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D 490082
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3f7 5-
ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE
UND
PHILOSOPHISCHE KRITIK
VORMALS
FICHTE-ULRICISCHE ZEITSCHRIFT
IM VEREIN MIT
DR. H. SIEBECK DR. J. VOLKELT
PROFESSOR IN GIESSEN PROFESSOR IN LEIPZIG
UND
DR. R. FALCKENBERQ
PROFESSOR IN ERLANGEN
HERAUSGEGEBEN UND REDIGIERT
VON
DR. LUDWIG BUSSE
PROFESSOR IN KÖNIGSBERG I. PR.
BAND 126
LEIPZIG 1905
R. VOIGTLÄNDERS VERLAG
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Inhalt
Seite
Das Verhältnis des Fühlens, des Begehrens und des Wollens zum Vor-
stellen und Bewusstsein. Von Julius Bergmann. (Schluss) . i
Die Einfühlung und das Symbol. Von Robert M. W ernaer . . . 29
Zur Verteidigung des Pantheismus Eduard von Hartmanns. Von
Anton Korwan 44
Recensumen:
H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung. Zweite Hälfte. Von Arvid Grotenfelt 61
Dr. J. Gold Friedrich: Die historische Ideenlehre in Deutschland.
Von L. RiEss 67
Leo Koenigsberger: Hermann v.Helmholtz. Von Dr.MAxIssERLiN 70
L. Levy-Bruhl: Die Philosophie August Comtes. Von Hermann
Schwarz 73
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Heraus-
gegeben von BAumker und v. Hertling (III, 6; IV, 1—3). Von
H. Siebeck 74
Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte. Von Otto
SCHÖNDÖRFFER 78
Dr. Heinrich Romundt: Kants philosophische Religionslehre, eine
Frucht der gesamten Vernunftkritik. Von demselben 8i
Dr. F. Wollny: Der Materialismus im Verhältnis zu Religion und
Moral. — Naturwissenschaft und Occultismus, Von Chr. D. Pflaum 83
Dr. Joseph Geyser: Grundlegung der empirischen Psychologie,
Von H. Cornelius 84
Alfred Klaar: Wir und die Humanität. Von Arvid Grotenfelt 85
A. Kt) htm ANN : Maine de Biran. Von Dr. E. König 86
Schillers philosophische Schriften und Gedichte (Auswahl). Zur
Einführung in seine Weltanschauung. Mit ausführlicher Einleitung
herausgegeben von Eugen Kt^HNEMANN. Von Goebel .... 89
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. Von August
Messer 91
LuDw. Woltmann: Politische Anthropologie. Eine Untersuchung
über den Einfluss der Deszendenztheorie auf die Lehre von der
politischen Entwickelung der Völker. Von HansReichel. . . 95
Paul Schwartzkopff: Das Leben als Einzelleben und Gesamtleben.
Fingerzeige für eine gesunde Weiterbildung von Kants Welt-
anschauung. Von GoEBEL 97
J. Unold, Die höchsten Kulturaufgaben des modernen Staates. Von
Arvid Grotenfelt 98
lo^829 ^ g.^.^^^ ^y Google
Seite
An Herrn Prof. Dr. H. Cornelius! Von Prof. Jos. Geyser . . loo
Zu Herrn Geysers Erwiderung usw. Von H. Cornelius . . . 103
Selbstanseige, Dr. Heinrich Pudor: Die neue Erziehung. Essays
über die Erziehung zur Kunst und zum Leben 103
Notii^en 105
Neu eingegangene Schriften 105
Alts Zeitschriften 109
Der Wandel in Schillers Weltanschauung. Von Dr. HansClasen . 113
Die neueren Bände der akademischen Kant -Ausgabe. Von Karl
Vorländer 140
Identität und Gleichheit mit Beiträgen zur Lehre von den Mannigfaltig-
keiten. Von Kurt Geissler 168
Über den Text der Lucasschen Biographie Spinozas. Von J.Freudenthal 189
Recensionen:
Guido Villa: Einleitung in die Psychologie der Gegenwart. Über-
setzt von Chr. Pflaum. Von Störring 209
G. Kunze: Katechismus der Religionsphilosophie. Von G. Vorbrodt 210
D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand.
Deutsch von C. Nathansohn. Zweite, verbesserte Auflage. Von
H. Brömse , an
J. Freuden thal: Spinoza, Sein Leben und seine Lehre. Erster
Band: Das Leben Spinozas. Von LtJLMANN 214
J. Bau mann: Deutsche und ausserdeutsche Philosophie der letzten
Jahrzehnte dargestellt und beurteilt. Von Karl Vorländer. . 216
Ludwig Goldstein: Moses Mendelssohn und die deutsche Ästhetik.
Von A. TuMARKiN 218
Gustav Class: Die ReaUtät der Gottesidee. Von Ernst Fischer 220
Dr. Otto Siebert: Rudolf E«ckens Welt- und Lebensanschauung.
Von demselben 221
Dr. Ludwig Keller: Johann Gottfried Herder und die Kultgesell-
schaften des Humanismus. Von demselben 221
Dannemann: Grundriss einer Geschichte der Naturwissenschaften.
Von Dr. E. König 222
Karl Vorländer: Die neukantische Bewegung im SoziaUsmus.
Von Arvid Grotenfelt 223
Wilhelm Ament: Begriff und Begriffe der Kindersprache. Von
V. Aster 223
O. FLtJGEL: Die Seelenfrage, mit Rücksicht auf die neueren Wand-
lungen gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Von demselben 224
Dr. Franz Jahn: Das Problem des Komischen in seiner geschicht-
lichen Entwicklung. Von Dr. Strecker 225
Entgegnung. Von Dr. F. Wolli^y 226
Selbstanaeige, Oscar Ewald: Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen,
die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Sinn des Übermenschen 226
Notizen 228
Neu eingegangene Schriften 228
Aus Zeitschriften 231
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ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE KRITIK
R VOIQTLÄNDERs VERLAG IN LEIPZIG
Band 126. Heft 1
Das Verhältnis des Fühlens, des
Begehrens und des WoUens zum
Vorstellen und Bewusstsein.
Von Julius Bergmann.
(Schluss.)
ni.
Das Begehren und das Wollen.
I. Ebensowenig wie die Gefühle würden die Begebnmgen
es zulassen, zum Bewusstsein in das Verhältnis von Modis zum
Attribute gesetzt zu werden, wenn der Begriff des Bewusstseins
sich vollständig mit demjenigen der Vereinigung aller gleichzeitigen
Vorstellungstätigkeiten einer Seele deckte. Und auch, dass das
Begehren nicht dasselbe wie FüÄen oder eine Art des Fühlens
ist, ist unmittelbar einleuchtend. Hieraus kann jedoch nicht ge-
schlossen werden, dass den Begriffen des vorstellenden imd des
fühlenden Bewusstseins derjenige des Begehrens als ein solcher
zur Seite zu stellen sei, der, wie jene beiden zueinander, so
wieder zu jedem von ihnen in der Beziehung stehe, objektiv mit
ihm identisch und subjektiv von ihm verschieden zu sein, dass es
also nicht bloss zwei, sondern drei Gesichtspunkte gebe, unter
denen das Bewusstsein betrachtet werden könne, oder dass die
beiden einseitigen Ansichten, denen sich das Bewusstsein als vor-
stellendes und als fühlendes darstellt, der Ergänzung durch eine
dritte bedürfen. Denn das Zugestandene lässt auch die Annahme
zu, dass in der Verbindung das Vermögen des Vorstellens und
des Fühlens die Seele des Begehrens besitze, oder bestimmter,
dass das Begehren eine nur fühlenden Wesen mögliche Weise
des Vorstellens sei.
Dass in der Tat das nur innerlich Wahrnehmbare, das ich
mit dem Worte Begehren bezeichne, und das auch wohl allein
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 196 1
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JULIUS BERGMANN.
gemeint sein kann, wenn von einem besonderen Vermögen des
Begehrens neben denen des Vorstellens und Fühlens die Rede ist,
eine Weise des Vorstellens ist, ergibt sich mir aus einer einfachen
Überlegung. Jedes Begehren ist darauf gerichtet, dass ein ge-
wisser Sachverhalt bestehe, ist mit anderen Worten Begehren der
Wirklichkeit eines gewissen Seins oder Geschehens; es ist ihm
also mit dem Vorstellen gemein, einen Gegenstand zu haben,
während, wie wir früher (II, J bemerkten, das Fühlen (wenn dar-
unter nicht das innere Wahrnehmen eines Zustandes der Lust
oder Unlust, sondern ein solcher Zustand selbst verstanden wird),
sich nicht in der Weise auf etwas bezieht, dass von ihm gesagt
werden könnte, es sei darauf gerichtet oder habe es zum Gegen-
stande oder sei Fühlen desselben. Andererseits ist es die Natur
des Begehrens, dass der Sachverhalt, auf dessen Wirklichkeit es
gerichtet ist, von dem Begehrenden vorgestellt wird. Wäre da-
her das Begehren nicht selbst Vorstellen seines Gegenstandes, so
müsste ich, wenn ich die Wirklichkeit eines Sachverhaltes begehre,
neben dem Vorstellen dieses Sachverhaltes eine andere auf ihn
gerichtete, ihn zum Gegenstande habende Tätigkeit in mir finden.
Das aber ist nicht der Fall. Allerdings zeigt mir die Selbst-
beobachtung, dass sich vielfach, wenn ich etwas begehre, mit
meinem Vorstellen des Begehrten eine leibliche und seelische Er-
regung verbindet, aber diese Erregung stellt sich mir nicht als
ein das Vorgestellte zum Obiekte habendes Verhalten dar; sie ist
also nicht selbst mein Begehren, sondern schon ein Folge
desselben.
Wird der Begriff des Begehrens demjenigen des Vorstellens
untergeordnet, so erhebt sich die Frage, wodurch sich das Be-
gehren von allen anderen Weisen des Vorstellens unterscheide,
oder welcher Bedingung ein Vorstellen entsprechen müsse, um
Begehren zu sein. Der Beantwortung dieser Frage habe ich je-
doch zwei den Umfang, den der allgemeine Sprachgebrauch dem
Begriffe des Begehrens gibt, betreffende Bemerkungen voran-
zuschicken, eine, die ihn verengert und eine, die ihn erweitert.
Erstens nehme ich das Wort Begehren in dem engeren Sinne,
demzufolge alles Beehrte unmittelbar, d. i. seiner selbst wegen,
keines mittelbar d. i. wegen eines mit ihm verbundenen oder ihm
nachfolgenden Sachverhaltes begehrt wird, wonach z. ß. der
durstige Wanderer, der sich nach einem Wirtshause umsieht,
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USIV, 3
nicht ein Wirtshaus zu finden, sondern nur zu trinken begehrt.
Diese Bestimmung ergibt sich aus der Erwägung, dass, wenn dem
unmittelbaren Begehren ein mittelbares gegenübergestellt wird,
offenbar das letztere nicht mit dem ersteren, sondern mit dem-
jenigen Vorstellen, welches weder immittelbares noch mittelbares
Begehren ist, gleichartig ist, dass also die Psychologie, wenn sie
den Begriff des Begehrens in völliger Uebereinstimmung mit dem
allgemeinen Sprachgebrauche bestimmen wollte. Ungleichartiges
zusammenfassen und Gleichartiges trennen würde. Eine weitere
Bedeutung, zweitens, als die sonst übliche gebe ich dem Worte
Begehren insofern, als ich ein Vorstellen auch dann mit ihm be-
zeichne, wenn es sich von dem sonst so bezeichneten nur dadurch
unterscheidet, dass es einen gegenwärtigen (mit ihm gleichzeitigen)
Sachverhalt zum Inhalte hat. Nach der gewöhnlichen Ausdrucks-
weise nämlich bezieht sich alles Begehren auf die Zukunft; nie-
mals soll die von uns begehrte Wirklichkeit eines Sachverhaltes,
mag derselbe schon in dem Augenblicke des Begehrens wirklich
bestehen oder nicht, die auf diesen Augenblick bezogene sein,
sondern stets soll sie in eine, sei es unmittelbar auf den gegen-
wärtigen Augenblick folgende, sei es erst später (nach dem Ein-
tritt einer gewissen Lage der Dinge) beginnende Zeitstrecke fallen;
z. B. das Begehren des Durstigen, zu trinken, soll zwar nicht so-
gleich aufhören, sobald er zu trinken beginnt, aber was er dann
noch begehrt, soll doch nicht sein gegenwärtiges Trinken, son-
dern dessen Fortsetzung, also ein Zukünftiges sein. Wir können
aber denselben Sachverhalt, den wir als einen zukünftigen so
vorstellen, dass unser Vorstellen Begehren seines Wirklichwerdens
ist, auch als einen gegenwärtigen in einer Weise vorstellen, die
sich von derjenigen, die es zum Begehren eines Zukünftigen macht,
durch weiter nichts als durch die Zeitbestimmung, die es seinem
Inhalte gibt, unterscheidet; z. B. der trinkende Durstige stellt sein
gegenwärtiges Trinken in derselben Weise wie die von ihm be-
gehrte Fortsetzimg desselben vor. Die Psychologie würde also
wieder Ungleichartiges zusammenfassen und Gleichartiges scheiden,
wenn sie, dem allgemeinen Sprachgebrauche folgend, in ihren
Begriff des Begehrens die Bestimmung aufnähme, dass es stets
auf zukünftiges Wirklichsein eines Sachverhaltes gerichtet sei.
Bezüglich des auf die gegenwärtige Wirklichkeit eines gewissen
Sachverhaltes gerichteten Begehrens ist noch zu bemerken, dass
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JULIUS BERGMANN,
dieser Sachverhalt die begehrte Wirklichkeit sowohl haben als
auch nicht haben, dass sein Begehren also sowohl ein befriedigtes
auch ein unbefriedigtes sein kann, während jedes Begehren eines
Zukünftigen seinem Begriffe nach unbefriedigt ist. Z. ß. der
Durstige begehrt gegenwärtig (in dem Augenblicke seines Be-
gehrens) zu trinken sowohl dann, wenn er bereits zu trinken an-
gefangen hat, als auch dann, wenn er sich nicht in dieser Lage
befindet, sowohl dann, wenn sein Vorstellen des Trinkens Wahr-
nehmen, als auch dann, wenn es Einbildungs -Vorstellen ist.
2. Nach den vorstehenden Bemerkungen über die Bedeutung,
in der hier das Wort Begehren genommen werden soll, ist jedes
Begehren gerichtet entweder auf das gegenwärtige Bestehen eines
Sachverhaltes, von dem der Begehrende zu wissen glaubt, dass
er wirklich bestehe, oder auf das gegenwärtige Bestehen eines
Sachverhaltes, von dem der Begehrende nicht glaubt zu wissen,
dass er gegenwärtig bestehe, oder auf das zukünftige Bestehen
irgend eines Sachverhaltes. Dieser Unterscheidung dreier Arten
des Begehrens entsprechend zerlegt sich oben gestellte Frage nach
der spezifischen Differenz, die dem Begriffe des Vorstellens hin-
zugefügt werden muss, damit er in den des Begehrens übergehe^
in drei. Alle drei aber können sogleich auf Grund der Selbst-
beobachtung beantwortet werden.
Damit, erstens, finde ich, mein Vorstellen eines Sachverhaltes,
von dem ich weiss oder zu wissen glaube, dass er gegenwärtig
wirklich bestehe, Begehren dieses gegenwärtigen Bestehens sei,
muss ich mich selbst als um sein wirkliches Bestehen wissend
vorstellen und von diesem Wissen wahrnehmen, dass es unmittel-
bar mit einem Gefühle der Lust verbunden, also mir unmittelbar
angenehm sei. Damit, zweitens, mein Vorstellen eines Sachver-
haltes, von dem ich weiss, dass er nicht wirklich bestehe, oder
wenigstens nicht weiss, dass er wirklich bestehe, Begehren seines
gegenwärtigen Bestehens sei, muss ich mich selbst als um sein
wirkliches Bestehen wissend vorstellen und von diesem mir fehlen-
den Wissen meinen, dass es mir unmittelbar angenehm sein
würde. Damit, drittens, mein Vorstellen eines Sachverhaltes
(gleichviel ob eines solchen, der mir gegenwärtig zu bestehen, oder
eines solchen, der mir gegenwärtig nicht zu bestehen scheint)
Begehren seines künftigen Bestehens sei, muss ich ihn als einen
später bestehen werdenden und mich selbst als zu der Zeit, da
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USIV, 5
er bestehen werde, um dieses Bestehen wissend vorstellen und
von diesem möglichen zukünftigen Wissen meinen, dass es mir
unmittelbar angenehm sein würde. Nehme ich z. B. von mir
wahr, dass ich trinke, so ist dieses Wahrnehmen Begehren der
gegenwärtigen Wirklichkeit seines Inhaltes, und zwar befriedigtes,
dann, wenn ich es selbst, also mein Wissen, dass ich trinke, als
etwas mir unmittelbar Angenehmes wahrnehme. Stelle ich mich
bloss als trinkend vor, so ist dieses Einbildungsvorstellen Beehren
und zwar unbefriedigtes Begehren, gegenwärtig zu trinken, dann,
wenn ich mit ihm die Meinung verbinde, es würde mir unmittel-
bar angenehm sein, mich gegenwärtig als trinkend wahrzunehmen.
Stelle ich mich endlich als trinken werdend vor, so begehre ich
damit zukünftiges Trinken dann, wenn ich zugleich mich als die
Verrichtung des Trinkens in mir wahrnehmen werdend vorstelle,
und von diesem zukünftigen Wahrnehmen erwarte, dass es, falls
es stattfinden werde, mir unmittelbar angenehm sein werde.
Ein Vorstellen, welches seinem Inhalte die Bedeutung, bei-
misst, dass das Wissen um seine Wirklichkeit immittelbar mit
Lust verbunden sein würde, ist gewiss darum, weil es dieses tut,
noch nicht Wollen irgend eines die Wirklichkeit des vorgestellten
Seins oder Geschehens herbeiführenden Tuns, und auch nicht
einmal Herbeiwünschen dieser Wirklichkeit mit allem, was sie
notwendig mit sich führen oder nach sich ziehen würde, sicher-
lich aber braucht in einer Seele nicht noch etwas zu ihm hinzu-
zukommen, damit sie sich in dem Zustande des blossen Begehrens
befinde. Und so lange, umgekehrt, einem Verhalten der Seele
etwas daran fehlt, ein solches Vorstellen zu sein, ist es noch kein
Begehren. Insbesondere gehört das Sich -vergegenwärtigen des
Lustgefühls, welches mit der in dem Wissen um die Wirklichkeit
des begehrten Sachverhaltes bestehenden Befriedigimg des Be-
gehrens verbunden ist, und das Erwarten desselben zu dem, wo-
von man nicht abstrahieren kann, ohne den Begriff des Begehrens
aufzuheben. So lange wir ein Vorgestelltes weder in die be-
schriebene Beziehung noch in die entgegengesetzte, dass das
Wissen um seine Wirklichkeit uns unmittelbar unangenehm sein
würde, zu unserem Gefühlsvermögen setzen, ist uns an seiner
Wirklichkeit oder Unwirklichkeit entweder überhaupt nichts oder
nur ihrer Folgen w^en etwas gelegen, ist sie uns an und für
sich gleichgültig.
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ßJLIUS BERGMANN.
Dass in einer analogen Beziehung, wie das Begehren zum
Vorstellen und Lustfühlen, das dem Begehren entgegengesetzte
Scheuen zum Vorstellen und UnlustfQhlen steht, braucht nur kurz
angemerkt zu werden. Das Scheuen eines Sachverhaltes, welches
übrigens auch selbst als ein Begehren definiert werden kann»
ndmlich als Begehren eines Nichtwirklichseins, ist Vorstellen des-
selben als eines solchen, von dem zu wissen, dass er wirklich
bestehe, uns unmittelbar unangenehm sei bezw. sein würde.
3. Eine weitere Frage, die sich an die Unterordnimg des
Begriffes des Begehrens unter den des Vorstellens knüpft, betriflft
die Sachverhalte, die ein Vorstellen so zum Inhalte haben kann,
dass es Begehren ihres wirklichen Bestehens ist, die also so be-
schaffen sind, dass nicht mit ihnen selbst, sondern mit dem Er-
fahren ihres wirklichen Bestehens unmittelbar ein Gefühl der
Lust verbunden sein kann.
Jedenfalls ist ein möglicher Inhalt des Begehrens jedes Ge-
fühl eigener Lust, ein möglicher Inhalt des Scheuens jedes Gefühl
ebener Unlust. Das innere Wahrnehmen einer Lust, welches die
einzig mögliche Art ist, ihre Wirklichkeit zu erfahren, ist (es wurde
schon im vorigen Abschnitte darauf hingewiesen) selbst wieder
unmittelbar mit einer Lust, dasjenige einer Unlust selbst wieder
mit einer Unlust verbunden, und indem wir uns als eine Lust
oder Unlust in uns wahrnehmend und dieses Wahrnehmen oder
dieses Wissen um die Wirklichkeit einer vorgestellten Lust oder
Unlust als angenehm oder lustbringend bez. als imangenehm oder
unlustbringend vorstellen, begehren wir die Wirklichkeit, nicht
der von ihm selbst zu erwartenden, sondern der als sein Inhalt
vorgestellten Lust bezw. die Nichtwirklichkeit der als sein Inhalt
vorgestellten Unlust
Dass das Wahrnehmen eigener Lust angenehm, dasjenige
eigener Unlust unangenehm ist, oder dass zu jeder Lust oder Un-
lust, die wir in uns wahrnehmen, dieses Wahrnehmen eine weitere
Lust oder Unlust hinzubringt, hat seinen zureichenden Grund in
der allgemeinen Natur jener Gefühle, mit der uns bekannt zu
machen eine einzige Wahrnehmung genügt. Wir erkennen es
m. a. W. aus den blossen Begriffen der Lust und der Unlust. An-
dere als in einem eigenen Zustande der Lust oder Unlust be-
stehende Sachverhalte, von denen wir in dieser Weise einzusehen
vermöchten, dass sie in der angegebenen Beziehung zum Wahr-
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. 7
nehmen und überhaupt zum Wissen um ihre Wirklichkeit ständen,
also mögliche Inhalte eines Begehrens oder Scheuens wären, gibt
es nicht. Eigene Lust ist das Einzige, wovon wir die Möglich-
keit begehrt, eigene Unlust das Einzige, wovon wir die Möglich-
keit, gescheut zu werden, wirklich zu verstehen imstande sind.
Hieraus folgt jedoch nicht, dass diese Möglichkeit auf die
eigene Lust oder Unlust beschränkt sei, dass uns also an der
Wirklichkeit eines anderen Sachverhaltes als eigener Lust und an
der NichtWirklichkeit eines anderen als eigener Unlust nur des-
halb gelegen sein könne, weil wir erwarteten, es werde sich
eigene Lust oder Unlust an ihn knüpfen. Denn es liegt durchaus
kein Widerspruch in dem Gedanken, dass zu dem, was uns von
der Natur unserer Seele verborgen ist, Bestimmtheiten gehören,
die es ihr, sei es schlechthin, sei es unter gewissen ihren augen-
blicklichen Zustand betreffenden Bedingungen, zur Notwendigkeit
machen, jeden Sachverhalt einer gewissen Art zu begehren oder
zu scheuen, sobald sie ihn als wirklich bestehend und sich selbst
als um sein wirkliches Bestehen wissend vorstellt, Bestimmtheiten
also, welche Gründe des Begehrens oder Scheuens gewisser Arten
von Sachverhalten sind, oder welche das allein Wirkliche, was
wir im Begriffe des Triebes denken, ausmachen. Den Utilita-
risten und ihren Vorgängern (zu denen in dieser Hinsicht auch
Kant gehört) muss freilich zugestanden werden, dass zu jedem
Begehren ein Vorstellen eigener Lust, zu jedem Scheuen ein Vor-
stellen eigener Unlust erforderlich ist, aber nicht das Begehrte
oder das Gescheute selbst, sondern ein Zustand, der als verbunden
mit dem Wissen um die begehrte oder gescheute Wirklichkeit
vorgestellt wird, ist diese Lust oder Unlust, deren Vorstellung in
keinem Begehren oder Schauen fehlen kann. Dadurch erst, dass
wir einen Sachverhalt als einen solchen vorstellen, um dessen
wirkliches Bestehen zu wissen uns angenehm oder unangenehm
sein werde, wird unser Vorstellen dieses Sachverhaltes zimi Be-
gehren oder Scheuen desselben; er selbst kann mm ebenfalls in
einer eigenen Lust bez. Unlust bestehen, aber er braucht es nicht,
mindestens ist dies keine begriffliche Notwendigkeit, obwohl wir
nur in den Fällen, in denen er darin besteht, nicht auf einen der
Seele durch eine uns verborgene Seite ihrer Natur verliehenen
Trieb zu schliessen brauchen, sondern in ihm selbst den Grund der
Möglichkeit seines Begehrt- bez. Gescheutwerdens vor Augen haben.
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8 JULIUS BERGMANN.
4. Dass in der Tat noch anderes als eigene Lust begehrt
und noch anderes als eigene Unlust gescheut werden kann, lehrt
die Erfahrung. Es ist zunächst eine Tatsache, dass wir an dem
Wohl und Wehe anderer teilnehmen können, ohne an einen Vor-
teil oder Nachteil für uns selbst zu denken. Wir können es uns
als erfreulich vorstellen, zu erfahren, dass es einem Freunde gut
gehe, imd dieses Vorstellen ist dann Begehren der Wirklichkeit,
nicht des Erfahrens oder des mit ihm verbundenen Lustgefühls,
sondern des seinen Inhalt bildenden fremden Glückes; und ebenso
begehren wir, dass dem Freunde ein ihm drohendes Unheil er-
spart bleiben möge, indem wir es als uns selbst betrübend vor-
stellen, zu hören, dass das Gegenteil eingetreten sei. Nicht eben
ist die Vorstellung, dass es uns Vergnügen machen werde, von
einem für den Freund glücklichen Ereignisse Kenntnis zu erhalten,
die Ursache des Wunsches oder Begehrens, dieses Ereignis möge
eintreten, sodass das eigentliche Ziel des Begehrens in einer
eigenen Lust bestände und uns an dem fremden Glücke nur wegen
einer Folge für uns selbst gelegen wäre, und ebensowenig ent-
steht uns umgekehrt aus jenen Wünschen oder Begehren jenes
Vorstellen, sondern das Vorstellen der freudigen Erreguhg, mit
der uns die Kunde von dem für den Freund glücklichen Ereignisse
erfüllen würde, ist selbst schon das Begehren, und dieses Be-
gehren selbst schon dieses Vorstellen, so dass nur noch dafür, dass
sich uns mit dem Erfahren des glücklichen Ereignisses ein Gefühl
der Lust verbindet, oder dass zu den Bestimmtheiten der Seele
ein Trieb gehört, demzufolge es ihr angenehm ist, von fremdem
Wohle, und unangenehm, von fremdem Leide zu erfahren, nach
dem Grunde gefragt werden kann.
Weiter ist es auch eine Tatsache, dass zu den möglichen
Inhalten unseres Begehrens und Schauens Sachverhalte gehören,
die überhaupt nicht in einem Lust- bez. Unlustfühlen, weder in
einem eigenen noch in einem fremden, auch nicht in einem un-
mittelbar mit Lust bez. Unlust verbundenen (unmittelbar an-
genehmen oder unangenehmen) Verhalten bestehen, und zwar
solche, die wir, wie Lust oder Unlust, sowohl für uns selbst als
auch für andere (sowohl idiopathisch als auch sympathisch) be-
gehren oder scheuen können. Während z. B. gewisse Ge-
schmacksempfindungen unmittelbar mit einem Gefühle der Lust
verbunden sind, d. i. zu ihm in der im vorigen Abschnitte er-
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USIV, 9
örterten Beziehung stehen, dass sie nur subjektiv von ihnen ver-
schieden sind, ist uns der leibliche Vorgang, den wir innerlich
wahrnehmen, wenn wir hungrig sind und essen, oder wenn wir
durstig sind und trinken, nur mittelbar angenehm, nämlich darum,
weil jenes innere Wahrnehmen, durch das wir von seinem wirk-
lichen Stattfinden wissen, unmittelbar mit einem Gefühle der Lust
verbunden ist. Das Begehren des Hungrigen oder Durstigen,
welches mit einem auf eine angenehme Geschmacksempfindung
gerichteten verbunden sein kann, selbst aber nicht darauf, sondern
auf die animalische Verrichtung des Essens oder Trinkens ge-
richtet ist, ist Vorstellen des Essens oder Trinkens als einer
Tätigkeit des Leibes, deren Wirklichkeit in der Weise des inneren
Wahrnehmens zu erfahren ihm unmittelbar angenehm sein werde,
und er stellt dieses Erfahren als unmittelbar angenehm vor zufolge
eines Triebes seiner Seele. Freilich kann auch die mit dem in-
neren Wahrnehmen des Essens und Trinkens unmittelbar ver-
bundene Lust Inhalt eines Begehrens sein, aber ohne den auf
Essen und Trinken selbst gerichteten Trieb würde niemand sein
inneres Wahrnehmen dieser Verrichtungen als mit Lust verbunden
vorstellen können. „Es gibt*", heisst es in Humes Prinzipien der
Moral (übersetzt vonMASARYK, S. 140), „von jedermann anerkannte
körperliche Bedürfnisse und Triebe, welche notwendig allem sinn-
lichen Genüsse vorausgehen und uns direkt antreiben, den Besitz
des Gegenstandes zu suchen. So haben Hunger und Durst das
Essen und Trinken zu ihrem Zwecke, und aus der Befriedigung
dieser primären Triebe entspringt eine Lust, die Gegenstand einer
anderen Art der Begierden oder Neigung sein kann." Das Gleiche
wie vom Essen und Trinken gilt von den Leibesbewegungen, an
denen wir, wenn wir uns jung, frisch und gesund fühlen, Ver-
gnügen finden, dem Wandern, Turnen, Tanzen, Schlittschuhlaufen
und dergleichen, und nicht minder von der Ausübung geistiger
Kräfte in den Tätigkeiten des Forschens, des praktischen Über-
legens, des Phantasierens, des Spielens, des Gestaltens usw.
Auch die Lust, mit der wir uns als Vorzüge betrachteter Eigen-
schaften des Leibes und des Geistes (z. B. körperlicher Kraft,
Gewandtheit und Schönheit, geselliger Gaben, reicher und be-
deutender Kenntnisse, künstlerischer Talente u. dergl.), sowie des
Ansehens, das sie uns verschaffen, bewusst sind, hat ihren Grund
nicht in einer Lust, die unmittelbar Lust an diesen Vorzügen oder
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lO JULIUS BERGMANN,
diesem Ansehen wäre, sondern in einer uns verborgenen Seite
unserer Natur. Diese Begehrungsinhalte sind uns nicht unmittel-
bar, durch objektive Identität mit einem Lustgefühle, angenehm,
sondern nur mittelbar durch ihre Beziehung auf das mit dem Be-
wusstsein ihres Besitzes objektiv identische Lustgefühl, und darin,
dass wir sie als in dieser Beziehung stehend vorstellen, besteht
unser auf ihren Besitz gerichtetes Begehren. „In derselben Weise",
fährt HuME nach den oben angeführten Worten fort, „gibt es geistige
Triebe, durch welche wir unmittelbar bewegt werden, nach ge-
wissen Objekten, wie Ruhm oder Macht oder Rache, ohne irgend-
welche Rücksicht auf das eigene Interesse zu trachten; und wenn
diese Objekte erlangt sind, so erfolgt eine angenehme Genugtuung
als Wirkung unserer befriedigten Neigungen. Die Natur muss
uns, zufolge der inneren Verfassung und Beschaffenheit des Geistes,
eine ursprüngliche Begierde nach Ruhm geben, bevor wir aus
dessen Erlangung irgend welches Vergnügen ernten und aus Mo-
tiven der Selbstliebe und einem Wimsche nach Glückseligkeit
nach ihm streben können. Wenn ich keine Eitelkeit besitze, so
finde ich am Lobe keine Freude; wenn ich ohne Ehrgeiz bin, ge-
währt mir die Macht keinen Genuss; wenn ich nicht zornig bin,
ist mir die Bestrafung eines Gegners völlig gleichgültig. In allen
Fällen ist ein Trieb vorhanden, welcher unmittelbar auf das Objekt
hinweist."
5. Die beiden eben dem eigenen Lustfühlen zur Seite ge-
stellten Sachverhalte, die Inhalte eines Begehrens sein können, die
m einem fremden Lustfühlen und die in etwas anderem als Lust-
fühlen überhaupt bestehenden, sind zu verschiedenartig, als dass
wir annehmen könnten, sie stimmten in einem allgemeinen über-
ein, das zusammen mit einer uns verborgenen Seite der Natur
der Seele den zureichenden Grund der Möglichkeit ihres Begehrt-
werdens bildete. Wohl aber dürfen wir in den überhaupt nicht
in einer Lust, weder in einer eigenen noch in einer fremden, be-
stehenden möglichen Begehrungsinhalten nach einer bloss ihnen
gemeinsamen Bestimmtheit der angegebenen Art suchen. Oder,
was dasselbe ist, wir dürfen vermuten, dass alle Triebe, denen
zufolge wir etwas anderes als Lust für uns selbst und für andere
begehren. Zweige eines und desselben Grundtriebes seien. Es
würden dann, da die Möglichkeit, eigene Lust zu begehren, keines
anderen Erklärungsgrundes als des uns in den Begriffen des Vor-
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. n
stellens und des Fohlens gegebenen bedarf, also nicht auf einen
Trieb (dieses Wort in dem oben angegebenen Sinne genommen)
bezogen zu werden braucht, zwei Grundtriebe anzunehmen sein:
einer, demzufolge wir für andere die Wirklichkeit von Lustgefühlen,
imd einer, demzufolge wir sowohl für uns selbst als auch für
andere die Wirklichkeit gewisser nicht in Lustgefühlen bestehen-
der Sachverhalte zu begehren vermöchten. Und dieser Annahme
läge es dann nahe, durch die H}rpothese näher zu bestimmen, dass
der Trieb, demzufolge es ims Freude machen kann, andere
glücklich zu wissen, der Seele schon insofern zukomme, als sie
die Vermögen der sich unserem inneren Wahrnehmen nur in sehr
unvollkommener Weise zu erkennen gebenden Tätigkeiten des
Vorstellens und des Fühlens besitze, dagegen der uns lür Sach-
verhalte, die vom Lustfühlen überhaupt verschieden sind, inter-
essierende aus einer von den Vermögen des Vorstellens und
Fühlens verschiedenen Seite der Natur der Seele oder des Be-
wusstseins entspringe.
Soweit die Beschaffenheit der in Rede stehenden Sachver-
halte zu dem uns Gegebenen gehört, d. h. Inhalt eines keinerlei
Meinen oder Deuten einschliessenden Vorstellens, kurz eines
blossen Anschauens ist, ist nun allerdings keine ihnen gemeinsame
Bestimmtheit in ihnen zu finden, die sie zu möglichen Begehrungs-
inhalten machte. Aber auf Grund der Selbstbeobachtung glaube
ich behaupten zu dürfen, dass ich stets, wenn ich einen in einem
Zustande oder einer Tätigkeit oder einer Lage oder einer Eigen-
schaft meiner selbst bestehenden, vom Lustfühlen verschiedenen
Sachverhalt als etwas vorstelle, um dessen Wirklichkeit zu wissen
mir unmittelbar angenehm sei, in das Gegebene eine gewisse Be-
deutung hineinlege, durch die erst mein Wissen um seine Wirk-
lichkeit zu einem Angenehmen und mein es zum Inhalte habendes
Vorstellen zum Begehren wird, nämlich die Bedeutung des Zieles
eines in mir enthaltenen Streben s. Die begehrte Bestimmtheit
meiner selbst, so möchte ich diesen kurzen Ausdruck interpre-
tieren, erscheint mir als eine solche, dass, so lange statt ihrer
eine andere nicht von mir begehrte wirkliches Dasein in mir
habe, meine gegenwärtige individuelle Wesenheit nur unvollkom-
men zum Dasein gelangt sei, oder dass gegenwärtig das, was
mein Ich seiner Realisation nach sei, hinter dem zurückbleibe,
was es sein müsste, um seinem wahrhaften Begriffe, seiner Idee,
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12 JULIUS BERGMANN,
zu entsprechen, dass also die gegenwärtige Realisation meines
Ich mit einem Mangel, einem Defekte, behaftet sei, — sie erscheint
mir, mit einem Worte, als eine Vollkommenheit Was sodann
diejenigen von Lustgefühlen verschiedenen Sachverhalte, die nicht
Bestimmtheiten meiner selbst, sondern anderer bewusster Wesen
sind und für diese von mir begehrt werden, betrifft, so ist die
von mir in sie hineingelegte Bedeutung, die sie erst zu möglichen
Inhalten meines Begehrens macht, die von Bestimmtheiten, in
denen jene Wesen etwas von ihrer Natur Erstrebtes, Vollkommen-
heiten ihres Ich erblicken.
Wie die nicht in einem Lustfühlen bestehenden Bestimmt-
heiten unseres Ich, die wir für uns selbst begehren, so stimmen
auch die nicht in einem Unlustfühlen bestehenden, die wir für
uns selbst scheuen, in einer Bedeutung überein, die unser Vor-
stellen in sie hineinlegt, und erst diese Bedeutung macht sie zu
möglichen Inhalten imseres Scheuens. Sie erscheinen uns als
Bestimmtheiten, die nicht nur mit einer zur vollständigen reellen
Wirklichkeit unserer individuellen Wesenheit, zur vollständigen
Realisation der Idee unseres Ich erforderlichen, sondern auch mit
dem blossen Einwohnen dieser Idee in uns, mit der ideellen Wirk-
lichkeit unserer Essenz in uns unvereinbar seien, also nicht als
blosse Defekte in der gegenwärtigen Realisation unserer Essenz,
sondern als Störungen des ideellen Daseins derselben in ims, —
nicht bloss als etwas, wonach unsere Natur nicht strebt, sondern
als etwas, dem dieselbe widerstrebt. Das blosse Fehlen einer
Vollkommenheit kann uns ebensowenig wie dasjenige einer Lust
an sich oder unmittelbar Inhalt eines Scheuens sein ; es kann uns
nur dadurch, dass es die Unlust eines imbefriedigten Begehrens
nach sich zieht, dazu werden; unmittelbar kann unser Scheuen,
ausser gegen ein Unlustfühlen, nur gegen eine Bestimmtheit
unseres Daseins gerichtet sein, die nicht bloss nicht eine Voll-
kommenheit, sondern einer solchen konträr entgegengesetzt ist,
wie z. B. der Schmerz der Lust oder das Üble dem Guten oder
das Hässliche dem Schönen.
6. Es liegt auf der Hand, dass die Bedeutung, die das Be-
gehren in seine nicht in einem Lustfühlen, sowie diejenige, die
das Scheuen in seine nicht in einem Unlustfühlen bestehenden
Inhalte hineinlegt, oder dass der Begriff des Strebens in dem an-
gegebenen Sinne des Wortes und ebenso der des Widerstrebens
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. 13
einen Widerspruch enthält. Die individuelle Wesenheit eines
existierenden Dinges, d. i. die es von allen anderen möglichen
Dingen unterscheidende Bestimmtheit, ist ihrem Begriffe nach in
diesem Dinge stets vollständig realisiert; es kann in dem Dinge,
dessen Wesenheit sie ist, keine explizite oder implizite in ihr ent-
haltene Bestimmtheit mangeln. Eine Wesenheit, die in einem
Dinge nicht vollständig realisiert wäre, wäre eben nicht dieses,
sondern eines anderen existierenden oder nicht existierenden
Dinges Wesenheit, — ein Begriff, mit dem ein existierendes Ding
nicht genau übereinstimmte, nicht dieses, sondern eines anderen
Dinges Begriff, — die bloss ideelle Wirklichkeit einer Essenz
Wirklichkeit eines Nicht- Wirklichen.
Es wäre jedoch unrichtig, den Bestimmtheiten, in die das
Begehren die Bedeutung von Vollkommenheiten, sowie denjenigen,
in die das Scheuen die Bedeutung von Störungen hineinlegt,
darum, weil diese Begriffe einen Widerspruch enthalten, tlberhaupt
eine ihnen eigentümliche Bedeutung für das begehrende Subjekt
abzusprechen. Vielmehr werden wir in einer den Sachverhalten,
deren Wirklichkeit in ims wir begehren, wirklich zukommenden
Bedeutung für uns den Grund dafür, dass wir sie als Vollkommen-
heiten und weiter das Wissen um ihre Wirklichkeit als angenehm
vorstellen, zu erblicken haben, und ebenso in einer den von uns
gescheuten Sachverhalten wirklich zukommenden den Grund da-
für, dass wir sie als Störungen unserer Wesenheit und das Wissen
um ihre Wirklichkeit als unangenehm vorstellen, wenn uns auch
die Natur unserer Seele zu wenig bekannt ist, als dass wir das
Enthaltensein dieser Folgen in diesen Gründen anal3rtisch zu er-
kennen vermöchten.
Es gehört nicht zu meiner gegenwärtigen Aufgabe, diese
wirkliche Bedeutung der uns als Vollkommenheiten und der uns
als Störungen erscheinenden Bestimmtheiten unseres Ich zu er-
mitteln. Doch wird mir eine Andeutimg über die Richtung, in
der ich sie suchen würde, gestattet sein. Jedes existierende Ding
stimmt selbstverständlich in jedem Augenblicke seines Daseins
vollständig überein mit dem Begriffe, der seine individuelle Wesen-
heit in ihrer diesem Augenblicke angehörenden Gestalt nebst allem
implizite darin enthaltenen Akzidentien und weiter nichts, also
alles das und nur das, was es ist, zum Inhalte hat. Aber ein
existierendes Ding kann so beschaffen sein, dass ein es betrachten-
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14 JULIUS BERGMANN,
der Verstand, dem es sich hinreichend zu erkennen gäbe, nicht
umhin könnte, dem seine wirkliche Bestimmtheit zum Inhalte
habenden Begriffe einen anderen gegenüberzustellen, mit dem es
nicht völlig übereinstimmte. Von solcher Beschaffenheit ist ein
Ding nämlich dann, wenn sich unter den ihm als einem Dinge
gewisser Art möglichen Veränderungen Eine befindet, zu der die
übrigen in dem Verhältnisse stehen, dass sie nach dem Masse
ihrer Ähnlichkeit mit ihr durch seine (des veränderlichen Dinges)
Wesenheit begünstigt werden, wenn es also durch seine Wesen-
heit eine Tendenz besitzt, in seinen Veränderungen die Richtung
auf einen gewissen Zustand einzuschlagen, wie dies z. B. bezüglich
eines Teils der ihm möglichen Veränderungen bei einem Schifie
der Fall ist, sofern es sich unter allen Einwirkungen des Windes
und der Wogen aufrecht zu stellen bestrebt ist. Setzen wir nun
voraus, dass die Seelen eine solche Tendenz besitzende Dinge
seien, und bestimmen wir diese Voraussetzung näher dahin, dass
das, worauf die Tendenz einer Seele gerichtet sei, das ihr durch
ihre Wesenheit vorgeschriebene Muster, nicht völlig unveränder-
lich sei, so dass es zu seinem wirklichen Dasein nur einer beliebig
kurzen Zeitstrecke bedürfen würde, sondern in einem Entwicke-
lungsprozesse bestehe und dazu sich den wechselnden Verhält-
nissen der Wirklichkeit anpasse, — setzen wir dieses voraus, so
dürfen wir wohl annehmen, dass, soweit nicht das normale oder
natürliche Verhältnis durch frühere Störungen der Seele verändert
worden ist, diejenigen Bestimmtheiten, in die unser Begehren die
Bedeutung von Vollkommenheiten hineinlegt, zu denen gehören, die
mit jenem Muster übereinstimmen, und dass diejenigen, die un-
serem Schauen als Störungen erscheinen, dies deshalb tun, weil
sie nicht bloss nicht mit dem Muster übereinstimmen, sondern
sozusagen eine Schädigung der inneren Einrichtung bedeuten,
durch die sich die Seele ursprünglich ihr Muster setzte, oder
durch die sie ihre ursprüngliche Tendenz besitzt.
7. Halten wir an der bisher dem Worte Begehren gegebenen
Bedeutung fest, wonach wir alles, was wir begehren, unmittelbar
d. h. seiner selbst imd nichts eines mit ihm Verbundenen wegen
begehren, so bestehen die Sachverhalte, die uns zu Inhalten des
Begehrens werden können, teils in Lustgefühlen, teils in Voll-
kommenheiten, und jeden Sachverhalt, den wir begehren, be-
gehren wir entweder, idiopathisch, für uns selbst oder, sym-
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. 15
pathisch, für ein anderes bewusstes Wesen. Zu den beiden
Gegensätzen von Lustgefühlen und Vollkommenheiten, und
von solchem, was wir für uns selbst, und solchem, was wir
für andere begehren, kommt nun noch ein dritter, durch
dessen Anwendung auf die möglichen Begehrungsinhalte eben-
falls eine Seite des Verhältnisses, in welchem der Begriff des Be-
gehrens zu dem des Fühlens steht, näher bestimmt wird, und
auf den hier deshalb wenigstens kurz hingewiesen werden muss:
der Gegensatz desjenigen Wahrnehmbaren, dessen Wahrnehmung
innere, und dasjenigen, dessen Wahrnehmung äussere ist, also
derjenigen Bestimmtheiten, die uns, wenn überhaupt als Bestimmt-
heiten eines Körpers, so als solche eines mit unserem sie wahr-
nehmenden Ich identischen, unseres Leibes, erscheinen (z. B. einer
Geschmacksempfindung, die wir als auf der Zunge, oder einer
Berührungsempfindung, die wir als in den Fingerspitzen, oder
einer Kälteempfindung, die wir als in den Füssen ihr Dasein
habend wahrnehmen) und derjenigen, die wir (wie z. B. die Farben
und die Töne) nicht in dieser Weise auf uns selbst beziehen
(vergl. o. 1,5). 1)
Es liege aber doch auf der Hand, wird man mir vorhalten,
dass der Gegensatz der innerlich und der äusserlich wahrnehm-
baren Bestimmtheiten weder auf die in Lustgefühlen noch auf die
in Vollkommenheiten bestehenden Begehnmgsinhalte anwendbar
sei, und dass, wenn er auf sie anwendbar wäre, seine Anwendung
schon in derjenigen des Gegensatzes dessen, was wir für uns,
und dessen, was wir für einen anderen begehren, enthalten wäre.
Denn es sei die Natur der Gefühle, dass sie nur von dem Wesen,
dessen Gefühle sie seien, also nur innerlich wahrgenommen wer-
den können, und dasselbe gelte von den Vollkommenheiten, wenn
dieses Wort in dem oben angegebenen Sinne genommen werde,
in dem Sinne von Bestimmtheiten, in die ein vorstellendes Wesen
die Bedeutung hineingelegt habe, dass, wenn sie nicht wirklich
existierten, es selbst nur unvollständig, mit einem Defekte be-
haftet, existieren würde. Es gebe also überhaupt keine äusserlich
') Die im folgenden dargelegte Ansicht über das ästhetische Fühlen
und Begehren stimmt zwar nicht ganz mit der vor 17 Jahren von mir ver-
öffentlichten Schrift: „Über das Schöne, Analytische und historisch kridsche
Untersuchungen" überein, doch könnte ihre weitere Ausführung derselben
Vieles entnehmen.
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l6 JULIUS BERGMANN.
wahrnehmbaren Begehrungsinhalte, weil wir keine fühlenden und
keine des Besitzes von Vollkommenheiten fähigen Wesen, m. E. W.
keine Seelen ausser uns wahrnehmen können. Und wenn es deren
gäbe, so gehörten sie zu denen, die wir für ein anderes Wesen,
nämlich dasjenige, als dessen Bestimmtheiten wir sie wahrnehmen,
begehrten; eine Lust oder eine Vollkommenheit, die ich ausser
mir wahrnähme, hätte ihr Dasein nicht in mir, sondern in einem
anderen Dinge, und nur für dieses andere Ding, nicht für mich
selbst, nicht sympathisch, nicht idiopathisch, könnte ich sie
begehren.
Es ist, antworte ich, zunächst eine Tatsache, dass es, wie
unter den inneren Empfindungen, d. i. denjenigen von Gefühlen
verschiedenen Inhalten unseres inneren Wahmehmens, die uns
als Bestimmtheiten unseres Leibes erscheinen, so auch unter den
äusseren, den sogenannten sekundären Qualitäten, solche gibt, die
uns angenehm (mit einem Lustgefühle verbunden) sind, und zwar
nicht, wie die leiblichen Tätigkeiten, in die wir die Bedeutung
von Vollkommenheiten hineinlegen (z. B. das Trinken, wenn wir
durstig, oder das Gehen, wenn wir des Sitzens überdrüssig sind),
deshalb angenehm sind, weil es uns angenehm ist, sie wahr-
zunehmen, sondern ihrer selbst wegen, nicht mittelbar, sondern
unmittelbar wie die angenehmen inneren Empfindungen, die wahr-
zunehmen uns deshalb angenehm ist, weil sie selbst uns an-
genehm sind, — also solche, auf die sich ein Gefühl der Lust in
der Weise bezieht, dass es unmittelbar Lust an ihnen selbst ist
Äussere Empfindungen, die uns in dieser Weise angenehm sind,
sind jedenfalls die uns angenehmen oder gefallenden Farben und
Töne. Es mag sein, dass diejenigen äusseren Empfindungen, die
mit einer inneren so verschmolzen sind, dass wir sie nur in einer
imbestimmten Weise von ihr zu imterscheiden vermögen (in wel-
chem Verhältnisse z. B. die objektive Süssigkeit eines Stückes
Zuckers zu dem subjektiven Zustande, in den sie meine Zimge
verstetzt, oder der objektive Geruch einer Blume zu der ihm
korrespondierenden in meiner Nase ihren Sitz habenden Riech-
empfindung steht), und mittels dieser inneren mit einem Gefühle
der Lust verbunden sein können, das uns z. B. der objektive Ge-
ruch einer Blume nur insofern angenehm ist, als die mit ihm ver-
bundene subjektive Riechempfindung es ist. Aber die rein objek-
tiven oder äusseren Empfindungen, nämlich die Farben und die
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. ly
Töne, sind der Verbindung mit einem Gefühle der Lust (sowie
auch mit einem solchen der Unlust) fähig» das sich uns ganz
deutlich als ein sich unmittelbar auf sie beziehendes zu erkennen
gibt. Nun können wir eine uns angenehme Empfindung nicht
wahrnehmen, ohne zugleich mit ihr ihr Angenehmsein oder, was
dasselbe ist, unsere Lust an ihr wahrzunehmen, und zwar hat
eine und dieselbe unteilbare Wahrnehmungstätigkeit die angenehme
Empfindung und ihr Angenehmsein oder die unmittelbar mit ihr
verknüpfte Lust zum Inhalte. Wie daher die sich auf eine innere
Empfindung beziehende Lust innerlich, als ein Zustand unseres
leiblichen Ich, so wird die sich auf eine äussere beziehende äusser-
lich, als ein Sein in der Aussen weit wahrgenommen. Z. B. die
sich auf eine Farbe, die ich sehe, oder auf einen Ton, den ich
höre, beziehende Lust erscheint mir weder, wie die zu ihr hin-
zukommende an der Wahmehmungstätigkeit dieses Sehens oder
wie die mit dem Vernehmen einer guten Nachricht verbundene,
als ein rein geistiger Zustand, noch wie die mit einer inneren
Empfindung verbundene als ein zugleich meinem geistigen imd
meinem leiblichen Ich angehörender, sondern als ein zwar meinem
geistigen Ich angehörender aber doch mit dem Wahrgenommenen,
dessen Angenehmsein er ist, der Farbe oder dem Tone, in der
Aussenwelt sein Dasein habender. Ist also das Vorkommen
äusserer Empfindungen, die uns angenehm sind, eine Tatsache,
so auch dasjenige von Lustgefühlen, die zu den Inhalten unseres
äusseren Wahmehmens gehören.
Um die Annahme äusserlich wahrnehmbarer Gefühle noch
gegen den Einwand, dass sie einen Widerspruch enthalte, zu ver-
teidigen, brauche ich nur daran zu erinnern, dass alle sich un-
mittelbar auf Inhalte des sinnlichen Wahmehmens beziehenden
Gefühle gleich diesen Inhalten blosse Phänomene sind. Die Mög-
lichkeit freilich, dass jemand ein Gefühl, welches ihm in dem-
selben Sinne des Wortes wirklich zukommt, wie dies sein es zum
Inhalte habendes Wahrnehmen tut, kurz ein Gefühl von transzen-
dentaler Realität ausser sich wahrnehme, ist durch die Natur der
Gefühle als solcher ausgeschlossen. Aber dass unter den bloss
phänomenalen Gefühlen, die wir wahrnehmen, sich solche be-
finden, die unserem Wahrnehmen zugleich als zu unserem Ich
und als zur Aussenwelt gehörende Bestimmtheiten, nämlich als
das Angenehmsein oder die Schönheit einer Farbe oder eines
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 196 2
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l8 JULIUS BERGMANN.
Tons, erscheinen, ist ebensowenig ein sich widersprechender Ge-
danke, wie dass eine von uns wahrgenommene bloss phänomenale
Lust von unserm Wahrnehmen in die Zunge oder ein Schmerz
in einen Zahn hineingelegt werde, oder auch nur, dass eine
Empfindung z. B. eine Farbe von uns zugleich als unser Bewusst-
seinsinhalt und als eine Eigenschaft eines Dinges ausser und von
uns wahrgenommen werde.
8. Was zweitens die Vollkommenheiten betrifft, so würden
dieselben allerdings, ungleich den Gefühlen, nur innerlich wahr-
genommen werden können, wenn sie definiert werden müssten
als Bestimmtheiten, in die ein vorstellendes Wesen die Bedeutung
hineinlege, dass ohne ihr wirkliches Dasein seine eigene Essenz
nur unvollständig analysiert sein würde, die Bedeutung eines von
der Natur seines Ich Erstrebten. Diese Bedeutung können wir
nur in Bestimmtheiten, die uns als solche unserer selbst erscheinen,
hineinlegen. Es steht jedoch nichts im Wege, dem Begriffe der
Vollkommenheit einen weiteren Umfang zu geben, als es jene
Definition tut, nämlich unter einer Vollkommenheit eine Bestimmt-
heit zu verstehen, in die ein vorstellendes Wesen die Bedeutung
hineinlege, dass ihr Dasein zur vollständigen Realisierung der
Essenz desjenigen Dinges, als dessen Bestimmtheit sie
vorgestellt werde, erforderlich sei. Und dann ist die An-
wendimg des Gegensatzes des innerlich und des äusserlich Wahr-
nehmbaren auf die Vollkommenheiten mit keinem Widerspruche
behaftet, denn als ein Ding, dessen Essenz in ihm mehr oder
weniger vollkommen oder unvollkommen realisiert sei, können
wir nicht bloss unser leiblich -geistiges Ich, sondern auch Körper,
die wir ausser uns wahrnehmen, vorstellen. Auch der Einwand,
dass wir das wirkliche Dasein einer äusserlich wahrnehmbaren
Vollkommenheit nicht für uns selbst, sondern nur für ein anderes
Wesen, nämlich für das Ding, als dessen Bestimmtheit wir sie
vorstellen, würden begehren können, dass also die Anwendung
des Gegensatzes des äusserlich und des innerlich Wahrnehmbaren
auf die Begehrungsinhalte nicht zu einer neuen Einteilung der
letzteren führen würde, trifft nicht zu. Denn nichts hindert uns,
der Annahme, dass wir eine Bestimmtheit^eines äusserlich wahr-
nehmbaren Dinges als eine Vollkommenheit vorstellen und be-
gehren können, die nähere Bestimmung hinzuzufügen, dass das
Wesen, für welches wir das Dasein einer solchen Bestimmtheit
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DAS VERHÄLTNIS DES fÜHLENS, DES BEGEHRENS USW. 19
begehren, niemals das Ding sei, als dessen Bestimmtheit wir sie
vorstellen, sondern dass wir dieses Dasein nur begehren können
für ims selbst und für andere vorstellende Wesen, von denen
wir glauben, dass es ihnen gefallen werde.
Auch dass wir wirklich in Inhalte unseres äusseren Wahr-
nehmens die Bedeutung von Vollkommenheiten hineinlegen, und
dass uns das Wahrnehmen einer so gedeuteten, an sich gleich-
gültigen Bestimmtheit, gleich demjenigen einer innerlich wahr-
genommenen Vollkommenheit, unmittelbar angenehm ist und mit-
hin ihr wirkliches Dasein für uns (ihr wirkliches Erscheinen) von
uns seiner selbst wegen begehrt werden kann, glaube ich be-
haupten zu dürfen. Eine allgemein anerkannte Tatsache ist
wenigstens dieses, dass vielfach Dinge oder Vorgänge (z. B. Linien,
Figuren, Bewegungen, Tonfolgen, Geräte, Gebäude, Gestalten
lebender Wesen) ein Wohlgefallen in uns erregen, welches sich
weder auf Bestimmtheiten bezieht, die uns, wie gewisse Farben
und Töne, unmittelbar angenehm sind, noch aus der Erwartung
gewisser Wirkungen entspringt, also nur mit unserem sie zum
Gegenstande habenden Wahrnehmen und Betrachten unmittelbar
verknüpfte Lust sein kann. Man wird aber auch weiter zugeben
müssen, dass das Wahrnehmen in dieser Weise gefallender Dinge
nicht schon insofern, als es ihm gegebene Bestimmtheiten der-
selben zum Inhalte hat, als es m. a. W. blosses Anschauen ist,
sondern erst insofern, als es in das ihm Gegebene eine gewisse
Bedeutung hineinlegt, mit dem Gefühle ästhetischen Wohlgefallens
verbunden ist, und dass jene Bedeutung keine andere ist als die-
jenige, die das mit einem Gefühle der Lust verbimdene innere
Wahrnehmen an sich gleichgültiger Zustände oder Tätigkeiten
oder Eigenschaften in diese Inhalte hineinlegt, die Bedeutung von
Bestimmtheiten, die zu haben das wahrgenommene Ding strebte,
d. i. die ihm zwar nicht notwendig zukämen, ohne die aber den-
noch zwischen seiner individuellen Wesenheit und dem, was es
tatsächlich wäre, ein Widerspruch bestehen würde, kurz die Be-
deutung von Vollkommenheiten in dem oben dargelegten Sinne
dieses Wortes.
Den Grund dafür, dass wir gewisse Bestimmtheiten unserer
selbst nicht innerlich wahrnehmen können, ohne in sie die sich
widersprechende Bedeutung von Vollkommenheiten hineinzulegen,
glaubte ich oben (III, 5) in der Verbindung einer uns verborgenen
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20 JULIUS BERGMANN.
Eigenschaft der Seele mit einer wirklichen Bedeutung jener Be-
stimmtheiten für uns suchen zu müssen. Die Natur der Seele,
nahm ich an, mache sich als eine Tendenz geltend, im Wechsel
der Umstände und Verhältnisse einem gewissen Begriffe zu ent-
sprechen oder sich nach einem gewissen Gesetze zu gestalten
und zu entwickeln, als ob ein Künstler ihr ihre ursprüngliche
Einrichtung zu dem Zwecke gegeben habe, dass sie stets mit
diesem Begriffe oder Gesetze übereinstimme, und die wirkliche
Bedeutung der uns als Vollkommenheiten erscheinenden Inhalte
unseres inneren Wahmehmens, die es in einer uns unerkennbaren
Weise bewirke, dass uns dieselben als Vollkommenheiten er-
scheinen und darum mit Lust von ims wahrgenommen werden,
bestehe, unter gewissen Einschränkungen, die hier nicht erörtert
werden können, darin, dass sie ihr durch ihre Tendenz oder den
derselben entsprechenden Zweckbegriff vorgeschrieben seien.
Auch die Objekte unseres äusseren Wahmehmens nun, die uns
in der blossen Betrachtung gefallen, müssen wir zu der Idee der
Übereinstimmung eines Dinges mit einer in seiner Natur liegenden
Tendenz oder mit einem Zwecke, dessen Vorstellimg seine er-
kennbaren Bestimmtheiten in einem Betrachter hervorzurufen ge-
eignet sind, in Beziehung setzen, wenn wir nach der allgemeinen
Beschaffenheit fragen, durch die sie unser Wahrnehmen nötigen,
das in sie hineinzul^en, was sie erst zu Objekten unseres Wohl-
gefallens macht, nämlich ein Streben, so zu sein, wie sie sind.
Jedoch in einer wesentlich anderen Weise. Ein Inhalt meines
inneren Wahmehmens nämhch, der mir als eine Vollkommenheit
erscheint, tut dies nicht deshalb, weil ich ihn als eine mit der
Tendenz meiner Seele übereinstimmende Bestimmtheit vorstellte,
obwohl, wenn meine Hypothese richtig ist, diese Übereinstimmung
eine Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass er mir als eine
von meiner Seele erstrebte Vollkommenheit erscheine; vielmehr
kann ich erst daraus, dass eine Bestimmtheit, die ich in mir
wahrnehme, mein Wahrnehmen nötigt, die Bedeutung einer Voll-
kommenheit in sie hineinzulegen, auf ihre Übereinstimmung mit
der Tendenz meiner Seele schliessen. Damit dagegen mein Wahr-
nehmen die Bestimmtheiten eines äusseren Objektes als von
demselben erstrebte Vollkommenheiten auffassen können, genügt
es nicht, dass sie mit der Tendenz des Objektes übereinstimmen,
sondern sie müssen auch als mit dieser Tendenz übereinstim-
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DAS VERHÄLTNIS DES FOHLENS, DES BEGEHRENS USIV. 21
mende von mir vorgestellt werden. Erst nachdem die Bestimmt-
heiten des Gegenstandes in mir die Vorstellung der Übereinstim-
mung desselben mit einer aus seiner Natur entspringenden Tendenz
erweckt haben, können sie weiter mein Wahrnehmen veranlassen,
die Bedeutung von Bestimmtheiten in sie hineinzulegen, in denen
ein Streben des wahrgenommenen Gegenstandes sein Ziel erreicht
habe, die Bedeutung von Vollkommenheiten, und dadurch mein
Wohlgefallen erregen, während die innerlich von mir wahrgenom-
menen Bestimmtheiten, die mir als Vollkommenheiten erscheinen,
mich unmittelbar durch das, als was sie mir gegeben sind, an-
regen, sie so aufzufassen. Darum braucht auch ein äusseres Ding,
um gefallen zu können, gar nicht wirklich eine Tendenz zu haben
und mit derselben übereinzustimmen, sondern sich nur der ästhe-
tischen Betrachtimg als ein so beschaffenes Ding darzustellen.
9. Zum Begehren steht in der engsten Beziehung die letzte
der psychischen Verhaltungsweisen, deren Verhältnis zum Vor-
stellen und zum Bewusstsein zu untersuchen ich mir vorgenommen
hatte: Das Wollen.^) Jedes Wollen enthält ein Begehren in dem
weiteren Sinne, in welchem die Unterscheidung des unmittel-
baren, d. i. auf etwas seiner selbst wegen gerichteten und des
mittelbaren, d. i. auf etwas eines anderen wegen gerichteten Be-
gehrens (vergl. o. III, i) dieses Wort nimmt, und zwar ein den-
selben Sachverhalt wie es selbst zum Inhalte habendes. Was wir
wollen, besteht immer darin, das etwas gewisses sei oder geschehe,
und eben dieses Sein oder Geschehen begehren wir auch, indem
wir es wollen (was jedoch nicht ausschliesst, dass wir es zugleich
scheuen, da es überhaupt möglich ist, etwas, was wir unmittelbar
begehren, mittelbar, und etwas, was wir mittelbar begehren, un-
mittelbar oder mittelbar zu scheuen). Um das Verhältnis des
WoUens zum Vorstellen und zum Bewusstsein zu bestimmen,
haben wir demnach nur die Frage zu beantworten, was in einem
Wollen zu dem in ihm enthaltenen Begehren hinzugekommen sei.
Und diese Frage wieder können wir durch eine bestimmtere er-
setzen, indem wir als Wollen nicht alles bezeichnen, was der
Sprachgebrauch so zu bezeichnen gestattet, sondern diesem Worte
^) Eingehender, als ich es hier darf, habe ich mich mit der Natur des
Wollens in der (in meinen „Untersuchungen Ober Hauptpunkte d. Philosophie"
enthaltenen) Abhandlung „Die Anforderungen des Wollens an sich selbst**
beschäftigt.
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22 ßJLIUS BERGMANN,
die übrigens auch vom Sprachgebrauche bevorzugte engere Be-
deutung beilegen, nach der Wollen soviel wie Tun- wollen oder
Lassen-woUen heisst; denn sicherlich reicht das Vermögen des
Tun- und des Lassen- woUens hin, in Verbindung mit denjenigen
des Vorstellens, des Fühlens und des Begehrens auch alle übrigen
Tätigkeiten, die sonst noch wohl als Wollen bezeichnet werden,
hervorzubringen, und wir werden uns daher auf seine Betrachtung
beschränken dürfen.
Vergleichen wir demgemäss, das Lassen- wollen einstweilen
zurückstellend, das Tun- wollen mit dem blossen auf ein Tun, sei es
unmittelbar (seiner selbst wegen), sei es mittelbar (weil es für ein
Mittel zu einem seiner selbst wegen begehrten Zwecke gehalten
wird), gerichteten Begehren, so tritt uns zunächst der Unterschied
entgegen, dass das erstere von dem Augenblicke an, in welchem
das gewollte Tun beginnen soll, seiner allgemeinen Natur nach,
also notwendig, auf das Stattfinden dieses Tuns hinwirkt, das
andere nicht. Wenn wir etwas gewisses zu tun, z. B. den Arm
auszustrecken, bloss begehren, so ist es allerdings möglich, dass
sich zufolge der gerade ausserhalb unseres Begehrens in uns oder
ausser ims bestehenden Verhältnisse und geschehenden Vorgänge
die gewollte Bewegung unmittelbar daran anschliesst, imd es kann
auch sein, dass unser Begehren selbst zu diesem Erfolge beiträgt,
und seine Mitwirkung dazu unentbehrlich ist, aber nicht vermöge
des ihm mit jedem anderen Begehren Gemeinsamen, sondern erst
wegen der Eigentümlichkeit seines Inhaltes und der besonderen
Umstände übt es dann diese Kausalität aus; in Beziehung auf die
ihm als Begehren eigene allgemeine Natur m. a. W. ist dann
sein Hinwirken auf die Verwirklichung des Begehrten zufällig.
Ein Tun -wollen dagegen mag zwar niemals allein durch sich
selbst zur Ausführung gelangen, aber stets bildet es doch we-
nigstens einen Faktor der Ursache seiner Ausführung, so dass die
letztere in allen Fällen notwendig erfolgt, sobald die Umstände
gewissen Bedingungen entsprechen.
Diese Unterscheidung des WoUens vom blossen Begehren
reicht indessen zwar hin, seinen Begriff vollständig zu bestimmen,
genügt aber nicht zur Beantwortung der Frage, was zu einem
blossen Begehren hinzukommen müsse, damit es zu einem Wollen
werde; denn nicht das Hinzukommende selbst, sondern nur eine
Folge seiner Verbindung mit dem Begehren gibt sie an. Die
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DAS VERHÄLTNIS DES ^ÜHLENS, DES BEGEHRENS USW, 23
richtige Antwort nun auf die neue Frage, welcher Art das psy-
chische Verhalten sei, dessen Verbindung mit einem Begehren
die dem letzteren fehlende Kausalität zur Verwirklichung seines
Inhaltes besitze, glaube ich in der sokratisch-platonischen Lehre ge-
funden zu haben, dass jeder immer das tue, was ihm das Beste
zu sein scheine. Unser Begehren, meine ich, etwas gewisses zu
tun, wozu wir das Vermögen zu besitzen glauben, ist Wollen
dann, wenn es uns scheint, dass das begehrte Tun mit allen
seinen Folgen mehr als jedes andere dazu beitragen werde, das
Ganze unseres gegenwärtigen und zukünftigen Begehrens zu be-
friedigen und das Eintreten des von ims Gescheuten zu ver-
hindern, kurz, wenn unsere praktische Vernunft, d. i. unser sich
in den Dienst unseres Begehrungsvermögens stellendes Erkenntnis-
vermögen das begehrte Tun für richtig erklärt. Ich gebe zu,
dass uns unser Begehrungsvermögen zu Handlungen verleiten
kann, die unser Erkenntnisvermögen missbilligt. Aber nur in der
Weise kann, wie schon Plato erkannte, dies geschehen, dass
zuerst das Begehren die ihm entgegenstehende Ansicht vertreibt
und die ihm zustimmende herbeiruft. Nicht dem, was wir in dem
Augenblicke des Entschlusses für gut und für übel halten, sondern
nur dem, was wir zuvor dafür hielten und vielleicht gleich nach-
her wieder dafür halten werden, kann unser Wollen widerstreiten;
unser Begehren überredet dann unsern Verstand, ihm den ihm zu-
sagenden Rat zu geben, und indem es diesen Rat empfängt, wird
es zum Wollen.
In demselben Verhältnisse wie ein Tun-wollen steht ein
Lassen- wollen zu dem in ihm enthaltenen Begehren, aber das in
einem Tun-wollen und das in einem Lassen- wollen enthaltene Be-
gehren sind von entgegengesetzter Art. Das Tun-wollen einer
Handlung ist Wollen ihres Stattfindens, das Lassen-wollen einer
Handlung Wollen ihres Unterbleibens; wie also in einem Tun-
wollen ein positives Begehren (Begehren eines Wirklichseins), so
ist in einem Lassen-wollen ein negatives (Begehren eines Nicht-
wirklichseins) oder ein Scheuen (vergl. o. III, 2) enthalten. Ist
nun ein Tun-wollen die Verbindung des in ihm enthaltenen Be-
gehrens mit der Meinung, dass die begehrte Handlung die beste
unter den zur Wahl stehenden sei, so ein Lassen-wollen die Ver-
bindung des in ihm enthaltenen Scheuens mit der Meinung, dass
die gescheute Handlung nicht die möglichst beste sei, also ent-
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24 JULIUS BERGMANN.
weder mehr Übles als Gutes einbringen oder einen grösseren
Verlust als Gewinn an Gutem zur Folge haben oder zwar ein
Übel abwehren, dafür aber einem grösseren Übel den Zugang
öffnen oder ein grösseres Gut fernhalten werde. Man kann
freilich, wie schon oben angedeutet wm-de, auch etwas lassen
wollen, was man zu tun begehrt, sowie auch etwas tun wollen,
was man zu tun scheut, aber dieses Begehren ist dann nicht in
diesem Lassen-woUen und dieses Scheuen nicht in diesem Tun-
wollen enthalten, sondern geht nebenher; und das Lassen- wollen
einer Handlung enthält, wenn diese Handlung begehrt wird,
darum nicht weniger ein Scheuen, wenn auch ein erst zugleich
mit ihm selbst auftretendes und durch die in ihm enthaltene Er-
kenntnis hervorgerufenes, und ebenso setzt das Tun-wollen einer
gescheuten Handlung dem mit ihm verbundenen Scheuen ein in
ihm selbst enthaltenes Begehren entgegen.
lo. Es gehört nicht zu meiner gegenwärtigen Aufgabe, den
Begriff des WoUens weiter zu entwickeln, aber eine kurze Be-
trachtung werde ich doch der eben dargelegten Bestimmung noch
hinzufügen müssen, um sie gegen den ihr drohenden Vorwurf
zu schützen, dass sie einer allgemeinen Tatsache, nämlich der-
jenigen, mit der sich die Ethik beschäftigt, der Tatsache des Be-
stehens der sittlichen Anforderungen an den Willen, widerstreite.
Dass wir überhaupt Anforderungen und näher die Inhalte
unseres WoUens betreffende an unseren Willen stellen können
oder, was auf dasselbe hinauskommt, dass wir überhaupt den
eigenen Willen hinsichtlich eines Inhaltes, den er sich gegeben
hatte, zum Gegenstande einer entweder billigenden oder miss-
billigenden Beurteilung machen können, lässt auch meine Be-
griffsbestimmung des WoUens als ohne weiteres verständlich er-
scheinen. Sie enthält ja unmittelbar die Anerkennung der Tat-
sache, dass wir etwas woUen können, dessen Verwirklichung
dadurch bedingt ist, dass wir zuvor etwas anderes woUen und
vervnrklichen, einen Zweck, den zu erreichen es der Herstellung
eines Mittels bedarf; können wir uns aber einen Zweck setzen,
so können wir auch die Anfordenmg an uns stellen, dass zur Er-
reichung desselben erforderiiche Mittel, oder, wenn er uns die Wahl
zwischen mehreren Mitteln lässt, eines derselben zu woUen. Aber
diese aus dem Wollen eines Zweckes entspringenden oder, nach
Kants Bezeichnung, diese h}rpothetischen sind nicht diejenigen
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DAS VERHÄLTNIS DES FÜHLENS, DES BEGEHRENS USIV, 25
Forderungen, auf die sich die sittliche Beurteilung bezieht Ein
Wollen, das uns sittlich geboten ist, ist dies nicht deshalb, weil
sein Inhalt zum Inhalte eines anderen nicht selbst wieder sittlich
gebotenen WoUens in der Beziehung des Mittels zum Zweck
stände, sondern durch sich selbst. Die sittlichen Imperative sind
nicht hypothetisch, sondern kategorisch. Allerdings kann ein
Wollen sittlich geboten deshalb sein, weil sein Inhalt zu dem
eines anderen WoUens in dem Verhältnisse des Mittels zum
Zwecke steht, aber nur dann ist dies möglich, wenn das Wollen
des Zweckes selbst sittlich geboten ist. Das Gebot, das Mittel
zu wollen, ist dann ein sittliches nur deshalb, weil das Gebot,
den Zweck zu wollen, es ist. Es fragt sich demnach, ob die Be-
griffsbestimmung des WoUens als der Verbindung eines Be-
gehrens mit dem Glauben, die Erfüllung dieses Begehrens werde
keine für die Befriedigung des Ganzen unseres gegenwärtigen und
zukünftigen Begehrens nachteiligen Folgen haben, die Möglichkeit
auch dieser zweiten Art von Forderungen zulässt. Diese Frage
nun scheint in der Tat auf den ersten Blick verneint werden zu
müssen. Wenn wir nämUch immer das wollen, was wir für das
Beste halten, wovon wir also meinen, dass es mehr als jedes
andere uns zu bewirken MögUche zur Erreichung des Endziels
unseres ganzen Begehrens dienen werde, so kann ja wohl, scheint
es, eine Forderung nur dann Einfluss auf unseren WiUen haben,
wenn wir sie für eine Eonsequenz der aUgemeinen halten, dass
unser Wollen stets dem in der Erreichung des totalen Endzieles
unseres Begehrens bestehenden Zwecke, also einem Zwecke, der
nicht selbst sittlich geboten ist, entspreche, wenn sie mithin hypo-
thetisch ist. Nun können wir aber keine wirkliche Forderung an
unseren WiUen stellen, der jede Einwirkung auf ihn durch die
allgemeine WiUensnatur unmöglich gemacht würde, keine, die
unser WoUen so wenig zu bestimmen vermöchte, wie unser Vor-
stellen einer Bewegimg der Erde in einer anderen Bahn als der
ihr durch die Gesetze der Trägheit und der Gravitation vor-
geschriebenen diese Bewegung herbeizuführen im stände ist. Die
vorausgesetzte Erklärung des Begriffes des WoUens durch den-
jenigen einer gewissen Verbindung eines Begehrens und eines Er-
kennens scheint also mit der Annahme nicht-hypothetischer Impe-
rative unvereinbar zu sein. Und auch dann würde sich dieser
ScMuss ergeben, wenn es bezweifelt werden soUte, dass wir
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26 JULIUS BERGMANN,
keine Forderung an unseren Willen stellen können, die keinen
Einfluss auf ihn auszuüben vermöchte, denn von den sittlichen
Forderungen wissen wir, dass sie nicht immer wirkungslos sind.
Angenommen, es verhielt sich wirklich so, so ergäbe sich
daraus kein Einwand gegen die Ansicht, dass zu jedem Wollen
ein Begehren und ein sich in der angegebenen Weise darauf be-
ziehendes Meinen gehöre. Es müsste ihr aber hinzugefügt
werden, dass das Wollen nicht in dieser Verbindung eines Be-
gehrens und eines Meinens aufgehe. Wenn wir, müsste ge-
schlojssen werden, etwas begehren und von ihm meinen, dass seine
Verwirklichung das Beste für uns sein würde, so stehe es noch
bei uns, es zu wollen oder es nicht zu wollen, da sonst keine
kategorischen Imperative möglich sein würden, ein Begehren
werde also zum Wollen erst dann, wenn ausser jenem Meinen
noch ein weiteres Verhalten der Seele zu ihm hinzukomme, und
zwar ein solches, dessen Hinzukommen zum Begehren und Meinen
durch eine Forderung, die der Wille an sich selbst stelle, sei es
eine hypothetische, sei es eine kategorische, bewirkt sowie auch
verhindert werden könne. Darin bestehe die Wirkungsfähigkeit
der Forderungen, die der Wille an sich selbst richte, sowohl der
hypothetischen als auch der kategorischen, dass sie die Seele be-
stimmen, zu der Verbindung eines Begehrens und eines Meinens
diesen dritten Faktor hinzuzutun oder (wenn die Forderung ein
Verbot ist) nicht hinzuzutun. Und anderseits verleihe erst dieser
dritte Faktor dem Wollen die ihm wesentliche in dem Hinwirken
auf das Geschehen der gewollten Handlung bestehende Kausalität.
II. Die auf den ersten Blick so einleuchtend erscheinende
Behauptung, dass die Tatsache der kategorischen Imperative jeder
Begriffsbestimmung des Wollens entgegenstehe, nach der Jeder
immer das wolle, was ihm in Beziehung auf das totale Endziel
seines Begehrens das Beste zu sein scheine, erweist sich jedoch
bei näherer Erwägimg des Inhaltes dieser Tatsache als unrichtig.
Alle positiven (gebietenden) Forderungen, die ich an mich
bezüglich meines Wollens stelle, sind Ausdrücke eines mir eigenen
unmittelbaren oder mittelbaren Begehrens — nicht nach dem,
was zu wollen sie mir gebieten, sondern nach diesem Wollen
selbst, alle negativen (verbietenden) Ausdrücke einer mir eigenen
unmittelbaren oder mittelbaren Scheu vor dem Wollen, das sie
mir verbieten. Dass ich etwas zu wollen oder nicht zu wollen
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DAS VERHÄLTNIS DES FOHLENS, DES BEGEHRENS USW, 27
von mir fordere, heisst gar nichts anderes, als dass ich dieses
Wollen begehre oder scheue und es als einen Gegenstand meines
Begehrens oder Scheuens erkenne. Der Unterschied zwischen
den hypothetischen und den kategorischen Forderungen nun ist
dieser, dass das in den ersteren sich kundgebende Begehren oder
Scheuen ein mittelbares, das in den anderen sich kundgebende
ein unmittelbares ist. Begehre oder scheue ich, etwas gewisses
zu wollen, deshalb, weil mir an dem Wirklichsein oder Nicht-
wirklichsein des Inhaltes dieses WoUens gelegen ist, also weil das
durch dieses Wollen bewirkte Tun, sei es seiner selbst, sei es
seiner Folgen wegen von mir begehrt oder gescheut wird, so ist
die Forderung, mit der ich mir dieses Wollen gebiete oder ver-
biete, hypothetisch oder, wie ich lieber sagen möchte, relativ;
begehre oder scheue ich dagegen ein gewisses Wollen seiner
selbst wegen oder, was nach den oben entwickelten Begriffen des
Begehrens und des Scheuens dasselbe ist, deshalb, weil es mir
als eine Vollkommenheit meines Ich oder als das konträre Gegen-
teil einer solchen erscheint, oder weil in mir ein Trieb nach
seinem Wirklichsein oder Nichtwirklichsein ist, oder weil es in
mir ein Gefühl des Wohlgefallens oder Missfallens an ihm erregt,
so ist die mir dieses Wollens gebietende oder verbietende Forderung
kategorisch oder, wie ich lieber sagen möchte, absolut. Auch ein
kategorisch gefordertes Wollen muss freilich ein Beehren dessen,
worauf es gerichtet ist, enthalten, denn Niemand kann etwas
wollen, was er nicht unmittelbar oder mittelbar begehrt, aber es
wird nicht gefordert, damit dieses in ihm enthaltene Begehren
befriedigt werde, sondern damit der Wille sich auf gewisse Weise
verhalte, so dass dem sittlichen Triebe auch dann genügt wird,
wenn das von ihm geforderte Wollen den Endzweck, auf den es
gerichtet ist, nicht erreicht.
Die Annahme nun eines Triebes, vermöge dessen wir ein
uns mögliches Wollen seiner selbst wegen verlangen oder scheuen
können, oder dass die Vorstellung eines gewissen Wollens ein sich
unmittelbar auf dasselbe beziehendes Gefühl des Wohlgefallens
oder Missfallens hervorrufen kann, steht durchaus im Einklang
mit der Ansicht, dass Jeder stets das wolle, was ihm in Be-
ziehung auf das totale Endziel seines Begehrens das Beste zu sein
scheine. Folglich besteht auch kein Widerstreit zwischen dieser
Ansicht und der Tatsache der kategorischen Forderungen. Wenn
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28 JULIUS BERGMANN,
die kategorischen Forderungen, die wir an unseren Willen stellen,
Ausdrücke eigener Begehrungen sind, so hängt es ja von ihnen
mit ab, was wir wollen müssen und was wir nicht wollen dürfen,
um dessen, worum es unserem ganzen Begehren zu tun ist, in
möglichst hohem Masse teilhaftig zu werden. Erhebt sich eine
kategorische Forderung in uns, so ist es uns auch dann möglich,
dass wir uns ihr gemäss entscheiden, wenn wir erkennen, dass
die Folgen dieser Entscheidung dem Ganzen derjenigen Zwecke
widerstreiten, die für unseren Willen äusserlich sind, d. h. nicht
in einer Beschaffenheit unserer Willensentscheidungen bestehen;
denn es kann sein, dass wir zufolge unseres sittlichen Triebes
die Übereinstimmung unseres Willens mit einer kategorischen
Forderung für wertvoll genug erachten, uns für die Opfer, die
sie uns auferlegt, zu entschädigen, dass m. a. W. die Liebe zum
Guten und der Widerwille gegen das Böse über alles ihm ent-
gegentretende Begehren und Scheuen den Sieg davontragen. Nur
deshalb scheint auf den ersten Blick die sokratisch- platonische
Lehre von dem Verhältnisse des WoUens zum Begehren und zum
Erkennen die Möglichkeit kategorischer Imperative auszuschliessen
weil sich uns der Ursprung dieser Imperative nicht unmittelbar
zu erkennen gibt und daher ihr Gegensatz zu den hypothetischen,
von denen es ohne weiteres einleuchtet, dass sie aus dem Be-
gehrungsvermögen stammen, dazu verleitet, sie auf eine dem Be-
gehrungsvermögen entgegengesetzte Macht, etwa, mit älteren
Theologen, auf den grundlosen Willen Gottes oder, mit Kant,
auf die reine Vernunft zurückzuführen.
Ich verkenne nicht, dass mein Begriff des Wollens, auch
nachdem ich gezeigt habe, dass er der Tatsache des Bestehens
kategorischer Anforderungen an das Wollen gerecht zu werden
vermag, noch dem Zweifel ausgesetzt ist, ob er mit demjenigen,
dessen die Ethik bedürfe, übereinstimme. Er sei, könnte ihm vor-
geworfen werden, unvereinbar mit dem Glauben an die unbe-
dingte Gültigkeit jener Anforderungen, denn ihm zufolge brauchten
wir auch eine kategorische Forderung nur unter dem Vorbehalte
als bindend für uns anzuerkennen, dass unsere sie mit unseren
aussersittlichen Begehrungen vergleichende und die guten und die
üblen Folgen unseres Gehorsams berechnende Vernunft ihr zu-
stimme. Auch gegen diesen Einwand mich noch zu verteidigen,
würde hier jedoch zu weit führen. Ich beschränke mich daher
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL,
29
ihm gegenüber darauf, auf meine Abhandlung über die An-
forderungen des Willens an sich selbst, in der ich die Frage
nach der Sanktion des moralischen Gesetzes ausführlich behandelt
habe, zu verweisen.
Die Einfühlung und das Symbol.
Von Robert M. Wemaer (Madison, Wisconsin).
„Im Mittelpunkt der Entwicklung der neuesten Ästhetik sieht
der Symbolbegriff. Die gegenwärtigen Kämpfe auf ästhetischem
Gebiete drehen sich um ihn, mag er auch öfters unausgesprochen
im Hintergrunde stehen. Insbesondere aber scheint mir jene
Ästhetik, die das Schöne nicht in die leeren^ reinen Formen,
sondern in den Form gewordenen Gehalt setzt, zur Erfassung der
feineren Seiten und der einfachen, unscheinbaren, gerade darum
aber eigentümlich vielsagenden imd ahnungsvollen Erscheinungen
des Schönen nur durch verständnisvolle Pflege des Symbol-
begriffs gelangen zu können. Sobald die „Gehaltsästhetik" den
Symbolbegriff von sich weist, und auf die Wendung des „Ge-
haltes** ins Subjektive, Intime hin, wie sie diu-ch diesen Begriff
gefordert wird, nicht eingeht, wird sie die Schönheit der einfachen
abstrakten Formen: der Farben, Töne, Linien, Flächen usw. nur
in gezwungenen, innerlich imwahrscheinlicher Weise begründen
können; ja diese Formen werden für die Richtigkeit der „Formel-
ästhetik** zu zeugen drohen. Der Symbolbegriff ist es, wodurch
der „Gehaltsästhetik** zum Siege über den ästhetischen Formalis-
mus verholfen wird.**
Diese Worte schrieb Volkelt, einer der Führer im Kampfe
gegen den Formalismus und einer der wenigen Gelehrten,
die dem Symbolbegriff ihre besondere Aufmerksamkeit ge-
widmet haben, im Jahre i8j6. Seitdem hat die Gehaltsästhetik
grosse Fortschritte gemacht. Die Tatsache, dass das Schöne
einen Gehalt hat, braucht wohl heute kavun mehr verfochten zu
werden, obgleich die Gegner wohl noch nicht ganz verschwunden
sind. Die Ästhetik hat sich deshalb in den letzten 30 Jahren
nicht sowohl mit der Verfechtung eines Inhaltes beschäftigt, als
vielmehr mit dem überaus wichtigen Problem, wie der Inhalt sich
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30 ROBERT M. IVERNAER.
mit der Form im ästhetischen Genuss vereint. Die metaphysische
Betrachtung ist psychologisch geworden. Auf der einen Seite
haben wir den Beschauer, auf der anderen einen draussen
liegenden Gegenstand, der durch den Beschauer mit einem In-
halte beseelt wird. In welcher Weise, unter welchen Bedingungen
mm kommt diese Beseelung, dieser, wie wir es nennen können,
Sjrmbolisierungsprozess zu stände? Die Beantwortung dieser
Frage, ganz im Geiste der oben zitierten Worte Volkelts, ge-
stützt auf die vorangegangenen Arbeiten Friedrich Vischers,
LoTZEs und Robert Vischers, hat sich die moderne Ästhetik zur
Aufgabe gemacht. Es ist das psychologische Problem der „Ein-
fühlung*. Noch heute spielt es eine grosse Rolle, bezeugt durch
zahlreiche Abhandlungen in unseren wissenschaftlichen Zeit-
schriften.
Dieses Suchen nach einer klaren psychologischen Erkenntnis
der Beseelung im ästhetischen Genüsse, obgleich die überaus
wichtigste Frage, erschöpft jedoch nicht den Symbolbegriff.
Noch andere Fragen bleiben übrig, mit denen sich schon die
älteren Ästhetiker beschäftigt haben und die noch nicht ganz ab-
getan sind. So lange wir das Wort „Symbol* gebrauchen — wir
finden es fast in jeder ästhetischen Abhandlung — müssen wir
versuchen, uns klar zu werden, was eigentlich darunter ver-
standen wird. Meine Aufmerksamkeit wurde wieder auf das
„Symbol* durch eine vor nicht allzulanger Zeit veröffentlichte
Schrift von Lipps gelenkt. In dieser Schrift „Grundlegung der
Ästhetik* wird das Sjrmbol, nach einer dem Verfasser charak-
teristischen, das ganze Buch kennzeichnenden grundlegenden Dar-
stellung der Einfühlung, in den Worten formuliert: „Endlich
bringen wir mit diesen Begriffen zusammen den Begriff des
ästhetischen Symbols; dabei unterscheiden wir das „Symbol* vom
„Zeichen*. Ein Zeichen ist dasjenige, das mir sagt, das etwas
Anderes, nämlich das Bezeichnete, wirklich sei. So ist der Rauch
Zeichen des Feuers, d. h. er lässt mich die Existenz des Feuers
erkennen. Im Vergleich damit besagt das Wort „Symbol" einer-
seits mehr, andererseits weniger; Symbol nennen wir das Wahr-
genommene, in dem wir unmittelbar ein Anderes, nämlich ein
Streben, ein inneres Tun kurz, eine Weise unserer in-
neren Lebensbetätigung, unmittelbar erleben. Anderseits gehört
zum S}rmbol nicht das Bewusstsein, dass dieses innere Tun und
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DIE EimÜHLUNG UND DAS SYMBOL,
31
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<^r
diese innere Zuständlichkeit in dem Wahrgenommenen wirkliche
sei. Und wir reden insbesondere von einem ästhetischen Symbol,
wenn die Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit dieses inneren Tunsl ^»•'
und dieser inneren Zuständlichkeit in dem Wahrgenommenen gar/ '' {
nicht in Frage kommt."
