.  Semin. 
(2). —  Schaeder  (ev.-theol.  F.):  Hauptprobleme  der  Rehgionspsychol.  (2). — 
Koenig  (kath.-theol- F.):  KirchL  Pädag.  und  Rhetorik  (2).  —  Baumgartner: 
Psychologie  (4).  —  Hönigswald:  Grundprobleme  der  Denkpsychol.  und 
Phänomenologie  (2).  Kolloquium  der  philos.  Pädag.  (2).  Im  psychol.  Sem.: 
Übungen  zur  Denkpsychol.  und  Phänomenologie  (Vli).  —  Miller:  Das  höhere 
Schulwesen  im  19.  Jahrh.  und  in  der  Gegenw.  (2).  Übungen  über  Organisation 
des  höheren  Schulwesens  (1).  Sa.  =  18'/'2.  Erlangen:  Caspari  (theol.  F.): 
Katechetik  und  Pastoraltheol.  (4).  Katechet.  Behandlung  der  Grundbegriffe 
des  Katechism.  (2).  Katech.  Sem.  (2).  Pädag.  Repetitorium  (1).  —  Stählin: 
Gesch.  der  Erzieh,  und  des  Unterr.  von  der  Renaissance  bis  zur  Gegenw. 
(4).  —  Leser:  Pestalozzi  und  Herbart  (1).  —  Sa.  ==  14.  Frankfurt  a.  M.: 
Hahn  (med.  F.):  PsychopathoL  des  Kindes  (1).  —  Schultze:  Gesch.  der 
pädagog.  Probleme  (2).  Grundfragen  der  modernen  Erziehung  (1).  —  Ziehen: 
Gesch.  der  preußischen  Unterrichtsverwaltung  von  1817  bis  zur  Gegenw.  (2). 
Methodik  des  akadem.  Studiums  mit  bes.  Berücksichtigung  der  philos.  Fakult. 
(1).  Pädag.  Sem.:  Übungen  zur  Einführung  in  das  Verständnis  der  kommunalen 
Erziehungs-  und  Schulpolitik  (1).  —  Schumann  (naturw.  F.):  Experim.-psychol. 
Praktikum  mit  Gelb  (2).  —  Henning  (naturw.  F.):  Massenpsychologie  (1). 
—  Klumker  (Wirtschafts-  und  sozialwissenschaftl.  F.):  Jugendfürsorge  und 
Kinderschutz  (1).  Prakt.  Übungen  mit  Anstaltsbesichtigungen  (Mittw.  nachm.). 
Pape  (Wirtschafts-  u.  sozialwissenschaftl.  F.):  Grundzüge  der  Erziehungs- 
und Unterrichtslehre  für  Kandidaten  des  Handelslehramts  (1).  Sem.  für  Han- 
delsschulpädag.  (3).  —  Lühr  (Wirtschafts-  und  sozialwissenschaftl.  F.):  Ein- 
führung in  die  Handelsschulpraxis:  Hospitierübungen  und  Besprechungen  (3). 
Sa.  =  14,  außer  Klumkers  Übungen.  Freiburg  i.  B.:  Künstle  (theol.  F.): 
Pädagogik  (2).  —  Kehrer  (med.  F.):  Physiol.  Psychol.  (1).  —  Cohn:  Pädag. 
Zeitfragen  (2).  —  Sa.  =  4.  Gießen:  Sommer  (med.  F.):  Experim.  Psychol. 
und  Psychiatrie  (für  Studierende  aller  Fakult.)  (1).  —  Koffka:  Psychol.  Kollo- 
quium (1).  —  Sieb  eck:  Grundlinien  der  Didaktik  und  Methodologie  des 
Unterrichts  (2).  —  Strecker:  Staat  und  Erziehung  in  Vergangenh.  und  Gegenw. 
(2).     Übungen  über  Fichte  als  Pädagogen  (2).  —  Cermak:   Physik.    Hand- 

27* 


420  Ivleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


fertigkeitspraktikum  (3).  —  Sa.  =  11.  Göttingen:  Eicheberg  (med.  F.):  Psycho- 
pathol.  des  Kindesalters  (für  Hörer  aller  Fakult.)  (1).  —  G.  E.  Müller:  Psychol. 
der  Willenserscheinungen  (2).  Experim.-psychol.  Arbeiten.  —  Baade:  De- 
skriptive Psychologie  und  Psychographie  (2).  Übungen  zur  Psychologie  des 
Denkens  (1).  — Rosen thal  (med.  F.):  Schulgesundheitspflege  für  Lehramts- 
kandidaten (1).  —  Meyer  (theol.  F):  Katechet.  Übungen  (1).  —  Windhaus: 
Chem.  Semin.  für  Lehramtskandidaten  (nach  Verabredung).  —  Sa.  =  8,  außer 
den  Übungen  bei  Müller  und  Windhaus.  Greifswald:  v.  d.  Goltz  (theol.  F.): 
Katechet.  Semin.  (2).  —  Rehmke:  Psychologie  (3).  —  Schwarz:  Gesch. 
der  Pädag.  (2).  Ethik  und  systemat.  Pädag.  (4).  Philos.  Semin.:  Über  Bildungs- 
probleme. (2).  —  Sa.  =  13.    Halle:  Eger  (theol.  F.):  Katechet.  Abteilung  (2). 

—  Kau  ff  mann  (med.  F.):  Über  psych.  Veränderungen  durch  den  Krieg  (1). 

—  Ziehen:  Psychologie  (4).  Experimentelle  psychol.  Übungen  (2).  —  Frisch- 
eisen-Köhler: Das  deutsche  Unterrichtswesen  der  Gegenw.  und  die  Grund- 
fragen der  Schulorganisation  (2).  Pädag.  und  Politik  (1).  Übungen  über 
Schleiermachers  Pädag.,  in  noch  zu  verabr.  Stunden.  —  Menzer:  Im  pädag. 
Semin.:  Ethik  (2).  —  Lütgert  (theol.  F.):  Im  Pädag.  Semin.:  Übungen  der 
systemat.  Abteilung  (B)  des  TheoL  Semin.  (2).  — Wigand:  Physikal.  Hand- 
fertigkeitspraktikum (in  noch  zu  best.  Zeit).  —  Sa.  =  16;  außerdem  die 
Übungen  bei  Frischeisen-Köhler  und  Wigand.  Hamburg:  Prof.  Stern:  Pädag. 
Psychologie  des  Schulkindes  II.  (1).  —  Übungen  zur  Jugendpsychologie. 
(2).  —  Werner:  Einführung  in  die  Völkerpsychologie  (2).  —  C laßen: 
Weltanschauungsarbeit  unter  der  reifenden  Jugend  (1).  —  Sommer:  Ge- 
schichte des  Seelenbegriffs  (1).  —  Sa.  =  7.  —  Heidelberg:  Niebergall 
(theol.  F.):  Modern-pädag.  Fragen  (2).  —  Frommel  (theol  F.)  Katechet. 
Übungen  über  den  Unterrichtsstoff  der  Oberst.  (1).  — Stadtschulrat  Rohr  hur  st: 
Katechet.  Übungen  über  den  Unterrichtsst.  der  Mittelsch.  (1^2).  —  Jaspers: 
Psychol.  des  abnormen  Seelenlebens  (2i.  Psycholog.  Übungen  über  Nietzsche 
(2).  —  Rissom:  Über  Methodik  und  Systematik  der  Spiele,  über  Spielgeräte  und 
Spielplatzkunde  (8).  Jugendpflege  (4).  —  Baisch:  Physiologie  und  Hygiene 
der  Spiele  und  volkstüml.  Übungen  (6).  —  HogenmüUer:  Prakt.  Übungen 
und  Lehrproben  im  Turnen  (45).  —  Sa.  =  26 '/2,  außerdem  45  Std.  Übungen 
bei  HogenmüUer.  Jena:  Staerk  (theol.  F.):  Probleme  der  unterrichtl.  Be- 
handlung des  Alten  Testam.  (1).  —  Glaue  (theol.  F.):  Katechetik  (2.)  -- 
Thümmel  (theol.  F.):  Katechet.  Semin.  (2).  —  Schultz  (med.  F.):  Psycho- 
therapie (2).  Was  lehrt  die  Psychiatrie  für  die  allgem.  Psychologie  (1).  — 
Eucken:  Allgem.  Psychol.  (im  Umriß)  (2).  —  Rein:  Empir.  Psychol.  mit 
Beziehung  auf  die  pädag.  Probleme  (2).  Allgem.  Didaktik  (2).  Mit  Weiß: 
Pädag.  Seminar.  —  Nohl:  Einführung  in  die  Gesch.  der  Pädag.  (1).  — Weiß: 
Begabung  und  Schule.  (2)  Ziel  und  Aufgaben  der  Jugendpflege  (1).  —  Sa  =»  18, 
außerdem  Päd.  Semin.  bei  Rein.  Kiel:  Baumgarten  (theol.  F.):  Katechet. 
Übungen  (2).  —  Weinreich  (theol.  F.)  Katechet,  (2).  —  Martius:  Psychol. 
Semin.  (2).  —  Baron  von  Brockdorff:  Die  Anfangsgründe  der  Pädag.  (1). 
Interpretation  klassischer  pädagog.  Quellenschriften  (2).  —  Sa.  =  9.  Königs- 
berg: Uckeley  (theol.  F.):  Deutsches  Volksschulwesen  I.  Teil  (Gesch.  und 
Schulkunde)  (2).  Katechet.  Semin.  (1).  —  Falken  heim  (med.  F.):  Hygiene 
des  Kindes  (1).  —  Ach:  Psychologie  (3).  Experimentell  -  psychol.  Übungen 
(2).  —  Kowalewski:  Ethik  (mit  Anwendung  a.  pädagog.  Probleme  (2). 
Kolloquium  über  neuere  Ajbeiten  auf  dem  Gebiete  der  pädag.  Psychol.  (1'/«)- 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  421 


—  Sa.  =  121/2.  Leipzig:  Frenz el  (theol.  F.)  Prakt.  Theol.  II  (Katechetik  und 
Poimenik)  (4).  Serain.  für  prakt.  Theol.,  katechet.  Abteilung  (Religionsunterr. 
lind  relig.  Erziehung)  (2).  Semin.  für  Pädag.  für  Studierende  der  Theol. :  Prakt.- 
päd.  Übungen  und  Besuche  von  Lehr-  und  Erziehungsanstalten  (2).  — 
Gregor  (med.  F.):  Diagnose  psychischer  Störungen  (1).  Psychologie  der 
Persönlichkeit.  (1).  —  Lange  (med.  F.):  Schulhygiene  und  Schulkrankheiten 
(1).  —  Bergmann:  Gesch.  der  Psychol.  im  Überblick  (1).  —  Krueger: 
Einführung  in  die  Völkerpsychol.  (Besprechungen  und  Übungen)  (2).  Psycho- 
logie der  Gefühle  (2).  Experim.  Übungen  für  Fortgeschrittene  (mit  Kirsch- 
mann) (2).  Leitung  selbständ.  Arbeiten  (mit  zwei  Assistenten)  (21).  Bespr. 
und  Übungen  zur  Einführung  in  die  Völkerpsychol.  (2).  —  Wirth:  Psycho- 
physik  der  Sinneswahrnehmung  mit  experiment.  Demonstr.  (2).  Übungen 
zur  experiment.  Methode,  zugleich  zur  Einführung  in  die  Psychophysik  (Zeit 
nach  Vereinbarung).  Leitung  selbständ.  Arbeiten  (15).  —  Spranger:  Pädag. 
IL  Teil  (Gesch.  des  Erziehungswesens  und  der  päd.  Theorien  von  Rousseau 
bis  zur  Gegenw.  (3).  Im  philos.  päd.  Sem.:  Pestalozzi,  „Wie  Gertrud  ihre 
Kinder  lehrt."  Nur  für  Studierende  der  Päd.  (2).  Herbarts  Pädag.  (2).  — 
Jungmann:  Einführung  in  die  Gesch.  der  Pädag.  (2).  Übungen  im  praktisch- 
pädag.  Semin.  mit  Hünlich  und  Hartmann  (4).  —  Brahn:  Übungen  zur  ex- 
periment. Methode:  PersönL  Begabung  und  Berufswahl  (IV2).  Wissenschaf tl. 
Arbeiten  über  experiment.  Pädag.  und  angew.  Psycho!.  (15).  —  Seydel: 
Pädagogisch-technische  Korrektur  von  Sprachfehlern,  Sprachgebrechen  usw. 
(1).  —  John:  Die  histor.  und  pädag.  Grundlagen  der  landwirtsch.  Unterrichts- 
anstalten (2).  Theoret.  Seminarübungen  (2).  Experiment.  Vorbereitung  für 
den  Unterr.  (2).  Unterrichtserteilung  in  der  Übungsschule  (16).  —  Wagner: 
Chemische  Übungen  für  Lehrer  (Schulversuche,  Analyse,  Präparate)  (44). 
Didakt.  Bespr.  der  ehem.  Übungen  (1).  —  Sa.  =  60  '/2,  außerdem  95  Std.  Übungen. 
München:  Göttler  (theol.  F.):  System  der  Pädag.  (4).  Bayerisches  Volksschul- 
wesen (2).  Katechet.  Praktikum  (IV2).  —  Mayer  (theol.  F.):  Pestalozzi  und 
seine  Zeit  (1).  —  Baeumker:  Psychologie  (4).  —  Rehm:  Das  höhere  Schul- 
wesen Deutschlands  in  Vergangenheit  und  Gegenwart  (3).  Die  polit.  Erziehung 
der  deutschen  Jugend  (1).  —  Becher  und  Bühler:  Psycholog.  Kolloquium 
(nach  Übereink.).  Experiment. -psychol.  Arbeiten  (tägl.  nach  Bedarf)  — 
Joachimsen:  Methodik  und  Technik  des  Geschichtsunterr.  (2).  Foerster: 
Gesch.  der  Pädag.  im  Zusammenhang  mit  der  allgem.  Kulturentw.  (4).  Päd. 
Semin:  Schulgeraeinden  und  Selbstregierung  der  Schüler  (2).  —  Fischer: 
Psychol.  und  Soziologie  der  Geschlechter  (2).  Über  Psychologie  und  ihre 
Anwendungen  (1).  Bühler:  Denken  und  Sprechen,  eine  philos.  Einführung 
in  die  Geisteswissenschaften  (2).  Einführungskursus  in  die  experim.  Psycho!. 
(2).  —  Pauli:  Psychol.  der  Empfindung  (1).  —  Sa.  =  36V2,  außerdem  Kollo- 
quium und  Arb.  bei  Becher  und  Bühler.  Münster:  Smend  (ev.-theol.  F.): 
Katechet.  Semin.  (1).  —  Rosenfeld  (jur.  F.):  KriminalpsychoL  (1).  —  Gold-- 
Schmidt:  Grundfragen  der  Psychol.  mit  bes.  Berücks.  der  Jugendkunde  (4). 
Allgem.  philos.-psychol.  Übungen  (nach  Vereinb.)  Spezielle  psychol.  Übungen 
(nach  Vereinb.).  —  Koppelmann:  Grundfr.  der  Psychol.,  Logik  und  Ethik 
in  ihrem  Zusammenhange  (3).  —  Braun:  Gesch.  der  neueren  Pädag.  (3).  — 
Sa.  =  9,  außerdem  Übungen  bei  Goldschmidt.  Tlostock:  Hilbert  (theoLF.): 
Katechet.  Semin.  (2).  —  Erhard t:  Psychologie  (4).  —  Utitz:  Psychol.  der 
Lüge  und  Verstellung  (1).  —  Schlick:  Psychol.  des  Fühlens  und  Wollens  (1). 


422  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

—  Sa.  —  8.  Straßburg:  Naumann  (ev.-theol.  F.):  Katechetik  (3).  Katechet. 
Semin.  (1).  —  Schneider:  Psychologie  (3 1.  —  Spahn:  Aufgaben  und  Prob- 
leme des  Geschichtsunterr.  (2).  —  Sa.  =  9.  Tübingen:  v.  Wurster  (ev.-theol. F.): 
Katechet.  Semin.  mit  Übungen  in  der  Volkschule  (2).  —  Sägmüller  (kath.- 
theol.  F.):  Prakt.  Pädag.  (3).  —  Spitta:  Psychologie  (4).  —  Oesterreich: 
Religionspsychologie  (2).  Demonstr.  zur  Einführung  in  die  experim.  Psychol. 
(1^/2).  —  Deuchler:  Wirtschafts-  und  beruf spsychol.  Fragen  der  Gegenw.  (1). 
Psycho].  Untersuchungen  an  Normalen  und  Hirnverletzten  (1).  Reform  der 
höh.  Schulen  (1).  Päd.  Sem.:  Übungen  zur  pädag.  Psychol.  (2).  —  Sa.  =  17i/2. 
Würzburg:  Stölzle:  Allgem.  Erziehunglehre  (1).  Semin.  zurPhilos.  und  Päd.  (1). 
Anleitung  zu  wissensch.  Arb.  in  Philos.  und  Pädag.  (nach  Bedarf j.  —  Marbe, 
mit  Peters:  Experiment.  Übungen  zur  Einführung  in  die  Psychol.,  Pädag.  und 
Ästhetik  (3).    Anleitung  zu  wissensch.,  auch  pädag.  und  ästhet.  Arbeiten  (48). 

—  Peters:  Psychol.  und  pädag.  Besprechungen  (1).  —  Sa.  ==  6,  außerdem 
Arb.  bei  Marbe  48  Std.,  bei  Stölzle  nach  Bedarf. 

Leipzig.  Hermann  Götz. 

Die  Pädologische  Abteilung  im  Niederländischen  Museum  für  Eltern 
und  Erzieher.  Die  Pflege  der  Jugendkunde  hat  sich  neuerdings  auch  in 
Holland  erfreulich  entwickelt.  So  besteht  u.  a.  eine  eigene  Zeitschrift  für 
jugendkundliche  Forschungen,  und  so  ist  seit  1911  ein  „Museum  für  Eltern 
und  Erzieher"  im  Ausbau  begriffen,  wie  ein  solches  früher  schon  Ladilaus 
Nagy  für  Ungarn  begründet  hatte.  Seinen  Sitz  hat  das  Unternehmen  in 
Amsterdam.  Von  Zeit  zu  Zeit  aber  tut  es  sich,  zumeist  nur  in  Teilen,  in 
den  größeren  Städten  des  Landes  auf.  Diesen  Wanderausstellungen  bringt 
die  Bevölkerung  das  regste  Interesse  entgegen.  Vorwiegend  werden  sie  von 
Vätern  und  Müttern  der  Arbeiter-  und  Bürgerkreise  besichtigt.  Während 
des  November  stieg  z.  B.  in  Harlem  die  Zahl  der  meist  zahlenden  Besucher 
auf  26800  Personen. 

Der  Plan  des  Museums  ist  entworfen  worden  von  der  Freifrau  Sandberg- 
Geisberg  van  der  Netten  in  Assen,  die  in  hingebender  Arbeit  sich  auch  an 
der  Verwirklichung  vornehmlich  betätigt  hat. 

Das  Museum  gliedert  sich  in  folgende  Abteilungen,  deren  jeder  ein  sach- 
verständiger Leiter  mit  einem  Ausschuß  vorsteht. 

1.  Körperliche  Entwicklung  des  Kindes.  2.  Kleidung  des  Kindes.  3.  Er- 
nährung des  Kindes.  4.  Umgebung  des  Kindes.  5.  Kinderforschung  und 
geistige  Entwicklung.  6.  Fürsorge  für  anormale  Kinder.  7.  Hilfe  bei  Un- 
fällen. 8.  Spiel,  Musik,  Handarbeit.  9.  Jugendschriften.  10.  Kinderpflege 
in  Indien.     11.  Geschichtliche  Abteilung.     12.  Bücherei. 