„Wie man sieht, deckt sich danach der Begriff des ästhetischen
Symbols mit dem der ästhetischen Einfühlung; auch für diese
kam ja das Bewusstsein, dass das Eingefühlte in dem Objekte, in
welches ich mich einfühle, wirklich sei, nicht in Frage."
Was in dieser Formulierung des Symbolbegriffs besonders
auffällt, ist die Identifizierung von Einfühlung und Symbol, und die
damit verknüpfte Übertragung der Merkmale der Einfühlung auf
das Wesen des Symbols.
Da es mir nicht möglich ist, mich mit dieser Auffassung in
Einverständnis zu setzen, erlaube ich mir, meine davon abweichende
Ansicht vorzulegen.
Nach meiner Auffassimg gehören zum ästhetischen Symbol
vier wesentliche Bestandteile:
1. Ein sinnliches Bild.
2. Eine seelische Bedeutung.
3. Eine adäquate Verkörperung von Bild und Bedeutung.
4. Eine Unangemessenheit zwischen Bild und Bedeutung, 1 ) l!»
oder, in anderen Worten ausgedrückt, das Bewusstsein
des Zweierlei dieser beiden Begriffe.
Es ist mit besonderem Bezug auf den vierten Bestandteil des
Symbols, auf die „Unangemessenheitsidee", dass ich mir erlaube,
meine Meinung zu den Meinungen anderer hinzuzufügen. Von
den drei anderen Elementen wird nur das dritte, welches eng mit
der Einfühlung in Verbindung steht, in Betracht kommen.
Dieser vierte Bestandteil nimmt eine entscheidende Stellung
im Symbol ein. Er ist der wichtigste, welcher den anderen Be-
sshmdteilen erst ihre Bedeutung als Bestandteile eines Symbols
gibt. Denkt man sich die „Unangemessenheit" weg, so hört das
Kunstwerk auf, Symbol zu sein, so wie die Welt aufhören würde,
in unseren Gedanken eine Schöpfung zu sein, wenn wir uns
einen Schöpfer wegdenken. Wir müssten in diesem Falle ein
anderes Wort finden, um die übrigen drei Bestandteile des Kunst-
werkes zu bezeichnen, das Wort „Symbol" wäre jedenfalls nicht
passend.
/f^
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32 ROBERT M, WERNAER.
Ein Verständnis dieses vierten Bestandteiles ist nicht leicht
Schon von vornherein haben wir es mit einem anscheinenden Para-
dox zu tun. Als einen dritten Bestandteil gab ich an, dass das
Bild und die Bedeutung adäquat verkörpert sind, oder, in anderen
Worten, eins sind; im vierten Bestandteil aber, so sage ich doch,
besteht eine Unangemessenheit zwischen Bild und Bedeutung
oder, wie ich es schon oben in anderen Worten ausgedrückt habe,
das Bewusstsein des Zweierlei (dass die Darstellung und das Dar-
gestellte zwei verschiedene Dinge sind). Die Lösung besteht darin,
dass das VerhäJ^is von Bild und Bedeutung das eine Mal von
einem ästhetischen, das andere Mal von einem logischen Stand-
punkte aus betrachtet wird.
Die überaus grosse Wichtigkeit der Unangemessenheit ist
denn auch von verschiedenen Ästhetikern, die sich besonders mit
dem Sjmibol beschäftigt haben, hervorgehoben worden. Vor allen
ist jedoch Hegel zu nennen^ der die Symbolik, infolge des grossen
Einflusses, den seine Philosophie auch auf anderen Gebieten aus-
übte, gewissermassgi_^inS^f^hrt hat. Dieser Einfluss Hegels liegt
l besonders in seiner historischen Behandlung des Symbols, in
welcher die Unangemessenheitsidee eine grosse Rolle spielt. Be-
kanntlich teilte er die ganze Kunstproduktion des menschlichen
Geistes in zwei grosse Perioden, in die Periode vor und die Pe-
riode nach der griechischen Kunst. Was vor der griechischen
1 Kunst lag, w^ symbolisch, was nachher kam, nicht. Er nahm
an, dass der Mensch vor der griechischen Periode sich in einem
Stadium der Unmündigkeit befand, in welchem er sich seiner
Persönlichkeit noch nicht bewusst war, sondern nur in unbe-
stimmten Gefühlen wie in einem Traume dahin lebte. Dass er
in diesem unmündigen Zustande sich gezw^mgien fühlte, seine
noch nicht zur voll-menschlichen Klarheit gerÄften Gefühle in die
ihn umgebenden Natxirobjekte hineinzuzwingen. Er drückte den
Stempel seiner noch unmündigen Persönlichkeit auf das Unper-
sönliche und machte e§ somit zjun Symbol seiner dunklen Ahnungen,
und zwar infolge der dunkel gefühlten Unangemessenheit zwischen
dem Unpersönlichen und seinem Geiste.
Der Mensch entwickelte sich, seine Persönlichkeit trat klarer
an den Tag und fand in der Kunst die ihm allein zukommende
und ihm allein angemessene Form des menschlichen Körpers.
Dies ist das Zeitalter der Griechen. Die unangemessene Ver-
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL. 33
tretung zwischen Bild und Bedeutung verschwand und somit das
Symbol.
Die ganze Vorstellung dieser geschichtlichen Entwicklung ist
natürlich nur eine Theorie. Was uns für unsere Betrachtung
daran interessiert, ist der damit verbimdene Symbolbegriff, der
gänzlich auf der Unangemessenheitsidee aufgebaut ist.
Diese Formulierung des Symbols finden wir nun auch bei
den Nachfolgern Hegels. Man bemerkte sehr bald, dass das
eigenartige Verfahren des menschlichen Geistes, unpersönliche ^1^-^
Formen zur Darstellung seiner persönlichen Gefühle zu wählen,
auch im Leben des 19. Jahrhunderts stattfand. Nicht aber ge- tp^^uuJ
zwungen, wie beim Vorgriechen, sondern jetzt frei im Spiele seines
schöngeistigen Sichauslebens. Zwar hatte man die Beobachtung
in dichterischer Einkleidung schon Ende des 18. Jahrhunderts zur
Zeit Goethes und der Romantiker gemacht, aber sie war noch
nicht in die Ästhetik gedrungen und niemals zu einer Formulierung
gekommen.
Von den Männern, die auf diesem Gebiete anregend und
fortbildend gearbeitet haben, sind besonders Friedrich Vischer,
LoTZE, Robert Vischer und Volkelt zu nennen. Zuerst war
man sich einig über die Erscheinung. Sie ähnelte ja so auffallend >l-^^*^^
dem Verfahren, das Hegel in der vorgriechischen Periode glaubte
gefimden zu haben. Auch war der Name schon bereit Man
nannte es Symbolik, und zwar aus denselben von Hegel ange- ^-^ ^*'^'^
führten Gründen. So sagt Volkelt: „Das Menschliche aber, so '^ 1^-^^^
sehen wir, kann sich uns in angemessener, klar menschlicher, ;
oder in unangemessener, noch nicht menschlicher, unpersönlicher i^'^^ ;-,
Gestalt darstellen. Für das zweite GHed dieser wesentlich-sach- ■ ' /
heben Einteilung bietet sich uns ungesucht der Name Symbol dar." '
Doch die Sache blieb hier nicht stehen. Friedrich Vischer,
der ^ nie aiTfnörte, an dem Symbolbegriff zu rütteln und zu
schütteln, führte bald eine andere* Art von Sjrmbolik ein und zwar
eine den Prinzipien Hegels widerspfefienfle Art. Nicht nur un-
persönliche Formen, sondern auch der menschliche Körper könne,
so glaubte Vischer, symbolisch sein, wenn die Form eine tief-
menschliche Bedeutung in sich verkörpere, wenn, in anderen Worten,
das Typische im Individuellen dargestellt werde (Shakespeares , _
J^*"'
König Lear oder Goethes Faust). Dies stützte sich auf die An- '^ — '^
sichten Goethes und Schillers, welche gewöhnt waren, das
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 126 3
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34
ROBERT M. WERNAER.
4.
Wort ^Symbol" in dieser Weise zu gebrauchen. Gleichzeitig er-
weiterten auch andere Ästhetiker den SymbolbegrifF vom Unper-
sönlichen auf das Persönliche bis zuletzt Symbolisch mit Inhalts-
ästhetik zusammenfiel? 1). Dies wurde bestärkt durch die Weiter-
ausbildung der „Idee der Einfühlung", welche, erst vom Unper-
sönlichen ausgehend, allmählich ihr Gebiet auf alle Formen
ausdehnte und zuletzt zur psychologischen Analyse des Prozesses
heranreifte, wodurch der Mensch alles durch den Hauch einer
Persönlichkeit durchgeistet.
So hatte man denn die beschränkte HEGELsche Symbolik
ganz abgeschüttelt. Doch die Basis des SymbolbegrifTs ist damit
nicht geändert worden. Der SymbolbegrifF steht immer noch auf
dem Fundament der Unangemessenheitsidee, die immer zum
Symbolbegriff gehört hat, obgleich sie nicht immer richtig erkannt
worden ist imd je nach Zeit und Geist eine verschiedenartige
Interpretation erhalten hat.
Mit zwei Dingen hat man es im Symbol zu tun, mit etwas
Sinnlichem und etwas Geistigem, mit einem Bild und einer Be-
deutung, mit einer Form und einem Inhalte, mit der Darstellung
und dem Dargestellten. Dieses Sinnliche und dieses Geistige sind
für unser Gefühl, sowie für unseren Verstand, für den Dichter
und Künstler, sowie für den Psychologen, zwei einander ent-
gegengesetzte Dinge. Der Geist ist frei, die Form von Raum
und Zeit gebunden. Dieser Unterschiedlichkeit der beiden Dinge,
unfähig, den Gei^t frei von der Form zu erfassen, geben wir Aus-
druck durch das Symbol. ^ ^ ,,^
Das Symbol entstand infolge eines Versuchs seitens des
Menschen, den Geist durch das Sinnliche darzustellen, und er-
weckt noch heute in ims die Idee einer Vertretung des Geistigen
durch das Sinnliche. Wo wir eine solche Vertretung finden, da
ist das S3nnbol. Die Vertretung kann eine partielle sein, wie im
Verstandessjrmbol, wo das Geistige im Sinnlichen nur durch ein
Attribut vertreten ist. Der Adler mit ausgebreiteten Flügeln, den
wir auf den Wappen, Münzen und Flaggen so vieler Nationen
sehen, wird ein S3rmbol der Souveränität genannt, weil die aus-
gebreiteten Flügel die Macht und den Schutz vertreten, welche
^) Anch möchte ich Fechner nicht auslassen, der die Inhaltsästhetik be-
deutend gefördert hat, und dessen Associationsprinzip als Vorbedingung der
Ästhetischen Anschauung zu gelten hat.
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL,
35
der Fürst von seinem Palaste über das Reich ausbreitet. Oder
die Vertretung kann eine vollkommene sein, wie im ästhetischen
S3niibol, von dem wir ja besonders handeln. Aber in jedem Falle,
ob vnr uns das Geistige mit dem Sinnlichen partiell oder voll-
kommen verschmolzen denken, besteht der Symbolbegriff in einer
Vertretung des Geistigen durch das Sinnliche, d. h. in einer Un-
angemessenheit oder Unzulänglichkeit, oder, was dasselbe ist, in
einer nicht wegzuräumenden Unterschiedlichkeit, oder, in anderen
Worten, in einem Bewusstsein — klar oder dunkel gefühlt — von
einem Zweierlei dieser beiden Begriffe.
Im Vergleich mit dieser Formulierung des Symbols hat Lipps
eine ganz andere, ja entgegengesetzte Auffassung, Meine obige
Formulierung fordert im Symbolbegriff ein Bewusstsein des
Zweierlei. Lipps jedoch lässt ein Zweierlei gar nicht aufkommen,
^'^- die Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit des Seelischen im Sinn-
lichen komme, so meint er, gar nicht in Frage. Wir können
deutlich sehen, dass daraus eine ganz andere Wertung des Sym-
bols entstehen muss. i.
Was hat nun Lipps zu dieser Annahme geführt? Er gibt
JU'*^*
uns selbst die Antwort: „Wie man sieht, deckt sich danach der
Begriff des ästhetischen Symbols mit der ästhetischen Einfühlung."
Also das Sjonbol soll mit der Einfühlung identisch sein. Was ist
aber nun diese ästhetische Einfühlung? Ist es wirklich der Fall,
dass sich diese beiden Begriffe decken? Decken sie sich, dann
hat Lipps recht, denn in der Einfühlung haben wir ein Ineinander-
verschmelzen von einem sinnlichen und einem seelichen Bestand-
teil, aber kein Bewusstsein, dass das Seelische im Sinnlichen
wirklich enthalten ist, und demnach auch kein Bewusstsein eines ^^-
Zweierlei.
Es ist nun meine Absicht, zu zeigen, dass sich das Symbol
mit der Einftlhlung nicht deckt.
I. Wie wertvoll die Einfühlung auch sein mag, zum psycho-
logischen Verständnis der Art und Weise wie sich der Mensch
die ihn umgebende Welt aneignet, so ist mit dieser Einfühlung
dennoch nicht das ganze Weltall erklärt. Eine Sache bleibt jeden-
falls immer noch ohne jede Erklärung; nämlich, das objektive
Wesen des seelischen Lebens, welches der Mensch, das Tier
und die Pflanze in sich tragen. Das erscheint mystisch, und in
der Tat wissen wir und können wir nichts davon wissen. Aber
3»
u*^
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'XziXKiL, das fehlt der nirsre. s:w:cl -arle ösr
^^c^deie ^»-ecsch. In der Forz:-ler=ig c-^ r?3-z:bo*s,
des se^llsch-rn L=örr:s daisieilt»
jiszri Cj*«r iacsactic nicht weggelasen werie::-
Zs; d*T Erkeizinus eines objdctiven Seel-frtilebeEis küciizen wir
iZjt dir— Erlihr-.:r:g- Denken wir z. B. an das Seel^iL^eben un-
v^z*z els^tie:; Mjtter. Gesetzt der FaZ. dass die Ein r -^ . 7r ,g die
71 — 3- ^ Ursacie ist. wodurch wir von izserer K-niheit aa die
Se^> -jzaerer Mutter eiscfaiiessen, so lernen wj- d^ct: sehr bald,
-z-^riL die forrwahrend sich ändernden Aasdracksbe-aregungoi,
Lyre i2:>d Handlungen, sowohl wie durch die darauf begründete
Tarign:::^', dass wir immer und immer vi-ieder diese äusseren
Zeudjtr: und Töne missverstehen, nicht nur. diss uisere Mutter
ez; aiuäser uns liegendes Ego ist, sondern auch, dass dieses Elgo
tr>ehr enihLlt als die Summe aller Bewegungen. I a;;:e oder FLuid-
- . 't g ^ *> die wir daran wahrnehmen können- \Wr sehen, dass^
troz d-er Verkörperung des Seelischen im Sinnlichen, doch noch
e^ Pjus auf seelischer Seite, eine UnaEgemessenheit. eine Unzu-
Äag^chkeit auf snnlich^ Seite vorhanden ist, m^c können uns
sociir des Bewusstseins des Zweierlei nicht länger enthalten.
Wie können wir nun dieses Zweierlei bezeichnen? Nor dbs
Wort ^Symbol* dgnet sich dazu. Es ist das Wirklichkeitssymbol,
d2s uns überall umgibt und von dem wir uns nicht losmachen
kCcnen. Lars kennt dieses Wirklichkeitssjinbol nicht. Seine
Fonnulierung lässt es nicht zu, da diese ja von einem Bewusstsein
des Seelischen im Sinnlichen nichts weiss.
Lars hat aber noch ein anderes Wort, das Wort ^Zeichen',
welches er don .SjTnbol* gegenüberstellt und durch welches er
gerade die oben besprochene Wirklichkeit bezeichnen möchte:
JEin Zeichen ist dasjenige, das mir sagt, dass etwas anderes^
nämlich das Bezeichnete, wirklich sei. So ist der Rauch Zeichen
des Feuers, d. h. er lässt mich die Elzistenz des Feuers erkennen.*
Warum könnte man also das Wort .Zeichen* nicht auf das oben
besprochene Veihältnis anwenden? Ich bin der Meinung, dass es
skh ganz und gar nicht dazu eignet Richtig ist ja, dass das
Zeichen immer auf die Wirklichkeit von etwas anderem hindeutet,
aber — und dies ist der wichtige Unterschied zwischen Symbcd
und Zöchen — dieses andere ist niemals im Zeichen verkörp«^
Das Sinnliche und das Seelische sind in keinerlei Weise innerlich
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL.
37
miteinander verbunden. Dies zeigt ja auch das angeführte Bei-
spiel: Das Feuer ist nicht der seelische Teil des Rauches und
der Rauch nicht die sinnliche Verkörperung des Feuers.
Also das Wort „Zeichen" können wir nicht gebrauchen zur
Bezeichnung des objektiven seelischen Lebens. Nur das Wort
„Symbol'* eignet sich, und dieses Symbol, dieses Wirklichkeits-
symbol also, ist, so sehen wir jetzt, mehr als blosse Einfühlung
(die ja vom Bewusstsein nichts weiss), denn es setzt stets das
Bewusstsein eines Zweierlei voraus.
2. Ich wende mich nun aber zweitens zum eigentlichen
ästhetischen Symbol, auf das es uns ja hier besonders ankommt.
Deckt sich nicht vielleicht hier Einfühlung und Symbol? Es mag,
so könnte man sagen, wohl ein „WirklichkeitssymboP geben, aber
ein „ästhetisches Symbol", das noch etwas anderes sein soll als
die Einfühlung gibt es doch nicht.
In der Einfühlung, das werden wir alle zugeben, kommt die
Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Seelischen im Wahrgenom-
menen gar nicht in Frage. Das ist ja eben das Charakteristische
an der Einfühlung, dass wir erleben, fühlen, mitmachen, uns aus-
leben, dass wir ein Seelenerlebnis durchmachen in den aussen
gegebenen Formen, ohne aber jemals zu einem Vergleich der
beiden für ewig logisch geschiedenen Dinge, Seele imd Körper,
Inhalt und Form, Bedeutung und Bild zu kommen. Es kann gar
nicht genug betont werden, dass die ästhetische Lust, die auf der
Einfühlung beruht, nicht etwa, wie manche meinen, von dem
Seelischen ausgeht. Wir haben ein Gefühl und dann suchen wir
eine Form, in welche wir es hineinlegen können — das ist da-
mit nicht gemeint; sondern das Seelische erhält seine Geburt
durch das Sinnliche, verbindet sich mit demselben als instinktiv
damit zusammengehörend und lebt sich jetzt aus als eine sinnlich
verkörperte seelische Einheit.
Das macht es aber gerade, warum der SymbolbegrifF und
der Einfühlungsbegriff sich nicht decken können. Das Symbol
erfordert eine Erkenntnis von Bild und Sinn, die Einfühlung in-
dessen ist nur ein seelisches Erlebnis oder, psychologisch genom- v^ >-^
men, eine Erklärung des psychologischen Prozesses, wodurch sich
der Sinn mit dem Bilde zu einer Einheit verschmelzt. Komme ich
nun während des psychologischen Prozesses nicht zum Bewusst-
sein eines Sinnes im Bilde — was ja bei der Einfühlung nie in
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38 ROBERT R. WERNAER.
Frage kommt — so kann ich auch naturgemäss nie zur Erkennt-
nis eines „Sinnbildes** d. h. eines Symbols kommen. Dies findet
in der Tat auch nie statt, und deshalb kann sich das Symbol
mit der Einfühlung begrifflich nicht decken.
Wenn nun aber das Symbol ein von der Einfühlung ver-
schiedener Begriflf ist und dennoch zum ästhetischen Aktus ge-
hört — denn wir versuchen ja das ästhetische Symbol zu er-
klären — wo haben wir es zu suchen? Steht es in keinerlei
Verbindung mit der Einfühlung?
Nach meiner Auffassung ist die Einfühlung der Weg zum
Symbol oder jedenfalls eine Teilstrecke des Weges, dessen End-
station das Symbol ist. Ich befinde mich im Walde am Ufer eines
schnell dahin fliessenden Baches. Silberhell und klar rieselt er in
seinem Bette dahin. Von Stein zu Stein hüpft und fliesst das
Wasser wie ein lebendes Wesen eine bestimmte Absicht ver-
folgend schnell und in Hast nach einer bestimmten Richtung.
Immer aufs neue Wasser aus mir unbekannten Quellen! Immer
aufs neue verschwindet es vor meinen Augen, ich weiss nicht
wohin! Ein eigenartiges Gefühl ergreift mich; ich verfalle in einen
eigentümlichen Zustand, als ob es ein Traum wäre, in welchem
ich vergesse, dass ich am Ufer des Bächleins stehe. Und in
diesem traumähnlichen Zustande träume ich, so scheint es mir,
das Leben des Baches, der vor mir fliesst Ich quelle hervor, ich
weiss nicht woher, ich fliesse dahin dem Impuls meiner Natur
folgend und ich verschwinde wieder kaum noch ehe ich auftauchte.
„Wo komme ich her, wo gehe ich hin", so sage ich mir und ein
geheimnisvolles Gefühl erfasst mich. Was ich erlebe ist die
ästhetische Einfühlung in die Natur.
Jetzt verändert sich der traumähnliche Zustand, in welchem
ich während einer kurzen Zeit mein Leben mit dem Leben des
Baches vertauscht hatte. Eine Zweiheit des Seelischen und Sinn-
lichen hatte ich bis jetzt noch nicht erfahren; mein Leben und
das des Baches waren eins. Nun aber trete ich in ein neues
Stadium ein. Es ist kein Erwachen, sondern das Hinübergehen
in eine andere Zuständlichkeit in meinem ästhetischen Erlebnis.
Der Bach wird wieder der draussen liegende Gegenstand, der er
war, als ich an ihn zuerst herantrat. Aber nicht derselbe Bach,
sondern ein ganz anderer. Jetzt hat er einen Inhalt, einen von
mir in ihn hineingefühlten objektiv gewordenen Inhalt Er hat
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL,
39
jetzt eine bestimmte von mir hergeleitete Persönlichkeit, welche
in ihm fortlebt.
Bis hierher, so glaube ich, befinde ich mich nicht im Wider-
spruch mit der Psychologie der Einfühlung. Ich glaube auch,
dass mir eine rein psychologische Erklärung erspart sein wird,
die erstens nur zu Wiederholungen führen würde, zweitens für
meinen Zweck (ich ziele ja auf etwas ganz anderes ab) nicht ge-
fordert erscheint.
Nun aber weiter. Nach Lipps sowohl wie anderen Ästhe-
tikern, die die Einfühlung vertreten, hört nach Beendigung der
Einfühlung der ästhetische Genuss auf. Ich erlaube mir jedoch
als ein Problem aufzustellen, dass wir an diesem Punkte aus dem
ästhetischen modus operandi noch nicht heraus sind. Ich ver-
spüre nach der Einfühlung eine Fortsetzung der Lust. Es ist eine
von der Einfühlung verschiedene Lust, in welcher das Verhältnis
des Seelischen zum Sinnlichen eine etwas andere Stellung ein-
nimmt. In beiden Fällen, in der Einfühlung und in diesem zweiten
Stadium des ästhetischen Genusses, haben wir es mit einer Ein-
heit zu tun, mit einer Einheit des Seelischen und des Sinnlichen;
aber das Verhältnis ist doch nicht ganz gleich. In der Einfühlung
liegt die Betonung mehr auf dem seelischen Erlebnis, in diesem
Stadium indessen mehr auf dem draussen liegenden Sinnlichen.
Was ich während der Einfühlung an Objektivität verloren habe,
wird jetzt ersetzt. Das Sinnliche kommt zu einer grösseren Gel-
timg. Wir freuen uns, das von uns soeben eingefühlte seelische
Erlebnis jetzt in dem draussen liegenden Gegenstand zu sehen.
Es ist jetzt eine Vorstellung, eine Vorstellung von den selbst er-
lebten Gefühlen der Lust begleitet, gebunden an diesen, gerade
diesen Gegenstand, den einzigen Gegenstand, dessen Natur die
Gefühle entsprechen imd dem sie allein angehören können. Ich
habe das Sinnliche jetzt lieb gewonnen, denn es ist der Träger
meiner Gefühle.
So sprechen denn die Dichter und Künstler immer und
immer wieder von diesem zweiten ästhetischen Stadium und selten
von der Einfühlung, denn dieser wird sich der Nichtpsycho-
loge gar nicht bewusst. Sollen wir nun diese Dichter und
Künstler als Versuchspersonen auslassen?
Ich stehe wieder vor dem Bächlein. Während der Ein-
fühlung sagte ich mir: „Wo komme ich her, wo gehe ich hin?"
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40 ROBERT R, WERNAER.
Jetzt jedoch — in diesem zweiten Stadium — wende ich mich an
das Bächlein selbst, an den draussen liegenden Gegenstand, und
sage: „Wo kommst du her, wo gehst du hin?** Und der Dichter
des bekannten Liedes „Das Bächlein ** lässt den Gegenstand seiner
liebevollen Beschauung für uns antworten, indem er zugleich be-
stätigt, was ich oben gesagt habe:
„Ich komm' aus dunklem Felsenschoss
Mein Lauf geht über Blum, und Moos.
Auf meinem Spiegel schwebt so mild
Des blauen Himmels freundlich Bild;
Drum hab* ich frohen Kindersinn,
Es treibt mich fort, weiss nicht wohin.*
Das ist nicht mehr Einfühlung, das ist das vorgestellte
psychische Leben im draussen liegenden Naturobjekte. ^)
Damit ist nun aber nicht gesagt, dass, nachdem ich einmal
in dieses objektive Stadium des ästhetischen Genusses hinein-
gekommen, die Einfühlung für immer abgetan ist. Ich kann wieder
hineinfallen, genau wie im Anfange, und Einfühlung und objektiver
Genuss können abwechseln. Was ich nur sagen will, ist, dass mit
der Einfühlung der ästhetische Genuss nicht vollendet ist, dass
sie vielmehr zu einem anderen Stadium führt, in welchem uns
das SinnUche als draussen liegender Gegenstand und als Träger
des von uns hineingefühlten psychischen Lebens erscheint.
Damit sind wir nun zu einer ganz anderen Auffassung von
dem Verhältnis des Seelischen zum Sinnlichen gelangt. Während
in der Einfühlung die Wirklichkeit des Seelischen im Sinnlichen
nicht in Frage kommt, ist das Seelische im Sinnlichen jetzt zur
Wirklichkeit geworden.
Ich habe oben ein Beispiel gewählt aus der leblosen Natur.
Weitere Beispiele aus der Welt der Pflanzen, Tiere und Menschen
könnten angeführt werden, in welchen — da sie an und für sich
Leben haben — der von uns eingefühlte Inhalt deutlicher und
überzeugender als tatsächlich in dem Gegenstand lebend erscheinen
würde. Aber für ästhetische Zwecke ist der Unterschied zwischen
') Ich komme hier in Berührung mit der überaus wichtigen Abhand-
lung von WrTASEK (»Zur psychologischen Analyse der ästhetischen Einfühlung'',
Zeitschr. für Psychologie Bd. 25, S. iflf.). Meine Darlegung ist jedoch eine
ganz andere. Ich vermisse bei WriASEK eine organische Verknüpfung zwischen
anschaulicher Vorstellung des psychischen Lebens und den ästhetischen
Gefühlen.
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL,
41
lebloser und lebenhabender Natur nur ein theoretischer. Während
des ästhetischen Genusses ist alles durch unser eigenes Ego be-
lebt und erscheint deshalb auch so in Wirklichkeit.
Von hier aus nun durch einen weiteren Schritt kommen wir
zum ästhetischen Symbol, einen Schritt, den wir bei der Ein-
fQhlung nicht hätten vollziehen können.
Das ästhetische Erlebnis der Einfühlung ist hinter uns, und
wir befinden uns in einem zweiten Stadium des ästhetischen Ge-
nusses, in welchem das nun objektiv gewordene Sinnliche als
Träger unserer Gefühle vor uns liegt. Dieses zweite Stadium,
so sage ich nun weiter, ist die „Voraussetzung" der oben be-
sprochenen Unangemessenheitsidee, die Voraussetzung des Be-
wusstseins, dass das Sinnliche und das Seelische zwei verschiedene \
Dinge sind. Erst dieses zweite Stadium und dann die Symbolik.
3. Ich habe nun zu Genüge dargelegt, dass sich die Ein-
fühlung und das Symbol begriflFlich nicht decken. Femer habe
ich versucht, das Verhältnis der beiden Begriffe darzulegen und
dem Symbol eine psychologische Basis zu geben. Nur noch eine
Frage bleibt übrig. Wann nämlich tritt das Bewusstsein ein, für
welches wir jetzt die „Voraussetzimg" gefunden haben? Dies ist
eine überaus wichtige Frage, die ich hier nur innerhalb be-
schränkter Grenzen beantworten kann. Bisherige Arbeiten geben .
uns darüber keinen Aufschluss, denn sie beruhen auf einer meta- /
physischen, keiner psychologischen Basis.
Ich sagte, dass das zweite Stadium im ästhetischen Genüsse
die „Voraussetzung" zur Symbolik ist. Es ist aber auch weiter
nichts als dies, denn die Voraussetzung braucht ja nie zur Wirk-
lichkeit zu werden. Unsere Frage ist ja nicht, hat die Form einen
Inhalt, sondern kommt der Beschauer zum Bewusstsein des
Zweierlei — wie dunkel dies Bewusstsein auch sein mag. Theo-
retisch können wir wohl annehmen, dass, wenn der Beschauer
einmal bis zu diesem Punkte vorgedrungen ist, er auch weiter-
gehen wird, aber, ob dieser Schritt auch wirklich psychologisch
während des ästhetischen Genusses vollzogen wird, ist eine
andere Sache.
Nun ist es sehr interessant, dass schon in den frühesten Ab-
handlungen über das Symbol diese theoretische Annahme stets
vorausgesetzt wurde. Nicht aus psychologischen, sondern aus
theoretischen Gründen nahm man eine Unangemessenheit an.
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42
ROBERT M. WERNAER.
Von Anfang an (seit Friedrich Vischers Arbeiten) hiess die-
jenige Kunst symbolisch, die einen menschlichen Inhalt hatte,
ganz abgesehen davon, ob der Künstler bei der Schöpfung oder
der Beschauer bei dem Genuss auch wirklich zum Bewusstsein
der Unangemessenheit gekommen war. So nannte man von vorn-
herein die „Beseelung** der Natur „sjonbolisch" nur weil eine
theoretische Unangemessenheit zwischen dem Unpersönlichen imd
dem Persönlichen bestand, frug aber niemals nach dem Bewusst-
sein dieser Unangemessenheit.
Diese übereilte Annahme ist auch der Grund, warum wir
mit der Zeit zu einer Identifizierung von Einfühlimg und Symbol,
vrie wir sie in Lipps finden, gekommen sind. Das Wort Symbol
in dem obigen Sinne wurde gewissermassen als ein Schlagwort
gegen die Formalisten gebraucht, die einen Inhalt nicht zuliessen.
Als dann der ganze Kraftaufwand der geistigen Tätigkeit darauf
gerichtet wurde, einen solchen Inhalt zu verteidigen und wissen-
schaftlich zu formulieren, und die Einfühlung darin bald eine her-
vorragende Rolle einnahm, gewissermassen das Zentrum ästhe-
tischer Betrachtung wurde und die Inhaltsästhetik zum Siege
führte, musste das alte Schlagwort „Symbol" dem Sieger als
Fahne dienen. Die metaphysische Wahrheit eignete man sich so-
fort für psychologisch-ästhetische Zwecke an.
So verlor man (oder wenigstens Lipps) das Bewusstsein des
Zweierlei und kümmerte sich nicht um die notwendige Basis
— nämlich die objektive Stufe im ästhetischen Genuss — die
allein zum Bewusstsein führen kann.
Fahren wir nun fort, theoretisch anzunehmen, dass, wo ein
Inhalt ist, auch zugleich das ästhetische Symbol ist, dass, wo die
metaphysische Wahrheit ist, auch zugleich die psychologische ist, so
würden wir eine freie angewandte Symbolik haben, die auf rein
theoretischer Basis beruht. Alles, die ganze Welt würde sym-
i bolisch sein. Einer solchen frei angewandten imbeschränkten
Symbolik setzte ich nun nach obigen Prinzipien eine engere
Symbolik gegenüber, die auf dem Bewusstsein das Zweierlei
innerhalb des ästhetischen Genusses beruht.
Also, noch einmal, unter welchen Bedingungen tritt das Be-
wusstsein ein?
Von dem Standpunkte der frei angewandten theoretischen
Symbolik ist die Frage leicht zu beantworten: Der Beschauer
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DIE EINFÜHLUNG UND DAS SYMBOL, 43
fällt aus dem ästhetischen Zustande heraus, reflektiert über das ^
Verhältnis von Inhalt und Form und kommt somit zum Bewusst-
sein der Symbolik. Unsere Frage jedoch ist, unter welchen Be-
dingungen kommt der Beschauer zum Bewusstsein während des
ästhetischen Genusses. Um dies Gefühl der Symbolik zu er-
wecken, ist nicht nur ein Inhalt notwendig, denn den setzen wir
ja überall voraus, sondern ein besonderer seelisch bedeutender
Inhalt, dessen Beschaffenheit uns unwillkürlich zur Symbolik ein-
ladet. Nicht nur die Natur und der ihr zukommende Inhalt,
sondern ein besonderer Zusatz seitens der dichterischen Schöpfungs-
kraft bestimmt das Gefühl der Symbolik. Es ist ein gewisser
metaphysischer Hintergrund, welchen wir durch die Darstellung
selbst nur dunkel und in weiter Feme gelegen erblicken imd als H
beigeordnete Grundbedeutung fühlen. Es mag eine künstlerische
Auffassung des Allgemeinen sein, welches der Dichter im Indi-
viduellen darzustellen versucht, wie es z. B. Goethe in ver-
schiedenen seiner Werke getan; oder ein allgemein menschliches
Ideal einverleibt in der dichterischen Einzeldarstellung, wie
Calderons das Leben ein Traum; oder eine unerfreuliche Wahr-
heit in realistischer Darstellung, wie in einigen wenigen der besten
modernen Produkte; oder es mag ein rein individuelles tief see-
Usches Gefühl sein, welches der Dichter versucht in den Formen
der Natur einordnend zu verkörpern, wie es Maeterlinck getan. ^^
Goethe war sich vollkommen des Konfliktes zwischen dem Indi-
viduellen und dem Allgemeinen bewusst und nannte selbst
seine Dichtung symbolisch, obgleich er sich wissenschaftlich dar-
über keine Rechenschaft ablegen konnte. Und Maeterlinck so-
wohl wie die ganze neuere Richtung, nennen ihre Dichtung auch ^'^'''
symbolisch, alle unter dem Einfluss des Bewusstseins einer Ver-
tretung des Dargestellten durch die Darstellung. Dieses Bewusst-
sein, mehr oder weniger deutlich gefühlt — es ist immer Gefühls- ^
niemals Verstandessache — hinterlässt seine Spuren in der Form
imd erweckt wiederum das Gefühl der Symbolik während des
ästhetischen Genusses. Erweckt die künstlerische Darstellung
das Gefühl nicht, so ist sie auch nicht für den Beschauer sym-
bolisch, wie ja, auch kein Gegenstand schön ist, es sei denn, dass
er das Gefühl der Schönheit erweckt.
Die SymboUk ist somit das alleinige Eigentum einer ge-
wissen Klasse von künstlerischen Schöpfungen. Die Einfühlung
U^
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44 ANTON KORIVAN
und die objektive Stufe sind Teile im ästhetischen Genüsse aller
künstlerischen Schöpfungen, die Symbolik entsteht jedoch nur
unter den oben angegebenen Voraussetzungen.
Zur Verteidigung des Pantheismus
Eduard von Hartmanns.
Von Anton Korwan.
Unter den neueren Versuchen, dem Theismus dem Pantheis-
mus gegenüber wiederum auf die Beine zu helfen, dürfte wohl
derjenige als der orginellste angesehen werden, den der Religions-
philosoph Karl Andresen in der kürzlich erschienenen zweiten
Auflage seiner „Ideen zu einer jesuzentrischen Welt-
religion"^) unternommen hat. Dieser Denker, dem spekulative
Begabung nicht abgesprochen werden kann, glaubt nämlich, den
Pantheismus — dessen höchste bisher erreichte Stufe er durch
die Metaphysik Eduard von Hartmanns vertreten erachtet, über
welche die Philosophie sowie die Religion der Zukunft nicht hin-
auskommen werde, es sei denn, dass sie sich mit ihr auseinander-
gesetzt habe — dadurch überwinden zu können, dass er dessen
Unzulänglichkeit, insbesondere zur Erklärung des Weltanfanges,
der Zufälle und Widersprüche wie überhaupt des Alogischen
oder Antilogischen in der Welt an den Tag zu legen sich bemüht
und zu zeigen strebt, wie sich hierzu der von ihm aus diesem
untauglichen Pantheismus heraus erdachte Theismus viel besser
eigene. Hören wir daher zunächst, was er gegen den Hart-
MANNschen Pantheismus vorzubringen hat, gegen den eben infolge
seiner hervorragenden Bedeutung die Polemik Andresens fast aus-
schliesslich gerichtet ist.
Vor allem soll dieser an dem Grundfehler leiden, dass, wenn-
gleich Hartmann das Wesen Gottes als ursprüngliche Einheit
von Wille und Vorstellung fasse, diese ursprüngliche Einheit doch
den Charakter einer zusammengeschmiedeten Einheit nicht ganz
verleugne. Den aus der Welt und in der Welt richtig als un-
*) Leipzig 1904, Lotus- Verlag, 373 S., brosch. Mk. 5.— , geb. Mk. 6.—,
2. Auflage.
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW.
45
trennbare metaphysische Wesenseinheit von Wille und Vorstellung
erkannten geistigen Gott stelle Hartmann vorweltlich in momen-
taner Trennung von Wille und Vorstellung hin, ohne dieses zu
begründen oder begründen zu können. Wäre Gott aber ursprüng-
liche Einheit von Wille und Vorstellung, so seien Wille und Vor-
stellung in ihm auch momentan untrennbar; sie seien dann nur
begrifflich zu unterscheiden. Gott sei dann logischer Wille
oder wollende Vorstellung.
Wer Hartmanns Metaphysik kennt, weiss, dass Hartmann
die von ihm angenommene vorweltliche momentane Trennung
sehr wohl begründet mit der Notwendigkeit einer unlogischen
Willensinitiative, durch welche der Wille aus der Potenz, in der
er als bloss Wollenkönnender ruhte, in den Zustand der Aktion
trat und damit den Anstoss zu einem Weltprozess gab. Wenn
Andresen diesen Vortritt oder diese noch vorstellungsfreie Er-
hebung des Willens» für unvereinbar mit der ursprünglichen Ein-
heit von Wille und Vorstellung hält, wonach ,,die eine Seite der
Wesenheit Gottes, der Wille, niemals momentan leer, niemals
vorstellimgslos sein und sich daher auch niemals grundlos zur
Aktualität erheben konnte**, so übersieht er, das bei Hartmann
vor der Erhebung des Willens der Wille erst blosses Vermögen
zum Wollen und die Vorstellung blosse Möglichkeit einer logischen
Determination bedeuten. Letztere vermochte sich ohne etwas,
worauf sie sich beziehen konnte, nicht zu entfalten. Dieses Etwas
musste also vor ihr sein, dessen aber niemand anders vermögend
war als der imlogische Wille, war er doch das Vermögen durch
das Wollen ins Sein zu treten selber und ein drittes Attribut
ausgeschlossen. Erst bedurfte es einer von ihm als dem Un-
logischen ausgehenden Wirkung auf das Logische, damit das
Logische seiner Logizität gemäss reagierte. Hätten sich beide
Attribute gleichzeitig, also ohne vorhergehende Beeinflussung des
Logischen durch das Unlogische, in Aktion versetzt, so wäre das
Logische sich imlogisch zuwiderhandelnd gewesen, denn als
Logisches ist es an sich unveränderlich. Die unlogische Er-
hebung des Willens aus der Potenz ist somit das notwendige
Prius der Entfaltung des latenten Logischen zur Vorstellung oder
Idee und widerspricht nicht der ursprünglichen Einheit von Wille
und Vorstellung, sofern man nur daran denkt, dass letztere in
ihrer ursprünglichen Einheit nicht schon wollender Wille und
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46
ANTON KORIVAN
aktuelle Vorstellung, sondern erst blosses Vermögen zum Wollen
und blosse Möglichkeit logischer Determination dieses Wollens
waren und nur als solche in der Substanz einheitlich ruhend be-
schlossen lagen. So lange beide so aktionslos ruhten, ruhten sie
beziehungslos, existierten nicht füreinander, hatten keinen Einfluss
aufeinander; der Wille brauchte bei seiner Erhebung deshalb
eigentlich nicht erst eine Trennung vorzunehmen, sondern konnte
sich frei erheben, allerdings nur frei anfangen, sich zu erheben,
denn unmittelbar nach diesem Uranfang seines Erhebens musste
das Logische, weil es mit ihm in derselben Substanz einheitlich
ruhte, zu dem aus der Ruhe zur Aktion übergehenden und hier-
durch sich ihm bekundenden Unlogischen in logische Beziehung
treten, worauf sie nicht mehr bloss zusammen in der einen Sub-
stanz einheiüich wurzelten, sondern nunmehr ausserdem durch
die vom Logischen zum Unlogischen hinübergesponnenen Be-
ziehungsfäden miteinander verbunden waren. Vor seiner Er-
hebung konnte, ja musste sonach der potentielle Wille noch leer
und vorstellungslos sein und vermochte sich daher auch grundlos
zur Aktualität zu erheben.
„Aber selbst wenn die Annahme einer momentanen Trennung
des Willens in Gott von der Vorstellung denkbar wäre**, meint
Andresen, „dass das Wollen des Dass einer Welt schon eine Vor-
stellimg von etwas, nämlich vom Dass der Welt involvieren würde.
Auch wäre eine Welt ohne irgendein Was und Wie wieder etwas
Undenkbares; sie wäre überhaupt gar keine Welt, sondern nichts
und demnach hätte auch die Vorstellung sich nicht in der Wieder-
aufhebung von etwas betätigen können. Aller Willensinhalt
ist Vorstellung." Demgegenüber ist darauf hinzuweisen, dass der
Wille so wenig wie eine Welt ein Dass derselben wollte; er
wollte nur das Wollen und dazu bedurfte er noch keiner Vor-
stellung, da er ja selber das Wollen in der Potenz war. Damit
wird zugleich der sich anschliessende Einwand Andresens hin-
fällig, dass „eine nur momentan gewollte Welt zeitlich gar nicht
in die Erscheinung hätte treten können — auch nicht auf unbe-
stimmte Zeit — und nur als momentan gewollte momentan wieder
verschwinden müssen, da sie nur hätte sein können, so lange sie
gesetzt wurde.** Die Welt wurde nämlich dem zu leerem, unbe-
stimmtem Wollen erhobenen Willen erst von der Vorstellung zum
Inhalt gegeben und damit dauernd vom Willen realisiert oder gesetzt.
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW.
47
Auf Grund dessen, dass „die Vorstellung, welche die Welt
als ein nicht sein Sollendes betrachtet, nicht die Macht über ihren
Willen hat, das Wollen der Welt zu unterlassen," behauptet
Andresen, bei Hartmann ein nicht nur momentanes, sondern
dauerndes, wenigstens teilweise dauerndes Getrenntsein des Willen
Gottes von der Vorstellung. „Wäre Gott metaphysische Einheit
von Wille und Vorstellung, d. h. nur logischer Wille oder wol-
lende Vorstellung, so müsste er bei seiner All Weisheit nicht nur
wissen, wie die von ihm nicht gewollte Welt, welcher er subsistiert,
sofort wieder aufzuheben wäre, sondern auch dieses, sobald er
die Wiederaufhebung als logisch richtig erkannt hat, mit seinem
Willen sofort wollen und sofort verwirklichen." Nachdem wir
gesehen, dass der Wille bei seiner Erhebung noch nicht die
Welt, sondern nur das Wollen wollte, die Welt ihm vielmehr
erst von der Vorstellung zum Inhalt gegeben wurde, müssen wir
gerade umgekehrt aus der Fortdauer der Welt auf das fort-
dauernde Verbundensein von Wille und Vorstellung schliessen.
Nicht sowohl die Welt betrachtet die Vorstellung als etwas nicht
sein Sollendes als das Wollen; dieses vermag sie jedoch des-
halb nicht sofort zu unterdrücken, da sie allein ohne Wille macht-
los ist. Eben darum erfüllt sie das leere Wollen mit der Weltidee,
um mittels des Weltprozesses bezw. des m ihm aufleuchtenden
Bewusstseins den unbewussten Willen durch sich selbst bekämpfen
und zum Nichtmehrwollen führen zu lassen. Ein anderes bes-
seres, die Aufhebung des Wollens sofort bewirkendes Mittel stand
ihr nicht zur Verfügung, sonst hätte sie als logische Vorstellung
sich seiner bedienen müssen. Eine sofortige Aufhebung des
Wollens durch die Erfüllung des Willens mit der Idee des Nicht-
wollens war, abgesehen von anderen Gründen, auch deshalb
unmöglich, weil das unbewusste Wollen totaliter nicht das Nicht-
wollen, die Negation seiner selbst, wollen kann, indem es auch in
diesem Falle doch immer noch ein Wollendes bliebe, nämlich
ein das Nichtwollen Wollendes.
„Bei Hartmann ist das leere Wollen Gottes, welches der
Grund der Weltentstehung war, ein Schmachten nach Erfüllung,
unbestimmte Unlust, absolute Unseligkeit." Nach Andresens An-
sicht soll aber nur ein mit Vorstellung verbundener Wille eine
Unlust haben können; ein vorstellungsloser Wille könne weder
eine bestimmte noch eine unbestimmte Unlust haben, da Unlust
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48 ANTON KORIVAN.
nur als „logisches Ungenüge* denkbar sei. Demnach könne „eine
solche auch nicht die Ursache zu einem antilogischen Gebaren
des Willens und der Weltentstehung gewesen sein." Nicht
nur ein logisches Wollen, sondern alles Wollen ist eo ipso mit
Unlust verknüpft, denn jedes Wollen ist Befriedigung suchend,
also unselige gleichviel, ob es etwas Logisches oder Unlogisches
will. Auch wenn der Wille als vorweltliches Wollen, als wollen-
Wollen, noch kein bestimmtes Ziel hat, sondern vorerst ohne
ideellen Inhalt nur will, ist er unbefriedigt; dies beweist er eben
durch sein Wollen. Dass die Unlust die Ursache zu einem anti-
logischen Gebaren des Willens und zur Weltentstehung gewesen
sei, ist von Hartmann nicht behauptet worden; sie hat sich erst
nach dem antilogischen Gebaren der Erhebung des Willens als
natürUche Begleiterscheinung des WoUens eingestellt und konnte
vor der Willenserhebung gar nicht gewesen sein.
„Aus der Unseligkeit Gottes wegen einer Welt, die nicht da
ist, würde sich kein Zweck der vorhandenen Welt herleiten
lassen. ** Das ist richtig, ist aber ebenfalls keine aus Hart-
MANNschen Ansichten abzuleitende, ihnen widersprechende Kon-
sequenz, denn nach Hartmann ist Gott weder unselig wegen
einer Welt, die nicht da ist, noch wegen des Nichtseins einer
Welt, sondern, wie oben gezeigt, zunächst nur infolge seines ohne
Hinblick auf das Sein oder Nichtsein einer Welt erhobenen leeren
Willens. Ebenso ist es eine Verdrehung der HARTMANNschen
Lehre, wenn Andresen fortfährt: „Der Zweck, der ohne den in-
telligenten Willen Gottes entstandenen Welt ist bei Hartmann,
Gott von der Unseligkeit infolge der Welt, die da ist, zu erlösen."
Im Gegenteil, nicht ohne, sondern durch den logisch determi-
nierten und infolgedessen intelligenten Willen ist die Welt ent-
standen und nicht, um Gott von der Unseligkeit infolge der Welt,
die da ist, zu erlösen, sondern zunächst wiederum nur, um ihn
vom Wollen zu erlösen, womit dann die Welt zugleich ver-
schwindet Wenn Andresen meint, dass die Annahme, der
Zweck der Welt sei, Gott von einer Unseligkeit zu erlösen, für
ein unbefangenes, religiöses Bewusstsein überhaupt unannehmbar
wäre, da solches sich gegen die Annahme sträube, dass wir mit
der Zeit etwas können sollten (Gott erlösen), was Gott selbst als
zentrales Subjekt nicht kann, und da das religiöse Bewusstsein
von keinem Erlöst-werden-woUen Gottes etwas verspüre, so sind
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW, 49
wir dagegen der Meinung, dass nur ein theistisch befangenes Be-
wusstsein sich gegen die Erlösung Gottes durch uns sträuben,
der religiöse Pantheist aber sich willig dem Erlösungswerk hin-
geben wird, indem nach seiner Anschauung wir eigentlich nicht
Gott erlösen, sondern Gott in uns sich selbst erlöst, und also
auch in uns sich nach Erlösung sehnt, sofern wir uns nach Er-
lösung sehnen.
Überblicken wir diese Richtigstellungen der irrtümlichen An-
sichten Andersens über das vorweltliche Verhältnis der Hart-
MANNschen Prinzipien zueinander, so kommen wir zu dem Er-
gebnis, dass nichts dagegen spricht, ein alogisches oder anti-
logisches Gebaren Gottes als Ausgangspunkt der Welt anzunehmen,
einem Ergebnis, welches demjenigen Andersens gerade entgegen-
gesetzt ist, und denken wir, damit dessen ersten direkten Angriff
auf die HARXMANNSche Metaphysik hinreichend zurückgewiesen
zu haben.
Andresen lässt es aber bei diesem direkten Angriflf nicht
bewenden, sondern versucht, ehe er seine eigene Metaphysik auf
die vermeintlich eroberte Position Hartmanns aufpflanzt, einen
zweiten indirekten Angriff. Wenn nämlich Hartmann recht hat,
90 muss nach Erfüllung des unlogischen Willens mit logischem
Inhalt in der Welt alles logisch zugehen, Andresen jedoch be-
hauptet, dass gerade nur in der Welt, in dem Was und Wie
derselben neben dem Logischen, Gesetzmässigen, ein alogisches
oder antilogisches Gebaren konstatiert werden könne und glaubt
dieses im Zufall zu erkennen. „Unter ,Zufälle* sollen nicht ur-
sachlose Vorgänge verstanden werden — solche gibt es nicht —
sondern unregelmässige Erscheinungen, welche als kausales Er-
gebnis der Zusammenwirkung verschiedener Gesetze nicht auch
durch ein Gesetz, nicht auch durch eine Einheit von Vorstellung
und Wille festgesetzt, nicht logisch bestimmt sind. In diesem
Sinne soll ein Zufall in den Erscheinungen nicht geleugnet werden
können; es müsste denn, wenn z. B. ein Kalb mit fünf Beinen ge-
boren wird, welches zwar durch das Zusammentreffen und Wirken
verschiedener Naturgesetzte erfolgt, dieses selbst auch für ein
Naturgesetz erklärt werden.** Es ist nicht zu bestreiten, dass in
der Welt eine gewisse Zufälligkeit scheinbar besteht. Diese Zu-
fälligkeit widerspricht aber als blosser Schein noch nicht der alle
Kausalität beherrschenden universalen Finalität, denn, was auf
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kriük. Bd. X96 4
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50
ANTON KORIVAN.
einem partikularen Zweck bezogen als zufällig erscheint, braucht
dieses nicht auch in Hinsicht auf den Endzweck der Welt zu sein,
zudem kann der Zufälligkeitsschein selber teleologisch gefordert
sein. Letzterem sollte sich eigentlich auch Andresen nicht ver-
schliessen, da er schreibt: „Von der Voraussetzung aus, dass der
Weltprozess von einem logischen Gott gewollt und gesetzt ist,
muss gefolgert werden, dass die Zulassung des Zufalls als charak-
teristischen Teils des Weltprozesses von dem diesen bedingenden
vernünftigen Willen gewollt ist, dass das neben dem Logischen
(GesetzUchen) einhergehende alogische oder antilogische Gebaren
in der Welt für den logischen Zweck derselben erforderlich sein
muss und als solches entweder auch von Gott gesetzt oder als
Wirkung eines anderen aussergöttlichen Subsistierenden von Gott
zugelassen sein muss." Einen Beweis dafür, dass das partikular
Zufällige zugleich auch universell zufällig ist, hat Andresen nicht
erbracht und ein solchei dürfte auch wohl nicht zu erbringen sein.
Man muss demnach, wenn das uns alogisch dünkende Gebaren
teleologisch bedingt ist, also einem logischen Zweck sich unter-
ordnend dient, es, von dem weiteren, höheren Gesichtspunkt des
Endzwecks aus betrachtet, als Logisches ansehen, denn das Teleo-
logische kann nicht zugleich antiteleologisch und, da das Teleo-
logische mit dem Logischen identisch, nicht alogisch oder anti-
logisch sein. Auch wäre in dem logischen Gott als dem Schau-
platz des Weltprozesses gar kein Ort für etwas ausser seinem
Wesen Liegendes, diesem Widersprechendes, daher wohl auch die
Wendung Andresens, wonach es eventuell als von Gott zuge-
lassene Wirkung eines anderen aussergöttlichen Subsistierenden
angesehen werden müsste. Ehe wir auf diese scheinbar über-
flüssige und deshalb nebensächliche, in Wirklichkeit aber bedeut-
same, weil auf den Hauptpunkt der Andresenschen Metaphysik
abzielende Wendung eingehen, wollen wir zuvor konstatieren, dass
sonach auch dieser zweite Versuch, die Gotteslehre Hartmanns
und zwar diesmal mit der Mine des „Zufalls" zu sprengen, miss-
glückt erscheint, indem die den Weltprozess beherrschende Kate-
gorie der Finalität, gegen welche der Angriff speziell gerichtet
war, nicht erschüttert worden. Wenn man sein Augenmerk auf
die von Andresen selbst angedeutete Möglichkeit der Einbeziehung
des Zufalls in die Finalität richtet, so will uns das Andresensche
Manöver mit dem Zufall nur als ein Scheinangriff dünken, denn
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW.
51
dann schwindet die Differenz zwischen Andresen und Hartbiann
fast gänzlich. Andresen selbst aber schenkt dieser Möglichkeit
keine Aufmerksamkeit weiter, sondern schlägt schleich einen
anderen Weg ein und gelangt dadurch zum Grundgedanken seines
Theismus, einem aussergöttlichen Alogischen.
„Der Zufall ist ein unbewusstes Wollen, dessen Ziel durch
keine Vorstellung, weder durch eine bewusste noch durch eine
unbewusste gesteckt ist", also ein zielloses Wollen, da anders ein
Wollen ohne Vorstellung nicht denkbar ist. Den diesem ziel-
losen Wollen subsistierenden Willen entnimmt Andresen der
Hartmannschen „Philosophie des Unbewussten", Kap. XV, wonach
nur ein Teil des in der Potenz unendlichen Willens als vom
Logischen erfüllt zu denken ist. Den restierenden unendlichen
Willensüberschuss schnürt Andresen von Gott als logischem
Willen ab und setzt ihn demselben substantiell gegenüber. Aus
dem einen Gott Hartwlanns macht er somit zwei, einen logischen
und einen alogischen, ersteren jedoch nur des Titels Gott für
würdig haltend. Dass diese ganze Manipulation nach unserer
obigen Darlegung der Weltentstehung unzulässig, bedarf keiner
ausführlichen Auseinandersetzimg. Wenn Wille und Vorstellung
aus der unendlichen Potenz des Vermögens und der Möglichkeit
hervortreten und die Idee dem Willen eine endliche Welt zum
Inhalt gibt, so entsteht doch mit dieser Welt wahrlich kein zweiter
Gott, noch dazu ein Gott, der mit seinem Urgrund keinen sub-
stantiellen Zusammenhang mehr hätte, sondern der unendliche
eine Gott bleibt der eine Gott, nur funktioniert und manifestiert
er sich in selbstgesetzter endlicher Form. Obgleich Andresen
also auf diese Weise zur Hypostase eines aussergöttlichen
Willens gelangt, vergisst er diese übrigens auch mit der von ihm
behaupteten ursprünglichen und deshalb selbst momentan untrenn-
baren Einheit von Wille und Vorstellung in Widerspruch stehende
Abschnürung sogleich und tut, als ob Gott als Einheit von Wille
und Vorstellung einerseits und der alogische Wille anderseits
sich von jeher substantiell getrennt gegenüber gestanden hätten.
„Ist Gott logischer Wille, so ist er nicht das Gegenteil, nicht
alogischer Wille. Der alogische leere Wille ist ein aussergött-
licher, ein durch seine alogische Beschaffenheit der ursprünglich-
logischen Beschaffenheit des göttlichen Willens entgegengesetzter
Wille. Nur wo das Subjekt, das, was will und vorstellt ein und
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52
ANTON KORIVAN.
dasselbe ist, kann von Gott als von einer Substanz, deren Attri-
bute Wille und Vorstellung in untrennbarer Einheit sind, die
Rede sein: blosser leerer Wille ist mit einer Substanz, in welcher
das Wollende und Vorstellende eines ist, substantiell nicht identisch,
sonst wäre die Substanz nicht einheitlich, bezw. Wille und Vor-
stellung in ihr keine Einheit." Einige Zeilen weiter unten, wo es
gilt, die Absolutheit Gottes anzufechten, erinnert er sich dagegen
der Abschntirung wieder und schreibt: „In der ewigen Ruhe vor
dem Weltprozess ist die Substanz Gottes allerdings insofern das
Absolute, als der leere Wille hier weder subsistent noch essentiell
noch existent ist; mit der Welt wurde die Absolutheit Gottes
aber auch insofern aufgehoben, als der leere Wille mit und neben
Gott subsistent wurde.* Dass, insofern Gott den erfüllten sowohl
wie den nicht erfüllten Willen in sich begreift, seine Absolutheit
weder durch den einen noch durch den anderen Willen, die ja
im Grunde nur der eine Wille sind, aufgehoben werden kann, ist
jedoch unumstösslich gewiss. Wenn Andresen darauf hinweist,
auch Hartmann gebe am Schlüsse seiner Kategorienlehre zu, dass
die Substanz mit dem Weltprozess aufgehört habe, ein Absolutes
im Sinne eines Nicht-relativen zu sein, so ist dieser Hinweis un-
genau. Nicht die metalogische-metathelische „Substanz*, sondern
das „Wesen*, welchem Andresens „Gott* allerdings in gewisser
Beziehung einigermassen entspricht, hat nach Hartmann alsdann
aufgehört, ein Absolutes zu sein, und zwar insofern es, sobald
der Prozess im Gange imd mit ihm das Relative gesetzt ist, zu
dem „Relativen*, aber nicht etwa zu einer besonderen „Substanz*,
in Relation getreten ist.
„Bewusst* konnte sich das vorbewusst Logische, wie
Andresen annimmt, deshalb nicht werden, weil das Logische als
Formalprinzip überhaupt bewusstseinsunfähig ist; zum Bewusst-
werden gehört ein unbefriedigter Wille. Die Beziehung des
Logischen auf das Antilogische bedingt weder das Bewusstsein
dieser Beziehung, noch hat sie es zur Folge. Die Anwendung
des Logischen auf das Antilogische geschieht ohne des Anti-
logischen inne zu werden der substantiellen Einheit der beiden
Attribute zufolge mit unbewusster Notwendigkeit. Hat der Wille
A gesagt, so muss das Logische B sagen, ohne sich weiter zu be-
sinnen. Wenn Gott nach Hartmann von seiner transzendenten
Unseligkeit Bewusstsein hat, so ist das aus dem unbefriedigten
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW.
53
Willen erklärlich, berechtigt aber nicht dazu, auch dem Logischen
Bewusstsein von einem ihm gegenüberstehenden Willen zuzu-
schreiben, ebensowenig wie einem innerweltlichen logischen Willen
von einem sowohl substantiell geschiedenen als auch ungeschie-
denen überweltlichen leeren Willen, da zwischen letzteren kein
Widerstreit bestehen kann.
Richtig ist, dass „der logische Wille als Absolutes niemals
in sich die Veranlassung zum Weltprozess hätte finden können;
aus der substantiellen Einheit der Attribute hätte für die Substanz
niemals die Veranlassung erwachsen können, die tote Starrheit
der ewigen vorweltlichen potentiellen Subsistenz zu überwinden,
da die Einheit der Attribute in der Substanz etwas ist, was vor
und über aller Beziehung ist." Die Initiative zum Weltprozess
kann daher weder von Beziehungen der Substanz zu ihren Attri-
buten oder der Attribute untereinander, noch von einem Beziehen
der Substanz auf etwas, das ausser ihr, ausser ihrer Einheit von
Wille und Vorstellung wäre, ausgegangen sein — denn da sie ab-
solut ist, ist ein Etwas ausser ihr nicht vorhanden — , muss also,
wie wir eingangs gesehen, von einem noch nicht logischen Attribut
allein inszeniert worden sein. Das ist aber nicht die Meinung
Andresens; dieser ist vielmehr der Ansicht, dass die Initiative
von dem Beziehen der Substanz auf den ausser ihr befindlichen
alogischen leeren Willen herrühre. Auch hier hat Andresen
wiederum ganz vergessen, wie er zu diesem alogischen Willen
gekommen ist, dass er denselben ja selbst erst aus dem bereits
erhobenen Willen Hartmanns — nur der erhobene Wille ist von
dem Logischen nicht ganz erfüllt, der noch nicht erhobene Wille
ist überhaupt nicht — abgeleitet hat. Der erhobene Wille hat
nach Hartmann die Initiative bereits hinter sich und ist zum Teil
logisch geworden und mit . diesem logischen Teil in den Welt-
prozess eingetreten; nun soll sich nach Andresen dieser inner-
weltliche logische Teil auf den noch dazu substantiell von ihm
verschieden gedachten, nicht logisch gewordenen leeren Willens-
teil beziehen und dadurch zum Weltprozess angeregt werden!?
Weiter unten sagt Andresen dann, dass „der alogische Wille aus
sich selbst heraus, d. h. wenn es keine Welt gäbe, wenn keine Ini-
tiative zum Weltprozess vom logischen Willen ausgegangen wäre"
(der doch gerade durch den alogischen Willen sich erst zum
Weltprozess veranlasst fühlen soll) „weder subsistent noch essen-
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54
ANTON KORIVAN
tiell noch existent hätte werden können,** sowie schliesslich, dass
der alogische Wille „ein dem logischen koordiniertes, mit ihm
gleich ursprüngliches Prinzip" sei.
Die in diesen verschiedenen Ansichten über das Verhältnis
zwischen Alogischem und Logischem enthaltenen Widersprüche
stören indes Andresen nicht, da er sie nicht bemerkt, mehr Sorge
bereitet ihm die intersubstantielle Beziehung zwischen diesen bei-
den I, Substanzen'*. „Gewiss soll die Unabhängigkeit des ausser-
göttlichen alogischen Willens von logischer Determination nicht
geleugnet werden; auch würden direkte Beziehungen zwischen
dem logischen und dem alogischen Willen intersubstantiell über-
haupt nicht möglich sein; wohl aber konnten Beziehungen möglich
werden mittels des Zwischengliedes einer von Gott gesetzten
Welt, wenn diese daraufhin organisiert war, d. h. wenn sie der
Betätigung des alogischen Willens einen metaphysischen Raum
liess.^ Wenn die alogische Substanz keine Beziehungen zur
logischen Substanz hat, so kann sie auch keine zu einer von
letzteren gesetzten Welt haben. Dass diese Welt dennoch den
Vermittler zwischen beiden mache, soll die Tatsächlichkeit der
Aktualität des alogischen Willens in der Welt zeigen und diese
zugleich jeden Beweis der Möglichkeit des Erfasstwerdens des
alogischen Willens überflüssig machen. „Angesichts der Tatsäch-
lichkeit der alogischen Vorgänge in der Welt würde im Gegenteil
demjenigen, welcher die Möglichkeit des Erfasstseins des alogischen
Willens als aussergöttlichen verneinen würde, der Beweis hierfür
obliegen.** Nun, dieser Beweis dürfte allein jschon in dem blossen
Hinweis auf die Unmöglichkeit irgend welchen intersubstantiellen
Aufeinanderwirkens — und Substanzen sollen doch der alogische
und logische Wille sein — zur Genüge erbracht sein, ganz ab-
gesehen davon, dass die scheinbar alogischen Vorgänge, wie oben
bei Licht besehen, sich teleologisch in den Weltprozess einordnen
lassen und daher für die Aktualität eines besonderen alogischen
Willens nichts beweisen.
Infolge der Unmöglichkeit intersubstantieller Beziehungen
fällt alles in sich zusammen, was Andresen noch darauf erbaut
hat, namentlich auch der von ihm angenommene Zweck der Welt,
den ideenlosen Willen zu einem ideenerfüllten zu machen, so dass
auch er dann Einheit von Wille und logischer Idee sei und wel-
cher „durch die Entwicklung der geistigen Persönlichkeiten in der
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW.
55
Menschheit** erreicht werden soll. Wir können es uns deshalb
ersparen, auf den von ihm zur Erklänmg der Möglichkeit der
Logisierung des Alogischen seinen unhaltbaren Voraussetzungen
gemäss konstruierten transzendenten Individualismus einzugehen
und wollen statt dessen nur flüchtig noch bei denjenigen Punkten
seiner Gottesvorstellung verweilen, wo er merklich seinen Gk)tt
dem herkömmlichen Theismus entsprechend auszustatten sich
bemüht
So zimächst mit dem „Bewusstsein**. „Sollte der, welcher
mittels seiner Intelligenz das Weltall, welchem er immanent ist,
leitet, nicht ohne Augen zu haben, sehen, nicht ohne Ohren zu
haben, hören, nicht ohne Nervenstränge sich der Vorgänge in der
Welt bewusst werden können? Ich kann mir nicht denken, dass
ein Geist, welcher alles** (also auch die alogischen Zufälle)?
„weiss und alle Zwecke der Welt lenkt, sich des Vorhandenseins
dieser Welt und der Vorgänge in derselben gar nicht bewusst
sein und von sich selber kein Bewusstsein haben sollte.** Die
erste Frage klingt ziemlich naiv. Die Antwort darauf ist einfach:
Könnte der dem Weltall immanente Gott ohne geeignete Organe
sehen, hören und sich der Vorgänge in der Welt bewusst werden,
so hätte er sie als nur zweckmässig wirkender Gott überflüssiger-
weise wohl auch nicht geschaffen. Bezüglich der im anderen
Satz herangezogenen göttlichen Allwissenheit ist zu bedenken,
dass sie ein Wissen anderer Art ist als etwa ein zur Allwissen-
heit aufgeblähtes menschliches Wissen. Bei ihr fehlt die Reflexion
auf dieses Wissen, wodurch das Wissen erst zu einem bewussten
wird, anderseits wird der Wissensinhalt der göttlichen Allwissen-
heit, der mit der Vorstellung oder Idee identisch ist, beständig
durch den mit der Vorstellung verbundenen Willen realisiert.
Das göttliche Wissen ist somit auch keineswegs wie das unsrige
ein Erfahrungs wissen , sondern ein vorausschauendes Wissen.
Wennschon das menschliche Wissen das Bewusstsein erfordert,
um als Wissen zu gelten, so ist es also dennoch nicht gestattet,
diese für das menschliche Wissen des Wissens nötwendige Be-
dingung glattweg auf Gott zu übertragen. „Jedenfalls aber muss
die allweise Intelligenz Gottes Bewusstsein schon gekannt — und
demnach auch zentral potentialiter gehabt — haben, bevor die
Individualbewusstseine entstanden, sonst hätte sie nicht die Be-
dingungen schaffen können, welche erforderlich waren, um die
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5^
ANTON KORIVAN.
letzteren hervorgehen zu lassen.'' Das ist in doppelter Beziehung
irrig. Wer etwas kennt, braucht es noch lange nicht zu haben,
z. B. Krankheit, Reichtum, Glückseligkeit usw., oder sollte etwa
Gott auch schon z. B. Zahnschmerzen gekannt und potentialiter
gehabt haben, weil er die Bedingungen dazu geschaffen? Und
um die Bedingungen zu etwas zu schaffen, braucht man das Er-
gebnis derselben noch nicht bewusst zu kennen, wie sich am
deutlichsten im Instinkt zeigt. Wenn Andresen meint, „dass
selbst ein absoluter Gott sich der Vorgänge in der Welt bewusst
werden könnte, wo diese nicht nur unmittelbare, nicht nur von
ihm zentral ausgehende Akte sind und bei der Unregelmässigkeit
im Weltprozess miteinander in Widerspruch geraten*, so fehlt
hierzu der Nachweis, dass es in der Welt noch andere als von
einem ihr immanenten absoluten Gott ausgehende Akte gibt oder
mittelbare göttliche Akte, welche sich widersprechen. Wo die
von Gott bewirkten Akte — nicht in Widerspruch, dieser Aus-
druck ist für Aktionen eines logischen Gottes unzulässig — in
Widerstreit geraten, entsteht ein peripherisches aber kein zentrales
Bewusstsein. Selbst wenn man Andresen zustimmen könnte,
müsste Gott, bevor er durch die betreffenden Umstände bewusst
wird, unbewusst gewesen sein, d. h. in seines Wesens Grunde
unbewusst Ebenso ist Andresens Meinung, „dass ein Gott, wel-
cher sich auf den unter Mitwirkung der Widersprüche (?) in der
Welt jeweilig erreichten Zustand des Weltprozesses — und durch
den finalen Zweck — zur Entfaltung weiterer Intellektualfunktionen
bestimmt, sich der Vorgänge in der Welt tatsächlich bewusst sein
muss**, insofern unbegründet, als Gott nicht erst der Erfahrung
eines von ihm selbst gewollten und herbeigeführten Zustandes
bedarf, um sich weiter zu determinieren; diese Determination er-
gibt sich vielmehr unbewusst logisch aus dem jeweiligen Zustand
von selbst. Schliesslich ist auch dem letzten Einwurf Andresens,
,,dass jedenfalls der von Hartbiann gegen die Möglichkeit eines
Bewusstwerdens Gottes angeführte Grimd, nämlich der, weil alle
Vorgänge nur Manifestationen des göttlichen Willens und der
göttlichen Vorstellung seien, fortfalle, wenn die antilogischen und
die im Menschen individuell logischen Tätigkeiten aussergöttliche
sind*, durch die von uns oben betonte Unmöglichkeit jeglicher
intersubstantieller Beziehung bereits im vorhinein der Boden ent-
zogen.
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ZUR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USIV. jy
Hat Gott aber kein Bewusstsein, so kann er auch kein Be-
wusstsein seiner selbst, d. h. Selbstbewusstsein haben. Bei der
Annahme eines solchen hingegen würde sehr wohl mit Hartmann
in Anbracht der absoluten funktionellen Einheit von Wille und
Vorstellung bei Gott von einer Selbstverdoppelung die Rede sein
können, da Gott in seinem Selbstbewusstsein sich dann nicht
bloss vorstellen, sondern diese Vorstellung zugleich realisieren,
mithin sich verdoppeln müsste. Der Schluss Andresens: „Weil
Gott sich will, da er ist, muss er sich auch vorstellen, wenn bei
ihm Wollen und Vorstellen zusammenfällt*, setzt voraus, dass vor
der Substanz Gottes deren Attribute waren, dass diese somit erst
jene kreiert hätten: eine etwas plumpe Verdrehung!
Im Widerspruch zu Andresens eigener Annahme, dass es
bei Gott ebensowenig eine athelische Idee geben, wie es bei ihm
einen alogischen Willen geben könne, soll zwar bei Gott eine
Willensfunktion undenkbar sein als getrennt von einer Vorstel-
lungsfunktion, wohl aber sollen Vorstellungsfunktionen denkbar
sein als getrennt von realisierten Willensfunktionen. „Selbst
Hartmann dürfte kaum umhin können, von zeitlichem Standpunkt
aus eine Trennbarkeit der Vorstellung Gottes vom realisierten
Willen zuzugeben, da er doch auch den noch nicht realisierten
Endzweck des Weltprozesses als in der Vorstellung Gottes ent-
halten betrachtet, da Gott die Welt auf diesen einrichtet; der In-
halt der Idee ist daher nicht nur vorausschreitende Entwicklung.''
Wenn der noch nicht realisierte Endzweck des Weltprozesses von
Hartülann als in der Vorstellung Gottes enthalten betrachtet
wird, so ist dies als ein implicites Enthaltensein zu verstehen und
nicht etwa als ob Gott den ganzen Weltprozess in der Vorstel-
lung zeitlich vor sich ausgebreitet sehe und ihr entlang dessen
Verlauf sukzessive nachhinken lasse. In der ersten teleologischen
Reaktion des Logischen auf die Erhebung des Willens ist der
ganze Verlauf des Weltprozesses impliziert und ist er selbst nichts
weiter als die Explikation dieses in der ersten Anwendung des
Logischen auf das Antilogische Implizierten.
Der Versuch Andresens, die Gesetzmässigkeit in den Vor-
gängen der Welt als ein ein für allemal vom bewussten Wollen
Gottes dem Geschehen auferlegtes Gesetz hinzustellen, wonach
Gott sich nicht mehr bewusst daran zu beteiligen brauchte, ist,
wenn sich Gott unbewusst in dem Wirken betätigt, ein über-
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58 ANTON KORWAN
flüssiges Bemühen. Es ist aber Andresen nicht sowohl um die
unbewusste Betätigung Gottes zu tun, als um eine Quasiloslösung
der in der Welt herrschenden Gesetzmässigkeit vom göttlichen
Intellekt. „Insoweit die Vorgänge in der Welt durch die unver-
änderlichen Naturgesetze zwingend verursacht werden, dürfen sie
nicht als unmittelbare Akte der göttlichen Geistigkeit aufgefasst
werden. Die dem Streben der Kräfte im Weltall zugrunde
liegenden spontanen Vorstellungen sind von der Vorstellimg
der Gottheit losgelöst und liegen ausserhalb derselben, insofern
sie gesetzlich bestimmte, d. h. nicht mehr bestimmt werdende,
nach ihrer Bestimmung unverändert bestehende sind.* „Durch
das Losgelöstsein der Gesetze von der bestimmenden Gottheit er-
hält die Welt den Charakter eines Zwischengliedes zwischen
dieser und den Individualseelen." Wenn Gott und die Welt
Wille und Vorstellung sind, wenn letztere „unbewusst psychisch*
in der Welt funktionieren, wie dabei noch ein Losgelöstsein von
Gesetzen, welche doch nichts anderes als gewisse von uns ab-
strahierte Funktionsformen sind, von Gottes Geistigkeit möglich
sein soll, ist uns unverständlich und undenkbar, ebenso, wie über-
haupt eine Bestimmung oder ein Gesetz sich von einem sie
denkenden Geiste loslösen und gleichsam als Fürsischbestehendes
ein Sonderdasein führen könne. Da ist es denn doch wahrlich
viel einfacher und begreiflicher, mit Hartmann die Gesetze als
Zeichen einer logischen Selbstdetermination des in der Welt
aktuellen Gottes anzusehen.
Die Funktionen des aktuellen Intellekts Gottes während des
Weltprozesses, als welche die hinzukommenden höheren Gesetz-
mässigkeiten in ihrem Ausgangspunkt und die angesichts der
antilogischen durch den Endzweck erforderten teleologischen Ein-
griffe betrachtet werden sollen, möchte Andresen als „Vorsehung*
bezeichnen. „Unter Vorsehung soll das providentielle aktive, dem
in den Gesetzen dauernd festgelegten Müssen des Geschehens
gegenüber freie, willkürliche, bewusste Walten Gottes in der
Welt verstanden sein.* Diese Art „Vorsehung* hängt somit von
dem Vorhandensein unabänderlicher, von Gott nicht mehr direkt
abhängiger Gesetze ab, mit der Wahrscheinlichkeit letzterer er-
bleicht auch sie. Wenn Hartmann ebenfalls von „Eingriffen*
redet, so meint er doch damit keine „freien, willkürlichen* Ein-
griffe, sondern nur hinzukommende, in teleologischer Hinsicht
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ZVR VERTEIDIGUNG DES PANTHEISMUS USW. 59
höher stehende, logisch determinierte Funktionen, die eben weil
sie gleichfalls logisch (teleologisch) determiniert sind, nicht frei
oder willkürlich sein können und deshalb auch nicht bewusst zu
werden brauchen. Wo alles, auch der Zufälligkeitsspielraum,
logisch determiniert ist, bedarf es keiner „Eingriffe* im Sinne
Andresens. Die Weltentwicklung ist dann ein kontinuierlicher
Fluss, der nirgends durch Zufälle ins Stocken gerät und eines
extraeingreifenden Gottes benötigt, welcher die zufälligen Hinder-
nisse logisch aus dem Wege räumt und den Strom weiter fliessen
macht, bis er bei dem nächsten Hindernis wieder seiner bedarf
und so fort, bis er endlich an seinem Ziel angekommen ist, an
das er ohne Gottes Einrichtungsarbeit niemals gelangt wäre.
Nach Andresen soll sich ferner die Gottheit dadurch, dass
sie als „teleologisch agierendes, intelligentes, all weises und ge-
rechtes Wesen auf das Bewusstwerden ausser dem eigenen Willen
liegender Aktionen hin frei (dem eigenen Wesen gemäss) und
bewusst funktionieren und des weiteren mit den ihr gegenüber
realen Geistern der Menschen in Beziehung treten kann*, sich
uns als das darstellen, was als Persönlichkeit bezeichnet zu. wer-
den pflegt. Unserer vorangegangenen Kritik gemäss können wir
von den hier aufgeführten Eigenschaften und Fähigkeiten Gottes
nur sein teleologisches Agieren, seine Intelligenz und All Weisheit
gelten lassen, diese reichen aber nicht aus zur Persönlichkeit
eines Wesens. Andresen weiss, dass der Begriff Persönlichkeit
überdies mit dem der „Absolutheit" Gottes in Widerspruch steht. Da
ersterer auf Gott bezogen unhaltbar, bleibt für uns letztere bestehen.
Was Andresen sonst noch gegen den Hartmannschen Pan-
theismus vorbringt, erfordert keine besondere Widerlegung und
können wir daher unsere Prüfung seines Versuches, auf den
Trümmern jenes seinen Theismus zu begründen, beendet sein
lassen. Wir haben gesehen, dass dieser Versuch allenthalben,
hauptsächlich aber an der aus dem Substanzbegriff sich ergeben-
den Unmöglichkeit intersubstantieller Einwirkung zwischen Lo-
gischem und Alogischem unrettbar gescheitert ist. Es ist An-
dresen weder gelungen, die Hartmannsche Metaphysik zu sprengen,
noch etwas Wahrscheinlicheres an deren Stelle zu setzen, noch
dem Theismus haltbare Stützen zu bieten. An diesem Misserfolg
vermag auch die zum Schlüsse seiner Polemik nicht verschmähte
sittliche Verunglimpfung des pantheistisch gedachten Gottes nichts
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6o AhTON KORIVAN,
ZU ändern. Wenn Hartmanns Metaphysik wahr wäre, so würden
wir nämlich nach Andresen dann selbst „nur von einem listigen
Gott hervorgebrachte Werkzeuge zur Erreichung seiner Erlösung
sein; unsere Ehrfurcht, und in zweiter Linie unsere Liebe aber
müsste dann schwinden einem Gott gegenüber, welcher nicht
wusste, was er tat und was er wollte, als er die Welt hervor-
gehen Hess.'' Demgegenüber ist zu bemerken, dass, als Gott die
„Welt" hervorbrachte, er ein wenn auch logisch notwendiges, so
doch, um mit Andresen in unzulässiger Weise sittliche Begriffe
anzuwenden, ein zugleich barmherziges Werk tat, indem er sich
an den schmerzhaften Weltprozess dahin gab, um den zum leeren
Wollen erhobenen Willen von seiner WoUensqual zu erlösen.
Dass er sich auf diese Weise selbst erlöst, kann ihm nicht als
unsittliche List vorgeworfen werden und vermindert keineswegs
unsere Ehrfurcht und Liebe, ja zu beiden Gefühlen tritt vielmehr
noch das Mitleid hinzu, was uns ihm jedenfalls näher zu bringen
vermag als etwa die Vorstellung seiner ungeachtet allen Menschen-
leids bestehenden Glückseligkeit. Es ist weiterhin eine verwerf-
liche Unterstellung, der Pantheist müsse in Gott „ein der Liebe
und Anbetung nicht würdiges Ungeheuer sehen, das seine Kinder
fühllos peinigt' und dann aufirisst". Nicht der Pantheist, sondern
gerade der Theist müsste in seinem seligen Gott ein solches Un-
geheuer erblicken, denn ein pantheistischer Gott kann nicht seine
Kinder, sondern nur allein sich selbst peinigen und somit auch
solche nicht auffressen. Ein sich selbst peinigender Gott ist aber,
auch wenn diese Selbstpeinigung in bewussten Individuen ge-
schieht, noch lange kein Ungeheuer, sagt doch Andresen selbst
kurz zuvor: „So lange es Zwecke gibt, welche noch unerreicht
sind, gibt es auch Schmerzen; nur eine widerstandslose, nicht
mehr zweckstrebige Welt würde schmerzlos sein. Der Schmerz
ist der grosse Lehrer der Menschen, unter seinem Hauche ent-
falten sich die Seelen* und zitiert er ausserdem Nietzsches Worte:
„Die Zucht des Leidens hat alle Erhöhungen des Menschen bis-
her geschaffen.* Wozu also derartige Invektiven? Diese können,
wie gesagt, noch viel weniger verfangen als irreführende meta-
physische Theorien, denn gegen sie lehnt sich nicht nur der Ver-
stand, sondern auch das religiöse Gemüt auf. Eine falsche Lehre,
die mit solchen Mitteln sich durchsetzen will, wird nicht nur zwie-
fach gerichtet, sie richtet sich obendrein selbst.
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RICKERT: DIE GRENZEN DER NATURWISSENSCHAFTL. USW. 6l
Rezensionen.
H. Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften.
Zweite Hftlfte (S. 305—743). Tübingen u. Leipzig. 1902. J. C. B. Mohr.
Der erste, i. J. 1896 erschienene Teil des bedeutenden Rickert-
schen Werkes ist in dieser Zeitschrift (Bd. 11 1, S. 266 ff.) von
K. Marbe ausführlich besprochen worden, und zwar von gegnerischem
Standpunkte aus. Nachdem das Werk jetzt vollständig vorliegt, lässt
sich der volle Sinn und die Bedeutung des Ganzen besser Oberblicken
und präziser würdigen.
Das Werk hat einen grossen Wert für die Methodenlehre durch
die energische und gründliche Entwicklung der logischen Eigentümlich-
keit einer auf Erkenntnis des Individuellen abzielenden Forschung.
Diese Untersuchung ist hauptsächlich in das vierte, umfangreiche
Kapitel, „Die historische BegriflTsbildung** (S. 305—599), niedergelegt.
Die dort gegebene ausführliche Darlegung leistet den erschöpfenden,
positiven Beweis dafür, dass die Erforschung des Individuellen und
Einmaligen eine berechtigte und ausführbare wissenschaftliche Aufgabe
ist Damit werden die Scheinbeweise widerlegt, durch welche einige
eifrige Neuerer nachzuweisen versucht haben, dass das Individuelle
gar nicht Gegenstand des Denkens und folglich nicht Objekt der
Wissenschaft sein könne; ihre Folgerung, dass die Geschichte im
alten Sinne, die auf individuelle Tatsachen eingeht, ein unwissen-
schaftliches, ja im Grunde, wenn wir ihre Behauptungen streng nehmen,
ein völlig unmögliches Beginnen sei, erweist sich als ein blosses
Vorurteil. Zugleich werden aber auch manche Behauptungen der ent-
gegengesetzten Partei berichtigt. In den Ausführungen derjenigen Ver-
fasser, die die Selbständigkeit und Eigentümlichkeit des geschichtlichen
Erkennens den verallgemeinernden Wissenschaften gegenüber ver-
teidigen, tauchen oft schiefe und irrtümliche Argumente auf; so z. B.
die Behauptungen, dass die Geschichte nicht den kausalen Zusammen-
hang der Vorgänge zu untersuchen habe, dass die Naturwissenschaft
nur mit dem Sein und die Geschichte dagegen nur mit dem Werden
zu tun habe, sowie die Gleichstellung der Arbeitsweise des Historikers
mit derjenigen des Künstlers. Alle diese Ansichten werden in ihrer
Unhaltbarkeit beleuchtet und abgelehnt (S. 409 ff., 440 flf., 340, 386 ff.).
Der Verfasser identifiziert seinerseits vollständig die Begriffe des
Historischen und Individuellen. Die Definition der Geschichtswissen-
schaft liegt für ihn darin, dass sie die Betrachtung der Wirklichkeit
mit Rücksicht auf das Besondere und Individuelle sei. Er drängt darauf,
man solle den Begriff der Geschichte logisch fassen, als Gegensatz zur
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62 REZENSIONEN.
Naturwissenschaft „Natur* bedeute, wie Kant endgültig festgestellt
habe, „das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen be-
stimmt ist"; Naturwissenschiaft sei daher die Untersuchung der Objekte
mit Rücksicht auf das Gemeinsame und Allgemeine. Dagegen wird die
Wirklichkeit nach Rickert Geschichte, sofern das Besondere durch
seine Einzigartigkeit Bedeutung für wollende und handelnde Wesen
besitzt und daher mit Rücksicht darauf betrachtet wird. „Historisches
Gesetz" ist daher für ihn ohne weiteres eine contradictio in ad-
jecto usf. Er fasst die Aufgabe seiner Untersuchung in dem
Sinne, dass er aus diesen Voraussetzungen heraus „den rein logischen
Begriff einer historischen Methode" formal und deduktiv konstruiert
und erst nachträglich andere Seiten der Methode der tatsächlich vor-
liegenden Geschichtswissenschaft ins Auge fasst. — Rickert hat hier-
mit, glaube ich, im grossen und ganzen den richtigen Weg einge-
schlagen, um die hochbedeutsame Aufgabe, die er sich gestellt, in
fruchtbarer Weise zu lösen. Eine Untersuchung dieser Art war von-
nöten. Indessen folgen aus diesem logisch-formalen Charakter der
Untersuchung auch gewisse Übelstände. In dem grösseren und grund-
legenden Teile seiner Arbeit (S. 305 — 480) schildert Rickert in der
Tat — mit vollem Bewusstsein — eine Methode, die nicht diejenige
der wirklichen Geschichtswissenschaft, sondern eine Abstraktion ist.
Er richtet nämlich seine Aufmerksamkeit zunächst nur auf das, was
er das „absolut Historische" nennt, d. h. auf die begriffliche Erkennt-
nis des rein Individuellen. Er gibt zu, dass er dadurch „den logischen
Gegensatz von Naturwissenschaft und Geschichte in gewisser Hinsicht
übertrieben" und ein „logisches Ideal" geschildert hat, „dessen Ver-
wirklichung die Geschichtswissenschaft zum Teil nicht einmal an-
streben kann", da in ihr auch die „naturwissenschaftliche", verallge-
meinernde Begriffsbildung als Hilfsmittel eine grosse Rolle spielt.
Dieser Umstand gibt gewissen Teilen der Darstellung ein Gepräge
der Paradoxie, die aber im wesentlichen nur an der Oberfläche liegt.
Zu Missverständnissen kann sie nur bei unachtsamen Lesern Anlass
geben. Aber selbstverständlich müssen wir, um eine zutreffende und
vollständige Auffassung von der logischen Struktur der wirklichen
Geschichtswissenschaft uns zu bilden, nachdem wir unter Rickerts
Leitung die formalen Eigentümlichkeiten des individualisierenden
Denkens kennen gelernt haben, danach auf induktivem Wege uns über
Gegenstand und Methode der tatsächlichen geschichtlichen Forschung
genau informieren und ohne Vorurteil prüfen, inwieweit sie wirklich
die streng individualisierende Methode befolgt, inwieweit verallge-
meinernde Begriffsbildungen und Denkformen in ihr angewandt
werden.
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RICKERT: DIE GRENZEN DER NATURWISSENSCHAFTL, USfV. 63
In einigen Partien der vorliegenden Darstellung findet meiner
Oberzeugung nach eine sachliche Verschiebung des richtigen Gesichts-
punktes und eine Übertreibung der individualistischen Tendenz statt.
Ich kann hier nur die wichtigsten dieser Punkte kurz hervorheben.