Über  die  pädologische  Abteilung  berichtet  ihr  Vorsitzender  A.  J.  Schreuder 
ausführlich  in  der  Zeitschrift  für  Kinderforschung  (XXIII.  Jahrg.,  Heft  1, 
S.  31  ff.).  Er  verfolgt  zum  Teil  die  gleichen  Aufgaben,  die  Joh.  Prüfer 
dem  „Institut  für  Erziehungserfahrungen"  in  Leipzig  gesetzt  hat. 

Gegliedert  ist  die  pädologische  Abteilung  folgendermaßen: 

1.  Beobachtungen  durch  Erzieher.  2.  Äußerungen  von  Kindern.  3.  Jugend- 
erinnerungen. 4.  Völkerkundliches.  5.  Das  Kind  in  der  Kunst.  6.  Die 
Kinderforschung. 

In  der  ersten  Gruppe  werden  die  Erfahrungen  aus  der  Wirkhchkeit  des 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  423 

Erziehens  gesammelt.  Es  kommen  in  Betracht  a)  biographische  Berichte  über 
die  gesamte  geistige  Entwicklung  eines  bestimmten  Kindes  oder  von  Ge- 
schwistern derselben  Familie,  b)  fortlaufende  Beobachtungen  über  eine 
einzelne  psychische  Erscheinung  (Entwicklung  des  Sprechens,  des  Spieles, 
der  Religiosität  usw.),  c)  Aufzeichnungen  über  besondere  Vorfälle  und  Aus- 
sprüche. Erwünscht  sind  u.  a.  besonders  auch  vergleichende  Darstellungen 
von  Geschwistern  und  Zwillingen.  Anleitungen  zum  Beobachten,  Aufzeichnen 
und  Sammeln  beabsichtigt  das  Museum  noch  auszuarbeiten.  Wie  in  Leipzig  so 
wurde  auch  in  Holland  die  Erfahrung  gemacht,  daß  die  Eltern  meist  nur 
ungern  ihre  Aufzeichnungen  der  öffentlichen  Sammlung  überweisen,  daß  aber 
gelegentlich  Material  von  hohem  wissenschaftlichen  Wert  von  den  Erziehern 
zu  erlangen  ist. 

Die  zweite  Gruppe  vereinigt  a)  Kindertagebücher  und  Gedichte  von 
Kindern,  b)  freie  Kinderbriefe,  c)  Kinderzeichnungen,  d)  Erzeugnisse  kind- 
licher Handbetätigung.  Das  Museum  verfügt  u.  a.  hier  schon  über  eine 
gute  Reihe  von  Zeichnungen  aus  sechs  aufeinander  folgenden  Volksschul- 
klassen, in  denen  ohne  vorangegangene  Einübung  aus  dem  Gedächtnis 
gezeichnet  wurden :  ein  Männlein,  ein  Weiblein,  ein  Knabe,  ein  Mädchen  — 
ein  Pferd,  eine  Katze,  ein  Hund  —  ein  Haus,  ein  Baum,  ein  Schiff. 

Die  dritte  Gruppe  will  u.  a.  auch  eine  methodische  Aufgabe  lösen.  Sie 
erstrebt  die  Entscheidung  darüber,  ob  für  die  wissenschaftliche  Forschung 
die  Veröffentlichung  von  Jugenderinnerungen  wirklich  Wert  hat,  und  in 
welcher  Art  sie  dann  erwünscht  wäre. 

Die  ethnographische  Gruppe  dient  vor  allem  vergleichenden  Betrachtungen. 
Sie  stellt  gegenüber  die  phylogenetische  und  ontogenetische  Entwicklung,  das 
Kind  der  niederen  und  der  höheren  Völker,  das  Kind  der  Gegenwart  und 
früherer  Zeiten.  Aus  den  niederländischen  Kolonien  ist  hier  dem  Museum 
schon  viel  vorzügliches  Material  zugeflossen,  so  z.  B.  die  Sammlung  von 
Prof.  Jonker,  die  Märchen,  Lieder  und  Erzählungen  von  der  Insel  Rotti 
umfaßt  und  die  viele  übereinstimmende  Züge  mit  dem  kindlichen  Singen 
und  Sagen  aufweist. 

Die  Gruppe  „das  Kind  in  der  Kunst"  will  mit  ihrer  Bildersammlung 
weniger  wissenschaftlichen  Zwecken  als  vielmehr  der  Unterhaltung  dienen. 

Auf  die  Zusammenstellung  der  wissenschaftlichen  Literatur  über  das  Kind 
ist  die  fünfte  Gruppe  bedacht.  Für  sie  hat  Scheurmann  ein  fast  voll- 
ständiges Verzeichnis  der  in  niederländischer  Sprache  verfaßten  Schriften 
und  Abhandlungen  angelegt  und  veröffentlicht.  Es  zählt  auf  24  Seiten 
350  Nummern. 

Außer  diesen  sechs  Gruppen  besteht  in  der  pädologischen  Abteilung 
dann  noch  eine  Sonderbücherei,  die  sorgfältig  katalogisiert  ist  und  bei 
jeder  Ausstellung  in  einem  Lesesaal  zur  Verfügung  gestellt  ist. 

Das  Bayrische  Schularchi?  für  Zeichnen  (Geschäftsstelle  in  München- 
Pasing)  will  der  Förderung  des  Zeichenkunstunterrichts  an  allen  Schulen 
aller  Gattungen  dienen  und  hofft  damit  in  dem  heranwachsenden  Geschlecht 
die  erhöhte  Pflege  des  Geschmacks  zu  fördern.  Es  stellt  sich  im  einzelnen 
als  besondere  Aufgaben:  -vorbildliche  Schüler-Arbeiten  für   eine  Geachichbe 


424  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 

des  neuzeitlichen  Zeichenunterrichts  zu  sammeln,  Lehrstoff  für  den  Zeichen- 
und  Kunstunterricht  in  Einzeldarstellungen  zu  liefern,  eine  Bücherei  für 
das  gesamte  Fachschrifttum  anzulegen,  ferner  durch  Ausstellungen,  Vorträge, 
Führungen  durch  Galerien,  Sammlungen,  Kunstwerkstätten,  sowie  Lichtbilder- 
vorführungen Sinn  und  Verständnis  für  Kunst  und  Handwerk  bei  dci- 
Schuljugend  zu  wecken  und  zu  bilden  und  endlich  die  Verbreitung  der 
besten  Lehrmittel  und  bewährtesten  Schuleinrichtungsgegenstände  seinem 
Gebietes  zu  fördern,  sowie  deren  Anschaffung  zu  erleichtern. 

Das  Archiv  umfaßt  vorerst  folgende  Abteilungen: 

L  Die  Zeichen-Sammlung:  Vorbildliche  Schülerarbeiten  aus  Freihand-, 
Linearzeichnen  und  Schriftunterricht  (gute  Durchschnittsarbeiten,  nicht  nur 
Leistungen  besonders  Begabter)  werden  gesammelt  für  eine  Geschichte  den 
Zeichenunterrichtes;  sie  dienen  auch  zu  kunstpädagogischen  Studien,  Unter- 
richts- und  Ausstellungszwecken. 

IL  Die  Lehrstoffsammlung:  Sie  enthält  kurze  Abhandlungen  und 
Monographien  über  Künstler,  Kunst  und  Kunstgeschichte,  Kunstgewerbe 
und  Handwerk,  Zeichen-  und  Schriftunterricht,  ferner  Aussprüche  über 
Kunst,  Zeichnen  und  Geschmacksbildung  und  endlich  Reproduktionen  nach 
Photographien,  Gemälden  und  Zeichnungen,  die  die  praktische  Anwendung 
der  Gesetze  aus  Perspektive,  Projektions-  und  Schattenlehre  zeigen,  und 
speziell  für  Lebrzwecke  Verwendung  finden.  Auch  ist  ihr  eine  Aufgaben- 
sammlung aus  dem  Gebiete  des  Freihand-  und  Linearzeichnens  angegliedert. 

IIL  Die  Vorbildersammlung:  Hier  werden  Bilderreihen  aus  dem 
Gebiete  der  freien  und  angewandten  Kunst  angelegt  (Gegenüberstellung 
von  Beispiel  und  Gegenbeispiel). 

IV.  Die  Lichtbildersammlung:  Vorführungen. 

V.  Die  Bücherei  mit  Leseraum:  Sammelstelle  der  gesarrten  Fach- 
literatur, ferner  einschlägiger  Bilderwerke  und  Ausschnitte  aus  Zeitungen 
und  Zeitschriften,  die  im  Lesesaal  zur  Benützung  aufliegen. 

VI.  Die  Modellsammlung:  Sie  umfaßt  ausgewählte  Natur-  und  Ge- 
brauchsgegenstände für  Zwecke  des  Freihand-  und  Linearzeichnens. 

VII.  Die  Schulgerätsammlung:  Geräte. 

VIII.  Muster-Schulmuseum:  Es  gibt  Richtlinien  für  die  Ausgestaltung 
von  Schulmuseen  in  Verbindung  mit  den  Zeichenraodellsammlungen,  wie 
deren  Errichtung  an  größeren  Anstalten  in  Aussicht  steht. 

IX.  Vermittlungsstelle:  Sie  erteilt  Aufschlüsse  und  Auskunft  in  allen 
einschlägigen  Fragen  und  übernimmt  die  Vermittlung  von  Aufträgen  bei 
Anschaffung  der  in  Abteilungen  II,  III,  IV,  V,  VI,  VII  und  VIII  genannten 
Gegenstände. 

X.  Archiv-Ausstellung:  In  Wochenausstellungen  sollen  die  Neu- 
erwerbungen der  verschiedenen  Abteilungen  vorgeführt  und  belehrende  Dar- 
bietungen aus  den  Abt.  I,  II  und  III  veranstaltet  werden. 

Ständige  Fühlung  mit  allen  Interessentenkreisen  wird  die  vom  Bayer. 
Schularchiv  herausgegebene  und  von  L.  M.  K.  Capeller  geleitete  reich 
illustrierte  Monatsschrift  (vierteljährlich  2,50  M.)  «Zeichen- Archiv»  aufrecht 
erhalten. 


Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  425 

Die  Ausbildung  der  weibliclien  Jugend  in  der  Säuglings-  und  Kloiu- 
kinderpflege  wird  in  Preußen  künftig  nicht  mehr  ausschließlich  der  Vereins- 
arbeit überlassen  bleiben,  sondern  unter  der  Mitwirkung  der  amtlichen  Kreise 
erfolgen.  Ein  darauf  gerichteter  Erlaß  des  Ministers  des  Inneren  (vom  3.  Ok- 
tober 1916)  besagt  u.  a,  das  Folgende: 

„Die  Bekämpfung  der  Säuglingssterblichkeit  und  die  Gesunderhaltung 
der  heranwachsenden  Jugend  hat  durch  den  infolge  des  Krieges  entstandenen 
Verlust  von  Hunderttausenden  blühender  Männer  größte  Bedeutung  gewonnen. 
Unter  den  zur  Besserung  dieser  Verhältnisse  erforderlichen  Maßnahmen,  die 
gegenwärtig  von  der  Staatsregierung  beraten  werden,  ist  die  Ausbildung  der 
weiblichen  Jugend  in  den  Grundsätzen  der  Säuglings-  und  Kleinkinderpflege 
von  besonderer  Wichtigkeit,  da  gerade  die  mangelhaften  Kenntnisse  vieler 
Mütter  hinsichtlich  zweckmäßiger  Ernährung  und  Pflege  die  Ursache  für  den 
Tod  von  Tausenden  von  Kindern  bilden.  Eines  der  Mittel,  um  hierin  Wandel 
zu  schaffen,  ist  die  Belehrung  der  schulentlassenen  weiblichen  Jugend 
und  der  jungen  Mütter  durch  öffentliche  Vorträge  und  ähnliche  Veranstaltun- 
gen, wie  dies  in  vielen  Orten  schon  vor  dem  Kriege  mit  Erfolg  versucht 
worden  ist.  Angesichts  des  Ernstes  der  Stunde  müssen  diese  Bestrebungen 
nunmehr  ohne  Zögern  und  in  allen  Bezirken  aufgenommen  und  mit  Nach- 
druck verfolgt  werden." 

Sammmelklassen  für  seh werscli wachsinnige  Kinder  wurden  in  Berlin 
durch  die  städtische  Schulverwaltung  eingerichtet.  Sie  stehen  unter  den  folgen- 
den Bestimmungen:  „Die  Sammelklasse  ist  eine  Hilfsschulklasse,  vereinigt 
in  sich  aber  nur  schwer -schwachsinnige  Kinder,  die  das  Ziel  der  Unter- 
stufe der  Hilfsschule  nicht  erreichen  und  deren  Eltern  sich  zur  Unterbringung 
in  einer  Anstalt  nicht  entschließen  können.  An  einer  Hilfsschule  soll  nur 
eine  Sammelklasse  bestehen.  Sie  ist  der  Hilfsschulleitung  mit  unterstellt, 
nimmt  aber  zu  dem  Schulkörper  der  Hilfsschule  eine  selbständige  Stellung 
ein.  Die  Überweisung  eines  Kindes  in  die  Sammelklasse  erfolgt  in  der  Regel 
nach  einem  ergebnislosen  zweijährigen  Besuch  der  Hilfsschulunterstufe  und 
äxd  Grund  eines  besonderen  pädagogischen  und  psychiatrischen  Gutachtens., 
In  jedem  Falle  ist  vor  der  Überweisung  den  Eltern  die  Zweckmäßigkeit  der 
Unterbringung  des  Kindes  in  eine  Anstalt  klar  zu  machen.  Nach  der  Über- 
weisung sind  die  Eltern  anzuhalten,  ihr  Kind  regelmäßig  in  den  der  Sammel- 
klasse angeschlossenen  Hort  zu  schicken.  Die  bereits  aus  der  Schulpflicht 
entlassenen  und  zurzeit  im  Elternhause  weilenden,  noch  nicht  vierzehnjäh- 
rigen Kinder  können  auf  Wunsch  der  Eltern  in  die  Sammelklasse  nach  Maß- 
gabe der  vorhandenen  Plätze  aufgenommen  werden.  Bevor  künftig  ein  Kind 
seiner  großen  geistigen  Schwäche  wegen  von  der  Schulpflicht  völlig  ent- 
bunden ist,  ist  es,  falls  sich  die  Eltern  nicht  zur  Aufnahme  in  eine  Anstalt 
verstehen,  einer  Sammelklasse  zu  einem  letzten  Unterrichtsversuch  zu  über- 
weisen. Vom  Besuch  der  Sammelklasse  und  damit  auch  der  Schule  über- 
haupt ausgeschlossen  werden  nur  die  völlig  bildungsunfähigen  oder  dauernd 
pflegebedürftigen  Kinder,  für  die  dann  unter  Umständen  auf  Grund  des  Für- 
sorgeerziehungsgesetzes Anstaltszwang  erwirkt  w^erden  müßte.  Die  Sammel- 
klasse soll  höchstens  15  Kinder  umfassen.     Sie  ist  eine  einklassige  Schule. 


426  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Da  die  schwer- schwachsinnigen  Kinder  niemals  so  weit  zu  fördern  sind,  daß 
sie  die  im  Deutschen  und  im  Rechnen  erreichbaren  Fähigkeiten  in  den  Dienst 
ihrer  Person  zu  stellen  vermögen,  so  wird  auf  diese  Fächer  in  der  Sammel- 
klasse nicht  mehr  das  Hauptgewicht  gelegt.  Neben  der  Pflege  des  Gemütes 
wird  die  Entwicklung  und  Ausbildung  der  körperlichen  Geschicklichkeit  als 
das  Hauptziel  des  erziehlichen  Unterrichts  angesehen  und  der  körperlichen 
Betätigung  des  Kindes  der  breiteste  Raum  zugewiesen.  Die  Hälfte  der  täg- 
lichen Unterrichtszeit  wird  auf  Handarbeitsunterricht  verwendet  und  im 
übrigen  dem  Turnen  und  Spielen  ein  angemessener  Raum  gewährt. 

Das  Begabungsproblem  als  Arbeitsthema  in  der  Vereinigung  für  Kinder- 
kunde in  Frankfurt.  Die  rührige  Arbeitsgemeinschaft  hatte  für  das  laufende 
Jahr  folgenden  Plan  aufgestellt:  A.  Kennzeichen  der  Begabung. 
1.  Bericht  über  Stern,  Die  Jugendkunde  als  Kulturforderung.  2.  Die  Intelligenz- 
prüfungen bei  Kindern  und  Jugendlichen.  3.  Verhandlungsbericht  des  3.  Kon- 
gresses für  Jugendkunde  zu  Breslau  über  die  Begabungsunterschiede  der 
Geschlechter.  4.  Über  das  Verhältnis  der  Jugendbegabung  zur  Begabung  Er- 
wachsener. 5.  Genie  und  Talent  und  Schulbegabung.  6.  Ist  die  Testdiagnose 
zur  Ermittelung  besonderer  Begabung  geeignet?  7.  Einfluß  der  Herkunft  und 
Kindheitsentwicklung  auf  die  Begabung.  8.  Jugendbegabung  und  Rasse. 
9.  Das  Wunderkind  und  das  frühreife  Kind.  10.  Psychoanalyse  und  Begabungs- 
fragen. 11.  Die  Ausdrucksmöglichkeiten  der  jugendlichen  Begabung.  12.  Hand- 
schrift und  Begabung.  13.  Der  Schulpsychologe.  14.  Gehirnforschung  und 
Begabung.  15.  Eigene  Beobachtungen  über  die  Entwicklung  hervorragend 
Begabter.  —  B.  Förderung  der  Begabung.  16.  Der  Bildungswert  der 
fremden  Sprachen.  17.  Die  Förderung  Begabter  innerhalb  der  verschiedenen 
Schulgattungen.  18.  Die  Mädchenerziehung  und  der  Aufstieg  der  Begabten. 
19.  Arbeitsschule  und  Begabungsförderung.  20.  Einheitsschule  und  Begabungs- 
förderung. 21.  Das  Berechtigungswesen  und  die  Begabungsförderung.  22.  Sind 
Vorschulen  nötig?  23.  Der  psychologische  Ertrag  der  Grafschen  „Schülerjahre". 
24.  Neuere  Schuleinrichtungen  zur  Förderung  der  Begabten.  —  C.  Verwertung 
der  Begabung.  25.  Bericht  über  Petersen,  Der  Aufstieg  der  Begabten. 
.26.  Bericht  über  Münsterberg,  Psychologie  und  Wirtschaftsleben.  27.  Bericht 
über  Münsterberg,  Psychotechnik.  28.  Bericht  über  Piorkowski,  Beitiäge  zur 
psychologischen  Methodologie  der  wirtschaftlichen  Berufseignung.  29.  Die 
Begabungsverwertung  im  Handwerk.  30.  Die  Begabungsverwertung  im  Kauf- 
mannsstand. 31.  Die  Begabungsverwertung  in  der  Technik.  32.  Die  Begabungs- 
bewertung in  den  gelehrten  Berufen.  33.  Begabungsverwertung  und  soziale 
Schichtung. 

Ein  Fragebogen  zur  Pädagogik  des  Militärs  wird  von  Dr.  W.  A.  Lay  der 

Öffentlichkeit  unterbreitet.  Manche  der  darin  aufgeführten  Gesichtspunkte 
haben  durch  die  Ereignisse  der  jüngsten  Zeit  die  dringende  Notwendigkeit 
ihres  gründlichsten  Durchdenkens  auf  Grund  persönlicher  Erfahrungen  ver- 
loren. Es  wird  aber  auch  ihre  Erörterung,  wenn  ihnen  auch,  als  bereits  über- 
holt, nunmehr  keine  unmittelbar  praktische  Bedeutung  mehr  zukommen  kann, 
nicht  ohne  wissenschafthchen  Wert  sein.  Vieles  aus  der  Fragenreihe  aber 
muß  in  der  Verarbeitung  der  Erfahrungen  am  alten  System  für  die  Neugestaltung 
der  Dinge,  gleichgültig  wie  sie  sich  wenden  möge,  von  Nutzen  werden.    Giiind- 


^CIK  (KU) 

Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen  427 


Satz  für  Lay  ist,  daß  die  soldatische  Ausbildung  nicht  eine  Unterbrechung, 
sondern  eine  Weiterführung  der  Jugendbildung  darzustellen  habe.  Er  bittet 
um  Tatsachen  und  Gedanken  für  die  folgende  Fragenreihe: 

,A.  Welche  körperlichen  und  geistigen  Fähigkeiten  machen  den  Soldaten  aus  und  bedürfen 
der  Fort-  und  Ausbildung? 