RiCKERT erkennt selbstverständlich an, dass die Geschichtswissen-
schaft auf Schritt und Tritt auch Begriffe bildet und benutzt, die eine
allgemeine Bedeutung haben. Sogar die am meisten individuali-
sierende Geschichtserzählung, die biographische, ist notwendig mit
allgemeinen Begriffen durchsetzt. Es besteht zwischen den rein
„historischen" Begriffen in Rickertschem Sinne, d. h. solchen, die sich
auf wirkliche Individuen beziehen, und den streng allgemeinen natur-
wissenschaftlichen Gesetzesbegriffen eine Stufenreihe von „relativ
historischen'' und „relativ allgemeinen^ Begriffen. Die Wissenschaft
operiert tatsächlich meistens mit relativ allgemeinen Begriffen,
selten mit rein individuellen oder streng allgemeinen. Rickert sucht
aber nachzuweisen, dass in jeder wissenschaftlichen Untersuchung der
Endzweck doch die Begriffsbildung in der Weise beherrsche, dass
ein bestimmter Unterschied zwischen den „relativ individuellen* Be-
griffen des Historikers und den „relativ allgemeinen" des Natur-
forschers bestehen bleibe, und daher „von einem Eindringen der
naturwissenschaftlichen Methode in die Geschichtswissenschaft nie-
mals die Rede sein" könne. Wenn der Historiker z. B. ein kollek-
tives, soziales Ganzes, zu dem die Individuen gehören, schildert, so
ist dieses allerdings im Vergleich mit den Individuen etwas „All-
gemeines"; aus der Grundtendenz der Geschichte folge aber, dass
sie die kollektiven Gebilde in individualisierendem Sinne behandle,
d. h. sie in ihrer einmaligen charakteristischen Eigentümlichkeit und
Entwicklung untersuche. Das Allgemeine in naturwissenschaftlichem
Sinne sei ein Gattungsbegriff, worunter die Einzelobjekte als
Exemplare gehören; das kollektive, historische Allgemeine sei ein
einmaliges Ganzes, worin die Individuen als Glieder enthalten sind
(S. 392 ff, 485 ff), Rickert betont daher, dass seine logische Theorie
der Geschichtswissenschaft keineswegs eine individualistische Geschichts-
auffassung in dem Sinne voraussetze, dass einzelne menschliche Indi-
viduen die Geschichte machten; sie gelte im Gegenteil vollständig
auch für diejenige Richtung der Geschichtsschreibung, die die kollek-
tiven Faktoren als die entscheidenden betrachtet und sie hauptsächlich
berücksichtigt. (S. 376 ff.).
Auch in diesen Ausführungen liegt viel Wahrheit, indessen ist
doch zu bemerken, dass in der Praxis der Geschichtsforschung die
beiden Arten der Begriffsbildung sich stets aufs innigste durchdringen.
So entschieden die grossen Geschichtsschreiber aller Zeiten die Dar-
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64 REZENSIONEN,
Stellung der einmaligen Entwicklung als ihre eigentliche Aufgabe
betrachten, so gewahren wir doch unaufhörlich bei ihnen auch ge-
wisse Ansätze zu einer verallgemeinernden Reflexion über die dar-
gestellten Erscheinungen; sie klassifizieren und vergleichen die ge-
schichtlichen Gebilde und Vorgänge, stellen Analogien auf usw.;
fast bei jedem Geschichtsschreiber taucht gelegentlich der Gedanke
auf, dass die Beschäftigung mit der Geschichte immerhin darüber
belehrt, ^^was sich nach dem Lauf menschlicher Dinge so oder ähnlich
einmal wieder ereignen wird" (Thukydides I 22). Dieser Gedanke ist
wohlbegrOndet in dem Wesen der geschichtlichen Forschung. Da sie
vor allem den kausalen Zusammenhang der grossen, einmaligen
Entwicklung der Menschheit aufklären und darlegen soll, so ist es
unvermeidlich, dass sie durchgängig gesetzmässige Verknüpfungen und
allgemeine Verhältnisse berücksichtigt. Die Geschichtswissenschaft
soll daher immer eine sehr enge Fühlung mit der Soziologie, d. h.
mit der verallgemeinernden Untersuchung der geschichtlichen Ent-
wicklung, bewahren. Wenn wir den Begriff des Geschichtlichen streng
logisch in Rickertschem Sinne fassen wollten, so wäre die tatsächliche
Geschichtsforschung und -Schreibung als eine unaufhörliche Vermeng-
ung von Geschichte mit gewissen Ansätzen zu soziologischen Verall-
gemeinerungen zu bezeichnen und müsste ewig so bleiben.
Ein anderer wichtiger Punkt ist die Frage von dem Verhältnis
zwischen Anschauung, Phantasie und logischem Denken. Obgleich
RicKERT ganz richtig die Gleichstellung des Verfahrens des Historikers
mit demjenigen des Künstlers bekämpft, meint er doch, dass die
Geschichte in ganz anderem Sinne als andere Wissenschaften sich an
die Einbildungskraft wende und „vieles dem freien Spiele der Phan-
tasie" Oberlasse. „Sobald aber die Phantasie ins Spiel kommt, hat
die Logik nichts mehr zu sagen." Den letzten Satz halte ich für
sehr irreleitend und unglücklich. Rickerts Ansicht gründet sich dar-
auf, dass nach ihm die Geschichte die eigentliche „Wirklichkeits-
wissenschaft* ist, da sie das Individuelle in seiner vollen Anschaulich-
keit darstellen will. Daher werde sie veranlasst, in ihrer Schilderung
Züge aufzunehmen, die über das, was zur „historischen Begriffsbildung"
gehört und überhaupt begrifflich erkennbar ist, hinausgehen und nur
die Phantasie anregen sollen, damit diese recht anschauliche und
individuelle Bilder der geschilderten Objekte schaffen könne. Dabei
müsse aber der Historiker dem freien Spiele der Phantasie seiner
Leser Raum lassen. Es sei logisch zufällig, welche bloss der An-
schaulichkeit dienende ZWg^ er in seine Darstellung aufnimmt; darin
sei „der rein persönlichen Neigung und Begabung des Historikers der
breiteste Spielraum gelassen" usw. (S. 382 ff.)
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RICKERT: DIE GRENZEN DER NATURWISSENSCHAFTL. USW. 65
Gegen diese Ausführungen muss nachdrücklich betont werden
dass die Phantasietätigkeit, die der Historiker ausübt und die er in
seinem Leser anregt, durchweg unter der strengsten Kontrolle des
kritischen Denkens stehen muss. Phantasie und Verstandestätigkeit
sind überhaupt tatsächlich immer miteinander verbunden; sie sind
„in ihrer Entstehung und in ihren Äusserungen gar nicht zu trennende
Funktionen" (Wundt, Grundriss der Psychologie, 5. Aufl., 1902,
S. 323). In jedem Denkakt wirkt die Phantasie, im Sinne von freier
Beweglichkeit und Kombination der Vorstellungen und Vorstellungs-
elemente, als ein unentbehrliches Moment mit. Jede Phantasieschöpfung
wiederum wird fast unvermeidlich der Kritik des Denkens unterworfen.
So wie jede Anschauung vom Anfang an unter den Kategorien des
Denkens aufgefasst und erst in solcher verstandesmässig bearbeiteter
Form zum Bewusstsein kommt, so können und sollen auch die Pro-
dukte der weiteren Vorstellungstätigkeit unaufhörlich und in mehr-
facher Beziehung verstandesmässig geprüft werden. In besonders
hohem Grade ist dieses der Fall bei der Phantasietätigkeit, die einem
wissenschaftlichen Zwecke dienen soll. Alle die Kombinationen,
Schlüsse, Hypothesen und Interpolationen betreffs der geschichtlichen
Tatsachen und deren Zusammenhangs, sowie alle die psychologischen
Deutungen der seelischen Erlebnisse historischer Persönlichkeiten, die
der Geschichtsforcher unter steter Mitwirkung seiner Phantasie her-
stellt, müssen aufs eindringendste logisch geprüft werden in Bezug auf
ihre Haltbarkeit, ihre Gewissbeit oder Wahrscheinlichkeit. Und wenn
der Historiker in seine Darstellung nur der Anschaulichkeit halber
einzelne Zi\ge aufnimmt, die nicht zu der eigentlichen historischen
Begriffsbildung gehören, d. h. die zum wissenschaftlichen Begreifen
des historischen Zusammenhanges und des historisch Bedeutsamen
nicht eigentlich beitragen, so müssen doch auch solche individuellsten
Z\Xg^ der Schilderung wirkliches, durch logisch entscheidende Beweise
verbürgtes Wissen sein.
Um das wesentliche aus der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit
der individuellen Tatsachen ausscheiden zu können, muss der Histo-
riker gewisse Werte berücksichtigen. Rickert sucht aber nachzu-
weisen, dass er nichtsdestoweniger streng objektiv verfahren könne;
er könne feststellen, dass historische Tatsachen zu Kulturwerten ,,in
Beziehung stehen", ohne sie im geringsten zu beurteilen, ohne sie als
preiswert oder verwerflich zu bezeichnen. Ich glaube nicht, dass der
Weg, den Rickert hier zu zeigen sucht, uns vollständig an der
Schwierigkeit vorbeiführt. Eine gewisse wertende Stellungnahme muss,
glaube ich, in der von grossen Gesichtspunkten aus zusammenfassenden
historischen Darstellung stattfinden, wodurch unleugbar eine gewisse
Zetuchnft f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. ia6 5
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66 REZENSIONEN.
Subjektivität Eintritt gewinnt. Auf diese Frage kann aber hier nicht
eingegangen werden; ich habe an anderer Stelle ausgeführt, was ich
in diesem Punkte gegen Rickerts Theorie zu erinnern habe^).
Das letzte Kapitel, „Naturphilosophie und Geschichtsphilosophie **
(S. 600 — 743), enthalt interessante und bedeutungsvolle Ausführungen
über den Zusammenhang der behandelten methodologischen Fragen
mit der allgemeinen philosophischen Weltanschauung. Falls wir uns,
nach der naturalistischen Weltansicht, damit begnügen müssten, die
Welt als einen ewigen Kreislauf zu betrachten, der gleichgültig gegen
alle Besonderheit und Individualität ist, so würde dem historischen
Denken nur eine untergeordnete Rolle in unserer Weltbetrachtung zu-
fallen. Wenn wir dagegen die Welt als einen gegliederten, sinnvollen
Entwicklungsgang ansehen, worin das Besondere gerade in seiner
Eigenart Bedeutung hat, so tritt das geschichtliche Denken in den
Vordergrund. Im letzteren Falle nehmen wir an, dass es Werte gibt,
die unbedingt gelten, und dass die geschichtliche Entwicklung der
Menschheit zu diesen Werten in irgend welcher Beziehung steht.
Auf die sehr beachtenswerten weiteren Ausführungen dieser Grund-
gedanken kann ich hier nicht eingehen; nur einige bezeichnende ein-
zelne Sätze mögen angeführt werden. Der Verfasser ist der Ansicht,
dass eine geschichtliche Weltanschauung nur dann möglich ist, wenn
wir die Wirklichkeit nicht metaphysisch und rational vollständig be-
griffen haben (S. 652 f.); ebenso gebe es in einer rational gewordenen
Welt kein sittliches Wirken und keine Religion (S. 739 u. a.). Die
Wertungen des Verfassers stehen im wesentlichen auf dem Boden der
Kantischen Ethik; der höchste ethische Wert ist nur der pflichtge-
mässe Wille. Die oberste sittliche Pflicht des Menschen müsse aber
darin bestehen, dass er seine Individualität ausbildet, und zwar so,
dass sie zur Erfüllung der ihm besonders gestellten individuellen Auf-
gaben geeignet wird (S. 716). Der Glaube an eine objektive Welt-
macht des Guten lasse sich schliesslich philosophisch insofern als
notwendig dartun, als der Wille, der ein Sollen und unbedingt all-
gemeine Werte anerkennt, ohne diesen Glauben sinnlos wäre (S. 738).
In manchen einzelnen Punkten bin ich mit dem Gedankengange
des Verfassers nicht ganz einverstanden. Unter anderm bedaure
ich meinerseits, dass er, nach einigen, allerdings sehr kurzen, An-
deutungen zu schliessen, in seine „historische* und idealistische Welt-
In meiner Schrift, „Die Wertschätzung in der Geschichte", 1903,
S. 190 ff.; in jenem Buche habe ich auch meine Auffassung von dem Ver-
hältnis zwischen Geschichte und Soziologie sowie von dem Zusammenwirken
der Phantasie und des Denkens in der historischen Forschung ausführlicher
dargelegt.
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GOLDFRIEDRICH: DIE HISTORISCHE IDEENLEHRE USW. 67
anschauung in gewissen praktischen Fragen konservative Tendenzen
einmischt. Seine grundlegenden Überzeugungen in den grossen
philosophischen Weltanschauungsfragen berühren mich aber sehr
sympathisch. Der verständnisvolle Leser, der selbst mit diesen
Fragen ringt, wird aus der Bekanntschaft mit seinem scharfsinnigen
und tiefdringenden Denken Förderung und Belehrung für seine allge-
meine philosophische Auffassung schöpfen.
Helsingfors. Apvld Grotenfelt.
Dr. J. Goldfriedrich: Die historische'Ideenlehre in Deutschland.
Ein Beitrag zur Geschichte der Geist^wissenschaften , vornehmlich der
Geschichtswissenschaft und ihrer Methoden im 18. und 19. Jahrhundert
Berlin 1902. R. Gaertners Verlagsbuchhandlung. XXII und 544 S. Mk. 8.—.
An CoMTES Voraussetzung eines natürlichen Stufenganges der
fortschreitenden Erkenntnis erinnert des Verfassers Feststellung eines
allmählichen Fortschritts von einer populären Komplexanschauung,
die auf der Intuition des Wahrgenommenen stehen bleibt, bis zu
einer „imminenten^ „Relationssystematik'', die sich bewusst ist, dass
unserm Wissen nur Relationen gegeben sind, die es zu bestimmen
und in Ordnung zu halten gilt. Auch ihm steht auf dem Standpunkt
der Komplexanschauung die angeblich ungezügelte Willkür der „meta-
physischen'' Zusammenfassung tiefer als die sich später einstellende
bescheidenere, von grübelndem Eindringen in das Wesen der Dinge
absehende „wissenschaftlichere" Komplexanschauung, von der sich als
höchste Stufe die relationssystematische Auffassung mit ihrem empi-
rischen Klassifikationsbetrieb abhebt. Wie „die Theorie von der
historischen Idee" sich in Deutschland entwickelt, d. h. von meta-
physischen Vermengungen mehr oder weniger freigehalten hat, ist die
Frage, die den Verfasser als „methodologiegeschichtlicher" Spezialfall
im Rahmen seines Schematismus am meisten interessiert
Aber trotz seiner prinzipiellen Bevorzugimg der mehr formalen
Relationssystematik als eigentlicher Wissenschaft gegenüber der „auf
das Allgemeine gehenden Philosophie" und der „auf das Wesen gehen-
den Metaphysik" lässt er auch die bloss darstellende Geschichtschreibung
als künstlerische und wissenschaftliche Arbeit gelten. Sie mache nur
den Fehler, dass sie die Ideen, denen sie übersinnlichen Ursprung
zuschreibt, als etwas Reales in den Gang der Dinge eingreifen lasse
oder nach ihnen als Norm den Erscheinungen ihre Daseinsberechti-
gung zuerkennen oder aberkennen will. Richtiger verfahre die neueste,
nationalökonomisch und darwinistisch angeregte Soziologie und „ent-
wickelnde Kulturgeschichtschreibung" eines Ratzenhofer, Simmel,
Lamprecht und Breysig, die sich bemühen, durch Analyse des Ganzen
5*
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68 REZENSIONEN.
zunächst konstante Typen sozialpsychischer Erscheinungen begrifflich
festzustellen und dann mit Hilfe dieser Begriffe die Geschehnisse
synthetisch als Obergänge von einer Stufe zur andern zu reprodu-
zieren. Besonders Lamprecht ist ihm einer der „Repräsentanten'',
ein ,,Markstein in der Geschichte der Geschichtswissenschaft'' (S. 455).
Von Lamprecht hat der Verfasser auch die Voraussetzung über-
nommen, dass es im 18. und 19. Jahrhundert eine nunmehr abgetane
„historische Ideenlehre" gegeben habe, deren ,,grösster Theoretiker"
W. V. Humboldt und deren „grösster Praktiker" Ranke gewesen sei
(S. 434). Der schillernde und irreführende Ausdruck „historische Ideen-
lehre" ist somit auf Lamprechts Schlagwort in dem sogenannten
„geschichtswissenschaftlichen Streit" zurückzuführen. Es gehört nicht
viel Logik dazu, um zu erweisen, dass „historische Ideenlehre* eine
Contradictio in adjecto ist, wenn man in dieser Verbindung etwa
wie in der uns geläufigen Verbindung „die Platonische Ideenlehre*
an ein System von Verknüpfungen denken wollte, das eine von Raum
und Zeit unabhängige Wirklichkeit mit dem Ablauf der einander
folgenden Ereignisse in direkte Verbindung brächte. Die Geschichte
ist wohl eine Fundgrube von Ideen; in der Geschichte wirken die in
den Köpfen der Menschen vorwaltenden Ideen; es können in der
Geschichte neue Ideen herausgearbeitet werden; und noch vieles mehr,
denn gar vieldeutig ist der Sinn dieses Wortes im Sprachgebrauch
der Gebildeten. Aber grade in dem Sinne eines hypostasierten Ur-
bildes, von dem die konkrete Erscheinung ihre Existenz ableitet, passt
das Wort Idee nicht in die notwendigen methodologischen Voraus-
setzungen historischer Betrachtungen hinein. Ideenlehre fordert aber
grade diesen Platonischen Sinn. Historische Ideenlehre könnte höchstens
bedeuten: eine Ideenlehre, die einmal dagewesen, also insofern histo-
risch ist; niemals aber eine Ideenlehre, wie sie zur Erforschung der
Geschichte benutzt werden kann. Bei dem Titel, wie ihij der Ver-
fasser gewählt hat, wird jedermann zunächst stutzig sein; er wird
sich aber nach einiger Besinnung sagen, dass wohl eine theoretische
Untersuchung der von deutschen Gelehrten im 18. und 19. Jahrhundert
bei geschichtlichen Betrachtungen verwandten und als Ideen bezeich-
neten BegrifTsbildungen gemeint sein soll. Allgemeine Erörterungen
über die in der Geschichte als wirksam betrachteten „Ideen* sind
aber durchaus noch keine Ideenlehre.
Sehr bedauerlich ist, dass der Verfasser nicht durch eigenes
Studium die Probe gemacht hat, ob Ranke wirklich ein „Praktiker"
der Ideenlehre gewesen ist, wie Lamprecht behauptet. Die theo-
logisch gefärbten Wendungen Rankes über die letzten, d. h. weiter
nicht mehr verfolgbaren Ergebnisse seiner Forschung scheinen den
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GOLDFRIEDRICH: DIE HISTORISCHE IDEENLEHRE USW, 66
Verfasser in seinem Vorurteil bestärkt zu haben. Durch ein Paar
Citate aus dem berühmten „Politischen Gespräch*, das doch wohl für
die Eruierung der theoretischen Voraussetzungen Rankes nicht in
erster Reihe in Betracht kommen darf, glaubt er bei Ranke einen
schroffen Dualismus zu erkennen, der zwischen Durchschnitdichkeit
und Eminenz „gradezu einen essentiellen Unterschied" macht. Zwei
unklar ausgesprochene Urteile von Lorenz und Sybel müssen (S. 403 f.)
dazu herhalten, Ranke eine „Grenzverwischung" und „geschichts-
metaphysischen Universalismus", wie man ihn etwa bei Hegel finden
könnte, zum Vorwurf zu machen. Die wirklichen philosophischen
Grundlagen der Rankeschen Geschichtsbetrachtung, seine Auffassung
der menschlichen Natur, seine Bewertung der geschichtlichen Ab-
wandlungen als Gelegenheiten individueller Selbstentfaltung, seine
Auffassung des Verhältnisses von Einheit und Vielheit und des Be-
sonderen zum Allgemeinen, sein Sprachgebrauch bei Verwendung
von Ausdrücken wie „Idee", „objektive Ideen", „leitende Ideen",
„Geist" und „Genius** u. v. a. böten einen dankbaren Stoff zu einer
übrigens nicht so einfachen Untersuchung.
In seinen ersten zehn Kapiteln (S. 4 — 490) gibt Verfasser einen
Rückblick über die verschiedenen Versuche, eine „historische Ideen-
liehre" zu begründen, fortzuführen, zu berichtigen und schliesslich auf-
zulösen. Mit citatenreichen Besprechungen geht er die Autoritäten
und ihre „Epigonen" durch. Von Leibniz an kann er 27 Namen an
die Spitze ebenso vieler Abschnitte schreiben, die von den Einzel-
versuchen handeln. Zwischen diese sind Gruppierungen und kritische
Bemerkungen gesetzt. Ein ganzes, allerdings sehr kurzes Kapitel ist
nur LoTZE gewidmet. Sehr ausführlich ist W. v. Humboldt behandelt;
er nimmt allein über ein Zehntel des ganzen Buches in Anspruch;
auch Wegelin ist mit 28 Seiten (doppelt so viel wie Lotze) auffallend
reichlich bedacht. Von neueren ist nur Ratzenhofer so ausführlich
behandelt. Sein Einfluss ist dann auch in der gedrängten, allgemein
gehaltenen Übersicht zu spüren, die das Schlusskapitel bildet. Es ist
oft schwierig, den Gedankengang des Verfassers zu verfolgen; er hat
seinen Stoff nicht genügend bemeistert, um ihm eine geschickte Form
zu geben. Ausser über Lorenz und über Lindner erhalten wir durch-
gehends wohlwollende Referate, die für jeden, der einen Oberblick
gewinnen will, von Nutzen sein können. Karl Gutzkows geistreiches
Buch „Zur Philosophie der Geschichte" hätten wir deshalb, da es fast
ganz vergessen scheint, gern erwähnt gefunden. Zu Gegenüberstellungen
und Vergleichen hat Verfasser gar zu selten den nötigen Raum. Dass
die Ecksteine der vom Verfasser am meisten anerkannten modernsten
Geschichtstheoretiker Ratzenhofer und Lamrecht von Hegel herbei-
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70 REZENSIONEN.
geschafft und behauen sind (Interesse als Wurzel der Ideen, Zeitgeist,
Volksgeist, Entwickelung des Geistes zum Bewusstsein seiner Freiheit
und ihrer Verwirklichung) ergibt sich leicht beim Vergleiche der
entsprechenden, allerdings in dieser Darstellung weit voneinander ent-
fernten Abschnitte. Die Geschichte der neueren Soziologie mQsste
ebenfalls von Kant und Hegel ihren Ausgang wählen.
Die vom Verfasser mit viel methodologischem Selbstbewusstsein
geprägten termini technici sind nicht besonders glücklich. So nennt
er (S. 515) die Seele „Relationskapazität" und die Ideen „Relations-
totalitäten'' ; wir würden diese Ausdrücke zunächst doch nur als Um-
schreibungen von „Bewusstsein'' und „Zustände" auffassen können.
Berlin. L. RLess.
Leo Koenigsberger: Hermann v. Helmholtz. 3 Bände. Braunschweig
1902 und 1903. Vieweg & Sohn. Brosch. Mk. 20.
In der vorliegenden Arbeit hat Hermann v. Helmholtz das seiner
würdige biographische Denkmal erhalten. Es ist ein Werk von bleiben,
dem Wert, nicht nur wegen der in reichstem Masse verwerteten Doku-
mente und persönlichen Erinnerungen des Biographen an ^en ver-
storbenen Freund, sondern vor allem als ein warm empfundenes und
liebevoll gestaltetes Ganzes. Wenn der Verfasser Bedenken äussert,
inwieweit und ob überhaupt gerade der Mathematiker befugt gewesen
sei, die Leistungen dieses universellen Denkers zur Anschauung zu
bringen, so ist es nicht nur der Erfolg, der diese Zweifel widerlegt.
Mathematische Gesetzlichkeit war für Helmholtz Endziel alles wissen-
schaftlichen Strebens. Indem ein gütiges Schicksal diesen mathematisch-
spekulativen zugleich aber auch lebensfrohen und tatkräftigen Geist
zwang, seinen Weg durch die Wissenschaften organischen Lebens
zur theoretischen Physik zu nehmen, bot sich der Welt ein Bild einzig
dastehender Universalität. Und es ist nicht zu verkennen, dass es
der mathematische Forscher ist, dem die reichen Früchte zuteil
werden, sei es in der Physiologie, sei es in der Physik, sei es auch
in den psychologischen und erkenntnistheoretischen Arbeiten dieses
auch eminent philosophischen Kopfes. Freilich würde andererseits einem
Manne wie Helmholtz gerecht zu werden der Fachgelehrte nicht aus-
reichen. Aber weder der Physiolog noch der Philosoph werden in
unserem Werk das nacheilende Verständnis des Biographen vermissen.
Den speziell philosophisch interessierten Leser wird die Liebe
erfreuen, mit welcher der Biograph die Persönlichkeit des Vaters
unseres Forschers, Ferdinand Helmholtz, gezeichnet hat. Kein Wunder
dass dem Sohn dieses sehr reich und ideal angelegten Fichteschülers
philosophische Neigungen nicht fehlten und seine naturwissenschaft-
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KÖNIGSBERGER: HERMANN VON HELMHOLTZ, 71
lieben Arbeiten geleitet und getragen sind von einer besonnenen
philosophischen Denkweise. Eine auch im höchsten Sinne philo-
sophische Tat war gleich sein grosses Jugendwerk „Über die Er-
haltung der Kraft**, das dem jungen Arzt aus der Herzensfrage
„Medizin eine Naturwissenschaft oder — keine Wissenschaft** erwuchs.
Ergötzlich schildert das Buch, welche absonderliche Aufnahme die
kleine Abhandlung, welche die Alltagsmeinung sowohl der Naturforscher
wie der Philosophen mit etwas ganz Revolutionärem frappierte, auf
beiden Seiten fand. Den leidigen Erörterungen über die Priorität
Robert Mayers — Helmholtz hat sich dem grossen Verdienst Mayers
gegenüber so vornehm benommen wie stets bei ähnlichen Gelegen-
heiten — wird die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt.
Und nun begleiten wir den jungen Professor der Physiologie
nach Königsberg, von dessen regem geistigen Leben ein prächtiges
Bild entworfen wird. Wir erleben mit ihm seine herrlichen Ent-
deckungen auf dem Gebiet der Muskel- und Nervenphysiologie, die
auch die philosophische Welt in Erregung versetzten. Gaben doch
diese ersten grundlegenden Messungen der Geschwindigkeit der Nerven-
leitung, der Reflex- und Reaktionszeit, ein ganz anderes Bild, als es
bei dem Vorurteil von imponderablen Agentien und psychischen
Prinzipien möglich war, — selbst Helmholtz' genialer Lehrer J. Müller
hatte noch kurz vorher die Geschwindigkeit der Nervenleitung für
unmessbar klein erklärt.
Seine nächsten sinnesphysiologischen Arbeiten bringen Helmholtz
in noch nähere Beziehung zur Philosophie, freilich damit auch in
stärkere Koliision mit den Philosophen. Die Zeit seines grössten
„praktischen** Erfolges, der Erfindung des Augenspiegels, ist auch die
seines Bekenntnisses zu Kant — diese Kombination ist charakte-
ristisch für die Persönlichkeit. Ober die Aufnahme, die seine philo-
sophischen Versuche bei seinen Zeitgenossen gefunden haben, hat
sich Helmholtz noch bei der Feier seines 70. Geburtstages recht
resigniert ausgesprochen. Inzwischen haben seine durchaus eigen-
artigen und scharfsinnigen erkenntnistheoretischen Arbeiten sich doch
die Anerkennung errungen, die sie verdienen, und die Bemühungen
des einflussreichen Forschers um die Neubelebung der Lehre Kants
haben ihm seinen Platz in der Geschichte dieser Bestrebungen ge-
sichert Er selbst hat seine Ansichten auch dann noch als von Kant
inspiriert angesehen, als er teilweise in recht starken Gegensatz zu
dem Königsberger Weisen getreten war.
Die glückliche schaffensreiche Zeit des Königsberger Aufenthalts
wird durch die Erkrankung der Gattin Helmholtz' jäh unterbrochen.
Der junge Gelehrte muss sich um ihretwillen um Versetzung in ein
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72
REZENSIONEN.
milderes Klima bemühen und zieht als Professor für Anatomie und
Physiologie nach Bonn (1855 — 1858). Diese und die nächsten Jahre
sind noch immer hauptsächlich mit sinnesphysiologischen Studien aus-
gefüllt, die wundervolle Früchte einbrachten. Was die „Physiologische
Optik" und die „Lehre von den Tonempfindungen" auch der Philo-
sophie und insbesondere der Psychologie durch grundlegende Ent-
deckungen und durch die geniale Durchführung der Lehre von den
Wahrnehmungen im empiristischen Sinne geschenkt haben, ist bekannt.
Es folgt auf den Bonner Aufenthalt die Berufung nach Heidel-
berg und die traurige Zeit des Todes seiner ersten Frau. Etwa ein
Jahr später findet er seine zweite Gattin in Anna v. Mohl, die ihm
ebenbürtig war an Gaben des Geistes und Herzens. Es beginnen
nun eine Reihe glücklicher Jahre voll ergiebigen Schaffens, zugleich
jene ruhmreiche Periode der Universität Heidelberg, welche durch
das gleichzeitige Wirken der drei Männer Bunsen, Kirchhoff und
Helmholtz bezeichnet wird. Ausser der „Physiologischen Optik** und
der „Lehre von den Tonempfindungen** erscheinen von letzterem
zahlreiche sinnesphysiologische und -anatomische Abhandlungen, dann
wieder physikalische überraschend durch die Mannigfaltigkeit der be-
arbeiteten Probleme. Und diese ganze reiche Tätigkeit findet ihre
Einheit in der Philosophie des Forschers, die nicht nur in seinen
grossen Arbeiten das Wort erhielt, sondern auch in formvollendeten
Vorträgen, in denen er zugleich das Verständnis der Vertreter der
einzelnen Wissenschaften für einander anzubahnen und die damals
bestehende Kluft zwischen „Geistes-'* und Naturwissenschaften zu
überbrücken suchte. Durch Veröffentlichung von Aufzeichnungen und
Briefen über Fragen prinzipieller Natur hat der Biograph unsere
Kenntnis der philosophischen Bestrebungen Helmholtz' bereichert.
In die letzten Jahre des Heidelberger Aufenthalts fallen auch noch
Helmholtz' metageometrische Spekulationen, die seine philosophischen
Anschauungen wesentlich modifizierten und ihnen die Gestalt gaben,
wie er sie später in seiner schönen Rede von 1878 über „Die Tat-
sachen in der Wahrnehmung** niedergelegt hat. Es ist dies die Zeit
seiner Opposition gegen Kant, mit dessen Lehre in ihren Grundlagen
er sich freilich auch jetzt noch einig glaubte. Inwiefern seine Pole-
mik gegen Kant nichtig ist, weil sie den Kern von dessen Lehre
nicht erfasst, ist inzwischen öfters dargelegt worden. Das psycho-
logische Interesse bleibt bei Helmholtz primär und verdunkelt das
transzendentale. Die Frage nach der Möglichkeit der Erfahrung als
Erkenntnis ist nicht isoliert erfasst, die Lehre von der Anschauung
im Gegensatz zu der Empfindung und dem Denken fundamental miss-
verstanden. Die Notwendigkeit von Axiomen überhaupt ist nicht er-
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LEO KÖNIGSBERGER, L. LEW-BRUHL,
73
kannt, ebensowenig als die Bedeutung des 3 dimensionalen Raumes
als des „Raumes der Existenz^' (Natorp), den auch die nichteuklidiscbe
Geometrie voraussetzt. — Der Biograph lässt sich hier, wie fast
überall, auf eine kritische Analyse der einzelnen Arbeiten Helmholtz'
nicht ein, er begnügt sich vielmehr damit, sie recht eingehend in-
haltlich wiederzugeben.
Ostern 187 1 erfolgt Helmholtz* Übersiedlung nach Berlin, wo
er die Professur für theoretische Physik erhält. Es beginnt nun die
Zeit fast ausschliesslicfier Beschäftigung mit den höchsten mathe-
matisch-physikalischen Problemen. Seine philosophischen Gedanken
finden aber auch jetzt nicht nur in einzelnen Abhandlungen und Reden
Ausdruck (Das Denken in der Medizin [1877I, Die Tatsachen in der
Wahrnehmung [1878], Zählen und Messen erkenntnistheoretisch be-
trachtet [1887] u. a.), sondern vor allem auch in dem begrifflichen
Fundament seiner theoretisch-naturwissenschaftlichen Untersuchungen,
die später H. Hertz Anregung für seine genialen Arbeiten gaben.
Die Obemahme der Stellung als Präsident der physikalisch-
technischen Reichsanstalt sollte Helmholtz ein nur rein wissenschaft-
licher Arbeit gewidmetes Leben ermöglichen, erfüllte jedoch diesen
Zweck nur teilweise. Unter seinen letzten Abhandlungen findet man
mit Bewunderung wieder einige sinnesphysiologische und psychologische,
in denen er im Sinne seines schon vor so vielen Jahren verfochtenen
empiristischen Programms weiter forscht. Seine herrliche Rede
„Goethes Vorahnungen kommender naturwissenschaftlicher Ideen*
(1892), die Vorrede zu H. Hertz* Prinzipien der Mechanik, der
Entwurf zu der nicht mehr gehaltenen Rede für die Naturforscher-
versammlung in Wien sind seine letzten grösseren Äusserungen über
allgemeine prinzipielle Fragen. —
Tragisch endet unser Buch mit den schweren Heimsuchungen,
die das Haus Helmholtz in den letzten Jahren getroffen. Der letzte
Blick des Biographen gilt aber noch einmal der Gestalt des unver-
gleichlichen Mannes, dessen Werk die Zeiten überdauern wird klärend
und läuternd. Denn auch ein Lehrer im Ideal war Hermann Helm-
holtz wie wenige neben ihm im verflossenen Jahrhundert. Sein Bild
wird weiter leben — gewiss so wie es Koenigsberger entworfen.
Giessen. Dr. Max Isserlin.
L. Levy-Bruhl, Maltre de Conferences an der Universität Paris. Professor
an der Schule für politische Wissenschaften: Die Philosophie August
Comtes. Übersetzt von Dr. Nolenaar. Leipzig 1902. Verlag der Dürr-
schen Buchhandlung. 287 S. Mk. 6.
Die Gedankenwelt Comtes, in die das Werk einführen soll, ist
zwar nicht, wie der Obersetzer meint, „gewaltig", aber lehrreich und
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74 REZENSIONEN,
anregend. Der französische Autor, Levy-Bruhl, beschränkt sich, um
jene zu schildern, auf die positivistische Periode in Comtes Leben.
Der zweiten, mystischen, gedenkt er nur vorübergehend. Die hier-
durch einheitlich abgegrenzte Darstellung ist geschickt, zeigt aber
unsem Verfasser mehr als Historiker denn als Kritiker. Man merkt
den Anhänger Comtes, für den die Schwächen des Positivismus in
den Hintergrund des Bewusstseins treten. Versteht es sich von selbst,
dass die Wahrheit keinen absoluten, sondern nur einen relativen
Charakter hat? Dass nach Comte einerseits der Kulturstand einer
Nation von der erreichten Stufe ihrer geistigen Entwickelung, anderer-
seits das intellektuelle Leben vom Willen und Gefühl abhängen, die
Intellektualität also gleichzeitig die Rolle einer unabhängig und einer
abhängig Veränderlichen spielen soll? Ist die Induktion erlaubt und
der Wertmassstab einleuchtend, nach dem wir von dem Gesetz der
drei Stufen hören? Ist die „Soziologie" Comtes, von der Levy-Bruhl
bewundernd spricht, um am Schlüsse einzugestehen, nach dem Glauben
der heutigen Soziologen sei in ihr „fast noch alles zu machen", eine
historische oder naturwissenschaftliche Disziplin, lässt sich ihr Begriff
gegen andere Wissenschaften überhaupt sicher abgrenzen? Alles
Fragen, über die der Verfasser glatt und rasch hinwegeilt, um lieber
in geschmeichelten historischen Parallelen die Philosophie des Posi-
tivismus desto stärker herauszustreichen. So gelingt es ihm, Comtes
Gedankengang dem Laien nahe zu bringen. Man wird das Buch
mit Nutzen, zugleich aber, wenn man über diese Lehren, die den
Leser gefangen nehmen sollen, nachdenkt, nicht ohne Widerspruch lesen.
Halle a. S. Hermann Schwarz.
Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters. Texte
mid Untersuchungen. Herausgegeben von Bäumker und v. Hertling.
Münster 1902, 1903.
Band ni, Heft 6: Switalski, B. W., Des Chalcidius Kommentar zu
Piatos Timaeus. Eine historisch -kritische Untersuchung. VIIl u.
114 S. gr. 8».0
Band IV, Heft i: Willner, H., Des Adelard von Bath Traktat De
eodem et divers o. Zum ersten Male herausgegeben und historisch-
kritisch untersucht. X u. 112 S. gr. 8°.
Band IV, Heft 2 und 3: Baur, L., Dominicus Gundissalinus, De
divisione philosophiae. Herausgegeben und philosophie-geschicht-
lich untersucht. Xu u. 408 S. gr. 8^
In dem Schlussheft des 3. Bandes der „Beiträge" wird der
lateinische Kommentar, der (nebst Übersetzung des betr. Textes) zum
ersten Teile des platonischen Timäus unter dem Namen eines Unbe-
') Den Bericht über die vorausgegangenen Hefte des Bandes s. in
Bd. 120, S. 107 ff. d. Zeitschrift.
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BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE USfV,
75
kannten (Chalcidius) aus den ersten christlichen Jahrhunderten er-
halten ist, und auf die Philosophie der Scholastik, namentlich in der
ersten Periode, grossen Einfluss gehabt hat, von B. W. Switalski
in drei Kapiteln einer eingehenden Untersuchung in Hinsicht auf
Autor, philosophischen Charakter und Quellen unterzogen, und zwar
mit sorgfältiger und gründlicher Methode. Die literarischen Belege,
die als Anmerkungen unter den Text gestellt sind, haben sich stellen-
weise zu kleineren Spezialforschungen ausgewachsen. Unter Be-
nutzung bezüglicher Leistungen von philologischen Vorgängern (bes.
H. Martin, Hiller, Gercke) wird gezeigt, dass der Kommentar, an
dem sich inhaltlich zwei grössere und eine Anzahl kleinere Abschnitte
unterscheiden lassen, die kein einheitliches Ganzes bilden, durchweg
eklektischen Charakter hat. Der Hauptgewährsmann ist Platon,
ausserdem namentlich Aristoteles und die Stoa, sowie die Pythagoreer
alter und neuer Richtung. Viel benutzt ist ausserdem Philon; als
einziger christlicher Autor, dessen Berücksichtigung sicher ist, erscheint
Origenes. Hinsichtlich der Quellen der ganzen Kompilation ergibt
sich als die ursprünglichste 'wahrscheinlich der Timäuskommentar des
PosiDONius ; ausserdem namentlich die astronomische Schrift des Neu-
Pythagoreers Adrast aus Aphrodisias und der AidaaxaXtxög des Plato-
nikers Albinus. Für zutreffend halte ich die Vermutung des Verf.,
„dass ein späterer Grieche [vielmehr Jude s. u.l . . . einen einheit-
lichen Kommentar geschaffen, den Chalcidius bloss zu übersetzen hatte**
(113). Nach meiner Wahrnehmung trägt der lateinische Ausdruck
an nicht wenigen Stellen ganz unverkennbar den Charakter des
schlechten wörtlichen Verdolmetschens eines griechischen Originales
an sich. Zu der im i. Kap. u. a. behandelten Frage von der Re-
ligion des Autors sind die im Kommentar selbst enthaltenen Finger-
zeige, die ihn von Haus aus als einen unter dem Einflüsse Philons
stehenden Juden kennzeichnen, erheblich stärker als die vereinzelten
und meist nicht sehr deutlichen Spuren seiner Zugehörigkeit zum
Christentume, für welche Sw. eintritt. Die Erwähnung des Sternes
der Weisen und seiner Bedeutung in Kap. 126 des Kommentars trägt
eher den Charakter eines Einschiebsels, und zwar sowohl in der Form,
in der sie in den Zusammenhang des Textes eintritt („est quoque
alia sanctior et venerabilior historia** etc.), wie auch im Inhalt, der
zu den anderen dort gegebenen Beispielen vom Erscheinen Unglück
bedeutender Sterne (worauf es dem Erklärer der betr. Timäusstelle
— p. 40 C. — ja eben ankommt), nicht passt Verhältnismässig
zahlreich aber sind die Beweise von Hochachtung und geflissentlicher
Heranziehung der „hebräischen Philosophie". Die Auslegung der
alttestamentlichen Worte: Clamat apud me sanguis fratris tui im Sinne
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76 REZENSIONEN.
der empedokleischen Auffassung vom Blut als dem Sitze der Seele
ist nach Art rabbinischer Hermeneutik. Die Stelle cp. 276: Sed
Origenes adseverat, ita sibi al Hebraeis esse persuasum quod etc.
spricht m. E. eher fQr als, wie Sw. meint, gegen das Judentum des
Autors. Er gefällt sich darin hervorzuheben, dass Origenes selbst
sagt, dass er diese Lehre von den Hebräern habe. Aristotelische
und stoische Lehren ferner, die der ursprünglichen jüdischen Welt-
anschauung widersprechen, werden wenigstens in einer Art Angleichung
zu der letzteren zu bringen gesucht; z. B. die Welt ist (nach Aristo-
teles) ewig, d. h. (nach „Chalcidius*) von Ewigkeit her von Gott
verursacht (cp. 23); ähnlich in der Definition des (stoischen) Fatums
(cp. 144), die mit dem spezifisch alttestamentlichen Begriff einer oratio
divina verquickt wird. Der wirkliche Sachverhalt betreffs dieser Frage
scheint mir nach alledem der zu sein, dass der Autor des ursprüng-
lichen griechischen Textes des Kommentars ein philonisch gerichteter
Jude war, dass aber einige nachträgliche Interpolationen von einem
Christen stammen, der das Ganze zusammen mit dem griechischen
Text des platonischen Dialogs selbst ins Lateinische übersetzte und
stellenweise überarbeitete.
In den ersten Heften des 4. Bd. der „Beiträge* werden wieder
zwei Lücken hinsichtlich der Urkunden zur Geschichte der Scholastik
im 12. Jahrhundert ausgefüllt und die entsprechenden literar- und
philosophiegeschichtlichen Erläuterungen dazu gegeben. Von den
beiden Schriften Adelards von Bath, des „konzeptualistischen" Scho-
lastikers, zu deren Inhalt man bisher wesentlich auf übersetzte Bruch-
stücke in Jourdains Recherches critiques angewiesen war, hat hier
H. WiLLNER die frühere im Original (nach der Pariser Handschrift)
herausgegeben und behandelt. Unter den Piatonikern des 12. Jahrh.
ist Adelard deswegen besonders von Interesse, weil er sich neben
der Dialektik bereits naturwissenschaftliche und medizinische Kennt-
nisse, und zwar, wie es scheint, direkt von den Arabern her, erworben
hatte und dazu beitrug, den Sinn für die aristotelische Naturlehre zu
wecken. Er versucht „die Methode der platonischen und aristotelischen
Forschung miteinander zu verbinden** (50). Lehrreich ist seitens des
Herausgebers die Erörterung (58 ff.) der Ansichten, die in der be-
zeichneten Periode von sehr verschiedenen Vertretern hinsichtlich des
Verhältnisses von Universalien und Individuen in der Richtung einer
zwischen den Extremen des Realismus und Nominalismus vermitteln-
den Theorie vorgebracht wurden, und die um so zahlreicher hervortraten,
als jene Frage tatsächlich das einzige wissenschaftliche Problem des
Zeitalters bildete. Man ersieht daraus, dass unter diesen die von
Adelard selbst vertretene „Indifferenzlehre" in der Hauptsache eine
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BEITRAGE ZUR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE USfV.
77
im Beginn des Jahrhunderts allgemein verbreitete Auffassungsweise
war (68). Hinsichtlich ihrer Entstehungsgeschichte hätte wohl etwas
nachdrücklicher auf Boethius rückwärts gewiesen werden dürfen. In
der Richtung nach vorwärts zeigt sie der Verf. (70) auf als Übergang
zu der Lehrmeinung des 13. Jahrhunderts und der Araber, wonach
die Universalien ebensowohl als ante rem, wie auch als in re imd
in gewisser Hinsicht als post rem existierend anzusehen sind. Dazu
die triftige Bemerkung (71): „der gemeinsame Boden, auf dem diese
Theorie wie die ihr verwan^lten Gedankenbildungen entsprossen sind,
ist die Grammatik, während die arabische Anschauung aus dem Gegen-
satze von individualisierender Materie und an sich gleichförmiger
Form erwachsen ist.* — In den psychologischen Ansichten Adelards
geht der ursprünglich platonischen Dreiteilung der Seele (in ratio,
ira und cupiditas) noch die andere in eine rationale, animalische und
vegetative Seele zur Seite (81). Diese letztere scheint mir nicht, wie
der Verf. will, auch „in Anlehnung an Plato gemacht zu sein,
sondern schon unter dem Einflüsse der aristotelischen Einteilung zu
stehen, wie sie durch Constantinus Africanus damals schon wirksam
geworden war, einen Autor, aus welchem ja,» wie der Verf. selbst her-
vorhebt, auch Adelard direkt geschöpft hat.
Die von L. Baur veranstaltete erstmalige Ausgabe und Erläute-
rung von GuNDisALvi, De divisione philosophiae, reiht sich den
beiden in Bd. I u. II der „Beiträge* von P. Correns und G. Bülow
herausgegebenen anderweitigen Werken des nämlichen Autors (De
unitate und De immortalitate animae) an, von denen die erstere im Druck
bereits früher unter den Werken des Boethius, die andere unter
denen des Wilhelm von Auverge in einer von diesem hergestellten
Oberarbeitimg bekannt war. Die jetzt veröffentlichte Schrift liefert
ebenfalls einen wesentlichen Beitrag zur quellenmässigen eingehen-
deren Kenntnis der oben bezeichneten Übergangsperiode, hat aber
hauptsächlich literargeschichtlichen Wert, und zwar als einer der
„Kanäle, durch die (freilich noch zunächst in arabischer Verdünnung)
wieder griechische Gedanken in reicherer Fülle (?) dem lateinischen
christlichen Abendlande zuflössen^ (S. VII). Ihren Inhalt bildet die
Einteilung der Philosophie in die verschiedenen ihr zugeteilten Spezial-
wissenschaften unter Angabe der für jede derselben massgebenden
Hauptprobleme. Die bezüglichen Handschriften befinden sich in Rom,
Paris, Oxford und Cambridge; die älteste und beste unter ihnen ist
die römische. Die Ausgabe selbst ist so eingerichtet, dass unter dem
Text ausser den Varianten die griechischen und arabischen Quellen,
aus denen es man darf sagen kompiliert ist, fortlaufend angegeben
werden. Der Herausgeber bringt in zusammenhängender Darstellung
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78
REZENSIONEN.
eine genaue Quellenanalyse, bei der bis auf die griechische Literatur
selbst zurückgegriffen wurde, und ausserdem eine Geschichte der auf
die Einleitung in die Philosophie bezüglichen antiken und mittelalter-
lichen Literatur, um „gleichsam durch die sedimentären Ablagerungen
hindurch den ganzen Formationsprozess" dieser Gattung erkennen zu
lassen (IX).
Das Gundisalvische Werk selbst zerfällt in zwei Teile, einen auf die
theoretische und einen auf die praktische Philosophie bezüglichen, die
durch ein eingeschobenes Lehrstück aus Avicenna voneinander ge-
trennt sind. Einverleibt ist dem Ganzen ausserdem namentlich auch,
und zwar wörtlich, unter Umstellung einzelner Teile, die philoso-
phische Einleitungsschrift des Alfarabi. Der Inhalt selbst steht nach
Ansicht des Herausgebers schon auf ganz ausgesprochen aristote-
lischem Boden. Doch ist das, wie auch die Ausführungen im Einzelnen
beweisen, in dem Sinne zu verstehen, dass wir hier, ebenso wie in
der Schrift De unitate, lediglich den durch neuplatonische Einflüsse
erheblich modifizierten Aristotelismus vor uns haben, wie er in der
arabischen Bildungswelt sich ausgebreitet hatte. Dem Gund. selbst
war er durch Avencebrol vermittelt worden. Der Zweck des Werkes
als Ganzen kommt darauf hinaus, den gesamten Stoff dieser Richtung
wie er im 12. Jahrh. durch die lateinischen Übersetzungen aus dem
Arabischen dem Abendlande wieder bekannt wurde, zunächst wenig-
stens in seiner Hauptgliederung in den damaligen Studienbetrieb ein-
zuführen (315).
Giessen. H. Siebeck.
Fritz Medicus: Kants Philosophie der Geschichte. Berlin, Reuther &
Reichard. 1902. 82 S. 2,40 Mk. (Erweiterter Sonderabdruck aus Bd. VII
der Kantstudien.)
Diese Schrift ist typisch für eine jetzt in Blüte stehende und
durch die „Kantstudien'' wohl geförderte Art von Kantliteratur, in der
Kant nicht wie ein grosser Philosoph, sondern wie ein philosophischer
iStümper behandelt wird^), den man zu erklären meint, indem man
hm Widersprüche nachweist.
Medicus findet gleich in der ersten hierher gehörigen Schrift
Kants, in der „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürger-
*)Anm. der Redaktion. Wir lassen unseren Herren Rezensenten,
sofern sie sich persönlicher Angriffe enthalten, in der Beurteilung der von
ihnen besprochenen Werke volle und uneingeschränkte Freiheit, müssen es
aber eben deswegen ablehnen, uns mit den von ihnen ausgesprochenen An-
sichten und Urteilen zu identifizieren. In diesem Falle legt der Herausgeber
Gewicht darauf, zu erklären, dass er das Urteil des Herrn Rezensenten über
die „Kantstudien" keineswegs teilt.
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MEDICUS: KANTS PHILOSOPHIE DER GESCHICHTE.
79
lieber Absicht" (1784), einen ganz auffallenden Widerspruch. Wenn
nämlich Kant in dieser Abhandlung zeigt, wie das menschliche Ge-
schlecht durch den blossen Mechanismus der Natur nach einem weisen
Plane ohne sein Zutun zu immer höherer und höherer Kultur gelangt,
so gerät er dadurch, nach des Verf/s Meinung, „in Widerspruch mit
seiner Lehre von der Autonomie und von der sich darauf gründen-
den Menschenwürde* (S. 34), und zwar „ohne es zu merken* (!), und
die Vorsehung wird dadurch von ihm, da sie sich dabei ja gerade
der schlechten Eigenschaften des Menschen bedient, auf einen „über-
moralischen* (!) S. 32, ja unmoralischen (S. 74) Standpunkt gestellt! —
'Nun beginnt aber K. jenen Aufsatz mit den Worten: „Was man sich
auch in metaphysischer Absicht für einen Begriff von der Freiheit
des Willens machen mag, so sind doch die Erscheinungen desselben,
die menschlichen Handlungen ebensowohl als jede andre Natur-
begebenheit nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt." Er betrachtet
demnach in der ganzen Abhandlung den Menschen nicht als freies
Wesen, sondern als blosse Erscheinung, als blosses Naturprodukt.
Alle menschlichen Handlungen, sofern sie sich in der Zeit vollziehen
und soweit wir sie beobachten können, sind nach Kants Ansicht so
sehr dem Naturmechanismus unterworfen, „dass wir sie ,wie eine
Mond- oder Sonnenfinsternis* (Kr. d. pr. V. R. VIII, 230) im voraus
berechnen könnten, wenn wir eines Menschen Denkungsart und alle
auf ihn wirkenden äusseren Veranlassungen genau kennen würden.
Dass andererseits jede einzige Handlung trotzdem als Tat der Frei-
heit anzusehen ist, insofern sie ^ben nur Erscheinung eines in unserm
intelligiblen Charakter, daher also zeitlos, vollzogenen Aktes ist,
kommt auf dem Gebiete der Geschichte, wo es sich eben um den
zeitlichen Verlauf und Zusammenhang menschlichen Tuns handelt,
natürlich nicht in Betracht. Jedes Menschen Leben und ebenso das
Leben unendlich vieler einander folgender Generationen ist nach
Kants Anschauung die in der Zeit sich vollziehende und daher durch
das Gesetz der Kausalität verknüpfte, gewissermassen zeitlich aus-
einandergelegte Erscheinung eines zeitlosen Aktes in der intelligiblen
Welt, zu deren Mitgliedern uns nur das Bewusstsein des Sittengesetzes
erhebt. Es ist klar, dass hiervon in der genannten Abhandlung ganz
und gar nicht die Rede ist. — Und die Übermoralität der Vorsehung?
Wie verhält es sich damit? Nun, von Moral ist hier überhaupt nicht
die Rede! „Unsere Vernunft ist zur Einsicht des Verhältnisses, in
welchem eine Welt, so wie wir sie durch Erfahrung immer kennen
mögen, zu der höchsten Weisheit stehe, schlechterdings unvermögend."
(Über das Missl. aller philos. Vers. usw. R. VII, i, 397.) Dass uns
vieles in der Welt, wie wir sie kennen, ungerecht, unmoralisch und
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8o REZENSIONEN.
bösartig erscheint, das hat wohl jeder an seinem eigenen Leibe er-
fahren. Da setzt eben der Glaube ein. —
In der Kr. d. U. findet M. den Höhepunkt der Kantischen Philo-
sophie der Geschichte, wie er denn überhaupt der Meinung ist, dass
bei K. auch auf diesem Gebiete mehrere Perioden zu unterscheiden
sind, in denen jener verschiedene und einander widersprechende An-
sichten geäussert hat, während m. £. Kants System seit 1781 im
grossen Ganzen einheitlich feststeht. Weshalb aber preist denn Verf.
gerade die Kr. d. U.? Hören wir ihn selbst: „Indem K. dort be-
tonte, dass nur der Mensch insofern ein Recht darauf habe, als Zweck
der Natur angesehen zu werden, als er sich selbst in freier (von der
Natur unabhängiger) Zwecksetzung betätige, und indem er zugleich
erklärte, dass solche freie Zwecksetzung . . . vom Menschen zwar (wegen
seiner Vemunftfähigkeit) gefordert, nicht aber mit Gewissheit erwartet
werden könne, erkannte er zugleich an, dass die Autonomie
nicht eine Eigenschaft jedes beliebigen Individuums ist...
Für den individuellen Menschen ist die Autonomie nicht Eigenschaft,
sondern Aufgabe. Die Freiheit und das Leben wollen verdient sein.
Von da aus wäre nun ein leichter Übergang zu einer Geschichts-
philosophie wie etwa derjenigen Carlyles . . . Geht man vom Be-
griffe der Autonomie aus, so lehrt die flüchtigste Orientierung an
den historischen und anthropologischen Tatsachen, dass die Men-
schen in sittlicher Beziehung nicht gleich sind; und sind
sie es nicht in sittlicher, so sind sie es auch nicht in
rechtlicher.* (S. 77 f).
So hätte denn der Verf. — hoffentlich ohne es zu merken —
die Grundlage von Recht und Gerechtigkeit, die herzustellen Kants
Haupt -Lebenswerk war, von Grund aus zerstört. Wie kommt er
aber dazu? Er verwechselt die ethische und die psychologische
Frage. Gewiss, in manchen Individuen wilder Volksstämme mag sich,
ebenso wie in jedem Kinde bis zu einem gewissen Alter, noch nichts
von einem Bewusstsein irgend eines Sittengesetzes, irgend einer Unter-
scheidung von gut und böse, von Recht und Unrecht regen. Es soll
erst zur Autonomie gelangen. Aber was geht uns das hier an! In
jedem Menschen, auch im Hottentotten, ist die Anlage dazu vor-
handen. Dieser Anlage wegen, — von der es, nebenbei bemerkt,
sehr zweifelhaft ist, ob sie bei manchem hochgebildeten Menschen
der kultiviertesten Völker nicht weit weniger entwickelt ist als bei
vielen Botokuden oder Hottentotten — habe ich jeden zurechnungs-
fähigen Menschen nie bloss als Mittel, sondern immer zugleich als
Zweck zu betrachten. Freilich zu der von M. gepriesenen Geschichts-
philosophie Carlyles, die in brutaler Weise das Recht und die mit
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FRITZ MEDICUS. HEINRICH ROMUND, 8l
Erfolg gekrönte Macht identifiziert (vgl. Hensel: Thomas Carlyle,
Kap. 6), kann man dann nicht kommen. Man versteht dann aber
Kants „Gegnerschaft gegen die Kolonialpolitik der handeltreibenden
Staaten, die sich nicht damit genügen lassen, fremde Länder zu be-
suchen, sondern diese auch erobern wollen**, man begreift dann
Kants Forderung der Abschaffung stehender Heere, seine voraus-
sichtliche Missbilligung der schlesischen Kriege Friedrichs II. und der
Teilung Polens und braucht ihm nicht „den feineren Sinn für die
Würdigung historischer Dinge abzusprechen''. (Med. S. 76.) Auch
seinen Kosmopolitismus wird man dann anders beurteilen, als der
Verf. es tut, ja man wird dann überhaupt Kants Philosophie mit
grösserer Achtung und Anerkennung behandeln; denn im allgemeinen
hat doch Fichte recht mit seiner Ansicht: die Menschen würden schon
eine bessere Philosophie haben, wenn sie nur selbst besser wären. —
Königsberg i. Pr. Otto SohöndörlTer.
Dr. Heinrich Rohundt: Kants philosophische Religionslehre,
eine Frucht der gesamten Vernunftkritik. — Gotha, Thiemmann.
1900. 96 S. 2Mk.
In der Einleitung betont der Verf. zunächst, dass der „Neu-
kantianismus'', als dessen „Begründer und zugleich Hauptvertreter*
er, in merkwürdiger Zusammenstellung und Auswahl, Frdr. Alb. Lange
und Frdr. Paulsen bezeichnet (S. 3), nur ein „Halbkantianismus* ist.
Denn Lange verwarf die ganze praktische Philosophie Kants, und
Paulsen andererseits hält sich gerade „an die von jenem verschmähte
und ausgeschiedene Hälfte" (S.4). Daher „ist der Neukantianismus
aller Richtungen bisher einfach in das alte leidige wüste Parteitreiben
vor der Kritik zurückgefallen". Demgegenüber musste also „der
Charakter der Kritik als eines Gerichtshofes von neuem mit Nach-
druck geltend gemacht werden".
Ausser dem schiedsrichterlichen Charakter ist ferner — nach
des Verf. Meinung, der ich mich nur sehr im allgemeinen anschliessen
kann — allen drei Kritiken der Umstand gemeinsam, dass sie sich
darauf beschränken, „Baumaterialien für ein zu errichtendes dauern-
des Gebäude der Philosophie zu prüfen und darauf verzichten, schon
selber den Bau in Angriff zu nehmen" (S. 5). Wesentlich anders
steht es in dieser Beziehung mit der Religion innerhalb d. Gr. d. bL V.
Schon der Titel lässt darauf schliessen. Sie ist bereits „ein Ergebnis
aus der Anwendung der dort gewonnenen Mittel und Werkzeuge
zum Bauen selbst. Sie ist eine Frucht der Vernunftkritik" (S. 6).
Das aber ist bisher nicht genügend beachtet, dieses Kantische Werk
Zeitschrift f. Philos u. philosoph. Kritik Bd. ia6 6
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02 REZENSIONEN.
ist überhaupt noch lange nicht genug anerkannt. (Auch von Ritschl
nicht?) Scheint doch z. B. Schopenhauer die Kantische Religions-
lehre unbekannt (?) geblieben zu sein (S. 6). Auch ist es meistens
falsch verstanden. Deshalb „ dürfen wir Nachlebende", so meint der
Verf. (S. II), „uns der Pflicht nicht entziehen, in betreff der wirklich
vorhandenen Mängel, Unklarheiten und Zweideutigkeiten, der Dar-
stellung in der Religionslehre alles Mögliche zu tun, um dieses Werk
zu einem in Sturm und Wogendrang der Zeiten standhaltenden und
ausdauernden Felsen zu gestalten, der an seinem Teil als eine Statte
der Zuflucht, Aufklärung und Stärkung nach Möglichkeit den höchsten
Zwecken unseres Geschlechts und der Welt diene''.
Demgemäss gibt der Verf. in zwei Teilen die Hauptgedanken
der beiden ersten Stücke von Kants Religion i. d. Gr. wieder. Eine
zweite Schrift soll die beiden andern Stücke behandeln. Er betont
dabei stets gehörigen Orts, wie sich Kants hier ausgesprochene An-
sichten auf die in den Kritiken gewonnenen Resultate stützen und
sucht seine Ausführungen durch Hinweise auf die Gedanken anderer
Forscher, Philosophen, Theologen und Dichter wie Peschel, Haeckel,
Nietzsche, Harnack, Döllinger, Uhlhorn, Pelagius, Augustin,
Äthan Asius, Arius, Ibsen dem Leser näher zu bringen und mit ihm
geläufigeren Anschauungen zu verknüpfen. Wohltuend berührt da-
bei in dem ganzen Schriftchen die Wärme und Begeisterung, mit der
der Verf. für Kants Lehre eintritt. Ob ihm aber seine Absicht ge-
lungen ist, Kants Schrift den Philosophen sowohl wie einem grösseren
Publikum vertrauter und verständlicher zu machen, ist mir doch
zweifelhaft. Dazu ist der Gedankengang m. E. nicht klar und ein-
fach genug; auch ist der Zusammenhang nicht immer durchsichtig und
die Ausdrucksweise nicht ansprechend. Ein Beispiel möge genügen:
S. i8 sagt der Verf. von der Anlage des Menschen zur Persönlichkeit:
„Es ist ein Keim zum Übermenschen, zwischen dem und dem Tiere
der Mensch als ein Seil geknüpft ist, damit wir uns eines neueren
phantastischen Ausdrucks für diese höchste Anlage in der mensch-
lichen Natur bedienen. Denn (?) allerdings hebt sich Kants Lehre
sowohl der Gestalt wie dem Gehalte nach von jener modernen zwar
funkelnden, aber auch bisweilen ein klein wenig flunkernden Dichtung
wie nüchterne ernste Prosa ab.''
Königsberg i. Pr. Otto Sohöndörffer.
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WOLLNY: MATERIALISMUS USfV. NAIURWISSENSCHAFT USIV, 83
Dr. F. Wollny: Der Materialismus im Verhältnis zu Religion und
Moral. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Leipzig, Theodor
Thomas. 1902. Vn und 76 S. Gr. 8. Preis 1,50 Mk.
Dr. F. Wollny: Naturwissenschaft und Occultismus. Berlin, Her-
mann Walther. 1902. 32 S.
Die erste Auflage der erstgenannten Schrift ist 1885 erschienen.
Der Verf. unternimmt den Nachweis, dass der Materialismus, d. h. ftlr
ihn eine Weltauffassung, welche die Materie ,, allerdings nicht ohne
die zu ihr gehörigen und ihr innewohnenden Kräfte, aber als ein
seiner selbst sich noch nicht bewusstes Sein gedacht** als das Ur-
sprüngliche und das Bewusstsein als das Sekundäre erachtet, einzig
berechtigt ist, dass für eine auf die Existenz einer wie immer ge-
arteten Gottheit gegründete Religion logischerweise kein Platz ist und
dass gerade der Materialismus als Grundlage einer der Selbstbehaup-
tung des Individuums und der Wohlfahrt der Gemeinschaft an-
gemessenen Moral gelten könne und solle. Die Ausstattung der
Materie mit Kräften, wie der Verf. sie annimmt, bedeutet aber be-
reits eine Abweichung von dem reinen, herkömmlichen Materialismus,
fOr den die Änderung der räumlich -zeitlichen Beziehungen elemen-
tarer Körper ausschliessliche Erklärung ^les Seienden ist. Einiger-
massen ausreichende Erörterungen über das von ihm behauptete Zu-
sammensein von Materie und Kraft, über die Eigentümlichkeiten beider
und über seine Erkenntnistheorie gibt der Verf. indes nicht, so dass
in dieser Hinsicht die Leistung philosophisch ziemlich, wertlos ist.
Grössere Beachtung verdient, in Anbetracht weitverbreiteter Vorurteile,
des Verf. 's freilich auch nur teilweise zwingende und allzuhäufig sich
auf blosse Thesen beschränkende Beweisführung, dass der theoretische
Materialismus mit dem praktischen Idealismus verträglich ist. Das
praktische Ideal ist „Abstraktion*, „auf deren Bildung der mensch-
liche Verstand mit Notwendigkeit geführt wird, die aber diejenigen,
welche sie [die idealen Vorstellungen von der Menschheit] bei sich
hegen, nicht vergessen lassen dürfen, dass jeder Mensch von Natur
von den Mängeln an sich aufzuweisen hat, welche der Verwirklichung
des Ideals widerstreben, dass es demselben sie nur zum Teil an sich
zu überwinden vergönnt ist, und dass nur, wenn letzteres dem ganzen
Geschlecht, d. h. jedem Einzelnen in ihm vollständig gelänge, das
Ideal in das Leben übertragen werden könnte". Das praktische Ver-
balten und seine bewussten Normen haben sich nach dem Verf. in
der Richtung der ursprünglichen Triebe und der Verwirklichung
des dauernd Angenehmen und Wohltätigen zu bewegen. — Manches
Einzelne ist treulich, und als Beitrag zu einer Wissenschaft von der
Sitte hochzuschätzen.
6*
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84 REZENSIONEN.
Der Titel der zweiten Schrift führt leicht irre. Für den Verf.
deckt sich Occultismus so ziemlich mit Somnambulismus , und dieser
wiederum ist ihm Äusserung des animalischen Magnetismus, der als
eigentlicher Faktor der Geschlechtsliebe anerkannt wird. „Natur-
wissenschaft spielt in der Schrift nur insofern eine Rolle, als „über-
natürliche'' Gründe und Ursachen zur Erklärung des Somnambulismus
(Hypnose, Suggestion usw. sind in diesen Begriff eingeschlossen) aus-
geschlossen sein sollen; methodologische Erörterungen etwa in der
Hinsicht, dass die bisher occulten und als den übrigen heterogen
erklärten Erscheinungen überhaupt oder in dieser und jener Weise
wissenschaftlich bearbeitet werden müssen, kommen dem Verf. nicht
in den Sinn. Telepathische Verbindungen sind als Produkt allmählicher
Lockerung sexueller Beziehungen und „auf Grund der Wahlverwandt^
Schaft der einzelnen menschlichen Individualitäten" und einer voran-
gegangenen gleichartigen Entwickelung nach dem Verf. „leicht be-
greiflich*.
Chp. D. Pflaum.
Dr. Joseph Geyser, Privatdozent an der Universität Bonn: Grundlegung
der empirischen Psychologie. Bonn, P. Hanstein. 1902. VIu.a4oS.
Der Verf. zeigt zwar, dass er in München Psychologie gelernt
hat und dass er in psychologischer Literatur vieles gelesen hat. Die
Art aber, wie er das Gelernte reproduziert und verwertet, zeugt von
einem auffälligen Mangel geistiger Reife. Man lese Sätze wie die
folgenden. S. 9: „Aus den Empfindungen werden Vorstellungen, aus
beiden Begriffe. Darum liegt namentlich in den Begriffen und Ur-
teilen die gedankliche Verarbeitung der Erfahrungen vor.** S. 25:
„Diesem Einwand gegenüber negieren wir, dass die ... Begriffs-
bildung der Wissenschaft von der Erfahrungswirklichkeit unabhängig
sei; denn die gegenteilige Anschauung ist der mit Recht so verpönte
Ontologismus.*^ Man könnte hier blosse Flüchtigkeit des Ausdrucks
vermuten; aber mit der Folgerichtigkeit der grösseren Gedankengänge
ist es nicht viel besser bestellt. Man vergleiche folgende Stellen.
Auf S. 7 meint der Verf., der Begriff der Empfindung (im Sinne des
erlebten Inhaltes) sei auch auf Affekte (Fühlen und Streben) aus-
zudehnen; S. 152 dagegen lehrt er: „würde man . . . versuchen.
Fühlen und Wollen in Vorstellungs- und Empfindungsinhalte zu ver-
wandeln, so nehme man ihnen gerade das, worin ihr spezifischer,
lebenswahrer Sinn und Inhalt besteht* — S. 56 konstatiert der Verf.,
dass er zwischen dem Erlebnis einer Farbe und dem eines Tones
beim besten Willen keine anderen Unterschiede empfinden kann, als
solche des Objekts (Farbe und Ton) selbst; S. 150 sagt er genau
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JOSEPH GEYSER. ALFRED KLAAR. 85
das Gegenteil, nämlich dass wir auch von den Beziehungen des Sub-
jekts zu seinen Bewusstseinsinhalteu unmittelbare Kenntnis besitzen,
indem diese Beziehungen bei verschiedenen Inhalten wie Farben und
Tönen als verschieden, in Form einer verschiedenen „Tönung* des
Erlebens, unmittelbar erfahren werden. — Neben solchen Wider-
sprüchen und einer Menge teils unklarer, teils unbewiesener, teils
wieder völlig trivialer Behauptungen findet sich freilich auch manches
Zutreffende. Mehrfach aber erhält dabei der Leser den Eindruck, als
handle es sich um eigene Gedanken des Verfassers, während tat-
sächlich Entlehnung vorliegt. Man lese etwa, wie auf S. 72 der Be-
griff des „intentionalen" eingeführt wird.
München. H. Cornelius.
Alfred Klaar: Wir und die Humanität. Gedankengänge und An-
regungen. (Kulturprobleme der Gegenwart, herausgegeben von Leo Berg,
Bd. III.) Berlin, 1902. Johannes Rade. 229 S. Preis 2,50 Mk.
Die elf Aufsätze über Fragen der Kultur und der sozialen Ethik,
die dieses Buch enthält, treten nicht mit höheren wissenschaftlichen
Ansprüchen auf. Das Ganze hat den Namen des ersten und längsten
Aufsatzes erhalten. Der Verfasser stellt keineswegs, wie jemand viel-
leicht zunächst befürchten könnte, j^uns" und die Humanität in einen
feindlichen Gegensatz zueinander, sondern verteidigt im Gegenteil mit
grosser Wärme die Humanitätsidee. Er feiert das achtzehnte Jahr-
hundert als das ,, ideal -humanitäre* und sieht in dem Wiederaufleben
des Humanitätsgedankens „die späteste und höchste Errungenschaft
des neunzehnten Jahrhunderts**. Er hoflfl zuversichtlich, dass unsere
Zeit mit immer grösserer Kraft und Einsicht auf die Verwirklichung
einer wahrhaft humanen Gesellschaftsordnung arbeiten wird. Ver-
hältnismässig ausführlich beschäftigt er sich mit dem Problem, in
welcher Form das „Recht auf Arbeit** und die Fürsorge für die
Arbeitsunfähigen durchgeführt werden sollen (S. 35 — 60). Verdienst-
lich ist der Nachweis, dass aus den Prinzipien Ad. Smiths und Dar-
wins keineswegs folgt, wie einige allzu eifrige Nachfolger geschlossen
haben, dass die mächtigen und wohltätigen Wirkungen des freien
Wettbewerbs notwendig alle Mitwirkung von Kräften anderer Art
ausschliessen müssten, — woraus sie die Verwerflichkeit aller
Wohltätigkeit und die Vergeblichkeit der ethischen Bestrebungen
gefolgert und . so eine brutale Krafttheorie konstruiert haben.
In dem Aufsatze „Prüfung oder Erprobung** kämpft der Verf.
für die Humanisierung des Unterrichts und gegen „unser von jedem
Hauch des Fortschritts unberührtes Prüfungswesen*, das seiner An-
sicht nach die Schüler nervös, traurig und lebensmüde macht. „Der
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86 REZENSIONEN.
FaustschOler der Gegenwart" und andere Aufsätze behandeln in an-
regender, obwohl nicht eben tief philosophischer Weise das für unsere
Zeit so brennende Bedürfnis einer einheitlichen wisssenchaftlichen Ge-
samtanschauung und die grossen Schwierigkeiten, mit denen der
Forscher und der Studierende in seinem Streben nach einer solchen
gegenwärtig zu ringen hat. Eine Abhandlung erörtert „Nietzsche
und die Nietzscheaner**. Kl aar betrachtet Nietzsche selbst als eine
,, tiefernste Erscheinung '', die mit einer gewissen Notwendigkeit aus
der geistigen Lage unserer Zeit hervorging, und findet in seiner
Lehre des rücksichtslosen Egoismus einen „stark verhüllten und den-
noch nachweisbaren altruistischen Beisatz", während er dagegen über
die Nietzscheaner im allgemeinen scharf urteilt. Kurze Skizzen tragen
die Aufschriften: „Die Früchte der Bildung", geschrieben aus Anlass
der Tolstoischen Komödie desselben Namens, „Die Furcht vor dem
Banalen" usw.
Mit Freude begrüssen wir in dem Verfasser einen rüstigen und
einsichtsvollen Vorkämpfer für die alten, ewig bleibenden ethischen
und sozialen Ideale der edlen, milden Menschlichkeit und für das
Streben, das Leben der weitesten Kreise menschenwürdig zu ge-
stalten.
Hclsingfors. Arvld Grotenfelt.
A. KOhtmann: Maine de Siran. — Ein Beitrag zur Geschichte der Meta-
physik und der Psychologie des Willens. Bremen, 1901. VIII u. 195 S. 8*.
Die gründliche Arbeit K/s hat, soviel ich sehe, bisher nicht die
Beachtung gefunden, die sie verdient. Auch der Ref. muss leider
schuldbewusst bekennen, dass er sie zwar gleich nach Erscheinen
mit Interesse gelesen, aber die Pflicht über sie zu berichten aus ver«
schiedenen Gründen mehrere Jahre vernachlässigt hat. Das Ver-
säumte werde jetzt nach Möglichkeit nachgeholt.
Der Umstand, dass M. de Biran in Deutschland wenig bekannt
geworden ist (nur von Schopenhauer wird er mehrfach mit Beifall
zitiert), würde an sich nicht genügen, sich eingehender mit ihm zu
beschäftigen und auf eine ihn behandelnde Schrift die Aufmerksam-
keit zu lenken, wenn wir ihn lediglich als Zeugen einer abgestorbenen
Vergangenheit zu betrachten hätten. Aber ich stimme mit dem Verf.
darin überein, dass die Vertiefung in die Ideengänge des stillen Den-
kers aus der Dordogne auch heute noch anregend und fördernd ist,
weil seine Probleme im wesentlichen auch die unsrigen sind, und sein
Lösungsversuch als vorbildlich für eine in der Gegenwart verbreitete
Richtung des philosophischen Denkens gelten kann. Birans Arbeit
knüpft an die von Condu^lac und Hume an. Er fand die Psychologie
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KÜHTMANN: MAINE DE B2RAN. 87
unter der Herrschaft des Sensualismus, die Erkenntnistheorie unter
der des Empirismus, die Metaphysik unter derjenigen des Phftnome-
nalismus, und seine Bemühungen waren darauf gerichtet, diese unter-
einander eng verbimdenen Anschauungsweisen, deren Unzulänglich-
keit er lebhaft fühlte, durch tieferes Eindringen in die letzten Be-
dingungen des Vorstellens und Erkennens zu überwinden. In dem
Kampfe gegen den Empirismus berührt er sich nahe mit Kant, zu
dem ich ihn vor einer Reihe von Jahren in Parallele gestellt habe,^)
in dem Streben nach neuer Begründung der Metaphysik mit den
spekulativen Idealisten, positiv beeinflusst wurde er aber weder durch
jenen, dessen Schriften er kannte, noch durch die letzteren, von denen
er nur mittelbar Kenntnis hat. Das Eigentümliche seines Versuches
liegt, im Gegensatze zu Kant, gerade darin, dass er die von ihm
bekämpften Denkrichtungen auf Grund ihrer eigenen Voraussetzungen
zu widerlegen sucht. Er hält an der Erfahrung als der einzigen Er-
kenntnisquelle fest, glaubt aber im Bereiche des inneren Sinnes eine
Tatsache aufzeigen zu können, in der sich ein von der Empfindung
unabhängiges psychisches Prinzip offenbart, und die gleichzeitig einen
Zugang von den Erscheinungen zum Ding an sich eröffnet. Diese
Tatsache, das fait primitiv du sens intime ist der effort voulu, das
Tätigkeitsbewusstsein, welches als solches die beiden Glieder der
Anstrengung und des Widerstandes einschliesst. Der Analyse dieses
Tatbestandes ist die Hauptarbeit B.'s gewidmet. Die umfangreichen
zum Teil erst lange nach dem Tode des Autors veröffentlichten Manu-
skripte lassen erkennen, wie er in immer wiederholten Anläufen sich
bemüht, die Aussage des unmittelbaren Bewusstseins auf klare Be-
griffe zu bringen, andere mehr skizzenhaft gebliebene Entwürfe be-
zwecken den systematischen Aufbau der Psychologie und Metaphysik.
Man sieht hieraus, wie vielfach sich der Gedankenkreis des Philo-
sophen mit brennenden Fragen der heutigen Wissenschaft berührt.
Die Ansicht der französischen Ideologen, denen auch B. zuzurechnen
ist, dass Psychologie und Anthropologie die Grundlage für alle an-
deren philosophischen Disziplinen zu bilden hätten, zählt auch heute
wieder viele Anhänger; die Naturphilosophie und Erkenntnistheorie
haben ein lebhaftes Interesse festzustellen, ob und in welchem Sinne
der Kraft- bezw. der Kausalbegriff in der inneren Erfahrung gegeben
ist; in der Psychologie wird die Frage nach der Art des Zusammen-
hangs zwischen innerem Willensvorgang und äusserer Handlung aufs
lebhafteste erörtert, und der Neusensualismus liegt in heftigem Kampfe
mit der voluntaristischen Psychologie, die den Begriff der psychischen
') Philosophische Monatshefte, Bd. 25.
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88 REZENSIONEN.
Tätigkeit nicht entbehren zu können glaubt. Alle diese Probleme
werden aber auch von Biran erörtert, und Küthmann hat sich in
seiner Darstellung bemüht, diese Beziehungen zur philosophischen
Arbeit der Gegenwart überall klar hervortreten zu lassen.
Er behandelt B. als den ersten Vertreter einer ausgesprochenen
„Willensphilosophie** und beginnt (S. 9 — 15) mit einer kurzen Dar-
legung des Willensproblems und seiner Beziehungen zur Erkenntnis-
theorie, Psychologie, Metaphysik und Ethik. Nachdem er sodann die
Lehre CoNDa.LACS in den Grundzügen vorgeführt hat, geht der Verf.
dazu über, uns mit den kritischen Einwänden B.'s gegen diese und
mit seinem zentralen Begriffe des effort bekannt zu machen. Ein
weiteres Kapitel behandelt ,,die geschichtlichen Anknüpfungspunkte
der Theorie des effort" von Descartes bis Fichte, das folgende
deren Ausgestaltung in Psychologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik.
Die nächsten Abschnitte bieten eine ziemlich umfangreiche Biographie
des Philosophen und eine Obersicht der wichtigsten französischen
Literatur über ihn, endlich einen Ausblick auf die weitere Entwicke-
lung des Voluntarismus in der englischen und deutschen Philosophie
des neunzehnten Jahrhunderts bei Bain, Spencer, Schopenhauer und
WuNDT mit besonderer Rücksicht darauf, wie weit durch diese Denker
die Grundanschauungen B.*s ihre Bestätigung oder Widerlegung ge-
funden haben. Zum Schlüsse sucht der Verf. ein abschliessei^des
Urteil über die Leistungen B.'s zu bilden und seinen eigenen „philo-
sophischen Horizont' ' in grossen Zügen zu umgrenzen. Es lässt sich
an dem Buche K.^s gewiss im einzelnen mancherlei aussetzen; ins-
besondere scheint mir die Disposition keine ganz glückliche zu sein.
Die Literaturübersicht hätte wohl besser ganz am Anfang oder am
Ende Platz gefunden, die Biographie unmittelbar nach dem Kapitel
über CoNDiLLAc; diese Bedenken treten aber zurück gegenüber der
Fülle des sachlichen Gehalts. Indem der Verf. neben Biran auch
seine Zeitgenossen Cabanis, Bonnet, Destut de Tracy, Ampere,
Laromiguiere u. a. mit in den Kreis der Darstellung zieht, eröffnet
er uns einen Einblick in die Bestrebungen einer Gruppe von Denkern,
die gegenüber den Encyklopädisten und Materialisten in ihrer Eigen-
art zu wenig gewürdigt worden sind. Seine eingehende kritische
Analyse des von B. aufgestellten voluntaristischen Systems wird allen,
die sich als Erkenntnistheoretiker, Psychologen oder Metaphysiker
mit dem Willensproblem befassen, mannigfache Anregung gewähren.
Sondershausen. Dr. E* Könige.
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SCHILLERS PHILOSOPHISCHE SCHRIFTEN USW. 89
Schillers philosophische Schriften und Gedichte (Auswahl). Zur Einfüh-
rung in seine Weltanschauung. Mit ausführlicher Einleitung herausgegeben
von Eugen Kühnehann. Leipzig 1902. Verlag der Dürrschen Buchhand-
lung (Philosophische Bibliothek Bd. 103). 327 S.
Die Auswahl gibt, da sie hauptsächlich dem propädeutischen
Unterricht in der Ober-Prima und dem Lehrerseminar, dann auch dem
weiten Kreise der Gebildeten dienen will, „Über Anmut und Würde",
i^Ober die ästhetische Erziehung des Menschen* Brief i — 9, „Über
das Erhabene'' und „Über naive und sentamentalische Dichtung*;
an Gedichten aus Raumrücksichten nur das ,^Ideal und das Leben*
und „Votivtafebi*.
Die Einleitung, S. 5 — 94, ergänzt die Lücken der Auswahl durch
eine sorgfältige Entwickelung der Schillerschen Grundbegriffe. Sie
gibt jedem Gebildeten die Handhabe, sich eine wahre philosophische
Bildung anzueignen, wie sie nach dem Urteil des Verf.s niemand
besser mitzuteilen vermag als Schu^ler. Diesen unvergleichlichen
pädagogischen Wert seiner Philosophie begründet V. im ersten Ab-
schnitt seiner Einleitung S. 5 — 11. Nur von einem Meister schöpfe-
rischen Denkens könne man wahrhaft Philosophie erlernen, Schiller
aber zeige seine Meisterschaft nicht nur durch die von Kant erlernte
Tiefe systematischen Denkens, sondern auch durch die künstlerische
Gestaltung, die seine Gedanken als eigenste, fruchtbarste Erlebnisse
annähmen. Zudem führt er uns am besten ein in die klassische
Welt des deutschen Idealismus. — Ein 2. Abschnitt „Über den Grund
des Vergnügens an tragischen Gegenständen und über die tragische
Kunst* S. II — 15 beginnt damit, uns die Entwickelung des noch un-
fertigen kantischen Schülers zu zeigen. Der 3. Abschnitt „Die Be-
gründung des eigenen Standpunktes* S. 15 — 39 zeigt, wie Schiller
seine eigene Philosophie in der kantischen Welt findet. Zunächst
wird daher in lichtvoller Übersicht die Tat Kants in ihrer welt-
umbildenden Bedeutung dargelegt, vornehmlich als des Begründers
der idealistischen Weltansicht, der dank der neuen Wendung seiner
Methode den Idealismus schon in der theoretischen Philosophie zur
Geltung gebracht, in der praktischen aber erst zum Siege geführt
habe über den Naturalismus, insbesondere aber als des Begründers
einer selbständigen Ästhetik, indem er, auch hier auf die Urteilsweise
zurückgehend, den fundamentalen Unterschied des ästhetischen Ver-
haltens gegenüber dem wissenschaftlichen wie dem sittlichen erkennt:
es ist kein objektives Prinzip des ästhetischen Urteils möglich. Hier
findet V. den Übergang zu Schillers Begründung des eigenen
Standpunktes in den 4 grossen Briefen an Körner vom Februar 1793.
Mit grosser Sicherheit wird das Verhältnis zu Kant bestimmt: Schiller
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go REZENSIONEN,
findet zwar nicht das unmögliche objektive Prinzip des Geschmacks,
aber doch durch seinen Satz: „ Schönheit ist Freiheit in der Erschei-
nung", das allgemeine ästhetische Formgesetz und damit den Über-
gang zu den ästhetischen Objekten. — Auch im Verhältnis Schillers
zur Ethik Kants, das V. im 4. Abschnitt S. 39 — 57 ,,Über Anmut
und Würde* zeichnet, könne von keinem Widerspruch die Rede
sein, auch hier spricht er nur die geheimsten Intentionen Kants aus.
Dem Grundgedanken Kants von der Freiheit, der Selbstbestimmung
des Menschen aus blosser Vernunft, gibt er nur eine andere Färbung;
und doch zeigt Kühnemann, wie gerade in dieser Nuance, der ästhetischen
Erweiterung des Ideals vollendeter sittlicher Kultur, die eigentümliche
Weltanschauung Schujlers mit der schon in seiner Menschheitsidee
begründeten engen Verbindung der ästhetischen und ethischen Inter-
essen bei voller Anerkennung der Selbständigkeit beider Prinzipien
zum Durchbruch kommt. Im Anschluss daran skizziert V. „Die ästhe*
tische Weltanschauung Schillers" S. 52 — 57, in welcher das „Schöne*
und das „Erhabene'' die beiden notwendigen Ausdrucksformen der
vollendeten Menschheit bilden.
„Die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen"
(Abschnitt 5, S. 57 — 74) eröffnen erst ganz „das reizvolle Schauspiel"
des Hervorblühens einer sinnvollen Lebensanschauung aus wenigen
Grundbegriffen, aus der einen Grundidee der ebenso notwendig ästhe-
tischen wie moralischen Menschheit. Die ganze Tiefe der Schillerschen
Deduktion aus diesem einen Punkte kann wohl nicht klarer dargestellt
werden als V. getan hat. Die ästhetische Kultur in ihrer Unent-
behrlichkeit für Bildung und Erziehung des Einzelnen wie der Gesamt-
heit ist die Grundfrage der Briefe, die nach allen Seiten in tiefer
philosophischer Begründung gewandt und beleuchtet wird. V. be-
wundert die Briefe als ein „Meisterstück echt idealistischen Philo-
sophierens", darauf gerichtet, das Leben in seinen Aufgaben und
Motiven ästhetisch zu bereifen und ihm im Hinblick auf das Kultur-
ideal der ästhetisch sich darstellenden Menschheit einen neuen Adel
zu verleihen; die kleine Abhandlung „Über das Erhabene" aber (Ab-
schnitt 6, S. 74 — 78), welches die ästhetische Erziehung des Menschen
vollendet, rühmt V. als vollendetes Kunstwerk wegen der vollkom-
menen Einheit des allgemeinen philos. Gedankens und des einzigen
heroisch gestimmten Menschen.
Der gedankenreiche 7. Abschnitt „Ober naive und sentimen-
talische Dichtung" S. 78—91, wo Schiller zum erstenmal auch für
die Dichtung wie bisher für die Kunst „ein zusammenhängendes Ver-
ständnis ihrer unverlierbaren und unentbehrlichen Bedeutung für die
Menschheit erreicht", wiederum vom klaren Kulturideal aus, erscheint
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SCHILLERS PHILOSOPHISCHE USW. KARL VORLÄNDER,
91
dem Verf. gleichfalls als vollwertiges Kunstwerk und ,,noch immer
als die hohe Schule literarischer Kritik und des praktischen Be-
greifens", wovon sich Rez. nur nicht zu überzeugen vermag, soweit
die Distinktion des Naiven und Sentimentalischen in Frage kommt,
wohl aber in bezug auf „die Idee grosser Poesie", die „Berichtigung
der üblichen Auffassungen von der Aufgabe der Poesie", und auf
die Unterscheidung von „Idealist und Realist". Eine ,, Kurze Über-
leitung zu den philosophischen Gedichten' ' bildet den Schluss der
Einleitung. S. 91 — 94.
£^ gibt ihr besonderen Reiz, dass Verf. mit seiner starken Per-
sönlichkeit ohne Einschränkung für die Lebensarbeit Schillers ein-
tritt, die ihr Werk noch nicht getan habe, für „alle die teuren,
Leben wirkenden Gedanken", die heute so fruchtbar und neu seien
wie je, ja wie der Gedanke der künstlerischen Durchbildung des
Menschen modemer als „am ersten Tag, da wir um die ästhe-
tische Ausgestaltung unseres Lebens uns leidenschaftlich und ein
wenig altklug bemühen, um uns recht als Menschen fühlen zu können".
— Ein sorgfältig ausgearbeitetes Sachregister S. 318 — 27 erhöht die
praktische Brauchbarkeit des gediegenen Buches.
Hildesheim. GoebeL
Karl Vorländer: Geschichte der Philosophie. I. Bd. Philosophie des
Altertums und des Mittelalters (X u. 292 S.) 2,50 Mk. II. Bd. Philosophie
der Neuzeit (VIII u. 539 S.). 3.60 Mk. Leipzig 1903, Verlag der Dürrschen
Buchhandlung (Philosophische Bibliothek Bd. 105 u. 106).