B.  Welche  Sonderzwecke  und  Teilziele  muß  also  die  Militärpädagogik  innerhalb  der  Gesamt- 
pädagogik  verfolgen? 

C.  Wie  kann  die  Kaserne  zu  einer  Lebensgemeinschaft  gestaltet  werden? 

D.  Von  dem  oben  gekennzeichneten  erziehungswissenschaftlichen  Standpunkte  aus  zeigt  die 
heutige  militärische  Ausbildung  sich  nicht  frei  von  Mängeln  und  Gefahren  in  Einrichtungen 
und  Maßnahmen  für  die  Pflege,  Zucht  und  Unterricht: 

a)  Welche  Mängel  kennen  Sie?   Schildern  Sie  die  Mängel  an  typischen  Einzelfällen. 

b)  Welche  Vorschläge  machen  Sie  zugleich  angesichts  der  angegebenen  Mängel,  damit  die 
Militärbehörden  ihre  Ziele  leichter  und  vollkommener  erreichen?  Beachten  Sie  jeweils  I.Pflege, 
2.  Zucht,  3.  Unterricht,  und  ordnen  Sie  Kritik  und  Vorschläge  nach  den  Werten  folgender 
Kulturgebiete : 

I.  Hygiene:    1.    Kräftige  Menschen,   leiblich   und  seelisch   gesundes  Volk;    2.  Körperpflege ;- 

3.  Verletzungen  und  Krankheiten  durch  Verschulden  von  Vorgesetzten,  Soldatenkrank- 
heiten; 4.  Geschlechtskrankheiten. 

II.  Volkswirtschaft:  Wie  kann  Kraft,  Zeit  und  Geld  gespart,  der  Sinn  für  Sparsamkeit  im 
ganzen  Militärwesen  ausgebildet  werden  zur  Wohlfahrt  des  einzelnen  und  des  Vaterlandes? 
(Behandlung  von  Waffen,  Geräten,  Bekleidung  us#.).  Inwiefern  kann  Zeit  gewonnen  werden 
für  Fortbildungskurse? 

UI.  Ästhetik:  Wo  und  wie  kann  das  Häßliche  vermieden  und  der  Sinn  für  das  Schöne  aus- 
gebildet und  die  volkstümliche  Kunst  gefördert  werden?  Eigene  künstlerische  Darstellungen 
und  Aufführungen.     Gelegenheit  zu  künstlerischer  Weiterbildung. 

IV,  Wissenschaft:  1.  Welches  sind  die  Mängel  der  militärischen  Belehrung?  (Instruktions- 
stunde.) 2.  Pädagogisch-methodische  Einführung  in  das  Verständnis  militärischer  Gegen- 
stände, Vorgänge,  Handlungen.  3.  Anwendung  der  experimental-pädagogischen  Forschungs- 
methode (Beobachtung,  Statistik,  Experiment)  zur  Auffindung  der  besten  Methoden,  zur 
Erlangung  der  einzelnen  militärischen  Fertigkeiten.  4.  Militärpädagogische  Versuchsstätten, 
geleitet  von  entsprechend  vorgebildeten  Offizieren  (Lehroffizieren).  5.  Herstellung  der  An- 
lagen für  die  einzelnen  Waffengattungen  und  einzelnen  militärischen  Fähigkeiten  und 
Fertigkeiten.  6.  Gruppenbildung  für  ihre  Einübung.  7.  Wie  kann  Lust  und  Liebe  zur 
Sache  (statt  Langeweile  und  Widerwillen)  erzeugt  und  erhalten  werden?  8.  Experimental- 
pädagogische  Feststellung  und  Ausscheidung  der  geistig  Minderwertigen. 
V.  Sittlichkeit  (und  Sozialctbik):  1.  Verstöße  gegen  die  Idee  des  VoJksheeres :  Der  Einjährige ; 
Standeshochmut  und  Absonderung;  „vornehme"  Regimenter  2.  Protektion  und  Beförde- 
rung.    3.  Die  Macht  der  Unteroffiziere,  insbesondere  des  Feldwebels;  ihre  Überwachung. 

4.  Mißbrauch  der  Macht.  5.  Mängel  des  Beschwerdeweges.  6.  „Schmieren".  7.  Bös- 
willige „Schinderei"  und  ihre  Folgen.  8.  Roheiten  in  Wort  und  Tat.  9.  Bedeutung, 
Grenzen  und  Gefahren  des  psycho-physischen  Mechanismus  („Drill").  10.  Schmutz  und 
Schund  in  Heer  und  Marine.  11.  Zersetzung  gesunder  Volkssitten  und  Volksgebräuche: 
„Aufklärung".  12.  Feststellung  und  Ausscheidung  des  sittlich  Abnormen.  13.  Massen- 
suggestion und  Gemeinschaftsgeist.  14.  Gute  und  schlechte  Vorbilder,  namentlich  bei 
Vorgesetzten.  Förderung  des  Pflichtbewußtseins;  einer  für  den  anderen,  alle  für  das 
Ganze  der  Truppe,  der  Kaserne  und  für  das  Vaterland  als  Lebensgemeinde.  16.  Befehle, 
die  bis  ins  einzelne  vorgeschrieben  werden,  und  Aufgaben,  die  Interesse,  Verständnis, 
Selbständigkeit,  Verantwortlichkeit  und  Pflichtgefühl  entwickeln.  17.  Falsche  Autorität  und 
Disziplin  und  ihre  Folgen:  passiver  Widerstand,  innere  Auflehnung,  geheimer  Groll  und  Haß. 

VI.  Religion.  1.  Wie  entsteht  religiöse  Gleichgültigkeit  beim  Militär,  und  wodurch  wird  vor- 
handene gefördert?  2.  Wie  sind  Verächter  und  Spötter  der  Religion  zu  behandeln?  3.  Wie 
ist  Ehrfurcht  vor  dem  Unerforschlichen  und  Heiligen  zu  pflegen?  4  Wie  gegenseitige 
religiöse  Duldsamkeit?  5.  Wie  kann  die  Eigenheit  deutscher  Frömmigkeit  in  Heer  und 
Marine  gefördert  werden? 

E.  1.  Welche  Anforderungen  muß  die  zu  begründende  Militärpädagogik  an  die  Offiziere  und 
Unteroffiziere  stellen?  Abstammung,  Anlagen,  Vorbildung  und  militärpädagogische  Ausbildung. 
2.    Direkte  Kurse  fürdie  Unteroffiziere.  4.  Verwendung  der  pädagogisch  gebildeten  deutschen  Lehrer." 


428  Kleine  Beiträge  und  Mitteilungen 


Nachrichten.  1.  Als  Nachfolger  des  verstorbenen  Professors  Theodor 
E 1  s  e  n  h  a  n  s  ist  der  bisherige  außerordenthche  Professor  der  Universität  München, 
Dr.  Karl  Bühl  er,  zum  ordentlichen  Professor  für  Philosophie  und  Pädagogik 
an  die  Technische  Hochschule  zu  Dresden  berufen  worden. 

2.  Dr.  Karl  Roller,  früher  Privatdozent  an  der  Technischen  Hochschule 
in  Darmstadt,  seit  1.  August  1917  Direktor  der  Höheren  Mädchenschule  (Lyzeum) 
zu  Gießen,  wurde  als  Privatdozent  für  Pädagogik  in  der  Gießener  philo- 
sophischen Fakultät  zugelassen. 

3.  Prof.  Dr.  W.Hellpach  an  der  Technischen  Hochschule  in  Karlsruhe  hat 
einen  Lehrauftrag  für  Psychologie  unter  Einschluß  der  Wirtschaftspsychologie 
und  Pädagogik  erhalten.  Er  liest  im  1.  Winterhalbjahr:  Allgemeine  Seelenkunde 
mit  Übungen  (3  Std.),  die  Grundfragen  des  höheren  Unterrichts  (1  Std.),  im 
1.  Sommerhalbjahr:  Sozialpsychologie  (2  Std.);  im 2.  Winterhalbjahr:  Psychologie, 
der  Arbeit  und  Wirtschaft,  der  Berufs-  und  der  Betriebsführung,  mit  Übungen 
(4  Std.);  im  2.  Sommerhalbjahr:  Allgemeine  Erziehungslehre  (2  Std.). 

4.  Der  Oberlehrer  am  Friedrich- Wilhelm-Gymnasium  in  Köln,  Dr.  Theodor 
Litt,  ist  zum  a.  o.  Professor  der  Pädagogik  an  der  Bonner  Universität  er- 
nannt worden. 

5.  Der  frühere  Straßburger  Universitätsprofessor  Dr.  Theobald  Ziegler, 
der  seine  eifrige  Arbeit  im  Gebiete  der  pädagogischen  Wissenschaft  bis  in 
die  jüngste  Zeit  weiterführte,  ist  auf  einer  Vortragsreise  in  einem  Feldlazarett, 
71  Jahre  alt,  vom  Tod  ereilt  worden. 

6.  Oberstudienrat  Georg  Kerschensteiner  wiu'de  zum  Honorarprofessor 
an  der  Universität  München  ernannt. 


Einzelbesprechungen. 

Max  Verworn,  Die  biologischen  Grundlagen  der  Kulturpolitik.  2.  Aufl. 
Jena  1916.     Gustav  Fischer,     60  S.     1,20  M. 

Ziel  dieser  kleinen  sehr  interessanten  Schrift  ist:  „die  kulturgeschichtlichen 
Probleme,  welche  der  Ausbruch  des  Krieges  bei  uns  ausgelöst  hat,  vom  Stand- 
punkte der  Physiologie  und  Psychologie  zu  betrachten  (3).  Zunächst  erörtert 
V.  das  Wesen  der  objektiven  Erkenntnis,  das  in  einer  widerspruchslosen  Über- 
einstimmung unsers  Denkens  mit  den  Objekten  gelegen  ist"  (6).  Diese  Über- 
einstimmung ist  aber  nur  auf  dem  Wege  einer  fortschreitenden  Anpassung  zu 
erreichen,  weshalb  die  Vervollkommnung  des  Denkens  das  oberste  Ziel  einer 
politischen  Gemeinschaft  sein  sollte,  auch  die  ethischen  Begriffe  und  Handlungen 
werden  dann  immer  mehr  der  Wirklichkeit  angepaßt  sein.  Nach  Erörterung 
des  Begriffes  Kultur  wird  die  Frage  aufgeworfen,  ob  der  Krieg  unvermeidlich  ist 
und  welche  Bedeutung  ihm  für  die  Kultur  zukommt.  Prinzipiell  sind  Kriege 
nicht  unvermeidlich,  sie  sind  die  direkte  Form  des  Kampfes  ums  Dasein,  aber 
in  ihrer  Bedeutung  für  die  Förderung  der  Kultur  der  indirekten  —  der  fried- 
lichen Konkurrenz  der  Individuen  —  bei  weitem  unterlegen,  denn  durch  sie 
wird  sowohl  die  Gesamtheit  der  inneren,  wie  die  der  äußeren  Kulturwerte  ver- 
ringert. Das  einzige  Rezept  zur  Vermeidung  des  Krieges  ist  die  intensive  und 
extensive  Hebung  des  kritisch-experimentellen  Denkens  und  eines  widerspruchslos 
daran  angepaßten  Handelns  (27),  dann  wird  nämlich  auch  ein  politisches  System 
imstande  sein,  einzusehen,  daß  der  Krieg  ein  durchaus  untaugliches  Mittel  ist, 
den  Konkurrenzkampf  mit  anderen  aufzunehmen,  wie  es  England  in  diesem 
Weltkriege    versucht    hat,    daß    ferner    ein    Weltreich    mit    Unterdrückung    der 


Einzelbesprechungen  429 


nationalen  Selbständigkeit  —  ebenfalls  Englands  Ziel  —  ein  biologischer  Wider- 
spruch ist,  daß  vielmehr  ein  solches  Weltreich  —  ein  Kulturorganismus  dritter 
Ordnung  —  nur  das  Produkt  einer  sehr  allmählichen  organischen  Entwicklung 
ist,  zu  der  erst  die  Anfänge  vorliegen.  Auch  in  der  inneren  Politik  zeige  Eng- 
land Fehler  im  Denken. 

Bonn.  Oskar  Kutznor. 

Dr.  Heinrich  Schmidt,  Geschichte  der  Entwicklungslehre.  Leipzig  1918.  Kröner. 
549  S.     12  M. 

Durch  die  Hand  seines  Schülers  und  Freundes,  des  Verwalters  im  Haeckelarchiv  der 
Universität  Jena,  verwirklicht  sich  in  diesem  Werke  eine  Sehnsucht  Ernst  Haeckels :  der  Ver- 
such einer  geschichtlichen  DarsteUung  von  dem  Eindringen  des  Entwicklungsgedankens  in  alle 
Gebiete  des  menschlichen  Denkens  —  eine  Aufgabe,  die  angesichts  des  zu  verarbeitenden 
ungeheuren  Materials  die  Kraft  des  einzelnen  Forschers  wohl  zu  übersteigen  scheint.  So  kann 
nur  in  gedrängter  Darstellung  eine  Übersicht  erwartet  werden,  zumal  sehr  wichtige  Teilgebiete 
vorerst  noch  der  erforderlichen  monogi-aphischen  Behandlung  harren.  Den  Ausgang  nimmt  das 
Werk  von  der  Schöpfungslehre.  Es  verfolgt  dann,  beginnend  mit  altindischen  Lehren,  den  Ent- 
wicklungsgedanken im  philosophischen  Denken  und  im  besonderen  die  Herausarbeitung  des  Ent- 
wicklungsbegriffes. Damit  ist  der  Boden  bereitet,  die  Gebiete  der  Kosmologie,  der  Chemie, 
Geologie,  Biologie  und  Anthropologie  zu  betreten.  Es  ist  aus  der  Sache  heraus  verständlich, 
w^enn  dabei  die  biologischen  Teilgebiete  und  Sonderfragen  eine  gründlichere  Darstellung  er- 
fahren haben.  Psychologie  und  Pädagogik,  für  die  der  Entwicklungsgedanke  von  ganz  ent- 
scheidender Bedeutung  geworden  ist,  w^erden  beide  nicht  behandelt;  doch  rückt  das  Vorwort 
weitere  Bände  in  Sicht,  in  denen  sie  zu  ihrem  Rechte  kommen  sollen. 

Wir  sind  zu  unserem  Bedauern  aus  äußeren  Gründen  gezwungen,  uns  nur  mit  dieser 
kurzen  Anzeige  des  bedeutsamen  Werkes  begnügen  zu  müssen.  Es  mag  aber  eine  ausführ- 
lichere Würdigung  günstigeren  Zeiten  noch  vorbehalten  sein. 

Leipzig.  Rieh.  Tränkmann. 

Deutsche  Psychologie,  herausgegeben  von  Fritz  Giese.  Verlag  Wendt  &  Klauwell. 
Langensalza  1916 — 18:  1.  Band. 

Die  stattliche  Reihe  fachpsychologischer  Zeitschriften,  die  wir  besaßen,  hat  im  Laufe  der 
Kriegsjahre  eine  bedeutende  Verringerung  erfahren  und  die  noch  erscheinenden  Fachschriften 
sind  an  Umfang  sehr  schmächtig  geworden.  Das  ist  kein  guter  Stand  für  eine  Wissenschaft 
die  mehr  als  je  vom  praktischen  Leben  in  Anspruch  genommen  wird  und  auf  einmal  Dienste 
leisten  soll,  die  sich  im  Frieden  niemand  im  Traume  zu  erhoffen  wagte.  Um  so  freudiger  muß 
man  den  nicht  beengten  Unternehmungsgeist  des  neuen  Verlegers  und  Herausgebers  der 
„Deutschen  Psychologie"  begrüßen.  Es  möge  der  Titel  der  Zeitschrift,  die  sich  der  reinen  und 
angewandten  Seelenkimde  dienstbar  macht,  ein  gutes  Zeichen  für  die  weitschichtige  Entfaltung 
der  im  Kriege  recht  beträchtlich  gewachsenen  deutschen  Psychologie  sein. 

Der  stattliche  1.  Band,  der  abgeschlossen  vorliegt,  bringt  eine  Anzahl  großer  und  wertvoller 
Arbeiten,  die  infolge  ihrer  gründlichen  Durchführung  größtenteils  auch  weitere  Kreise  inter- 
essieren werden.  Insbesondere  werden  Pädagogen,  Ärzte,  Juristen  nicht  daran  vorbeigehen 
dürfen.  Die  gründliche  Berichterstattung  über  Neuerscheinungen  ist  uns  besonders  lieb  ge- 
worden, und  die  neue  Art  der  Bibliographie  zu  den  Hauptarbeiten  erscheint  sehr  praktisch, 
insofern  der  Leser  nicht  durch  die  tausenderlei  Anmerkungen  gestört  und  der  Forscher  dort 
auf  die  ihn  interessierenden  Grundlagen  der  behandelten  Probleme  aufmerksam  gemacht  wird. 

Die  psychobiologischen  Grenzgebiete  fanden  durch  eine  Abhandlung  Austens  Berück- 
sichtigung „über  die  Beeinflußiing  der  arteigenen  Entwicklung  durc!»  die  Nervendrüsen  und  durch 
das  Nervensystem"  (S.  193  ff.).  Kretzschmar  legt  die  Beziehungen  zwischen  „Psychologie 
der  Kulturgeschichte  und  Völkerpsychologie*  kritisch  auseinander  (S.  30  ff.).  Die  durchaus 
bündigen  Anschauungen  eines  Ludwig  Klages  finden  eine  glänzende  Zusammenfassung  in 
seiner  Arbeit  über  „Geist  und  Seele"  und  erläutern  die  Eindringung  in  das  nicht  leichte  System 
des  rasch  namhaft  gewordenen  Charaklerologen  (S.  281,  361).  Willi  Neff  bringt  einen  experi- 
mentellen Beitrag  „zur  Psychologie  des  unmittelbaren  Behaltens  und  des  Wiedererzählens' 
(S.  109);  Else  Voigtländer  „über  einen  bestimmten  Sinn  des  Wortes  „unbewußt"  (S.  63). 
Die  psychologisch-ästhetische  Seite  der  Psychologie-Forschung  ist  durch  Müller-Freientels' 
Studie  „zur  Psychologie  des  Komischen"  vertreten  (S.  20,  145).  Insbesondere  widmet  sich  die 
Zweitschrift    den  okkulten  Grenzfragen,  worüber  auch  in  der  Bibliographie  Berichte  gegeben  sind. 


430  P^inzelbesprechungen 

Die  „Kriegsfrömmigkeit"  analysiert  A.  Messer  (S.  201).  K.  Jagow  bringt  interessante  Auf- 
zeichnungen über  „Fische  im  Aberglauben  früherer  Zeiten"  (S.  50).  Mela  Escherich  stellt 
„das  Visionenwesen  in  den  mittelalterlichen  Frauenklöstem"  dar  (S.  153).  Und  schließlich  muß 
der  umfangreichen  Studie  des  Erforschers  der  emotionalen  Ichwelt  und  des  Religionspsychologen 
K.  Oesterreich  über  „den  Besessenheitszustand,  seine  Natur  und  seine  religions-  und  volks- 
psychologische Bedeutung"  (S.  1,  123,  214,  441,  481)  gedacht  werden.  Der  experimental- 
pädagogische  Reichtum  des  1.  Bandes  ist  in  drei  umfangreichen  Untersuchungen  begründet. 
M.  Kesselring  bringt  seine  längst  erwarteten  Untersuchungen  über  „die  Stellung  der  Schüler 
zu  den  Unterrichtsgegenständen"  (S.  313,  416),  Frau  Hösch-Ernst  einen  „Beitrag  zur  Psycho- 
logie der  Schulkinder  beim  Betrachten  von  Bildern"  (S.  233)  und  J.  Schrenk  eine  Unter- 
suchung über  „die  kategoriale  Beschaffenheit  der  Schüleraussagen"  (S.  397). 