Vorländer bietet in seinem Werke in erster Linie ein höchst
schätzenswertes Hilfsmittel für den philosophischen Unter-
richt an der Hochschule. Es ist ja bekannt, dass von Studieren-
den noch heute vielfach das kleine Kompendium von Schwegler be-
nutzt wird, aber dieses ist doch etwas gar knapp und zudem vielfach
veraltet — ist ja doch die i. Auflage bereits 1848 erschienen — und
es hat auch in den späteren Auflagen wenig tiefgreifende Ände-
rungen erfahren. Das Bedürfnis nach einem solchen Hilfsbuch für
den Unterricht in der Geschichte der Philosophie ist aber zweifellos
vorhanden; wie ja schon die wiederholten Neuauflagen des Schwegler-
schen Buches beweisen. Es scheint mir in der Tat zunächst für
den Dozenten selbst wünschenswert zu sein, wenn er ein solches
Kompendium — freilich eines, das er mit gutem Gewissen empfehlen
kann — als im Besitz seiner Hörer befindlich voraussetzen kann.
Er darf sich dann die meisten Angaben über den Lebensgang der
einzelnen Philosophen und über die einschlägige Literatur ersparen,
er kann auch über ganze Partien in der Geschichte der Philosophie,
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92
REZENSIONEN.
die nur von allgemein kulturgeschichtlichem oder literarhistorischem
Gesichtspunkt grössere Bedeutung haben, rascher hinweggehen und
er kann so mehr Zeit gewinnen für die Darstellung der grossen
philosophischen Probleme und der Versuche sie zu lösen.
Er kann auch seinen mündlichen Vortrag freier gestalten, er braucht
sich nicht durch die Rücksicht auf das Nachschreiben der Hörer all-
zusehr hemmen zu lassen oder gar zum Diktieren zu greifen. Auch
für die Studierenden erwachsen aus dem Gebrauch eines geeigneten
Hilfsbuches mancherlei Vorteile. Sie können schon vorher den in
der nächsten Vorlesung zur Behandlung kommenden Abschnitt durch-
lesen: eine solche erstmalige Orientierung erleichtert, wie vom psycho-
logischen Standpunkte leicht zu verstehen ist, das Verständnis der
Vorlesung in hohem Grade; sie können ihr Nachschreiben auf solche
Punkte beschränken, in denen der Dozent etwa eine von der des
Buches abweichende Auffassung vertritt oder diesen oder jenen Gegen-
stand weiter ausführt. Sie können so im wesentlichen sich darauf
konzentrieren, dem Vortrag geistig zu folgen, ihn mit durchzudenken,
während bei dem gewöhnlichen hastigen Nachschreiben gar manches
Gehörte direkt in die Feder fliesst, ohne wirklich nach seiner Be-
deutung aufgefasst zu sein — und wie viel Irriges läuft dabei unter,
zumal bei Namen, Büchertiteln usw.!
Das Vorländersche Buch ist durchaus exakt und wissenschaftlich
zuverlässig gearbeitet, es steht völlig auf der Höhe der heutigen
Forschung und kann so den Studierenden als Hilfsbuch für den philo-
sophiegeschichtlichen Unterricht warm empfohlen werden.
Ob es auch für einen weiteren Kreis von Gebildeten zum
Selbststudium geeignet sei, wage ich nicht mit derselben Bestimmt-
heit zu behaupten. Für manchen Philosophen lässt sich, wie mir
scheint, ein wirkliches Verständnis durch eine Darstellung, die sich
immerhin in ziemlich engem Rahmen halten muss, überhaupt nicht
erzielen. Jedenfalls ist die Sprache des Buches fast durchweg von
erfreulicher Klarheit und Frische, auch ist der Verfasser trotz seines
neukantianischen Standpunktes ernstlich und mit Erfolg bemüht, mög-
lichst objektiv zu bleiben. Es dürfte übrigens in Erwägung zu
ziehen sein, ob nicht um des didaktischen Zweckes willen noch
häufigere beurteilende Bemerkungen angebracht wären. Auch
könnte bei einer Neubearbeitung vielleicht angestrebt werden, dass
die historische Darstellung noch mehr der systematischen vor-
arbeite, dass sich also noch schärfer — durch gegenseitige Hin-
weise und eine gewisse Obereinstimmung in der Darstellung — heraus-
hebe, welches die grossen durchgehenden Probleme auf den einzelnen
Gebieten der Philosophie sind, welche von den Lösungsversuchen
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VORLÄNDER: GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE, 93
derselben nur noch historische Bedeutung haben und welche Auf-
fassungen auch heute noch einander gegenüberstehen.
Was Auswahl und Anordnung des Stoffes und das Mass
der Literaturangaben betrifft, so glaube ich, dass der Verfasser
darin im allgemeinen das Richtige getroffen hat. Einige Wünsche,
die ich in dieser Beziehung auszusprechen hätte, sowie Bemerkungen
teils kritischer, teils charakterisierender Art hinsichtlich einzelner
Sätze oder Partien des Buches will ich hier zum Schlüsse zusammen-
stellen.
(Zu Bd. I. S. 19 u. 21.) Ich zweifle, ob der Zusammenhang
der milesischen Naturphilosophen mit der „positiven Wissenschaft^
(abgesehen von Anaximander) mit solcher Bestimmtheit behauptet
werden kann. Ihre wissenschaftlichen Sätze könnten auch mehr zu-
fällig übernommene Kenntisse sein.
(Zu Bd. I S. 25 ff.) Die pythagoreische Philosophie würde ich
schon aus didaktischen Gründen lieber unmittelbar vor Democrit und
den Sophisten behandelt sehen, da die Herauslösung des mathema-
tischen Elements eine höhere Abstraktionsfähigkeit zeigt, als wir bei
den anderen Philosophen der ersten Periode wahrnehmen: selbst die
Eleaten kommen ja von einer Gebundenheit an den sinnlichen Eindruck
nicht los. Chronologische Schwierigkeiten bestehen für diese Gruppierung
nicht, da die pythagoreische Lehre für uns im wesentlichen durch
Philolaos vertreten ist. Sollte übrigens nicht auch die Lehre von
den vier irdischen Elementen bei den Pythagoreern von Empedocles
erst übernommen sein?
(Zu I S. 32.) Ich halte es für psychologisch wahrscheinlicher,
dass bei Xenophanes seine religiös-philosophische Lehre der Aus-
gangspunkt für seine kühne Kritik des Volksglaubens war, als dass
seine Gottesauffassung aus seiner Kritik entsprungen wäre, wie Vor-
länder meint.
(Zu I S. 53 f.) V. bestreitet, dass man das System des Demo-
crit als Materialismus bezeichnen dürfe. Ich glaube, hier muss
schärfer geschieden werden. In der Metaphysik ist Democrit
zweifellos Materialist, weil er die Materie als die einzige „eigentliche"
Wirklichkeit betrachtet. In seiner Erkenntnistheorie ist er allerdings
nicht Sensualist, aber er wäre wohl zutreffender als Rationalist zu
bezeichnen, denn als „kritischer Idealist**, wie V. es tut. Diese
letztere Benennung rückt ihn doch wohl allzu nahe an Kant heran
und lässt bei ihm ein klareres Bewusstsein seines tatsächlichen er-
kenntnistheoretischen Standpunkts annehmen als mit Sicherheit be-
wiesen werden kann.
(Zu I S. 85 ff.) In der Darstellung der Platonischen Ideenlehre
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94 REZENSIONEN.
ist ganz die von Cohen und Natorp vertretene Auffassung, dass die
Ideen „Denksetzungen**, ,,Methoden*, nicht ,,Dinge" seien, durch-
geführt. Daneben dOrfte wohl der Wert Charakter der Ideen noch
schärfer hervorzuheben sein.
(Zu I S. 107.) Die ,Idee des Guten** bei Plato dürfte mit
Natorp näher zu bestimmen sein als die Idee der Gesetzlichkeit über-
haupt, als die Bestimmung des Unbestimmten, die Einheit des prak-
tischen Bewusstseins.
(Zu I S. 116.) Dass V. die „Theologie** Platos absichtlich
ganz ausschliesst, möchte ich nicht ohne weiteres gutheissen, schon im
Hinblick auf das Vorwalten des Theologischen bei den Neuplatonikern.
(Zu I S. 136 ff.) Genauere Angaben über die Lehre des Aristo-
teles von der Sinnesempfindung und von der Willensfreiheit
wären doch wohl wünschenswert In der Ethik des Aristoteles
müsste hervorgehoben werden, dass das höchste Gut für ihn zu er-
reichen ist durch die spezifische Art der Betätigung der Men-
schen, auf die er gerade seiner Natur nach angelegt ist, und dass
dies gerade die Vernunftbetätigimg ist d. h. „das theoretisch er-
kennende und danach handelnde Geistesleben des Denkers**, um mit
Siebeck (Aristoteles 2. A. S. 100) zu reden. Die Katharsis möchte
ich auch mit Siebeck (S. 119) lediglich als Läuterung der an sich
drückenden Affekte der Furcht und des Mitleids sehen, nicht auch als
eine Reinigung von diesen Affekten. Überhaupt dürfte bei einer Neu-
bearbeitung gerade für Aristoteles die stärkere Benutzung des
Siebeckschen Buches zu empfehlen sein.
Während bei Aristoteles mir eine ausführliche Behandlung
mehrfach angebracht erscheint, dürfte wohl die Darstellung der Philo-
sophie im römischen Weltreich in den §§ 44 — 48 ohne Schaden
manche Kürzungen erfahren können, dagegen scheint mir bei Plotin
die Herausarbeitung der Begriffe „Bewusstsein^ und „Selbstbewusst-
sein** erwähnenswert.
(Zu I S. 209 f.) Aus der Darstellung des Gnostizismus kann
wohl manches lediglich Theologische ausgeschieden werden.
(Zu I S. 214 f.) Vielleicht könnten die ältesten Kirchenväter
geradezu nach ihrer feindlichen oder freundlichen Stellung zur antiken
Philosophie und Bildung gruppiert werden.
(Zu I S. 229.) Hier ist der Ausdruck „triumphierende** Kirche
nicht dem katholischen Sprachgebrauch entsprechend angewandt, da
er hierin lediglich die Seligen im Himmel bedeutet.
(Zu II S. 32.) Bei BoDiN und Althus wäre doch wohl zu er-
wähnen, dass der Begriff des „Naturrechts** auch der scholastischen
Philosophie geläufig ist.
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KARL VORLÄNDER. LUDW. WOLTMANN,
95
(Zu II S. 40 ff.) Mit Recht wird hier Gaulei als der ^eigent-
liche Begründer oder doch Wegbahner der neueren Philosophie'' an
die Stelle Bacos gesetzt.
(Zu II S. 214 ff.) Dass die Darstellung der Kantischen Philo-
sophie trefflich gelungen ist, war bei VorlAnders eingehender Be-
schäftigung mit Kant zu erwarten, bei der grossen Bedeutung die
aber gerade Kant für den heutigen philosophischen Hochschulunter-
richt hat, liegt darin ein besonders wertvoller Vorzug seines Buches.
Einen gleichen möchte ich finden in der ausführlichen Dar-
stellung der Philosophie der Gegenwart Denn gerade für
den philosophisch interessierten Studenten ist es doch ein begreif-
liches Bedürfnis, sich zunächst einmal hierüber zu orientieren. —
Einige nähere literarische Angaben über den Neuthomismus, als
S. 434 bietet, wären doch wohl erwünscht. Auch H. MOnsterbergs
Grundzüge der Psychologie (Leipzig 1900) sollten nicht fehlen. Er
ist übrigens kein Vertreter des „Psychologismus^, wie es nach S. 514
scheinen kann, sondern gerade einer seiner Gegner.
Gicssen. AufiTUBt Messer.
LuDW. Woltmann: Politische Anthropologie. Eine Untersuchung
über den Einfluss der Deszendenztheorie auf die Lehre von der poli-
tischen Entwickelung der Völker. Eisenach und Leipzig, 1903. 326 S.
Preis 6 Mk.
Dieser Einfluss „zeigt sich einerseits in der evolutionistischen
Auffassung der Familienformen, der Stände und Staaten, andererseits
in dem Nachweis, dass der Entwickelungsprozess der sozialen und
politischen Formationen ein biologischer Vorgang ist, der im Dienste
der physiologischen Zucht und intellektuellen Entfaltung des Menschen-
geschlechts steht" (S. 245). Nicht die soziologische (Ratzenhofer),
nicht die anthropogeographische (Ratzel), sondern die anthropolo-
gisch-biologische Staatsidee wird also vertreten. Diese wird allent-
halben beherrscht von den Gedanken der Vererbung, Anpassung,
Auslese (Lamarck, Darwin, Weismann), und findet ihren Kernpunkt
im Rassenproblem (Gobineau, G. Klemm, Reibmayr, Bagehot). Die
unter den Völkern ungleich verteilte „physiologische Rassenpotenz''
(S. 249), entscheidet im Daseinskampfe der Völker; politischer Nieder-
gang führt auf Rassenentartung, diese auf unzweckmässige Kreuzungen
zurück; kurz, „was den geschichtlichen Veränderungen zugrunde liegt,
ist ein fortwährender Rassewechsel'' (S. 247). „Es ist die natürliche
Zuchtwahl im Daseinskampfe, .... welche die soziale Geschichte des
Menschengeschlechts beherrscht" (S. 193). „Alle soziale Gliederung
und Ordnung ist physiologisch bedingt" (S. 192). „Die Sonderung
der Gesellschaft in Stände und Berufe ist das Ergebnis einer Arbeits-
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96 REZENSIONEN,
und Herrschaftsteilung auf Grund der Differenzen körperlicher und
seelischer Fähigkeiten" (S. 279). Verfassung und Gesetzgebung sind
nichts als y,die intellektuell vermittelte soziale Anpassung einer Rasse
und ihre Existenz- und Entwickelungsbedingungen'' (S. 154). Auch
,,die Befähigung zur politischen Herrschaft und Gesittung ist physio-
logisch bedingt" (S. 225); alles Bedeutendste, was in der Menschheits-
geschichte geleistet worden ist, ist speziell Grosstat der nordgerma-
nischen Rasse (S. 255; vgl. H. St. Chamberlain).
Verfasser ist Arzt. Sein „monistischer" Standpunkt ist, wenn-
schon uneingestanden, der materialistische. Nur vom Standpunkte
des Materialismus aus sind des Verfassers Ergebnisse konsequent.
Denn nur unter dieser Vorausgabe beherrscht die mechanische Natur-
kausalität alles geschichtliche Geschehen. Auch die Anpassung Dar-
wins ist in diesem Sinne nicht Teleologismus, sondern Mechanismus.
Male eine Nervenfaser, und du hast die ganze Weltgeschichte mit
Einem Striche gezeichnet! — Eine Polemik gegen den Materialismus
ist weder dieses Ortes, noch gegenwärtig mehr an der Zeit. Man
braucht nicht an dem Hegel -Rankeschen Geschichtsidealismus festzu-
halten; man braucht auch denjenigen nicht zu folgen, welche nur eine
teleologische Geschichtsbetrachtung wollen gelten lassen; man wird
vielmehr zugeben dürfen und müssen, dass das Kausalgesetz auch in
der Geisteswelt seine Bedeutung behält und der Satz vom Grunde
(als der ratio sufficiens agendi) auch für die Erkenntnis des geschicht-
lichen Lebens oberste Richtschnur ist. Verkehrt aber ist und bleibt
es, die Tatsachen des geistigen Lebens als blosse Anhängsel zum
Naturgeschehen zu betrachten und lediglich aus letzterem kausal er-
klären zu wollen. Der Gegensatz Natur und Geist ist vielleicht vom
Standpunkt einer dritthöheren Einheit aus zu überwinden; ihn über-
winden wollen aber dadurch, dass man, sei es die Natur, sei es den
Geist einfach wegdisputiert, heisst gründlich fehlgehen. Einem jeden
von beiden bleibe vielmehr innerhalb seiner Grenzen sein gutes Recht.
Die Sozial- und Staatswissenschaft, ebenso wie die Geschichte nun
sind Geisteswissenschaften; sie fördern zu wollen durch Erklärungs-
grOnde und Methoden, die nur der Naturwissenschaft angehören, heisst
also Steine statt Brot darbieten. Wie trifft auch hier wieder der
Stagirit das Richtige — ein Mann, der doch wahrlich den Natur-
wissenschaften das Ihre gab: AtjXov Sri dei rov noXnixov ddevai ncog
xa 7i€Qi ywxvjv (Eth. Nie. I 13). Psychologische Grundlegung der
Geisteswissenschaft, das ist es, was not tut. Jene angeblich philo-
sophische Behandlung der Staatslehre, welche in durchaus unpsycho-
logischer, scholastischer Weise das ganze reiche *Gebiet der Politik
nur als ein Stück des sog. Allgemeinen Staatsrechtes auffasste, ist
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SCHIVARTZKOPFF: DAS LEBEN ALS EINZELLEBEN USW. 97
uns in ihrer Unzulänglichkeit längst fühlbar geworden. Was die
Gegenwart erstrebt, ist aber anderseits auch nicht eine auf den
Tatsachen der Biologie und Physiologie, sondern einzig und allein
eine auf den Grund tatsachen einer erkenntnistheoretisch besonnenen
Psychologie sich aufbauende Staatslehre: eine Politische Psycho-
logie ist das wahre Bedürfnis unserer Zeit.
Stehe ich hiernach der Politischen Anthropologie des kenntnis-
reichen Verfassers im Endergebnis ablehnend gegenüber, so bleibe
ich ihm doch dankbar für die vielerlei nutzbaren Belehrungen und
Anregungen, welche das Buch bietet.
Leipzig. Hans Relohel.
Prof. Dr. Paul Schwartzkopff: Das Leben als Einzelleben und
Gesamtleben. Fingerzeige für eine gesunde Weiterbildung von Kants
Weltanschauung. Halle a. S. und Bremen, C. Ed. Müller. 1903. 130 S.
Schon in einer Selbstanzeige (Zeitschr. B. 121, S. usf.) hat Verf.
darauf hingewiesen, dass sein Büchlein einen Versuch bilde, Indivi-
dualismus und Universalismus miteinander zu versöhnen. „Einzel-
leben im Gesamtleben** erscheint ihm als die Formel, die allein die
Wahrheit des vollen und ganzen Lebens ausspreche.
Im ersten Teil seines Buches „Kritik wichtiger moderner An-
schauungen über das Leben als Einzelleben und Gesamtleben** führt
Verf. aus, dass die grossen Philosophen der neueren Zeit entweder
das Einzelleben in seiner Wahrheit und Selbständigkeit vetkannt
hätten oder das Gesamtleben. Das abstrakte Kantische Denken führe
in letzter Konsequenz zur Leugnung der relativen Selbständigkeit des
Einzellebens, und das räche sich vom Standpunkt des gesunden un-
verdorbenen Gefühls, der höchsten Instanz auch in philosophischen
Dingen, schwerer als die Verkennung des Gesamtlebens, deren sich
Nietzsche in der ausschliesslichen Geltendmachung des individuellen
Einzellebens schuldig mache. —
Im zweiten Teil gibt der Verf. „Fingerzeige zur rechten Auf-
fassung des Lebens als Einzelleben und Gesamtleben'' und sucht da-
mit zu einer gesunden Weiterbildung Kantscher Gedanken beizutragen.
— Das Einzelleben begründet er psychologisch durch die Ursächlich-
keit: Im Fühlen erleben wir unmittelbar unser Selbst als Ding, als
Substanz oder als „Ursache" im ursprünglichen Sinne, aus der
lebendige Wirkungen hervorgehen; Dinglichkeit und Ursächlichkeit
(auch Zeitlichkeit) seien somit metaphysische Kategorien, Formen des
Seienden. Alle Dinge aber mit ihrem ursächlichen Geschehen würden
durch die Wechselwirkung zu einer Gesamtwelt zusammengeschlossen,
darin liege die Wahrheit des Gesamtlebens. Mit Lotze nämlich hält
ZeiUdxrift f. Philos. n. phllosoph. Kritik. Bd. 196 7
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^8 REZENSIONEN.
der Verf. ein transeuntes Wirken für unbegreiflich, die Wechsel-
wirkung erscheint ihm nur erklärlich bei Annahme einer umfassenden,
allen Einzel Wirkungen immanenten „ Allursache **. Diese, in der er den
persönlichen Weltgeist erkennt, gehe jedoch nicht vollständig in den
Einzelleben auf; sie ist ihnen zugleich transscendent. Verf. wendet
sich gegen Lotze, der die Einzelleben nur als unselbständige Teile
oder als „Modi" und „Funktionen** des Alllebens bezeichne. Hier-
gegen ist noch zu bemerken, dass gerade auch Lotze, wie neuer-
dings noch E. Neuendorff scharfsinnig gezeigt hat (Zeitschr. B. 121,
S 36!!), dem Pluralismus in seinem monistischen System einen breiten
Platz einräumt, ja dass er die „Freiheit der persönlichen Geister* für
einen „durchaus fundamentalen Punkt** seiner Weltanschauung erklärt.
Es ist darum nicht einzusehen, wie der Verf. Lotze gegenüber etwas
Neues bringt; gehen vielmehr schon bei Lotze monistische und plura-
listische Anschauungen „unversöhnt** nebeneinander her, so ist es
bei ScHWARTZKOPFF auch nicht anders. Er hätte wohl richtiger sein
Buch nicht „allen Verehrern Kants**, sondern allen Verehrern Lotzes
gewidmet. Denn es ist in Lotzeschem Geiste geschrieben. Sein Ver-
dienst beruht auf einer klaren, anschaulichen Darstellung, die auch
dem gebildeten Laien tiefliegende philosophische Probleme nahe zu
bringen weiss.
Hildesheim. OoebeL
J. Unold: Die höchsten Kulturaufgaben des modernen Staates.
München, J. F. Lehmann. 1902. 171 S. Preis 2,40 Mk.
Dr. J, Unold hat schon früher in mehreren Schriften seine
Gedanken über die Erfordernisse einer gesunden ethischen und poli-
tischen Kulturentwicklung dargelegt („Grundlegung für eine moderne
praktisch -ethische Lebensanschauung** 1896, „Ein neuer Reichstag
Deutschlands Rettung** 1897, „Aufgaben und Ziele des Menschen-
lebens** 1899.) Das jetzt vorliegende Buch bezeugt durchweg, dass
der Verf. mit Energie und Sachkenntnis über die konkreten Aufgaben
des Kulturlebens nachgedacht hat. Wir lernen darin eine Fülle von
ernsten, persönlich durchgearbeiteten und eindrucksvoll vorgetragenen
Überzeugungen kennen. Die philosophische Grundlegung, — die
Ansichten des Verf. über die letzten Endzwecke des Menschenlebens
und der Kultur, — ist allerdings vollständiger in seinen älteren
Schriften niedergelegt.
In den Erörterungen über die geistig-wissenschaftliche und
sittliche Kultur bekämpft der Verf. mit Schärfe die Herrschsucht
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UNOLD: DIE HÖCHSTEN KULTURAUFGABEN USW. 99
der Kirchen. Er findet es höchst gefährlich für die Zukunft und tief
traurig, dass der moderne Staat immer noch die Konfessionen be-
günstige und ihnen die sittliche Erziehung der Jugend „ausliefere**,
wodurch mannigfaltige Heuchelei grossgezogen, unsere Jugend „grund-
sätzlich irre geleitet", in schwere Gewissenskämpfe verwickelt und
ihre sittlichen Überzeugungen ausschliesslich auf einem Grunde auf-
gebaut werden, der sich in sehr vielen Fällen als unzuverlässig er-
weist. Die Kirche sei auf höherer Kulturstufe nicht mehr fähig, den
gebildeten Kreisen die Regeln richtigen Verhaltens einzuprägen. Da-
gegen ist der Verf. davon überzeugt, dass es möglich sein wird, durch
nationale Erziehung auf wissenschaftlicher Grundlage in der Jugend
Begeisterung für das Vaterland und ein lebendiges Bewusstsein von
den Pflichten des Menschen seinem Volke, künftigen Geschlechtem
und der Menschheit gegenüber zu entzünden. Die Schuld der gegen-
wärtigen schiefen Lage falle zum grossen Teile auf die wissenschaftlich
Gebildeten und die religiös Liberalen, die nicht gewagt haben, ihrer
Pflicht gemäss ihre Konfessionslosigkeit offen zum Ausdruck zu bringen.
Der zweite Abschnitt des Buches: „Werden, Wesen und Aus-
bau des modernen Staates**, füllt mehr als die Hälfte desselben
(S. 49 — 140). Die liberale oder bürgerliche Demokratie, die in den
modernen Republiken und in denjenigen Monarchien, wo der reine
Parlamentarismus besteht (England, Belgien, Italien u. a.), zur Herr-
schaft gelangt ist, sei eine Form der Klassenherrschaft. Dagegen
stelle die „echte konstitutionelle Monarchie**, wie sie hauptsächlich auf
deutschem Boden sich entwickelt habe, eine viel gerechtere und
höhere Staatsform dar, die die brauchbaren Elemente der anderen,
„niedrigeren** Staatsformen zu einem reichgegliederten Organismus
vereinige und eine „Panarchie**, d. h. Leitung des Ganzen nach den
Erfordernissen des Gemeinwohls, ermögliche. Eine Ausbildung und
Neuschaffung der Volksvertretung sei aber vonnöten. Das allgemeine
gleiche Wahlrecht sei nämlich unvernünftig, ungerecht und führe zu
agitatorischer Verhetzung des Volkes. An dem Prinzip „jeder Bürger
ein Wähler** solle allerdings festgehalten werden, es sei aber eine
Vertretung nach Berufs gruppen einzuführen, und zwar mit verhält-
nismässig starker Vertretung der „Staats- und Kulturinteressen**; die
Beamten und die Vertreter der „freien Berufe** sollen nämlich ein
Fünftel der Volksvertretung wählen. Der Verf. glaubt, dass auf diesem
Wege die Volksvertretung „aus einem Tummelplatz öden, kleinlichen,
gehässigen Parteigezänks zur ernsten Stätte sachkundiger, ' real-wissen-
schaftlicher Erörterung der verschiedenen Kulturinteressen** umgestaltet
werden kann. Zuerst soll das System in den Vertretungen der
deutschen Einzelstaaten durchgeführt werden, — da in diesen das
7*
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loo REZENSIONEN.
gleiche Wahlrecht zum Glflck noch nicht besteht und beileibe nicht
angenommen werden darf, — und der Verf. gibt ins Einzelne gehende
Vorschläge betreflFs der Verteilung der Vertreter unter den verschiedenen
Berufsgruppen dieser Staaten.
Ein dritter, kurzer Abschnitt entwickelt etwas näher die Grund-
züge der „staatsbürgerlichen Erziehung*, die nach Unold geeignet
wäre, aus dem emporwachsenden Geschlechte Bürger zu bilden, die
die hohen Kulturaufgaben des XX. Jahrhunderts erfolgreich lösen
würden. Auf natur- und geschichtswissenschaftlicher Grundlage sollen
die Ziele, zu denen das Natur- und Menschenleben notwendig hin-
strebt, sowie die Voraussetzungen, die einen ununterbrochenen Fort-
schritt gegen diese Ziele hin bedingen, in anschaulicher Weise ge-
zeigt werden. Das höchste Ziel alles ethischen Strebens könne nichts
anderes sein, als Erhaltung und Veredelung der Einzelnen und der
Gattung; mit anderen Worten: die Ausbildung von vernünftigen und
edlen Persönlichkeiten, die sich mit Bewusstsein und Begeisterung in
den Dienst des Gemeinwohls stellen, die daher durch ihre Berufs-
tätigkeit nützliche Glieder der Gesellschaft, zugleich auch tüchtige
Bürger ihres nationalen Staatswesens und freudige Vorkämpfer für
die Einigung und den Fortschritt der ganzen Menschheit sind.
Manche Ansichten und Vorschläge Unolds mögen prinzipiell
oder praktisch verkehrt sein, jedenfalls verdient sein ernstes und
scharfsinniges Denken mehr Aufmerksamkeit, als seine Arbeiten bis
jetzt, soweit mir bekannt ist, gewonnen haben.
Helsingfors. Apvid Grotenfelt.
Erwiderung:.
An Herrn Prof. Dr. H. Cornelius!
Herr Hans Cornelius, mein Fachkollege in München, ist in diesem
Hefte 1) so liebenswürdig gewesen, mein Buch „Grundlegung der empi-
rischen Psychologie" einer wissenschaftlichen Besprechung zu würdigen,
und mich dabei über die Tatsache eines „auffälligen Mangels geistiger
Reife" aufzuklären. Ganz geknickt von sotaner Entdeckung bitte ich
meinen verehrten Herrn Rezensenten es gütigst zu entschuldigen, dass
ich weiterlebe und sogar die geistig unreife Feder noch einmal ansetze.
Es freut mich, verehrter Herr Kollege, dass Sie mich an meine
liebe Münchener Studienzeit erinnern; und, wie gross auch mein
Mangel an geistiger Reife sein möge, so soll er mich doch nicht ab-
halten, der in München empfangenen wissenschaftlichen Anregungen
stets dankbarlichst zu gedenken. Doch gestatten Sie mir wohl, Ihnen
rvil S. 84.
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AN HERRN PROF. DR. H, CORNELIUS t loi
zu sagen, dass meine Weltauffassung ihrem tiefsten Wesen nach in
der aristotelischen Philosophie wurzelt, dass ich diese aber nicht erst
in München in mich aufgenommen habe.
Ihr allgemeines Urteil über mein Buch lautet also, es verrate
einen „auffälligen Mangel geistiger Reife^. Diese Belehrung drückt
mich tief nieder. Doch richtet mich in etwas die Wahrnehmung
wieder auf, dass Sie Ihrem Urteil eine Begründung beifügen; denn
nicht nur werde ich so, eingedenk Ihrer Aufklärung, mich davor hüten,
Ihr Urteil gehässig zu finden, sondern es steigt in mir sogar wie
Frühlingsahnen die Hoffnung auf, meinen Mangel vielleicht in der
Zukunft beseitigen zu können, indem ich von Ihrer Rezension lerne,
wie ein geistig reifer Mann in wissenschaftlichen Fragen verfahren
müsse. Nur zu diesem Zwecke erlaube ich mir darum, Ihre Belege
der Reihe nach durchzugehen.
Da werde ich nun in Zukunft an erster Stelle mein Urteil über
einen Autor dadurch begründen, dass ich einfach einige Sätze seines
Buches gänzlich losgelöst von ihrem Zusammenhange zum Lesen auf-
gebe; denn dann kann es gewiss nicht fehlen, dass jeder diese Sätze
falsch, unverständlich oder mindestens trivial finden wird. Würde
ich anders verfahren, so wäre es mit den Beispielen von S, 9 u. S. 25
zu Ende; denn auf S. 9 fasst der erste Satz das Ergebnis des vor-
ausgehenden Abschnittes kurz zusammen, während der zweite Satz zum
Folgenden gehört, indem er die Erfahrungsbearbeitung dem Erfahrungs-
material gegenüberstellt. Auch würde dann der Satz S. 25 Berech-
tigung gewinnen, da er die Antwort auf einen Einwurf des Inhaltes
ist, unsere Begriffe über das Wirkliche seien vom Wirklichen unabhängig.
An zweiter Stelle werde ich in Zukunft einem Autor dadurch
Widersprüche nachweisen, dass ich mich an einige äussere Worte
halte, aber beileibe mich hüte, die fraglichen Stellen aufmerksam und
gründlich zu lesen. Würde das nämlich geschehen, so wären ja die
Widersprüche möglicherweise gar nicht vorhanden. Da wird auf S. 152
davor gewarnt, die Affekte mit den Objektempfindungen zu verwechseln,
und auf S. 7 heisst es, auch die ursprünglichen Affekte d. h. Gefühls-
zustände seien Empfindung, wenn und soweit man als das wesentliche
Merkmal der Empfindung die Ursprünglichkeit ansehe. Freilich ist
auf derselben S. 7 ausdrücklich hinzugefügt: „nur sind alsdann die
Objektempfindungen von den Afiektempfindungen zu unterscheiden*,
und ist also dort schon genau dieselbe sachliche Unter-
scheidung gemacht worden wie auf S. 152. — Auf S. 150
werden Gefühlswirkungen der Objekte auf das Subjekt anerkannt,
und auf S. 56 wird gesagt, das Subjekt könne in der Objekt-
empfindung ausser den Objekten nichts wahrnehmen. Nun ist dies
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T02 JOS, GEYSER.
leider nicht „genau das Gegenteil", sondern gar kein Gegenteil, wenn
man gründlich liest; denn auf S. 56 handelt es sich um eine Polemik
gegen Brentanos Lehre von unserer Wahrnehmung der Empfindungs-
akte und nicht nur der Empfindungsobjekte. Dieser gegenüber wird
die Wahrnehmung der Empfindungsakte bestritten. Empfindungsakte
aber und Gefühlswirkungen der Objekte sind natürlich etwas ganz
und gar Anderes.
An dritter Stelle werde ich möglichst allgemeine Bemerkungen,
auf die sich niemals etwas Rechtes erwidern lässt, einflechten, und
werde also von vielen unbewiesenen Behauptungen, trivialen Sätzen
und dgl. sprechen. Um aber dadurch nicht in den Verdacht der
Voreingenommenheit zu kommen, werde ich nun einige Anerkennung
hinzufügen. Allerdings könnte diese den guten Eindruck der bis-
herigen Kritik etwas gefährden, und so werde ich nun an vierter
und letzter Stelle dem Autor einige Blätter von seiner wissenschaft-
lichen Ehre dadurch abpflücken, dass ich den Vorwurf nicht gekenn-
zeichneter „Entlehnungen" gegen ihn erhebe, mich aber wohl hüte,
beim Beweise allzusehr ins detail zu gehen, weil sonst der Vor-
wurf vielleicht nicht berechtigt bliebe. Und nun ist der Autor
mausetot; nur muss er mir noch den einzigen Gefallen tun, zu
meinen Worten zu schweigen. — Allein, meine „geistige Unreife" ist
so gross, dass ich zu dem Vorwurf der „Entlehnung", den ich nur
wegen des auffälligen Mangels an geistiger Reife nicht für ehrver-
letzend finde, nicht schweige, sondern das Wort nehme. Auf S. 72
wird der Begriff des „Intentionalen" eingeführt. Nun ist der Begriff
der intentio der wissenschaftlichen Welt nicht ganz unbekannt; denn
er ist seit Albertus M. und Thomas v. Aquin ein so fundamentaler
Begriff der scholastischen Philosophie, dass ihn heute jedes Kompen-
dium der scholastischen Psychologie enthält, und er also Gemeingut
geworden ist. Allein die Verwertung dieses Begriffes auf S. 72 gegen
Behauptungen der Immanenzphilosophie im Gegensatz zum Begriff des
Terminativen ist durchaus des Autors eigene, selbständige Leistung.
Wenn vielleicht, was er nicht weiss, andere diese Begriffe ebenso
angewandt haben, so würde ihn das freuen; entlehnt aber hat er
diesen etwaigen Anderen seinen Gebrauch des Begriffes darum doch
nicht.
Und nun, wo ich am Ende der Belehrung stehe, wie man in
der Wissenschaft verfahren müsse, um nicht durch Mangel an geistiger
Reife aufzufallen, gerate ich ganz in Verwirrung; denn ich sehe, dass
keine einzige der in der Rezension vorgebrachten Begründungen zu-
trifft, und weiss nun wirklich nicht recht, wo eigentlich die Tatsache
des „auffälligen Mangels geistiger Reife^ aufgeklärt ist, ob in dem
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zu HERRN GEYSERS USIV, PUDOR: DIE NEUE ERZIEHUNG,
103
rezensierten Buche oder in seiner Rezension. Ja, das macht eben
der auffällige Mangel an geistiger Reife.
Münster i. W. Prof. J08. Oeyser.
Zu Herrn Geysers Erwiderung habe ich zu bemerken:
1. An der Logik der von mir zitierten Satzverbindungen (S. 9
u. S. 25) kann der Zusammenbang nichts bessern, auf welchen Herr
G. sich beruft; die Konjunktionen „darum namentlich^ und „denn"
beziehen sich nicht auf jenen weiteren Zusammenhang.
2. Die Widersprüche zwischen S. 7 u. S. 152, S. 56 u. S. 150
sucht der Verf. jetzt dadurch zu beseitigen, dass er andere, den Sinn
verändernde Ausdrücke an Stelle der in seinem Buche gebrauchten
unterschiebt. Weder auf S. 152 noch auf S. 56 ist von „Objekt-
empfindungen" die Rede; die Behauptung des Herrn G. über das,
was auf diesen beiden Seiten von ihm gesagt sei, ist also tatsächlich
unrichtig.
3. Die Belesenheit des Verf. sowie sein Studium in München
konnten den Schluss nicht nahelegen, dass er wirklich die Anwendung
des Begriffs des „Intentionalen" auf S. 72 für seine eigene originelle
Leistung hielt. Von anderen Stellen, die mir bei der Lektüre seines
Buches als schon bekannt auffielen, mag seinem Wunsche gemäss
hier noch eine erwähnt sein. S. 5 wird ein erstes Prinzip genetischer
Analyse formuliert, wonach „alles dasjenige, ohne was die Erfahrung
überhaupt nicht wäre, auch ursprünglich der Erfahrung angehören
muss". Man möge damit meine (dem Verfasser nicht unbekannte)
Psychologie S. 11 zusammenhalten.
Endlich habe ich noch zu erwähnen, dass ich mich keineswegs
der Münchener Studienzeit des Herrn G. erinnere. Nur aus den
Münchener Reminiszenzen, die mir in seinem Buch unzweideutig ent-
gegentraten, schloss ich, dass er in München studiert haben müsse;
was mir dann von anderer Seite bestätigt wurde.
München. H. Cornelius.
Selbstanzelgre.
Dr. Heinrich Pudor: Die neue Erziehung. Essays über die Erziehung
zur Kunst und zum Leben. Leipzig. Verlag von Hermann Seemann
Nachfolger. 339 S. Preis 5 Mk.
Die Erziehung ist die Grundlage aller Reformfragen. Fast alles
im Leben des Menschen ist Sache der Erziehung. Fast alle Mängel
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I04 SELBSTANZEIGE.
der Bildung und Sitte sind auf Rechnung fehlerhafter Erziehung zu
setzen, das gilt nicht nur vom privaten, sondern teilweise sogar vom
öffentlichen Leben. Deutschland, nicht etwa nur Russland, steht vor
schweren inneren Krisen. Es hat zu wählen zwischen Reform und
Revolution. Soll erstere in Frage kommen, so muss sie von Grund
aus erfolgen und die Erziehung hat dabei das wichtigste Wort zu
sprechen. »Fangt es aber mit der Jugend an, und es wird gelingen",
sagt Goethe. Aber man wolle nicht denken, dass die Erziehung nur
für die Jugend in Frage kommt. Das ist gerade der Krebsschaden
unserer Zeit, dass die Erziehung der Regel nach mit dem achtzehnten
oder vierundzwanzigsten Lebensjahr ihr Ende nimmt, während nur
das Lebensende ihr ein Ziel setzen sollte. Dazu kommt, dass die
Erziehung heute, wie von immer mehr Seiten zugestanden wird, eine
einseitig formalistische ist, die zuviel Unterricht (Gedächtnis-Stoff) und
zu wenig wirkliche, den Menschen bildende Erziehung gibt. Sie ist
vor allem aber einseitig geistig verstandesmässig , zu wenig ethisch
und fast gar nicht leiblich. Diese harmonische Erziehung des Menschen
ist das Programm des vorliegenden Buches „Die neue Erziehung".
Der „Erweiterung der Erziehung" gelten die Kapitel Jugendspiele,
Handarbeit, der Gartenbau in der Schule, der Sport in der Erziehung
und der ganze VII. Teil des Buches, „Die Erziehung des Leibes".
Als Autoritäten, die eine solche Erziehung in früheren Jahrhunderten
vertreten haben, werden im I. Teil Montaigne, Pestalozzi, Comenius,
Rembrandt als Erzieher, Lagarde behandelt.
Eine fernere, wesentliche und notwendige Ergänzung zur Er-
ziehung ist „Die Erziehung zur Kunst", die im IV. Teile behandelt
wird. Der Erziehung zur Musik ist der ganze dann folgende Teil
gewidmet. Daran schliesst sich ein Kapitel über Volkserziehung. Als
Volkserziehung ist zwar die ganze neue Erziehung gedacht: hier ist
aber im engeren Sinne von Volkserziehung, wie sie die nordischen
Volkshochschulen schon in fast idealem Sinne repräsentieren, die Rede.
Endlich behandelt noch ein Teil verschiedene Lebensfragen und Er-
ziehungsfragen, so die Erziehung des Weibes, die Selbsterziehung,
die Erziehung zur Arbeit, vor allem aber den Enthusiasmus als Er-
ziehungsmittel — gerade an dem fehlt es in unserer modernen gross-
städtischen bureaukratischen Erziehung, obwohl doch alle Welt weiss,
dass ohne Enthusiasmus noch niemals etwas Grosses geschaffen
worden ist.
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NOTIZEN, NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN,
105
Notizen.
Der Fünfte Intematlonale Kongress für Psychologie findet vom
a6. bis 30. April d. J. in Rom statt. Die Arbeiten des Kongresses sind auf vier
Sektionen verteilt: i. Experimentelle Psychologie ; 2. Introspektive Psychologie;
3. Pathologische Psychologie; 4. Kriminelle, pädagogische und soziale Psychologie.
Die Vortragssprache ist italienisch, deutsch, englisch, französisch. Vor-
träge haben angemeldet Lipps -München (Die Wege der Psychologie), Richet-
Paris (L*avenir de la Psychologie et la Mdtaphysique) , pLECHSiG-Leipzig,
(Himphysiologie und Willenstheorien), B i an chi- Neapel (La zona corticale del
Linguaggio e TlnteUigenza), S ciamann A-Rom (Funzione psichiche e corteccia
cerebrale), So MM ER- Giessen (Die Methoden der Untersuchung von Ausdrucks-
bewegungen), JANET-Paris (Les osciUations du niveau mental), Sollier-
Paris (La conscience et ses degrds), Sully- London (Relations of Psychology
to Pedagogy), FLOURNOY-Genf (La Psychologie de la religion).
Meldungen und nähere Auskunft beim Generalsekretär Dr. Sante de
Sanctis, Via Depretis No. 92, Rom. Der Betrag für die Teilnehmerkarte
(20 Fr., für die Damen der Teilnehmer 10 Fr.) ist an Herrn Giovanni
Luccio, Ministerium des Unterrichts, Rom, einzusenden.
Der Vorstand der Kant- Gesellschaft hat beschlossen, emen Preis
von 500 Mk. (ev. mehr) für die beste Bearbeitung des Themas: „Kants Be-
griff der Erkenntnis verglichen mit dem des Aristoteles", auszuschreiben.
Termin der Einlief erung: i. Oktober 1906, Verkündigung des Preises: 22. April
1907. Die Arbeiten (in deutscher, englischer, französischer oder italienischer
Sprache) sind an das Kuratorium der Universität Halle zu senden. Preisrichter
sind die Professoren Heinze, Riehl und VAiHiNGERin Halle. Nähere Aus-
kunft durch den Geschäftsführer der Kantgesellschaft, Prof. Dr. H. Vaihinger.
Der a. o. Professor der Philosophie an der Universität Würzburg
Dr. K. Marbe ist an die Akademie für Sozial- und Handels Wissenschaften in
Frankfurt a. M. berufen worden.
Habilitiert: Dr. Schneider in Leipzig, Dr. Franz Strunz (für
Geschichte der Naturwissenschaften, einschliesslich Naturphilosophie) an der
deutschen technischen Hochschule zu Brunn.
NB. Mitteilungen, Personalien betreffend, werden von der Redaktion
jederzeit gern entgegengenommen. Der Herausgeber.
Neu elngregrangrene Schriften.
(Eine ausführliche Besprechung der nachstehend aufgeführten Bücher und
Schriften bleibt ausdrücklich vorbehalten!)
Adamkiewicz, Prof. Dr. Albert, Über das unbewusste Denken und das
Gedankensehen. Versuch einer physiologischen Erklärung des Denk-
prozesses und einiger „übersinnHcner* und psychopathischer Phänomene.
VlII u. 64 S. Wien und Leipzig 1904. Wilhelm BraumüUer, K. u. K. Hof-
und Universitätsbuchhandlune. j. J6 20 d).
Adickes, E., Kant als Aesthetiker. Zur Feier von L Kants 100 jährigem
Todestag (S.-A. aus dem Jahrbuch des Freien deutschen Hochstifts zu
Frankfurt a. M. 1904. S. 315—338).
Baldwin, J.Mark, and Warren, C.Howard, Princeton Contributions
to Psychology. Contents: i. Imitation and Selective Thinking, Discusslon
between B. Bosanquet and J. Mark Baldwin. 2. The Limits of Pragmatism,
J. Mark Baldwin. 44 S. Princeton, N. J. 1904. The University Press. 50 Cents.
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lo6 ^EU EINGEGANGENE SCHRIFTEN
Bastian, Der Gottesbegriflf bei Jacob Böhme, I.-D. 45 S. Kiel. Druck von
Lüdtke & Martens, vorm. L. Peters.
BjERRE, PouL, Der geniale Wahnsinn. Studie zu Nietzsches Gedächtnis.
Autorisierte Obersetzung aus dem Schwedischen. 119 S. Leipzig.
C. G. Naumann.
Cantecor, G., Le Positivisme [€d\i€ dans la collection „Les Philosophes*).
143 S. Paris. Paul Delaplane.
Cartellieri, Alexander, Über Wesen und Gliederung der Geschichts-
wissenschaft Akademische Antrittsrede gehalten am 12. November 1904.
28 S. Leipzig 1905. Dyksche Buchhandlung. 80 <J.
Ceretti, Pietro, Sageio circa la Ra^one logica di tutte le Cose. (Pasae-
logices Specimen.) versione dal latmo del Frofessore Carlo Badini. Con
note ed introduzione di Pasquale d'Ercole. — Vol. V (ed Ultimo). Essologia
Sezione III. — La Natura Biologica. CXXXVIII u. 709 S. Turin 1905.
Unione Tipografico-Editrice.
Cesca, Giovanni, L'Attivita psichica. Studio di Psicologia filosofica. 182 S.
Messina 1904. Vincenzo Muglia, Editore.
Ewald, Oskar, Die Probleme der Romantik als Grundfragen der Gegen-
wart. XIX u. 227 S. Berlin 19(5. Ernst Hofmann & Co.
Fechner, Gustav Theodor, Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht.
2. Aufl. VI u. 274 S. Leipzig 1904. Breitkopf & Härtel. 3 J^.
Geisler, Viktor, Was ist Philosophie ? Was ist Geschichte der Ph ilosophie ?
60 S. Berlin 1905. Theodor Fröhlich.
GoMPERZ, Über die Wahrscheinlichkeit der Willensentscheidungen. Ein
empirischer Vortrag zur Freiheitsfrage, mit einer Figur im Texte. (Sitzungs-
berichte der Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien. Philosophisch-
Historische Klasse. Band CXLIX.) it S. Wien 1904. Carl Gerolds Sohn.
V. Grotthuss, Freiherr, Bücher der Weisheit und Schönheit. Kant, Kritik
der reinen Vernunft. In verkürzter Gestalt (mit Abschnitten aus den
Prolegomenen) herausgegeb. von Aug. Messer. VII u. 188 S. Stuttgart
1905. Greiner & Pfeiffer. 2 ^ 50 ^.
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Aussendinge. Eine erkenntnis-theoretische Untersuchung. VIII u. 88 S.
Berlin 1904. C. A. Schwetschke & Sohn. 2 ^ 40 ^.
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Scienza. VII u. 75 S. Pavia 1904. Premiato Stab. Tipografico successori
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Kants gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Königl. preussischen
Akademie der Wissenschaften. Bd. IL Erste Abt Werke. 2. Bd. Vor-
kritische Schriften. II. 1757— 1777. VIII u. 525 S. Berlin 1905. Reimer.
KozLowsKi, W. M., L*entente entre la Pologne et la Russie. 25 S. Paris 1903.
Editions de l'Humanit^ nouvelle. i Frc.
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de Philosophie ) Paris, Librairie Armand Colin.
— Le Positivisme et les Nations opprim^es. Discours prononcd ä l'inaugura-
tion de la statue d* Auguste Comte le 18. mai 1902 (s^ance de Tapr^s-midi)
Extrait de la Revue occidentale. 7 S. Versailles 1902. Imprimerie Aubert.
Kretzschmar, Dr. Ernst, Lessing und die Aufklärung. Eine Darstellung
der religions- und geschichtsphilosophischen Anschauungen des Dichters
mit besonderer Berücksichtigung seiner philosophischen Hauptschrift: -Die
Erziehung des Menschengeschlechts*. 172 S. Leipzig 1905. Bernhard
Richters Buchhandlung. 2 ^ 50 ^.
KOlpe, Oswald, Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. Eine
Charakteristik ihrer Hauptrichtungen nach Vorträgen, gehalten im Ferien-
kursus für Lehrer 1901 zu Würzbure. Zweite Auflage. (Aus Natur und
Geistes weit. Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen
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NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN
107
aus allen Gebieten des Wissens. 41. Bändchen.) 117 S. Leipzig 1904.
B. G. Teubner. Preis geh. i J$, geb. i ^ 25 4.
Lechalas, Georges, Introduction ä la Gdom6trie generale. IX u. 58 S.
Paris 1504. Gauthier- Villars. i Frc. 75 Cts.
Lefevre, Dr. L., Quelques Applications Psychologiques des Phönomönes
de Suggestion et d'Auto-Susgestion. (Extrait de la Revue de Belgique.)
32 S. Bruxelles 1904, B. Weissenbruch.
Levi, Adolfo, L'indeterminismo nella Filosofia Francese contemporanea.
La Filosofia della contingenza. X u. 300 S. Firenze 1904. Bernardo
Seebcr, Successore di Loescher & Seeber.
Lipox, Dr. Lichtig, Darstellung und Kritik der Grundprinzipien der Ethik
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LucKA, Emil, Otto Weininger, sein Werk und seine Persönlichkeit. 158 S.
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330 S. Beriin und Leipzig 1904. Schuster & Löffler.
•— Band XIV, Nachgelassene Werke. Unveröffentlichtes aus der* Umwertungs-
zeit. (1882/3— 1888.) X "• 442 S. Leipzig 1904. Verlag von C. G. Nau-
mann, geb. II »^, brosch. 9 J$.
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Paris 1905. Fehx Alcan. 2.50 Frcs.
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im Beginn des 20. Tahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer. 2. Bd.
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RiEHL, Alois, Philosophie der Gegenwart. 2. Aufl. 274 S. Leipzig 1904.
B. G. Teubner.
RosTAGNO, LuiGi Andrea, Le idee pedagogiche nella filosofia cinica e
speciabnente in Antistene. Parte prima. (Introduzione-Educazione in
generale e Educazione morale.) 61 S. Torino 1904. Carlo Clausen. 1.50 L.
SiMMEL, Georg. Die Probleme der Geschieh tsphilosophie. Eine erkenntnis-
theoretische Studie. Zweite, völlig veränderte Auflage. X u. 169 Seiten.
Leipzig IQ05. Duncker & Humblot. 3 Ji.
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Costenoble. 5 ^, geb. 6 Ji,
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alten Kulturproblem. VII u. 140 S. Hamburg 1904. Gebrüder Lüdeking.
Sternberg, Dr. Theodor, Allgemeine Rechtslehre, i. Teil: Die Methode.
2. Teil: Das System. Sammlung Göschen. Leipzig 1904. C. H. Göschen 'sehe
Verlagsbuchhandlung. Preis jedes Bandes in Leinwand geb. 80 ^.
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lo8 NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN
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Georg Wohlgemuth. Erster Band. Lehrbuch der Logik. 8. Auflage.
f. 8^ XIV u. 479 S. Mainz 1905. Verlag von Kirchheim & Co. geh.
J$, geb. 8 J6.
SwoBODA, Dr. Hermann, Studien zur Grundlegung der Psychologie.
I. Psychologie und Leben. IL Assoziationen und Perioden. III. Leib und
Seele. VIII u. 1 17 S. Leipzig und Wien 1905. Franz Deuticke. a ^ 50 ^.
Troeltsch, Ernst, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religions-
wissenschaft. Vortrag gehalten auf dem International Congress of arts
and Sciences in St. Louis. Tübingen und Leipzig 1905. J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck). 55 S. \ M 20 ^,
Ueberweg, Friedrich-, Grundriss der Geschichte der Philosophie be-
arbeitet und herausgegeben von Dr. Max Heinze. Zweiter Teil: Die
mittlere oder die patnstische und scholastische Zeit. Neunte neu be-
arbeitete, mit einem Philosophen- und Literatoren-Register versehene
Auflage. 402 S. Berlin 1905. Ernst Siegfried Mittler &. Sohn. 7 J$y
geb. 8 Mf 50 f
WiHAN, R., Veritas, Organ zur Feststellung der Wahrheit in den wichtigsten
Fragen der Menschheit und zur Herstellung eines geistigen Kontaktes
aller Denker. No, 4: 64 S. No. 5: 80 S. Trautenau 1904. Selbstverlag
des Herausgebers, je 40 Heller.
The Open Court Publishing Cie., Chicago:
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2. — Three Dialogues between Hylas and Philonous. 1904.
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I. Abteilung: Archiv für Geschichte der Philosophie (L. Stein).
Berlin 1905. XVIII. Band, Heft 2: Buek, Die Atomistik und Faradays
Begriff der Materie. — Sakmann, Voltaire als Philosoph. — Uebele,
Herder und Tetens. — Derenbourg, Le commentaire arabe d*Aver-
rofes sur quelques petits Berits physiques d'Aristote. — Billia, Vötilles
d'un lecteur de Piaton. — Jungmann, Die Geschichte der Philosophie
am zweiten philosophischen Kongress in Genf. — JcUiresbericht, Struve,
Die polnische Philosophie der letzten 10 Jahre. Eingegangene Bücher.
— Zeitschriften.
II. Abteilung: Archiv für systematische Philosophie (L. Stein).
Berlin 1904. X. Band, Heft 4: Pflaum, Die Aufgabe wissenschaft-
licher Ästhetik. — Skala, Über die Verwechslung des sinnlich Ange-
nehmen mit den Kunstein drücken und einige andere Fragen der soge-
nannten empirischen Ästhetik. — Stern, Gerechtigkeit. — Staeps,
Das Problem der Willensfreiheit vom Standpunkt des Sollens. —
Jahresbericht über sämtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der
systematischen Philosophie. — Goidscheid. V. Jahresbericht über
Erscheinungen der Soziologie 1899— 1904 (Schluss). — Die neuesten Er-
scheinungen auf dem Gebiete der systematischen Philosophie. — Zeit-
schriften, — Bücher.
Archives de Psychologie (Flournoy et Claparede). Geneve 1904.
Tome IV, No. 14: Schuyten, Comment doit-on mesurer la fatigue
des 6coliers? — Flournoy, Sur le Panpsychisme comme explication
des rapports de l'äme et du corps. — Strong, Sur le Panpsychisme.
— Le eifere, La genese de l'ömotion esthötique. — Sergi, Les illusions
des psychologues. — Faits et Discussions. — Bibliographie.
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Methods (Woodbridge). Lancaster, Pa and New York 1904.
Vol. I, No. 10: Strong, A Naturalistic Theory of the Reference of
Thought to Reality. — Sheldon, A Study of Intensive Facts. — Dis-
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and New Books. — Notes and News,
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of ,,Reinterpretation" in the Hegelian Dialectic. — Discussion: Strong,
Idealism and Realism. — Reviews and Abstracts of Literature, — JoumSs
and New Books. — Notes and News.
No. 24: Singerjr., Noteon the Physical World Order. — Mo ntgomery,
The Meaning of Analysis. — Discussiotts. — Reviews and Abstracts of
Littrature. — Journals and New Books. — Notes and News.
No. 25: James, The pragmatic Method. -- Reviews and Abstracts of
Literature. — Journals and New Books. — Notes and News.
No. 26: Leiehton, On the Metaphysical Significance of Relations. —
Discussion: Meyer, Unscientific Methods in Musical Ethetics. — Reviews
and Abstracts of Literature. — Notes and News. — Index to the Volume I.
1905. Vol. II, No. i: Ewer, The idea of possibility. — Lutz, Bio-
metry. — Discussion: Urban, The Application of Calculus to Mental
Phenomena. — Reviews and Abstracts of literature. — Journals and
New Books. — Notes and News.
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'Absolute* and 'Relative* Truth. — Leuba, On the Psychology of a Group
of Christian Mystics. — Joseph, Prof. James on Humanism and Truth.
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Direktion. — Mac coli, Symbolic Reasoning. — Discussions. — Critical
Notices. — New Books. — Pkilosopkical Periodicals. — Notes.
The Monist (Paul Carus). Chicago 1905. Vol. XV, No. i.
Poincar^, The Principles of Mathematical Physics. — Smith, Meaning
of the Epithet Nazorean (Nazarene). — Herr ick, The Passing of
Scientific Materialism. — - Birney, Did the Monks preserve the Latin
Classics? — Gunlogsen, Icelandic literature. — Editor, The Christian
Doctrine of Resurrection. — Edmunds, An Ancient Moslem Account of
Christianity. — Keys er, Infinitude as a Philosophical Problem. —
Arreat, Literary Correspondence : France. — Criticisms and Discussions.
— Book Reviews.
Philosophisches Jahrbuch (C. Gutberlet). Fulda 1904. XVII. Band,
Heft 4: Gutberiet, Der Wille als Weltprinzip. — Czaja, Welche
Bedeutung hat bei Aristoteles die sinnliche Wahrnehmung und das
innere Anschauungsbild für die Bildung des Begriffes? — Scherer,
Sittlichkeit und Recht, Naturrecht und richtiges Recht (Fortsetzung). —
Baur, Substanzbegriflf und Aktualitätsphilosophie (Schluss). — Beck,
Die Sittenlehre des Briefes an Diognet. — Stölzle, Zwei Briefe
E. V. Lasaulx' zur Charakteristik des Philosophen Baader. — Rezen-
sionen und Referate. — Zeitschriftenschau, — Miseellen und Nachrichten.
Fulda 1905. XVIII. Band, Heft i. Dvroff, Das Ich und der WiUe.
— Scherer, Sittlichkeit und Recht, Naturrecht und richtiges Recht
(Schluss). — Czaja, Welche Bedeutung hat bei Aristoteles die sinn-
liche Wahrnehmung und das innere Anschauungsbild für die Bildung
des Begriffes? (Scnluss). — Neher, Patritius Benedikt Zimmer. —
Gutberiet, Der erste Kongress für experimentelle Psychologie. —
Rezensionen und Referate. — Zeitschriftensc/uiu. — Miszellen una Nach-
richten.
The Philosophical Review (Creighton, Albee, Seth). New York
1905. Vol. XIV, i: Marshall, The Relation of Aesthetics to
Psychology and Philosophy. — Washburn. The Genetic Philosophy
of Feeling. — Montague, A Neglected Point in Hume's Philosophy. —
Wright, Natural Selection and Seif - Conscious Development. —
Review of Books. •— SummaHes of Articles. — Notices of New Books. —
Notes.
2: Ladd, The Mission of Philosophy. — Erdmann, The Content and
Validitj' of the Causal Law. — Proceedings of the Fourth Meeting of
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AUS ZEITSCHRIFTEN. m
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Universals. — Reviews of Books usw.
Revue de Mötaphysique et de Morale (X. Leon). Paris 1905.
13®. annee, No. i: Leibniz, Trois dialogues mystiques in^dits.
Fragments public avec une introduction par JeanBaruzi. — Belot,
En quÄte d^me morale positive. — Evellin, La raison et les antinomies
(Suite). — Weber, Les th6ories biologiques de M. Ren6 Quinton. —
Lacombe, La repr6sentation proportionelle ä propos du livre de M.
P. Lachesnais. — Supplement: Nicrologie, — Livres nouveaux, — Revues
et periodiques. — Congres de Psychologie,
Revue de Philosophie (E. Peillaube). Paris 1905. 5* ^""^e. No. i:
Moi s an t , La Pens6e philosophique et la Pens6e mathematiq^^ (icr article).
— Duhem, La Theorie physique. IX. La Loi physique. — Huit, Les
Notions d'infini et de parfait (rin). — Vignon, Doctrines et opinions
relatives k la philosophie biologique (icr article). — Discussions. —
PModiques. — Analyses et Con^tes rendus. — L'enseignement philo-
sophique, — Fiches bibliographiqties.
Revue philosophique de la France et de TEtranger (Th. Ribot).
Paris 1905. XXX. Bd. No i: Fouillöe, La raison pure pra-
tique doit-elle etre critiqu6e? — Spiller, De la möthode dans les
recherches des lois de r^thique. — Lee, Essais d'esth^tique empiri-
que; L*individu devant l'oeuvre d*art. — Richard, Le conflit de la
sociologie et de la morale philosophique. -- Anafyses et Comptes rendus.
— Observations et documents, — Revue des pModtques etrangers.
No. 2: Riebet, La paix et la guerre. — Lee, Essai d'esthetique empi-
rique (2« et demier article). — Dunan, Autorit^ et libertö. — Halo-
wuchs, Les besoins et les tendances dans l^conomie sociale. —
Anafyses et Comptes rendus. — Revue de piriodiques itrangers.
Rivista Filosofica (Cantoni). Pavia 1905. Anno VII. Volume III.
Fase, i: Varisco, La filosofia della contingenza. — - Morselli, Societa
e ideale etico (continuazione e fine). — Pagano, Delle vicende storiche
del concetto del diritto naturale. — Montuori, II Principe del Machia-
velli e la politica di Hobbes. — Rassegna bibliografica. — Notizie e
Pubblicazioni. — Cenni Necrologici (Bergmann, Traglia). — Sommari delle
reviste straniere. — Libri ricevuti.
Neue Metaphysische Rundschau (Paul Zillmann). Gross-
Lichterfelde 1904. XI. Band, Heft 6: Bormann, Was ermöglicht
allein und vollbringt den Zusammenschluss der evangelischen Landes-
kircken? Was hindert ihn und macht ihn unmöglich? Ernste und freie
Be|rachtungen. — Wedel, MoUah Schah und der orientalische Spiri-
tualismus. — von Lessei, Die metaphysische Grundlage von Richard
Wagners Jling der Nibelungen* (Kap. V; Über die Götterwelt. Forts.).
— Faul Zillmann, Radium und N-Strahlen in ihren Beziehungen
zur okkulten Lehre vom Äther. — Bück, Mystische Maurerei (Kap. Vi:
Die Geheimlehre: Die siebenfache Natur des Menschen. Forts.) —
Pfungst, Frieden, Gedicht. — Rundschau. — Totenschau. — Porträt',
Dr. fröbe.
1905. Band XII, Heft i : P. Z. : Der Mistelzweig als Symbol der
Weihnacht und seine Legende. — v. Schewitsch, Das Seelchen, eine
Geschichte von der Reinkarnation. — Andreas, Die Fremde, Gedicht.
— Phelps, Der Meister von Akka. — Rundschau. — Literatur. —
Porträt: Paracelsus.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Soziologie (Barth). Leipzig 1904. XXVIII. Jahrgang (N. F. III.)
Heft 4: Kreibie, Über ein Paradoxon in der Logik Bolzanos. —
Barth, Die Geschichte der Erziehung in soziologischer Bedeutung IV.
Barth, Zu Kants und Lock es Gedächtnis. — Besprechungen — Berich-
tigung und Erwiderung. — Philosophische Zeitschriften. — Bibliographie.
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1^2 AUS ZEITSCHRIFTEN,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und
Hygiene (Kemsies und Hirschlaff). Berlin 1904. VI. Jahr-
gang, Heft 2: Gurlitt - Dewev, Die Schule und das öffentliche
Leben. III. IV. — Waise mann, über die günstigsten Bedingungen der
Zahlversinnlichung. — Tr eitel. Ober die körperliche Entwicklung
während der Schulzeit. — Sitzungsberichte. — Berichte und Besprechungen,
— Bibliotheca-pado-psychoiagica.
Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik (Flügel und Rein).
Langensalza 1904. XII. Jahrgang, Heft 2: Pokorny, Die Aus-
folgerung und Ausdeutung all|;emeiner Urteile mit positivem Subjekte
und Prädikate durch Definition und Einteilung dieser Glieder. —
Baentsch, H. St. Chamberlains Vorstellungen über die Religion der
Semiten speziell der Israeliten (Forts.). — Wetterwald, Das Schul-
wesen des Kantons Basel-Stadt (Schluss). — Mitteilungen. — Bespre-
chungen. — FcKhpresse.
Zeitschrift für Psychologie undPhysiologie derSinnesorgane
(Ebbinghaus und Nagel). Leipzig 1905. Band XXXVII, Heft i u. 2:
Trendelenbur^, Quantitative Untersuchungen Aber die Bleichun^
des Sehpurpurs m monochromatischem Licht. — Ephrussi, Experi-
mentelle Beitr^e zur Lehre vom Gedächtnis. — Busck, Über farbige
Lichtfilter. — Besprechungen, — Litteraturbericht
Allgemeines Literaturblatt. (Schnürer). Wien 1904. XIII. Jahr-
gang, No. 22 — 24. — Wien 1905. XIV. Jahrgang, No. i.
Wochenschrift für klassische Philologie. (Andresen, Draheim,
Härder). Berlin 1904. XXI. Jahrgang, No. 48 — 52. — 1905.
XXII. Jahrgang, No. i — 4.
Besprechungsexemplare für die »Zeitschrift für Philosophie und philoso-
phische Kritik^ sind nicht an den Herausgeber, sondern ausschliesslich an
R. Voigtländer« Verlag in Leipzig zu senden.
Herausgeber und Verlag flbernehmen keine Garantie bezüglich der Rflck-
sendung unverlangt eingereichter Manuskripte und Drucksachen!
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalte dieser Zeitschrift ist verboten.
Übersetzungsrecht vorbehalten!
Verantwortlicher Herausgeber Professor Dr. L. Busse in Münster i. W.
Eigentum von R. VoigtlAnder« Verlag in Leipzig. — Druck von Radelli & Hille in Leipzig.
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ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE KRITIK
K VOIGTLANDEBb VEBLAO in LEIPZIG
Band 126. Heft 2
Der Wandel in Schillers
Weltanschauung.
Von Dr. Hans Clasen (Flensburg).
Wenn man von Schillers Weltanschauung spricht, so denkt
man dabei meistens an diejenige Stellung unseres Dichters ^u
den allgemeinen Fragen des Daseins, die ihn mit Goethe zusam-
menführte, und von der er in dem Epigramm „Die Übereinstim-
mung'' sagt, dass sie mit der Goetheschen Anschauung das gleiche
Ziel bei entgegengesetzter Methode habe. Aber man muss be-
achten, dass Schiller erst durch eine völlige Umkehr von einem
abstrakten, schwärmerischen Idealismus her sich der Goetheschen
Art genähert hat, und zur rechten Würdigung seiner spätem
Weltauffassung ist es von grösster Bedeutung, die Art jenes
Idealismus und den Wandel desselben näher ins Auge zu fassen.
Nun ist der Wandel in Schillers Weltanschauung schon mehr-
fach Gegenstand der Betrachtung gewesen: vor allem die im Stil
vornehmen und im Aufbau klaren Ausführungen der Schiller-
schriften KuNO Fischers beschäftigen sich damit, und ausserdem
seien noch genannt Tomaschek, Überweg, Berger, Minor, Kühne-
mann. Aber einmal ist die Beantwortung der Frage in den fol-
genden Zeilen von einem Gesichtspunkt unternommen, der sich
meines Erachtens von den frühern Behandlungen erheblicher
Die römische Ziffer bedeutet die Bändezahl von Schillers Werken in
der grossen historisch -kritischen Ausgabe von Karl Goedeke; die Zitate
haben die Orthographie dieser Ausgabe.
K. » Schillers Briefwechsel mit Körner. Berlin 1847, 4 Bde.
J. -= F. Jonas, Schillers Briefe, Kritische Gresamtausgabe.
F. G.»Adam Fergusons Grundsätze der Moralphilosophie. Übersetzt
und mit Anmerkungen versehen von Christian Garve. Leipzig. 1772.
M. P. == Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele in drey Ge-
sprächen von Moses Mendelssohn, Carlsruhe, ohne Jahreszahl.
M. = J. Minor. Schiller. Sein Leben und seine Werke, Berlin, 1890.
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 126 8
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JI4 . HANS CLASEN.
unterscheidet. Andererseits aber dürfte zur Zeit der Hundertjahrs-
feier des Todestages des Dichters eine gesonderte Darstellung
der Frage, wie sie aus jahrelanger Beschäftigung mit den Schriften
von und über Schiller erwachsen ist, wohl am Platze sein.
Ich wüsste die Eigenart und den Gegensatz der in Frage
stehenden Weltanschauungen des jugendlichen und des gereiften
Dichters im allgemeinen nicht prägnanter zu bezeichnen als mit
eignen Worten des Dichters. Dazu werde die erste Strophe von
„Licht und Wärme" (XI. p. 260) der letzten von „Worte des
Wahns" (XI. p. 320) gegenübergestellt. Dort heisst es:
Der bessre Mensch tritt in die Welt
Mit fröhlichem Vertrauen,
Er glaubt, was ihm die Seele schwellt,
Auch ausser sich zu schauen,
Und weiht, von edlem Eifer warm,
Der Wahrheit seinen treuen Arm.
*
Hier dagegen wird diese Unklarheit in der Anschauung als
Wahn verdammt und der Mensch auf sich selbst verwiesen:
Drum edle Seele! entreiss dich dem Wahn,
Und den himmlischen Glauben bewahre.
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn.
Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draus sen, da sucht es der Thor,
Es ist in Dir, Du bringst es ewig hervor.
Keineswegs also hat der Dichter in seiner fortschreitenden
Entwicklung sich verleiten lassen, jene unklaren, aber begeistern-
den Ideen überhaupt aufzugeben; das hiesse ja „des Wissens
Licht mit dem Herzen zahlen" (XL p. 260). Er hat nur ab-
zustreifen gesucht, worin ihre Unklarheit liegt, die unkritische
Übertragung auf die Wirklichkeit. Denn diese Wirklichkeit ist
nicht ideal, sondern, wie die Worte des Wahns ausführen, in
ewigem Kampfe gegen das Gute und Wahre begriffen; sie darf
nur mit dem nüchternen Auge des Weltmanns aufgefasst werden.
Jene Ideen aber haben, wie ihre Quelle, so ihren eigentlichen
Wirkungskreis im menschlichen Herzen; sie haben ihre ewige
Berechtigung als die ernsten, bleibenden Aufgaben der Menschen-
welt. Sie sind nicht den die Erde beherrschenden, falschen
Mächten unterworfen, „die unterm Tage schlimmgeartet hausen"
(XII. p. 243); deren Herrschaft erstreckt sich nur auf die äussere,
die Körperwelt (XL p. 55).
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG, 115
Der Weg der Entwicklung Schillers ist also nach innen
gerichtet, ein immer tieferes Eindringen in sich selbst. Das Ziel
ist einerseits eine geläuterte Selbsterfassung in dem Ideal und
damit zugleich andererseits eine feste Begründung dieses Ideals in
dem in der Tiefe gefassten Selbst. Die Ideen des Guten, Schönen,
Wahren haben ihren eigentlichen Gehalt darin, dass sie die un-
verrückbaren Ziele des Geistes bedeuten, und in der ideellen Be-
tätigung wiederum bezeugt der Geist seine Eigenart und seine
substanziell begründete Verschiedenheit von der unbewussten Natur.
L Die Julius -Ideen.
Nachdem wir somit in Kürze die Art der Wandlung an-
gedeutet haben, die Schillers Weltanschauung zeigt, wenden wir
uns der genaueren Betrachtung dieser Anschauung zu. Es möchte
aber angezeigt sein, diese allgemeinen Ideen kurz als die theo-
sophischen Julius-Ideen zu bezeichnen; denn wir finden sie in
zusammenhängender Entwicklung dargestellt in der ,, Theosophie
des Julius* in den „Philosophischen Briefen" (IV. p. 40—51).
A. Die Blemente.
I. Die Selim-Sangir- Anschauung.
Der zentrale Begriff der Theosophie ist in der „Freund-
schaft oder platonischen Liebe'' zu suchen. Das geht aus dem
Briefe an Reinwald vom 14. April 1783 (J. I. p. 112 — 116) hervor,
der drei Jahre vor Veröffentlichung der philosophischen Briefe im
Anschluss an diesen Begriff einen kurzen Abriss der Theosophie
bietet. Das bestätigt der Theosoph in den Schlussworten des
Kapitels „Liebe**, und das Gedicht, das geteilt in den Kapiteln
„Liebe* und „Gott* zu lesen ist, trägt bei seiner ersten Veröffent-
lichung in der Anthologie die Überschrift: „Die Freundschaft. — *
Die erste Spur aber dieses Freundschaftsbegriffes finden wir in
dem Briefe an Scharffenstein (I. p. 55—60), einem der Mitschüler,
mit denen Schiller einen schwärmerischen Freundschaftsbund
geschlossen hatte (vgl. Hoffmeister- Viehoff, I. p. 35). Unter den
Mitgliedern dieses Bundes war Scharffenstein Schiller beson-
ders nahe getreten. Sie liebten und ehrten einander unter den
Namen Selim (Schiller) und Sangir (Scharffenstein) als die,
die Gott, nach Klopstocks Worten (vgl. Salem, An Bodmer), für
8*
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Il6 HANS CLASEN,
einander geschaffen, zur Liebe geschaffen habe. Dies enge Bündnis
wurde durch Scharffenstein zerstört, als er Schiller vorwarf,
dass alle seine „Empfindungen von Grott, Religion, Freundschaft*
unwahr seien; sie seien Phantasie, „blos vom Dichter nicht vom
Christen, nicht vom Freunde herausgequollen* (I. p. 57), Gedächt-
niskram von der „Lesung Klopstocks" her (I. p. 58). Gegen
diesen Vorwurf verwahrt sich der junge Dichter in jenem Briefe
aufs eifrigste. Uns interessieren vor allem folgende Stellen, die
ich hier wörtlich aufführe: „Der Sangir, den ich so liebe, war
nur in meinem Herzen, Gott im Himmel weiss es, wie er darin
geboren wurde, aber er war nur in meinem Herzen und ich
betete ihn an in Dir, seinem ungleichen Abbilde.* „ ich
schwoll, wie Sago, in Deiner Gegenwart, und doch war ich nie
so sehr gedemüthigt, als wenn ich Dich ansah. Dich reden hörte,
Dich fühlen sah, was Dir die Sprache versetzte, da fühlt ich mich
kleiner als sonst überall, da that ich Wünsche zu Gott, mich Dir
gleich zu machen!* (I. p. 55). Kühnemann (Kantische Studien,
p. 80) findet in dieser Steile „das. erste deutliche Anzeichen einer
selbständigen Gedankenbildung* und weiterhin (p. 81) „das erste
Auftreten der psychologischen Methode*. Beide Urteile scheinen
in dieser Form über das Ziel hinauszuschiessen. Die angeführten
Worte Schillers haben einen ausgesprochenen platonischen Ge-
schmack. Man denkt unwillkürlich an die Schilderung des Zu-
standes des Liebhabers in der dritten Liebesrede im Phädrus.
Wenn man die metaphysische Lehre Platons von der dvd/ivrjoig
und die ganze mythische Einkleidung fortlässt, so möchte ein
ähnlicher Rest psychologischer Erklänmg übrig bleiben. Welche
Urteile aber zu jener Zeit über die ävd/bivtjais herrschten, zeigt
uns ein Bück in Mendelssohns Phädon. Platon gründet den Be-
weis von der immateriellen Einfachheit der Seele auf die ävd/ivrjoig^
Mendelssohn aber urteilt in der Vorrede zu seinem Phädon:
„Seine (Platons) Beweise für die Immaterialität der Seele scheinen,
uns wenigstens, so seichte und grillenhaft, dass sie kaum eine
ernste Widerlegung verdienen.* Es ist also Grund vorhanden
anzunehmen, dass die platonische Liebeslehre auf der Militär-
akademie in einer psychologischen Form behandelt worden ist,
die der Schillerschen Selim- Sangir- Anschauung ähnelt Noch
später spricht im „Menschenfeind* (VI. p. 302) Hütten in platoni-
sierender Weise von den grossen bezaubernden Bildern, die unsre
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG,
117
Seele sich erschaffe, und diese Huttenschen Worte zeigen eine
überraschende Ähnlichkeit mit Worten von Schillers Lehrer
Abel in dessen „Einleitung in die Seelenlehre* § 1077. Dem-
nach wäre Gedankeninhalt und „psychologische Methode** der
Auffassung dem jungen Schiller gegeben. Seine selbständige
Leistung wäre die Übertragung des platonischen Begriffs auf sein
Verhältnis zu Scharffenstein und die aus diesem hoch ge-
spannten phantasierenden Freundschaftsgefühl (vgl. K. Fischer)
hervorgehende Form der Darstellung.
2. Der Liebesbegriff in der Anthologie und den
akademischen Festreden.
a) Die Metaphysik des Liebesverlangens
(Greheimnis der Reminiszenz).
Schiller ist sich des Platonischen in seinem Freundschafts-
begriff sehr wohl bewusst. Er bezeichnet später in dem genannten
Brief an Reinwald den entwickelteren Begriff geradezu als „pla-
tonische Liebe". Aber schon in der Selbstrezension der An-
thologie (ü. p. 384) urteilt er von seinen Lauraliedem, dass sie
überspannt seien imd hier und da „eine schlüpfrige sinnliche
Stelle in platonischen Schwulst verschleyert* enthielten.
Dieser „platonische Schwulst* liegt in der metaphysisch -dichte-
rischen Erklärung der Macht der Liebe, die vor allem in der
Phantasie an Laura und dem Geheimnis der Reminiszenz zu finden
ist. In dem Geheimnis der Reminiszenz herrscht die Anschauung,
dass das „Wutverlangen'' der Liebenden daher stammt, dass sie
in einer früheren Existenz zusammen einen Gott gebildet haben.
Sie sind die „schönen Trümmer" dieses Gottes, die wieder in
eins, in ein Wesen sich verschlingen möchten. K. Fischer zieht,
Schillerschriften I. p. 59, zum Vergleich die Lehre Platons von
der übersinnlichen Schau der Ideen heran, und man könnte auch
durch das Wort Reminiszenz verleitet werden, eine Anspielung
auf die ävä/Avt^oig zu suchen. Viel klarer aber scheint mir eine
Beziehung zu des Aristophanes derb -humoristischer Erklärung
der geschlechtlichen Liebe im Symposion hervorzutreten. Dadurch
würden m. E. auch die beiden letzten Strophen des Gedichtes
aufgehellt. Adam und Eva sind das Urbild der Liebenden, die
durch Teilung des ersten Menschen entstanden sind. Sie leben
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Ii8 HANS CLASEN,
im Paradiese in seliger Erinneningslosigkeit dahin. Erst der Ge-
nuss des Apfels bringt die Erinnerung, den Göttertraum, die
Liebe, mit ihrer Qual und Seligkeit, und diese natürliche und da-
her unschuldsvolle Liebe erregt den Neid der Teufel, die derselben
nicht fähig sind. Dass die Aristophanische Rede im Unterricht
hervorgehoben sei, macht eine Stelle aus Abels Philosophischen
Untersuchungen über die Verbindung des Menschen mit höheren
Geistern (Stuttgart, Mezler, 1791, p. 54flf) wahrscheinlicher, die
den Mythos „von dem Ursprünge der Geschlechterliebe in dem
Gastmahl* unter den Mythen aufzählt, die Platon den Ideen des
Volksglaubens entnommen habe.
b) Die Liebe als die Grundkraft der Schöpfung
(Die Phantasie an Laura).
Der Grundgedanke der Reminiszenz von der vorzeitlichen
Vereinigung der Liebenden ist eine Erweiterung der Selim-
Sangir -Anschauung. Nach einer andern Seite hin treffen wir in
der Anthologie einen Ausbau jener Anschauung in der Phantasie
an Laura (I. p. 210):
Gleich allmächtig, wie dort in der todten
Schöpfung ew'gem Federtrieb,
Herrscht im arachneischen Gewebe
Der empfindenden Natur die Lieb'!
All das Suchen und Fliehen in der unbewussten Natur ist
im Grunde dasselbe, wie die Liebe in der „empfindenden*
Menschenwelt. Hier wird also das unbewusst Zwingende hervor-
gehoben, das sich in den Erscheinungen der Sympathie und
Antipathie kundgibt, das Irrationale, Unerklärliche, wodurch sich
die Liebe der Naturkraft verwandt zeigt. — Was hier dichterisch
in Eins gesetzt ist, war schon in Parallele gestellt in der zweiten
akademischen Festrede des jungen Zöglings der Militärakademie
(I. p. 97). Für diese Parallele aber hatte der junge Dichter ein
Vorbild (K. Fischer, Schillerschriften I. p. 44, kann mich nicht vom
Gegenteil überzeugen) in seinem Lieblingsphilosophen Ferguson-
Garve p. 81 f. Das „zweyte Gesetz" des Willens (die beiden
Gesetze sind das der Selbsterhaltung und das der Geselligkeit)
wird in seiner Wirksamkeit dem Gesetze der Schwere verglichen
und durch diese Analogie die Wirkungsweise jenes Gesetzes zu
erklären versucht.
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG,
119
c) Die Liebe als Idealzustand des Geistes
(Die akademischen Reden, Triumph der Liebe).
Haben wir in dem zuletzt Erwähnten eine Erweiterung des
Liebesbegriffs über die untermenschlichen Geschöpfe, so treffen
wir endlich noch ein letztes Moment an, das einer Ausdehnung
der Liebe auf die übermenschlichen Wesen gleichzusetzen wäre.
Die Liebe wird als das vollkommene Ideal gefeiert, als der Zu-
stand der vollendeten tugendhaften Gesinnung, als das erfüllte
Wesen des reinen Geistes. In diesen Begriffsbestimmungen nun
zeigt sich der junge Schiller ganz besonders abhängig und be-
engt von den Anschauungen seiner Zeit, von seiner Lektüre. So
bestimmt er in seinen akademischen Reden die tugendhafte Ge-
sinnung, „die innere Quelle* der tugendhaften Tat, als Liebe, oder
genauer als „das harmonische Band von Liebe und Weisheit*,
als ^weises Wohlwollen". Inhaltlich möchte sich diese Definition
an F. G. p. i52f. und an Abel (vgl. hierzu: Abel, Einleitung in
die Seelenlehre § 984) anschliessen. Dazu wird die Tugend,
wohl mit Mendelssohn (M. P. p. 159^), als „Nachahmerin Gottes",
„des höchsten Urbildes der Tugend", bezeichnet, der aus höchster
Liebe die Welt geschaffen und ihr dabei aus höchster Weisheit
„Ordnung und Wohlklang" verliehen hat. Endlich aber soll der
Begriff der Liebe als der Quelle der Tugend mit der die Zeit
beherrschenden Glückseligkeitslehre in Verbindung gebracht wer-
den. Das geschieht, im Anschluss etwa an F. G. p. loif. und
Abel (vgl. Abel, Plan zu einer system. Metaphysik, p. 194 f.) > in
dem Satze, dass nach einem ewigen Gesetze in der „empfinden-
den und denkenden Natur" die- Glückseligkeit des einzelnen mit
der Vollkommenheit und d. h. der Glückseligkeit des Ganzen zu-
sammenfalle. Wer seine eigene, währe Glückseligkeit erstrebt,
bemüht sich damit zugleich um die Bedingung, die Glückseligkeit
des Ganzen. Ebendarum gehört zur tugendhaften Gesinnung
ausser der Liebe die Weisheit; blosse Gutmütigkeit verdient nicht
den „glorreichen Namen" der Tugend.
Die Anschauung der elementaren Sympathie und des Ideal-
zustandes des sittlichen Geistes drängten sich in den ursprünglich
platonisch gefärbten Begriff der Liebe hinein. Es ist verständlich,
wie bei einem solchen Schwanken des Begriffs der junge Militär-
akademiker in seiner Festrede: „Die Tugend in ihren Folgen be-
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I20 HANS CLASEN,
trachtet*, in Verwirrung geraten konnte; wenn er die Folgen der
Liebe als die Quelle der Tugend schildern will, so gleiten seine
Gedanken bei Betrachtung der äusseren Folgen vom Ideal ab
und unwillkürlich auf die elementare Sympathie über. Ebenso
lässt in der Anthologie der Triumph der Liebe die einheitliche
Durcharbeitung der Grundanschauung vermissen. Es wird die
Herrschaft der Liebe gepriesen, wie sie die Wilden bändigt, den
Göttern den Himmel erträglich macht, die eigentliche Seele der
beseelten Natur ist und die Geister zur Seligkeit, zum Vater
führt, den sie durch die Weisheit des Verstandes vergeblich zu
erreichen suchen.
d) Die Freundschaftsode.
Am klarsten ausgeprägt in der Anthologie ist der plato-
nische Liebesbegriff in dem Gedichte die Freundschaft. Hier tritt
die Vermengung heterogener Elemente am wenigsten verwirrend
hervor. Allerdings preisen die beiden ersten Strophen des Ge-
dichts die Genügsamkeit des „Wesenlenkers*, der mit einer
Kraft „Geisterreich imd Körperweltgewühle" zum Ziele führe,
und durch das ganze Gedicht zieht sich die Anschauung von
einem Stufenreich der Wesen. Aber alles dies dient nur zur
Umkränzung des Hauptinhalts, des begeisterten Lobes der Liebe
in der Menschen weit , wie sie die Geister „in umarmenden
Systemen* zur „grossen Geistersonne* emporzieht, und zur
Charakteristik ist die Bemerkung von Bedeutung, dass Schiller
dies Gedicht später in seine „Theosophie des Julius" aufgenom-
men hat ohne die beiden ersten Strophen. — Am Schlüsse des
Gedichtes erhebt sich der junge Theosoph zum höchsten Ideal
der Liebe in einer begeisterten Anschauung des Warum der
Schöpfung (I. p. 287):
Freundlos war der grosse Weltenmeister,
Fühlte Mangel — darum schuf er Geister,
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit! —
Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches,
Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches
Schäumt ihm — die Unendlichkeit.
Diese Herleitung des Grundes der Schöpfung aus dem
Liebesbedürfnis des Schöpfers, was Schiller später die Kunst-
idee nennt, ist, soweit ich sehe, Schillers eigenste Anschauung;
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG. 121
der Brief an Reinwald und die philosophischen Briefe halten an
dieser Idee fest.
B. Die theosophische Anschauung.
I. Der Brief an Reinwald vom 14. April 1783.
Die weitere Entwicklung des Liebesbegriffs lässt die unklare
Vermengung mit der Anziehung zurücktreten und dreht sich
hauptsächlich um das Verhältnis des Ideals zur platonischen
Kraft, die aus dem Naturzustand zum Ideal emporführt; ein Wert-
verhältnis, um das sich Schiller in seinen späteren Jahren be-
kanntlich immer wieder bemüht, über das er aber (ich kann mich
darin nur Falckenbergs Urteil, „Geschichte der neueren Philo-
sophie", 4. Aufl. 1902, p. 356, anschliessen) nie zur endgültigen
Entscheidung gelangt ist.
Wie lebendig die Julius -Ideen in dem jungen Dichter ge-
wesen sind, das zeigt, von späteren Äusserungen abgesehen (vgl.
z. B. Brief an Körner vom 7. Mai 1785), der oben erwähnte Brief
aus Bauerbach an Reinwald vom 14. April 1783. Hier treffen
wir das erste Mal auf den Versuch Schillers, die platonische
Liebe psychologisch zu erklären. Er trägt sich gerade mit seinem
Karlos und kommt nun zu dem Schluss, der Dichter müsse mit
seinem Helden ebenso fühlen wie mit dem Freunde. Daher muss
die „Empfindung" für den Freund und für den „Helden unsrer
Dichtung** derselben seelischen Kraft entstammen, d. h. die Freund-
schaft muss eine andre Wirkung der ,, Dichtungskraft*', der Phan-
tasie, sein (J. p. 114). Oder wie es anders zu Anfang des Briefes
(p. 113) ausgedrückt ist, in unsrer Seele schlafen alle Charaktere
„nach ihren Urstoffen** und gewinnen durch „Wirklichkeit und
Natur** (Freund) oder durch „künstliche Täuschung** (Held der
Dichtung) ein „dauerndes** oder ein „illusorisches und augenblick-
liches** Dasein. In dieser Bestimmung haben wir ein psycholo-
gisches Weiterdenken der Selim-Sangir- Anschauung. Allerdings
darf für die Wertung dieser psychologischen Auseinanderlegung
nicht übersehen werden, dass sie Unausgesprochenermassen schon
in jenem Briefe an Scharffenstein mit enthalten ist. Dazu ist
die Zurückführung auf die Dichtungskraft dem psychologischen
Scharfblick des Dichters und nicht der Theorie des Psychologen
entsprungen. Denn die psychologische Ableitung des Satzes be-
friedigt den Dichter selbst nicht (a. a. O. p. 115).
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122 HANS CLASEN.