So  ist  aus  dem  Unternehmen  eine  vielseitige  Beachtung  des  weiten  Feldes  ersichtlich,  wio 
sie  dem  Fachpsychologen  und  insbesondere  dem  Praktiker  und  gebildeten  Laien  kaum  besser 
in  der  Zeit  der  Papiernot  geboten  werden  kann.  lu  unseren  periodischen  Sammelberichten 
werden  wir  auf  die  pädagogisch  wichtigen  Arbeiten  noch  zurückkommen. 

Marktsteft  i.  B.  W.  J.   Ruttmann. 

Neudrucke  zur  Psychologie,  herausgegeben  von  Fritz  Gie.se,  Verlag  von  Wendt  &  Klauwell. 
Langensalza  1917/18. 

1.  Band:  W.  v.  Humboldt,  Über  den  Geschlechtsunterschied.    Über  die  männliche  und  weib- 
liche Form. 

2.  Band:  Materialien  zur  Blindenpsychologie.    Zu.sammengestellt  und  bearbeitet  von  Dr.  Ferdi- 
nand V.  Gerhardt. 

3.  Band:  Der  Krieg  und  die  komplementäre  Kulturpsychologie. 

1.  Heft:  K.  Wittig,  Die  ethisch  minderwertigen  Jugendlichen  und  der  Krieg. 

Wie  die  „Deutsche  Psychologie",  so  wenden  sich  auch  die  im  gleichen  Verlage  heraus- 
gegebenen „Neudrucke"  an  Fachgelehrte  und  gebildete  Laien  zur  Vertiefung  des  psychologischen 
Wissens.  Die  in  neuerer  Zeit  eifrig  gepflegte  Sexualpsychologie,  die  bekanntlich  O.  Lipmann 
im  ersten  die  jugendjiche  Seite  zusammenfassenden  Beitrag  in  seinen  „Psychischen  Geschlechts- 
unterschieden" geliefert  hat  (Lpzg.  19071,  findet  eine  eingehende  historische  Begründung  in  den 
verstreuten  Einsichten  W.  v.  Humboldts.  Die  bis  in  jüngste  Zeit  so  vernachlässigte  Psycho- 
logie des  Minderwertigen  wird  durch  den  Sammelband  v.  Gerhardts  weitschichtig  angeregt, 
sofern  auf  Probleme  hingewiesen  wird,  die  im  allgemeinen  (identisch  dem  Versuche  Bürklens) 
nur  durch  die  Blinden  selbst  aufgeklärt  werden  können.  Die  nicht  weniger  zeitgemäßen  Be- 
richte und  Urkunden  des  Strafanstaltslehrers  Wittig  geben  einen  wichtigen  Eindruck  von  der 
Gefahr  der  Verwahrlosung  in  der  Kriegszeit  und  tragen  bereits  zahlreiche  pädagogische  Keime, 
die  der  Praktiker  hegen  und  entwickeln  muß.  Die  Fortsetzung  der  komplementären  Kultur- 
psychologie mit  Bezug  auf  den  Krieg  wird  die  Zeitfragen  des  höheren  imd  niederen  Seelen- 
lebens in  vielseitiger  Weise  zu  erörtern  suchen.  Das  Arbeitsziel  Gieses  und  seiner  Mitarbeiter 
darf  als  ein  sehr  wertvoller  Beitrag  zum  Verständnis  der  dem  Kulturmenschen  von  ehedem  so 
unnatürlich  scheinenden  Ereignisse  und  Erscheinungen  betrachtet  werden.  Die  Beseitigung  von 
ehemals  unterbewußten  und  nunmehr  sich  aufdrängenden  Schäden  am  Volkskörper  kann  durch 
wissenschaftliche  Bloßlegung  der  Zusammenhänge  nur  gefördert  werden. 

Marktsteft  i.  B.  W.  J,  Ruttmann. 

Max  Dessoir  und  Paul  Menzer,  Professoren  der  Philosophie  an  den  Universitäten  zu  Berlin, 
und  Halle,  Philosophisches  Lesebuch.  4,  AufL  Stuttgart  1917.  Enke.  321  S.  6,00  M. 
Das  philosophische  Lesebuch  von  Dessoir  und  Menzer,  erstmals  1903  erschienen  und  in  den 
folgenden  Auflagen  mannigfach  verbessert  und  vor  allem  bereichert,  will  didaktischen  Zwecken 
dienen,  sowohl  dort,  wo  mit  ernstem  Willen  auf  eigenem  Wege  der  Zugang  zu  den  großen 
Denkern  gesucht  wird ,  als  auch  in  der  geordneten  Unterweisung  auf  den  Universitäten ,  in 
der  es  mehr  oder  minder  einer  Ergänzung  zu  den  Vorlesungen  bedarf,  die  den  Studenten  an 
die  philosophischen  Klassiker  führt.  Auch  an  die  philosophische  Propädeutik  in  den  höheren 
Schulen,  was  wir  unterstreichen  möchten,  ist  gedacht.  Es  heißt  darüber  bemerkenswert  im 
Vorwort:  „Wie  die  Dinge  sich  jetzt  gestaltet  haben,  werden  Elemente  der  Philosophie  den 
Schülern  der  obersten  Klassen  zum  Ersatz  für  andere,  ihnen  verlorene  Bildungsbestandteile  dar- 
geboten werden  müssen;  im  Grunde  kann  nur  fraglich  sein,  ob  eine  historische  oder  syste- 
matische Unterweisung  vorzuziehen  ist.  Mit  Hilfe  dieses  Werkchens  kann  beides  miteinander 
verbunden  und  das  Selbstdenken  des  Jünglings,  das  hitzig  zur  Weltanschauung  emporstrebt,  aul 
die  bestimmten  Probleme  hingeleitet  werden.    Selber  denken  lernt  man  am  besten  an  einem 


Einzelbespreohungen  4g  j^ 


Stolfe,  der  durch  und  durch  Gedanke  ist,  und  dieser  Stoff  kann  nicht  anders  als  durch  Eigen- 
tätigkeit wahrhaft  aufgenommen  werden." 

Auf  solchen  Zweck  hin  haben  die  Herausgeber  23  Philosophen  der  Vergangenheit,  zeitlich 
geordnet,  das  Wort  gegeben.  Vielleicht  fügt  eine  neue  Auflage  zu  ihnen  noch  Lipps  und  Wundt. 
Die  Auswahl  der  Texte  ist  teils  nach  geschichtlicher  und  sachlicher  Wichtigkeit,  teils  nach 
schöner  Darstellung  und  der  kennzeichnenden  Kraft  geschehen.  Vornehmlich  sind  neben  er- 
kenntnistheoretischen Grundfragen  die  allgemeinen  Denkprobleme  berücksichtigt;  unter  den 
fehlenden  Gebieten  dürfte  die  Psychologie  besonders  ungern  vermißt  werden.  Wenn  vor  größerer 
Schwierigkeit  nicht  ausgewichen  ist,  so  wird  dies  damit  gerechtfertigt,  daß  eben  Vertiefung  in 
philosophische  Texte  eine  ernste,  kraftfordernde  Angelegenheit  sei  und  daß  ein  Lesebuch,  das  mit 
der  Einstellung  auf  geistige  Erholung  diesen  Sachverhalt  verdeckt,  nur  schaden  dürfte.  Immerhin 
würde  sich  —  besonders  für  die  Verwendung  im  Schulunterrichte  — ,  ohne  die  Höhenlage  des 
Ganzen  herabzudrücken,  die  Auswechselung  einiger  besonders  schwieriger  Abschnitte  empfehlen. 
Eine  gewiß  angebrachte  Handführung  ist  übrigens  durch  nicht  zu  sparsam  angefügte  Erläute- 
rungen gegeben.  Diese  selbst  aber  rechnen  auch  schon  mit  einem  nicht  geringen  Grade  philo- 
sophischer Schulung;  sie  wollen  wohl  aber  auch  zumeist  weniger  Verständnishilfen  geben,  als 
vielmehr  das  Denken  zu  weiterem  Ausgreifen  ermuntern  und  anleiten.  Die  kleine  Äußerlichkeit 
eines  Verweises  inmitten  des  Textes  auf  die  jeweils  betreifende  Erläuterung  würde  den  prak- 
tischen Gebrauch  fördern,  auf  den  sonst  die  äußere  Form  des  Buches  in  jeder  Weise,  so  durch 
Zeilenzählung,  durch  gelegentliche  freie  Einfügung  von  Überschriften,  durch  Übersetzung  der 
fremdsprachigen  Texte,  durch  Anwendung  der  jetzt  geltenden  Rechtschreibung  und  Zeichen- 
setzung vorsorglich  Bedacht  genommen  hat. 

Im  Lehrerinnenseminar  haben  wir  in  Ermangelung  eines  Lehrbuches,  das  sich  auf  die  dort 
in  Verbindung  mit  der  Psychologie  und  Pädagogik  zu  betreibende  philosophische  Propädeutik 
einstellt,  versuchsweise  das  Dessoir-Menzersche  Lesebuch  in  einzelnen  Teilen  benützt  und 
schätzen  gelernt.  Wir  brauchen  dort  dringend  ein  eigens  für  die  besonderen  Zwecke  der 
heute  so  bedeutend  wissenschaftlich  vertieften  Lehrerbildung  eingerichtetes  Buch,  das  die 
Schwierigkeit  etwas  mindert  und  inhaltlich  noch  anders  auswählt. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

W.  Haas,  Die  Seeledes  Orients.  Grundzüge  einer  Psychologie  des  orientalischen  Menschen, 
Jena  1916.     E.  Diederichs.    46  S.    1,00  M. 

Eine  derartig  anerkennende  Beurteilung  der  Studie  zuteil  werden  zu  lassen,  wie  es  im 
Theol.  Lit.-Ber.  1916,  11.  Heft,  S.  272  Simon-Barmen  vermochte,  ist  mir  leider  versagt.  Das 
Buch  ist  im  wesentlichen  reinste  konstruktive  Psychologie,  die  mit  der  Wirklichkeit  oft  in 
härtestem  Widerspruch  steht.  Wenn  man  die  Definition  des  okzidentalen  Menschen-Typus,  wie 
ihn  der  Verf.  annimmt,  nämlich  als  stetig  apperzipierendes,  die  Mannigfaltigkeit  der  Eindrücke 
vereinheitlichendes  Ich,  in  sein  logisches  Gegenteil  verkehrt,  ergibt  sich  der  orientalische 
Menschentyp,  wie  ihn  d«r  Verf.  schildert,  so  daß  man  den  Eindruck  gewinnt,  der  Verf.  hat 
zum  abendländischen  Menschen  das  Gegenteil  entwerfen  wollen.  Ein  völlig  vager,  abstrakter 
Begriff  des  Orientaliechen  liegt  so  dem  Buch  zugrunde,  das  in  der  Wirklichkeit  nicht  von  ferne 
eine  derartige  persönliche  Vereinheitlichung  zuläßt.  Wie  soll  man  in  einem  buddhistischen 
Mönch  ein  Beispiel  für  das  orientalische  Nebeneinander  der  seelischen  Inhalte  sehen  können? 
Wie  würde  wohl  der  Verf.  die  Polarvölker  oder  die  amerikanischen  Völker  psychologisch  ein- 
ordnen, da  es  doch  eigentlich  andere  Menschheitstypen  neben  den  beiden  Haas'schen,  wenn 
man  sie  akzeptiert,  kaum  geben  dürfte? 

Insofern  man  aber  von  den  Begriffen  des  Orients  und  Okzidents  absieht,  könnte  man  in 
des  Verf.s  Skizze  die  Ansätze  zu  einer  allgemeinen  Kulturpsychologie  finden,  insofern  sich 
offenbar  in  der  Entwicklungsgeschichte  der  Menschheit  eine  immer  größer  werdende  Intensität 
des  seelischen  Lebens  nach  Inhalt  und  Umfang  herausgebildet  hat.  Diese  größere  Intensität  des 
seelischen  Lebens  würde  man  mit  der  Terminologie  des  Verf.  als  die  (okzidentalische)  ver- 
einheitlichende Kraft  des  Ich  bezeichnen  können ,  während  das  Primitive  die  seelischen  Inhalte 
mehr  oder  minder  „unverknüpft"  nebeneinander  zeigt.  Fernerhin  finden  sich  neben  vielen 
übertriebenen  Sätzen  auch  manche  brauchbare  Bemerkungen,  besonders  über  die  indischen 
Religionsformen,  die  aber  durchaus  nicht  neu  sind.  Trotz  aller  behaupteten  einheitlichen  Kon- 
zeption des  seelischen  Typus  des  orientalischen  Menschen  kann  ich  aber  das  Gefühl  nicht  los 
werden,  daß  dem  Verf.  bei  den  verschiedenen  Abschnitten  seines  Buches  verschiedene  orien- 
talische Typen,  allerdings  recht  anschaulich,  vor  Augen  gestanden  hätten ;  so  z.  B.  bei  der  Schil- 
derung der  verhaltenen  Rache  eben  ein  chinesischer  Kuli,  oder  bei  der  Schilderung  der  oriön- 


432  Einzelbesprechungen 


tauschen  Würde  ein  Beduine,  oder  bei  der  Schilderung  der  Monotonie  dea  Lebens  ein  indischer 
Jogin  oder  ein  buddhistischer  Asket. 

Leipzig.  Rudolf  Lehmann. 

Max  Verworn,  Zur  Psychologie  der  primitiven  Kunst.  Ein  Vortrag  mit  33  Ab- 
bildungen im  Text.    Zweite  Aufl.    Jena  1917.     Gustav  Fischer.     48  S.     1,00  M, 

Max  Verworn  meint  in  seiner  Schrift,  daß  die  physioplastische  Kunst,  d.  h.  die  naturgetreue 
Darstellungsweise  der  alten  Mammut-  und  Bisonjäger  der  Renntierzeit,  wie  diese  an  den  b&- 
rühmten  nordspanischen  und  südfranzösischen  Fundstellen ,  den  Höhlen  von  Altamira ,  La 
Mouthe  usw. ,  zu  beobachten  ist ,  der  historische  Anfang  der  Kunst  überhaupt  sei.  Die  Kon- 
zeption verkehrter  Vorstellungen,  wie  der  Seelenidee  und  der  darauf  beruhenden  Spaltung  des 
menschlichen  Wesens  in  Leib  und  Seele,  hätten  diese  schöne  und  reine  naturwahre  Kunst 
mehr  und  mehr  zur  ideoplastischen  entstellt,  so  daß  Schöpfungen  einer  zügellosen,  bizarren, 
auf  Schritt  und  Tritt  von  Geisterfurcht  erfüllten  Phantasie  schließlich  daraus  gefolgt  wären,  die 
von  der  Natur  sich  völlig  entfernt  hätten.  An  den  ideoplastischen  Zeichnungen  der  Kinder  wie 
fast  aller  heutigen  Naturvölker,  mit  Ausnahme  der  Buschmänner  Südafrikas,  könne  man  diese 
traurige  Entwicklung,  die  nun  zum  Erbfehler  der  Menschen  geworden  ist,  noch  unmittelbar 
konstatieren. 

Dieser  „entwicklungsgeschichtliche"  Versuch  des  als  Physiologen  berühmten  Verfassers 
ist  eine  weder  psychologisch  noch  historisch  haltbare  Konstruktion.  Erstens  ist  die  Frage,  ob 
die  Kunst  der  einstigen  Höhlenbewohner  Südfrankreichs  und  Nordspaniens  der  Diluvialzeit  über- 
haupt als  Anfang  einer  kulturgeschichtlichen  Entwicklung  angesehen  werden  darf,  oder  nicht 
viel  mehr  als  der  Abschluß  einer  vorausgehenden,  unserer  Kenntnis  bis  jetzt  entzogenen  Ent- 
wicklung. Damit  wird  das  wichtigste  historische  Argument  Verwoms  völlig  schwankend. 
Zweitens  vergißt  V.  ganz  und  gar,  daß  das  Zeichnen  eine  Kunst  ist,  die  trotz  aller  angeborenen 
Fähigkeiten  dazu  erlernt  bzw.  geübt  sein  will.  Nach  V.  müßte  der  Mensch  als  vollkommener 
Physioplastiker  geboren  werden,  und  je  älter  er  wird  und  je  mehr  er  Vorstellungen  und  Ge- 
danken bildet,  um  so  mehr  setzt  er  sich  dann  der  Gefahr  aus,  der  er  auch  wie  V.  im  all- 
gemeinen unterliegt,  zum  ideoplastischen,  naturwidrigen  Darsteller  zu  werden!  Hier  zeigt  sich 
die  eigentümliche  philosophische  Auffassung  des  V.  vom  Seelenleben  ebenso  deutlich  wie  in 
dem  Versuch,  das  Geheimnis  des  künstlerischen  Schaffens  durch  Anatomie  der  Gehirnvorgänge 
zu  lösen,  wie  er  es  S.  15  f.  seiner  Schrift  unternimmt. 

Leipzig.  Rudolf  Lehmann. 

Paul  Dubois,  Professor  an  der  Universität  Genf,  Über  den  Einfluß  des  Geistes  auf 
den  Körper.     7.  Aufl.     Bern  1918.    A.  Francke.     108  S.     1,80  M. 

Jeglicher  Erörterung  metaphysischer,  psychologischer  und  physiologischer  Fragen  aus- 
weichend, geht  die  Schrift  auf  die  praktische  P'orderung  einer  geistigen  Hygiene  aus.  Sie  belegt 
mit  anschaulichen  Beispielen  —  teils  dem  Alltag,  teils  der  ärztlichen  Praxis  entnommen  —  die 
bekannte  Tatsache,  daß  sich  viel  körperliches  und  seelisches  Mißbehagen  von  suggestiver  Be- 
einflussung herleitet  und  daß  ein  fester  und  starker  Wille  zu  leibgeistiger  Gesundheit  manchem 
inneren  und  äußeren  Übel  vorbeugt  oder  es  verscheucht.  In  solcher  Einstellung  entpuppt  sich 
die  Schrift  schließlich  entgegen  den  Vermutungen,  die  ihr  Titel  aufkommen  lassen  muß,  als  ein 
pädagogischer  Vortrag  in  volkstümlicher  Form.  Verkündet  sie  in  der  Forderung  einer  auf  das 
Gesunde,  Frische,  Herzhafte,  Frohe  zielenden  Selbsterziehung  auch  keine  neue  Weisheit,  so 
doch  eine  solche,  die  in  der  Stimmungslage  unserer  Zeit  nicht  oft  genug  gepredigt  werden  kann. 

Leipzig.  Otto  Scheibner. 

F'roL  Dr.  R.  Zander,  Vom  Nervensystem,  seinem  Bau  und  seiner  Bedeutung  für 
Leib  und  Seele  im  gesunden  und  kranken  Zustande.  (Natur  u,  Geisteswelt  Nr.  48.) 
3.  Aufl.    Mit  27  Abb.     Leipzig  1918.     Teubner.     134  S.     1,50  M. 

Der  Ausgang  vom  tierischen  Nervensystem,  die  Ausmündung  in  gesundheitliche  An- 
weisungen, die  Einbeziehung  psychologischer  Gebiete,  die  Berücksichtigung  von  Nervenkrank- 
heiten, femer  die  fast  überreiche  Angabe  von  Quellenliteratur  sind  Vorzüge  dieses  Bändchens, 
die  es  vor  andereir  volkstümlichen  Darstellungen  des  wichtigen  Gegenstandes  nicht  zurück- 
treten lassen.  Die  bildliche  Ausstattung  macht  nicht  die  üblichen  Anleihen  aus  anderen  Werken, 
ivät  aber  unseres  Erachtens  zu  spärlich.  Tr. 


Druek  von  3.  B.  Hirschfeld  (A.  Pries)  in  Lsiptüg. 


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