Die Darlegung des Briefes geht aus von dem Satze: Liebe
ist „Verwechslung eines fremden Wesens mit dem unsrigen*',
eine „heftige Begehrung seiner Eigenschaften"; wir lieben in
dem Freunde nur uns selbst, unser Ich im fremden Spiegel,
ein Satz, der auch auf die Liebe Gottes zu der geschaffenen
Welt ausgedehnt wird. Dann wird der metaphysische Ge-
danke herbeigezogen von einem Stufenreich der Geister, wonach
die verschiedenen endlichen Wesen je verschiedene Seiten der
göttlichen Vollkommenheit ausdrücken. Dieser Gedanke tritt
schon in der Freundschaftsode auf, er entstammt wohl dem
Mendelssohnschen Phädon, dessen drittes Gespräch von p. 143 an
sich in dieser Leibnizischen Anschauung ergeht. Von diesem
metaphysischen Gesichtspunkt aus betrachtet, ist jenes Streben
nach Verwechslung oder platonische Liebe ein „ewiges nothwen-
diges Bestreben, zu diesem Winkel den Bogen zu finden, den
Bogen in einen Zirkel auszuführen**, oder „die zerstreuten Züge
der Schönheit, die Glieder der Vollkommenheit in einen ganzen
Leib aufzusammeln", das Nebengeschöpf „in sich hineinzuschlingen".
Dies notwendige Bestreben ist das Bedürfnis, das sich in der
Dichtungskraft oder Phantasie kundgibt.
Ich möchte diese Zurückführung der platonischen Liebe auf
die innere Quelle der Dichtungsktaft als einen ersten Ansatz be-
trachten zu der späteren Anschauung, dass das Ideal einzig in
dem menschlichen Herzen entspringt. Dann ist aber zugleich
klar, dass die Hineinziehung jenes metaphysischen Satzes, der
auf die äussere Vollkommenheit hinweist, nur verwirrend wirken
kann. Die Ableitimg bleibt mangelhaft und die zugrunde liegende
Idee eine dichterische Ahnung. Darum sucht der Dichter nach
einleuchtenderer Begründung.
2. Die Theosophie des Julius in den philosophischen
Briefen.
Wie weit Schiller die logische Durcharbeitung seiner dich-
terisch-prophetischen Anschauung im Banne der Glückseligkeits-
lehre gelimgen ist, sehen wir in der Theosophie des Julius in den
philosophischen Briefen. Die psychologische Erklärung der „Ver-
wechslung der Wesen* finden wir hier im zweiten Kapitel, das
die Überschrift „Idee" trägt: „Anschauung des Schönen, des
Wahren, des Vortrefflichen ist augenblickliche Besitznehmung
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG,
123
dieser Eigenschaften. Welchen Zustand wir wahrnehmen, in diesen
treten wir selbst. Wir selber werden das empfun-
dene Objekt." Es ist leicht ersichtlich, wie einem Dichter eine
solche Theorie zusagen konnte. Sie herrschte damals in der
Psychologie (man vgl dazu: Sommer, Grundzüge einer Geschichte
der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolf -Baumgarten
bis Kant -Schiller). Schiller wurde auf sie geführt durch die
ihm bekannten Philosophen. Denn in Sulzers Allgemeiner Theorie
der schönen Künste 11. p. 1084 I lesen wir: „Beym Empfinden sind
wir selbst das Ding, mit dem etwas veränderliches vorgeht".
Auch Abel lehrt, dass das Empfinden eine „durch die Sinne ent-
standene Modifikation der Seele" sei (Einl. i. d. Seelenlehre § 301).
Mit den Ausführungen, die wir in der zitierten Stelle der AßELschen
Seelenlehre lesen, übereinstimmend, hatte schon der junge Medi-
ziner in seiner „Philosophie der Physiologie" § 8 die „Vorstellung"
für eine „Veränderung der Seele" erklärt, „die der Weltver-
änderung gleich ist". Das wird dann nochmals umschrieben:
„Ich bin also in dem Augenblicke ganz dasselbe, was ich mir
vorstelle".
Zu dieser Lehre von der Idee oder Vorstellung tritt wieder
die metaphysische Ansicht von dem Stufenreich der Wesen, die
je eine besondere Vollkommenheit, je einen besondem „Punkt"
oder eine besondere „Linie" (vgl. J. I. p. 113) vom Wesen der
Gottheit ausdrücken. Dies ist in den Kapiteln „die Welt und das
denkende Wesen" und „Gott" näher ausgeführt. Das Kapitel „die
Welt und das denkende Wesen" erinnert im ersten Abschnitt an die
oben zitierte Stelle aus dem dritten Gespräch von Mendelssohns
Phädon; auch bei F. G. (z. B. p. 324) und Abel (Einl. i. d. Seelen-
lehre § 1568 f.) finden sich ähnliche Ideen. Die Welt ist ein Ge-^
danke Gottes, einem grossen Weltenplan entsprungen; die Auf-
gabe der denkenden Wesen ist, aus dem Bau der Welt den
Grundriss des Baumeisters zu finden, in der Betrachtung der Welt
die Kräfte zu üben und in dieser Übung glückselig zu sein: das
sind Sätze, wie wir sie auch in den Einleitungen der beiden medi-
zinischen Abhandlungen antreffen. Aber die Fassung ist hier
runder und kürzer. Auch wird eine Anschauung herbeigezogen,
die schon in dem Briefe an Reinwald (J. I. p. 113) auftritt: die ^
Gesetze der Natur sind symbolische Zeichen, durch deren Deutung
die endlichen denkenden Wesen die Äusserungen des Unend-
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124 HANS CLASEN.
liehen erfassen, das hieroglyphische Alphabet, die Sprache, durch
die Gott mit uns redet (vgl. hierzu F. G., p. 109).
Endlich verwertet der Theosoph jene Idee aus dem „Ge-
heimnis der Reminiszenz". Schon im Briefe an Reinwald hatte
v Schiller sie übertragen aul den Ursprung der ganzen Welt aus
dem einen Gott; die endlichen Wesen sind „Trümmer" von
Gottes Wesen. Dementsprechend lesen wir in der Theosophie
^ in dem Kapitel „Gott": die Natur ist ein geteilter Gott. Um die
Art dieser Teilung zu veranschaulichen, wählt der Theosoph das*
selbe Bild von dem in farbigen Strahlen geteilten weissen Licht,
das er im Briefe (p. 112 f.) auf die Wirkung der Phantasie ange-
wendet hatte.
Mit diesen Hilfsmitteln nun glaubt der Theosoph das Ideal
der Liebe, das er vor Augen hat, im Rahmen der Glückseligkeits-
lehre darstellen zu können. Er ist mit dieser Lehre überzeugt,
dass der Grundtrieb des denkenden Wesens der Trieb nach eigener
Glückseligkeit und eigner Vollkommenheit ist. Die Vorstellungs-
lehre sagt nun, dass ich durch Anschauen fremder Vollkommenheit
und Glückseligkeit diese selbst besitze. Darum folgt, dass ich ge-
mäss jenem Grundbetrieb fremde Glückseligkeit wie meine eigne
erstreben muss. Das Streben nach fremder Glückseligkeit ist
aber Liebe, und somit ist die Liebe auf den Trieb nach eigner
Glückseligkeit und Vollkommenheit zurückgeführt.
Es kommt nunmehr also zur genaueren Bestimmung des
Liebesbegriffs auf die Erklärung der „Urkraft" (IV. p. 45), des
Glückseligkeitstriebes, an. Hierzu dienen die metaphysischen
Sätze. Das Bild des geteilten Gottes vermag nun zwar wohl das
Treibende, die elementare Seite der Liebe zu veranschaulichen.
Aber obwohl in ihm ein fruchtbarer religionsphilosophischer Be-
griff versteckt liegt, bleibt es innerhalb der Theosophie eine mehr
mechanische Erklärung. Denn es wird nicht sowohl die plato-
nische Vorstellung des Sehnens der endlichen Wesen nach der
Vereinigung mit dem Höchsten und des diesem Sehnen ent-
springenden „glücklichen Betrugs" (J. I. p. 113) daraus abgeleitet,
sondern die Anziehung der endlichen Wesen direkt zueinander.
Die Gottähnlichkeit wird nicht als idealistischer Grund, sondern
mehr als realer Erfolg der Liebe angesehen. Der Grund dieses
Mangels ist darin zu suchen, dass an die Stelle des platonischen,
überschwenglichen Sehnens der Seele der dogmatisch übemom-
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG.
125
mene Begriff tritt, dass die Grundkraft der Seele der Trieb nach
eigner Vollkommenheit, eigner Glückseligkeit sei. Denn dem
Streben nach eigner Vollkommenheit nützt die unvorstellbare,
unendliche Vollkommenheit Gottes nichts. Ein so gerichteter Trieb
muss sich an die endliche Vollkommenheit halten, die wir nach
dem Kapitel „die Welt imd das denkende Wesen" durch die
rechte Deutung der umgebenden Welt erkennen, und die durch
die deutende Vorstellung gemäss der Vorstellungslehre unser
Besitz wird.
Die Anpassung an die herrschende Glückseligkeitslehre hat
also die eigenste Anschauung des Theosophen verbogen, denn
Julius' Theosophie steht und fällt mit dem Begriff einer „un-
eigennützigen Liebe, d. h. der reinen, selbstiosen Hingabe
(IV. p. 48). Ein solcher Begriff kann aber selbstverständlich inner-
halb einer Theorie, die den Trieb nach eigner Glückseligkeit als
Grundkraft der Seele annimmt, nur gezwungen aufrechterhalten
werden. Kein Wunder daher, dass das Kapitel „Aufopferung"
nicht das hält, was es verspricht. Der Widerspruch, der darin
liegt, dass meine Glückseligkeit durch meinen Tod vermehrt werden
soll, wird nicht weiter aufgelöst. Sondern es wird die Art der
Liebe durch Vergleich mit dem Egoismus hervorgehoben und
dann die „ganze erhabene Anlage zu der Liebe" in dem „hellen
umfassenden Sonnenblick des Genies", dem Flammenrad der Be-
geisterung (IV. p. 49) gefeiert, d. h. die Lücke der mangelhaften
Theorie wird durch zutreffende dichterische Anschauung aus-
gefüllt. — Am Schlüsse des Kapitels sucht der Theosoph aller-
dings die Tatsache der Aufopferung dadurch der Glückseligkeits-
lehre näher zu bringen, dass er von dem sein Leben dahingehenden
Helden sagt: „Das Menschengeschlecht, das er jetzt sich denket,
ist Er selbst. Es ist ein Körper, in welchen sein Leben, ver-
gessen und entbehrlich, wie ein Blutstropfe schwimmt — wie
schnell wird er ihn für seine Gesundheit versprüzen!" (IV. p. 49).
Aber er denkt nicht im Geringsten daran, diesen inneren, idealen
Zustand des Helden als Wirkung des Triebs nach eigner Glück-
sehgkeit zu bezeichnen. Wie sollte auch ein Zustand, in dem
das eigne Leben „vergessen imd entbehrlich" ist, als eigne Glück-
seligkeit bezeichnet werden können!
(^
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126 HANS CLASEN,
Q. Der Liebesbegriff in Anmut und Wfirde.
Mir scheint Kuno Fischer (Schillerschriften III p. 63) die
Grundtendenz der Theosophie sehr glücklich umschrieben zu
haben in den Worten: „Unser Selbstgefühl erweitert sich in
der Liebe zum Weltgefühl**. Schiller drückt dies später selbst
in einem Briefe an Lotte v. Lengefeld und Karoline v. Beulwitz
(12. Dez. 1788; J. IL p. 177) folgendermassen aus. Er berichtet
über ein Gespräch mit Karl Philipp Moritz: es habe über ein
Lieblingsthema Schillers gehandelt, ^über das Leben in der
Gattung, das Auflösen seiner selbst im grossen Ganzen
und die daraus unmittelbar folgenden Resultate über Freude und
Schmerz, über Tugend und Liebe, über den Tod**; davon seien
auch „Spuren" im Julius enthalten. Diese kurze Bemerkung
verrät ein ungleich ruhigeres, objektiveres Urteil. Sie enthält eine
nüchterne Rekapitulation alles dessen, was der Theosoph früher
umständlich mit seinen metaphysischen Sätzen mystisch-spekulativ
erklären wollte.
Treffen wir also Schiller hier schon auf jenem Wege von
schwärmerischer Verquickung zu nüchterner Selbsterfassung, so
finden wir die Ansicht des gereiften Denkers über die Liebe in
der Abhandlimg „über Anmut und Würde**. Es werden am
Schluss die Gefühle unterschieden, die durch die Erscheinungen
der Würde und der Anmut hervorgerufen werden. Von der
Würde, heisst es, ist die Achtung unzertrennlich. Dann lesen wir
weiter: „In der Anmuth hingegen, wie in der Schönheit überhaupt,
sieht die Vernunft ihre Forderung in der Sinnlichkeit erfüllt, und
überraschend tritt ihr eine ihrer Ideen in der Erscheinung ent-
gegen. Diese unerwartete Zusammenstimmung des Zufälligen der
Natur mit dem Nothwendigen der Vernimft, erweckt ein Gefühl
frohen Beyfalls, (Wohlgefallen) welches auflösend für den Sinn,
für den Geist aber belebend und beschäftigend ist, und eine An-
ziehung des sinnlichen Objekts muss erfolgen. Diese Anziehung
nennen wir Wohlwollen — Liebe; ein Gefühl, das von Anmuth und
Schönheit unzertrennlich ist." Es wird darauf die Liebe zu der
Achtung und der Begierde in Gegensatz gesetzt, zur ersten hin-
sichtlich ihres Subjekts, zur letzten hinsichtlich ihres Objekts;
das Subjekt der Liebe ist die moralische Natur, ihr Objekt da-
gegen ist sinnlich: „Die Liebe allein ist also eine freye Empfindung,
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DER IVANDEL IN SCHILLERS fVELT ANSCHAUUNG. 127
denn ihre reine Quelle strömt hervor aus dem Sitz der Freyheit,
aus unsrer göttlichen Natur. es ist das ab-
solute Grosse selbst, was in der Anmuth und Schönheit sich
nachgeahmt und in der Sittlichkeit sich befriedigt findet, es ist
der Gesetzgeber selbst, der Gott in uns, der mit seinem eigenen
Bilde in der Sinnlichkeit spielt" (X. p. iigf.)-
So führt ScHii-LER jetzt den Liebesbegriff ganz auf Verhält-
nisse der menschlichen Seele zurück. Alle metaphysischen Be-
ziehungen sind abgeschnitten. Wohl spricht der Dichter von der
göttlichen Natur, aber von „unsrer** göttlichen Natur, wohl spricht
er von Gott, aber von dem Gott „in uns". Die Vollkommenheits-
lehre ist nicht mehr anzufinden. Die „Urkraft" des Julius, der
metaphysisch begründete Trieb nach eigner Vollkommenheit, ist
ersetzt durch den „Sitz der Freiheit", unsere göttliche Natur, das
„absolut Grosse", den „Gesetzgeber", das „Heilige" in uns. In-
haltlich bleiben die Bestimmungen des Liebesbegriffs dieselben,
wie früher. Nur ist die unklare Stellung des Aussen zum Innen
verschwunden, und die Erklärung schliesst sich rund in der
Schöpferkraft der Seele zusammen. Diese „Dichtungskraft", die
früher zu der Vollkommenheit der äussern Welt keine sichere
Stellimg gewinnen konnte, wird jetzt zur allbeherrschenden Kraft;
das zeigen Ausdrücke, wie: „der Gott in uns, der mit seinem
eignen Bilde in der Sinnen weit spielt", oder: es ist immer nur
der Liebe „eignes Selbst, was sie an ihrem Gegenstande sucht
und schätzet".
Das Platonische des Begriffes springt in die Augen. Es
wird aber noch besonders hervorgehoben. „Aber eben darum,
weil der Liebende von dem Geliebten nur empfängt, was er ihm
selber gab, so begegnet es ihm öfters, dass er ihm selber gibt, was
er nicht von ihm empfieng. Der äussere Sinn glaubt zu sehen,
was nur der innere anschaut . Daher ist die
Liebe so leicht der Täuschung ausgesetzt . So
lange der innere Sinn den äussern exaltiert, so lange dauert
auch die selige Bezauberung der platonischen (!) Liebe, der zur
Wonne der Unsterblichen nur die Dauer fehlt" (X. p. 121).
Die Ausdrücke, die für die theosophische „Urkraft" auf-
treten (das absolut Grosse in uns usw.) sind durch den kantischen
Begriff der praktischen Vernunft beeinflusst. Es soll ein andermal
erörtert werden, inwieweit die kantische Vernunft im Schillerschen
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128 HANS GLASEN,
Geiste eine gewisse Verschiebung erleidet. Eine andere Frage
aber ist, welchen Einfluss der Anschluss an Kant auf den früheren
Theosophen ausgeübt hat. Man möchte nach dem Dargelegten
geneigt sein, anzunehmen, dass jener Weg nach innen der Ein-
wirkung Kants entstamme. Indes wir werden bald sehen, dass
Schiller durch seinen eigenen Gedankenkreis in diese Richtung
geführt wurde. Wir dürfen also nur behaupten, dass die Beschäf-
tigung mit Kant Schiller in seinem Bestreben, sich auf das
Innen zu gründen, befestigt habe. Untersuchen wir dann weiter,
was der LiebesbegrifF als solcher durch den Anschluss an Kant
gewonnen hat, so ist das Resultat ein negatives. Wenn den
Theosophen die Theorie von der eigenen Glückseligkeit und die
durch die Vorstellungslehre damit verknüpfte Lehre von der Ein-
wirkung der Vollkommenheit der Welt an einer reinen Dar-
stellung der Idee der uneigennützigen Liebe, der reinen Hingabe,
hinderte, so vermag jetzt der Dichter-Denker den unlebendigen
Begriff des kategorischen Imperativs nicht zu überwinden. Die
Liebe bleibt „das Grossmüthigste und das Selbstsüchtigste in der
Natur" ; sie empfängt zwar nichts von ihrem Gegenstand, sondern
gibt alles aus eigner Schöpferkraft her, aber „es ist immer nur
ihr eignes Selbst, was sie in ihrem Gegenstand sucht und
schätzet" (X. p. 120).
II. Die Prinzen-Ideen.
Einen Aufschluss über den Weg, der Schiller zur innern
Selbsteinkehr geführt hat, gewährt die Betrachtung einer Ideen-
reihe, die von vorneherein mit den Julius-Ideen aufs engste ver-
knüpft ist. Der Theosoph klagt inbezug auf die Begründung
seines Systems, er forsche nach den Gesetzen der „Geister**, ohne
ihre Existenz zu erweisen, und fährt dann fort: „Ein kühner An-
griff des Materialismus stürzt meine Schöpfung ein** (IV. p. 40).
Dieser Angriff liegt vor in dem philosophischen Gespräche im
Geisterseher (IV. p. 285 — 311), in der Philosophie des Prinzen,
und daher mag diese ganze Ideenreihe mit dem Namen der
Prinzen-Ideen bezeichnet werden. In diesem Gespräche sehen
wir Schiller das Innenwesen von dem Aussen abschliessen und
auf sich selbst stellen. Die metaphysische Spekulation über das
Wesen des Aussen beginnt aus dem Zentrum des Interesses zu
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DER fVANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG. 129
weichen und sich von den theosophischen Begriffen abzulösen,
weil sie für menschliche Erkenntnis unzulänglich und mit unlös-
lichen Widersprüchen verknüpft sei. Auch durch die Art der Dar-
stellung unterscheiden sich die Prinzen-Ideen von den Julius-Ideen.
Während in diese immer die dichterische Anschauimg sich einzu-
mischen geneigt ist, fliessen jene in einem ruhigen Strome der
Überlegung dahin.
In den philosophischen Briefen charakterisiert Schiller das,
was wir die Prinzen-Ideen genannt haben, mit den Worten:
„Skepticismus und Freidenkerei*. Er nennt sie „Fieberparoxysmen
des menschlichen Geistes **, die in der Entwicklungszeit notwendig
auftreten und in „gut organisierten Seelen** die „Gesundheit" der
gereiften Jahre befestigen helfen (IV. p. 32). Die ersten Julius-
Briefe zeigen den Theosophen in diesem Stadium des Paroxysmus.
Der Herausgeber der Briefe gibt sich allerdings den Anschein, als
ob er schon die Gesundheit erreicht habe. Aber die kritischen
Bemerkungen, die der Theosoph IV. p. 52—55 dem „verlorenen
Aufsatz" hinzufügt, sprechen ebenso sehr dagegen, wie zwei Jahre
später der Brief an Körner vom 15. Februar 1788 (K.I. p. 276 fF.).
Schiller kann sich selbst im Jahre 1788 trotz aller Zweifel noch
nicht mit dem Satze aussöhnen, den er in der „Vorerinnerung'*
der Briefe schrieb: dass die Vernunft ihre „Epochen" habe. Er
klagt in dem Briefe an Körner darüber, dass die Wahrheit „ihre
Saisons" haben und die Philosophie des Julius nur „in einer ge-
wissen Epoche** für ihn wahr sein solle. Hieraus erklärt sich auch,
dass Schiller trotz wiederholter Aufforderung Körners den
„Julius** nicht weitergeführt hat.
Kann ich somit Kuno Fischer nicht darin folgen, wenn er,
Schillerschriften III. p. 72, meint, Schiller habe zur Zeit der Her-
ausgabe der philosophischen Briefe hoch über dem Widerstreit
der Julius- und der Prinzen-Ideen gestanden, so stimme ich voll-
kommen mit seiner Ansicht von der engsten Verbindung der
beiden Ideenreihen im Geiste Schillers überein. Es ist auffällig,
wie von Anfang an immer mit der einen Reihe die andere sich
sofort bemerkbar macht. Ihre Nahrung hat diese enge Ver-
bindung aus der Widrigkeit der äussern Umstände ziehen müssen,
aus Krankheit und aus der Not des Lebens. In den Julius-Ideen
mengte sich die dichterische Begeisterung in die Auslegung der
Wirklichkeit, und fröhliche Selbsgewissheit gab das Vertrauen in
Zeitschrift f. Philos u. philosoph. Kritik Bd. ia6 9
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130 HANS CLASEN.
die Fähigkeit und Pflicht des menschlichen Geistes, die Welt in
metaphysischer Spekulation zu ergründen zu suchen. Davon zeugt
der erwähnte kritische Anhang zur Theosophie. Die äusseren
Umstände dagegen straften die schwärmerischen Glückseligkeits-
ideen immer wieder Lüge. Sie drängten den Körper mit seinen
Bedürfnissen auf, und die verstandesmässig erlernten medizinischen
Kenntnisse traten in den Vordergrund der Überlegung. Indem
die beiden Ideenreihen so widerstreitenden inneren Dispositionen
entsprangen, konnten sie so lange nicht zur befriedigenden Aus-
einandersetzung gegeneinander gelangen, als nicht der innere Quell
selbst sich geklärt hatte, so lange nicht das Nach-Aussen-Streben
des überspannten Glückseligkeitsdranges einer in bezug auf die
äussere Welt sich bescheidenden Richtung nach Innen gewichen war.
Der Moment, wo diese Umkehr nach vielen vorangegangenen
Ansätzen in endgültiger Weise beginnt, scheint mir um die Zeit
der Abfassung des philosophischen Gesprächs im Geisterseher zu
suchen zu sein. Mancherlei Enttäuschungen hatte der junge Dichter
nach seiner Flucht aus Stuttgart erlebt. Es war ihm nicht ge-
lungen, eine gesicherte Lebensstellung zu erringen, sondern er hatte
im Gegenteil durch jenen entscheidenden Schritt drückende
Schulden auf sich geladen. Anfangs zwar wurde er dem be-
engenden Gefühl einer hemmenden Wirklichkeit entrückt in dem
erhebenden Bewusstsein dichterischen Schaffens durch jenen ideal
gerichteten Sinn, den Goethe am gereiften Dichter so herrlich
preist in den Worten: Und hinter ihm in wesenlosem Scheine
lag, was uns alle bändigt, das Gemeine. Diese Seite seines
Wesens lebte sich damals noch in den überschwenglichen Julius-
Ideen aus, wie uns der Brief an Körner vom 7. Mai 1785 (K. I.
p. 22 f.) deutlich vor Augen führt, und darum fasste er das ganze
Leben vom Standpunkte eines schwärmerischen Idealismus auf.
Mancherlei Umstände indessen zwangen Schiller, die gemeine
Wirkhchkeit mehr zu beachten. Vor allem waren es die steten
Vorwürfe und Bevormundungen seines Vaters, die ihm das Miss-
liche seiner äussern Lebenslage immer wieder ins Gedächtnis
zurückriefen. Aber auch das Zusammenleben mit seinem Freunde
Körner machte ihm schliesslich diesen Mangel empfindlich. Zu-
nächst allerdings wurde alles von den überschwenglichen Ge-
fühlen übertönt, die das Glück der unverhofften Freundschaft mit
einem hochherzigen Manne hervorrief. Aber auf die Dauer musste
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DER WANDEL IN SCHILLERS IVELTANSCHAUUNG.
131
die Anschauung des geordneten Wirkens und Lebens des Freundes
peinigend und niederschlagend wirken. Den Hauptstoss aber er-
hielten die schwärmerischen Glückseligkeitsideen , als der Dichter
sich gezwungen sah, mit Henriette von Arnim zu brechen. Diese
Liebe hatte Schiller mit elementarer Gewalt erfasst, wie es ihm
bis dahin noch nicht geschehen war (vgl. M. H. p. 510). Aber
allem Anschein nach ist H. v. A. von höchst wankelmütigem und
unentschiedenem Charakter gewesen, dass sie sich nicht ent-
schliessen konnte, dem in ihr vorhandenen warmen Gefühle für
den Dichter nachzugeben und ein unsicheres Los mit ihm zu
teilen. Mit männlichem Entschluss hat der Dichter sich schliesslich
von der Schwankenden losgerissen. Aber dies Erlebnis hat den
genannten inneren Umschwung eingeleitet, zumal gerade um diese
Zeit die Quelle der dramatischen Dichtung spärlicher zu fliessen
begann. So nur scheint die Stimmung verständlich, über die
Schiller in den Briefen aus Weimar klagt: die „philosophische
Hypochondrie", die seine Seele verzehre, die schon in Dresden
bei den Freunden seine Geisteskräfte untergraben habe (K. L p. 240 f.),
und die er noch eingehender schildert in dem Briefe an Huber
vom 20. Jan. 1788 (J. II. p. 8ff.). Die einsetzende Mannesart lehrt
eine ruhigere Würdigung der Wirklichkeit; davon mag auch die
psychologische Betrachtung der menschlichen Handlung im philo-
sophischen Gespräch im Geisterseher Zeugnis ablegen.
A. Skeptizismus und Preigeisterei in den frflheren
Schriften Schillers.
I. Zweifel an der Existenz eines Geistes.
Die Ideen des philosophischen Gesprächs im Geisterscher
haben ebenso wie die der philosophischen Briefe ihre Vorläufer.
Von vornherein verflicht sich mit den Julius-Ideen ein zum Materia-
lismus neigender Zweifel. Wenn Faust diesen dem Ideal sich
leicht beigesellenden Unmut objektiv in den Worten ausspricht:
»Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle erstarren in dem
irdischen Gewühle*, so drückt Schiller ihn aus in der Art von
Platons „langer und heftiger Deklamation wider den menschlichen
Körper und seine Bedürfhisse'' (M. P. Vorrede p. 6), wie sie im ersten
Gespräch von Mendelssohns Phädon p. 39 ff. zu finden ist. Ein mehr-
fach ausgeführter Gedanke dieses Kreises ist der, dass die Vernunft,
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132 MANS CLASEN.
die Weltanschauung, sich mit unserer körperlichen Beschaffenheit
wandelt. Es ist der Grundgedanke des Gedichtes der Anthologie:
^An einen Moralisten* (I. p. 248 ff.) und wird dort so ausgesprochen:
^Die Philosophie schlägt um, wie unsre Pulse anders schlagen*
(p. 249). Ebenso spricht in den Räubern Franz, die erste poetische
Verkörperung der Prinzen-Ideen, zum Pastor Moser (II, p. 182):
„Ich hab's immer gelesen, dass unser Wesen nichts ist als Sprung
des Geblüts, und mit dem letzten Blutstropfen zerrinnt auch Geist
und Gedanke.* Im „Spaziergang unter den Linden* (IL p. 348 — ^354)
wird diese Ansicht ausgeftihrt von Wollmar, dessen Betrachtungen
an Hamlet anklingen. Wir lesen p. 351: „Wenn unsere Launen
die Modelle unserer Philosophien sind . . ., in welcher wird die
Wahrheit gegossen?* und durch das ganze Gespräch zieht sich
der Gedanke, dass frische Lebensfreude und trübe Melancholie
ihre Lebensanschauungen aus derselben Quelle schöpfen. Darum
sagt Wollmar: „Das Schicksal der Seele ist in die Materie ge-
schrieben.*
2. Zweifel an einer Vergeltung in einem andern Leben.
Wird in den angeführten Sätzen die Existenz eines Geistes
in Zweifel gezogen, so wendet sich eine andre Gedankenreihe
gegen die Vorstellung von einer Vergeltung in einem andern Leben,
gegen die Unsterblichkeitslehre. Schon der Militärakademiker hatte
über Unsterblichkeit seine besondere Ansicht. Das zeigt der zur
Seelenwanderungslehre neigende Schlussparagraph der zweiten
medizinischen Dissertation (I. p. 177), wie auch die Verse in der
Elegie auf den Tod Weckerlins (I. p. 182), die der Dichter noch
1788 der Frau von Lengefeld in eine Bibel schrieb:
Nicht in Welten, wie die Weisen trftamen,
Auch nicht in des Pöbels Paradiss,
Nicht in Himmeln, wie die Dichter reimen, —
Aber wir ereilen Dich gewiss.
Gegen die gewöhnliche Auffassung von einer Vergeltung in einem
andern Leben wendet sich auch der Theosoph im Kapitel ,,Auf-
opferung"; eine solche Ansicht zerstöre „die hohe Grazie** der
uneigennützigen Liebe Die Liebe bringt das Opfer des eignen
Lebens „auch auf die Gefahr der Vernichtung" (IV. p. 48). Diesen
letzten Satz wendet der Prinz im Geisterseher so, dass die mora-
lische Erscheinung ganz auf sich selbst beruhe und daher auch
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG, 133
von ihr aus kein Schluss auf ein anderes Leben gezogen werden
könne. Die allgemeine Anschauung aber, die der Prinz im ersten
Teil des philosophischen Gesprächs (IV. p. 285 — 294) zu entwickeln
sucht, treffen wir schon an in dem Wollmar des ^^Spaziergangs
unter den Linden*, im Greise des Gesprächs ^der Jüngling und
der Greis** (IL p. 391 — 394) und in der Lehre des Genius in der
„Resignation" (IV. p. 27—30).
Der Genius weist den verstorbenen Überbringer des »Voll-
machtsbriefs zum Glücke* auf „seine Weisen* hin, die er hätte
fragen können. Diese Weisen finde ich bei F. G. p. 394. Es
wird von p. 337 an das „trostlose* System des Epikureismus ent-
wickelt, das die Tugend in eine „künstliche und feiner ausgedachte
Bestrebung nach der sinnlichen Lust* setze, und wir lesen in
dieser Darstellung den Satz: Der Genuss währt wenig Augen-
blicke; das Bestreben die Hofnung kann immer dauren*^).
Besser, scheint mir, kann das: „Du hast gehoft, dein Lohn ist
abgetragen, dein Glaube war dein zugewogenes Glück*, nicht
interpretiert werden, hauptsächlich, wenn wir den bei Garve fol-
genden Satz noch beachten: „So also kann ein Mensch es wirk-
lich dahin bringen, dass er die sinnlichen Vergnügungen selbst
wenig mehr schätzt, und immer nur sich mit der Tugend, dem
Mittel dazu, abgiebt; dass er so wie der Geizhals, immer nach
einem einzigen Ziele arbeitet, und doch diesem Ziele fre5nvillig
aus dem Wege geht: dieser Mann ist eben der glückselige Mann.*
Es liegt allerdings in der Grundstimmung der „Resignation* ein
Mehr, wodurch die epikureische Lehre eben zur Stütze einer
(pessimistischen und) positivistischen Weltanschauung wird. Das
sieht man api besten, wenn man einen vergleichenden Blick auf
das Gespräch „Der Jüngling und der Greis* wirft. Denn hier
wird dieselbe epikureische Lehre von dem lebensfreudigen Selim
zur Stütze seines sorglosen Optimismus herangezogen (II. p. 393)
imd das Vermögen der Hoffnung, im epikureischen Sinne, als ein
Vorzug des Menschen dem Tiere gegenüber gepriesen. Aber
Selim hält sich auch ganz an das obige von Garve beschriebene
(epikureische) Rezept des „glückseligen Mannes*. Über das letzte
Ziel alles menschlichen Strebens etwas Gewisses auszumachen,
übersteige menschliches Vermögen, uns bleibe nur der Weg als
*) Der gesperrte Druck befindet sich nicht im Original.
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134
HANS CLASEN.
das Wertvolle. Es sei frevelnde Vermessenheit, die letzten Dinge
wissen zu wollen: „Wehe dem Frechen, der mit frevelnder Hand
den Schleyer wegzieht von diesem magischen Tumult." Das sei
ein „trauriges Vorrecht" des Alters. Die Resignation hat, ebenso
wie später der Jüngling im verschleierten Bilde zu Sais, den
Schleier hinweggezogen, und ebenso, wie es dem Jüngling „hohl"
zurückklingt, so hat auch die „Phantasie" nichts finden können
von Vergeltung imd anderm Leben. Mit dem Erdenleben ist das
Erdenstreben vorbei. Und so lautet also der Kern der nieder-
schmetternden Lehredes unsichtbaren „Genius" : „Die Weltgeschichte
ist das Weltgericht Was man von der Minute ausge-
schlagen, giebt keine Ewigkeit zurück" (IV. p. 30). Durch diesen
Satz erhält die Lehre von Hoffnung und Genuss ihren (pessimi-
stischen und) positivischen Beigeschmack. Beide, Hoffnung und
Genuss, bezeichnen gleichwertige Arten der irdischen Lebens-
führung und -ansieht. Es sind die beiden grundverschiedenen
Menschencharaktere. Ihr Unterschied liegt in ihrer Natur be-
gründet, in dem „Sprung des Geblüts".
B« Das philosophische Gespräch im Geisterseher.
Den Theosophen hatte seine schwärmerische Begeisterung
unmittelbar in die Anschauung des Stufenreichs der Geister empor-
gehoben, regiert von der geistigen Anziehung zueinander im Voll-
kommenen, in Gott. Die Existenz der Geisterwelt hatte er mit
der Gottes durch jenen Begriff des Mangels in der Freundschafts-
ode in Verbindung gebracht. Julius aber klagt in den philoso-
phischen Briefen (IV. p. 35) wegen dieses Begriffs des Mangels:
„Ich gebe den Schöpfer auf, sobald ich an einen Gott glaube.
Wozu brauche ich einen Gott, wenn ich ohne den Schöpfer aus-
reiche?" Ebenso unkritisch nun, wie sich Julius durch seine
Schwärmerei fortreissen Hess, die Existenz der Geisterwelt (Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit) anzunehmen, lässt sich der Prinz
im Geisterseher durch seine verzweifelte Stimmung verleiten, Gott
und Schöpfer, überhaupt die Existenz eines Geistes, aufzugeben
und damit allerdings jenem Dilemma des Julius zu entgehen. Die
„ewige Weltordnung" ist nichts für sich Existierendes, sie ist un-
persönliche Notwendigkeit (vgl. die etwas unklare Verbindung
dieser Idee mit der Gottes in Don Karlos, V. 2. p. 315 f.). Der
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG.
JL35
einzelne Mensch dient dieser Weltordnung nicht als ^mitgeniessen-
des Wesen", sondern „wie der unbedeutendste Mauerstein der
Simmetrie des Palastes, die auf ihm ruhet*, ohne bleibendes Selbst,
weil sie selbst ja nichts ist (IV. p. 287). War dem Theosophen
der Gedanke Gottes der eigentliche Sinn alles Äusseren, so sagt
der Prinz: ,|Der Gedanke ist Wirkung und Ursache der Bewe-
gung und ein Glied der Noth wendigkeit, wie der Pulsschlag der
ihn begleitet* (IV. p. 289).
In dieser mechanistischen Weltanschauung des Prinzen sind
also alle metaphysischen Ansichten des Theosophen beiseite ge-
schoben. Trotzdem will der Prinz Moralität imd Glückseligkeit
zu Recht bestehen lassen. Das kann er natürlich nicht wider-
spruchslos mit seiner Anschauung verbinden. Obgleich er für das
Ganze alle Zwecke verwirft und nur Ursachen zugeben will, so
kann er die Notwendigkeit moralischer Erscheinungen nur durch
den Satz plausibel machen, dass die Weltordnung dieselben für
ihre Zwecke gebrauche. Sehen wir aber von diesem Widerspruch
ab, so erkennen wir, wie wir in den Reflexionen des Prinzen
über Moralität an einem Wendepunkte des Schillerschen Denkens
auf dem bezeichneten Wege nach dem Innen stehen: das mora-
lische Wesen wird hier ganz und gar von dem Aussen abgelöst
und allein auf das Innen, auf seine „eigne Achse" (IV. p. 295), gestellt.
Dementsprechend sucht der erste Teil des Gesprächs (IV. p. 285
—294) jene unklare Beziehung zum Aussen zu lösen, in der das
geistige Wesen in der Theosophie vermöge der Vorstellungslehre
sich befindet. Die Lehre von der Grundkraft des Glückseligkeits-
triebes wird beibehalten, aber schärfer und in naturalistisch-
spinozistischer Weise dahin präzisiert, dass dieser Trieb der den
Menschentypus prägende Trieb sei, wie die Schwerkraft der des
Wassertropfens, die Krystallisationskraft der des Krystalls, die
„ursprüngliche Form" (IV. p. 290) der des „bloss organischen
Wesens", der Pflanze. Wenn nun Julius vermöge seiner Vor-
stellungslehre die Glückseligkeit der Liebe zu einem Mitgeniessen
der Weltvollkommenheit in dem Gefühl der eignen Vollkommen-
heit stempelte, so sagt der Prinz, dass wir von ersterer, dem
„Zweck der Natur", nichts wissen. Was aber die letztere betreffe,
so sei der Zusammenhang von eigner Vollkommenheit und dem
damit verknüpften Gefühl der Glückseligkeit ganz zufällig; die
eigne Vollkommenheit habe mit diesem Gefühl so wenig Ahnlich-
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136 HANS CLASEN.
keit, wie „die kubische Form eines Salzes mit seinem bittem Ge-
schmacke hat** (IV. p. 291). Der Notwendigkeit komme es nur
darauf an, dsss das freie moralische Wesen nach eigner innerer
Vollkommenheit strebe; dazu diene das rein subjektive GlOckselig-
keitsgeftihl, nicht aber zu einem selbstischen Mitgeniessen. — War
nun dem Theosophen die Erkenntnis der Weltvollkommenheit
Mittel zur eignen Vollkommenheit, so fällt dies selbstverständlich
bei der Unerkennbarkeit jener fort. Der Prinz gibt daher mit dem
Verfasser der medizinischen Dissertation dem „denkend empfin-
denden Wesen" als Wegweiser auf seinem Wege zur Glückselig-
keit Schmerz und Vergnügen; durch dieselben erfährt jenes Wesen
„die Verhältnisse seines gegenwärtigen Zustandes zu dem Zustand
seiner höchsten Vollkommenheit, welcher einerlei ist mit dem
Zwecke der Natur" (IV. p. 291; vgl. auch die oben ziterten Be-
merkungen Schillers über sein Gespräch mit Moritz).
Wird im ersten Teil des Gesprächs das moralische Wesen
auf das eigne „innere Prinzipium" (IV. p. 290) gegründet durch
Ablösung der metaphysischen Beziehungen, des „lieblichen Traums"
des JuHus-Ideals (IV. p. 294), so wendet sich der zweite Teil
(IV. p. 295 — 311) zur Untersuchung des Moralischen an der Hand-
lung selbst. Dazu wird die menschliche Handlung aufs schärfste
geschieden in eine äussere und eine innere Handlung. Und
nun wieder jene Wendung auf das Innen hin: es wird be-
stimmt, dass die äussere Handlung mit ihren Folgen nichts über
den moralischen Wert oder Unwert der ganzen Handlung aus-
mache; über die äussere Handlung habe das innere Prinzipium
der moralischen Wesen keine Macht, in ihr herrsche die über-
greifende Notwendigkeit (vgl. XL p. 55: „Nur der Körper eignet
jenen Mächten, die das dunkle Schicksal flechten"). Die innere
Handlung, die in Vorstellungen bestehe (IV. p. 299), allein be-
stimme die Moralität der Tat (vgl, XII. p. 250: „Des Menschen
Thaten und Gedanken, wisst! sind nicht wie Meeres blind be-
wegte Wellen. Die innre Welt, sein Microcosmus, ist der tiefe
Schacht, aus dem sie ewig quellen"). Hier, „im geschlossnen Be-
zirk der menschlichen Seele" (p. 305), herrscht einschränkungslos
das innere Prinzipium, der Glückseligkeitstrieb, der ebenso wie
in der medizinischen Dissertation und in der Theosophie bestimmt
wird als „der imwohnende Trieb alle seine Kräfte zum Wirken
zu bringen", „zur höchsten Kundmachung seiner Existenz zu ge-
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG,
137
langen* (IV. p. 301). Diesem Prinzipium gemäss ist eine Hand-
lung moralisch gut, wenn mehr innere Kräfte bei ihr tätig waren;
moralisch böse, wenn weniger tätig waren, oder anders ausge-
drückt: die Moralität des Menschen ist „in dem Mehr oder We-
niger seiner innem Tätigkeit enthalten" (TV. p. 305). Die Idee,
dass der Lasterhafte nur „minder vollkommen" ist, stammt, wie
die erste Vorrede zu den Räubern (II. p. 5) selbst anführt, von
Garve (F. G. p. 377 f.).
Die dargelegten Bestimmungen zeugen von einem gereifteren
realistisch-psychologischen Blick (vgl. Glogau), und Schiller be-
richtet über das Gepräch an Körner am 9. März 1789 (K. II. p. 51) unter
ausdrücklichem Hinweis darauf, dass er daran gelernt habe. Wir
dürfen bei dieser Bemerkung allerdings nicht an die allgemeine
Weltanschauung des Prinzen denken, die wir mit dem Namen
der Prinzen-Ideen bezeichnet haben. Denn dieser Anschauung
fehlt, wie der genannte Brief sagt, die Konsequenz. Die mecha-
nische Notwendigkeit des Prinzen bleibt, wie schon bemerkt, eine
ebenso willkürliche, unkritische Annahme wie die Geisterwelt des
Julius, und dazu vermag der Prinz sie nicht einmal widerspruchs-
los durchzuführen: das Vorhandensein der moralischen Erschei-
nung innerhalb jener Notwendigkeit bleibt völlig unerklärt. Diese
Philosophie aber ist auch, nach jenem Brief an Körner, dem
Prinzen nur „als einer poetischen Person" geliehen. Die Inkon-
sequenz seiner Philosophie soll ihn unglücklich machen. Dass er
sich dem Sinnentaumel ergibt, soll „nicht aus seiner Philosophie,
sondern aus seiner unsichern Lage zwischen dieser Philosophie
und zwischen seinen ehemaligen Lieblingsgefühlen, aus der Unzu-
länglichkeit dieses Vernunftgebäudes und aus einer daraus ent-
stehenden Verlassenheit seines Wesens herfliessen". Diese Bemer-
kung des Dichters über die von ihm geschaffene poetische Gestalt
scheint von Selbsterlebtem zu zeugen. Sie würde dann einiges
Licht werfen auf den Grundton in der erwähnten „philosophischen
Hypochondrie*. Und wieder sei betont, wie uns dies den Dichter
an einem Wendepunkt seines Denkens zeigt: weil der fortwäh-
rende Streit der Julius- und Prinzen-Ideen nicht zum Austrag ge-
bracht werden kann, wird die Metaphysik zur Seite geschoben
und das Ideal in der Seele allein zu begründen versucht.
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138 HANS CLASEN.
Schlussbetrachtung: Die Unabgeschlossenheit der
Anschauung des gereiften Dichters.
\J Man sieht, wie von hier aus der Weg zur Anschauung des
gereiften Dichters geht: das Innen die Quelle alles Schönen, Guten,
Wahren, das Aussen der Sitz alles Irrationalen, der unholden
Mächte, die unterm Tage schlimmgeartet hausen. Über diese
Dichotomie ist der Dichter auch nicht hinausgekommen. Davon
können wir aus den späteren Werken Beispiele über Beispiele
beibringen. So erscheint der Wallenstein von dieser Anschauung
getragen. Das tritt besonders in Wallensteins Tod zutage. Gleich
anfangs im mystischen astrologischen Gemach I. i. (XII. p. 209)
empfängt uns ein Bericht über des Saturnus Reich, das licht-
scheue, das alles in sich schliesse, was die Tiefen des Erden-
schosses und des Menschengemütes beherrsche, und in dem Mo-
nolog I. 4 heisst es (XII. p. 216):
N
In meiner Brust war meine Tat noch mein;
Einmal entlassen aus dem sichern Winkel
Des Herzens, ihrem mütterlichen Boden,
Hinausgegeben in des Lebens Fremde,
Gehört sie jenen tückischen Mächten an.
Die keines Menschen Kunst vertraulich macht.
Dieselbe Idee kehrt wieder am Schluss des ersten Aktes (XII. p. 236),
nachdem Wallenstein sich endgültig zum Vorgehen entschlossen
hat, in der Unterredung mit Max IL 2. (XII. p. 243), weiter am
Ende von II. 3 (XII. p. 250), wonach allerdings in jenem dunkeln
Reich kein blinder Zufall herrscht und endlich in den Worten
Theklas über das Los des Schönen auf der Erde (XII. p. 359).
^ Und ist der ganze Stemenglaube Wallensteins nach Schillers
Darstellung etwas anderes als der Versuch, mit dem ver-
borgenen Gesetz jenes dunklen Reiches des Aussen so in Ver-
bindung zu treten, dass dem bewussten menschUchen Tun mög-
lichst gute Aussicht auf Erfolg erwächst? Oder werfen wir einen
^ Blick auf die Balladen. Wem sollte es entgehen, dass im Ring
des Polykrates unter dem Bilde des Neides der Götter jene dunkle
Macht vorgestellt ist, von der es in den Kranichen des Ibykus
heisst, sie wache richtend im Verborgnen und flechte unerforsch-
lich und unergründlich für den menschlichen Verstand des
Schicksals dunkeln Knäuel? Endlich möge auf „die Worte des
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DER WANDEL IN SCHILLERS WELTANSCHAUUNG,
139
Wahns'' verwiesen sein, deren letzte Strophe am Anfange unsrer
Abhandlung Platz gefunden hat. Das Platonische der Schillerschen
Anschauung ist ersichtlich: der Menschengeist hat sein ewiges
Wesen in dem Streben nach dem Schönen, Wahren, Guten, ihm
gegenüber hat das Aussen die Stellung eines /i^ &y.
Dieser unausgeglichene Gegensatz des Innen imd Aussen
bewirkt, dass Schillers religionsphilosophische Ansicht etwas
Resignierendes, Positivistisches an sich hat: es wird unentschieden
gelassen, in welcher Beziehung der Gott in uns zu jener dunklen
Schicksalsmacht steht, die mit der Körperwelt auch die dunkelsten
Regionen unsers Gemüts beherrscht. Es fehlt einerseits die
strengere Durchführung des transzendentalen Prinzips in der Auf-
fassung der Welt, andererseits aber die Anerkennung des religiösen
Erlebnisses als einer in sich selbst gegründeten Erfahrung. Wird
das Gottheitsproblem zuerst durch die schwärmerischen Julius-
Ideen verdunkelt, so wird es nachher aufgesogen von dem selbst-
los-hingehenden, unermüdlichen und rastlosen Wirken an dem Sq-
yov äv&Q(07iovy der grossen Schuld der Zeiten. Der beregte Mangel
erklärt sich daraus, dass Schiller keine ausgebildete Natur-
anschauung besass, wie sie Goethe von jeher in sich gehegt und
gepflegt hatte. Es ging Schiller die Lust ab, sich ganz dem
Leben der Natur hinzugeben. Sein Sinnen galt dem Menschen,
soweit er sich von der Natur unterscheidet, dem Menschen in der
Geschichte, der Entwickelung der menschlichen Freiheit. So ist
er über den Gegensatz von Körper und Seele, Natur und Geist,
wie er ihm auch von seinen medizinischen Studien her geläufig
war, nicht hinausgekommen. Ob er vielleicht später durch das
Zusammensein mit Goethe zur Überbrückung dieses Gegensatzes
gelangt wäre? Das scheint mir nicht ausgeschlossen zu sein, ver-
anlasste ihn doch das Anschauen des Goetheschen Geistes von
einer Revolution seines Geistes zu sprechen, von der er aber vor-
ahnend sagt, er werde sie wohl nicht vollenden, weil seine Kräfte
wohl nicht mehr so lange standhalten würden.
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I40 KARL VORLÄNDER.
Die neueren Bände
der akademischen Kant- Ausgabe.
(Briefwechsel, Band III, Werke, Band I— IV.)
Von Karl Vorländer.
L Briefwechsel, Band m. (Der ganzen Reihe XII. Band.)
Da wir in früheren Artikeln über Charakter und Anlage des
Briefwechsels ausführlich berichtet haben, so gehen wir gleich in
medias res.
Der vorliegende letzte Textband (Band XII der CJesamtaus-
gabe) enthält zunächst den Rest des Briefwechsels, d. h. die Briefe
von und an Kant aus den Jahren 1795 — 1803: im ganzen 245
Nummern, darunter 68 von Kant (ii nur im Entwurf), 177 an
Kant; ihnen folgen 7 undatierte und 17 nachträglich entdeckte
Briefe aus den Jahren 1772 — 1799. Daran schliessen sich 7 öffent-
liche und ebensoviel „handschriftliche" Erklärungen, 6 Denkverse
zu Ehren verstorbener Kollegen, 3 Kant von seinen Zuhörern
gewidmete Gedichte, 10 von ihm herrührende Stammbuchverse,
endlich eine Auswahl von 24 Stücken aus seinem „Amtlichen
Schriftverkehr**.
Die Briefe von und an Kant, obwohl naturgemäss geringer
an Zahl als die aus dem vorhergehenden Zeiträume (1789 — 1794)
und gegen das Ende von Kants Lebenszeit hin immer mehr ab-
nehmend, bieten auch diesmal eine so reiche Fülle von biographisch
und literarisch, psychologisch und kulturhistorisch interessantem
Material, dass wir in unserm notgednmgen knappen Bericht nur
einen Ausschnitt daraus geben können und im übrigen auf den
466 Seiten starken Band selbst verweisen müssen.
I. Was das biographische und persönliche Moment be-
trifft, so mehren sich die Klagen des greisen Philosophen über
die Abnahme seiner körperlichen und, was ihm noch schmerz-
licher war, seiner geistigen Kräfte. Besonders ergreifend wirkt,
was er am 21. September 1798 dem selbst körperlich 'schwer
leidenden Garve erwidert: „Ich weiss nicht, ob . . . das Los,
welches mir gefallen ist, von Ihnen nicht noch schmerzhafter em-
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USIV. 141
pfunden werden möchte, wenn Sie sich darin in Gedanken ver-
setzten; nämlich für Geistesarbeiten, bei sonst ziemlichem körper-
lichen Wohlsein, wie gelähmt zu sein: den völligen Abschluss
meiner Rechnung in Sachen, welche das Ganze der Philosophie
(sowohl Zweck als Mittel anlangend) betreffen, vor sich liegen und
es noch immer nicht vollendet zu sehen, obwohl ich mir der Tun-
lichkeit dieser Aufgabe bewusst bin: ein Tantalischer Schmerz,
der indessen doch nicht hoffnungslos ist.** Deutliche Zeichen be-
ginnender Altersschwäche machen sich jedoch in den Briefen selbst
erst in den allerletzten Jahren, etwa von 1799 an, bemerkbar. —
Natürlich mahnt ihn der Gedanke an den bevorstehenden Tod
auch an die Pflicht, sein Testament zu machen. Wegen der For-
malitäten wendet er sich, da er „im gerichtlichen Fache ein Kind*
sei, an seinen Rechtsfreund Vigilantius (27. Februar 1798). Von
dem gleichen Tage stammt denn auch sein unter den „handschrift-
lichen Erklärungen* abgedruckter, ausführlicher und „wohlüberlegter*
Letzter Wille mit zwei grössern Nachträgen vom 14. Dezember
1801 und 22. Februar 1802, sowie einige kleinere, aus den Jahren
1799, 1801, 1802 xmd 1803 (S. 408—418), nebst Bestimmungen
über sein Begräbnis, deren Ausführungen er den Freunden Vigi-
lantius und RiNK überträgt, „ohne dass sich irgend einer meiner
Verwandten dabei einmischen muss* (S. 417). Sein nicht unbe-
trächtliches Vermögen (an bar 42930 Gulden) vermacht er dagegen
diesen Verwandten. An die Unterstützung seiner 1800 verwitweten
Schwägerin lässt er sich allerdings erst mahnen, empfängt aber
dann ihren und ihres Schwiegersohnes heissgefühltesten Dank
(Nr. 828 und 829, vgl. Kants Antwort vom 28. April 1802). Sein
letzter uns erhaltener Brief (vom 9. April 1803) enthält einen eben
so warmen wie höflichen Glückwunsch zu der Verlobung einer
seiner Nichten; ein ebensolcher, vom 17. Dezember 1796, hatte
dem Bräutigam die Genugtuung darüber ausgesprochen, dass „das
Blut meiner beiden verehrten Eltern in seinen verschiedenen Ab-
flüssen sich noch nie durch etwas Unwürdiges, dem Sittlichen
nach, verunreinigt hat*.
In den biographischen Zusammenhang gehört auch, als seine
Persönlichkeit charakterisierend, der grösste Teil des Anhangs.
Seine sechs dichterischen Nachrufe an verstorbene Kollegen
zeigen zwar keinen hohen Flug der Phantasie, aber desto mehr ethi-
schen Gehalt und sind auch nicht übel in der Form, trotz des herge-
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142 KARL VORLÄNDER,
brachten Alexandriners; fünf von ihnen waren schon bekannt — Als
Stammbuchverse benutzte Kant am liebsten Sprüche lateinischer
Dichter, die ihm von der Schule her geläufig waren, so den des
Sjrrus: Ad poenitendum properat, cito qui iudicat nicht
weniger als ismal. Auch das bekannte Terenzwort: Homo sum,
nihil humani a me alienum esse puto ist vertreten, von deut-
schen Dichtem dagegen nur — Brockes. Von Kant selbst rührt
der schon ganz seiner spätem Ethik entsprechende Spruch Nr. 4
vom 19. Oktober 1772 her: „Die erste Sorge des Menschen sei
nicht, wie er glücklich, sondern der Glückseligkeit würdig werde* ;
vielleicht auch die humoristische Eintragung des 33jährigen:
„Grossen Herren und schönen Frauen — Soll man wohl dienen,
doch wenig trauen. ** — Von drei an Kant gerichteten Gedichten
seiner Zuhörer wurde ihm das erste, verfasst von dem bekannten
„Stürmer und Oranger** R. Lenz, 21. August 1770, als er Professor
wurde, im Namen der „kur- und livländischen" Studenten über-
reicht, das zweite 1786 zum Antritt seines Rektorats „von einigen
seiner Schüler**, das dritte 14. Juni 1797 — wie es scheint, als
keine Hoffnung auf die Wiederaufnahme seiner Vorlesungen mehr
vorhanden war — „von sämtlichen Studierenden der hiesigen Uni-
versität**. Die in allen dreien sich aussprechende Begeisterung ist
grösser als ihr poetischer Wert. — Von dem „Amtlichen
Schriftverkehr** Kants mit Rektor, Senat, Dekan, Fakultät usw.
bringt die Ausgabe — wie aus einer Bemerkung des Herausgebers
und deutlicher aus dem Referat O. Schöndörffers in der Alt-
preussischen Monatsschrift^) hervorgeht, im Widerspruch mit
der Ansicht des Herausgebers (R. Reicke) — nur eine Auswahl
von 24 Stücken etwa ein Drittel des Ganzen, darunter 9 aus
Kants Rektoratszeit. Es sind diejenigen ausgelassen, in denen
Kant „nur Formalitäten erledige oder nur das Organ eines Fa-
kultätsauftrages sei, ohne irgend eine Teilnahme seines Wesens
daran.** Ist dieser Grundsatz konsequent befolgt, so wird man in
der Tat die ausgeschiedenen Stücke sachlich nicht vermissen. Da
indes der Umfang des Ausgeschiedenen nur etwa 40 Seiten be-
trug, jede Auswahl aber schliesslich etwas Subjektives hat, so
hätte man wohl auch das Ganze abdrucken können, schon um
dem sonst befolgten Prinzip der Vollständigkeit zu genügen.
») Bd. 39, S. 607 flf.
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW, 143
Seinem früheren Schüler R. B. Jachmann hatte Kant die
„wichtigsten Umstände" aus seinem Leben zum Zwecke einer
künftigen Biographie mitzuteilen versprochen. Von den 56 Fragen,
die jener in einer Beilage zu seinem Briefe vom 16. August 1800
an den Philosophen richtet, sind manche, wie der Frager selbst
gesteht, „sehr indiskret", z. B. Nr. 33: Hat nicht ein Frauenzimmer
das Glück gehabt, ausschliesslich Lob und Achtung auf sich zu
ziehen, Nr. 34: Welche Frauenzimmer sind überhaupt zur Bildung
in geselligen Eigenschaften beförderlich gewesen?; femer die nach
Kants „ökonomischen Umständen" zu verschiedenen Zeiten (37,
53, 55), oder die nach dem „Umgang mit Schwestern und Ver-
wandten und ihrer Unterstützung" (56). Kant scheint denn auch
keine Antwort auf diese 56 Fragen erteilt zu haben, sonst hätte
Jachmann in seiner nach Kants Tode erschienenen Biographie es
sicher mitzuteilen nicht unterlassen; auch finden sie sich daselbst
stofflich nicht besonders berücksichtigt.
Für die kleinen persönlichen Liebhabereien des verehrten
Denkers und Lehrers wird von beflissenen Freunden und Schülern
bis an sein Ende gesorgt: für die bekannten Teltower Rübchen
von Kiesewetter in Berlin, für Göttinger Würste von verschiedenen
Seiten (645, 794, 813, 815; noch am 2. April 1800 erhält er von seinem
Verleger Nicolovius 16 an Zahl, „wodurch ich für ein ganzes Jahr
in Ansehung dieses Artikels meines Hauswesens reichlich ver-
sorgt bin**), für Pomeranzen aus Danzig von Jachmann, für Äpfel,
Birnen und Pflaumen von Lehmann, für Ungarweine noch 1802
von V. Hess, für Offenbacher Schnupftabak von Kuhn.
2. Weit wichtiger ist natürlich, was sich aus den neu ver-
öffentlichten Briefen für die Vorgeschichte, Entstehungszeit oder
Wirkung Kantischer Schriften an näherer Aufklärung ergibt.
Namentlich die allmähliche Entstehung des Streits der Fakul-
täten aus seinen drei verschiedenen Bestandteilen wird durch sie
weit genauer, als es bisher möglich, klargestellt Wegen der
Kompliziertheit der Sache kann hier kein Bild davon gegeben
werden. Ich verweise den interessierten Leser auf die ausführ-
liche Darstellung in der Einleitung zu meiner (Ostern 1905 er-
schienenen) Ausgabe von Kants Kleineren Schriften zur
Logik und Metaphysik (Philosophische Bibliothek Bd.46d)
und in meiner bevorstehenden Ausgabe des Streits im sieben
Bande der Akademie-Ausgabe. — Seine „reveries,** (648) Zum
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144 ^^^^ VORLÄNDER.
ewigen Frieden bietet er am 13. August 1795 Nicolovius zu
dem Preise von 10 Talern pro Bogen an, um bereits am selben
Tage dessen Zusage zu erhalten. Sie sind denn auch, wie ver-
abredet, bereits zur Michaelismesse desselben Jahres erschienen
(vgl. 648, 650); später auch (gleichfalls in Königsberg) in fran-
zösischer Übersetzung, die jedoch von den Parisem als zu hart
befunden wurde (788). Das Schriftchen scheint, nach Kiese-
wetters Bericht (650), alsbald grosses Aufsehen und viel Bei-
fall, freilich auch Gegner (darunter den bekannten Fr. Gentz) ge-
funden zu haben; begeistert ist die Zustimmung Stäuduns in
Göttingen (660), Erhards in Nürnberg (653) und der Sophie
Mereau in Jena (654). Kiesewetter begann einen Kommentar
dazu zu schreiben (708). Auszüge daraus im Pariser Moniteur
reizten 1798 mehrere französische Gelehrte zu näherer Bekannt-
schaft mit dem Kritizismus (788). — Eine zweite, unveränderte
Auflage der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und der
Kritik der praktischen Vernunft und als Honorar 4 Taler
pro Bogen wurde mit Hartknoch (Riga) für die Ostermesse 1797
verabredet (701, 702). — Die Metaphysischen Anfangsgründe
der Rechtslehre waren Jäsche in Kurland schon am 4. November
1796 bekannt (684), dagegen nach Halle noch am 7. Dezem-
ber d. J. nicht gelangt (692); die Tugendlehre wurde von
den Freunden zu Ostern 1797 sehnlichst erwartet (711). —
Über das Thema des Auf Miss verstand beruhenden mathema-
tischen Streits (Kants mit dem Mathematiker Reimarus, der in
den bisherigen KANT-Ausgaben als besondere Abhandlung abge-
druckt worden ist, während er im Grunde nur ein kleines Nachspiel
zu dem Aufsatz Vom vornehmen Ton darstellt (dessen „feine
imd humane Ironie" Jacob 7. Dezember 1796 rühmt), entspinnt
sich eine kleine Korrespondenz mit dem „Ersten Stabskapitän des
Infanterieregiments von Mosch" zu Kulm, von Stärk (682, 687).
— Eine Neuausgabe von Kants Kleinen Schriften wurde schon
1795 vö^ Nicolovius gewünscht, jedoch von dem Autor aufs
nächste Frühjahr verschoben, weil er sie „hin und wieder ver-
mehren oder verbessern** wollte und dazu „den künftigen Winter
nötig zu haben" erklärte (637). Doch kam es auch im folgen-
den Jahre nicht dazu. Dagegen erteilte Kant am 13. Oktober
1797 seinem Schüler Tieftrunk (in Halle) die Erlaubnis dazu, mit
dem Wunsche, dass „nicht ältere Schriften als von 1770 darin
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW.
145
aufgenommen würden** (was dann aber doch geschah), und unter
der Bedingung, dass der Herausgeber ihm „den Aufsatz aller
Piecen vorher mitteilen möchte" (745). Letzterer kam übri-
gens durch seine bei Renger (Halle) 1799 tatsächlich erschienene
Ausgabe in einen unangenehmen Verlagsprozess mit Nicolovius
(824); ebenso wie Rink mit dem Buchhändler Volmer in Strei-
tigkeiten wegen des Verlags von Kants Vorlesungen über Phy-
sische Geographie geriet (855, vgl. Erklärung Nr. 7). — Über
Kants letzterschienenes Werk, die Anthropologie (1798), spricht
sich Kiesewetter am 25. November 1798 sehr erfreut aus (788).
Die letzte Korrektur der 1800 (vgl. 814) erschienenen zweiten
Auflage besorgte Kants Anhänger Schütz, Professor in Jena, und
bot sich ebenso, wie ein früherer Schüler Kants in Warschau
(826), zur Reinschrift des Manuskripts der Physischen Geographie
resp. Zubereitung zum Druck an (822); beide veranlasst durch
Kants Bemerkung am Schlüsse der Vorrede zur genannten zweiten
Auflage, dass seine Handschrift wohl keinem andern als ihm leser-
lich sein werde. — Das bekannte unvollendete Werk seiner letzten
Lebensjahre: Übergang der Metaphysik zur eigentlichen
Physik, wird zum erstenmale am 8. Juni 1795 von Kiesewetter
in der Weise erwähnt, dass er Kant an seine schon „vor einigen
Jahren" geäusserte Absicht erinnert, über dies Thema „einige
Bogen" — also nur eine kleinere Schrift! — „dem Publiko schen-
ken zu wollen'* (629). Kant selbst schreibt davon zum ersten-
male in jenem oben erwähnten Briefe an Garve vom 21. September
1798: die Aufgabe, die er sich damit gestellt, müsse „aufgelöset
sein; weil sonst im System der krit. Philos. eine Lücke seyn
würde". Auch fühle er „das Bewusstsein des Vermögens dazu"
in sich, aber die Befriedigung desselben werde „wenngleich nicht
durch völlige Lähmung der Lebenskraft, doch durch immer sich
einstellende Hemmungen derselben bis zur höchsten Ungeduld
aufgeschoben". Ähnlich, wenn schon nicht so prägnant, äussert
sich Kant vier Wochen später gegen den treuen Freund und
Schüler Kiesewetter (782). — Schliesslich sei noch mitgeteilt,
dass eine französische Übersetzung seiner Bemerkungen „Über
das Schöne und Erhabene", wie der Buchhändler Lagarde
schreibt (697), 1796 zu Paris herauskam, imd aus einem der
nachgetragenen Briefe (Kants an den Buchhändler J. G. J. Breit-
kopf), dass Kant, der 1778 von Breitkopf den Antrag erhalten
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. laö lO
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146 KARL VORLÄNDER.
hatte ^), seine Abhandlung von den verschiedenen Rassen der
Menschen (1775, erweitert 1777) ^^^ seinen Verlag als Teil eines
grossen naturhistorischen Werkes erweitert auszuführen, die Be-
denken dagegen äussert, dass er vorläufig mit „dringender Arbeit
von ganz anderer Art" (Kritik der reinen Vernunft) beschäftigt, und
femer die Naturgeschichte nicht sein „Studium", sondern nur sein
„Spiel" sei, wodurch er ,,die Kenntnis der Menschheit zu berich-
tigen und zu erweitern" beabsichtige (870).
3. Von eigenen philosophischen Äusserungen Kants
bringt der vorliegende Band fast nichts Neues. Denn sowohl der
Anhang zu Sömmerings Schrift über das Organ der Seele wie der
Briefwechsel mit Beck, die Erwiderung auf Schütz* Einwürfe
gegen einige Stellen seiner Rechtslehre (betr. Ehe und Dienst-
boten), wie der Brief an Tieftrunk vom 11. Dezember 1797, das
Schreiben an Garve mit der berühmten Stelle von den Antinomien
(781) wie die Erklärung gegen Fichtes Wissenschaftslehre vom
7. August 1799 waren sämtlich schon bekannt und haben höchstens
den Vorzug, hier in der philologisch genauen Orginalfassung abge-
druckt zu sein. Sonst möchte von hiteresse noch der kurze Brief
Kants an den Hallenser Privatdozenten Morgenstern sein, dem
er für die Sendung seines Werkes über Platos Republik dankt,
und in dem er den Mann gefunden zu haben glaubt, „der eine
Geschichte der Philosophie nicht nach der Zeitfolge der
Bücher . . ., sondern nach der natürlichen Gedankenfolge, wie sie
sich nach und nach aus der menschlichen Vernunft hat entwickeln
müssen, abzufassen imstande ist, sowie die Elemente derselben in
der Kritik der reinen Vernunft aufgestellt werden*' (S. 639). Sehr
lesenswert, weil recht bezeichnend für Kants Güte, Bescheiden-
heit und (wo es angebracht war) auch Warmherzigkeit, ist ferner
noch der Brief an den wackeren Elberfelder Kaufmann Johann
Plücker (657), aus dem wir nur die eine Stelle hervorheben
wollen: »Nur das, was wir selbst machen können, verstehen wir
aus dem Grxmde; was wir von anderen lernen sollen, davon, wenn
es geistige Dinge sind, können wir nie gewiss sein, ob wir es
auch recht verstehen, und die sich zu Auslegern auf werfen, eben-
so wenig."
4. Um so reichhaltiger sind die Zeugnisse von der in diesem
^) Breitkopfs Brief an Kant (vom. 21. Mflrz 1778) war schon Bd. I. Nr. 119
des Briefwechsels abgedruckt worden.
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USIV,
147
Zeiträume weit über Deutschlands Grenzen hinausreichenden Ver-
breitung der Kantischen Philosophie, der sich zuweilen frei-
lich auch Opposition beimischt. Man lese, um ein Bild der Stel-
lung der gelehrten und anderen Kreise zu dem Kritizismus zu be-
kommen, was Aboion (626, 774), Stäudlin, Lehmann (793, 808)
aus und über Göttingen, Beck, Jacob und Tieftrunk aus Halle,
Kiesewetter aus Berlin (809), Reinhold aus Kiel (620),
Mellin aus Magdeburg (735), Jachmann aus Marienburg, die
Würzburger Professoren Matern Reuss (664, 711) und Stang
(680) über Süddeutschland und Österreich berichten. Nament-
lich die Berichte der beiden letzteren sind recht interessant.
Reuss schreibt i. April 1796 vom „Zustand der kritischen Philo-
sophie im katholischen Teutschland**: „Die (Würzburger) Profes-
soren der Theologie und Rechtsgelahrtheit modeln fast alle, wo
nicht die Wissenschaft, die sie lehren, wenigstens die Art ihres
Vortrags nach Ihren Grundsätzen, sogar beim Religionsunterricht
benutzt man Ihre Grundsätze, in Katechese u. in Predigten:
bloss um Kantische Philosophie bei mir zu hören, kommen viele
Fremde hierher.** Der Fürstbischof unterstütze ihn dabei sehr.
„Nicht gar so hell, doch ziemlich hell, sieht es auf den hohen
Schulen Bamberg, Heidelberg und anderen katholischen Schulen
aus, desto finsterer ist es aber in Bayern, Schwaben und der
katholischen Schweiz." Auch in diesen Gegenden hoffe er jedoch
durch ein „Vorlesbuch in lateinischer Sprache** — dort die allein
erlaubte — Nutzen zu stiften (664). Ein Jahr später sandte er
Kant mit einem Begleitbriefe (711) den ersten Teil dieses Lehr-
buches der kritischen Philosophie, welche letztere „auf dem Boden
des katholischen Teutschlands immer festeren Fuss* fasse, bis auf
Österreich, wo sie jedoch viele geheime Anhänger besitze. Ge-
naueres von dort berichtet nach einer Wiener Reise in einem über-
haupt recht lesenswerten, ausführlichen Schreiben (S. 97 — 102)
Reuss' Freund und Kollege Konrad Stang am 2. Oktober 1796
(680), u. a.: „Die kritische Philosophie ist in der österreichischen
Monarchie als Feindin erklärt, und wehe dem, der sie lehren will.
Der Kaiser ist ganz dagegen eingenommen und da ihm der Di-
rektor der Schulen und des Studiums in Wien H. v. Birkenstock
das kritische System anpries, so drehte sich der Kaiser herum
und sagte: Ich will einmal für allemal von diesem gefährlichen
System nichts wissen.** Ein ungarischer Professor sei denn auch,
10*
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KARL VORLANDER.
nach dreijährigen Kabalen der „ganzen hohen Geistlichkeit" gegen
ihn, abgesetzt worden propter perniciosum Sistema ad Scep-
ticismum ducens; desgleichen der „Rektor der Philosophie von
Grätz (Graz?).** In Salzburg verwende sich der würdige Regent
des Priesterhauses dafür. In München, wo Stattler regiere, seien
Kants Schriften, besonders sein Religionswerk, Konterbande. In
Würzburg dagegen seien sogar Mädchen und Frauen enthusiastisch
für sein System eingenommen, in „vielen Frauenzimmergesell-
schaften** bilde es „stets das Lieblingsgespräch**!
Aber auch in eine Reihe ausser deutscher Länder ist die
Kantische Philosophie bereits vorgedrungen. Zunächst in das Königs-
berg benachbarte Russland. Nr. 619 enthält einen Brief entwurf
Kants an die Fürstin Daschkow, der für seine Aufnahme in die
kaiserlich russische Akademie der Wissenschaften seinen Dank
ausspricht (März 1795); übrigens war dieses Schreiben, wie wir
zwei Jahre später (cf. 721 und 722) erfahren, unterwegs ver-
loren gegangen. Ein russischer Offizier, Freiherr von Ungern-
Sternberg, den die Kritik der reinen Vernunft aus den „philo-
sophischen Wäldern und Morästen** nach langem Umherirren ge-
rettet hat, versichert ihm, seine Philosophie werde „mit Vergnügen
und Fleiss in Livland, meinem Vaterlande, studiert**, was Kant
als „echtem Kosmopoliten** gewiss Freude machen werde (669).
In Mitau wirkt für seine Lehre ein von ihm dorthin empfohlener
früherer Schüler C. W. Gruse (783, 805). Auch ein Hof rat
Arndt in Nürnberg, durch Erhard für den Kritizismus gewonnen,
„hat einen Briefwechsel nach Petersburg über Ihre Philosophie**
(699). — Aus Siena in Toskana verkündet ihm Graf Vargas
seine Aufnahme unter die 40 Unsterblichen der Italienischen
Akademie. — Aus Holland sendet ihm der Leydener Professor
Wyttenbach seine Biographie des Philologen Ruhnken, Kants
alten Schulkameraden, mit einem lateinischen Begleitbrief (811)
zu, aus Utrecht ein Baron von Utenhoven dem „premier Philosophe
de rUnivers, dem Verfasser der Immortelle Theorie du Ciel**, seine
Übersetzung von Lamberts Kosmologischen Briefen (847, 848),
aus Driel bei Amhem ein gewisser Glover, der die Metaphy-
sischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften ins Hol-
ländische übersetzen will, eine „Kurze Übersicht der Förderungen
und des Zustandes der Critischen Philosophie in der Batavischen
Republik" seit 1792, die besonders seit 1796 Paulus van Hemert
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW. 149
vieles verdanke; jetzt (1802) bestehe sogar schon eine „Critische
Gesellschaft" zu Amsterdam (851). — In England bemühte
sich der schon aus dem vorigen Bande bekannte Nitzsch weiter
um Verbreitung der kritischen Grundsätze (Jakobs Brief 698),
desgleichen Jakobs schottischer Freund Richardson (vgl. den Brief
Jakobs nebst der Beilage Richardsons, 736, und die Bemerkung
Kiesewetters, S. 263 unten). — Am interessantesten aber ist,
was wir über die Verehrung unseres Philosophen in dem revolu-
tionären Frankreich, dem bekanntlich ja auch seine Sympathien
galten, erfahren. Am 15. März 1796 hat der uns bekannte Johann
Plücker aus Elberfeld in „öffentlichen Blättern" gelesen, dass „die
französische Nation durch den Abt Sieyes Sie ersucht habe, ihre
entworfenen Constitutions - Gesetze zu untersuchen, das Unnütze
wegzustreichen und das Bessere anzugeben** (662). Und vier-
zehn Tage später Matern Reuss gar, dass „Sie als Gesetzgeber,
als Stifter der Ruhe und des Friedens nach Frankreich gerufen
worden seien und dazu von Ihrem König Erlaubnis erhalten haben**
(664). Den Anlass zu diesen Gerüchten gab wahrscheinlich die
Tatsache, dass ein gewisser C. Theremin, Bureauchef im Wohl-
fahrtsausschuss, durch seinen Bruder (Prediger in Memel) in der
Tat eine Korrespondenz zwischen Kant und dem bekannten Abbe
SiEYEs anzubahnen versucht hatte, der ihm philosophisch nahe stehe
und das Studium der Kantischen Philosophie in Frankreich als
ein „Complement der Revolution** betrachten würde (vgl. den Brief
des A. L. Theremin vom 6. Februar und den Brief seines Bruders
in Paris an ihn vom 2. Januar 1796). Theremin beabsichtigte, wie
von dem Buchhändler Lagarde bestätigt wird (697), auch eine
französische Übersetzung Kantischer Schriften (vgl oben unter 2).
Nach der Biographie Jachmanns hätte Kant die Anregung The-
remins abgelehnt, weil er wünschte, „dass sich unser Staat in
diese fremde Angelegenheit einer fremden Nation nicht mischen
möchte" (ed. A. Hoffmann, Halle 1902, S. 89). Einem Brief Kiese-
wetters (788, November 1798) zufolge hielt auch Wilhelm
VON Humboldt im Pariser Institut national eine Vorlesung über
di2 Resultate des Kantischen Systems, „ob er gleich nicht das
gehörige Zeug dazu hat"! Er habe nämlich, wie der jener Vor-
lesung beiwohnende Gesandte der Hansestädte ihm (Kiesewetter)
erzählt habe, nur die negative, nicht die positive Seite der kriti-
schen Philosophie dargestellt. Das will Kiesewetter durch einen
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150 KARL VORLÄNDER.
von ihm zu verfassenden französischen Abriss der wichtigsten
Kantischen Ideen wieder gut machen; dazu scheint es indes eben-
falls nicht gekommen zu sein. Von Kants Interesse für die fran-
zösische Politik zeugt seine unter den „handschriftlichen Erklä-
rungen" als Nr. 3 abgedruckte „Rechtfertigung des Direktoriums
der französischen Republik wegen seines angeblich ungereimten
Planes, den Krieg mit England zu ihrem Vorteil zu beendigen**.
Der kleine Aufsatz (S. 407 f.) ist 1798 niedergeschrieben und hält
für das Richtigste die Diversion eines französischen Landheeres
nach Portugal, während Englands Aufmerksamkeit durch die Ex-
pedition „BoNAPARTEs Und seiner Unglücksgefährten" nach der
Levante abgelenkt werde.
5. Soviel von Kant selbst, seinen Schriften und persön-
lichen Anschauungen und der Verbreitung seiner Philosophie.
Auf die Fülle von psychologisch und historisch, insbesondere
kulturhistorisch interessantem Material, das sich ausserdem in dem
Briefwechsel findet, wollen wir zum Schluss nur kurz hindeuten.
Unter den oft recht merkwürdigen Korrespondenten Kants er-
wähnen wir den schon aus dem vorigen Bande uns bekannten
Barmer Sektierer Colenbusch, der auch jetzt wieder in drei aus-
führlichen Briefen (614, 622, 662) seinen „Vernünftigen Bruder"
Immanuel Kant zu seinem eigenen Glauben zu bekehren sucht,
den bekannten Exkapuziner J. Aurel Kessler, der ihn um Rat-
schlage zu seinem Seneka- Kommentar bittet (634), den origi-
nellen Pastor Kuhn aus Stolzenberg (796) und Wieland mit
einem schon aus 1772 stammenden Briefe, der für seine Zeit-
schrift Kant als — Abonnentensammler wünscht (865 [im
Nachtrag]). — Unter den an diesen gerichteten Bettelbriefen (vgl
auch 710) heben wir seiner besonderen Aufdringlichkeit wegen
den eines schwedischen Carl Ferd. Kanth (720), imd seiner
Originalität wegen den des beinahe 70jährigen kurkölnischen Hof-
rats, fQrsd. Stabloischen Rat usw. usw. a. D. imd jetzigen einfachen
„Bürgers" Anton Joseph Gilgen zu Köln (823) hervor, der als
verschämter Armer ziemlich demütig bittet und sein weitschweifiges
Schreiben mit der ebenso sentimentalen wie unorthographischen
Nachschrift schliesst: Wir gehen . öfters . mit unsem Kindern,
weinendt ohne brod schlaffen und müssen . eben also aufstehen .
Unser Elendes Nachtslager ist auf der Erden . auf strohsäcken.
Wir Erschrocken" — am 7. Juni 1800! — „für den künftigen
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DIE NEUEREN BANDE DER AKADEMISCHEN USW.
151
Winter . — seit dreyen tagen haben wir nichts mehr wie in
Wasser gekochte Erdäpfel . mit saltz über unsere Matte Hertzen
bekommen. Erschröckliches Schicksal! Geschrieben . Unter häufig
gefallenen tränen*. — Betreffs der Blatternimpfung seiner Braut
fragt der junge, 22jährige Reichsgraf Fabian Emil zu Dohna um
Rat (802), der „in seinen Wirkungskreis" als Rittergutsbesitzer,
tritt, „mit dem ernstlichen Willen als solcher und als Mensch in
jedem Verhältnis meine Pflichten zu erfüllen . . . Sie, weiser Mann,
werden mein unsichtbarer Gefährte sein ...'*: ein nachahmens-
wertes Beispiel noch heute für junge Rittergutsbesitzer! — Ganz
interessant sind auch : das nach der Art von Montesquieus „Lettres
Persanes" fingierte „Gespräch eines heidnischen Prinzen von der
christlichen und seiner heidnischen Religion' S undatiert und unter-
zeichnet , Jurgulan" (862), der lange französische Brief Chauvelots
über die beschränkte Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen,
die Vorzüglichkeit des physikotheologischen Gottesbeweises u. a.
(685, S. 107 — 119), das begeisterte Widmungsschreiben Kose-
gartens (874), der lange Sendbrief des Predigers Jenisch in
Berlin (668) und der Brief der „Professorin** Sophie Mereau aus
Jena, die um seine Mitarbeiterschaft an einer von ihr zu gründen-
den Zeitschrift nachsucht (654). — Bitten der letzteren Art
kommen überhaupt, wie schon in den vorigen Bänden, ziemlich
häufig vor: so z. B. seitens der „Deutschen Volkszeitung* (615),
des „Kosmospolit** (675), einer pädagogischen Zeitschrift in Er-
furt (706), von Reichardts „Deutschland** (707), des „Deut-
schen Museums** (868) und der „Deutschen Union der 22er**,
die sich „an die Freunde der Vernunft, der Wahrheit und der
Tugend** wendet, übrigens aber sehr geheimnisvoll von ihren
verschwommenen Weltbeglückungsplänen redet (872). — Poli-
tische Neuigkeiten, zum Teil recht interessanter Natur, aus Berlin
berichtet, wie früher, Kiesewetter, ausserdem in den letzten
Jahren — voll Freude über das nach dem Tode Friedrich Wil-
helms IL sich wieder frischer regende geistige Leben — ein an-
derer Schüler Kants, der Prediger Lüdeke in Berlin (754, 763,
785, 791); er schreibt in lebhaftem, ja öfters etwas burschikosem
Tone, z. B. einmal: „Mein Glaubensbekenntnis ist dieses: Ohne
Vemunftgebrauch Theologe sein sollen, kommt mir vor, als unter
der ausgepumpten Glocke der Luftpumpe atmen und singen sollen.
Das können doch höchstens nur Frösche!" Kiesewetter schreibt
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152
KARL VORLÄNDER.
15. November 1799 u. a. auch von den neuesten Angriffen des
„gleisnerischen, pfäffischen Herder*, des alten radottierenden
Wieland, des „noch immer phantasierenden* Nicolai und macht
Mitteilungen über den Zulauf bei seinen eigenen Vorlesungen, wie
über das zurückgezogene Leben Fichtes in Berlin (809).
Damit sei das, wenn auch nicht gerade farbenreiche, so doch
um der Persönlichkeit des grossen Königsbergers willen anziehende
und, wir denken, auch nicht eintönige Bild beendet, das wir von
dem Inhalt dieses letzten Textbandes der Briefe zu entwerfen be-
absichtigten. Es erübrigt uns noch, auch diesmal wieder die ge-
wohnte peinliche Sorgialt und Umsicht, mit der Rudolf Reicke
auch diesen Band ediert, mit dankbarem Lobe anzuerkennen, imd
zugleich den lebhaften Wunsch auszudrücken, dass er, der auf
dem Gebiete der Kantphilologie wie kein anderer zu Hause ist,
uns recht bald aus der Fülle seiner Kenntnisse auch den ver-
heissenen vierten Band, der die Anmerkungen und Erläuterungen
zu den drei Textbänden bringen soll, bescheren möge.
IL Bd. I— IV von Kants Werken.
Konnte die zweite Abteilung der neuen Ausgabe, enthaltend
den Briefwechsel des Philosophen, zuerst und, bis auf den noch
ausstehenden Erläuterungsband, vollständig erscheinen, weil Rudolf
Reicke sozusagen die ganze Arbeit seines Lebens der Kant-
forschung, insbesondere der mühevollen Sammlung von Kants
Korrespondenz gewidmet und dieselbe nahezu abgeschlossen hatte,
so war dies mit den Werken, deren Edition einem ganzen
Stabe gelehrter Mitarbeiter anvertraut ist, nicht der Fall. Hier
waren von den vorgesehenen neun Bänden zur Zeit, wo ich dies
schreibe, d. h. Ende 1904, die drei ersten erschienen, während
der vi er te (Band II, dessen Aushängebogen mir zur Verfügung gestellt
wurden) im Erscheinen begriffen war. Ehe wir zu dem Inhalt der
einzelnen Bände übergehen, sei das Wichtigste über die all-
gemeinen Grundsätze der Ausgabe sowie ihre innere und
äussere Einrichtung mitgeteilt^)
Zunächst über die Herstellungsweise eines geläuterten
Textes. Zu Grunde gelegt sind die Originaldrucke der selbständig
^) Vgl. die an der Spitze der „Anmerkungen" zum ersten Bande
stehende Einleitung Diltheys (I, 507—517).
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW,
153
erschienenen Schriften, desgleichen die ersten Drucke der in Zeit-
schriften, Zeitungen oder sonst veröffentlichten Abhandlungen.
Lagen mehrere Ausgaben vor, so geschah der Neudruck
nach der letzten, bei der Kant selbst sicher oder doch höchst-
wahrscheinlich mitgewirkt hat; so wurde z. B. bei der „Kritik
der reinen Vernunft" deren zweite Auflage zu Grunde gelegt
(näheres s. unten). Die Herstellung des Textes geschah — da-
durch unterscheidet sich die neue Ausgabe von allen bisherigen —
mit möglichst treuer Erhaltung des Überlieferten. Nur,
wo die Verderbnis des Textes zweifellos war, ist eine Emendation
desselben, auf Gnmd i. einer genauen Vergleichung etwaiger ver-
schiedener Lesarten, 2. Berücksichtigung sachlicher Gesichtspunkte
und 3. Verwertung aller in den bisherigen Gesamt- und Einzel-
ausgaben oder an sonstigen Stellen gemachten Verbesserungs-
vorschläge eingetreten.
Um einen, soweit es überhaupt möglich, einwandfreien Text
zu erzielen, sind an jeder Zeile der Ausgabe drei verschiedene
Stellen beteiligt: i. Der jeweilige „Fachherausgeber", 2. der
germanistische Mitarbeiter, Dr. Ewald Frey, 3. der Sekretär
der Kantkommission, Dr. Paul Menzer (Privatdozent an der Ber-
liner Universität). — Dem ersten fällt die Hauptaufgabe zu. Er
hat die dem Druck zu Grunde zu legende Ausgabe zu bestimmen,
ihren Text zu reinigen, das Verzeichnis der Lesarten herzustellen
und die von ihm herausgegebene Schrift mit einer Einleitung imd
Erläuterungen zu versehen. Die Einleitung soll die etwaige
äussere Veranlassung eines Werkes, seine Geschichte bis zu seinem
Erscheinen und die noch bfei Lebzeiten Kants erschienenen Neu-
oder Nachdrucke angeben. Die Erläuterungen sollen nur die
für das Verständnis „ganz unentbehrlichen" Sacherklärungen, ins-
besondere die notwendigen literarischen Nachweise bringen, da wo
von Kant (bekanntlich ist das nicht besonders häufig der Fall)
eine Person oder Schrift genannt wird. — Der germanistische
Mitarbeiter regelt nach bestimmten Direktiven Sprache, Ortho-
graphie und Interpunktion. Als Orthographie, die bei Kant
selbst jeder folgerichtigen Durchführung entbehrt, wurde die
Kants Brauch nahestehende preüssische Schulorthographie vor
1883 gewählt, nur dass in streitigen Fällen die Kantische Form den
Vorzug erhält. Die Interpunktion, die in Kants Handschriften
meist ganz fehlt, in den Druckwerken dagegen überreichlich an-
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i54
KARL VORLÄNDER,
gewandt ist, soll im allgemeinen der heute in den preussischen
Schulen üblichen entsprechen. Jedoch ist für manche Fälle — wie
bei den Partikeln „und", „oder", die Infinition mit „zu* — wieder
die Überlieferung beibehalten worden. — Ob sich eine grössere oder
geringere Modernisierung dieser Aussendinge an Kants Werken em-
pfiehlt, darüber kann man ja versch\pdener Meinung sein. Ich persön-
lich bin in meinen eigenen Ausgaben (in der „Philosophischen
Bibliothek" resp. der „Kritik der reinen Vernunft" in O. Hendels
„Bibliothek der Gesamtliteratur") erheblich weiter gegangen als die
ziemlich konservative Ausgabe der Akademie, und verweise auf die
Begründung dieses meines Vorfahrens in den betreffenden Vorreden.
Allein dem Ziel, das sich der philologische Revisor in Überein-
stimmung mit der Leitung der Ausgabe gesteckt hat: eine Aus-
gabe herzustellen, wie Kant selbst sie auf der Höhe seines
Ruhms, bevor der Verfall seiner Geisteskräfte begann, also in den
neunziger Jahren besorgt hätte (I, 513), ist nicht bloss mit
grösster Sorgfalt nachgestrebt, sondern es ist auch, wenigstens
was Sprache und Rechtschreibung betrifft, soweit es nach mehr
denn hundert Jahren in Menschenmöglichkeit stand, erreicht wor-
den. Wer sich für die einzelnen dabei befolgten Grundsätze
interessiert, sei auf die allgemeinen Ausführungen Freys (I, 511
bis 516) sowie auf die sorgfältigen besonderen Nachweise zu
jeder einzelnen Schrift, die hinter dem Verzeichnis der Lesarten
abgedruckt sind, verwiesen. — Noch ist zu erwähnen, dass für
die vier lateinischen Schriften, deren philologische Revision von
Dr. Emil Thomas in Berlin besorgt worden ist, dieselben Grund-
sätze massgebend waren, und dass ifi besonderen Fällen, wo es
der Sinn erfordert, der Fachherausgeber die massgebende Ent-
scheidung hat.
Die Druckschrift ist für alle deutschen Schriften Kants die
deutsche, was ja wohl im Sinne des Autors selbst lag^), aber im
Interesse der Verbreitung der Ausgabe im Ausland unseres Er-
achtens zu bedauern ist. In lateinischer Schrift sind dagegen die
Einleitungen, Erläuterungen usw. der Herausgeber gedruckt. Es
ist erfreuhcherweise der Akademie gelungen, für sämtliche in den
„Werken" veröffentlichte Schriften Kants die Originaldrucke
zur Benutzung als Druckvorlage zu erhalten. Denn auch zu der
») Vgl. den Schluss des Streits der Fakultäten.
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW.
155
einzigen, bei der er nach Diltheys Mitteilung (I, 508) noch fehlte
(„Gedanken bei dem frühzeitigen Ableben des Herrn von Funk",
1760), ist er, wie mir vor kurzem Herr Dr. Menzer mitteilte, in-
zwischen aufgefunden worden. Das Verzeichnis der Lesarten ent-
hält alle den Inhalt berührenden Abweichungen der Original-
drucke. — Betreffs der näheren Einrichtung desselben müssen wir auf
die Ausgabe selbst verweisen.
Bekanntlich gliedert sich die Gesamt-Ausgabe, deren Umfang
nach ihrer Vollendung etwa 22—25 Bände betragen wird, in vier
grosse Abteilungen: Werke (Bd. I— IX), Briefwechsel (Bd. X
bisXII), handschriftlicher Nachlass und Vorlesungen. Hier
haben wir es nur mit der ersten zu tun. Sie umfasst „alle
wissenschaftlichen Arbeiten Kants, welche von ihm selbst oder
in seinem ausdrücklichen Auftrag veröffentlicht sind", und zwar
„von den kleinsten Journalartikeln und den Beiträgen zu Schriften
anderer bis zu den grossen Werken". Diesem Prinzip zufolge
sind z. B. die sieben kleinen Aufsätze von 1788 — 1791 in den
„Nachlass", anderes wie die Brief beilage an Sömmerring „Über
das Organ der Seele" in den Briefwechsel eingereiht worden.
Die Abhandlung „Über Philosophie überhaupt" wurde — weil
nicht von Kant, sondern von Beck stammend — mit Recht ganz
ausgeschieden; an ihrer Stelle wird das in Rostock aufgefundene
Manuskript Kants, welches von Beck seiner Überarbeitung zu
Grunde gelegt wurde, in der Nachlass- Abteilung veröffentlicht
werden. Dagegen gehören zu den „Werken" noch diejenigen Hand-
bücher („Vorlesungen") über Anthropologie, Logik, physische
Geographie und Pädagogik, die Kant selbst oder seine Freunde
JASCHE xmd Rinck noch bei seinen Lebzeiten publiziert haben.
Der Reihenfolge der Bände zu Grunde gelegt wurde die
chronologische Anordnung; jedoch mit zwei Ausnahmen. Ein-
mal nämlich ist die zweite Auflage der „Kritik der reinen
Vernunft" vor der ersten abgedruckt, gemäss dem Prinzip der
Ausgabe, bei dem Vorliegen mehrerer Auflagen den Text der-
jenigen zu Grunde zu legen, „in welcher Änderungen enthalten
sind, die mit Sicherheit oder mindestens mit grosser Wahrschein-
lichkeit auf Kant zurückgeführt werden können". Um nun aber
auch ein deutliches und bequemes Bild der wichtigen ersten
Fassung im Zusammenhange zu geben, wird diese bis zu dem
Abschnitt von den Paralogismen inkl. vollständig zum Abdruck
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156 KARL VORLÄNDER.
gebracht Unserer Meinung nach hätte, bei gleichem Verfahren
bezüglich des Abdrucks, doch die chronologische Folge bewahrt
bleiben, also Bd. IV (s. unten) vor Bd. III kommen müssen.
Eine zweite, imserer Ansicht nach durchaus gerechtfertigte
Abweichung von dem streng chronologischen Prinzip ist die, dass
die zahlreichen kleinen Abhandlungen und Aufsätze nach 1781,
um den Zusammenhang zwischen den grösseren Werken nicht zu
zerreissen, in einem (späteren) Band vereinigt sind. So ergibt
sich folgender Inhalt:
Bd. L Vorkritische Schriften 1747 — 1756.
„ II. Vorkritische Schriften 1757 — 1777.
„ IIL Kritik der reinen Vernunft (zweite AufL) 1787.
„ IV. Kritik der reinen Vernunft (erste Aufl. bis „Von den
Paralogismen der reinen Vernunft inkl.) 1781.
Prolegomena. 1783.
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. 1785.
Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissen-
schaft. 1786.
„ V. Kritik der praktischen Vernunft. 1788.
Kritik der Urteilskraft. 1790.
„ VI. Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen
Vernunft. 1793.
Die Metaphysik der Sitten. 1797.
„ Vn. Der Streit der Fakultäten. 1798.
Anthropologie in prs^matischer Hinsicht. 1798.
„ VIII. Abhandlungen nach 1781.
„ IX. Vorlesungen über Logik. 1800.
Vorlesungen über physische Geographie. 1802.
Vorlesungen über Pädagogik. 1803.
Als Fachherausgeber werden S. XVI sechzehn Gelehrte
aufgeführt, zu denen inzwischen noch Max Köhler, Karl Vor-
länder und G. WoBBERMiN hinzugekommen sind.
Band I erschien zuerst (1902), ihm folgte im Jahre 1903
Band IV, sodann 1904 Band III. Die Herausgabe des II. Bandes
ist durch verschiedene äussere Umstände, zuletzt noch durch die
nachträgliche glückliche Auffindung des einzigen noch fehlenden
Originaldrucks (s. oben), verzögert worden und steht für die
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USfV.
157
ersten Monate des Jahres 1905 bevor ^j. Wir können ihn trotzdem
in die folgende Einzelbetrachtung einschliessen, da es uns durch
das Entgegenkommen der Leitung der Ausgabe gestattet war, die
Aushängebogen des Textes und die Korrekturbogen der Anmer-
kungen zu benutzen. Wir wenden uns nun dem zu, was noch
von den einzelnen Bänden zu sagen übrig bleibt, indem wir uns
dabei auf das Wichtigste beschränken.
Band I
enthält zunächst das allgemeine Vorwort W. Diltheys zur ganzen
Ausgabe (S. I — XVII), dann auf 503 Seiten den Text der Kant-
schen Schriften von 1747— 1756, darauf die Einleitung in die Ab-
teilung der „Werke** (S. 505 — 517), endlich die Anmerkungen der
Herausgeber zu den einzelnen Schriften (auf 67 enggedruckten
Seiten). Die Fachherausgeber dieses Bandes sind: Kurd Lass-
witz (Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte,
De igne, Nova dilacidatio, Monadologia physica) und Johannes
Rahts (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, Um-
drehung der Erde, Ob die Erde veralte, die drei kleinen Aufsätze
über das Erdbeben von Lissabon, Theorie der Winde).
Kurd Lasswitz, durch seine gleichmässig philosophische wie
mathematisch-naturwissenschaftliche Durchbildung gewiss der ge-
eignete Mann zu seiner Aufgabe, gibt in der „Einleitung" zu
Kants Erstlingsschrift eine trotz ihrer Kürze genaue Begrün-
dung der eigentümlichen Tatsache, dass der Druck derselben
schon 1746 begonnen, aber erst 1749 zu Ende geführt wurde.
Die „Erläuterungen** geben — wir bemerken das unmittelbar
Folgende gleich als auch für die übrigen gültig — sorgfältige
hterarische Nachweise über alle vorkommenden Gelehrtennamen
und die von Kant benutzten Stellen aus deren Werken. Ausser-
dem gibt L. an zwei Stellen auch sachliche Erklärungen zu der
von Kant behandelten Descartes-Leibnizschen Streitfrage, die
freilich der Laie ausführlicher wünschen möchte. Dazu kom-
men noch einige kurze Erläuterungen zu verschiedenen Stellen
im Verzeichnis der „Lesarten**. Zu dieser Abhandlung gehören
auch die beiden am Schluss des Bandes eingehefteten Tafeln mit
26, zum Teil, wo es nötig war, von Lasswitz verbesserten
*) Er ist inzwischen — Febraar 1905 — erschienen.
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158 KARL VORLÄNDER.
Figuren. Die angehängten Bemerkungen E. Freys über Ortho-
graphie, Interpunktion und Sprache sind für diese erste Schrift
natürlich besonders eingehend; sie zeugen beredt von der sorg-
fältigen Kleinarbeit des Verfassers.
Von den übrigen Schriften des ersten Bandes interessiert
natürlich am meisten die von Rahts herausgegebene „Allgemeine
Naturgeschichte und Theorie des Himmels", auf die bekannüich erst
90 — 100 Jahre nach ihrem Erscheinen durch Männer wie Arago,
A. VON Humboldt, Schopenhauer und Helmholtz wieder die allge-
meine Aufmerksamkeit gelenkt worden ist. Etwas ganz Neues bringt
hier die Akademie- Ausgabe insofern, als der Herausgeber ein im Besitz
Professor Ernst Hagens befindliches Manuskript zu dem 1791 mit
Kants Genehmigung erschienenen Auszug des Magisters Gensichen
benutzen konnte, in das Kant an zwölf Stellen Änderungen des
früheren Textes eingetragen hat, die nun zum ersten Mal veröfTentlicht
werden. Auch ist der Anfang des fünften Hauptstücks erheblich
verändert, da der Philosoph inzwischen seine Ansicht über die
Entstehung des Saturnrings geändert hatte. Die vier Anmerkungen,
die Gensichen am Schlüsse über Kants Verhältnis zu späteren
Forschem hinzufügte, waren schon aus Kehrbachs Ausgabe der
Schrift (bei Reclam) bekannt Rahts ist etwas ausführhcher als
Lasswitz in seinen sachlichen Erläuterungen, besonders inbezug
auf die von Gegnern angegriffene Ansicht Kants über die Mond-
und Planetenbewegung (S. 551 — 554); desgleichen in den von ihm
edierten kleineren naturphilosophischen Aufsätzen. Dass auch
diese wenig oder gar nicht in die grössere Öffentlichkeit gedrungen
sind, ist zum Teil in sachlichem Interesse zu bedauern. So sagt
Rahts von derjenigen über die Achsendrehung der Erde (1754):
„Die Ursache, welche Kant hier für eme allmähliche Verlang-
samung der Achsendrehung der Erde mit voller Klarheit dar-
legt, musste hundert Jahre später von neuem aufgefunden werden,
um eine aus der Vergleichung alter und neuer Mondbeobachtungen
folgende und durch die Newtonschen Gesetze nicht zu erklärende
Anomalie in der Bewegung unseres Trabanten fortzuschaf-
fen" (S. 539).
Band II.
Die 17 Abhandlungen und Aufsätze dieses Bandes verteilen
sich auf fünf verschiedene Herausgeber: Erich Adickes (Inaugu-
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW,
159
ral' Dissertation van 1770), Paul Gedan (Entwurf und Ankün-
digung eines Collegii über die physische Geographie), Max Köhler
(Versuch über die Krankheiten des Kopfes, Von den verschiedenen
Racen der Menschen), Kurd Lasswitz (Neuer Lehrbegriff der Be-
wegung und Ruhe, Über den Optimismus,^) Falsche Spitzfindigkeit
der syllogistischen Figuren,^) Negative Grössen, Deutlichkeit der
(xrundsätze der natürlichen Theologie und der Moral, Einrichtung
der Vorlesungen zy6j/66, Gegenden im Räume, Recension Moscatis),
Paul Menzer* (Trostschreiben an Frau von Funk, Einzig mög-
licher Beweisgrund etc., Beobachtungen über das Gefühl des Schönen
und Erhabenen, Träume eines Geistersehers, Über das Dessauer
Philanthropin), Unsere folgende Hervorhebung des Wichtigsten
schliesst sich der auch in der Ausgabe beobachteten chronologi-
schen Reihenfolge der Schriften an.
Die Ankündigung eines Collegii der physischen Geo-
graphie (Sommer 1757) erscheint zum erstenmal nach dem
Originaldruck, der dem Paulus-Museum in Worms entstammt.
Er unterscheidet sich von dem ersten Neudruck (1807), dem alle
bisherigen Ausgaben folgten, hauptsächlich durch die Hinzufügung
der eigentlichen CoUeganzeige (S. 9^0 — lOn)- — Der Neue Lehr-
begriff usw. ist vom I. April 1758 datiert; der Herausgeber
macht darauf aufmerksam, dass hier schon wichtige Grund-
gedanken der „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissen-
schaft" (1786) vorgebildet erscheinen. — Der am 7. Oktober 1759
veröffentlichte Aufsatz Über den Optimismus gehört «zu der
durch die akademische Preisaufgabe von 1755 hervorgerufenen (und,
wie wir hinzufügen möchten, wohl durch Voltaires Candide ge-
steigerten) „Optimismus"-Literatur und sucht ihn gegen Crusius'
Angriflfe zu retten. Auf eine grobe Gegenschrift des Magisters
Weymann zu Königsberg (noch in demselben Monat erschienen)
antwortete Kant nicht Als weitere Quelle hätte noch Hamanns
Brief an Lindner vom 12. Oktober 1759 benutzt werden können
(Hamanns Schriften und Briefe ed. Petri I, 257 vgl. 259, auch II,
288 und rV 421). — Den Originaldruck der Trostschrift
(s. oben S. 254) lieferte das Kurländische Provinzial-Museum in
Mitau ; den Hinweis darauf verdankt die Ausgabe dem bekannten
Kantforscher Arthur Warda. — Über die mehrfach, namentlich
^) Die Einleitung zu diesen Schriften ist von P. Menzer verfasst.
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l6o KARL VORLÄNDER.
zwischen Paulsen und Benno Erdmann, verhandelte Streitfrage,
die Chronologie der Schriften von 1762 — 1764 betreffend,
bringt die Ausgabe jetzt definitive Aufklärung. Danach ergibt sich
folgende Reihenfolge: i. Die falsche Spitzfindigkeit usw., als
Einladungsschrift zu Kants Vorlesungen über Logik (höchstwahr-
scheinlich des Wintersemesters 1762/3) gedruckt. Dann folgt 2. nicht,
wie man bisher annahm, die Schrift über den „Begriff der negativen
Grössen", sondern Der einzig mögliche Beweisgrund usw.,
deren Ausarbeitung in die letzten Monate des Jahres 1762 fallen
muss, da bereits im Januar 1763 der schon obenerwähnte Magister
Weymann wiederum eine Gegenschrift fertig hatte. An sie
schliesst sich 3. die Abhandlung über die negativen Grössen,
die zwar erst zu Ostern 1764 im Messkatalog angezeigt, aber
schon am 3. Juni 1763 in den Königsberger Fakultätsakten ver-
zeichnet und noch in demselben Jahre bei Kanter veröffentiicht
wurde. 4. Die Beobachtungen über das Gefühl des
Schönen und Erhabenen, am 8. Oktober 1763 dem Dekan
zur Zensur vorgelegt, während am i. Februar 1764 Hamann schon
an ihrer Rezension arbeitet. Hier waren neben der Urausgabe
von 1764 noch vier andere Originaldrucke (einer von 1766, nicht
weniger als drei von 1771) zu berücksichtigen. 5. Der Versuch
über die Krankheiten des Kopfes, 13. bis 27. Februar in
Hamanns „Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen"
erschienen; in der Einleitung wird zugleich der Text von Kants
„Raisoniiement** über den „Ziegenpropheten" Jan Kormanicki
wiedergegeben. Erst zuletzt 6. folgt die akademische Preis-
aufgabe von 1763: Untersuchung über die Deutlichkeit usw.,
denn Kants Manuskript war zwar zur vorschriftsmässigen Zeit,
d. h. bereits Ende 1762, der Akademie eingeliefert worden, aber
erst zur Jubilate-Messe 1764 kamen die Preisschriften in dem Ber-
liner Verlage von Haude & Spener heraus. Die Akademie-Ausgabe
veröffentlicht zum erstenmal den genauen, ausführlichen Wort-
laut der Preisaufgabe, welche die „Klasse der tiefsinnigen Philo-
sophie" gestellt hatte und mit einer „goldenen Gedächtnismünze,
fünfzig Dukaten schwer" zu krönen verhiess; spätester Ein-
lief erungstermin war der i. Januar 1763. Den ersten Preis erhielt
bekanntlich Moses Mendelssohn; aber dabei wurde ausdrücklich
erklärt, dass die zweite (Kants) Arbeit „der ersten nahezu gleich
käme und die grössten Lobsprüche verdiente".
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW. i6i
Zu den Träumen eines Geistersehers gibt Menzers
Einleitung, dem Prinzip der Ausgabe gemäss, nur die äusseren
Daten betr. Abfassungzeit usw. Die Schrift wurde (aus beson-
deren Gründen) bereits gedruckt am 31. Januar 1766 bei der
Zensur eingereicht; demnach fällt die Abfassung wohl noch ganz
in das Jahr 1765. Die ursprüngliche Anonymität hat Kant nicht
zu erhalten gesucht. Von den drei Drucken des Jahres 1766 ist
der erste als der korrekteste dem Text zugrunde gelegt worden.
— Die Inaugural-Dissertation ist nach Adickes erst in den
Monaten vor ihrer öffentlichen Verteidigung, d. h. April bis August
1770, etwas eilig ausgearbeitet worden, sie wurde nur in wenigen
Exemplaren nach auswärts gesandt und darum wenig beachtet.
Kant ging daher schon im September desselben Jahres mit dem
Plane um, sie — insbesondere den 3. und 5. Abschnitt — erweitert
und umgearbeitet neu herauszugeben, fasste aber später (1771)
den Entschluss, eine ganz neue Schrift zu schreiben. Deren Ge-
schichte aber ist die Vorgeschichte der Kritik der reinen Ver-
nunft. Eine deutsche Bearbeitung (die übrigens von Kant nicht
sehr günstig beurteilt wurde) lieferte Marcus Herz unter dem
Titel „Beobachtungen aus der spekulativen Weltweisheit** (Königs-
berg, Kanter, 1771, kl. 8^ 158 S.). — Die Schrift Von den ver-
schiedenen Rassen der Menschen (1775) ist nach der zweiten,
vermehrten Aullage von 1777 ediert, doch sind die Abweichungen
der ersten Auflage angegeben. — Den Schluss des zweiten Bandes
endlich bilden die zwei Aufsätze über das Dessauer Philan-
thropin, von denen der erste am 28. März 1776 anon3nn, der
zweite am 27. März 1776 mit K. unterzeichnet in den „Königs-
bergische Gelehrte und Politische Zeitungen** erschien. Doch ist
Kants Autorschaft durch gleichzeitige Zeugnisse, im ersteren
Falle zudem durch den in R. Reickes Besitz befindlichen eigen-
händigen Entwurf des Philosophen, gesichert. Allgemein bekannt
wurden beide, sowie die interessante Rezension einer anatomischen
Schrift MoscATis (1771), erst wieder durch den Abdruck in
R. Reickes Kantiana (1860). Der dritte, früher ebenfalls Kant
zugeschriebene Aufsatz vom 24. August 1778 über dasselbe Thema
rührt, wie Briefwechsel I 218 und 221 zeigen, höchstwahr-
scheinlich von dem Hofprediger Crichton her.
Zeitschrift f. Philo«, u. phüosoph. Kritik. Bd. laö II
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l62 KARL VORLÄNDER.
Band III
gibt zunächst auf Seite i — 552^) unter der Redaktion Benno
Erdmanns, der seit mehr denn einem Vierteljahrhundert in seinen
Spezialausgaben der Textkritik gerade dieses Werkes die hin-
gehendste Sorgfalt gewidmet und somit der geeignetste Herausgeber
war, den vollständigen Text der zweiten Auflage der Kritik
der reinen Vernunft. Die in diesem Falle der Durchführung
eines formalen Prinzips zuliebe etwas unpraktische Anordnung
der Ausgabe bringt es mit sich, dass wir in der ^Einleitung*
(S. 555 — 559) nur die Vorgeschichte dieser zweiten Auflage er-
halten, während die der ersten im 4. Bande (s. unten) folgt.
Kant begann seine Arbeit an jener im März 1786 und schloss sie
Im April 1787 ab. Interessant ist, dass er eine Zeitlang den
Plan erwogen zu haben scheint, die Kritik der praktischen Ver-
nunft mit der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. zu verbinden.
Quelle für diese und andere Annahmen ist in erster Linie Kants
Briefwechsel. Unter der Rubrik „Lesarten" gibt Erdmann sodann
eine, bei aller Knappheit, doch genaue und gründUche Geschichte
und Charakteristik der fünf Originalauflagen des Werkes, mit
interessanten Seitenblicken auf Kants durch individuelle imd
provinzielle Eigentümlichkeiten beeinflusste Sprache, Orthographie
und Interpunktion. (Einzelnheiten bringt der Bericht des germa-
nistischen Mitarbeiters S. 590 — 597.) Die Korrektheit in bezug auf
diese Dinge nimmt zwar bei den späteren Auflagen zu, aber nur
infolge der Druckgewohnheiten der betreffenden Offizinen; Kant
selbst hat sich schon um die Korrektur der i. Auflage seines
Hauptwerkes nur wenig gekümmert, um den Druck der 3. — 5. an-
scheinend überhaupt nicht. Somit konnten für den Grundtext im
wesentlichen nur die beiden ersten Originalauflagen in Frage
kommen, die übrigen sowie die (bereits von Erdmann selbst ver-
öfTentlichten) Nachträge aus Kants Handexemplar durften nur an
einzelnen Stellen zum Vergleich herangezogen werden. Von den
Beiträgen der grossen Schar der übrigen Herausgeber «) und Einzel-
verbesserer, über die Erdmann im folgenden eine Übersicht gibt,
^) Die Seitenzahlen'Jdes Originals sind am Rande angegeben.
*) Dass er unter diesen die Ausgabe Valentiners, die sich hauptsäch-
lich auf die meinige stützt, statt dieser letzteren hervorhebt, beruht anscheinend
auf einem Schreibfehler. Wenigstens habe ich unter den Lesarten in Band UI
mehreremale meinen Namen, dagegen nicht den Valentiners gefunden.
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN ÜSfV, 163
von Meixin (1794) und Grillo (1795) bis zu den neuesten Kon-
jekturen von E. Wille (1903), hat er nicht allzuviel Gebrauch
gemacht. Denn im Gegensatz zu ihnen „allen'', die (und unseres
Erachtens mit Recht) im Interesse des besseren Verständnisses
^den Sprachbestand des Werkes einer mehr oder weniger grossen
Modernisierung zu unterziehen" keine Bedenken trugen — darunter
nicht zum wenigsten früher auch Erdmann selbst — hat er sich
jetzt, „übrigens ganz in Übereinstimmung mit den oben dargelegten
Prinzipien der Akademiekommission, zu einer möglichst konser-
vativen" Textbehandlung bekehrt. Dann folgt auf 16 enggedruckten
Grossaktavseiten das mühevolle Verzeichnis der Lesarten selbst.
Die „sachlichen Erläuterungen" dagegen sind wenig umfangreich;
sie umfassen nicht ganz 6 Seiten (S. 584 — 590) und geben, ausser
einer Anzahl Nachträge aus Kants Handexemplar, meist nur
Aufklärung dunkeler Textstellen.
Band IV.
Herausgeber sind für die i. Auflage der Kritik der reinen
Vernunft bis S. 405 des Originals inkl. sowie für die Prole-
gomena wiederum Benno Erdmann, für die Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten Paul Menzer, für die Metaphysischen
Anfangsgründe der Naturwissenschaft Alois Höfler.
I. In der Einleitung zu dem erstgenannten Werk betont
Erdmann zwar mit Recht, dass unsere Kenntnis seiner äus-
seren Vorgeschichte, an und für sich genommen, von geringem
Belang seL Gleichwohl ist eine so klare und bei aller Knappheit
doch gründliche Zusammenstellung der äusseren Tatsachen, wie
er sie auf S. 569 — 587 in Anlehnung an die heute eröffneten und
reichlich fliessenden Quellen des Briefwechsels gibt^), nebst seiner
Interpretation derselben auch für das innere Verständnis dieses
schwierigsten Werkes der Philosophie wertvoll. Indem wir auf
Erdmanns Darstellung selbst verweisen, heben wir hier nur
die wichtigsten Schlüsse, die der Herausgeber aus den nunmehr
bekannten Tatsachen zieht, hervor. Er unterscheidet mehrere
Vorstufen des vollendeten Werks: i. Kants Plan einer Schrift
') Nur folgende Stelle aus einem Briefe Hamanns an Herder vom
17. Mai 1779 scheint ihm entgangen zu sein: .^Kant arbeitet frisch los an
seiner Moral (!) der reinen Vernunft, und Tetens liegt immer vor ihm . ."
(a. a. O. n, S. 417).
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164 f<ARL VORLÄNDER.
„Über die eigentümliche Methode der Metaphysik* (1764 — 65),
2. die auf die „Dämmerungsperiode 1765 — 69" und die neuen An-
stösse des Jahres 1769 folgende Dissertation von 1770; 3. den
Plan zu einem Werke über „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der
Vernunft*, den er in den Briefen der Jahre 1771 — 72 an Marcus
Herz entwickelt. Nach einem weitern Zwischenraum von etwa
4 Jahren, aus denen uns keine sichere Nachricht überliefert ist,
sehen wir dann im November 1776 die leitende Idee der Kritik
der reinen Vernunft, ja sogar die Hauptmomente ihrer Gliederung
bereits konzipiert. Während sich in den Jahren bis 1771 die
Scheidung des Sinnlichen vom Intelligiblen in dem Inneren des Philo-
sophen vollzogen hatte, so haben sich in den Jahren 1772 — 76 seine
Begriffe über den Ursprung des Intellektuellen endgültig geklärt Von
Ende 1776 an erfolgte dann die Ausarbeitung des Werkes, die
sich freilich bei der Masse der „Materien*, die „sich unter seinen
Händen gehäuft* hatten, noch über vier Jahre hinziehen sollte.
Das von Kant selbst später mehrfach erwähnte letzte „Zu stände
bringen* des Buchs binnen 4 — 5 Monaten, <ias voraussichtlich in
in die letzten Monate des Jahres 1780 und den Anfang von 1781
fällt, kann natürUch nicht eine völlig neue Niederschrift der
856 Druckseiten bedeuten, wenn uns auch der von Erdmann ge-
gebrauchte Ausdruck „Schlussredaktion*, d. h. eine „überarbeitende,
verkürzende und erweiternde Redaktion der schrifüichen Materia-
lien* (a. a. O. S. 585) zu wenig zu besagen scheint.
2. Auch für die Herausgabe der Prolegomena war Benno
Erdmann, der die kleine, aber bedeutsame Schrift bereits 1878
mit einer ausführlichen Einleitung herausgegeben und auch seit-
dem mannigfache, namenüich quellenhistorische Untersuchungen
über sie angestellt hat, gewiss der Beruf endste. Eine „äussere
Geschichte" der Prolegomena zu schreiben, hält er jedoch trotz-
dem oder vielmehr (in seinem Sinne) ebendeswegen für unmög-
lich. Deshalb sieht denn auch seine Einleitung — zu unserem
Bedauern — von einer Darstellung seiner eigenen Hypothesen
über die Zusammensetzung der Schrift im einzelnen sowie einem
Urteil über andere Probleme, wie die bekannte Vaihingersche
Blattversetzungs -Hypothese, vollkommen ab. Sie begnügt sich,
das ziemlich reichliche Material, das über die Absichten Kants mit
der kleinen Schrift in den Briefen des Philosophen an Herz und
Biester und noch mehr in der Korrespondenz Hamanns mit
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USW. 165
Herder und Hartknoch fliesst, zusammenzustellen und überlässt
die Schlüsse daraus dem Leser. Dagegen gibt der Abschnitt
„Lesarten" einen minutiösen Bericht über eine Anzahl Nachdrucke
der Schrift, die sich in der Bibliothek des Paulus-Museums zu
Worms gefunden haben. Da diese Untersuchung nach Erdmanns
eigenem Urteil eine kleinliche, „für den inneren Bestand des
Werkes nichtssagende" war, dürfen wir sie hier übergehen. Wer
sich für diese, wie Erdmann mit einem sehr begreiflichen Stoss-
seufzer bemerkt, „geringste aller Kärrnerarbeiten" interessiert, sei
auf S. 607 — 616 der Ausgabe verwiesen.
„Sachliche Erläuterungen" sind von Erdmann beiden Schriften
nicht beigegeben.
3. Paul Menzers Einleitung zu der Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten zeigt (in erster Linie aus Kantschen
und Hamannschen Briefen), wie Kant schon um die Mitte der
6oer Jahre an „metaphysischen Anfangsgründen der praktischen
Welt Weisheit" gearbeitet und noch bis Ende 1773 an dem Plane
einer ähnlichen Schrift festgehalten hat, der dann — offenbar
durch die gewaltige Vorarbeit für sein Hauptwerk — beinahe ein
Jahrzehnt lang in den Hintergrund gedrängt wurde. Erst zu Anfang
1783 hören wir (durch einen Brief Hamanns an Hartknoch) von einer
Wiederaufnahme desselben. Aus der Zeit um Februar und März
1784 wird sodann — nach Hamannschen Briefstellen, auf die der
Herausgeber durch Arthur Warda aufmerksam gemacht wurde —
von einer wohl auch den meisten Kantfreunden bisher noch un-
bekannten Absicht Kants, nämlich einer Gegenschrift gegen
Garves Buch über Cicero de officiis (1783), berichtet. Wie dem
auch sein mag — man muss Hamanns Nachrichten immer cum
grano salis aufnehmen — , jedenfalls hat sich (nach demselben
Hamann) Ende April die „Antikritik gegen Garvens Cicero" be-
reits in einen „Prodromus zur Moral" oder — wie in einer eben-
falls von Warda mitgeteilten, bisher ungedruckten Briefstelle
vom 8. August 1784 nunmehr gesagt wird — „Prodromus seiner
Metaphysik der Sitten* verwandelt. Über die inneren Gründe
dieser etwaigen »Verwandlung" sind wir nicht unterrichtet. Be-
reits Mitte September wurde die Schrift unter dem jetzigen Titel
zum Druck gegeben; da derselbe jedoch sehr langsam von statten
ging, so konnte sie erst zur Ostermesse 1785 erscheinen.
Als Druckvorlage für die Neuausgabe der Akademie hat als
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l66 KARL VORLÄNDER.
korrekteste die wahrscheinlich von dem Philosophen selbst durch-
gesehene und verbesserte zweite Auflage (von 1786) gedient; die
dritte (1792) und vierte (1797) sind blosse Abdrücke derselben. —
„Sachliche Erläuterungen* sind auch dieser, freilich dem Ver-
ständnis auch kaum irgendwo Schwierigkeiten bereitenden Schrift
nicht beigegeben.
4. Über die Vorgeschichte der Metaphysischen Anfangs-
gründe der Naturwissenschaft konnte deren Herausgeber,
Professor Alois Höfler aus Wien, der zu diesem Amte durch
seine eigene Sonderausgabe der Schrift in den „Studien zur gegen-
wärtigen Philosophie der Mechanik" (Leipzig 1900) aufs beste
vorbereitet war, nur wenig aus den Quellen mitteilen, zumal da
die von ihm angezogenen Stellen aus einem Briefe Kants an
Lambert von 1765 und aus den „Losen Blättern* keinen nach-
weislich direkten Zusammenhang mit unserer Schrift haben.
Diese letztere war Ende des Sommers 1785 schon fertig, konnte
aber wegen eines Schadens an Kants rechter Hand erst Ostern
1786 veröffentlicht werden. Auf eine nochmalige „Kärrnerarbeit"
an den auch für die zweite Auflage dieser Schrift (1787) im
Wormser Paulus-Museum vorhandenen Nachdrucken hat Höfler
mit Recht verzichtet. Dagegen zeichnen sich seine „sachlichen
Erläuterungen" (sie umfassen 19 enggedruckte Seiten, S. 638 — 661)
durch besondere Reichhaltigkeit aus, was der fachmännische wie
nichtfachmännische Leser gewiss dankbar empfinden wird.
Damit haben wir unseren Rundgang durch die fünf in den
beiden letzten Jahren erschienenen Kantbände beendet. Verbot der
Raum auch, auf alles Wissenswerte näher einzugehen, so hoffen,
wir doch, dem Leser einen BegrifT von dem vielen Neuen und
Interessanten gegeben zu haben, was die akademische Kantaus-
gabe allen Freunden und Verehrern des kritischen Philosophen
bringt. Gewiss vermag auch ein solches Werk nicht, es allen Recht
zu machen. Auch wir haben im Vorigen, wo wir mit der An-
sicht der Kantkommission nicht übereinstimmten, unsere ab-
weichende Meinung geäussert. Aber, wer z. B. mehr sachliche
Erläuterungen gewünscht hätte und (mit uns) der Meinung ist,
dass die statt dessen gebotenen genauen biographisch-bibliogra-
phischen Notizen keinen besonderen Wert besitzen, der muss doch
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DIE NEUEREN BÄNDE DER AKADEMISCHEN USIV. 167
an die notwendigen Konsequenzen solcher Wünsche erinnert
werden. Auch die Leitung der Ausgabe hat sich ohne Zweifel
diese Frage vorgelegt. Aber, wo war dann ein Ende zu finden?
Wenn man beispielsweise hätte anfangen wollen, die Kritik der
reinen Vernunft zu interpretieren! Zeigt doch der bekannte Kommen-
tar Vaihingers, wie ein solches Beginnen ins Endlose auswachsen
kann. Dass übrigens gerade in dem Punkte der „Erläuterungen"
den einzelnen Herausgebern etwas Latitude gelassen ist und z. B.
die naturwissenschaftlichen Schriften mehr davon bringen als die
philosophischen, wird gewiss jeder billigen. Die Hauptsache,
neben der äusseren Entstehungsgeschichte, ist und bleibt für die
vorliegende Ausgabe natürlich der Text. Nur, wer durch eigene
Mitarbeit erfahren hat, wie da jede Zeile belugt und bearbeitet
worden ist, wie alles irgendwie zu ermittelnde Quellen- und Hilfs-
material herangezogen wurde und wird, das über die Fragen des
Textes und der Geschichte einer jeden Schrift irgendwelches
Licht verbreiten konnte, nur der weiss ganz zu würdigen, welch
eine gewaltige latente, gewissermassen „unterirdische" Arbeit in
dieser Ausgabe steckt. Dafür ist sie denn aber auch im Begriffe,
ein Werk zu werden, auf das die deutsche Wissenschaft stolz
sein darf, ein monumentum aere perennius.
Das Erscheinen der ersten Bände der „Werke* war durch
verschiedene unabwendbare Umstände etwas verlangsamt worden.
Die Arbeit schreitet indessen rüstig voran. Nach dem II. Bande,
dessen Veröffentlichung, während wir diese letzten Zeilen schreiben
(Mitte Januar 1905), unmittelbar bevorsteht, soll, wie wir von der
Leitung der Ausgabe erfahren, zunäcb:^ Band V erscheinen. Auch
die Arbeiten für die Bände VI und VII sind soweit vorgeschritten,
dass ihr Erscheinen noch in dem laufenden Jahre erhofft wird:
so dass neben der Abteilung der Briefe auch die der Werke in
nicht zu langer Zeit vollendet sein wird.
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i68 KURT GEISSLER.
Identität und Gleichheit mit Bei-
trägen zur Lehre von den
Mannigfaltigkeiten.
Von Kurt Geissler.
Es ist ein Vorzug der reinen Logik, die Gesetze, nach denen
wir denken, einzeln und gesondert als Tatsachen hinzustellen, sie
entweder empirisch aufzusuchen und nach Art der reinen Empi-
riker auch als nur durch Empirie aufsuchbar hinzustellen, oder
ihre Auffindung als zuerst und in erster Linie bewirkt durch
apriorisches Vorhandensein dogmatisch zu behaupten. Letztere
Auffassung würde sich darauf stützen, dass man z. B. von Iden-
tität überhaupt nicht sprechen, auf sie gar nicht kommen könne,
ohne dabei schon Identität anzuwenden. Man gelangt andererseits
durch allerlei Betrachtungen und Erfahrungen leicht zu der Mei-
nung, es liesse sich eine losgelöste, absolute Existenz der Grund-
gesetze im Geiste gar nicht denken. Soviel ist gewiss, dass
solcher Grundsatz in der Form (!) eines Satzes natürlich erst vor-
handen ist, wenn man den Satz als solchen bildet und als solchen
im Bewusstsein hat; aber das, was dem Satze zugrunde liegt, ihn
erst ermöglicht, mag es nun apriorisch verwendet werden oder
etwa erst während des Entstehens der Satzbildung mitentstehen
und also mit einem gewissen Rechte „rein empirisch gefunden**
genannt werden, das könnte man versuchen eine Grundlage ohne
„Satzform** oder „Gesetzform" zu nennen und ihm eine logisch
streng von anderen Grundlagen zu trennende Wesenheit zuzu-
schreiben. Bekannt ist es, dass manche Logiker den Satz der
Identität und ähnlich den verwandten des Widerspruchs glauben
in der ausführlicheren Form aussprechen zu müssen: es wird Aals
ein dem A in jeder Beziehung und im selben Augenblicke Gleiches
gedacht. Sie nehmen dadurch von vornherein Rücksicht auf
andere Grundgesetze und Vorgänge. Lotze ^) erklärt es für „ganz
nutzlos, den Ausdruck des Gesetzes bis zu der Formel anzu-
schwellen: jedem Dinge könne in demselben Augenblicke imd an
demselben Teile seines ganzen Wesens immer nur ein Prädikat
*) LogUc. 2. Auflage. Leipzig, S. Hirzel. S. 76, 77.
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEFTRÄGEN USIV, 169
A, aber nicht zugleich ein von A konträr oder kontradiktorisch
verschiedenes Non A zukommen. Richtig freilich ist auch dieser
Satz, aber er bleibt eine besondere Anwendung des Prinzips auf
Subjekte von dinghafter WirkHchkeit, die aus Teilen zusammen-
gesetzt und eines zeitlichen Wechsels ihrer Zustände fähig sind.
Unrichtig dagegen ist die schon in diesem Ausdrucke häufig vor-
ausgesetzte, ebenso häufig offen ausgesprochene Unterscheidung
zwischen verträglichen Prädikaten, die demselben Subjekt gleich-
zeitig zukommen könnten usw." „In den Anwendungen des
Denkens hat natürlich auch diese Behauptung ihre Gültigkeit,
nachdem (!) sie sich einmal vor dem Gesetze der Identität gerecht-
fertigt haben wird."
Andererseits könnte man mit Drobisch^) sagen, der Satz
A = A „würde jedoch ohne alle weitere Folge und daher ein
völlig unfruchtbares Prinzip sein, wenn es sich nur auf die abso-
lute Einerleiheit zweier Begriffe bezöge, bei welcher der eine nur
eine Wiederholung des andern im Denken ist". Der Psychologe
könnte bei der blossen „Wiederholung" doch schon etwas Geistiges
sehen, was über das blosse formale äusserliche A = A hinausgeht,
und behaupten, ohne verbindende andere psychologische Vorgänge,
also absolut, käme das Prinzip nicht vor. Der Logiker würde aber
wieder betonen, es käme auf die möglichst reine, absolute Feststel-
lung jeder einzelnen logischen Grundlage an. In einer Abhand-
lung *) habe ich mich in vieler Beziehung auch erkenntnistheoretisch
und metaphysisch gegen die Annahme von absoluten Grundlagen
im Geiste ausgesprochen. Die genannte Frage steht in engster
Beziehung zur Lehre von den Mannigfaltigkeiten, wie sie sich in
allerneuester Zeit gestaltet hat, insbesondere zur Lehre vom Un-
endlichen in der Geometrie und zur Auffassung der Null und des
Begriffes der Gleichheit, also auch des Grösser- und Kleinerseins
in der Zahlenlehre. Es sei mir darum erlaubt, diese Frage im
Anschlüsse an meine früheren Untersuchungen, freilich auch viel-
fach darüber hinausgehend und nicht mehr in völliger Überein-
stimmung mit diesen, zu betrachten.
Wenn man auch denen recht geben will, die behaupten, bei
allem empirischen Aufsuchen, oder beim Aufsuchen aus einem
*) Neue Darstellung der Logik. 4. Aufl. § 58. S. 63.
*) Ist die Annahme von Absolutem in der Anschauung und dem Denken
möglich (Archiv f. system. Philos. 1903. Heft 4.)
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170
KURT GEISSLER.
ganz bestimmten Gebiete heraus, z. ß. aus dem Gebiete der ma-
thematischen Mannigfaltigkeiten, seien doch immer schon die tat-
sächlich (etwa apriorisch) vorhandenen allgemeinen Denkelemente
benutzt, so ist es doch ebenso berechtigt zu behaupten, dass in
den Fragen der Philosophie, auch der Logik, die speziellen Unter-
suchungen einzelner Gebiete erweiternde Klarheit geliefert haben.
Darum darf ich wohl von vornherein, unter Vorbehalt nachträg-
licher Prüfung, mich auf bestimmte Gebiete exakter Wissenschaft
begeben , die auf das engste mit der Philosophie zusammenhängen,
und nachher unter vorsichtiger Benutzung des dabei Gefundenen
auf die philosophische Betrachtung meines Themas zurückkommen.
Auch in der Mathematik spielt das Wort „identisch** eine
gewisse Rolle, jeder Mathematiker spricht von der identischen
Gleichung, die genau so lautet wie in der Logik a = a. Dass man
beim Übergehen auf eigentliche mathematische Gleichung grosse
Vorsicht anwenden muss, ist selbstverständlich, wird aber beson-
ders klar, sobald man sich mit dem Unendlichkleinen, mit unend-
lichkleinen Unterschieden, mit dem Entstehen des Begriffes Null,
eines Punktes usw. beschäftigt. Bekanntlich sind die Meinungen
hierin noch keineswegs zum endgültigen, unumstösslichen Fest-
stehen gekommen, wenn man von solchem Feststehen überhaupt
in irgend einer Wissenschaft sprechen darf. In der genannten
Abhandlung wie in einem dem Unendlichen gewidmeten Buchet)
habe ich mich mehrfach dahin ausgesprochen, „man könne der
Null (Abhandlung S. 431) eher eine Art von Eigenschaft des Ab-
soluten zumessen als dem Punkte, und zwar weil der Geist fähig
ist*, die Identität a = a in völliger Genauigkeit zu denken, also
durch die Differenz a — a zu einer reinen Null zu kommen, wäh-
rend die Subtraktion zweier gleichen Strecken entweder aus dem
Räume hinausführt zur zahlenmässigen Null, oder aber die Gleich-
heit der beiden Strecken nur beziehlich einer besimmten Be-
haftung, also räumlich relativ, nicht absolut zu fassen sei und
dann zu etwas Räumlichem, dem Nullpunkte, führt". Ich füge zur
Erklärung hinzu, dass ich durch eine Reihe von mathematischen
Untersuchungen*) dazu gekommen bin, den Pimkt nicht als aus-
*) Die Grundsätze und das Wesen des Unendlichen in der Mathematik
nnd Philosophie. Leipzig, B. G. Teubner. 190a.
*) Die geometrischen Grundvorstellangen und Grundsätze und ihr Zu-
sammenhang (Jahresbericht der deutschen mathematischen Vereinigung. Xu.
H. 5. Grundgedanken einer flbereukl. Geom. XIII. Heft 5) usw.
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IDENTITÄT UND GLEICHHETT UFT BEITRÄGEN USIV. 171
dehnungslos zu fassen, sondern nach den sogenannten Weiten-
behaftungen ^) zu unterscheiden, derart, dass z. B. ein unendlich-
*) Der Begriff der Weitenbehaftungen ist (sofort verständlich)
nicht in einem einzigen Sätzchen zu geben. Doch will ich versuchen, ihn
auch für Nichtmathematiker hier möglichst kurz zu verdeutlichen. Ein
geometrisches Gebilde, z. B. einen Kreis, kann man sich vorstellen, indem
man eine Zeichnung eines Kreises sinnlich wahrnimmt; die entstehende Vor-
stellung ist die eines endlichen Kreises. Zwar steckt in der mathematischen
Definition des Kreises, wie sie gewöhnlich gegeben wird (Linie, deren Punkte
gleichweit von einem Punkte entfernt sind), nichts von endlicher oder sinn-
lich wahrnehmbarer Grösse des Radius, aber man kann diese Vorstellung
hinzufügen, die „Kreisfigur (i. A. nach jener Definition)** be haften mit der
Eigenschaft der sinnlich wahrnehmbaren Grösse, die im übrigen beliebig
gross oder klein sein kann. Man kann sich aber auch in mathematischer
Reinheit, welche eine Zeichnung nie erreicht, und in einer Grösse oder Klein-
heit, welche das Papier auch nie erlaubt, eine solche Figur vorstellen, aber
doch so, dass die Grösse in die Grössen der sinnlich vorgestellten Welt
passen würde. Ds^nn sage ich, sie gehöre dem Weitengebiete des Sinnlich-
vorstellbaren an, oder: zur allgemeinen Kreisvorstellung ist jene Vorstellung
hinzugefügt, sie ist damit behaftet worden. Ein solcher nicht mehr zeichen-
barer und wahrnehmbarer Kreis gehört also doch noch zur Weitenbehaf-
tung des Endlichen. Eine endliche Tangente hat zwar einen Punkt mit dem
Kreise gemeinsam, aber die Eigentümlichkeit der Berührung weist darauf hin»
dass man eine genauere Kennzeichnung geben sollte zum Unterschiede zur
Schneidenden. Man sage : die Tangente habe mit dem Kreise eine unendlich
kleine Strecke gemeinsam. Ein unendlich kleines Stück eines Kreises ist
gerade, wie auch die Tangente gerade ist; dieses Stück hat irgend eine Grösse,
aber eine dem Wesen nach nicht ins Endliche (in die Weitenbehaftung des
Endlichen) gehörige, ich sage: eine unendlich kleine erster Ordnung 6^ oder
der Weitenbehaftung des Untersinnlichvorstellbaren erster Ordnung ange-
hörige; die Vorstellung des Kreisstückes ist mit der Weitenbehaftung des <5*
versehen. Ein solches ^Stück kann, mit anderen ^-Stücken verglichen, in be-
stimmtem Verhaltnisse stehen z. B. i : 2. Auch die Vorstellung eines Dreiecks
kann mit der Weitenbehaftung 6 versehen sein, das Dreieck ist nicht sinnlich-
vorstellbar, sondern dann für das Endliche, wenn man hierfür noch die Vor-
stellung der Begrenzung aufgibt, eine blosse Stelle, ein (endlicher) Pimkt
Zieht man in Gedanken eine unendlichkleine Sehne eines endlichen Kreises, so
fällt sie mit dem dadurch abgeschnittenen unendlichkleinen Bogenstück für
die Vorstellung des Endlichen (die Weitenbehaftung, das Weitengebiet des
Endlichen) zusammen. Aber man kann auch diese Figur mit noch schärferer
Unterscheidung versehen, sich das Bogenstück noch als gekrümmt vorstellen
und von der Sehne unterscheiden; dann muss man die Vorstellung des
Untersinnlichvorstellbaren zweiter Ordnung S^ heranziehen (oder damit be-
haften), es hat z. B. der mittlere Punkt jenes d-Bogens von der <$-Sehne einen
Abstand der Behaftung ^' usw. Die Weitenbehaftung des Endlichen,
Unendlichkleinen (Unter-) und Unendlichgrossen (Ucbersinnlichvorstellbaren)
irgend einer Ordnung bedeutet demnach die Fähigkeit des Geistes,
sich irgend ein mathematisches Grössengebilde mit bestimmten
Grössenverhaltnissen so vorzustellen, dass diese verglichenen Grössen
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172
KURT GEISSLER.
kleiner Körper (bzw. Strecke) für die Weitenbehaftung des End-
lichen ein Punkt ist, sobald man sich bei jenem Körper keine
Grenzen mehr vorstellt, die Fähigkeit der Begrenzung nicht mehr
in Anwendung bringt. Der Punkt ist danach das „Grenzenlos-
kleine der niederen Weitenbehaftung" ; für ein im Unendlichkleinen
(Untersinnlichvorstellbaren) erster Ordnung vorgestelltes Gebilde
(z. B. das Dreieck dreier unendlichnaher Punkte einer Kurve) ist
der Punkt (Eckpunkt eines solchen Dreiecks) natürlich unendlich-
klein von nächst niedrigerer Ordnung (Behaftung) und wird für
das Unendlichkleine erster Ordnung, also jenes Dreieck, als
grenzenlosklein vorgestellt.
Freilich schrieb ich der Null auch damals keine völlige Ab-
solutheit zu: „bidessen kommt selbst der absoluten Null, der
Zahl Eins oder der Totalität in der Zahlenlehre nur eine be-
schränkte Eigenschaft des Absoluten zu usw."
Wenn man (nach den Grundsätzen des Unendlichen) eine
unendlichkleine Grösse als Summand neben endlichen fortlassen
kann, so kann man dies auch so ausdrücken: „Die unendlichkleine
Zahl ist innerhalb einer Summe gemischter Weitenbehaftung
relativ zu einem endlichen oder unendlichgrossen Summanden
gleich Null oder darf fortgelassen werden, aber sie ist in anderen
Beziehungen nicht Null, ist keine, wie man nun im Gegensatze zu
diesem relativen Nullwerte sagen könnte: absolute Null."
Die hier vorgenommene Gleichsetzung: Unendlichklein = o
ist jedenfalls nicht die vom Philosophen gemeinte Identität A = A,
und würde auch vom Mathematiker nicht mit Recht eine eigent-
lich identische Gleichung genannt werden, ebensowenig wie x = o,
weil hier mit dem Buchstaben x eine gewisse Vorstellung, die
Veränderlichkeit, verbunden wird und die Setzung, dass die sonst
veränderlich zu denkende Grösse x in diesem Falle gleich o sein
soll. Ist a eine endliche Grösse, d x eine unendlichkleine, so ist
die Gleichung a + d x = a ebenfalls keine völlig identische nach
alle sinnlich vorstellbar sind oder dass sie für das Endliche keine Mass-
bedeutung mehr haben, aber wohl wieder zueinander in ganz bestimmten
Grössenverhältnissen stehen können, usw. Man kann auch ein Gebilde, z.B.
ein Dreieck, gemischter Weitenbehaftung unterwerfen, z. B. so, dass die drei
Seiten endlich sind, aber zwei Winkel unendlichklein, die Spitze also einen
^Abstand von der Grundlinie hat usw. Was für einen Sinn das Sein (Vor-
handensein) solcher behafteter Gebilde hat, ist hier nicht erforderlich zu
sagen (cf. Grundsätze des Unendlichen, philos. Teil).
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRÄGEN USW.
173
gewöhnlicher Auffassung. Man pflegt auf die Grösse o in der
Mathematik zu kommen durch a — a oder 2 — 2, x — x usw., anders
geformt durch a = a usw., wenn man zu dieser Form die Tätig-
keit des Subtrahierens, den bekannten mathematischen Grundsatz
hinzufügt: Gleiches von Gleichem subtrahiert ergibt Gleiches.
Überall steckt der Satz der Identität und zwar in anderm Sinne
wie in a + d X = a. Ist die Gleichung a — a = o eine blosse
Identität?
Darauf antwortete ich schon früher (Grundsätze des Unend-
lichen, S. 63): „Es ist nicht richtig zu sagen, die Vorstellung
3 — 3 sei genau dieselbe wie die Vorstellung o. Erstere enthält
gedanklich viel mehr, sie enthält die Zahlenvorstellung 3 sogar
zweimal und dazu noch die Vorstellung des Wegnehmens. Dies
ist bei der Vorstellung Null nicht mehr in genau demselben Um-
fange und Sinne der Fall, wenn es auch ganz richtig ist, dass
man durch jene Differenz auf die Vorstellung von Null hinleiten
kann. Logisch würde man fragen: ergibt sich die Null ohne
weitem Zusatz als reine Folgerung aus a — a? Worauf beruht
es, dass wir statt 3 — 3 auch a — a und als Resultat auch Null
sagen können? Man dürfte mit Vorbehalt dieser Frage sagen:
Das Resultat der zusammengesetzten Vorstellung, nicht aber die
einfache Zusammenreihung der Begriffe 3 und 3 und des Sub-
trahierens ist Null. Noch genauer wäre: es gibt einen Grund
dafür, dass wir 3 — 3, 5 — 5 usw. oder a — a als Verbindungen
auffassen dürfen, welche alle einen und denselben Wert haben;
diesen Wert, hervorgehend aus jenem Gnmde, nennen wir die
Zahl Null. Wenn es uns nicht darauf ankommt, welche Vorstel-
lungen wir ursprünglich miteinander verbunden haben, ob wir
5 — 5 oder 3 — 3, kurz a — a haben, wenn es uns nur auf das
Resultat ankommt, so dürfen wir für diesen Zweck die Vorstellung
3 — 3 ersetzen durch die Zahlenvorstellung Null. Das Gleichheits-
zeichen in der Formel a — a==o bedeutet demnach nicht, dass
sich, logisch genommen, alles, was in a— a stecke, auch genau
mit dem decke, was o bedeutet, sondern nur, dass der aus dem
zweimal gesetzten Begriffe a, dem Begriffe des Subtrahierens und
der Anwendung dieses Begriffes (freilich noch nicht ganz allein
hieraus) hervorgehende Begriff sich deckt mit Null."
Man erkennt schon aus der letzten Klammer, dass hiermit
die Erklärung der Null noch nicht abgeschlossen ist. Es könnte
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174 KURT GEISSLER.
scheinen, als stecke in dem Begriffe Null noch etwas Geheimnis-
volles, und man könnte entweder vermuten, es hätte die Zahl
Null eine besondere geistige Existenz als Zahl, etwa wie die Zahl
Eins und vielleicht in noch selbständigerer Art als irgend eine
andere ganz positive Zahl, die sich einfach aus Einheiten zu-
sammensetze, oder etwa ein anderes, also nicht aus der blossen
Zahlenmannigfaltigkeit entnommenes Wesen.
Absehen möchte ich hier vorläufig von einer Erklärungsart
einzelner Mathematiker, neu auftretende Zahlen, etwa wie die
Null, die negativen, irrationalen usw. nur als blosse Zeichen, ganz
äusserlich formal zu definieren. So wichtig die Definitionen sind,
so wenig kann man durch blosses äusserliches Nennen allein
etwas herstellen, was einen wirklichen Platz in einer Mannigfaltig-
keit ausftlUen soll. Wollte man z. B. sagen, o bedeute eigentlich
keine Zahl, aber da man doch einmal (man beachte dieses äusser-
liche: auch einmal, welches ganz den Begriff des Subtrahierens
in seiner ursprünglichen Bedeutung verwischt!) gleiche Zahlen von-
einander abziehen möchte, so wolle man auch diesem a — a, was
eigentlich keinen Sinn als Zahl habe wie 5 — 3, eine Bedeutung
heilten, indem man es Null nennt, es erklärt als ein Zeichen,
„welches (wie ich in einem Buche las), wenn es eine solche Zahl
gäbe, diese Zahl bedeuten müsste*.
Wir wollen uns zuerst damit beschäftigen, ob etwa das eigen-
ttlmliche Wesen der Null oder wenigstens ein Teil dieses Wesens
aus einem Gebiete stamme, das ausserhalb der Zahlenlehre selbst
liegt. Solcher Gedanke liegt ziemlich nahe, da man oft in Ver-
suchung kommt, NuU mit „Nichts* oder gar mit der blossen Ver-
neinung zu vertauschen. Ist ein Nichts in einer anderen Mannig-
faltigkeit die Zahl Null? Man würde wohl schwer sagen können,
was ein Nichts an sich in irgend einer Mannigfaltigkeit sei, wenn
man dabei nicht geradezu an das Subtrahieren, an das Setzen
und Fortnehmen desselben Begriffes denkt. Zahlen sind Grössen,
damit wird man einverstanden sein ; manche definieren die Grösse
dadurch, dass man bei ihr von Gleich, Grösser und Kleiner
sprechen könne. Die Setzung eines Begriffes, einer Vorstellung,
einer Empfindung usw. und das darauf folgende Fortdenken der-
selben könnte man zwar auslegen als ein Setzen eines A und
Fortdenken eines ihm gleichen A, könnte also Gleichheit an-
wenden. In der Tat wird man sich das Fortdenken von A kaum
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRAGEN USIV.
175
vorstellen können, ohne dass man zugibt, es käme hierbei der
Satz der Identität oder seine geistige Grundlage zur Anwendung.
Ist aber auch die Vorstellung des Grösser- oder Kleinerseins mit
dem Fortdenken etwa einer Empfindimg verbunden und verbind-
bar? Ist die Intensität eines Schmerz- oder Lustgefühles zahlen-
mässig messbar? (Ich sehe von allen psychophysischen Parallelen,
dem Vergleichen einer Reihe von Empfindungen mit den mess-
baren Ursachen derselben wie den Gewichten, welche drücken,
ab.) Es ist bekannt, wie sehr diese Intensität von Umständen
abhängt (Individualität, Disposition, Aufmerksamkeit usw.), ja so-
gar damit wesentlich verflochten ist. In dieser Beziehung ist jeden-
falls jene Art von etwaiger Gleichheit, von Grösser- und Kleiner-
sein nicht der mathematischen (geometrischen oder arithmeti-
schen) gleich.
Das Fortdenken einer Empfindung, eines vorgestellten Men-
schen usw. ist kein Subtrahieren, die Bildung „Rot weniger Rot**,
„Schmerz weniger Schmerz**, „Mensch weniger Mensch** hat fast
etwas Komisches an sich und könnte nur gelten in bildlicher
Übertragung. Etwas anderes ist es natürlich, wenn ich den Men-'
sehen als benannte Zahl, als „einen (!) Menschen** denke, wenn
ich „drei Empfindungen weniger drei Empfindungen" bilden wollte.
Man würde dann sofort verlangen, dass die Minuendus- Emp-
findung und die Subtrahendus-Empfindung genau festgestellt würde
als entweder gleichartige Begriffe wie 3e — 3e oder als ungleich*
artige (verschieden benannte Zahlen) wie 3e — 3d, und würde dann
erst von zahlenmässigen Vorstellungen sprechen. Das heisst, es
würde das Zahlenmässige erst hineingebracht. Die geistige Ver-
bindung: „Vorstellung von Empfindung weniger Vorstellung von
Empfindung" oder „Vorstellung von Empfindung und Fortdenken
derselben" ist keine Zahl und führt nicht auf Null. Wenn man
die Liebe eines anderen Menschen besitzt und sie verliert, die
Zuneigung mancher Menschen besitzt und dann die Zuneigung
aller dieser Menschen verliert, so kann man wohl davon sprechen,
dass man nun nichts mehr besitze (natürlich auch dieses Nichts
nicht als ein absolutes Nichts gedacht); aber man will dadurch
nicht ausdrücken, dass man die Zahl Null (wenn auch mit dem
Zusätze: Neigung) besitze. Das Unpassende in solchem Aus-
drucke, das zum Lachen herausfordert, ist eben das Hineinziehen
des zahlenmässigen Ausdrucks Null statt: nichts oder keine.
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176 KURT GEISSLER,
Bei den genannten Beispielen wurde immer Identität an-
gewendet, aber man wird doch sogleich merken, dass diese
Identität erst einen Sinn bekam durch die übrigen Umstände der
Beispiele. Sie ist mit anderen Vorstellungen, sogar mit Gefühlen
verknüpft; streicht man diese hinweg, so ist zwar nicht Nichts
geblieben, insofern hat Lotze recht. Die blosse formale Logik,
das getrennte Aufzählen von Denkelementen ist Etwas und hat
eine Art von Sein oder Existenz; aber man sieht sich hier wie
so oft dazu gedrängt, den Begriff der Existenz ebenfalls nicht ab-
solut und ganz unteilbar zu fassen, sondern Stufen oder Arten
des Seins anzunehmen. Zu dieser Ansicht bin ich bei vielen
anderen Untersuchungen gedrängt worden.^) Es mag also die
blosse Identität a = a erstlich eine rein subjektive Existenz führen,
indem sie als etwas Abgesondertes vom denkenden Logiker hin-
gestellt wird, und diese Existenz könnte auch auf die höhere
Stufe der persönlich objektiven Existenz treten, wenn sie all-
gemein von den denkenden Geistern anerkannnt wird. Darum
braucht sie aber noch nicht eine eigene Existenz innerhalb des
geistigen Wesens, welches denkend arbeitet, zu besitzen; es ist
immer noch möglich, dass ihr abgesondertes Vorkommen inner-
halb einer geistigen Tätigkeit einfach nicht wahr ist, sondern dass
sie immer verbunden ist mit anderen Vorstellungen, mit Mannig-
faltigkeitsbegriffen, ja sogar mit Gefühlen usw. Aus genannten
sonderbaren Beispielen möchte man schliessen, diese Behauptung
sei richtig; gewiss ist sie nicht widerlegbar; denn jedes Beispiel
ist irgend einem Gebiete sonstiger geistiger Tätigkeit entnommen
und demnach auch damit verknüpft. Streift man aber die Eigen-
tümlichkeiten dieser Gebiete ab, so entsteht etwas zweifellos an-
deres, das blosse formale Gerippe der Identität.
Das genannte Fortdenken, welches wir also lieber nicht
schlechthin mit dem mathematischen Namen des Subtrahierens
bezeichnen wollen, ist ebenfalls nicht ohne Zusammenhang mit
den Eigentümlichkeiten der Gebiete, aus denen das Beispiel ent-
') Ist die Einwirkung eines freien Willens räumlich möglich ohne Wider-
spruch gegen die Arbeitserhaltung? (Inaug. - Diss. Halle). Eine mögliche
Wesenserklärung für Zeit, Raum, das Unendliche und die Kausalität nebst
einem Grundworte zur Metaphysik der Möglichkeiten, Gutenberg, Berlin W.
1900. Ober Notwendigkeit, Wirklichkeit, Möglichkeit und die Grundlagen der
Mathematik (Archiv f. syst. Philos. i, 1905).
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRAGEN USW.
177
nommen ist, es erhält nicht bloss Färbung durch sie, nein man
darf behaupten, es hat diese Färbung als wesentliches Merkmal
an sich, sobald es überhaupt an der eigentümlichen Existenz (der
Seinsstufe) des Beispiels teilnimmt.
Betrachten wir noch genauer das Wesen der Null. Fügt
man dieselbe als Summanden hinzu, so ist es mathematisch gleich-
gültig, ob man sie wieder fortlässt, keineswegs aber wenn man
sie als Faktor hinzufügt; a — o = a, aber a.o«ao, nicht gleich a.
Man könnte versucht sein zu sagen: bei der Addition oder Sub-
traktion ist das Fortlassen von Null ähnlich als wenn man sonst
irgend etwas fortlässt, was da war z. B. den Gedanken an einen
Menschen, die Empfindung Rot, beim Multiplizieren und Divi-
dieren aber nicht Wenn man nach den Grundsätzen des Un-
endlichen einen imendlich kleinen Summanden neben endlichen
einfach fortlassen darf, ebenso wie man dann die Null fortlassen
darf, so könnte man wie oben sagen: die Grösse dx sei hier
gleich o, aber sie sei darum doch keine absolute Null. Es sieht
hiernach so aus, als wenn mit Ausnahme dieses besonderen
Falles das Gebiet der Verwendung von o ein ganz anderes wäre
als das Gebiet der Verwendung einer unendlich kleinen Grösse,
ebenso ihr Begriff i. A. In der Geometrie z. B. ist es möglich,
zwei für das Endliche als gleich vorgestellte Strecken voneinander
abzuziehen und damit nicht etwa auf Nichts, sondern auf einen
Punkt zu kommen, und zu sagen, wir hätten durch Abziehen
dieser räumlichen Grössen wie auch sonst durch Abziehen ver-
schiedener räumlicher Grössen etwas Räumliches bekommen.
Die Eigenschaft des Räumlichen, ausgedehnt zu sein, habe auch
der Punkt (als Grenzenloskleines niederer Weitenbehaftung). Frei-
lich ist alsdann, wie ich ganz allgemein durchführte, der Begriff
des Gleichseins und Grösserseins in der Geometrie immer nach
Weitenbehaftungen zu nehmen; handelt es sich um die gewöhn-
liche endliche oder sinnlichvorstellbare Geometrie, dann kann man
den Zusatz „für bestimmte Behaftungen" ohne Schaden weg-
lassen. Die Menschen, welche sich solange vornehmlich mit dem
Sinnlichen beschäftigten, kamen lange gar nicht darauf etwa die
Grösse relativ nach Behaftungen zu definieren. Aber wenn man
diejenigen Probleme näher betrachtet, bei denen Unendliches vor-
kommt, so ergibt die Annahme solcher relative Festsetzung der
Gleichheit und des Grösserseins die Möglichkeit der Forträumung
Zeitschrift f. Philos. n. philosoph. Kritik. Bd. za6 12
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178 KURT GEISSLER.
von sonst nicht lösbaren Schwierigkeiten. Das Unendlichkleine
spielt sonst auch in der Zahlenlehre eine entsprechende Rolle,
aber die Null scheint eine Besonderheit zu sein.
Wie wenn es nim auch hier gelänge, grössere Übereinstim-
mung zwischen beiden Mannigfaltigkeiten zu schaffen? Dies ist
nicht bloss der Harmonie wegen zu wtlnschen, solcher Grund
wäre zu wenig exakt; aber es bereitet die Null tatsächlich inner-
halb der Zahlenlehre beträchtliche Schwierigkeiten, deren ich
wenigstens einige berühren will. Wie also, wenn bei jenem Bei-
spiel für Null und das Unendlichkleine als Summand gesagt wer-
den könnte: die unendlichkleine Grösse ist in diesem Falle nicht
etwa nur ersetzbar durch Null, sondern ist ganz dasselbe, das
Unendlichkleine ist hier in einem Sinne gebraucht worden, in dem
es geradezu Null ist? Warum ist dann aber die allbekannte Null
in ihren übrigen Verwendungen z. B. als Faktor oder Divisor
nicht auch als das Unendlichkleine zu bezeichnen? Femer müsste
doch auch das Unendlichkleine in der Zahlenlehre etwas sein,
was bald so, bald so zu definieren wäre, je nachdem wo und wie
es vorkommt, z. B. als Summand oder als Faktor.
Darauf ist erstlich zu sagen, dass die Mathematik seit un-
denklich langer Zeit rein mathematisch nur das Endliche be-
handeln konnte und erst in neuester Zeit das Unendliche exakter
Behandlung unterwarf. Es könnte also sein, dass in gewissen,
hierbei oft vorkommenden Fällen das Unendlichkleine so ge-
braucht würde, dass es wie eine absolute Identität erscheint, wie
die sogenannte absolute Null. Kurz, es ist zunächst nötig zu
sagen, wie man überhaupt das Unendlichkleine relativ nach den
Umständen definieren kann. Das ist durch die Grundsätze des
Unendlichen geschehen. Zu dem Wesen des Untersinnlichvorstell-
baren gehört es, dass es unter -sinnlich vorstellbar ist, also in be-
stimmten Beziehungsgesetzen zum Endlichen, überhaupt zu den
übrigen Weitenbehaftungen steht. Eine dieser Beziehungen ist,
dass eine einzelne oder eine endliche Anzahl solcher Grössen als
Summand neben solchen höherer Behaftung fortgelassen werden
kann. Absichtlich bediene ich mich dieses allgemeinen, auch in
anderen Gebieten benutzbaren Ausdruckes „Fortlassen* etwa statt
Subtrahieren. Es möchte nun sein, dass eine solche Grösse in
solcher Beziehung dasselbe ist, was wir Null nannten. Aber die
Null hatte ja noch anderen Gebrauch, beim Multiplizieren usw.
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRÄGEN USW. 179
Kann auch hier einfach eine unendlichkleine Grösse dafür gesetzt
werden? Ganz ohne weiteres gewiss nicht. Ein Beispiel, welches
bis in unsere Tage wie ein Paradoxon erschien, und in versteckter
Gestalt auch den Fachmathematikern bei ihren höheren Unter-
suchungen immer wieder Schwierigkeiten macht (siehe unten), ist
die Bildung der arithmetischen Form i : o.
Man kann die leichtfertige Erklärung vieler Bücher nicht
mehr aufrecht erhalten, dies sei gleich Unendlich. Das soll sich
natürlich, wie überhaupt die Division nach Ansicht der meisten
sich auf die Multiplikation stützen muss, darauf stützen, dass um-
gekehrt I = o . 00 sei. Ebenso soll aber auch 3, kurz jede endliche
Zahl, gleich 0.00 unendlich sein. Man nannte o. 00 einen unbe-
stimmten Ausdruck, gibt freilich auch zu, dass i. 00 ein unbe-
stimmter Ausdruck sei, wenn d eine unendlichkleine Grösse be-
-deutet. Der Beweis für o.« ist falsch. Was bedeutet nämlich
nach der gewöhnlichen Auffassung Null? Einfach a — a; also
.0. oo = (a — a)oo = a.a> — a.oo. Nun glauben viele glücklich zum
Resultate gelangt zu sein. Denn die letztere Differenz gebe doch
.= 00 — 00 , uud das sei doch gewiss ein unbestimmter Ausdruck,
könne also gleich jeder Zahl sein. Wenn nun freilich auch im
allgemeinen, d. h. wenn man das erste und das zweite Unendlich
unbestimmt nimmt, das Resultat imbestimmt ist, so passt dies
doch hier nicht. Denn diese beiden Grössen Unendlich sind aus
einem einzigen Zeichen « nach Ausmultiplizieren der Klammer
entstanden, müssen also genau dasselbe bedeuten — oder das
Ausmultiplizieren war auch nicht erlaubt, man käme also auch zu
keinem Resultat und zu keinem Beweise. Wenn aber a.oo genau
identisch ist mit a . 00 als Subtrahendus, dann ist das Resultat nach
der gewöhnlichen Erklärung der Null gewiss gleich o aber nicht
^gleich I oder irgend einer sonstigen endlichen Zahl. Folglich
wäre, wenn die gewöhnliche Erklärung der Null gilt und der
Setzung zweier gleicher Grössen auf beide Seiten eines Minus-
Zeichens, die Bildung 1:0 immöglich, gar nichts Logisches, gar
nichts Mathematisches. Das ist aber ein sehr übles Resultat für
die Mathematik, weil sie dann immer gezwungen ist bei einer
Funktion wie i : x und ähnlichen, wo x doch alle möglichen Werte
annehmen soll, den Wert Null auszuschliessen, obgleich man doch
sonst X beliebig klein werden lassen kann, auch negativ. Ich
habe in der Tat früher die Bildung dieses Bruches für logisch
12*
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i8o KURT GEISSLER.
falsch erklärt und gezeigt, dass man z. B. in der Geometrie damit
auskommen kann, den Nennerwert x immer kleiner werden zu
lassen, ihm die Werte niedrigerer Behaftung ^^, d* . . . erteilen kann
und damit alle Fälle in der Geometrie ohne ein Null -Unter-
brechung erhält Z. B. tan 90 = sin 90 : cos 90 erscheint unmöglich,
weil es ist gleich 1:0! Erklärt man aber sinus und cosinus geo-
metrisch oder nimmt man diese Funktion als Grösse der Tan-
gente im Endpunkte der positiven x- Achse, wie man es schon in
der Sekunda lernt, so wird dieselbe für 90 Grad parallel zur
y- Achse, Sinus wird zum Radius i, Cosinus aber wird zum Null-
punkte. Erklärt man nun den Punkt als Grenzenloskleines be-
liebiger niederer Behaftung, so gilt freilich der Begriff des rechten
Winkels und der Halbierung eines Gestreckten nur relativ^), z. B.
für das Endliche (während für niedere Behaftungen Unterschiede
bestehen können), es wird also bei Berücksichtigung des Unend-
lichkleinen, was hier nötig ist, da ja auch das Unendlichgrosse in
Betracht kommt, der Cosinus nicht Null, sondern unendlichklein.
Man kommt also nicht auf 1:0, sondern auf i:d beziehlich
1 : 6^ usw. Nur hat dieses d hier keine bestimmte Grösse, weil
es nicht mit anderen Grössen derselben Behaftung verglichen
wird. Nach den Grundsätzen des Unendlichen stehen die Grössen
einer Behaftung wie d^ : 62 in bestimmten Verhältnissen mit end-
lichem Werte des Verhältnisses, i : d aber ist logisch gleich Un-
endlich. Auch durch den Begriff der Parallelen ist dies richtig
zu verstehen. Es gibt nach der Lehre von den Weitenbehaf-
tungen keine absoluten Parallelen, *) eine endliche kann z. B. die
zu ihr (endlich — ) parallele Gerade sehr wohl im Unendlichen
(erster bez. zweiter usw. Ordnung) schneiden. Also kann die
trigonometrische Tangente von 90® sehr wohl eine Tangente sein,
welche für das Endliche parallel ist zur y- Achse, dennoch aber
eine unendliche Grösse hat (bis zu ihrem Schnittpunkte im Un-
endlichen). Diese unendliche Grösse ist natürlich hier auch un-
bestimmt, weil sie nicht mit anderen in Verhältnisse tritt.
^) Dass diese Auffassung des Halbierens bereits im ersten Unterrichte
z. B. bei den Kongruenzsätzen vorteilhaft ist, habe ich mehrfach gezeigt,
z. B. in: „Die Determination der geometrischen Aufgabe und die Weitenbehaf-
tungen" (Zeitschr. f. lateinl. höh. Schulen, Teubner, Jahrg. 15, H. 11, 12).
') Siehe die Grundgedanken einer übereuklidischen Geometrie: frühere
Note.
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRÄGEN ÜSW, i8i
I : o ist also nicht schlechthin dasselbe wie i : i, sondern im
Allgemeinen nur, wenn man dieses 6 imbestimmt nicht bloss, son-
dern überhaupt ohne Anwendung des Begriffes der Begrenzung
fasst. Durch eine Begrenzung kann es in bestimmte Verhältnisse
zu anderen unendlichkleinen Grössen treten; dies ist hier nicht der
Fall und darum wird es grenzenlos klein gefasst. Ich bemerke,
dass, wie ich gezeigt, der Ausdruck unendlichklein, der die Be-
grenzung oder das Ende auszuschliessen scheint, unrichtig ge-
wählt und besser durch Untersinnlichvorstellbar (einen positiven
Ausdruck) ersetzt wird, wo es nötig erscheint.
Die Feststellung derjenigen Grundelemente des Geistes, aus
denen sich die Raum- wie die Zahlenlehre aufbaut, ist nicht
einzig und allein die Sache des Mathematikers; sondern, wie die
Philosophie überhaupt die Grundlagen aller Wissenschaft behan-
delt, so hat sie auch hier sehr ernstlich mitzureden. Es ist des-
wegen nicht zu verwundern, vielmehr zu verlangen, dass bei
dieser Feststellung allgemeine Fähigkeiten, aus der Erkenntnis-
theorie genommen, anzuführen sind, ohne schon in die speziell
mathematischen Fachausdrücke gekleidet zu sein. Sämtliche für
die Geometrie notwendigen Elemente habe ich in ihrem Zusam-
menhange an anderer Stelle anzugeben versucht (s. frühere Note),
hier möge nur kurz darauf hingewiesen werden, mit besonderer
Beziehung auf das Arithmetische, dass wohl zu unterscheiden ist,
ob man bei einer Zahlenvorstellung die Vorstellung „bestimmt*
wählt, oder „unbestimmt*, und dass es noch wieder etwas an-
deres ist, wenn man die Vorstellung einer „Begrenzung* aus-
schliesst. Es ist kein Widerspruch von einer unbestimmten Zahl
zu sprechen, bei der an eine Begrenzung gedacht werden soll.
Man kann sich eine Grösse vorstellen, die unbestimmt gelassen
wird, die aber doch irgend eine (noch nicht näher bestimmte
oder nicht mehr näher bestimmte) Begrenzung besitzen soll.
Wenn wir nun ausserdem aus der Lehre von den Weiten-
behaftungen als richtig annehmen, man müsse bei jeder Grössen-
bestimmung, überhaupt bei jeder Grössen Vorstellung sich ent-
scheiden, ob sie sinnlichvorstellbar, unter- oder übersinnlich-
vorstellbar irgend einer Ordnimg sein soll, so hat man jene oben-
genannten verschiedenen logischen Fälle der Bestimmtheit (Unbe-
stimmtheit) und Grenzenlosigkeit wieder auf die Grösse irgend
einer Behaftung anzuwenden. Bei den endlichen Grössen liefert
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l82 KURT GEISSLER.
dies nichts Neues. Anders ist es aber bei den unendlichkleinen
und Unendlichgrossen. Im Räume z. B. können zwei unendlich-
grosse Strecken erster Ordnung in einem ganz betimmten Grössen-
verhältnisse zu einander stehen »i : a^, ähnlich dy : dx etwa =2,
Das einfache Zeichen » bedeutet aber eine unbestimmte unend-
liche Grösse, ähnlich 6^, z. B. die noch nicht näher bestimmte
Seite eines unendlichkleinen Dreieckes; drittens aber kann d oder
d^y . . 6°^ auch einen Punkt für die höhere Behaftung vorstellen, dann
ist es unbestimmt und grenzenlos klein gefasst und könnte zur
Unterscheidung der früheren Bedeutungen geschrieben werden
^, . . 5°. Ähnlich kann auch bei der Vorstellung eines unbestimmten^
aber doch irgendwie begrenzten Unendlichgrossen (Übersinnlich-
vorstellbaren) die Vorstellung der Begrenzung gestrichen werden,
dann erhielte man das Grenzenlose «.
Ist etwas Entsprechendes bei den Zahlen möglich und über-
winden wir dadurch die Schwierigkeiten der Null? Zunächst ist
jedem Mathematiker geläufig, die Zahlen ebenfalls als eine eng
zusammenhängende Mannigfaltigkeit aufzufassen. Nach der Lehre
von den Weitenbehaftungen gibt es eine über das Endliche hin-
ausgehende Kontinuität, die allgemeine oder continuitas generalis,
welche die sogenannte archimedische als die irgend einer be-
stimmten Behaftung mitumfasst. ^) Man kann auch hier sogleich
mit dem Verhältnisse zweier endhchen Grössen beginnen, z. B.
die fünf, die ja ohne Einheit nicht zu stände kommt, fassen als
bestimmt durch das Verhältnis zur Einheit, als 5 : i. Es erfordert
nur wieder die Bildung der Einheit, wenn man nun die 5 als
solche fasst, und es ergibt sich alsdann durch Vergleichung dieser
Einheit mit der vorhergehenden das Verhältnis i : Vs , was ja in
der Tat auch nach den gewöhnlichen Regeln der Bruchrechnung
gleich 5 ist. Die vorhergehende Einheit ist hier zum Begriffe
eines Bruches Vs geworden. Entsprechend sind Brüche mit be-
liebig kleinem Nenner bildbar. Von den irrationalen Zahlen will
ich an dieser Stelle schweigen. Aber es gibt nach der Behaftungs-
lehre für die Zahlenmannigfaltigkeit ausser der Vorstellung end-
licher Zahlen auch diejenige von imendlichgrossen (unendlich-
^) Eine kurze Emffihrung in die Weitenbehaftungen findet man auch
in dem Buche: Die Kegelschnitte und ihr Zusammenhang durch die Konti-
nuität der Weitenbehaftungen. H. W. Schmidt' Verlag, Jena. 5 Mk.
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BETTRÄGEN USW, 183
vielen Einheiten) und unendlichkleinen d. h. : ähnlich wie die An-
lage des Menschen zur Raumvorstellung betrachtet werden kann
als eine, die sich in bestimmter Weise nach Gebieten des End-
lichen und Unendlichen spaltet (unter ganz bestimmten auffind-
baren Beziehungsgesetzen), ebenso auch die Anlage zur Bildung
der Zahlenmannigfaltigkeit. Wenn auch diese Lehre beträchtlich
von derjenigen G. Cantors abweicht, so hat sie doch mit ihr das
Gemeinsame, dass es unendlichgrosse Zahlen als ein neues, von
den endlichen ganz bestimmt trennbares Geschlecht geben soll
Dann lassen sich auch unendlichkleine Zahlen vorstellen wie ^1 : ^
z. B. ein Differentialquotient mit bestimmtem endlichen Werte,
femer eine unbestimmte unendlichkleine Zahl 6 von irgend einer,
hier aber nicht besonders angegebenen Begrenzung, und endlich
eine unendlichkleine Zahl von irgend einer niederen Behaftung,
bei der man überhaupt darauf verzichtet, dass sie Grenzen haben
soll: eine grenzenloskleine. Dies würde dem Punkte in der Geo-
metrie entsprechen. Wir wollen uns fragen, ob man die bisher
sogenannte Null als solche Grösse definieren kann, ob
nämlich dadurch auch die bisherigen Schwierigkeiten bei der Null
verschwinden.
Wieso ist zunächst i : o bildbar? Wenigstens wäre es ein
grosser Vorteil für die Mathematik, wenn die Bedenken gegen
diese Bildung, die ich oben äusserte, fortfielen, ebenso wie es
ein grosser Vorteil wäre, wenn man die Null (wie den Punkt)
nicht der Eigenschaft einer Zahlenausdehnung berauben müsste,
welche doch sonst alle Zahlen haben! Darf man dann den Satz
festhalten 1:0= cx>, wofür wir auch schreiben würden i:d= 00?
Zunächst wäre dieser Bruch nicht mehr genau dasselbe wie i : i,
also müsste man auch besser schreiben i : d = qp. Bei i : 6 fasst
man den Nenner unbestimmt unendlichklein, gibt aber nicht
jeden Gedanken einer Begrenzung des 6 auf. Bei i : <5 ist der
Nenner grenzenlosklein, ebenso ist pp grenzenlos-unendlichgross,
dagegen 00 nur unbestimmt unendlichgross. Wie steht es aber
nun mit dem Beweise für i : o = 00, den wir oben als falsch ver-
warfen? Es sollte sein o . 00 — (a — a) . 00 «= a . 00 ^ — a . cx>i = o, da
ja das 00 in Minuendus und Subtrahendus genau dasselbe sein
müsste. Nach unserer neuen Unterscheidung aber fassen wir das
Unendlich 9P der rechten Seite als der Begrenzung beraubt auf,
ein doppeltes Setzen von P? macht es nicht zu einem begrenzten^
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l84 KURT GEISSLER.
lässt den Gedanken nicht zu, es sei dies Zeichen im Minuendus
und Subtrahendus genau dieselbe Grösse. Vor allem aber ist die
sogenannte o bei der Bildung dieses Ausdruckes i : o als Grenzenlos-
kleines zu fassen. Man kann also dafür nicht a — a in dem Sinne
setzen, dass diese beiden a genau dasselbe wären; denn dann
wäre die Null nicht grenzenlosklein, sondern wäre begrenzt durch
zwar nicht ganz bestimmt vorgeschriebene Werte wie 3 — 3, son-
dern durch unbestimmte Werte wie a — a, aber doch durch Werte,
bei denen eine Begrenzung angewendet wird, so dass das erste a
dieselbe Grösse und Begrenzung haben soll, wie das zweite a.
Es ist also der Ausdruck i : o in der Mathematik , speziell in der
Funktionenlehre erlaubt, aber nur in dem Sinne, dass bei dieser
Bildimg oder Schreibweise der Nenner grenzenlosklein von nie-
derer Weitenbehaftung ist und dies durch o oder d angedeutet
werden soll. Will man in der Funktion i : x die Variable x für
besondere Fälle ersetzen durch eine unendlichkleine Grösse, so
schreibe man i : d und erhält als richtiges Resultat das unbe-
stimmte, aber nicht grenzenlose 00, während als Resultat von i : o
zu schreiben ist pp. Wollte man etwa den Satz 1:0=9? be-
weisen, so hätte man zu schreiben 1=9?, multipliziert mit einer
Differenz, die zwar für das Endliche (Weitenbehaftung des Sinnlich-
vorstellbaren) aus gleichem Minuendus und Subtrahendus be-
stehen kann, bei der aber durchaus zu beachten ist, dass für die
niedere Weitenbehaftung ein Unterschied bestehen soll von etwa 6,
aber diese Grösse grenzenlos gefasst, also angedeutet (a — a -{- i) . ».
Eine Gleichung wie a-|-dx = a, von der wir früher sprachen,
und welche einen Grundsatz des Unendlichen andeutet, kann auch
für andere Zwecke gefasst werden als a -|- ^ = a.
Hierdurch gelange ich nunmehr zu der Ansicht, die in ge-
wisser Beziehung nicht völlig dem von mir früher Gesagten wider-
spricht, dass man ebenso wie in der Raumvorstellung durch Ab-
ziehen zweier für das Endliche gleicher Strecken zum Punkte als
einer räumlichen (und ausgedehnten) Grösse, so auch in der
Zahlenmannigfaltigkeit durch Abziehen von a — a nicht zu einer
Grösse gelangt, die der Eigenschaft der zahlenartigen Ausdehnung
nicht mehr fähig wäre. Natürlich ist dabei streng festzuhalten,
dass a irgend einer Weitenbehaftung angehören muss.
Die Gleichheit in der Zahlenlehre kann deswegen
relativ gedeutet werden je nach der oder denjenigen Behaftungen,
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEFTRÄGEN USW. 185
die man hereinziehen will; eine absolute Gleichheit zweier
Zahlen innerhalb der Zahlenmannigfaltigkeit gibt es nach dieser
Lehre also nicht; vielmehr erlaubt die Differenz a — a, wenn a
endlich ist, stets ein Resultat d^. Schreibt man dafür o, so deutet
man damit an, dass man innerhalb der Weitenbehaftung des End-
Hchen stehen bleiben will. Die Null verliert darum nach dieser
Auffassung ihre bisherige Bedeutung in der Mathematik, die sich
nur mit dem Endlichen und den dem Endlichen auch angehörigen
LimesbegriflFen abgab, nicht; diese Bedeutung und diese Schreib-
weise o kann auch beibehalten werden für irgend ein anderes
Weitengebiet wie das von der Ordnung i^ wenn die Rechnung,
sich nur (!) in diesem Gebiet bewegt. Für alle die Fälle aber,
bei denen man andere Weitenbehaftungen, z. B. das Unendlich-
kleine in das Endliche hereinzieht, würde man vorsichtshalber
das Zeichen 6 benutzen. Der Grundsatz, dass man eine unendlich-
kleine Grösse als Summanden neben ^iner endlichen fortlassen
kann, bleibt bestehen; die Formulierung, dass man sie ersetzen
könne durch Null, bleibt ebenfalls richtig: nur würde man dafür
genauer sagen dürfen: die unbestimmte oder im Weitengebiete
des Unendlichkleinen auch (anderen d gegenüber) bestimmte
Grösse d kann man als Summanden neben endlichen Grössen er-
setzen durch dy d. h. das Unendlichkleine, bei welchem man auch
noch die Vorstellung der Begrenzung aufgeben kann, das Grenzenlos-
unendlichkleine (was auch heissen kann mit dem alten Ausdrucke:
Null). In der Tat kommt es bei einer einzelnen unendlichkleinen
Grösse, die neben endlichen als Summand steht, auf die Vor-
stellung einer Begrenzung gar nicht an! Ebenso kommt es be^
der Gleichheit zweier endlichen Grössen für das Endliche (!) nicht
darauf an, ob die eine um unendlichwenig grösser gefasst werden
kann als die andere. Kurz die Vorstellung der Gleichheit in einer
Mannigfaltigkeit wie die des Raumes und der Zahl ist je nach der
Behaftung zu definieren und kann eine Ungleichheit sein für Her-
anziehen irgend einer niederen Behaftung. Entsprechend ist auch
das endliche Grössersein oder das Kleinersein einer endlichen
Grösse als eine andere zu definieren nach dieser Behaftung. Die
Differenz ist für endliche Behaftung eine endliche Grösse d [sonst
bestände Gleichheit, nicht endliche Ungleichheit], kann aber trotz-
dem aufgefasst werden als d -f- 6^, Und es muss dies geschehen,
falls man sich innerhalb einer Rechnung bewegt, welche zu ihrer
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l86 KURT GEISSLER.
Klarheit niedere Weitenbehaftung nötig hat, z. B. vielfach bei
Untersuchungen aus der höheren Mathematik.
Ehe ich noch ein Schlusswort über die Identität und deren
Bedeutung in der Seele hinzufüge, möchte ich nur ein Beispiel
aus der Mathematik anführen, indem ich mir auf andere Stellen
verspare, die Vorteile dieser Auffassung für schwierige Probleme
der heutigen Mathematik zu zeigen. Selbstverständlicherweise
handelt es sich um Annahmen, welche möglich sind; aber die
sämtlichen Grundlagen der Mathematik sind unbewiesen und un-
beweisbar, darum heissen sie „Grundlagen"; ihre Sicherheit ruht,
in den Schwierigkeiten wenigstens, die sich neuerdings zeigten,
auf ihrer Widerspruchslosigkeit, also Möglichkeit.
Paul du Bois-Reymond *) suchte einige Irrtümer beziehentlich
der Taylorschen Entwicklung zu berichtigen, welche sich in der
für den jetzigen Stand der Analysis hochbedeutenden Arbeit von
H. Hankel*) finden. Daselbst wurde gesagt, die Taylorsche Ent-
wicklung sei immer bei den sogenannten legitimen Funktionen
möglich, bei Stetigkeit einer Funktion und ihren sämtlichen Ab-
leitungen (Differentialquotienten). Du Bois-Reymond bildet ein recht
kompliziertes Beispiel, das zeigt, dass trotzdem in unendlichvielen
Punkten die Entwicklung versagt. Das zweite Beispiel, welches
er gibt, erscheint einfacher, aber er findet darin wegen der Null
solche Schwierigkeit, dass er es nicht für hinreichend beweis-
kräftig hält. Es handelt sich um die Funktion 9?(x) = e-iä, deren
sämtliche Ableitungen stetig sind. Aber die Werte, welche ent-
stehen, wenn man x = o setzt, also 9?(o), 9?'(o) usw., sollen, wie
der Verfasser sagt, ganz wertlos sein, wenn das darunter ver-
standen wird, was man durch Berechnung der Funktion für den
vorgelegten Zahlenwert o erhält. Es bedürfe besonderer Fest-
setzungen, was man dann unter der Funktion verstehen wolle.
Er will deswegen lieber einen Grenzbegriff anwenden, nämlich
Limes 9? (x + e) für e = o. Er addiert also zum Werte x eine un-
endlichkleine Grösse e, verfährt aber nun natürlich nach der ge-
wöhnlichen Grenzmethode (statt, wie bei meiner neuen Erklärung
der Null, die Lehre von den Weitenbehaftungen anzuwenden, die
') Über den Gültigkeitsbereich der Taylorschen Reihen -Entwicklung;
Mathem. Annalen 21, 1883.
•) Untersuchungen über die unendlich oft oscillierenden und unstetigen
Funktionen. Math. Ann. 20.
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IDENTITÄT UND GLEICHHEIT MIT BEITRÄGEN USW. 187
noch nicht existierte) und gerät wieder in „die erheblichsten
Schwierigkeiten", wenn er nun eine Summe von unendlich vielen
solchen Funktionswerten bilden will, um die Absicht seines
Themas zu erreichen. Es muss hier genügen, anzudeuten, dass
die Schwierigkeit in dem nicht genügend bestimmten .Charakter
der Null, der hier nicht ausreichenden Limes- und Summenbildung
beruht, weil dieselben immer nur das Resultat für das Endliche
im Auge haben.
Für den Philosophen wird von Interesse sein der letzte Aus-
blick, den ich zum Schlüsse eröffnen möchte. Liegt die Möglich-
keit vor, ja verspricht es Vorteile, die man in den exakten Wissen-
schaften ohne das nicht erreichen kann, die Identität a = a und
die Differenz a — a oder die o in der genannten Art zu fassen,
so gewinnen zunächst die Mannigfaltigkeiten des Raumes und der
Zahl einen anderen Charakter. Zwar bleibt das Alte, so weit es
sich auf unumstrittenen Bahnen bewegt, bestehen, aber es erweitert
sich das Gebiet vom Endlichen auf beliebig viele höhere und
tiefere Weitenbehaftungen. Es gilt demnach die Gleichheit und
die Identität nicht einfach schlechthin wie eine leere Formel, son-
dern erhält je nach den Gesetzen der Mannigfaltigkeit und ihren
Weitenbehaftungen einen besonderen, wesentlichen Sinn. Es
haben durch die Lehre von den Weitenbehaftungen die bisherigen
Gebiete jener Mannigfaltigkeiten einen Zusammenhang nach oben
und unten gefunden, es ist entdeckt oder (besser gesagt) ange-
nommen worden, dass diese Mannigfaltigkeiten auch schon im
Gebiete ihrer bisherigen Bearbeitung in engstem Zusammenhange
mit bis dahin noch nicht erschlossenen Gebieten stehen, dass man,
wenn man diese Gebiete und das Grenzgebiet zwischen beiden, die
Begriffe und Anschauungen, die dem Grenzgebiete angehören und
die nicht vermeidbar sind, genau behandeln will durch Definitionen
und Sätze, Rücksicht nehmen muss, die bisherigen Begriffe wie
Gleichheit und Grössersein relativ vorsichtig auffassen muss.
Wir denken uns danach, dass wir mit Unternehmen einer
Untersuchung auf dem Gebiete einer solchen Mannigfaltigkeit,
z. B. mit einer geometrischen Arbeit uns begeben auf eine Stufe
des Seins, die anders ist, vielleicht auch höher steht als die blosse
formale Logik. In dieser führt der Satz der Identität eine
Existenz, die in ihrer Art berechtigt ist und ziemlich einfach er-
scheint. Aber man darf nicht so schlechthin von einer An-
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l88 KURT GEISSLER.
Wendung dieses Grundsatzes auf die betreffende Mannigfaltig-
keit sprechen. Das ist ein sehr flüchtiger Ausdruck. Es ist diese
Anwendung kein Hinübertragen aus einer Stube in die gleich-
stehende andere, sondern gewissermassen ein Hinauf- oder auch
Hinuntertragen in ein anderes Stockwerk, auf eine andere Stufe
des Seins im Geiste. Wie man nun auch metaphysisch das Sein
der Psyche auslegen mag (und hierbei stehe ich auf dem Boden
einer Metaphysik der Möglichkeiten), wir müssen vorsichtig sein, so-
bald wir überhaupt dem Resultate unserer Untersuchung eine wissen-
schaftliche und derart objektive Richtigkeit und in diesem Sinne
eine objektive Existenz zuschreiben wollen. Der formale Satz der
Identität hat dann nicht dieselbe Realität wie die Angabe der Gleich-
heit zweier Strecken oder zweier Zahlen. Bei diesen Vorstellungen
ist dem Begriffe der Identität, soweit er eben ein mathematischer
sein soll, wesentlich (!) die Unterscheidung nach Weitengebieten.
Es scheint mir aber auch aus den wenigen oben angeführten
Beispielen aus anderen Gebieten schon hervorzugehen, dass die
Gleichheit zweier Farbenempfindungen oder dergleichen, also über-
haupt die Gleichheit, nicht ein blosses Zusammensetzen der for-
malen Identität mit der blossen, absoluten Empfindung ist, son-
dern dass es auch solche Empfindung als etwas Absolutes nicht
geben wird, und eine Gleichheit nur Sinn hat beziehlich gerade
dieser Mannigfaltigkeit.
Es scheint mir dadurch ein Zusammenhang, welcher zwischen
den Grundelementen der Seele besteht, gefördert oder besser be-
leuchtet zu werden. So wertvoll die Aufzählung des Einzelnen,
der Versuch ist, den Geist schön zu zerlegen, so wichtig ist es
hernach einzusehen, dass die Seele ihrem Wesen nach denn doch
keineswegs ein blosses Kompositum ist (eine Aussage, die jeder
Philosoph ohnehin unterschreiben würde), und zwar in einem sehr
weitgehenden Sinne. Es wird eine Beziehung zwischen dem Ge-
biete der Logik und anderen Gebieten hergestellt, die vorher nicht
in gleicher Art bekannt war, es wird vor allem die formale Logik
wissenschaftlich unmöglich gemacht ohne fortwährende Rücksicht
auf die anderen philosophischen Gebiete — und umgekehrt. Die
Frage: wie kann Vieles Eins sein und wie kann Eins Vieles sein,
die hierbei kein blosses Wortspiel mehr ist, sondern gerade bei
der Wissenschaft von der „einheitlichen** Seele wirkliche Be-
deutung hat, erscheint ein klein wenig (!) eher beantwortbar.
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS. 189
Über den Text der Lucasschen
Biographie Spinozas.
Von J. Preudenthal.
Im Bd. XVIII des A. f. G. d. Ph. S. iflF. hat Herr von Dunin-
BoRKOWSKi eine Abhandlung „zur Textgeschichte und Textkritik
der ältesten Lebensbeschreibung Benedikt Despinozas" veröffent-
licht. In ihr sucht er zu erweisen, dass ich mich bei der Fest-
stellung des Textes dieser Biographie von unzutreffenden An-
schauungen über die handschriftliche Überlieferung habe leiten
lassen und dass daher der Wortlaut meiner Ausgabe an zahl-
reichen Stellen geändert werden müsse. „Doch will ich", so sagt
er S. 5, „keineswegs dartun, die von Freudenthal besorgte
Despinoza-Biographie des Lucas sei unbrauchbar. Der Text, wie
ihn Freudenthal bietet, liefert immerhin eine sachlich voll-
kommen genügende Grundlage für den Despinoza- Biographen.
Aber die Edition Freudenthals ist keine kritische Ausgabe im
philologischen Sinn des Wortes; sie bringt nicht den ursprüng-
lichen Text, wie man doch allgemein in den Kreisen der Spinoza-
forscher anzunehmen scheint. Darauf . allein sollen meine Aus-
führungen aufmerksam machen". Und S. 27 fügt Dun. hinzu:
„Sachlich wird an der Biographie (Lucas') kaum etwas ge-
ändert«.
Bei diesen Erklärungen Dun.s könnte ich es bewenden lassen;
denn nicht als Philologe und nicht um kritischer Zwecke willen
habe ich die in meiner Schrift gesammelten Texte herausgegeben,
sondern um im Dienste der Philosophiegeschichte für die Bio-
graphie Spinozas einen festen Grund zu legen. Ist meine Aus-
gabe des Lucas, wie Dun. sagt, „eine sachhch vollkommen ge-
Abkürzungen:
Dun. = VON Dunin -Borkowski im Archiv für Geschichte der Philo-
sophie, Bd. xvm.
Lg. »» Freudenthal, Lebensgeschichte Spinozas. Lpz. 1899.
Meinsma = Meinsma, Spinoza en zijn kring. S'Gravcnhage 1896.
Y = edd. H, N.
Z = codd. A, AS V^.
Die übrigen Abkürzungen sind die in meiner Lebensgeschichte Spinozas
und in Dun.s Abhandlung angewendeten.
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I90 / FREUDENTHAL,
nügende Grundlage für den Despinoza-Biographen*, so ist die
Aufgabe, die ich mir für diesen Teil meines Buches gestellt hatte,
gelöst. Aber Dun. gibt sich einer argen Selbsttäuschung hin. Sind
seine Textesänderungen notwendig, so bleibt „sachlich** keines-
wegs alles beim alten, sondern unser Urteil über den ältesten
Biographen Spinozas muss eine gründliche Umwandelung er-
fahren. Wir werden ihn für einen nachlässigen, unwissenden
und albernen Schriftsteller erklären müssen imd seine Schrift nicht
länger als wichtige Quelle für die Lebensgeschichte Spinozas be-
nutzen dürfen. Da nun mein Schweigen als Zustimmung zu
DuNs. Änderungen angesehen werden könnte, bin ich zu der nach-
stehenden Entgegnung genötigt. In ihr muss ich leider auch
manche unbedeutenden Dinge zur Sprache bringen. Das fordert
der Inhalt der Duninschen Abhandlung.
DuN. hat seine textkritischen Ansichten auf ein so umfang-
reiches handschriftliches Material gegründet und die meisten von
ihnen mit so grosser Sicherheit vorgetragen, dass ihr erster Ein-
drqck ein bestechender ist. Um ihnen gegenüber die nötige
Unbefangenheit zu gewinnen, sei zunächst an einigen Beispielen
gezeigt, zu wie vielen Bedenken seine Ausführungen Anlass geben.
Er klagt über Ungenauigkeit meiner Angaben; aber viele
seiner eigenen Angaben und Annahmen sind in höherem Grade
ungenau und unklar. So tadelt er die Auswahl der in den alten
Ausgaben vorgefundenen orthographischen Abweichungen und
Druckfehler in meinem Variantenverzeichnis, die störend wirke
(S. 6). Solch eine Auswahl, die ich gegeben habe, um die Art
dieser Abweichungen vor Augen zu stellen, kann freilich nicht
nach festen Normen ausgeführt werden und wird immer von
subjektiven Erwägungen abhängen. Was aber tut Dun.? Er
kümmert sich um die orthographischen Eigentümlichkeiten seiner
Handschriften überhaupt nicht, sondern ändert sie im Varianten-
verzeichnis nach „Wahrscheinlichkeitsgründen** (S.27). Hierdurch
entgeht er jedem möglichen Vorwurf einer willkürlichen Aus-
wahl seiner Angaben; den strengen kritischen Grundsätzen aber,
xJeren Befolgung er fordert, entspricht dies Verfahren keineswegs.
Wie steht es ferner mit Dun.s Mitteilungen über grössere Ab-
weichungen der Handschriften und über die seiner Meinung nach
notwendigen Verbesserungen meines Textes? Sind sie wenigstens
klar und genau von ihm verzeichnet? Auch dies kann nicht be-
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS.
191
hauptet werden. Es ist schon befremdlich, dass er die Zahl der
vorzunehmenden Textesänderungen nach einer ungefähren Schätzung
auf 160 — 180 berechnet (S. 6), als ob ein Mehr oder Minder von
20 Verbesserungen auf 27 Textesseiten gleichgültig wäre. Be-
fremdlicher noch erscheint, dass er es dem Leser überlässt, einen
grossen Teil dieser angeblichen Verbesserungen unter den ange-
gebenen Varianten selbst herauszusuchen. Denn 255 Abweichungen
der Handschriften verzeichnet er; nur 122 von ihnen empfiehlt er
durch ein „lies'' oder sonstwie; 14 verwirft er durch Einfügung
in Klammem. Unter den 119 unbestimmt gebliebenen Varianten
muss man also die noch übrigen von ihm für nötig erachteten
38 — 58 Verbesserungen ausfindig machen, ohne dass er bei solcher
Auswahl dem Leser zu Hilfe käme.^)
Auch an Unrichtigkeiten fehlt es in Dun.s Variantenverzeichnis
nicht. Ich habe es freilich nicht für alle von ihm benutzten Hand-
schriften nachprüfen können. Mit Untersuchungen über die Philo-
sophie Spinozas beschäftigt, die eine längere Unterbrechung nicht
zulassen, habe ich die Müsse nicht finden können, die zu einer
nochmaligen Vergleichung zahlreicher Handschriften erforderlich
wäre. Auch würde, wie unten nachgewiesen werden soll, die genaueste
Vergleichung das Urteil über den Wert der handschriftlichen Über-
lieferung nicht ändern, das aus den vorliegenden Angaben sich
ergibt. Nur die zwei Dresdener Kodizes (D*) habe ich nochmals
untersucht, weil sie den von mir als Grundlage des Textes be-
nutzten Ausgaben sehr nahe kommen und weil Dun.s Bemerkungen
über sie mit meinen Auszügen durchaus nicht übereinstimmen. Bei
der Wichtigkeit, die Dun. diesen Handschriften beimisst (S. 26),
durfte man voraussetzen, dass seine Angaben vollkommen zuver-
lässig seien. Eine Nachprüfung der Handschriften aber ergab das
Gegenteil.
Dun. teilt nach üblicher kritischer Methode bloss mit, wo die
Kodizes von meinem Text abweichen. Wo sie mit ihm überein-
stimmen, ist von ihm nichts angegeben worden. Wollte man nun
aber die aus diesem Verfahren sich ergebenden Schlüsse ziehen,
so würde man sehr fehlgehen. D* weicht sehr oft von meinem
^) In bezug auf die zu Lucas* Text hinzugefagten Anmerkangen be-
steht nur insolern ein Unterschied zwischen Dun.s und meiner Ansicht, als
er sie sämtlich für spätere Zutaten erklärt (S. 23), während ich das nur für
viele derselben angenommen habe (Lg. 241).
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192 /. FREUDENTHAL.
Texte ab, ohne dass Dun. etwas hierüber vermerkt. So ist zu
den ersten Seiten meiner Ausgabe den Bemerkungen Dun.s fol-
gendes hinzuzufügen:
3, 1 D^ wie Z; 3, 22 D* wie H; 6, 6 „de chercher" D* wie N;
6, 19 „souvent** statt „rarement** D^; 6, 34 D* wie N; 7, 33 D^
wie N und Z; das. „et des Anges* D*; 7, 34 D* wie N und Z; 7, 35
D2 wie Z; 7, 36 „s'en" D« wie N, W; 8, 9 „qu'il a pris" D«; das.
„craint pas** D*; 8, 19 D^ wie Z; 8, 29 D* wie N, Z (bis); 9, lof.
D^ wie N; 9, 27 D^ wie A^ W; 9, 30—32 ist die Anmerkung in
D* wie in N; nur Z. 40 richtig 35 statt 15 und Z. 41 „aux Eg.**
statt „des Eg.**; 9, 33 — 35 fehlt auch in D*.
Nicht geringere Fehler weisen die folgenden Seiten auf.
Doch wäre es unerquicklich und unnütz zugleich, die Ungenauig-
keiten des ganzen Duninschen Variantenverzeichnisses mitzuteilen,
da die hier angeführten genügen, um zur Vorsicht bei der Be-
nutzung zu mahnen. Nur wenige gleiche Versehen Dun.s müssen
später noch erwähnt werden (S. 201 ff.).
Auch Dun.s Beweisverfahren ist nicht einwandfrei. Er will
beweisen, dass G und Hl jünger sind als die Ausgaben vom Jahre
1719 und 1735. Dies, sagt er S. 9, „folgt schon allein aus der
Tatsache, dass „Spinoza" überall mit z geschrieben wird**. Hier-
aus aber folgt in Wirklichkeit gar nichts. Denn die Namensformen
„Spinoza" und „Spinosa** oder „Espinoza** und „Espinosa** imd
ähnliche wechseln vor und nach 1719 fortwährend miteinander ab.
Spinoza selbst schreibt seinen Namen mit z (s. W. Meyer, Nach-
bildung der Briefe des B. Despinoza, S. 6). Die Handzeichnung
seines Vaters und seiner Mutter lautet „despinoza** (Meinsma,
S- 57). Die Namensform mit z findet sich ferner in der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts auf Grabsteinen der Familie und in
Urkunden neben Formen mit s (s. Lg. 109, 7. 11. 18. 24.
HO, 2. 4. 10. 17. 25. III, 6. 10. 16. 20. 112, 5. 10). In den vor
1719 veröffentlichten Biographien endlich erscheint die Form
„Spinoza** häufiger als „Spinosa**. So bei Bayle und Colerus.
Wie dürfte man da aus dem Vorkommen des Namens „Spinoza**
in einer Handschrift auf deren Jugend schliessen?
An anderem Orte will Dun. die von ihm aufgestellte Ver-
mutung zurückweisen, dass Lucas selbst „eine zweite Auflage
seines ursprünglichen Textes hergestellt habe** und dass diese in
D* vorliege (S. 25). „Die Tatsache**, so erklärt er, „dass Lucas
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS.
193
bereits im Jahre 1697 gestorben ist, verbunden mit der Notiz der
Preface in D* über den „verstorbenen" Lucas als mutmasslichen
Verfasser der Vie" schliesst diese Annahme aus. Welch wunder-
licher Beweis! Lucas hat die Biographie zwischen 1678 und 1688,
oder nach Dun. schon im Oktober 1678 abgefasst, imd da hätte
er bis zum Jahre 1697 nicht Zeit gehabt, eine zweite Auflage
seiner Schrift zu veranstalten?
Sieht man nun, wie vieles in Dun.s eigenen Angaben und
Ausführungen irrig oder mangelhaft ist, so wird man seine Er-
klärung, es sei unbegreiflich, wie mehrere Fehler in mein Varianten-
verzeichnis geraten konnten (S. 4), selbst unbegreiflich finden. Ich
durfte mich bei der Herausgabe meiner „Lebensgeschichte Spinozas"
nicht, wie Dun. in seiner Abhandlung, auf die Besprechung einer
wenig umfangreichen Lebensbeschreibimg beschränken, sondern
musste Tausende von alten Briefen, Urkunden und verschieden-
artigsten Schriften durchlesen, die eine Bereicherung des bio-
graphischen Materials versprachen. Für meine Ausgabe des
Lucasschen Textes waren zahlreiche Handschriften und Drucke
zu vergleichen, deren Verhältnis zueinander vorher niemals
untersucht worden war. Ist es bei dieser Flut von Schriftstücken
und Lesarten wirklich imbegreiflich, dass an 14 Stellen, soviele
führt DuN. an, Varianten miteinander verwechselt oder über-
sehen wurden? Dun. selbst entschuldigt derartiges, wenn er zur
Rechtfertigung eigener Irrtümer an anderem Orte hervorhebt
(S. 27): „Hie und da stand ich meinen Kollationen skeptisch
gegenüber; jedermann, welcher ähnliche Arbeiten aus Erfahrung
kennt, weiss, wie leicht man sich eine Ungenauigkeit zu schulden
kommen lassen kann". In der Tat, jeder weiss das; nur Dun.
scheint es vergessen zu haben, als er über die Fehler in meinem
Variantenverzeichnis sein Urteil abgab. Jedermann, der sich
einmal mit Kritik von Texten befasst hat, weiss femer, dass
sich zahlreiche Fehler oft in die Variantenverzeichnisse auch
namhafter Philologen eingeschlichen haben. Immanuel Bekker ist
ein Meister philologischer Kritik. Mit ihm beginnt erst das gründ-
liche kritische Studium des Aristoteles und anderer Schriftsteller
des klassischen Altertums! Wie viele Ungenauigkeiten und Un-
richtigkeiten aber fallen nicht seinen Ausgaben zur Last! Im
Variantenverzeichnis zu den Kategorien des Aristoteles sind auf
15 Quartseiten 52 Lesarten der drei besten Handschriften von
ZeiUchrift f. PhJIos. u. philosopb. Kritik. Bd. ia6 I3
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194 / FREUDENTHAL,
Bekker Übersehen oder falsch angegeben worden (Waitz, Aristote-
Lis Organon I p. XV f.). Eine viel grössere Zahl irriger Angaben
hat Trendelenburg in der Ausgabe von Aristoteles' De anima
(^ p. XXX ff.) ihm nachgewiesen. Trendelenburgs sorgfältige
Vergleichung war aber noch nicht genau genug und ist von
BussEMAKER an vielen Stellen verbessert worden. (Aristoteles
ed. DiDOT III p. Vlüf.) Und endlich gab Pansch noch eine
Nachlese (Aristoteles* De anima ed. Trendelenburg' p. XIX).
Es ist wahr, man stellt heute strengere Anforderungen an die
Herausgeber klassischer Autoren, als zu Bekkers Zeit. Aber es
ist doch nicht zu vergessen, dass es sich bei der Ausgabe des
Lucas um einen durchaus nicht klassischen Biographen aus dem
Ende des siebzehnten Jahrhunderts handelte und dass Aristoteles
einschärft: T^r äxQißeiav /ni] ö/Liouog h änaotv ijuCfjTeiv,
Wenden wir uns nunmehr zur Beantwortung der zwei
wichtigsten hier in Betracht kommenden Fragen: Welcher Art
ist die handschriftliche Ueberlieferung, und wo finden wir den
echten Text der Lucasschen Biographie? Mir lagen ausser einer
Titelausgabe (Hm) und zwei neuen für kritische Zwecke un-
brauchbaren Editionen (Prat und Saisset) die zwei Originalaus-
gaben (H, N) und acht Handschriften vor. H, N müssen Hand-
schriften gleichgeachtet werden; denn ihre handschriftlichen Vor-
lagen sind verschollen. Sie sind, wie die grossen Verschieden-
heiten zwischen ihnen erweisen, völlig unabhängig voneinander
entstanden; die zahlreichen ihnen gemeinsamen Abweichungen
von den Kodizes sind daher als handschriftlich begründet und
nicht etwa als Korrektm-en der Herausgeber zu betrachten. Keine
von beiden Ausgaben ist als alleinige Grundlage des Textes zu
benutzen; denn H hat neben vielen vortrefflichen Lesarten auch
mehrere Interpolationen aufgenommen. N ist frei von diesen,
aber durch mannigfache andere Fehler verunstaltet. Meine
Rezension des Textes musste daher auf beiden Ausgaben fussen.
Eine Handschrift, die über H, N hinausführte, schien unter
den mir bekannt gewordenen nicht vorhanden zu sein. Eine An-
zahl von ihnen, nämlich G«, Hg, Hl, MW, „stammt aus H*
(Lg. S. 241). Dun. erkennt die Richtigkeit dieser Annahme in
den wesentlichen Punkten an (S. pfF. 21). Nur hält er es für
wahrscheinlich, dass G und Hl nicht unmittelbar von H, sondern
von einer Handschrift, die aus H stammt, abzuleiten sind und
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGEAPHIE SPINOZAS, 195
dass G* ausser H noch mehrere andere Textesrezensionen, unter
ihnen auch die 1731 gedruckte Kompilation Boulainvilliers', be-
nutzt hat. Ich bin auf den Unterschied von unmittelbarer oder
mittelbarer Abstammung aus H nicht eingegangen, weil das für
die Texteskritik vollkommen gleichgültig ist. Auch von cod. M
weist Dun. nach, dass er uns über H nicht hinausführt (S. 10 f.).
Y, insbesondere aber N, nahe verwandt sind die zwei
Dresdener Handschriften (D^). Dun. gibt das zu (S. 13), und es
ist daher nicht recht verständlich, wenn er ihrem Text doch
„die höchst einseitige Textrezension* der alten Ausgaben (H, N)
gegenüberstellt (das.). Man erwäge nur folgendes. Dun. gibt
zu den ersten drei Seiten meiner Ausgabe 34 Fälle an, in denen
die Handschriften der Z- Klasse von meinem auf Y begründeten
Text abweichen. In 27 von diesen 34 Fällen besteht völlige
Übereinstimmung zwischen D* und Y; in drei Fällen gehen D*
mit H gegen Z, in zwei mit N und Z und in zwei mit Z gegen
Y zusammen. Das letztere 3,18 und, was Dun. nicht angemerkt
hat, 3,1. Hierzu kommt noch die von Dun. nicht verzeichnete
Lesart 3,22, wo D* ebenfalls mit H gegen Z übereinstimmt.
Ähnlich ist das Verhältnis in den Varianten zum Rest der Bio-
graphie; nur dass D' hier N noch näher kommt Da kann denn
von einem Gegensatz zwischen D' und Y nicht gesprochen werden.
Bei der Geringfügigkeit und der eigentümlichen Beschaffen-
heit der Abweichungen dieser Handschriften von Y hatte ich an-
genommen, dass sie, wie G^, Hg, Hl, MW aus H, so aus N ab-
geleitet seien. Dun. hat es wahrscheinlich gemacht, dass dies ein Irr-
tum war (S. 13 ff.). Es ist vielmehr anzunehmen, dass sie aus
■einer N verwandten Handschrift abgeschrieben sind, in die auch
Lesarten aus Z und H aufgenommen waren. Ihr Text ist ein
eklektischer, und kaum je wird man ihn benutzen können, um
Fehler der alten Ausgaben zu verbessern.
Eine von Y ganz abweichende Textesgestalt liegt, wie Dun.
gezeigt hat, in Z vor. Ihm zufolge ist sie die ursprtlngliche und
muss mit fast gänzlichem Ausschluss von Y einer Ausgabe der
Schrift zugrunde gelegt werden. Die Gründe für die Bevor-
zugung dieser Handschriftenklasse hat Dun., nicht immer in un-
zweideutiger Weise, an verschiedenen Stellen seiner Abhandlung
dargelegt (S. 20, 22, 23). Einer dieser Gründe verdient nähere
Betrachtung. Lucas schreibt nach Y (24,2 f.): „Car quoiqu' il
13*
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196 / FREUDENTHAL,
n'ait pas 6te assez heureux pour voir la fin des derni^res Guerres,
ou Messieurs les Etats G^ndraux reprirent le Gouvernement de
leur Empire ä demi perdu** etc. Statt „reprirent" lesen A, A^ W
„reprennent*, und diese Lesart gibt nach Dun. „einen deutlichen
Fingerzeig für das Alter der in W (und A, A^) vorliegenden
Textrezension ** (S. 20). Denn das Präsens soll uns in den Stand
setzen, die Zeit des Abschlusses der Schrift zu bestimmen. Dun.
meint nämlich, dass Lucas, als er seine Biographie schrieb, nur
sagen konnte, die Generalstaaten „sind im Begriff, ihre Staaten
wieder zu gewinnen", nicht aber „sie haben sie wiedergewonnen".
Diese Lesart soll also beweisen, „dass die Schrift kurz nach dem
Friedensschluss von Nymwegen vom 10. August 1678 beendigt"
und „wahrscheinlich im Laufe des Oktobers" abgeschlossen wurde.
Denn Ludwig XIV. ratifizierte zwar, wie Dun. anführt, den Frieden
schon am 22. August. „Die Generalstaaten vereinbarten aber erst
einiges mit ihrem spanischen Bundesgenossen, der dann am
17. September mit Frankreich abschloss."
Seltsam. Lucas spricht von der Beendigung des Krieges und
soll doch nicht sagen dürfen: „sie hat den Generalstaaten die
verlorenen Provinzen wiedergebracht", sondern nur: „sie bringt
sie ihnen wieder". Wie konnte denn das Ergebnis noch im
Oktober 1678 als zweifelhaft angesehen werden, wenn der Friede
von beiden kri^führenden Mächten längst geschlossen und
ratifiziert war? Wollte Lucas trotzdem den Wiedergewinn der
verlorenen Provinzen noch im Oktober als einen nicht ganz siche-
ren bezeichnen, so war das doch deutlicher auszudrücken, als
durch das Präsens „reprennent", etwa durch ein „ils sont sur le
point de reprendre" oder eine ähnliche Wendung. Nicht
„reprennent" in Z, sondern „reprirent" in Y ist also das richtige
Wort. — Im übrigen würde eine einzige gute Lesart weder das
Alter noch den Wert der Handschriften, in denen sie sich findet,
erweisen; denn es gibt zahlreiche schlechte Handschriften, die
doch an Einer Stelle das Richtige enthalten. Man denke z. B. an
die Codd. Y und F (Bekker) zu Platons Phaedon 77 E und 115 B.
Auch das häufige Zusammengehen von Z mit der biogra-
phischen Schrift BouLAiNViLLiERs', auf das Dun. hinweist, ent-
scheidet nichts. Denn um hiermit die Trefflichkeit der Lesarten
in Z dartun zu können, müsste man zunächst beweisen, dass der
Text, der dem Wirrkopf B. vorlag, der bessere ist. Diesen Beweis
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS. 197
aber hat Dun. nicht geführt. Und nicht einmal die Entstehungs-
zeit der Kompilation B.s steht fest. — Von gleich geringem Ge-
wicht ist das Fehlen der Anmerkungen, der Prdface und des
Avertissement in A und A^ Denn es ist imgerechtfertigt, sämt-
liche Anmerkungen für späte Zusätze anzusehen. Es ist daher
eine petitio principii, aus ihrem Nichtvorhandensein in A und A^
auf die Ursprünglichkeit des Textes dieser Kodizes zu schliessen.
Und wenn die sicherlich nicht von Lucas geschriebene Preface
imd das Avertissement in A und A^ fehlen, so können die ver-
schiedensten Gründe das veranlasst haben. Werden dieselben
Stücke doch auch in den Ausgaben von Prat und Saisset ver-
misst, während sich die Pr6face in fast allen Handschriften und
auch in der Vorlage dieser Ausgaben, als solche oder unter dem
Namen eines Avertissement, vorfindet.
Von Dun. erwiesen aber ist, dass die Wiener Handschrift
der Lucasschen Biographie vor dem Drucke von Y geschrieben
ist; denn sie gehörte einst dem Baron Hohendorf, der im Mai
17 19 gestorben ist (Dun. S. 20). Da man nun nicht annehmen
kann, dass eine Abschrift einer Ausgabe von 17 19 noch vor dem
Tode Hohendorfs angefertigt sei, und da der Text von A und A^
dem von W sehr nahe kommt, so ist anzunehmen, dass Z nicht
aus Y abzuleiten ist und dass die in Z vorliegende Rezension
älter ist als Y^). Nicht erwiesen aber ist, dass Z älter ist als die
Vorlagen von Y, und offen bleibt die Frage nach dem inneren
Wert von Z. Denn dieser hängt durchaus nicht immer vom
Alter ab. Das bezeugt Dun. selbst. Denn er hält A^ neben A
für die beste der von unserer Biographie erhaltenen Handschriften,
obgleich sie seiner Ansicht nach erst um die Mitte des 18. Jahr-
hunderts geschrieben ist (S. 23), während die Vorlagen der
i. J. 1719 herausgegebenen Drucke um mindestens 30 Jahre älter
sind. Der Cod. A*» zur Metaphysik des Aristoteles femer ist
um etwa 200 Jahre jünger als E (Bekker), aber diesem und allen
^) Die Bemerkungen in A: ^^Le manuscript est sürement curieaz'' etc.
und in AM „composö sur Toriginal de l'autheur* etc. (Dun. S. 2a f.) hat Dun.
wohl selbst nicht als Beweise für die Trefflichkeit dieser Handschriften an-
gesehen. Die erstere Bemerkung Iflsst vermuten, dass A einst der Bibliothek
BouLAiNvnLLXERs' angehörte, nicht aber, dass das Manuskript vor 17 19 von ihm
erworben ist. Die zweite Bemerkung, der zufolge A^ nach dem Original an-
gefertigt sein soll, ist wohl bloss Abschrift einer in der Vorlage befindlichen
Notiz. Darum Dun.s oben erwähnte Zeitbestimmung fOr diese Handschrift.
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198 / FREUDENTHAL,
übrigen Handschriften zur Metaphysik vorzuziehen. Und Usener^
dessen Bedeutung als Philologe und Kritiker ich nicht zu rühmen
brauche, hat aus guten Gründen den cod. Bodleianus zu Platons
Phaedon dem in Faijum gefundnen Papyrus vorgezogen, obgleich
dieser um etwa 12 Jahrhunderte älter ist als die Oxforder Hand-
schrift i). Volle Beachtung verdienen auch die Gründe, mit denen
Lorenz in der Vorrede zu den „Deutschen Geschichtsquellen im
Mittelalter" (Bd. II, Aufl. 3) das Vorurteil, die älteren Quellen der
Überlieferung seien immer die besseren, bekämpft hat.
Nicht das Alter entscheidet also über den wahren Wert
einer Handschrift, zumal da nicht, wo, wie hier, nur wenige Jahre
zwischen der Entstehung der in Betracht kommenden Hand-
schriftenklassen liegen. Denn Lucas' Schrift ist erst zwischen
1678 und 1688 entstanden; der Archetypus von Z ist wahrschein-
lich viel später geschrieben, und aus dem Jahr 1719 stammt Y.
Andere Gründe werden zu beachten sein, wenn man Wert
oder Unwert der handschriftlichen Überlieferung bestimmen will.
Wir werden fragen müssen, in welcher Handschrift oder Hand-
schriftenklasse finden wir den reineren Text? Wo eine grössere
Zahl von Lesarten, die mit Wahrscheinlichkeit dem Verfasser der
Schrift zugeschrieben werden können? Wo dagegen mehr durch
willkürliche Änderungen oder Nachlässigkeit der Abschreiber
entstellte Lesarten? Je nachdem jenes oder dieses zutrifft, werden
wir zu Gunsten oder zu Ungunsten einer vorliegenden Textes-
rezension entscheiden.
Dun. freilich urteilt anders. Er leugnet nicht, dass Z zahl-
reiche Fehler aufweist, warnt uns aber davor, „die besseren Les-
arten für die ursprünglicheren zu halten"; gerade in ihnen, so
sagt er, „zeigt sich die Hand des Überarbeiters" (S. 25 f.). „Wenn
A, AS W und D* übereinstimmen", so fährt er fort, „ist an der
Echtheit einer Lesart auch dann nicht zu zweifeln, wenn sie sicher
fehlerhaft ist; der Fehler fällt dann eben aufs Original zu-
rück". Aber auch Fehler, die nicht in allen Handschriften von
Z sich finden, werden dem Verfasser zur Last gelegt, müssen
daher nach Dun. ebenfalls dem Texte eingefügt werden. Viele
^) GoMPERZ hat bekanntlich Useners Ansicht bekämpft. Diesem aber
haben zahh-eiche kundige Gelehrte zugestimmt (s. Immisch in Berlin. Philol.
Wochenschr. 1892 No. 49).
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ÜBER DEN TEXT DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS.
199
von den zwar schlechten, aber nach Dun. ursprünglichen Les-
arten, die Z aufweist, finden sich nun auch in den zwei Dres-
dener Handschriften nicht vor. Sie sind ihm zufolge „allem An-
schein nach durch einen Interessenten, vielleicht einen Freund
des Verfassers" verbessert worden, und es ist diese Überarbeitung,
die der Text von D» darbietet. Aus der Textesrezension, welche
D^ zugrunde liegt, soll dann eine nochmals überarbeitete Abschrift
hervorgegangen sein, von welcher H und N abstammen (S. 25).
Dun. gibt sogar für einen Augenblick der Vermutung Raum, dass
die in D^ vorliegenden zahlreichen Verbesserungen des in Z
fehlerhaft enthaltenen Textes von Lucas selbst in einer zweiten
Auflage der Schrift vorgenommen seien (das.). Damit aber wäre
Dun.s Ansicht von dem Vorzuge der Handschriftenklasse Z nicht
vereinbar. Denn in diesem Falle wäre auch der Text von Y,
dessen ganz überwiegende Masse mit dem von D^ identisch ist,
als der von Lucas' eigener Hand verbesserte anerkannt, und Y,
nicht Z, müsste wieder Grundlage des Textes werden. So lässt
denn Dun. diese Vermutung schleunigst wieder fallen, doch aus
einem Grunde, den, wie oben (S. 192 f.) erwähnt ist, niemand für
einen triftigen halten wird. In Bezug aber auf W, eine zu Z
gehörige Handschrift, ist Dun. weniger bedenklich. Einige wahr-
scheinlich von junger Hand herrührende Anmerkungen lässt er
vom „ersten Verfasser** einer Abschrift des Originals hinzugefügt
und von dieser aus in W eingedrungen sein (S. 24). Damit wäre
er denn glücklich bei einer drei- oder vierfachen Bearbeitimg der
Lucasschen Schrift angelangt. Zuerst hat nach Dun. Lucas einen
äusserst fehlerhaften Text hergestellt (in A^ vorhanden). Dann
hat „der erste Verfasser** in einer zweiten Auflage einige An-
merkungen hinzugefügt, die in W vorliegen. Später hat „ein
Interessent** fehlerhafte Lesarten verbessert (in D^). Diese Rezen-
sion ist abermals in einer Überarbeitung verbessert worden, und
aus ihr sind endlich H imd N hervorgegangen.
Das ist eine sehr verwickelte Geschichte der Überlieferung.
Sie ist um so unglaublicher, je reicher die Handschriften an
Fehlem, willkürlichen Änderungen und Interpolationen sind. „Die
Abschreiber**, so sagt Dun. selbst, „verfuhren recht unsanft mit
dem Lucasschen Text**. Sie haben dem Werke „übel mitgespielt**
(S. 8). Wie viel näher liegt es da, die Fehler des Textes nicht
im Original der Schrift, sondern in schlechten Abschriften zu
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200 / FREUDENTHAL.
suchen, sie nicht dem Verfasser aufzubürden, sondern leicht-
fertigen Kopisten zuzuschreiben!
Sollen wir jedoch die an sich unwahrscheinlichen Annahmen
DuN.s gelten lassen, so müssten wir Eines von Dun. verlangen,
den Nachweis, dass der Verfasser der Biographie seiner ganzen
Eigenart nach schlimme sprachliche, geschichtliche und logische
Verstösse, wie sie in Z vorliegen, wirklich auch begangen haben
konnte. Diesen Nachweis aber hat Dun. nicht geliefert und konnte
ihn nicht hefem, weil schon an dem Versuch seine Hypothese
gescheitert wäre. Damit wären wir eigentlich der Mühe einer
besonderen Widerlegung Dun.s überhoben. Doch sei, um nichts
zu versäumen, was zur Klärung der Streitfrage dienen kann,
auf eine grosse Zahl von Lesarten hingewiesen, bei denen der
Vorzug der alten Ausgaben (Y) vor Z und damit die Grund-
losigkeit der DuN.schen Auffassung klar hervortritt.
Stellen wir zunächst fest, was über den Schriftsteller Lucas
zu ermitteln ist. Wir kennen ihn aus den Teilen der Biographie,
in denen Y und Z übereinstimmen, den Quintessences und den
Stücken des Esprit de Spinoza, die man auf ihn zurückführen
darf. Danach werden wir ihn nicht für das Muster eines Bio-
graphen erklären. Er liebt Übertreibungen, stattet Erzählungen und
die in seine Berichte eingeschobenen Reden oft mit frei erdichteten
Zügen aus und kennt in Liebe und Hass kein Mass. Er besitzt
einen scharfen nüchternen Verstand, aber auch ein leidenschaft-
liches Temperament, das sich in überschwänglichen Lobes-
erhebungen Spinozas und in heftigen, bisweilen boshaften Aus-
fällen auf dessen Gegner Luft macht. Sein Pamphlet auf Lud-
wig XIV. ist eine der beissendsten Satiren, die jemals gegen den
„Verderber des Reiches" gerichtet worden sind. — Lucas ist ein
Freidenker, der jede Gelegenheit benutzt, um die Priester der
verschiedensten Bekenntnisse zu schmähen. Sinn und Verständnis
für Religion scheint ihm völlig zu mangeln. — Er besitzt nicht
unbedeutende Kenntnisse in der Philosophie, in theologischen und
profanen Schriften, und über die Schicksale Spinozas ist er besser
unterrichtet, als die meisten alten Biographen des Philosophen.
Er allein teilt uns Züge aus dessen Leben mit, die den vollen
Eindruck der Wahrheit machen. Und er vermeidet manche
Irrtümer, die wir in den übrigen Quellenschriften, auch bei
CoLERUS, antreffen (s. Meinsma p. XVI f. und mein Leben Spinozas
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Ober den text der luc asschen Biographie spinozas, 201
I S. 319). — Die uns vorliegende Schrift ist sorgfältig gearbeitet,
der Stil bis auf einige Verstösse gewandt und korrekt, die
Sprache die des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Sie weist einen
Reichtum von sinnverwandten Worten und Wendungen auf. Auch
Bilder, Antithesen und sonstiger Redeschmuck wird nicht ver-
schmäht. Nicht selten artet aber das Streben nach erlesener
und zierlicher Redeweise in hohlen Schwulst aus.^)
Und nun sehe man, wie sich zu diesem Bilde die Züge des
Biographen verhalten, die sich aus den Änderungen DuN.s er-
geben. 7,35 (ich zitiere nach Lg.) lesen wir in Y: „et leur fit crier
Anathfeme", „Die Aussage der falschen Freunde liess die Richter
Spinozas das Anathema über ihn rufen". Z hat „lui** statt „leur",
und Dun. will den unhaltbaren Singular in den Text stellen, weil
Z und, wie er anzumerken vergessen hat, auch D» so schreibt.
Es ist aber keine einzelne Person vorher genannt, auf die sich
das Wort beziehen könnte. Wie Dun. trotzdem den Fehler Lucas
aufbürden konnte, ist unklar.
23,30 f. finden wir in H die völlig einwandfreien Worte: „La
sobri6t6, la patience et la v6racit6 n'6toient que ses moindres
Vertus". In N fehlen die Worte „et la v6racit6"; Z und D^ lesen
„vivacite" für „v6racit6". Ein offenbares Verderbnis. Denn nicht
Lebhaftigkeit rühmt Lucas an Spinoza, sondern „Seelenruhe", die
er allen denkbaren Dingen vorgezogen habe (20, 36), und „Wahr-
haftigkeit", die seine herrschende Leidenschaft gewesen sei (5,2).
Auch ist „Lebhaftigkeit" doch nicht ohne weiteres als „Tugend"
zu bezeichnen. Dun. selbst leugnet nicht, dass „vivacit6" hier
irrig ist. Aber anstatt eine Verschreibung im Archetypus von Z
anzunehmen, erklärt er, dieser Fehler scheine „schon im Original
gestanden zu haben" (zu 23, 30). Lucas müsste also entweder
absichtlich Falsches geschrieben oder aus Fahrlässigkeit einen
unabsichtlich begangenen Irrtum beibehalten haben. Beides ist
unglaublich. Und wer möchte auch den Schreiber der Vorlage
von H oder einen Bearbeiter des Textes für einen so gewiegten
Kritiker halten, dass er mit Änderung von nur zwei Buchstaben
das ungehörige „vivacit6" in das sinngemässe „v6racite" ver-
wandeln konnte? Nein, auch die Übereinstimmung von Z mit D*
') Für die rechte Schätzung des sprachlichen Charakters der Biographie
ist mir das Urteil meiner Kollegen, der Herren Prof. Appel und Dr. Pillet,
sehr förderlich gewesen.
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202 y. FREUDENTHAL,
kann hier so wenig, wie 7,35 und an anderen Stellen, offenbare
Schreibfehler in ursprüngliche Lesarten verwandeln.
Welche künstlichen Deutungen Dun. anwendet, um seine
Hypothese aufrecht erhalten zu können, zeigen seine Äusserungen
zu 16,5 f. Der Text lautet in Y und D*: „Et c'est sur quoi etoit
fonde le meilleur de sa subsistance, n'ayant h6rite de son P6re
que quelques Affaires embrouill6es. Ou plutöt ceux des Juifs,
avec lesquels ce bon homme avoit fait Commerce, jugeant que
son Fils n'etoit pas d'humeur de d6mder leurs fourbes, Tembar-
rassdrent de teile mani6re, qu'il aima mieux leur abandonner tout,
que de sacrifier son repos ä une esp6rance incertaine". Hier ist
alles klar. Die Juden, sagt Lucas, mit denen der Vater Spinozas
in geschäftlichem Verkehr gestanden hatte, glaubten, dass der
Sohn nicht hinter ihre Schliche kommen werde, und brachten ihn
in solche Verlegenheiten, dass er ihnen lieber alles überliess, als
seine Ruhe zu opfern. In Z aber wird (Z. 7) „celles** statt „ceux** ge-
schrieben und die Verbindung der Sätze geändert. Ein einfacher
Schreibfehler in Z, wird man sagen, der durch Änderung der
Interpunktion verschlimmert wurde. Dun. aber nimmt zuerst an,
man könne auch mit „Celles** „einen erträglichen Sinn heraus-
bringen** (S. 25), was immöglich ist, da „jugeant** dem Sinne nach
sich nur auf die Juden, nicht aber auf den Vater Spinozas be-
ziehen kann. Darum gibt auch Dun. diese Vermutung auf und
erkennt zwar den Fehler an, sucht ihn aber wieder dem „ur-
sprünglichen Verfasser**, wie er sagt, zur Schuld zu geben (das.).
Lucas, das hält er für wahrscheinlich, habe „ceux** schreiben
wollen, aber entweder das Wort einem „celle** ähnlich gebildet,
oder sich verschrieben, d.h. wirklich „celle** für „ceux** geschrieben,
und aus „celle** habe man „später ein celles gemacht**. Dun.s
Schwanken zwischen diesen verschiedenen Vermutungen, die sämt-
lich in der Luft schweben, und die Unwahrscheinlichkeit, dass ein
Abschreiber durch einfache Änderung des „Celles** in „ceux** den
Fehler beseitigt und die einzig richtige Lesart hergestellt habe,
beweisen, dass wir auch hier das Falsche nicht im Original der
Schrift, sondern in Z zu suchen haben.
7,33 fügen Z, N „par ces libertins** zu , Joint** hinzu. Ebenso
liest D*, was Dun. wiederum nicht erwähnt hat. Aber die An-
kläger konnten von Lucas nicht als „ces libertins** bezeichnet
werden; denn sie treten ja als fromme Männer im Namen der von
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ÜBER DEN TEXl DER LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS,
205
Spinoza geschmähten Reh'gion auf. Der „libertin" Lucas konnte
den frömmelnden Anklägern am wenigsten diesen Namen geben*
B ändert daher „libertins" in „ddateurs"; das richtige aber hat H.
6,27 lesen Z, N, D* „sensiblement" statt „sürement" in H, B,
und Dun. hält die erstere Lesart für die ursprüngliche. Mit Un-
recht Denn es war keine „empfindlichere" Strafe, bei der grossen
Menge in schlechten Ruf gebracht, als exkommuniziert zu werden.
Wohl aber konnten die falschen Freunde „sicherer" auf eine Ver-
urteilung Spinozas rechnen, wenn er schon vor erfolgter Anklage
allgemein als Ketzer und Gesetzesverächter galt. Lucas hätte
also eine Albernheit, die man ihm nicht zutrauen darf, begangen,
wenn er geschrieben hätte, „um sich empfindlicher an Spinoza
zu rächen, verdächtigten sie ihn zuerst beim Volke".
7,38 heisst es in Y, dass die Richter Spinoza einzuschüchtern
suchten („et tächent d'intimider"), in Z, dass sie ihn wirklich ein-
schüchterten. Aber die folgenden Worte zeigen, dass er nichts
weniger als eingeschüchtert war. In Y finden wir also die richtige
Lesart. Der Widerspruch, der in Lucas' Worten nach Z liegt,
ist ihm nicht zur Last zu legen.
11,17: „Ceux-cy ayant examin6 Taffaire s'y trouv6rent em-
barrassez". So Y. Z hat unverständiger Weise „les ayant
examinez" geschrieben, und Dun. billigt das. Aber „les" in Z
kann sich nur auf das voraufgehende „plaintes" beziehen, und
dann fehlt den folgenden Worten „ils n'y remarquoient rien d'impie"
die rechte Beziehung; denn in den Beschwerden des Rabbiners
kann doch nichts Gottloses gefunden werden. Wer möchte die
des rechten Sinnes entbehrenden Worte im Original der Lucasschen
Schrift und nicht vielmehr in den schlechten Abschriften suchen?
23,8 f. habe ich mit H geschrieben: „sa grande application
aidoit encore ä l'affoiblir, et comme il n'y a rien qui desseiche
tant que les veilles, ses incommoditez 6toient devenues presque
continuelles". Für „ses incommoditez" lesen Z, N, D' „les siennes",
was unhaltbar ist. Dun. aber müsste den Fehler Lucas zuschreiben,
weil Z und D* übereinstimmen. Doch scheint er hier unsicher
geworden zu sein, da er der falschen Lesart das gewöhnliche
„lies" nicht beigefügt hat. Damit aber hat er den Gnmdsatz
aufgegeben, von dem er bei seinen Textesänderungen ausgegangen
ist, dass selbst fehlerhafte Lesarten zu billigen sind, wenn Z mit
D« übereinstimmt (S. 26).
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204 / FREUDENTHAL,
5,17 f. heisst es in Y und D*: „qu' ils les suivissent sans scru-
pule, s'ils etoient vrais Isra6lites". Z ändert „vrais" in „v6ritable-
ment" und verkehrt damit den Gedanken. Denn dass die Freunde
Spinozas „wirklich** Israeliten waren, konnte nicht bezweifelt und
nicht bedingungsweise ausgesprochen werden, wohl aber, dass sie
„wahre" Israeliten waren.
Nach 20,22 f. lässt eine Betrügerin durch einen unterhalb eines
Tisches angebrachten Spalt einige Geldstücke in einer Schublade
versehenden. Nach Z, B ist der Spalt wundersamer Weise
oberhalb des Tisches. Auch hier billigt Dun. die unhaltbare
Lesart nicht, erklärt sie aber auch nicht offen für falsch.
Grössere Verderbnisse weist Z an anderen Stellen auf.
10,30 liest Y: „Je parle des Juifs en g6neral; car quoique ceux
qui vivent de l'Autel ne pardonnent jamais, cependant je n'oserois
dire que Morteira et ses Coll6gues fussent les seuls accusateurs
en cette occasion". Zund D* aber schreiben: „. ..en general; car
je n'oserois dire que Morte(i)ra et ses collegues (tant il est vrai
de dire que ceux qui vivent de Tautel ne pardonnent jamais)
estoient ses plus grands ennemis". Nach Y sagt Lucas: „Ich
spreche von den Juden im allgemeinen; denn obgleich die Diener
des Altars niemals verzeihen, würde ich doch nicht wagen zu
behaupten, dass Morteira und seine Kollegen die einzigen An-
kläger Spinozas gewesen seien". Das ist wohl verständlich. Nach
Z und D* aber wird das in die widersinnige Erklärung umge-
wandelt: „Ich spreche von den Juden im allgemeinen; denn ich
würde nicht wagen zu behaupten, dass Morteira und seine
Kollegen Spinozas grösste Feinde gewesen seien; so wahr ist es
zu sagen, dass die Diener des Altars niemals verzeihen". Dun.
gibt, hier treu seinem Prinzip, dass bei der Übereinstimmung
von Z und D* auch Fehler in den Text aufgenommen werden
müssen, das Richtige auf und empfiehlt die unverständliche Ände-
rung in Z.
23i3i f- schreibt H: „II a eu le bonheur, de mourir au plus
haut point de la Gloire". .Dafür schreiben Z, N: „et il se peut
dire heureux d'etre mort au plus haut point de sa gloire". Auch
die für Dun. entscheidenden Kodizes D» lesen so, was Dun. aber-
mals zu bemerken versäumt hat. Mit diesen Worten aber wird
dem scharf denkenden Lucas die Albernheit zugetraut, gesagt
zu haben: „Spinoza kann sich glücklich nennen, auf dem Gipfel
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ÜBER DEN TEXT DER LUCAS SCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS.
205
des Ruhmes gestorben zu sein". Wer spricht denn von sich selbst
nach dem Tode?
Bisher sind in Z allerlei Nachlässigkeiten der Kopisten, Ver-
schreibungen, leichtfertige Änderungen imd logische Fehler nach-
gewiesen worden. Aber auch sachliche und geschichtliche Irr-
tümer, die wir Lucas nicht zur Last legen dürfen, fehlen diesen
Handschriften nicht.
7,2 lesen wir in Y: „ils firent leur rapport aux Sages de la
Synagogue*. Für „Sages** schreiben Z, B „juges**. Jenes ist das
richtige. Denn „Chachamim", oder in treuer Übersetzung „Sages*,
hiessen die geistlichen Führer der jüdisch -portugiesischen Ge-
meinden. „Richter** Spinozas wurden sie erst, nachdem die An-
gelegenheit bei ihnen anhängig gemacht worden war und sie sich
als Gerichtshof konstituiert hatten. Es ist wahrscheinlich, dass Lucas,
der Schüler Spinozas, das wusste. Der Schreiber des Archet3rpus
von Z wusste es nicht und änderte den Text, vielleicht nach 7,9. 36.
9,27 wird die hebräische Bezeichnung für Bann von Y richtig
„Herem" genannt, welches Wort Lucas wohl des öfteren aus
Spinozas Munde gehört hatte. Die Schreiber von Z aber änderten
es in das falsche „Herim** oder „Herin**, und so liest auch D*,
was von Dun. wiederum nicht angemerkt ist.
23,16. Nach Y ist Spinoza am 21. Februar 1677 gestorben,
nach Z am 22. d. M. Das erstere Datum ist das richtige, wie
urkundlich bezeugt ist (Lg. 156,5; 158,20). Sollen wir glauben,
dass nicht ein unzuverlässiger Schreiber, sondern dass Lucas selbst
den wahren Todestag seines über alles verehrten Lehrers nicht
gekannt oder vergessen habe? Dun. nimmt das an; denn er will
die Lesart von Z in den Text stellen.
Ein ähnlicher Irrtum findet sich 13,3, wo Z, N, D*, B die
Veröffentlichung von Spinozas Princip. Philos. in das Jahr 1664
setzen, während H das richtige Jahr 1663 aufweist. Auch dieser
Fehler ist schwerlich von Lucas begangen worden.
Nach 15,19 f. hat de Witt Y und D^ zufolge seinem Schütz-
ling Spinoza eine jährliche Pension von 200 Gulden ausgesetzt,
Z zufolge aber von 200 francs. Es versteht sich, dass der Ratspensionär
von Holland nach holländischem und nicht nach französischem
Gelde rechnete, und dass Lucas, der lange Zeit im Haag gelebt
hat, das wusste. Denselben Fehler, den sich wohl ein französischer
Kopist hat zu schulden kommen lassen, finden wir in Z auch 17,24.
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^ao6 y. FREUDENTHAL.
Noch an einigen anderen Beispielen sei gezeigt, wie manche
anstössige Lesart sich in Z findet, die eher auf einen nachlässigen
Abschreiber als auf den Verfasser der Biographie zurückzuführen ist.
Nach 8,i6 hatte Morteira mit der Exkommunikation ge-
droht, wenn Spinoza nicht bereuen werde. Nur diese Drohung
Hegt vor. Darum ist 8,19 „de la menace**, wie H schreibt, imd
nicht „de ses menaces", wie Z, N lesen, das Richtige. Dun. aber
billigt wiederum die schlechte Lesart. Das muss er tun, nicht
weil der Sinn es fordert, sondern weil D* hier mit Z zusammen
geht. Doch erwähnt er auch hier D' nicht.
11,22 liegt eine ähnliche Verderbung des Textes in A*, B
vor. Sie schreiben „leurs semblables** statt „leur semblable*, was
die alten Ausgaben imd viele Handschriften darbieten. Da Mor-
teira allein Spinoza bei den Behörden verklagt hat, ist es schwer
verständlich, weshalb Dun. gegen die Autorität von A, D', W und
Y, also der meisten und besten Zeugen, den Plural für ursprüng-
lich ansieht.
5,12 spricht Z von „dem Zweifel* der falschen Freunde (leur
doute). Sie haben aber, wie sich aus 5,18 flF. ergibt, gar viele
Zweifel. Denkt Lucas logisch, so hat er „leurs doutes" geschrieben,
wie es in Y heisst.
6,29 statt „püt devenir" in Y schreiben A, AS B „düt d.*.
Aber niemand nahm an, dass Spinoza eine Säule der S3magoge
werden müsse, sondern man glaubte, dass er es werden könne.
24,11 ist wegen des Gegensatzes zum folgenden „mort** das
Wort „vie* in Y, nicht „venu** in Z, wahrscheinlich von Lucas
geschrieben worden. Auch Dun. scheint die Lesart in Y zu billigen;
denn es fehlt z. St. das gewöhnliche „lies".
Sehr zahlreich sind Lesarten in Z, die sich dui*ch Beachtung
.des Stiles unserer Schrift als Entstellungen des Textes erweisen.
Wie erwähnt, liebt es Lucas, die verschiedenen Seiten eines
-Gegenstandes durch sinnverwandte Ausdrücke zu beleuchten.
Man vergleiche — um nur Beispiele aus den drei ersten Seiten
der Biographie zu nennen — 3,8. 10. 11 f.; 4,18 f. 22 f. 30 f.;
5, 19 f. 24. 30. 32. 34 usw. Wo daher derartige parallele
Wendungen in Z gestrichen sind, die sich in Y oder in H finden,
spricht die Analere für die Überlieferung der letzteren. So werden
wir denn lesen: 3,18 „et tranquille"; 5,7 „et les plus empressez";
7,15 „du plus noire et"; 7,38 „menacent"; 10,27 v^^ confus**;
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ÜBER DEN TEXT DES LUCASSCHEN BIOGRAPHIE SPINOZAS.
207
10,36 „ni souffrir"; 11,34 „et des plus incommodes**. Bei keiner
dieser Varianten hat denn auch Dun. seine Zustimmung zu den
Lesarten von Z ausgesprochen, selbst da nicht, wo, wie 3,18, D»
sich Z angeschlossen hat.
Das Streben zu kürzen, das in diesen Stellen hervortritt, hat
noch in vielen anderen Fällen dazu geführt, dass Worte oder
einzelne Sätze in Z gestrichen wurden, die zum Teil geradezu
unentbehrlich, zum Teil wenigstens wertvoll für das Verständnis
der Schrift sind. 3,27 fehlt in Z „de religion". Dun. gesteht,
dass H und D* hier das richtige darbieten (S. 18). — 5,27 wird König
David in Y und D' „le Roy-Proph6te" genannt. In Z heisst er
bloss „le Proph^te". So aber kann ihn nur ein unwissender
Schreiber, nicht der in theologischen Schriften bewanderte Lucas
nennen. — Ebenso fehlen in Z 22,26. 35 und 24,22 Worte,
die der Zusammenhang notwendig macht und die der wortreiche
Lucas sicherlich nicht gespart hätte. Das scheint auch Dun. an-
zunehmen, da er keiner dieser Lesarten von Z ausdrücklich zu-
stimmt Andere Lücken finden sich in Z 5,4. 14 (bis); 6,18. 29.
33 (bis). 34; 7f22. 34; 8,26; 9,29; 11,21; 12,7; 13,8; 17,19; 20,14.
— Eine grössere Lücke erscheint in Z imd D* 15,14 — 17. Die
von Y mitgeteilte Nachricht stimmt dagegen so genau zu dem,
was wir über Spinozas Verhältnis zu de Witt wissen, und die
Übertreibungen, die hierbei mit unterlaufen, entsprechen so »ehr
dem Charakter des Biographen, dass an der Echtheit dieses
Stückes kaum zu zweifeln ist.
Noch eine von Z besonders häufig angewendete Form der
Kürzung ist zu erwähnen: die Streichung von Hilfszeitwörtern und
die Bildung von Partizipial- und Infinitivsätzen statt der Verba
finita. 4,28 f. fehlt i^voulüt^' in Z; A und A^ streichen 4,29 auch
den Infinitiv „meurir^' was unmöglich richtig sein kann. Dun.
aber sucht (S. 23) die Lücke doch im Original, während er an
anderer Stelle (S. 27) „laissa meurir'^ für die ursprüngliche Les-
art ansieht. — 4,35 wird in Z das Imperfekt statt des Plusquam-
perfekt in Y geschrieben. Das letzte ist das Richtige, da die be-
zeichnete Tatsache einer anderen früheren voraufgegangen ist.
Ähnlich 7,13. — 6,25 wird in Z aus dem verb. fin. ein Partizipial-
satz, und 6,33 wird die Hauptsache von Z in einem Partizipialsatz
untergebracht. — 7,5 steht in Z eine schwerfällige Partizipial-
konstruktion statt des Verb. fin. in Y. — Dasselbe ist 7,20 der
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2o8 y. FREUDENTHAL.
Fall. — 7,30 fehlt „pouvoit** in Z, ebenso 8,13. — 13,8 ist die
Lesart in Y um vieles deutlicher, als der Partizipialsatz in Z. —
13,22 hat Z abermals die Hauptsache in einen Infinitiv geschoben,
die in Y richtig im Hauptsatz steht.
Alle die hier angeführten Tatsachen und viele ähnliche, die
sich ihnen anreihen Hessen, zeigen, dass der Text unserer Schrift
im Archetypus von Z durch absichtliche und unabsichtliche Ände-
rungen aufs gründlichste entstellt war, während die Quelle von
Y von diesen Fehlem frei geblieben ist. Nun kennen wir aller-
dings manche Handschriften, die neben vielen Verschreibungen
und anderen Verderbnissen doch gute ursprüngliche Lesarten in
so grosser Zahl aufweisen, dass sie zu den wichtigsten Zeugen
der Überlieferung gerechnet werden müssen. Könnte gleiches
von A, A*, W nachgewiesen werden, so würde unser Urteil über
diese Handschriften ein viel günstigeres sein, als es nach den bis-
herigen Erörtenmgen lauten muss. Das aber ist nicht der Fall.
Dun. hat zwar behauptet (S. 13), dass „eine sehr grosse Zahl der
Lesarten, in denen W — und daher auch A, A^ — von den
Drucken abweicht, sich auf den ersten Blick als die ursprüng-
licheren ergaben**. Aber diese Behauptung ist von ihm durch nichts
erwiesen worden. Von einer einzigen Lesart in Z hat er es dar-
zutun versucht; aber dieser Versuch ist völlig missglückt (s. oben
S. 195 f.). Jede sorgfältige und imbefangene Untersuchung wird
im Gegenteil ergeben, dass wir nirgends um einer Lesart von Z
willen Y aufzugeben genötigt sind. Wir werden uns darum auch
da von Y und nicht von Z leiten lassen, wo entscheidende Gründe
für die hier oder dort vorliegende Textesgestaltung nicht aufzu-
finden sind. Wir folgen eben in diesem Falle, wie es sich ge-
bührt, der besseren Überlieferung. Damit aber fällt der Rest der
von Dun. mit so grosser Bestimmtheit empfohlenen Lesarten von
Z, und der Text, wie ich ihn in meiner Lebensgeschichte Spinozas
festzustellen versucht habe, wird als der echte anerkannt werden
müssen.
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GUIDO VILLA: EINLEITUNG IN DIE PSYCHOLOGIE USW.
209
Rezensionen.
Guido Villa: Einleitung in die Psychologie der Gegenwart.
Übersetzt von Chr. Pflaum. 471 S. Leipzig 1902. Teubner. 10 Mk.
Der Autor will eine historisch -kritische Einleitung in die Psycho-
logie der Gegenwart geben. Er stellt die Entwicklung der Psycho-
logie dar, von Descartes beginnend. Die gegenwärtige Psychologie
Usst er vor allem aus den Bestrebungen von Spencer, Bain, Lotze,
Weber, Fechner und Wundt hervorgehen.
Eine eingehende Untersuchung wird der Entwicklung der Me-
thoden zuteil. Als solche unterscheidet er die Methode der Selbst-
beobachtung, die experimentelle Methode und die genetischen Methoden
der Psychologie, welche letztere in der Psychologie der Kindheit, der
Völkerpsychologie und der Psychologie der Tiere zur Darstellung
kommt. Als Kontrolle für die genetischen Methoden, welche die
fortschreitende Evolution studieren, gilt ihm die pathologische
Psychologie.
Die Methode der reinen Selbstbeobachtung bezeichnet der Autor
als Abkömmling metaphysischer, spiritualistiscber Systeme. Den
wahren Grund des Zutrauens zu dieser Methode führt er merkwür-
digerweise zurück auf die „auch heute noch nicht ganz verschwundene
Ansicht, dass die Psychologie ein Teil der metaphysischen Philosophie
sei und dass man sie deshalb nicht zu Forschungsmethoden bringen
könne, welche jenen der exakten Wissenschaften nahe kommen". Die
ganze Psychologie des innern Sinnes war „literarischer Dilettantis-
mus". — Wie sich der Autor mit der Wertschätzung der Methode
der innern Beobachtung und ihrer Handhabung durch Philosophen
wie HuME und John Stuart Mill abfinden will, ist nicht einzusehen.
Später macht Villa an die Methode der Selbstbeobachtung die
Konzession, dass sie angewandt werden darf, wenn man sich für die
Auffassung der elementaren psychischen Funktionen auf die Ergeb-
nisse der experimentellen Methode stützt.
Bei Behandlung der pathologischen Methode scheint der Autor
vor allem die Entwicklungen französischer Autoren im Auge zu haben,
welche in diesem Gebiete häufig wenig zwingende Schlussfolgerungen
machen ; sonst würde er den Wert der pathologischen Fälle gerade
für die Analyse und Feststellung der Abhängigkeitsbeziehungen der
höheren psychischen Funktionen erkannt haben.
Bei Besprechung der experimentellen Methode hätten die Be-
dingungen genauer behandelt werden sollen, unter welche bei der-
selben die innere Wahrnehmung gestellt ist.
Die Entwicklungen des Autors lesen sich leicht und machen den
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. ia6 I4
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2IO REZENSIONEN.
Anfänger in Hauptfragen der Psychologie mit einem ziemlich grossen
Material von Tatsachen und Theorien bekannt.
Zürich. Störring:.
Prof. D. Dr.G.RuNZE: Katechismus der Religionsphiiosophie. Leipzig,
J. J. Weber. 1901. 324 S. 4 Mk.
Wenn sich in neuerer Zeit das religiöse Interesse wieder heben
soll, so ist eine populärwissenschaftliche, übersichtliche Darstellung
der Probleme der Religionswissenschaft ein dankenswertes Unter-
nehmen: eine Unmenge von Stoflf, bezw. Namen, Reminiszenzen ist
hier ineinander gearbeitet, vielleicht zu viel für die beabsichtigte An-
regung und Förderung. Von dem Zwecke eines Katechismus aus
erheben sich auch formell einzelne Bedenken gegen die Art, wie in
unserer noch wenig wissenschaftlich abgeschlossenen Zeit spezielle
Darlegungen des Verf. als allgemeingültige vorgetragen werden. Das
gilt z. B. von seiner Einteilung der Seelenvermögen S. 164, die er
dann doch beiseite schiebt, um die Religion in die ziemlich über-
wundene Psychotrias von Denken, Fühlen und Wollen hineinzupressen.
Wenn femer die Religion als „Sammlung des Gemüts" behauptet wird,
so freue ich mich nachträglich, dass R. meine literarisch ausgeführte
Ansicht schon früher vertreten hat, nämlich um diesen reden zu lassen,
es sei richtiger, die Religion als Sache des Gemüts denn des Ge-
fühls zu bestimmen. Indes wäre das Gemüt doch wohl mehr als Er-
trag geschichtlicher Erwägungen oder im Sinne modemer Psychologie
— nicht Physiologie, auf die Verf. Wert legt — abzuleiten gewesen.
Die Grundeinteilung bespricht die „Theorien vom Ursprung der
Religion oder das objektive Religionsproblem (Theogonie)" ; 2. die
„Theorie vom Wesen der Religion oder das subjektive Religions-
problem (Religionspsychologie)*; 3. „Religionsphilosophische Urteils-
bildung (Dialektik)"; 4. „Die Religion in der Geschichte und das
Gesetz ihrer Entwicklung". Dass der letzte Teil so kurz (S. 288 bis
318) ausgefallen ist, entschuldigt Verf. damit, dass er die Arbeit
hierüber erst später abschliessen werde. Mindestens aber hätte der
heute im Vordergrund des Interesses stehende Inhalt des vierten Teils
dem dritten Teil vorantreten sollen, da dieser dritte den Ertrag der
eigenen, eigentlichen Religionsphilosophie behandelt, nachdem vorher
die Theorien anderer vorgetragen sind. In diesen zwei ersten Teilen
ist ein gewisses Hinundherschillern bei der Schwierigkeit des Stoffes
nicht vermieden; im ersten Teil nämlich greifen die Religionsmeta-
physik und der äquivalente Religionssubjektivismus (Nativismus, Supra-
naturalismus usw.), zu dem dann die Überschrift: „Theogonie'^ nicht
gut passt, ineinander über. Im zweiten Teil ist etwas einseitig das
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HUME: EINE UNTERSUCHUNG ÜBER DEN USIV, 211
„Wesen der Religion" in psychologische Tatbestände aufgelöst, während
dazu doch das Komplement der Gottheit gehört. Die einfachste Ein-
teilung dürfte m. E. immer noch die eines heimgegangenen, hervor-
ragenden Mitarbeiters dieser Zeitschrift sein: Glogau scheidet i. re-
ligiöse Psychologie, 2. Metaphysik, 3. Ethik; im Sinne von Gl. würde
allerdings noch unter i. als Unterteil die „Entwicklung" ihr Recht
fordern. Kurz Religion ist eine „Provinz für sich" (Schleiermacher),
indem sie in alle anderen hineingebaut ist.
Alt-Jessnitz. G. VorbPOdt.
D. Hume: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand.
Deutsch von C. Nathanson. Zweite, verbesserte Auflage. Leipzig,
B. Elischer Nachfolger. 1903. 195 S.
Die erste Auflage der vorliegenden Übersetzung ist in dieser
Zeitschrift (Bd. III) von Fr. Erhardt ausführlich besprochen worden;
mit Recht wurden die zahlreichen Mängel hervorgehoben. Lässt sich
von der neuen Auflage Besseres sagen? Anerkannt muss werden,
dass die Auflage wohl eine „verbesserte** zu nennen ist, da eine
Fülle von Versehen und Härten im einzelnen durch richtigere oder
gefälligere Wendungen ersetzt sind. Zu bedauern bleibt aber, dass
es — wie Dr. H. Schmidkunz im Anhang ausführt — nicht gelungen
ist, „eine wirkliche, vollauf der Verantwortung fähige Neubearbeitung"
mit dem Verleger zu vereinbaren. So stören auch jetzt noch mehrere
falsche oder doch irreführende Übersetzungen, vor allem aber sprach-
liche Härten, die dadurch nicht entschuldigt werden, dass Humes
Sprache „eine andere ist, als ein nichtphilosophisches Englisch" und
dass sich diese Verschiedenheit im Deutschen widerspiegeln sollte.
Jedenfalls unterscheidet sich Humes Stil von gutem „nichtphilosophi-
schen Englisch** keineswegs durch Schwerfälligkeit. Gerade in ihm
findet sich eine erstaunliche Verbindung von Schärfe des Gedankens
und Anmut des Ausdrucks.
In Ergänzung der Kritik von Erhardt möge hier zunächst auf
einige Übersetzungsfehler, sodann auf mehrere undeutsche Wendungen
hingewiesen werden, die zum grossen Teil darauf beruhen, dass der
Übersetzer zu wörtlich am Original haftet und dabei bestimmte Eigen-
tümlichkeiten der englischen Grammatik im Deutschen beibehält.
Auf einem Druckfehler beruht wohl der Satz: „die Grenzen der
verschiedenen Art (species, i. Auflage: Gattungen) von Philosophie**
{S. 14). Der Satz: „Feuer hat immer gebrannt, und Wasser jedes
menschliche Geschöpf erstickt** (S. 67) ist sicherlich falsch: gerade
von der Wirkung des Feuers auf ein Objekt ist die Rede, mit andern
Worten: „Fire has always burned** bezieht sich ebenso wie das
14»
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212 REZENSIONEN,
folgende auf „every human creature", bumed heisst hier nicht „ge-
brannt", sondern „verbrannt*. Mindestens irreführend ist die Über-
setzung der Stelle: „But if by consciousness we perceived any power
or energy in the will, we must know this power, we must know Ihe
secret union of soul and body and the nature of both these sub-
stances . . .** „Nehmen wir aber durch dasBewusstsein irgend ein Vermögen
oder eine Energie im Willen wahr, so müssen wir diese Macht, ihre
Verknüpfung mit der Wirkung und die geheime Verbindung von Seele
und Körper sowie die Natur dieser beiden Substanzen erkennen . . ."
(S. 76). Der ganze Satz ist irreal; auch scheint mir durch ,, er-
kennen" statt „kennen" die Stelle — jedenfalls beim ersten Lesen —
einen vom Original abweichenden Sinn zu bekommen. Viel besser
übersetzt v. Kirchmann: „Könnten wir durch das Bewusstsein eine
Kraft in dem Willen bemerken, so müssten wir diese Kraft und ihre
Verbindung mit der Wirkung kennen, ebenso das geheime Band usw."
Auf derselben Seite ist „we should also know" durch „wir sollten
auch erkennen" wiedergegeben statt „wir würden auch wissen".
„Consequently" (S. 90) ist nicht „folgerichtig", sondern einfach „in-
folgedessen", „deshalb". In dem Satz: „Necessity may be defined
two ways conformably to the two definitions of cause of which it
makes an essential part" besieht sich which doch wohl auf cause
nicht auf definitions — wie in der Übersetzung: „Notwendigkeit kann
zweifach definiert werden, gemäss den beiden Definitionen von Ur-
sache, von denen sie einen Hauptteil ausmacht" (S. iio). In der
ersten Auflage stand „wovon", — sprachlich mangelhaft, inhaltlich
besser. „Where there is a complication of causes to produce any
effect" wird übersetzt: „Wo eine Verwicklung von Ursachen eine
Wirkung hervorbringen muss" (S. 121). Bei von v. Kirchmann heisst
es richtig und gut deutsch: „Wo ein Zusammentreffen von Ursachen
eine Wirkung hervorbringt". Ein böser Druckfehler hat die An-
merkung auf S. 185 verunstaltet: „Jene irreligiöse Maxime der alten
Philosophie, Ex nihilo nihil fit, welche durch die Schöpfung der
Materie ausgeschlossen ward" statt „durch welche" (by which; erste
Auflage: „wodurch").
Von Härten im Ausdruck mögen folgende erwähnt werden.
„We find the Observation to take place": „wir finden die Beobach-
tung auftauchen" (S. 18); „among different languages . . . it is
found ..." „zwischen verschiedenen Sprachen . . . findet sich,
dass ..." (S. 22); „die Verknüpfung unter den verschiedenen Begeben-
heiten, die sie" (nämlich die Geschichtsschreibung) „in Einem Körper
vereinigt" (S. 30; englisch „body"; etwa „zu einem Ganzen"); „eine
Reihe von Vorgängen, die sowohl sehr lange, wie auch sehr zufällig
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HUME: EINE UNTERSUCHUNG ÜBER DEN USW,
213
seien^ (S. 31; Verschlechterung gegenüber der ersten Auflage: ,,eine
Reihe von sowohl sehr langen als auch sehr zufälligen Voigängen^.
„Lange" — statt „lang andauernder'* — „Vorgänge* sind zwar auch
unschön, aber noch besser als „Vorgänge, die lange sind*); „past
Observation", „past Experience", „past instances*: „vergangene
Beobachtung*, „vergangene Erfahrung*, „vergangene Instanzen*
(S- 37 f 4^) 44» 4^» 47; gemeint ist natürlich „vorhergegangene*);
„mittels Schlüsse'^ (S. 38); „dass es hier eine vom Geiste gezogene
Folgerung gibt* (S. 42, statt: „dass hier eine . . . Folgerung vor-
liegt*); „all belief of matter of fact*: „jeder Glaube an Tatsache*
(S. 55). »Er*, nämlich „dieser Glaube*, „ist eine in solcher Lage
ebenso unvermeidliche Wirkungsweise der Seele wie das Innewerden
der Regung der Liebe beim Empfange von Wohltaten oder des
Hasses beim Erleiden von Beleidigungen* (S. 56). Die Schwerfällig-
keit dieses Satzes ist vor allem dadurch zustande gekommen, dass
dreimal ein englisches Verbum durch ein deutsches Substantiv wieder-
gegeben ist; „to feel*: „das Innewerden*, „we receive*: „Empfang*,
„we meet*: „Erleiden*. „Type*: „Type* (S. 61 und öfter; v. Kirch-
mann besser: „Form* oder „Gestalt*); „a . . transition to the idea
of another object: „ein . . Obergang zur Idee von einem anderen
Gegenstand* (S. 64; geradezu irreführend); „die Idee von Wunde und
Schmerz*, „in . . Schlüssen über Tatsache und Existenz* (S. 64);
„Natur von Glaube und Meinung* (S. 67). „In a correspondent course
to that which she has established among external objects*: „in über-
einstimmender Folge mit dem, was sie (die Natur) unter äusseren
Gegenständen festgesetzt hat* (S. 65; dafür richtiger bei v. Kirch-
mann: „übereinstimmend mit dem Gang, den sie für äussere Gegen-
stände festgestellt hat*). „All common theories*: „alle gemeinen
Theorien* (S. 69, statt: „üblichen*, „gewohnten*); „der beiderlei
Wissenschaften* (S. 71); „die Idee von Vermögen (S. 73); „dass
wir . . Vermögen besitzen* (S. 75); „auch davon haben wir Er-
fahrung (S. 88); „Eindruck von Vermögen* (S. 89); „wir fühlen ein
neues Gefühl* (S. 90); „the philosopher if he be consistent*: „der
folgerechte Philosoph* (S. 100); „einige weitere Verknüpfung* (S. 105).
Einige Male findet sich noch unnötigerweise im Nebensatze „wann*
(für „while* S. 74, für „when* S. 78, 99). Das Wetter ist in der
Prosa nicht „lind* (S. 68), sondern gelinde; es heisst nicht „Siech-
heit* (S.79), sondern Siechtum oder Krankheit, nicht „imstand* (S. 155),
sondern imstande. Humes Prinzip: „custom or habit* war in der
ersten Auflage: „Gewohnheit oder Habitus* übersetzt. An die Stelle
von „Habitus" ist jetzt „Disposition* getreten (S. 52), doch fragt es
sich, ob damit nicht ein dem Urtext fremder Begriff eingeführt ist.
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214
REZENSIONEN,
„Übung" (V. Kirchmann) scheint mir vorzuziehen. Vielleicht darf
man so kühn sein, beide Ausdrücke durch „Gewohnheit'' allein wieder-
zugeben. — Von besonderer Schwierigkeit für die Obersetzung ist
der Passus, in dem die Begriffe conjoined und connected einander
gegenübergestellt werden. „Sie (die aufeinanderfolgenden Vorgänge)
scheinen verbunden, doch niemals verknüpft" (S. 85, ebenso bei
V. Kirchmann). Mir scheint diese Ausdrucksweise etwas ungereimt
zu sein, da es unmittelbar vorher heisst: „Niemals aber können wir
ein Band zwischen ihnen beobachten*. „Band" und „verbunden"
sind zu ähnlich lautende Ausdrücke, als dass man in demselben
Atemzuge ein „Band" zwischen den Vorgängen bestreiten, aber be-
haupten könnte, dass sie „verbunden" scheinen. Vielleicht wäre auch
hier eine gewisse Kühnheit bei der Übersetzung am Platze. Könnte
man nicht etwa sagen: „Sie scheinen aneinander gereiht" oder: „Sie
scheinen in zeitlichem Zusammenhang zu stehen, aber nicht innerlich
verknüpft zu sein", mit anderen Worten: könnte man nicht für con-
joined eine Wendung wählen, die einen loseren, zufälligen Zusam-
menhang bezeichnet? Denn dieser soll doch im Gegensatz zu einer
organischen Verknüpfung betont werden. — Erwähnt sei noch, dass,
wie mir scheint, nicht immer für „instance", „quality", „attribute" u. a.
das entsprechend.e Fremdwort gesetzt zu werden brauchte, sondern
dass meistens gerade im Hinblick auf Humes Bestreben, allgemein
verständlich und gefällig zu schreiben, einfachere Ausdrücke wie
„Beispiel", „Eigenschaft" genügen würden.
Viele der hier angeführten Härten und noch manche andere,
die einzelne Wendungen betreffen, können ja leicht geändert werden;
ob aber damit Wesentliches für den gesamten Stil geschehen kann,
ist zweifelhaft. Da dürfte doch wohl nur eine Generalrevision helfen.
Dass der Verlag diese verhindert hat, ist ebenso bedauerlich wie der
von ihm gewünschte Verzicht auf das terminologische Verzeichnis, das
in der früheren Auflage zu finden war.
Schöneberg b. Berlin. H. Brömse.
J. Freudenthal: Spinoza, Sein Leben und seine Lehre. Erster Band
Das Leben Spinozas. XIV, 349. Stuttgart, Fr. Frommanns Vertag 1904.
6,80 Mk. Geb. 7,80 Mk.
Von J. Freudenthals gross angelegtem Werke über Spinoza
li^t der erste Band vor. Er behandelt, auf Grund der 1899 heraus-
gegebenen, in dieser Zeitschrift (Band 116, S. 149 f) von mir ange-
zeigten Quellenstudien des Verf., das Leben Spinozas in la Kapitehi.
Jedes Kapitel trägt an der Spitze als Motto ein Denker- oder Dichter-
wort. Das Ganze ist gestellt unter Spinozas eignen Ausspruch: Um
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J, I'REUDENTHAL: SPINOZA, SEIN LEBEN USW, 215
so leichter werden wir Jemandes Wort erklären können, je besser
wir sein Wesen und seinen Geist kennen.
Der Verf. ist sich wohl bewusst, dass sich keine menschliche
Individualität historisch und psychologisch restlos verrechnen lässt,
dass in Sonderheit bei der Entstehung und Bildung eines genialen
Menschen geheimnisvolle Kräfte nach unauffindbaren Gesetzen zu-
sammenwirken. Doch sucht er mit grosser Sorgfalt die mannigfachen
Einflüsse zu ermitteln und zu schildern, die das Werden und Wirken
Spinozas bedingten. Die jüdische Ära in Spanien und in den Nieder-
landen, die Religionsphilosophie des Mittelalters, Naturwissenschaft,
Scholastik, Mystik und neuere Philosophie, Einflüsse jüdischer und
christlicher Theologen und Sekten, dazu die politischen und religiösen
Verhältnisse der Niederlande, das und manches andere wird in licht-
voller Darstellung vor uns hingebreitet als der Lebensboden, aus dem
die grosse Lebensgestalt Spinozas erwuchs. Dabei ist es dem Verf.
nicht zweifelhaft, dass für die Gedankenbildung Spinozas die Religion
das wichtigste, wenn auch nicht immer bewusste Agens gewesen sei.
Natürlich war ein Ausblick auf Spinozas Lehre schon in diesem
Bande manchmal geboten. Leben und Lehre sind doch aufs engste
miteinander verwachsen. Zum rechten Verständnis von Spinozas Cha-
rakter war es z. B. erforderlich, das Verhältnis d.es theologisch-poli-
tischen Traktates zur Ethik auch dem Lehrgehalt nach zu beleuchten.
Das Resultat des Verf. ist hier eine völlige Rechtfertigung Spinozas.
Auf des Philosophen Schicksal haben Freunde und Gegner grossen
Einfluss ausgeübt. Deren bisher zum Teil nicht bekannte Lebens-
umstände zu ermitteln und zu würdigen, ist dem Verf. durch seine
Quellenforschungen gelungen.
Am Schlüsse des Buches finden sich wertvolle Anmerkungen,
auf welche leider im Text nicht hingewiesen wird. In diesen An-
merkungen finden sich kurze kritische Notizen, auch in Bezug auf die
Quellen und auf Abweichungen von Kuno Fischers Auffassung und
Darstellung.
Das grösste Verdienst des Verf. besteht darin, dass er zeigt,
wie der anfangs verachtete, später vergötterte Spinoza weder unter-
schätzt, noch überschätzt werden dürfe, sondern in gerechter und liebe-
voller Würdigung verstanden werden müsse. Die Lektüre des Buchs,
das im Preis leider ziemlich hoch bemessen ist, wenigstens im Ver-
gleich zu den bisher erschienenen Bänden der Frommannschen Samm-
lung, bietet grossen Genuss und Gewinn, ist für alle weitere Spinoza-
forschung unentbehrlich.
Stettin. Lfllmann.
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2i6 REZENSIONEN.
J.Baumann: Deutsche und ausserdeutsche Philosophie der letzten
Jahrzehnte dargestellt und beurteilt. Ein Buch zur Orientierung
auch für Gebildete. Gotha, F. A. Perthes, A.-G. 1903. Vm und 533 S.
Einer zusammenhängenden Darstellung neuester Philosophie von
kundiger Hand begegnet man selten. Wir nahmen daher das Buch
des Göttinger Philosophen mit frohen Erwartungen in die Hand,
fühlten uns aber, offen gestanden, recht bald stark enttäuscht. Alle
ästhetische Wirkung — die der Zusatz „auch für Gebildete" uns
hoffen liess — völlig verschmähend, macht das Buch durchaus den
Eindruck einer Rezensionen- oder Kollektaneensammlung des Verfassers.
Dass Vorlesungen als Bücher herausgegeben werden, ist von jeher
Sitte gewesen und hat manches für sich; auch die Vereinigung schon
veröffentlichter Einzelaufsätze bezw. Essays zu einem Sammelbande
wird jetzt immer beliebter; dass aber auch eine lange Reihe von
— ich weiss in diesem Falle nicht, ob schon sämtlich gedruckten —
Bücherbesprechungen als Buch auf den Markt geworfen wird, kommt
glücklicherweise ziemlich selten vor. Wenn wenigstens ein geistiges
Band die einzelnen Stücke verbände! So aber werden ziemlich
wahllos, und in der Regel ohne die geringste Überleitung, aneinander
gereiht von deutschen Philosophen: Hartmann, Wündt, Paülsen,
Frohschammer, Eucken, Natorp, Siebeck, Thiele, Mach, Avenarius,
die immanente Philosophie (und zwar in der Reihenfolge: Schuppe,
Schubert -Soldern, Schuppe nochmals, Rehmke, Schuppe, Rehmke,
Schubert -Soldern!), Nietzsche, Rickert, Liebmann, Goldschmidt,
Ostwald, Riehl, Schulte -Tigges (S. i — 344). Dann geht es — ohne
jeden Übergang, ja selbst ohne neue Überschrift, weiter zu (den
Engländern): Carlyle, Spencer, Green, Bradley, Hodgson, Ruskin;
darauf ebenso zu (den Franzosen): Taine, Ribot, Renouvier,
FouiLL^E, BouTRoux, Secr^tan, ZU dem Amerikaner James, dem
Italiener Mamiani, dem Dänen Kierkegaard, den Russen Spir und
Tolstoi, dem Belgier Maeterlinck, zuletzt zu dem Okkultismus und
wiederum James; den Beschluss macht als „Nachtrag" eine Be-
sprechung von Cornelius* Einleitung in die Philosophie. Auch die
Ausführlichkeit der Behandlung ist offenbar ganz vom Zufall diktiert.
Ostwald erhält 64, Wundt nur 14 Seiten, Renouvier 36 und James 32,
Spencer nur 17, Boutroux nur zwei, Renan (den wir deshalb oben
nicht mit aufzählten) nur eine halbe Seite. Rickert wird behandelt,
Windelband dagegen nicht; ebenso Natorp ohne Cohen. Von Natorp
wird nicht, wie es sich gehört hätte, sein jetzt schon in zweiter Auf-
lage erschienenes Hauptwerk, die „Sozialpädagogik**, „dargestellt und
beurteilt*, sondern seine bereits vor zehn Jahren erschienene Einzelschrift
aber Religion. Desgleichen wird von Riehl nicht das überdies falsch
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BAUMANN: DEUTSCHE UND AUSSERDEUTSCHE USW.
?I7
titulierte Hauptwerk (Ober den philosophischen Kritizismus, nicht,
wie Baumann schreibt, „Realismus'') besprochen, sondern seine „Ein-
führung", und zwar, weil — „letztere Schrift auch[!] auf die Ener-
getik, auf Nietzsche Bezug nimmt [sie!]'' (S. 327). Sozial- und Ge-
schichtsphilosophie werden sehr stiefmütterlich behandelt. Aber das
ginge alles noch an, wenn nicht der äusseren Form jede, aber auch
jede Feile fehlte. Die „Darstellung" gibt einfach einen Auszug aus
dem betreffenden philosophischen Werke, die „Beurteilung" die Ge-
danken des Kritikers offenbar in der zufälligen Reihenfolge, wie «ie
ihm gerade gekommen, ohne jede Rücksicht auf den Leser. Wir
könnten beinahe von jeder Seite Beispiele stilistischer, ja zuweilen
sogar logischer und grammatischer Nachlässigkeiten bringen. Wir
greifen aufs Geratewohl einiges wenige aus dem Abschnitt über
Nietzsche heraus. S. 184: „Zu seinen Wirkungen zählen seine Be-
wunderer . . . vor allem eine neue Gedankenlyrik. Es folgen daher
noch Aussprüche von ihm selbst." S. 189: „Seine erregenden
Schriften beginnen gerade mit der Niederlegung seiner Professur
wegen Krankheit, schon die Zustände von 1870 an deuten auf be-
ginnendes Gehimleiden." Ebenda: „Sehr charakteristisch für seine
ganze geistige Art ist der Traum, den er von Jugend auf gehabt
hat, eigentlich Pole zu sein, auf den man neuerdings hingewiesen
hat." S. 194: „Der 15. Band enthält die Überbleibsel Nietzsches."
Ebenda: „Von 1882 ist der erste Versuch Nietzsches . . ., von 1884
und 1885, nach Beendigung des Zarathustra, sind mehrere noch keim-
hafte Pläne." S. 233: „Ober einzelne Punkte habe ich heraus-
notiert." Nietzsche würde sich, nebenbei bemerkt, wenn er noch
lebte, wundem, dass er „sich besonders als moralistischer Schrift-
steller betrachtet" haben soll (S. 211), Riehl, dass seine Ansicht vom
kopemikanischen System, „die auch sonst öfter begegnet", als „wun-
derlich" (S.336), Siebeck, dass seine „Religionsphilosophie" als theo-
logisches Werk und zwar als „nach Heinze (Leipzig) eine hervor-
ragende Erscheinung in der Branche" (S. 108), bezeichnet wird,
Natorp, dass er, „will man seine Ansichten ganz genau inhaltlich
charakterisieren, in praktischer Hinsicht gewissermassen Fichte im
Übergang zur absoluten Philosophie" (S. 103), zugleich aber der
verdeutschte „Comte" (S. 107) ist, und dass „seine sittlichen und
ästhetischen Auffassungen mit den biblischen Erzählungen von
frühe an verschmolzen sind (S. 107). Doch satis superque!
Wir wollen zwar, um gerecht zu sein, nicht bestreiten, dass
das Buch auf seinen über ein halbtausend Seiten, namentlich in bezug
auf die ausländischen Philosophen, den meisten Lesern vieles stofflich
Neue bringt, und dass neben manchen schiefen Darstellungen und
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2i8 REZENSIONEN,
Urteilen sich natürlich auch viele treffende oder gar scharfsinnige
finden, aber als Ganzes können wir bei dem Rufe, den der greise
Gelehrte in der wissenschaftlichen Welt geniesst, die Veröffentlichung
dieses seines jüngsten Werkes nur bedauern.
Solingen. Karl Vorländer.
Ludwig Goldstein: Moses Mendelssohn und die deutsche Ästhetik.
(Teulonia. Arbeiten z. german. Philologie, herausgegeben von W. Uhl.
Heft 3.) Königsberg i. Pr. 1904. Gräfe und Unzer. 5 Mk.
Die sehr sorgfältige Arbeit deckt auf, was Mendelssohn Neues
in die deutsche Ästhetik gebracht und welchen Einfluss er als
Ästhetiker auf seine Zeitgenossen ausgeübt hat. In beiden Beziehungen
ist es dem Verf. bei der liebevollen Behandlung des Stoffes ge-
lungen, wenn nicht immer ganz Neues zu finden, so doch das bereits
Bekannte in eine andere Beleuchtung zu rücken, die allerdings, wie
es bei einer jahrelangen Beschäftigung mit einem Autor nur zu natür-
lich ist, mitunter für M. zu günstig ausfiel. Nicht teilen möchte ich vor
allem Gs. Urteil über Ms. „stark ausgeprägten künstlerischen Fein-
sinn", seinen „lebendigen Kunstsinn" (S. 17), lehnt doch M. selbst in
einem von G. zitierten Brief (S. 2) den Beruf eines Kunstkritikers ab;
wie er in den „Hauptgrundsätzen" die Psychologie als die Grundlage
der Ästhetik hinstellt, so hat er auch selbst sein Verdienst um die
deutsche Ästhetik erworben, als scharf zergliedernder Psycholog, der
mit leidenschaftsloser Ruhe die komplizierten seelischen Vorgänge in
deren Elemente aufzulösen und zu erklären versteht, nicht aber als einer,
der, wie Herder, aus reicher unmittelbarer Anschauung der lebendigen
Kunst heraus das Wesen des Schönen erfasst; mit der Behauptung
von der Wahlverwandtschaft beider Männer, S. 12, 223, geht G.
doch zu weit. Mit Recht hingegen wird die landläufige Meinung von Ms.
moralisierender Ästhetik dahin berichtigt, dass seine durch und durch
ethische Persönlichkeit zwar natürlich auch in seinen Schriften überall
zum Ausdruck kommt (S. 26), er aber bewusst auf die Trennung der
ästhetischen und der ethischen Beurteilungsweise, auf die ästhetische
Betrachtung der Kunst dringt (S. 25 — 40).
Warum M. als der Erste bezeichnet wird, der in Deutschland
die Kunst als „Darstellung idealischer Schönheit aufgefasst hat (S. 46),
verstehe ich, da Winkelmanns „Gedanken über die Nachahmung" schon
J755 erschienen sind, nicht recht. Übrigens bedeutet Ms. „idealische
Schönheit" noch nicht, wie S. will, eine Überwindung des alten
Nachahmungsprinzips, denn gleich Winckelmann, gleich allen auf
die Renaissance (Alberti, Lionardo, Du Fresnav) zurückgehenden
Ästhetikern der bildenden Kunst versteht M. unter Idealisierung bloss
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GOLDSTEIN: MOSES MENDELSSOHN UND DIE USW. 219
die Konzentration, die Steigerung, die Auswahl des in der Natur Ge-
botenen; der direkte Hinweis auf die bildende Kunst bei M. in den
Noten zum Laokoon. Nicht von der bildenden Kunst aber, sondern
von der Musik (und der Lyrik) sollte die Überwindung der /MjbLfjoig^
Theorie kommen; und dass M. die Musik noch immer als „Nach-
ahmung der menschlichen Leidenschaften" bezeichnet, scheint mir
doch dafür zu sprechen, dass er Harris, einen der ersten Vertreter
des Prinzips des ursprQnglichen natürlichen Ausdrucks, der Mitteilung
seelischer Vorgänge, nicht, wie es G. S. 55 annimmt, gekannt hat. Denn
wenn auch M. so gut wie Harris die natürlichen und willkürlichen
Zeichen behandelt, so tut es doch der erstere, um der fiijüirjoig-Lehre
eine befriedigendere Form zu geben, der letztere, um die Unhaltbar-
keit der ganzen Lehre zu zeigen.
Mit der ßiifirjoig -Lehre hängt auch Mendelssohns unglückliche
Illusionstheorie zusammen, die doch immer (auch in den von G. an-
geführten Stellen) auf eine Täuschung hinauskommt. Nicht berechtigt
scheint mir die Gleichsetzung von Ms. „Illusion" und dem „Schein"
der Klassiker oder dem Kantischen „die Kunst soll Natur zu sein
scheinen": in beiden Fällen ist nur der Ausdruck, bei ganz ver-
schiedenen ästhetischen Voraussetzungen, ähnlich; nicht in diesen
Zusammenhang gehört auch Herder, der nur das alte Wort, nicht
aber den Begriff beibehaltend, unter Illusion jede starke Gemüts-
wirkung versteht, welche die Kunst in uns erzeugt. Bloss im Aus-
druck liegt ebenfalls die Ähnlichkeit zwischen Mendelssohn und Kant
beim Begriff „Genie", den der erstere noch nicht als der Kunst allein
eigentümlich, nicht als Gegensatz zum bewussten Denken auffasst,
sondern vielmehr, dem allgemeinen Geist der Aufklärung entsprechend,
als Gegensatz zur Geschichte, zur erlernbaren Tradition. Der erste
Ansatz zu Kants „interesselosem Gefallen" findet sich nicht erst bei
M. (S. 228f.), sondern schon bei Hutcheson (1725, S. loff.) und Burke
(1756, Part. III, Sect i, 6, 7). Mendelssohns vermittebde Stellung
zwischen Burke und Kant (beim Begriff des Erhabenen) und zwischen
Hogarth, Home und Lessing, Schiller (bei den Begriffen Reiz und
Grazie) wird sorgfältig untersucht. Ms. Verdienst um Shakespeare
hervorgehoben, sein Einfluss auf Lessing, Herder, Schiller, Kant
verfolgt und vielleicht, besonders bei den drei letzteren, etwas zu
hoch angeschlagen; treffend scheint mir der Gegensatz zwischen
Lessings leidenschaftlicher Subjektivität und Ms. bedächtiger Sachlich-
keit charakterisiert. (190 f.)
Bern. A« Tumarkln«
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220 REZENSIONEN.
Gustav Class: Die Realität der Gottesidee. München 1904. C. H.
Becksche Verlagshandlung. 94 S.
Der Verf. verweist zunächst auf seine frühere Schrift: „Unter-
suchungen zur Phänomenologie und Ontotogie des menschlichen
Geistes'*, wo in hochinteressanter Weise aus dem Kantischen Imperativ
eine Pneuraatologie entwickelt wird, welche ihrerseits in dem Postulat
des absoluten Geistes gipfelt. Dementsprechend wird in diesem neuen
Buch die Gottesidee zunächst nicht religiös gefasst, sondern als die
Idee des reinen Denkens. Es wird gezeigt, wie diesem unpersön-
lichen Denken schon die „Postulate" der Substanz mit ihren Attributen
und der Kausalität entspringen, wobei „postulieren** bedeutet: „fordern
kraft eines höheren Rechtes**. In analoger Weise entspringen näm-
lich der innersten Region des nicht personalistischen Denkens die
Postulate der absoluten Kraft, der absoluten Einheit und des abso-
luten Denkens, d. h. mit einem Wort des absoluten Geistes. In den
so gewonnenen Rahmen der blossen Idee Gottes wird nun das
geistig Beobachtete eingefügt, nämlich die Tatsache des kategorischen
Imperativs; damit meint der Verf. die innere Stimme, welche im
kritischen Augenblick, wenn der Geist die Natur bearbeiten soll, uns
zuruft: „Es wird gehn**. Das offenbar posteriorische Element in
dieser, oft konstatierten, als Folge göttlichen Handelns gedachten
„Zusage**, eröffnet die Aussicht auf eine Lehre vom realen Gott,
die nie fertig ist, aber immer fortschreitet. Neben diese unhistorische
Offenbarung Gottes tritt dann die historische, sofern die grossen
providentiellen Persönlichkeiten ein Ausdruck sind für Gottes
Teilnahme an dem Kampf des menschlichen Geistes mit der Natur.
Bei der nun folgenden Vergleichung der Religionstifter untereinander
wird mit Hilfe der religionsgeschichtlichen Methode der Versuch ge-
macht, Vergängliches und Ewiges bei ihnen zu scheiden; endlich
wird geschildert, wie die ganz neue Botschaft Christi von der Liebe
eine „einzigartige geistige Anschauung** von Gott beweist.
Der Verf. will einen Standpunkt begründen, der unter Festhal-
tung des Wesentlichen über Kant hinausgeht, sich aber nicht mit
Hegel deckt. Der Geist ist die höhere Offenbarung des Absoluten;
aus ihm blitzen neu auf die drei ewigen Lichter: Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit. Hegelianisch, aber nicht eintönig, sondern wirklich
spannend, ist im dialektischen Teil auch die Methode. Die Aus-
einandersetzungen über den Kantischen Imperativ sind geradezu bril-
lant und reich an Pointen und Schlagern. Der Abschnitt über die
historische Offenbarung lässt die Bekanntschaft mit der heutigen
Theologie deutlich erkennen, ist aber kurz und vielleicht etwas blass
ausgefallen im Zeitalter der Wellhausen, Duhm, Harnack u. a. —
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GUSTAV CLASS. OTTO SIEBERT. LUDWIG KELLER. 221
Die Arbeit sei den Jüngern unter uns bestens empfohlen, denn sie
bietet eine ganz eigenartige Verbindung von Gedanken aus klas-
sischer Zeit.
Chaux-de-Fonds (Schweiz). Ernst Flsoher.
Dr. Otto Siebert: Rudolf Euckens Welt- und Lebensanschauung
Langensalza. Beyer & Mann. 1904. 72 S. Preis i Mk.. 20 Pf.
Da Euckens Weltanschauung unsern Lesern bekannt ist, dürfen
wir uns wohl auf eine kurze Anzeige dieses trefflichen Kompendiums
beschränken. Der erste Teil desselben enthält die Kritik des Na-
turalismus und des Intellektualismus, der zweite „das System des
Geisteslebens" und den ,, Wahrheitsgehalt der Religion". Euckens
Positionen treten darin klar und deutlich hervor: die Überwindung
von Geist und Natur, weil der Gegensatz innerhalb der Seele liegt,
und der Beweis einer neuen Wirklichkeit; die Erkenntnisarbeit auf
einer jenseits des Gegensatzes von theoretischer und praktischer Ver-
nunft gelegenen Basis; der Begriff der Persönlichkeit, die Wendung
zur Metaphysik und zur Religion. Ein „Schlusswort** des Verf. be-
spricht noch besonders die letztere. — Auch wir sind derselben
Überzeugung wie Siebert, dass Eucken Schule machen wird. Leit-
fäden wie der vorliegende tragen selbstverständlich das ihrige
dazu bei.
Chaux-de-Fonds (Schweiz). Emst Fischer.
Dr. Ludwig Keller: Johann Gottfried Herder und die Kultgesell-
schaften des Humanismus. Berlin, Weidmannsche Buchhandlung.
106 S. (Vorträge und Aufsätze der Comenius - Gesellschaf t, 12. Jahrgang,
I. Stück.) Preis i Mk. 50 Pf.
Keller versteht es vorzüglich, uns in das literarische und philo-
sophische Milieu des 18. Jahrhunderts einzuführen. Gerne versenkt
man sich an der Hand eines so kundigen Führers in die Zeit der
grossen Dichter und Denker. Der eigentliche Zweck der Schrift ist
aber die Klarstellung des Verhältnisses von Herder zum Freimaurer-
orden. Derselbe bildete die Fortsetzung der sogenannten „Deutschen
Gesellschaften", die ihrerseits teils literarischen teils naturphilosophi-
schen Charakter trugen. Bei ihnen fand Herder schon in Königsberg
Aufnahme. Dem Mitgliede J. F. Hartknoch verdankte er seine spätere
Stellung in Riga. Dort führte ihn das Mitglied J. C. Behrens in die
ersten Kreise ein, wobei Herder der Empfangende war. Herder hat
sich mit Eifer der Geschichte des Maurerbundes angenommen; diese
Studien wurden die Grundlage zur „ältesten Urkunde des Menschen-
geschlechtes". Die Übernahme der Erziehung von Friedrich Wilhelm
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222 REZENSIONEN.
von Schleswig-Holstein dankte Herder derJTatsache, dass die Herzoge
schon in früheren Jahrhunderten sich an den Kultgesellschaften des
Humanismus beteiligten. Auch die berühmte Strassburger ,,Mittags-
gesellschaft" (Goethe, Lerse, Stilling, Herder usw.) wird in diesem
Zusammenhang an die Kultgesellschaften herangerückt. Dieses und
vieles andere, bekannte und bisher unbekannte Dinge, die in der
gleichen Richtung liegen, werden mit einer stupenden Gelehrsamkeit
zusammengetragen. Wir empfehlen das fleissige Werk allen denen,
welche zu einer Kontrolle und eventuellen Kritik das nötige Hand-
werkszeug besitzen.
Chauz-de-Fonds (Schweiz). Ernst Fischer.
Pannemann: Grundriss einer Geschichte der Naturwissenschaf-
ten. — Zugleich eine Einführung in das Stadium der grundlegenden
naturwissenschaftlichen Literatur. I. Bd. 2 Aufl. XIV u. 422 S. Leipzig
1902. 8 Mk.
Die Leser dieser Zeitschrift sind über Absicht und Inhalt des
zweibändigen Werkes von D. bereits durch die Besprechungen in
Bd. III und 117 orientiert. Das Erscheinen der vorliegenden zweiten
Auflage lässt erkennen, dass der Erfolg des Buches dem durchweg
günstigen Urteil der Kritik entsprochen hat. Es ist dies nicht zum
mindesten auch aus dem Grunde erfreulich, weil die Beschäftigung
mit der Geschichte der Naturwissenschaften das beste Mittel ist, um
der dogmatischen Verranntheit in zeitweilig herrschende Hypothesen
und Theorien vorzubeugen. In dieser Hinsicht ist aber wieder die
Beschäftigung mit den Schriften der hervorragenden Forscher der
Vergangenheit wirksamer als das Lesen eines historischen Berichtes
über sie. Der vorliegende erste Band des D.schen Werkes enthält
nun wesentlich eine Zusammenstellung bemerkenswerter Abschnitte
aus den „Klassikern'' der Naturwissenschaft von Aristoteles bis
Hertz und sucht so in kleinerem Massstabe dasselbe zu leisten, was
Ostwald in seiner umfassenden Bibliothek von Neudrucken wichtiger
Quellenwerke anstrebt. Eine zweckmässige Auswahl zu treffen ist
natürlich sehr schwer. Die Fülle des Stoffes hat den Verf. veran-
lasst, den etwa 60 Kapiteln der ersten Auflage zehn neue hinzuzu-
fügen, in denen Herschel (über Fixsterne und Nebel), Helmholtz (über
die Wechselwirkung der Naturkräfte), Kirchhoff und Bunsen (über
Spektralanalyse) u. a. zu Worte kommen; leider vermisst man aber
auch jetzt noch einen Abschnitt aus einem der Hauptwerke Darwins,
von dem nur das Tagebuch seiner Weltumsegelung (über die Bildung
der Koralleninseln) berücksichtigt ist.
Sondershausen. Dr. E. König*«
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KARL VORLÄNDER. WILHELM AMENT. 223
Karl Vorländer: Die neukantische Bewegung im Sozialismus.
Separatdruck aus den Kantstudien. Berlin 1902. Reuther & Reichard.
62 S. Preis 1,50 Mk.
Vorländer hat in einer früheren Schrift: ,,Kant und der So-
zialismus'', die in dieser Zeitschrift (Bd. 117, S. 293ff.) von Th. Ziegler
eingehend besprochen worden ist, nachzuweisen unternommen, dass
eine bemerkenswerte Annäherung zwischen philosophischen Neukan-
tianern, die dem Sozialismus zuneigen, und eigentlichen Sozialisten
stattgefunden habe. Die jetzt vorliegende Arbeit vervollständigt diese
Erörterungen, indem sie über zahlreiche von sozialistischer Seite in
• Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren veröffentlichte Auf-
sätze sowie über einige russische Theoretiker und Philosophen des
Sozialismus berichtet. Unter „Sozialismus'' wird hierbei nicht eine
politische Partei, sondern eine gewisse sittliche Weltanschauung ver-
standen. Als den Kern des Kantianismus wiederum betrachtet Vor-
länder, wie überhaupt die Gruppe von Neukantianern, zu der er ge-
hört, „das auf Kantischer Grundlage ruhende methodische Streben
nach Einheit aller Erkenntnis" (S. 4); auch in Kants Ethik sei das
Grundwesendiche vom Standpunkte dieser erkenntniskritischen, for-
malen Methode aus zu würdigen und hervorzuheben, unter Aus-
scheidung der bei Kant noch stehen gebliebenen metaphysischen
Reste (vgl. S. 10, 17). Im Lichte dieser Grundgedanken diskutiert und
beleuchtet Vorländer, im Anschluss an die referierten Arbeiten, mit
gründlicher Sachkenntnis und begrifflicher Schärfe, die Frage, inwie-
fern die Ideen des Sozialismus auf Kantische Grundlage begründet
werden können. Im wesentlichen hat die jetzt erschienene Arbeit
den Charakter einer nachträglichen Ergänzung jener älteren Schrift.
Helsingfors. Arvld Orotenfelt.
Wilhelm Ament: Begriff und Begriffe der Kindersprache. Berlin,
Reuther & Reichard, 1902. 85 S. Preis 2 Mk,
Der Verf. will in seiner Schrift Stellung nehmen zu der Streit-
frage, ob die Kindersprache wesenüich durch die spontane Tätigkeit
der Kinder selbst entsteht (Romanes, Steinthal, Lazarus, Taine u. a.),
oder durch die Umgebung ihnen überliefert wird (Paul, Wundt,
Preyer). Er tritt dabei mit Entschiedenheit auf die Seite der ersteren
Auffassung, wenngleich er die spontane Tätigkeit als eine in vielen
Fällen unwillkürliche charakterisiert. Die Frage selbst teilt sich natur-
gemäss in zwei: Kann das Kind als Erfinder selbständiger Worte
angesehen werden? Und: Kann es selbständig, ohne von der Um-
gebung dazu angeleitet zu sein, mit Worten, bezw. Lauten irgend
welcher Art Bedeutungen verknüpfen? In bezug auf die erste Frage
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224
REZENSIONEN.
ist A., um nur das Wichtigste hervorzuheben, zu der Überzeugung
gekommen, dass es freilich in seltenen Fällen vorkommen kann, dass
Kinder in dem augenblicklichen Bedürfnis der Kundgabe eines Wun-
sches etwa, ganz wiUkQrliche und selbstgewählte Benennungen aus-
sprechen; ein Resultat, für das mehrere Belege angeführt werden.
Die typischen kindlichen Umbildungen von Worten der Muttersprache
will Verf. nicht auf eine grössere physiologische Anstrengung, der
einige Laute (Gutturallaute) bei der Aussprache unterliegen sollen,
sondern auf Schwierigkeiten zurückgeführt sehen, die in dem Lautbau
der betreffenden Worte für die Aussprache entstehen. — Die zweite
Frage erledigt sich für A. schon dadurch, dass man die Möglichkeit
der Bildung ganz beliebiger Assoziationen auch im kindlichen Geist
nicht bestreiten kann, die Verknüpfung eines Wortes mit seiner Be-
deutung aber restlos auf Assoziationen zurückgeführt werden kann.
Die ersten Begriffe der Kindersprache sind weder Individual-, noch
Allgemeinbegriffe , sondern ein Drittes — Urbegriffe nennt sie der
Verf. — , insofern eine grössere Anzahl von Gegenständen mit dem-
selben Wort bezeichnet werden, ohne dass diese einzelnen Gegen-
stände selbst für das Kind schon unterscheidbar wären.
Am meisten hypothetische Elemente enthält der letzte Abschnitt:
Die Kindersprache wird mit der Sprache unkultivierter Völker ver-
glichen und von einem biogenetischen Grundgesetz der Sprachent-
wicklung gesprochen.
Berlin. V. Aster.
O. Flügel: Die Seelenfrage, mit Rücksicht auf die neueren Wandlungen
gewisser naturwissenschaftlicher Begriffe. Dritte vermehrte Auflage.
Cöthen, 1902. 158 S.
Die Stellung des Verf. als eines Verfechters des Herbartschen
Pluralismus und im besondern des Herbartschen Seelenatoms ist be-
kannt. Der Begründung und Verteidigung des letztgenannten Begriffs,
namentlich mit Bezug auf die modernen naturwissenschaftlichen An-
schauungen, ist das vorliegende Buch gewidmet. Es beginnt mit einer
ausführlichen Widerlegung des Materialismus, die freilich nicht viel
Neues bringt. Mehr dem eignen Thema nähert sich der Verf. bei
der Besprechung der Punkte, in denen er dem Materialismus zu-
stimmt; die atomistische Naturauffassung, der Widerspruch gegen den
psychophysischen Parallelismus und gegen die Fernkräfte gehören
hierher. Erwähnenswert ist die merkwürdige Behauptung, der Begriff
der Fernkraft sei in sich widersprechend, weil er eine Kraft an den
Körper selbst als Eigenschaft hefte, also eine „ursachlose" Kraft an-
nehme. Die Atomistik muss ergänzt werden durch die Annahme in-
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O.FLÜGEL, FRANZ JAHN. 225
nerer ZusUnde in den Atomen, die durch die Wechselwirkung der
Atome untereinander entstehen. Innere Zustände sind auch die
Vorstellungen und Empfindungen, und zwar solche, die den Seelen-
atomen beizulegen sind. Da alle Vorstellungen und Empfindungen
untereinander die Einheit des Bewusstseins ausmachen, so kann es
für jeden geistigen Organismus nur ein Seelenatom geben.
Neue Tatsachen in bezug auf den Zusammenhang des Physi-
schen und Psychischen werden von F. nicht vorgebracht und sie zu
bringen liegt auch nicht in seiner Absicht. Was an erkenntnistheore-
tischen Gesichtspunkten mit Bezug auf die Seelenfrage sich findet, ist
beschränkt auf axiomatisch auftretende Sätze, wie der, dass jede Kraft
einen „Träger*, einen Stoff oder dass jede Wirkung eine Ursache
fordre. Das Buch ist eben die Entwicklung eines Standpunkts,
aber über den Gesichtskreis des Standpunkts ist der Verf. nirgends
hinausgekommen.
Berlin. V. Aster.
Dr. Franz Jahn: Das Problem des Komischen in seiner geschicht-
lichen Entwicklung. 130 S. Potsdam 1904. A. Steins Verlagsbuch^
handlung. Preis: brosch. 2 Mk., geb. 3 Mk.
Man wird den Fluss einer Entwicklung schwer beurteilen können,
wenn man keinen festen Standpunkt gegen sie einnimmt. Gewiss
würde es auch kein Leser dem Verfasser als „Vermessenheit" an-
rechnen, wenn er ihn auf einen solchen stellte. Denn es ist immer
noch leichter selbst von einem nicht gebilligten Standpunkte aus sich
zu orientieren, als ganz ohne Anhaltspunkt sich ein Bild zu machen^
Ausserdem erstreckt sich das Reich der Komik so weit, von den
starren Schneegipfeln vernichtender Satire bis zu den Blütentälem
alles verklärenden Humors, dass Praktiker wie Theoretiker meist nur
ein Stück dieses weiten Reiches mit ihren Fähigkeiten ausfüllen und
mit ihren Begriffen umschreiben. Wer da nicht, die Einheit des
Ganzen fest im Auge, die Teilbilder planvoll verbindet und ordnet,
der macht sich und andern das Zurechtfinden nicht leicht. Hier liegt
der Mangel des Jahnschen Buches, der gerade deshalb zu bedauern
ist, weil es sonst eine Fülle von Material bietet, weil es mit viel
Wärme geschrieben ist, weil es von Verständnis für die idealen und
universalen Werte des Komischen zeugt. Der letzte Teil stellt die
Hauptauffassungen der Gegenwart zusammen. Eine wissenschaftliche
Auseinandersetzung mit ihnen soll und kann das in dem knappen
Rahmen natürlich nicht sein. Genug, dass die Aufgabe erfüllt wird,
einen Oberblick zu geben, die Probleme zu bezeichnen, Interesse zu
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. ia6 15
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326 REZENSIONEN, ENTGEGNUNG, SELB STANZEIGE.
wecken und die ersten Wege zum Weiterforschen zu weisen. Eine
kleine Arbeit war auch das keineswegs.
Bad Nauheim. Dr. Streoker.
Bntgregrnung:.
In Band 126, S. 83 der Zeitschr. f. Phil, und phil. Kritik findet
ein Ch. D. Pflaum unterzeichneter Rezensent an zwei von mir her-
rührenden VeröflFentlichungen einen wesentlichen Mangel darin, dass
ich in der einen von einer falschen Auffassung des Materialismus
ausginge, in der anderen im Unklaren liesse, was ich unter Okkultis-
mus verstände. Ich habe aber in Uebereinstimmung mit den Haupt-
vertretem dieser Richtung (Moleschott, L. Büchner etc.) von dem
Materialismus die Definition gegeben, dass er das Denken aus dem-
jenigen Dasein, das noch nicht Bewusstsein in sich aufweist, d. i.
in räumlicher Beziehung die Materie, in zeitlicher die Bewegung, die
nicht anders, denn als mechanische Kraftwirkung und als eine Eigen-
schaft der Materie aufzufassen, herleitet (S. der Materialism. i. V. z.
R. u. M. S. II fF). Andererseits habe ich umständlich ausgeführt, dass
ich unter Okkultismus die auf lautlosem und unsichtbarem Wege
willkürlich hervorgebrachten Wirkungen von telepathischer Art
verstehe, die von mir auf einen Missbrauch der Sexualität zurück-
geführt werden, wodurch nicht bloss Gedankenübertragungen und
Somnambulismus, sondern Entfernung beweglicher Gegenstände von
ihrem Standort, Krankheiten (aller Art) und Lebensberaubung ge-
wirkt werden können (S. Natw. u. Okkultism. S. 11 flf).
Dr. F. Wollny.
Herr Chr. D. Pflaum (Tivoli bei Rom) verzichtet, wie er uns mitteilt,
auf Beantwortung obiger Entgegnung. Die Redaktion.
Selbstanzelgre.
Ewald, Oscar: Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen, die
ewige Wiederkunft des Gleichen und der Sinn des Über-
menschen. Berlin 1903. Ernst Hof mann & Co.
Die Schrift, deren Untertitel die leitenden Momente der Disposi-
tion und den inneren Plan der Ausführung enthüllt, will nicht un-
mittelbar gedanklich, vielmehr zunächst methodisch über Nietzsche
hinausgehen, indem sie seine Grundkategorien, den Übermenschen
und die ewige Wiederkunft des Gleichen, aus ihrem von ihm ge-
schaffenen Zusammenhang ablöst und einer selbständigen Analyse
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EWALD: NIETZSCHES LEHRE IN IHREN USW.
227
unterzieht. Diese Analyse befasst sich zunächst mit beiden, als
realistisch gedachten Werten, mit dem Obermenschen als einem
Problem des Evolutionismus, mit der ewigen Wiederkunft als einem
Problem der Kosmologie. Da ergibt sich indessen gleich an der
Schwelle der Betrachtung ein verhängnisvoller Widerspruch: die Er-
wägung, dass alles Geschehen sich in einer Kreislinie bewegt, zeigt,
dass jedwede Entwicklung, also auch die zum Übermenschen, im letzten
Grunde fruchtlos ist, da der Fluss der Zeit wiederum zu den in ihm
überwundenen Stadien zurückkehrt. Der trostlose Pessimismus dieses
Aspektes wird aber durch die weitere Analyse gehoben, in der jene
realistische Deutung ad absurdum geführt wird. Die ewige Wieder-
kunft lässt sich kosmologisch nicht demonstrieren, und es kommt ihr
somit keine gegenständliche Bedeutung zu. Wohl aber besitzt sie
den Charakter eines ethischen Symbols. „Handle so, als ob jeder
Augenblick in sich die Gewähr der Ewigkeit in sich trüge, auf dass
das Bewusstsein der Verantwortlichkeit in dir die höchste Spannung
erreiche/ Analog steht es mit dem Übermenschen. Er verhält sich
zum Menschen nicht wie sich der Mensch zum Afien verhält, als ein
Ausserhalb, ein absolut Fremdes, zu dem die physiologische Ent-
wicklung mit Naturnotwendigkeit, nicht die psychologische nach Ge-
setzen innerer Freiheit führt. Der Übermensch ist im tiefem Sinn
überhaupt kein evolutionistisches Problem. Er repräsentiert ein
dem Menschen innewohnendes Ideal, eine permanente Möglichkeit
in ihm. „Handle so, als ob du den Übermenschen in dir reali-
sieren wolltest.* Nach dieser symbolistischen Auslegung schwindet
der logische Widerspruch zwischen beiden Ideen. Sie beide steuern
•einem ethischen Pol gesteigerter Verantwortlichkeit entgegen. Diese
Erörterungen werden im zweiten Teil, der von der Psychologie des
Übermenschen handelt, weitergesponnen. Es wird hier unter dem
Aspekt des Wertbewusstseins eine charakterologische Scheidung vor-
genommen zwischen elementaren Naturen, deren Realität sich in die
Gegenwart zusammendrängt, und historischen Naturen, deren Realität
Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfasst und sie zur Einheit
fügt, weil sie in sich selber die übergreifende Einheit einer wert-
erfüllten Persönlichkeit tragen. Exkurse über das Zeitproblem, die
Probleme der Unsterblichkeit und der Kultur, werden in den Gang
der Untersuchung verwoben. Die Gegenüberstellung der elementaren
und historischen Charaktere dient zugleich dazu, die Widersprüche in
Nietzsche und seiner Lehre aufzuklären.
15*
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228 NOTIZEN. NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN.
Notizen.
Prelsaulgabe der „Kantgesellschaft«*. Kants Begriff der Erkennt-
nis, verglichen mit dem des Aristoteles. Bestimmungen: i. Ablieferungs-
frist: I. Oktober 1906. 2. Die Arbeiten sind, als „Preisaufgabe der Kant-
gesellschaft'' bezeichnet, einzusenden an das „Kuratorium der Universität
Halle''. 3. Die Verkündigung der Preiserteilung findet statt am 22. April (Kants
Geburtstag) des Jahres 1907 in der Generalversammlung der „ Kantgesellschaft "
in Halle. 4. Die gekrönte Arbeit erhält den Preis von 500 Mk. Wenn es
die im Jahre 1907 verfügbaren Mittel der „ Kantgesellschaft " gestatten, kann
der Preis von 500 Mk. eventuell erhöht werden; auch kann dann eventuell
ein zweiter und dritter Preis gewährt werden. 5. Jede Arbeit ist mit einem
Motto zu versehen. Der Name des Verfassers ist in geschlossenem
Kuvert beizufügen, das mit dem gleichen Motto zu überschreiben ist. 6. Jeder
Arbeit ist ein genaues Verzeichnis der benutzten Literatur, sowie eine
detaillierte Inhaltsangabe beizufügen. 7. Nur deutlich geschriebene Manuskripte
werden berücksichtigt Es empfiehlt sich Herstellung des Manuskripts durch
Kopisten oder durch Schreibmaschine. 8. Die Arbeiten können in deutscher,
englischer, französischer oder italienischer Sprache abgefasst sein. 9. Als
Preisrichter fungieren: Geheimer Rat Professor Dr. Max Heinze in Leipzig,
Hofrat Professor Dr. Alois Riehl und Professor Dr. Hans Vaihinger
in Halle. 10. Die Redaktion der „Kantstudien " ist berechtigt, aber nicht ver-
pflichtet, preisgekrönte Arbeiten in ihrer Zeitschrift zu dem bei derselben
üblichen Honorar abzudrucken. — Bewerber um den Preis brauchen nicht
Mitglieder der Gesellschaft zu sein.
Halle a. S., den 22. Februar 1905.
Der Gesch<sfülirer der „Kantgesellschaft«'.
Professor Dr. H. Vaihinger.
NB. Der Preis ist jetzt auf 600 Mk. erhöht und ein zweiter Preis von
400 Mk. ausgeworfen worden.
Gestorben: In Königsberg i. Pr. der verdiente Kantforscher Dr. Emil
Arnoldt.
NB. Mitteilungen, Personalien betrefiend, werden von der Redaktion
jederzeit gern entgegengenommen. Der Herausgeber.
Neu elngregrangrene Schriften.
(Eine ausftlhrliche Besprechung der nachstehend aufgeführten Bücher und
Schriften bleibt ausdrücklich vorbehalten!)
Adamkiewicz, Albert, Die wahren Zentren der Bewegung und der Akt
des Willens. 55 Seiten. Wien und Leipzig 1905. Wilhefii Braumüller.
I K. 40 h. -» I .X^ 20 (^.
Adickes, Erich, Charakter und Weltanschauung. Akademische Antrittsrede
5 ehalten am 12. Januar 1905. 46 Seiten. Tübingen und Leipzig 1905.
. C. B. M<Ar (Paul Siebeckj. 90 ^.
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NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN 229
Atti del Congresso intemazionale di Scienze Storiche. (Rom i. — 9. April 1903-)
Volume äI. Storia della Filosofia. — Storia dclle Religioni. XVl u. 266 S.
Rom 1904. Ermanno Loescher & Co., 307 Corso Umberto I. 6 Frcs.
AvENARius, Richard, Der menschliche WeltbegrifF. 2. nach dem Tode
des Verfassers herausgegebene Auflage. XXI V u. 133 S. Leipzig 1905.
O. R. Reisland. 5 Jt.
Bastian, Adolf, Die Lehre vom Denken. Zur Ergänzung der natur-
wissenschaftlichen Psychologie in Anwendung auf die Geisteswissen-
schaften, in. Teil. 303 S. Berlin 1905. Ferd. Dümmlers Verlagsbuch-
handlung. 5 Ji.
Beilage, Wissenschaftliche, zum 17. Jahresbericht (1904) der Philo-
sophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien. (E. Müller, Ober
mehrdimentionale Räume. — Exner, Ober den zentralen Sehakt. —
Goldscheid, Ober die Notwendigkeit willenstheoretischer Betrachtungs-
weise neben der erkenntnistheoretischen. — Eisler, Der Wille zum
Schmerz.) 79 S. Leipzig 1904. Verlag der Philosophischen Gesellschaft
an der Universität Wien. In Kommission bei Joh. Ambr. Barth, Leipzig. 2 J$.
Bertels, Dr. Kurt, Die Denkmittel der Physik. Eine Studie. 71 Seiten.
Berlin 1905. Mayer & Müller. 1 Ji 60 ^.
BoDRERO, Emilio, II Priucipio fondamentale del Sistema di Empedocle.
Studio preceduto da un Saggio Bibliografico e dalla traduzione dei fram-
menti Empedoclei. 173 S. Kom 1905. Ermanno Loescher & Co.
Calkins, Mary Whiton, The Metaphysical System of Hobbes. As
contained in twelve chapters from his 'Elements of Philosophy Conceming
Body* and in briefer extracts from his *Human Nature' and *Leviathan\
(Rehj;ion of Science Library No. 57.) Chicago 1905. The Open Court
Pubhshing Company. 40 cents. (2 sh. 6 d.)
— Locke's Essay conceming Human Understanding. Books II and IV (with
omissions, ebenda No. 58). Chicago 1905. Tne Open Curt Publishing
Company. 50 cents. (2 sh. 6 d.)
Descartes' philosophische Werke. I. Abt. Abhandlung über die Methode.
Neu übersetzt und mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von
Dr. Artur Buchenau. (Philosophische Bibliothek, Bd. a6.) 70 Seiten.
Leipzig 1905. Dfirr'sche Buchhandlung. 60 4.
Friedrich, Dr. Ernst, Lehre von den Urteilsformen in Prima. (S.-A. aus:
Päd. Archiv, Bd. XLXII 1905, Heft 2, S. 65—83, Heft 3, S. 129—135.)
— Anschein und Wirklichkeit. Ein Scherflein zur Lehre von den Urteils-
formen. (S.-A. aus: Zeitschr. f. Phil. u. Päd.) 6 S.
FroEHLicH, Jos. Ans., Der Wille zur höheren Einheit. VIII u. 168 Seiten.
Heidelberg 1905. Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 4 ^ 40 <).
Garbe, Richard, Die Bhagavadgltä, aus dem Sanskrit fibersetzt, mit einer
Einleitung über ihre ursprüngfiche Gestalt, ihre Lehren und ihr Alter.
158 S. 8^. Leipzig 1905. H. Haessel Verlag. 4 Jt,
Gebert, Dr. Karl. Katholischer Glaube und die Entwicklung des Geistes-
lebens. öfTentlicher Vortrag gehalten in der Krausgesellschaft in München
am 10. Januar 1905. VI u. 82 S. München 1905. Verlag der Kraus-
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(Die „Neue Weltanschauung**, Beiträge zu ihrer Geschichte und Vollendung
in zwanglosen Einzelschnften. Bd. III.) XIV u. 244 S. Berlin 1905.
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Protest. 104 S. Gotha 1905. E. F. Thienemann. 2 ^ 40 ^.
Gordon, Kate, Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke
(S.-A. aus: Archiv f. d. ges. Psychologie, IV. Bd., 4. Heft, Leipzig 1905,
Engelmann, S. 437—458.)
KOlpe, O., Bemerkungen zu obiger Abhandl. ebendas. S. 459—464.
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exper. Psychologie in Giessen 1904. IV. Verstandstätigkeit. S. 56—70.
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230 ^^U EINGEGANGENE SCHRIFTEN,
Groos, Karl, Die Anfänge der Kunst und die Theorie Darwins. Ein Vor-
trag. 16 S. Giessen. (S.-A. aus den .Hessischen Blattern für Volks-
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March 9, Oxford 1905. 30 S. Clarendon Press. 2 sh.
Jahrbüchlein, Sechstes, der Gustav Glogau-Gesellschaft. 58 S. Herbst
1904. Geschäftsstelle: Pastor La Roche in Golzow (Kr. zauch-Belzig).
40 ^ (auch gratis verschickt bis zum Erscheinen des nächsten Jahrbüchleins).
Keller. Dr. Ludwig, Schillers Stellung in der Entwicklungsgeschichte des
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Gesellschaft. 13. Jahrgang. 3. Stück.) Berlin 1905. Weidmannsche Buch-
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Krauss, Dr. S., Theodule Ribots Psychologie. Erster Teil. XVI u. 170 S.
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Kr OH AN, K. Prof., Ethik. I. Die allgemeine Ethik. Ins Deutsche übersetzt
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Kronenberg, Dr., Ethische Präludien. VI u. 322 S. München 1905.
C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung, brosch. 5 Ji^ geb. 6 Jt.
Kronthal, Dr. P., Metaphysik in der Psychiatrie. 92 S. Jena 1905. Gustav
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MöBius, P. T., Ausgewählte Werke. Band VI. Im Grenzlande. Aufsätze
über Sachen des Glaubens. 228 S. Leipzig 1905. Joh. Ambr. Barth,
brosch. 3 J$j ^eb. 4 ^ 50 4.
Newest, Th.^ Die Gravitationslehre. Ein Irrtum I Einige Weltprobleme.
Populär-wissenschaftliche Abhaifdluug. 93 S. Wien 1905. Carl Konegen.
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Petersen, Dr. Julius, Willensfreiheit, Moral und Strafrecht. VIII u. 235 S.
München. J. F. Lehmanns Verlag. 5 J$.
Rehmke, Johannes, Lehrbuch der Allgemeinen Psychologie. 2. völlig um-
fearbeitete Auflage. VIII u. 547 S. Leipzig und Frankfurt a. M. 1905.
lesselrinesche Hofbuchhandlung.
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Gesch. u. Deutsche Litt, und für Pädagogik.) Leipzig 1904. Teubner.
I. Abt, Xin. Bd., 5. Heft, S. 3Ö1-369.)
SwiTALSKi, Prof. Dr. W., Die erkenntnistheoretische Bedeutung des Citats.
Ein Beitrag zur Theorie des Autoritätsbeweises. (S.-A. aus dem Ver-
zeichnis der Vorlesungen am König]. Lyceum Hosianum zu Braunsber^
am 5. 5. 1905.) 20 S. 4^ Braunsberg 1905. Heynes Buchdruckerei
(G. Kiebensahm).
Ritschl, Dr. theol. Otto, Die freie Wissenschaft und der Idealismus auf
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A. Marcus & E. Webers Verlag. 60 ^.
Türkheim, Dr. med. J., Zur Psychologie des Geistes. Tier- und Menschen-
geist. 154 S. Leipzig 1905. Verlag von C. G. Naumann.
Weber, Dr. Heinrich, Neue Hamanniana. Briefe und andere Dokumente.
IX u. 183 S. München 1905. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 10 J$.
WiHAN, R., Veritas, Organ zur Feststellung der Wahrheit in den wichtigsten
Fragen der Menschheit und zur Herstellung eines geistigen Kontaktes
aller Denker. Trautenau 1905. i. Jahrg. No. 6, 7, 8.
Valle, Guido della, La Psicogenesi della Coscienza. Saggio d'una Teoria
Generale dell' Evoluzione. XII u. 285 S. Mailand 1905. Ulrico Hoepli.
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164 S. Cambridge, University Press. 4 sh.
WoLLNY, Dr. F., Moderne Kultur. Eine philosophische Betrachtung. 37 S.
Berlin 1995. Kommissionsverlag von Leonhard Simion Nf.
Wulf, M. de, Histoire de la Philosophie M^di^vale. Deuxieme Edition, revue
et augmentöe. (Cours de Philosophie. Volume VI.) VI u. 368 Seiten.
Louvain 1905. Institut supörieur de Philosophie. Paris. F. Alcan.
Aus Zeitschriften.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung: Archiv für Geschichte der Philosophie (L. Stein).
Berlin 1905. XVIII. Band, Heft 3: Picavet, Paul Tannery, historien
de la Philosophie. — Goedeckemeyer, Einteilung der griechischen
Philosophie. — Buchenau, Zur Geschichte des Briefwechsels zwischen
Leibniz und Malebranche. — Sakmann, Voltaire als Philosoph. —
Wapler, Die geschichtlichen Grundlagen der Weltanschauung Schepaa»
hauers. — Duprat, La Psycho -Physiologie des Passions dans la
Philosophie ancienne. — Bos, La b^atitude chez Spinoza et chez Fichte.
— Jahresbericht über sämtliche Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie: v. Struve, Die polnische Philosophie der
letzten 10 Jahre. — Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie. — Eingegangene Bücher, — Zeitschriften.
II. Abteilung: Archiv für systematische Philosophie (L. Stein).
Berlin 1905. XI. Band, Heft i: Geissler, Über Notwendigkeit,
Wirklichkeit, Möglichkeit und die Grundlagen der Mathematik. — Gure-
witsch, Bewusstsein und Wirklichkeit. — Lemcke, De lege motus.
— Marenzi, Der energetische Mutualismus. — Lindsay, Thcistic
Idealism. — Jahresbericht über sftmdiche Erscheinungen auf dem Gebiete
der systematischen Philosophie. — Bos, La philosophie en France 1904.
— Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der systematischen
Philosophie. — Zeitschriften, — Eingegangene Bücher,
Jahrbuch für Philoso phieundspekulativeTheologie(E.CoMM£R).
Paderborn 1905. XIX. Band, Heft 3: Glossner, Zum Kantjubiläum.
— Josephus a Leonissa, Scotistische Theologie. — Zigon, Zur
Lehre des hl. Thomas von Wesenheit und Sein. — Demkö, Die mensch-
liche Freiheit und die Freiheit der Wissenschaft. Aus dem Ungarischen
übersetzt von Paluscsäk. -— Literarische Besprechungen.
Heft 4: Glossner, Das zweite Dezenium des Jahrbuchs. — Gredt,
Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Teile in der belebten und un-
belebten Substanz und die Wiederkehr der Elemente in der chemischen
Auflösung. — Feldner, Das , Werden* im Sinne der Scholastik. —
NorbertusdelPrado, De Concordia Molinae (Sequitur). — Literarische
Besprechungen.
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Vol. II, No. 2: James, The Thing and its Relations. — Societies:
The Fourth Meeting of the Amencan Philosophical Association. —
Notes anä News,
No. 3: Societies: The Thirteenth Annual Meeting of the American Psycho-
logical Association. — Reviews and Abstracts of Literature. —Journalsand
New Books, — Notes and News.
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232 AUS ZEITSCHRIFTEN.
No. 4: Hoff ding, A Philosophical Confession. — Gildersleeve, A
Syntactician among the Psychologists. — Discussions: Gore, Image or
Sensation. — Reviews usw.
No. 5: James, The Essence of Humanism. — Woodbridge, The
Nature of Consciousness. — Newbold, Bibliographical : Taurellus. —
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Reviews usw.
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Pierce, Inferred Conscious States and the Equality Axiom. — /?«/«>ws usw.
No. 7: Judd, Radical Empiricism and Wundt's Philosophy. — James,
How Two Minds Can Know One Thing. — Discussion: Alexander,
Phenomenalism and the Problem of Knowledge. — Reviews usw.
No. 8: Royce, Kant*s Doctrinc of the Bases of Mathematics. — Keyser,
Some Outstanding Problems for Philosophy. — Reviews usw.
Kantstudien. (Vaihinger und Bauch.) Berlin 1905. Band 10.
Heft I u. 2: Gerland, Immanuel Kant, seine geographischen und
anthropologischen Arbeiten. — Staudinger, Der Gegenstand der
Wahrnehmung. — Renner, Der Begriff der sittlichen Erfahrung. —
Klein, Hamlet und der NJielancholiker in Kants „Beobachtungen über
das Gefühl des Schönen und Erhabenen". — Bauch, Euckens philo-
sophische Aufsätze. — Ascher, Renouvier und der französische Kriti-
zismus. — von Aster, Der IV. Band der Berliner Kantausgabe. —
Vaihinger, Das Kant-JubiUum im Jahre 1904. — Jünemann, Kants
Tod, seine letzten Worte und sein Begräbnis. — Rezensionen. — Selbst-
anzeigen. — Mitteilungen,
Mind. (Stout.) London 1905. Vol. XIII. New Series. No. 54: Smith,
The Naturalism of Hume (I). — Strong, Has Mr. Moore Refuted
Idealism? — James, Humanism and Truth Once More. — Höffdins,
On Analogy and Its Philosophical Importance. — Knox, Mr. Bradley s
'Absolute Criterion'. — Doan, Phenomenalism in Ethics. — Discussions.
— Critical Notices. — New Books, — Philosophical Periodicals. — Notes.
Index to Mind. London 1904. Vol. I — XII. New Series. No. i — 48.
The Monist (Carus). Chicago 1905. Vol. XV, No. 2: Peirce,
What Pragmatism is. — Taft, The ceptacle Hypothcsis. — God-
bey, The Place of the Code of Hammurabi. -— Gore, A Scientific
View of Consciousness. — King, The Pragmatic Interpretation of the
Christian Dogma. — Arr^at, On the Notion of Order m the Universc.
— Editor, Chinese Script and Thought. — Criticisms and Discussions.
— Book Reviews.
Philosophisches Jahrbuch (Gutberlet). Fulda 1905. XVIII. Band,
Heft 2: Dyroff, Das Ich und die Empfindung, Vorstellung und Be-
wusstseinslage. — Gutberiet, Die Lange-Ribotsche Gefühlstheorie. —
Seh midiin. Die Philosophie Ottos von Freising. — Rezensionen und
Referate, — Zeitschriftenscnau, — Novitätenschau. — Miszellen und Nach-
richten. — Prtisaufgabe der Kantgesellschaft.
The Philosophical Review (Creighton, Albee, Seth). Lancaster,
Pa. 1905. Vol. XIV, 3: Taylor, Truth and Practice. — Erdmann,
The Content and Validity of the Causal Law. II. — Overstreet,
Conceptual Completeness and Abstract Truth. — Moore, Pragmatism
and its Critics. — Reviews of Books. — Notices of New Books. —
Summaries of Articles. — Notes.
Przeglad Filozoficzny. Warschau 1905. Bd. VIII, Heft i: Szumowski,
Descartes et Malebranche comme pröcurseurs de la th^orie des ömotions
de Charles Lange. — Revue critique. — Sommaire ideologique des ouvrages
de Philosophie polonaise.
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AUS ZEITSCHRIFTEN,
233
Heft 2: Wartenberg, L'argumentation Kantienne contre rid^alisme. —
Wasserberg, Quelques observations sur le criticisme de Kant. —
Lewkowicz, La doctrine de Kant concernant Dieu.
Revue de Mdtaphysique et de Morale (X. Leon). Paris 1905.
13*. annöe, No. 2: Prudhomme, D6finitions fondamentales (Voca-
bulaire logiquement ordonne des idöes les plus gdn^rales et les plus
abstraitesf). — Le Roy. Sur la logique de finvention. — Couturat,
Les principes des matn^matiques. — Etuäes critiques: Delacroix,
Myers: La iheorie du subliminal. — Discussions: Delsol, Une nouvelle
tentative de r^futation de la geom^trie g6n6rale. — Livres nouveaux. —
Theses de dociorat
Revue Neo-Scolastique (Mercier). Louvain 1905. XII. No. i:
Noel, Le principe du d^terminisme. — Van Roey, La monnaie d'apr6s
Saint Thomas d'Aquin: Sa nature, ses fonctions, sa productivit^ dans
les contrats qui s'y rapportent — - Guyot, La g6n6ration de rintelligence
par rUn chez Plotin. — Nys, Discussion sur certaines th^ories cos-
mologiques. — Milangts et Vocuments: Janssens, L'utilisation du posi-
tivisme. Neurologie. — Bulletins bibliographiques: de Wulf , Les r^centes
publications sur Thistoire du moyen äge (suite). — Comptes Rendus. —
Ouvrages epwoye's ä la Redaction.
Revue de Philosophie (Peillaube). Paris 1905. 5* ann^e. No. 2:
Vailati: Le röle des paradoxes dans la philosophie. — Moisant: La
pens6e philosophique et la pens6e mathematique (2« article). — Baltus:
Expose critique de principales objections 6lev^es contre la thöorie du
neurone. — VuUiaud: R6flexions critiques sur Ballanche et le Bai-
lanchisme. — Disaission: Moisant: A propos de Tatmosph^re möta-
physique des sciences. — R^ponse de M. Vignon. — Analyses et Comptes
rendus. — Periodiques, — L'Enseignement pfiilosophique. — Fiches biolio-
graphiques.
No. 3: Naville, AUocution au con^r^s de philosophie de Gen^ve. —
Kozlowski, Wronski et Lamennais. — Billia, L'unit6 de la philo-
sophie et la theorie de la connaissance. — Duhem, La th^orie ph^rsique.
— X. La theorie physique et Texpdrience. — Boucaud, La Crise du
droit naturel. — Analyses et Comptes rendus. — Periodiques usw.
No. 4 : B o u t r o u X , La vie et les oeu vres de L6on OUe-Laprune. — D u h e m ,
La theorie physique. — XL Cons^quences relatives ä Venseignement de
la physique. — Niceforo, Influences ^conomiques sur les variations
de la taille humaine. — Revue generale: Vase hi de, Les recherches
expörimentales sur la fatigue intellectuelle. — Analyses et Comptes rendus.
— Uettseignement philosophique usw.
No. 5: Moisant, Dieu dans la philosophie de M. Bergson. — Duhem,
La theorie physiaue. — XII. Le choix des hypothfeses. — Peillaube,
L'imagination. IIl. Les images motrices. — Attalyses et Comptes rendus.
Periodiques usw.
Revue philosophique de la France et de l'Etranger (Ribot).
Paris 1905. XXX. Bd. No 3: Kozlowski, La r6gularite univer-
selle du devenir et les lois de la nature. — Riebet, La paix et la guerre
(2c et dernier article). — Palante, Amiti^ et sociaUt6. — Paulhan,
La beaut^ rationnelle, d'apres M. P. Souriau. — Analyses et comptes
rendus. — Revue de periodiques etrangers. — Livres nouveaux.
No. 4: Naville, La primaut6 logique des jugements conditionnels. —
Martin: L' Institution sociale (i«r article). — Champeaux, Essai de
sociologie microbienne et cellulaire. — P6rfes, Reahsme et idöalisme
dans l'art. — Mannequin, Les philosophies mddievales d'apres M.Picavet.
— Analyses et comptes rendus usw.
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234 ^^5 ZEITSCHRIFTEN.
No. 5: Paulhan, La moralitö indirecte de Tart. -— Maldidier, Les
j^r^ducteurs antagonistes" de Taine. — Martin: L'institution sociale
(2© et dernier article). — Segond, Quelques publications röcentes sur
la morale. — Anaiyses et comptes rendus etc.
Rivista Filosofica (Cantoni). Pavia 1905. Anno VII. Volume VIII.
Fase. 2: Piazzi, Ijproblemi fondamentali della didattica specialmente
alla scuola media. — Calö, Intorno al progresso odierno del rragmatismo
e ad una nuova forma di esso. — della Valle, La teoria deU' anima-
armonia di Aristosseno e l'epifenomenismo contemporaneo. — Rassegna
Bihliografica. — Notizie e Ptibblkamoni. — Ntcrologio (Augusto Conti).
Somman delle reviste straniere. — Libri ricevuti,
Rivista di Filosofia e Science Affini (Marchesini). Padua 1905.
Anno VII, Vol. I, No. i — 2: Ardigö, La perennita del positivismo.
— Ranzoli, Realismo positivistico e realismo critico. — Falchi, La
concezione positiva del diritto. — Marucci, Introduzione alla psicolo^a
deir atto volitivo. — Colozza e Marchesini, Una forma di ^^Gaspil-
lage'' scolastico. — Mondolfo, Per una filosofia naturale. — Rassegna di
filosofia scientifica: Enrico Morselli. — Rassegna bibliografica, — Rassegna
di pedagogia: Luigi Credaro. — Amalisi e cenni. — Notime Sotnmari
di Riviste. — Sotnmari dei fascicoli deW annata J904 (in copertina),
Rivista di Psicologia applicata alla Pedagogia ed alla Psico-
patologia (Ferrari). Bologna 1905. Anno III, No. 3: Ferrari,
Credo quia absurdum. — Papini, A^ire senza sentire e sentire senza
agire. — Vashide e Meunier, Dei caratteri essenziali dell' imagine
onirica. — Morpurgo, Psicologia e psicopatologia degli Ebrei. — N ey ro z ,
Epilessia emotiva. — Note e Viscussiont. — ßiblio£^rafie e Recensioni. —
Rassegna pedagogica. — Indice bibliografico. — Isotieie.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Soziologie (Barth). Leipzig 1905. XXIX. Jahrgang. Heft i:
Wolf f, Atomistik und Energetik vom Standpunkte ökonomischer Nator-
betrachtung. — Planck, Die Grundlagen des natürlichen Monismus bei
Karl Christian Planck. — Stosch, Die Gliederung der Gesellschaft bei
Schleiermacher. — Besprechungen. — Philosophische Zeitschriften. —
Bibliographie.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und
Hygiene (Kemsies und Hirschlaff). Berlin 1904. VI. Jahr-
gang, Heft 3/4: Lobsien, Über Psychologie der Aussage. — Bier-
wass, Arbeit im Knabenhort für Schwachbegabte. — Lowinsky,
Neuere amerikanische Arbeiten auf dem Gebiete der Kinderpsycho-
logie. II. — Sitzungsberichte. — Berichte und Besprechungen. — Mitteilungen.
Bibliotheca-pädO'psychologica.
Heft 5: Lutz, Die Mannheimer Sonderklassen nach Entstehung, Ein-
richtung und Erfolgen. — Wein rieh, Kindheitseindrücke. — Moll,
Mitteilung über den „klugen Hans''. — Sitzungsberichte. — Berichte und
Besprechungen. — Mitteilungen usw.
Heft 6: Zimmer, Die Geschichte der Pädagogik im Jahre 1904. —
Moll, Weitere Mitteilung über den ,,klugen Hans**. — Sitzungsberichte.
— Berichte und Besprechungen. — Mitteilungen usw.
Berlin 1905. VIL Jahrgang. Hefti: Hirschlaff, Der Schimpanse
Konsul; ein Beitrag zur vergleichenden Psychologie. — Lobsien,
-Experimentier-Pädagogik*'. Wendtlandt, Das Kinderzimmer. —
Medicus, Zur Frage des Ziehkinderwesens. ~ Sitzungsberichte. —
Berichte und Besprechungen. — Mitteilungen usw.
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AUS ZEITSCHRIFTEN. 235
Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik (Flügel und Rein).
Langensalza 1905. XII. Jahrgang, Heft 4: Lobsin: Kind und Kunst
(Schluss). — Baensch, H. St. Chamberlains Vorstellungen über die
Religion der Semiten spez. der Israeliten (Schluss). — Thrändorf,
Schulmonopol und Religionsunterricht. — Pfannstiehl, Leitsätze für
den biologischen Unterricht. — Mitteilungen. — Besprechungen und
Fackpresse.
Zeitschrift für Psychologie undPhysiologie derSinnesorgane
(Ebbinghaus und Nagel). Leipzig 1905. Band XXXVII, Heft 3 u. 4:
Ephrussi, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Gedächtnis (Schluss).
— An gier, Vergleichende Messung der kompensatorischen Rollungen
beider Aueen. — Reim an n, Die scheinbare Vergrösserung der Sonne
und des Mondes am Horizont. — Literatur berickt.
Heft 5: Alexander undBäräny, Psychophysiologische Untersuchungen
über die Bedeutung des Statolithenapparates für die Orientierung im
Räume an Normalen und Taubstummen. — Hammer. Zur experimen-
tellen Kritik der Theorie der Aufmerksamkeitsscnwankungen. —
Literaturbericht.
Heft 6: An gier, Vergleichende Bestimmungen der Peripherie werte des
trichromaüschen und des deuteranopischen Auges. — Alexander und
Bäräny, Psychophysiologische Untersuchungen über die Bedeutung
des Statolithenapparates für die Orientierung im Räume an Normalen
und Taubstummen (Schluss). — Literatur beru:ht.
Band XXXVIII. Heft i: Schäfer und Mahner, Vergleichende
psycho-physiologische Versuche an taubstummen, blinden und normalen
Rindern. — Alexander, Zur Frage der phylogenetischen, vikariieren-
den Ausbildung der Sinnesorgane. — Bäräny, Experimenteller Beitrag
zur Psychologie des Urteils. — LitercUurbericht,
Heft 2/3 : S z i 1 y , Be wegunj^snachbüd und Bewegungskontrast. — Piper,
Beobachtungen an einem Fall von totaler Farbenbhndheit des Netzhaut-
zentrums im einen und von ViolettblLndheit des anderen Auges. —
Zwaardemaker, Riechend schmecken. — Nagel, Bemerkungen zu
der vorstehenden Arbeit von Zwaardemaker: ,,Riechend schmecken*.
— Literaturbericht.
Glauben und Wissen. Blätter zur Verteidigung und Vertiefung
des christlichen Weltbildes. (Dennert.) Stuttgart 1905. III. Jahr-
gang. Heft 1—3. Philosophisches: Dennert. Gott ist Geist —
Kuhaupt, Ist das Weltall unendlich? — Froehlich, Zweckmässigkeit,
Selbstzweck und Endzweck im Lichte der Entwickelungslehre. —
Dennert, Die SteUung des Menschen im Weltall.
The Hibb er t Journal. (L. P. Jacks und G. Dawes Hicks.) London
and Oxford 1904. Vol. III, No. 3. Philosophisches: Jones,
Mr. Balfour as Sophist. — Mallock, The crux of Theism. — Sorley,
The Knowledge of Good. — Discussians. — Reviews, — Bibliograpky
of recent Literature.
Leonardo (Rivista d'Idee). Anno III. (Seconda Serie.) Florenz
1905. Febbraio. Philosophisches: Vailati, 1 Tropi della Logica. —
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236 AUS ZEITSCHRIFTEN,
Falco, Athena e Faust (Saggio di una metafisica delle metafisiche). —
Calderoni, Variazioni sul rrammatismo. — Schermaglie. — Alleati e
Nemici. — Trucioli,
Aprile: Falco, Avvertimenti agli Psicologi. — La Psicologia in Italia. —
Schiller, The definition of pragmatism. — The Florence Prag-
matist Club, II Pragmatismo messo in ordine. — Giuliano il Sofista,
II mio Pragmatismo. — Vailati, La Caccia Alle' Antitesi. — Scher-
maglie usw.
Neue Metaphysische Rundschau. (Zillmann.) Gross-Lichter-
felde 1905. Philosophisches: Bück, Mystische Maurerei (Schluss).
— von Lessei, Die metaphysische Grundlage von Richard Wagners
„Ring der Nibelungen* (Forts.: Kap. V: Über die Götterwclt). — Rund-
schau. — Literatur.
Die Dorfschule. Halbmonatsschrift ausschliesslich für die Interessen
der Landschule und ihrer Lehrer. (Melinat.) Langensalza 1905.
I. Jahrgang. No. i — 4. Philosophisches und Pädagogisches:
Heft i: Bernheim, Zur Einleitung. — Manch, Geben und Nehmen
in der Erziehung. — Heft 2: Pauls en, Dorf und Dorfschule als Bildungs-
stätte. — Heft 5: Kinkel, Dem Gedächtnis Friedrich Schillers. — Cohn,
Schillers Ideahsmus. — Heft 4: Günther, Die Geographie in E. v.
Rochows Volksschule.
Allgemeines Literaturblatt. (Schnürer.) Wien 1905. XIV. Jahr-
gang, No. 2—7.
Wochenschrift für klassische Philologie. (Andresen, Draheim,
Härder.) Berlin 1905. XX. Jahrgang, No. 5 — 17.
Besprechungsexemplare für die ,^it8chrift für Philosophie und philoso-
phische Kritik** sind nicht an den Herausgeber, sondern ausschliesslich an
R. Volgtländer« Verlag in Leipzig zu senden.
Herausgeber und Verlag übernehmen keine Garantie bezüglich der Rück-
sendung unverlangt eingereichter Manuskripte und Drucksachen!
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalte dieser Zeitschrift ist verboten.
Übersetzungsrecht vorbehalten!
Verantwortlicher Herausgeber Professor Dr. L. Busse in MQnster i. W.
Eigentum von R. VoigtlAnder^ Verlag in Leipzig. — Druck von Radelli A Hille in Leipzig.
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i
ZEITSCHRIFT
FOR
PHILOSOPHIE
UND
PHILOSOPHISCHE KRITIK
VORMALS
nCHTE-ULRICISCHE ZEITSCHRIFT
IM VEREIN MIT
DR. H. SIEBECK DR J. VOLKELT
PROFESSOR IN GIESSEN PROFESSOR IN LEIPZIG
UND
DR. R. FALCKENBERO
PROFESSOR IN ERLANGEN
HERAUSGEGEBEN UND REDIGIERT
VON
DR. LUDWIG BUSSE
PROFESSOR IN KONSTER I. W.
BAND 127
LEIPZIG 1906
R. VOIGTLANDERS VERLAG
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TTfmwri
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Inhalt
Seite
Über musikalische EinfOhlung. Von H. Siebeck i
Zur Begründung des Theismus. Von KarlAndresen i8
Das Raumproblem. Eine unparteiische Kritik der Metageometrie. Von
W. Pailler 34
Bericht über die italienische philosophische Literatur der Jahre 1903
und 1904. Von Chr. D. Pflaum . . . • 43
Rejge9tsi(m€H:
Schuppe: Der Zusammenhang von Leib und Seele (Das Grundpro-
blem der Psychologie). Von Dürr 67
Adamkiewicz: Die Grosshimrinde als Organ der Seele. Von
demselben 69
A. Kowalewski: Studien zur Psychologie des Pessimismus. Von
demselben 72
Hans Vaihinger: Nietzsche als Philosoph. Von O. Ritschl . . 79
Richard Loening: Geschichte der s traf rech dichen Zurechnungs-
lehre. I. Bd.: Zurechnungslehre des Aristoteles. Von Hans
Reichel 80
Dr. Jur. Frhr. Alex. Hold v. Ferneck '(Wien); Die Rechts-
widrigkeit. Eine Untersuchung zu den allgemeinen Lehren des
Strafrechts. Bd. I.: Der Begriff der Rechtswidrigkeit. Von dem-
selben 81
Hans Cornelius: Einleitung in die Philosophie. Von I. Halpern 82
Benno Erdmann: Ober Inhalt und Geltung des Kausalgesetzes. Von
Else Wentscher 90
O. BüTscHLi: Mechanismus und Vitalismus. Von Arnold Kowa-
lewski 92
August Forel: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und
anderer Insekten; mit einem Anhang Ober die Eigentümlichkeiten
des Geruchsinnes bei jenen Tieren. Von demselben 93
August Forel: Ober die Zurechnungsffihigkeit des normalen Men-
schen. Von demselben 94
Marcel Foucault: La psychophysique. Von demselben ... 95
Dr. Eduard Martinak: Psychologische Untersuchungen zur Be-
deutungslehre. Von demselben 98
D. Adolf Müller: Scheinchristentum und Haeckels Welträtsel.
Ein Vergleich. Von demselben 99
MaxDessoir und Paul Menzer: Philosophisches Lesebuch. Von
A. Messer 99
A. Gille: Philosophisches Lesebuch in systematischer Anordnung
Von demselben 99
Fritz Mauthner: Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Drei
Bände. Von Wilhelm Uhl 102
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Seite
SelbstoMzeige. Dr. Heinrich Pudor: Neues Leben 105
Nachtrag 106
NoHsen 106
Neu eingegangene Schriften 107
Aus Zeitschriften 109
Die Willensfreiheit. Von G. Noth 113
Beitrage zur Textkritik der Kr. d. r. V. Von Ludwig Goldschmidt 136
H. Taincs Philosophie der Kunst. Von Dr. Th. Lindemann .... 144
Bericht über die Erscheinungen der französischen philosophischen Lite-
ratur im Jahre 1902. von Dr. E. Dutoit 156
Ein Einbruch der Naturwissenschaften in die Geisteswissenschaften?
Eine Besprechung von A. Vierkandt 168
Das Raumproblem. Von W. Pailler 177
Rezensionen:
PaulNatorp: Philosophische Propädeutik. Von HermannSchwarz 180
Walter Kinkel: Joh. Fr. Herbart, sein Leben und seine Philosophie.
Von demselben 181
Prof. Dr. Paul Hens EL. Hauptprobleme der Ethik. Von demselben i8a
Dr. Julius Goldstein: Die empiristische Geschichtsauffassung David
Humes mit Berücksichtigung methodologischer und erkenntnis-
theoretischer Probleme Von Heinr. Goebel 183
Dr. Ludwig Stein: Die soziale Frage im Lichte der Philosophie.
Von demselben 185
Dr. phil. Arno Scheunert: Der Pantragismus als System der Welt-
anschauung und Ästhetik Friedrich Heobels. Von Dr. Strecker 188
Alfons BiLHARz: Die Lehre vom Leben. Von Chr. D. Pflaum 189
Julius Pikler: Physik des Seelenlebens mit dem Ergebnisse der
Wesensgleichheit aller BewusstseinszustAnde. Von Arnold Ko-
WALEWSKi 192
Rudolf Holzapfel: Panidea). Von demselben 193
Ernst Sänger: Kants Lehre vom Glauben. Von Otto Schön-
dörffer 194
S. Wernick: Zur Psychologie des ästhetischen Genusses. Von
Anna Tumarkin 196
Johann Caspar Lavater 1741— 1801: Denkschrift zur hundertsten
Wiederkehr seines Todestages. Von Heinr. Goebel 198
W Lexis: Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und Moral-
statistik. Von Hans Reichel aoo
Wilutzki: Vorgeschichte des Rechts. Von demselben .... aoi
Dr. A. Eleutheropulos: Gott, Religion. Von G. Vorbrodt . . aoi
Prof. Dr L. Weis: Kant, Naturgesetze, Natur- und Gotteserkennen,
eme Kritik der reinen Vernunft. Von demselben 203
Dr. J. Fröhlich: Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und der
Geist des Christentums. Von demselben 204
Dr. Manfred Fuhrmann: Das psychotische Moment. Von M.
IssERLiN 206
Selöstanjgeige, Dr. Oscar Ewald: Richard Avenarius als Begründer
des Empiriokritizismus 207
Notizen 209
Neu eingegangene Schriften 210
Aus Zeitschriften 214
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ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE KRITIK
K VOIGTLÄNDERB VERLAG IN LEIPZIG
Band 127. Heft 1
über musikalische Einfühlung/)
Von H. Siebeck.
I. Den subjektiven psychologischen Prozess, wodurch ein
Stück gegebene Wirklichkeit in Natur oder Kunst für uns stimmungs-
voll wird, hat man sich neuerdings gewöhnt, als „Einfühlung" zu
bezeichnen. Über das Wesen dieses Vorganges selbst existieren
freilich verschiedene Ansichten. Ich selbst will an dieser Stelle
versuchen, eine Analyse des Prozesses zu geben, wie er sich
anhand der ästhetischen Wirkung der Musik darstellt, woraus
sich dann aus naheliegenden Gründen auch Anhaltspunkte für die
Beantwortung der allgemeinen Frage zum voraus werden er-
warten lassen.
In eine Anzahl und Folge von teils gleichzeitig, teils nach-
einander gegebenen Tönen mit Melodie, Harmonie und Rhythmus
fühlen wir, wie wir sagen, mehr oder weniger bestimmte seelische
Inhalte hinein und erfahren so darin ein Stück d. h. ein Ab-
bild eigenen Gemütslebens, und zwar unbeeinflusst von den Zu-
fälligkeiten des wirklichen Lebens, daher in einer Art idealer
Reinheit sich abspielend und in der Abfolge der Zustände har-
monisch eins aus dem Andern sich entwickelnd. So wird uns
das Musikstück, (um einen von mir früher gebrauchten ästhetischen
Begriff anzuwenden), zu einem idealisierten analogon personalitatis.
Die Frage ist nun, wie dieses Ergebnis, also diese Einfühlung
eines Teiles unseres eignen Wesens in das Material der Töne
psychologisch bedingt ist. Man kann zunächst nicht sagen, dass
die Töne die Gefühle, die sie ausdrücken, selbst in uns in voller
Wirklichkeit erregen. Dies widerspricht schon der alltäglichsten
') Im Nachstehenden habe ich den Inhalt zweier Vorträge zusammen-
gearbeitet, deren einer auf dem ersten Kongress für experimentelle Psycho-
logie in Giessen im April 1904, der andere bei einer anderweitigen Veran-
lassung gehalten wurde.
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik Bd. 127 I
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//. SIEBECK
Erfahrung. Die Musik wäre eine Kunst, die wir eher fliehen als
aufsuchen würden, wenn sie die Heiterkeit, die Trauer, den Zorn,
den Schreck usw., den sie auszudrücken vermag, wirklich,
gleichviel ob zeit- oder unzeitgemäss , in uns hervorriefe. Es
wäre aber dabei auch keine ästhetische Wirkung der Musik
möglich, wenn sie den Hörer tatsächlich je nachdem zum Weinen
brächte oder in Wut versetzte u. dgl. Dass bei Naturmenschen,
Kindern, u. U. auch bei Gebildeten, solche Wirkungen wenigstens
annähernd möglich sind, ist zuzugeben^) und lässt sich auch psycho-
logisch einigermassen begreiflich machen; für das Problem der
ästhetischen Wirkung der Musik muss aber zunächst fest-
gehalten werden, dass sie mit dieser pathologischen nicht iden-
tisch ist.
Andrerseits ist aber auch die Behauptung unrichtig, derzu-
folge die Musik lediglich die dynamische Seite der Gefühls-
zustände auszudrücken vermöge, also die Zu- und Abnahme der
Intensität, das An- und Abschwellen, das Stürmen und sich Be-
ruhigen, das Drängen und Nachlassen, das Laut und Leise, nicht
aber die qualitativen Eigenheiten und Unterschiede. Die Begreiflich-
keit ihrer Hauptwirkung würde damit entfallen und es genügt,
zur Widerlegung dieser Ansicht auf die Verschiedenheit des
gefühlsmässigen Eindrucks zwischen einem Dur- und einem Moll-
Akkord hinzuweisen.
Ich halte weiter auch diejenige Ansicht nicht für ganz aus-
reichend, die sich zur Erklärung der musikalischen Wirkung auf
Ähnlichkeitsassoziation an der Hand von „Gestaltqualitäten" u. dgl.
beruft ^) Der Vorgang ist nach dieser Ansicht in der Haupt-
sache der, dass eine Tonfolge durch die Art und Abstufung
ihrer einzelnen Klänge, ihre zeidiche Sukzession, ihre Gegen-
sätze, Übergänge u. dergl. auf Grund von Ähnlichkeitsassozia-
tion die anschaulichen Vorstellungen von Gefühlszuständen
in uns weckt, die durch entsprechende Abstufungen, Unter-
schiede, Gegensätze, Übergänge von im Bewusstsein dagewe-
senen Eindrücken und deren Wirkungen charakterisiert waren.
Wenigstens scheint mir mit dem Hinweise hierauf nur ein Teil
der Ergebnisse der Toneindrücke getroffen zu werden. Der Sach-
*) Vgl. Volkelt, System der Ästhetik (Münch. 1905), I, S. 277.
^) Zu d*n hier einschlagenden Begriffen und betr. der bezüglichen
Literatur vgl. Witasek, GnindzQge der allg. Ästhetik (Lpz. 1904), S. 41 fF.
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG.
verhalt aber in ganzer Ausdehnung ist m. E. folgender: An-
schaulich reproduzierte Bilder kann die Musik, mehr oder weniger
annähernd, nur von solchen realen und benennbaren Gefühlen er-
wecken, die sich nach aussen hin (pathognomisch) am deutlichsten,
insbesondere durch organische Bewegungen kundgeben, also etwa
Freude, Begeisterung, Trauer, Schreck, auch wohl Liebe und
Abscheu, Überraschung u. dergl. Es gibt aber andrerseits auch
zahlreiche benennbare Gefühle, die die Musik, wenigstens als
reine Instrumentalmusik, überhaupt nicht in irgendwie bestimmterer
und unzweideutiger Weise wiedergeben kann, z. B. Neid, Eifer-
sucht, Ehrgefühl, Verlegenheit, Scham; sie ist nach dieser Rich-
tung hin auf das Zusammenwirken mit Wort und Handlung an-
gewiesen. Drittens aber: Die Musik kann auch Gefühle in uns
hervorrufen, wofür wir keinen Namen haben. Solche „Phan-
tasiegefühle" können hinsichtlich ihrer „Gestaltqualität" manchen
realen Gefühlen entsprechen, die wir aus innerer Erfahrung kennen,
wenn auch, ohne sie benennen zu können; sie können aber auch
Qualitäten zeigen, die so in unsrer Erinnerung überhaupt noch
nicht vorliegen, sondern sich als etwas Neues darstellen oder zum
wenigsten als noch nicht erlebte Nuancen wirklich dagewesener
Gefühlsbestimmtheiten oder als noch nicht hervorgetretene Zwischen-
stufen, Übergänge oder sonstige Modifikationen von solchen.
2. Zur Darlegung und Begründung meiner eigenen Ansicht
möchte ich nun zunächst auf folgendes hinweisen. In der Wahr-
nehmung eines sinnlichen Dinges oder Vorgangs spielen immer zwei
Momente ineinander, die Art und Weise nämlich, wie es (oder er)
mich unmittelbar in der Richtung von Lust oder Unlust an-
mutet, und ausserdem die Auffassung und Zusammen-
fassung der in ihm gegebenen Bestandteile und ihrer Ver-
hältnisse, wodurch mir das Wahrgenommene als ein bestimmt
charakterisierter Gegenstand erscheint; also ein gefühlsmäs-
siges und ein gegenständliches Moment. Beide stehen in einer
Art von Gegensatz zueinander, den man auch durch die Aus-
drücke des vorwiegend Subjektiven und Objektiven näher be-
zeichnen kann. Für gewöhnUch wird nun eines der beiden Mo-
mente vor dem andern sich zur Geltung bringen: ich komme
entweder über dem Eindruck von Lust oder Unlust nicht zur ent-
sprechenden diskursiven Erfassung des Gegenstandes, oder ich
achte infolge der genaueren Apperzeption seiner sachlichen Ver-
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H, SIEBECK,
hältnisse nicht auf die Art seiner gefühlsmässigen Betonung. Zur
ästhetischen Auffassung eines Dinges oder Vorganges gehört
nun aber, dass beide Momente wenigstens annähernd im Gleich-
gewicht sind. Man hat dann immer eine bestimmte Gestalt-
qualität in unmittelbarer Verbindung mit einer bestimmten Gefühls-
färbung. Dadurch erst ist die Möglichkeit gegeben, das Wahr-
genommene als Analogon eines Beseelten, oder wie man diesen
Tatbestand sonst bezeichnen will, aufzufassen, mit einem jetzt ge-
bräuchlichen Worte: die Möglichkeit von Einfühlung. In jeder
der verschiedenen Künste haben wir es zu tun mit einer Mehr-
heit von Wahrnehmungen oder vorstellungsmässig gegebenen In-
halten (a, b, c . . .) imd den an jedem dieser Inhalte haftenden
gefühlsmässigen Betonungen (a, )?, y . . .)• Die Gesamtwirkung
nun der letzteren gibt die aus dem betreffenden Kunstwerk, aus
dem Gemälde oder der Symphonie oder dem Drama entspringende
Stimmung, imd dieses Resultat, also die Stimmung als solche,
ist ein eigenartiger Gefühlszustand 2*, auftretend mit und zugleich
neben den a, ß, y . , , Dieses 2* als ästhetischer Faktor kann
aber, wie gesagt, nur da auftreten, wo zwischen dem gegenständ-
lichen und dem gefühlsmässigen Moment der Wahrnehmung (also
nach unserem Schema zwischen der Wirkung der a, b, c . . und
der der a, /?, y . .) eine Art Gleichgewicht erreicht ist, so dass
Inhalt und Färbung sich gegenseitig sozusagen durchdringen. Am
naheliegendsten ist dieses Gleichgewicht in der Wahrnehmung
der menschlichen Persönlichkeit als nach aussen sich kundgeben-
der sinnlicher Erscheinung, weshalb man eben berechtigt ist, wie
ich es früher getan habe^), das Objekt jedes anderweitigen Wahr-
nehmungsaktes, bei dem es sich aus irgendwelchen Ursachen,
(auf die wir hier nicht weiter einzugehen haben,) eingestellt hat,
als ein Analogon der erscheinenden Persönlichkeit zu bezeichnen.
Die Wirkung des 2 geht nun dahin, dass die durch den Gegen-
stand in uns erzeugte Stimmung ihn selbst für uns stimmungsvoll
macht. Die im synthetischen Wahrnehmungsakt liegende Auf-
fassung des Gegenständlichen als der Einheit der a, b, c . . ver-
schmilzt für das Bewusstsein mit dem einheitlichen Gesamteffekt
der a^ ß, y . ., also mit dem X Daraus ergibt sich weiter: Die
Stimmung ist nicht die Folge der Einfühlung, sondern ihre Be-
*) Das Wesen der ästhetischen Anschauung (Berl. 1875), S. 61 ff.
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG,
dingung, und die Einfühlung selbst beruht nicht eigentlich darauf,
dass wir uns in den Gegenstand, sondern darauf, dass wir den
Gegenstand sozusagen in uns hineinfühlen, d. h., dass wir mit
der Vorstellung seines Inhaltes das eben als Stimmung Bezeich-
nete in uns erleben. Vermittelst der Stimmung wird der Gegen-
stand ein Moment imsers eigenen Gefühlszustandes; er hört auf,
dieses oder jenes Ding für uns zu sein und wird ein bestimmter
Wert imsers eigenen Gefühlslebens. Sofern er nun aber doch
nicht umhin kann, den Charakter des Äussern, eines Aussendinges
zu behalten, erscheint dieses Äussere als ein Durchseeltes, imd
wird dadurch ein Symbol des Persönlichen.
Ehe ich nun auf die musikalische Stimmung im Besondem
eingehe, will ich noch drei allgemeinere Bemerkungen zum Wesen
der Stimmung anfügen.
i) Die ästhetische Stimmung selbst ist niemals identisch
mit einem der uns sonst bekannten Gefühle, den empirischen,
ausserästhetischen, alltäglichen oder wie man sie im Unterschiede
davon nennen will, wenngleich sie in der Regel in der Annäherung
an eins oder einige von diesen liegen wird. Sie ist aber immer
ein Akzedens zu jenen, kann und muss sie vorübergehend ver-
drängen und doch je nach Beschaffenheit auch wieder anklingen
lassen.
2) Das Lustbetonte in der ästhetischen Stimmung beruht
(wie ich anderwärts^) gezeigt habe), darauf, dass ein Gegenstand,
der uns in sie versetzt, uns in einem anscheinend Ungeistigen
(Naturhaften) ein unserm eigenen geistigen Wesen und Gemüt Ver-
wandtes entdecken lässt, also der Gegensatz und die Kluft zwischen
Geistigem und Materiellem sich, für den Augenblick wenigstens,
schliesst. Wir finden auch einmal im Bereich dessen, was sich
sonst uns immer erst als ein von uns zu Bezwingendes gegen-
überstellt, ein Entgegenkommendes, unserm Wesen Verwandtes.
Man kann dies die ästhetische Illusion nennen, denn in Wahr-
heit ist ja der Gegenstand geblieben, was er war; der Marmor
der Statue z. B. ist nicht wirklich durchseelt, sondern eben Stein.
Im letzten Grunde freilich beruht diese Art der Illusion selbst
auf etwas, was m. E. nicht wieder Illusion ist, nämlich auf der
metaphysischen Einheit im Wesen der Welt^).
») Ebd., S. 93f.
') Vgl. u. § 6.
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H. SIEBECK.
3) Der Gegenstand einer ästhetischen Stimmung braucht
nicht immer ein im speziellen Sinne „Schönes* zu sein; auch das
Hässliche kann ästhetische Stimmung erzeugen. In der Auffassung
des Hässlichen ist das Gefühlsmässige (die a, ß^ y . .) ausschliess-
lich oder vorwiegend unlustbetont Trotzdem ist zu behaupten,
dass, sofern nur die beiden hervorgehobenen Momente, das Ge-
fühlsmässige und das Gegenständliche, im Gleichgewicht sind,
auch die Auffassung des Hässlichen an der Hand der ästhetischen
Stimmung einen Lustwert darstellt. Man denke an den ästhe-
tischen Eindruck etwa einer Medusa oder mancher niederlän-
dischen Genrebilder oder, von modernen Beispielen, an vom
Künsüer ausdrücklich so gewollte Einzelheiten etwa in Zeichnungen
Klingers u. a.
3. Zur Erklärung der musikalischen Stimmung im Besondern
ist nun zunächst auf folgendes hinzuweisen. Die Gefühle im All-
gemeinen kennzeichnen sich als eine Art von Resonanz, welche
das Empfindungs- und Vorstellungsleben im physiologischen Ge-
biet des lebendigen Organismus findet. Ein Komplex von Emp-
findungen, Vorstellungen, Begehnmgen bedingt bestimmte Wir-
kungen im • Nervenleben und dadurch bestimmte Gefühle. Und
diese modifizieren sich in dem Masse, wie die Komponenten des
Komplexes teils qualitativ, teils quantitativ sich ändern, wenn auch
anzunehmen ist, dass nicht schon jede kleinste derartige Änderung
als solche auch gefühlsmässig bewusst wird, sondern dass auch
hier irgendwelche „Schwellenwerte" in Ansatz zu bringen sind.
Gefühle können aber andrerseits u. U. direkt, d. h. auch ohne
Vermittlung durch selbst schon im engern Sinne Psychologisches,
auf physischem Wege erregt werden, und zwar nicht bloss in
der Form von sogenannten Körper- oder Organgefühlen. Ich
brauche nur an die Wirkung der verschiedenen Arten von
Narkotika zu erinnern, bei denen die dadurch bedingten Gefühle
sich oft als spezifisch seelische Stimmungen (Heiterkeit, Behaglich-
keit, Verdriesslichkeit, Reizbarkeit u. dergl.) charakterisieren. Et-
was Ähnliches leisten nun die Töne schon durch die Art, wie sie
den Organismus als physische Einwirkungen durch das Gehör-
organ affizieren. Diese seelische Wirkung kann, wie schon zu
Anfang bemerkt, zunächst ganz oder vorwiegend pathologisch sein-
Der Naturmensch, das Kind und u. U. nicht bloss diese, werden
durch entsprechende Klänge oft ohne weiteres wirklich in Heiter-
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG,
keit, mitunter bis zum Jubeln, Hüpfen und Springen, oder in Zom-
mut versetzt oder zu Tränen gerührt u. dgl.
In Fällen wie diese ist nun das Gleichgewicht zwischen der
objektiven und subjektiven Seite des Bewusstseinsinhalts, von
dem vorhin die Rede war, nicht vorhanden; es ist aufgehoben
zugunsten des Subjektiven. Anders da, wo das geistige Leben
so viel Selbständigkeit und Rückhalt besitzt, dass die durch
Töne ausgelösten Gefühle nur „anklingen^, so dass sie zwar
auftreten, aber immer so, dass eine objektive Stellungnahme
und Aufnahme von selten des Bewusstseins wie zu einem
in einiger Entfernung sich präsentierenden Gegenstande möglich
bleibt. Dieser Sachverhalt ist die Grundlage zu dem Eigentüm-
lichen und Eigenartigen in der ästhetischen Auffassung der
Töne, also überhaupt zu ihrem spezifisch musikalischen Genüsse.
Das Gleichgewicht zwischen subjektivem und objektivem Ver-
halten bleibt dabei gewahrt. Wir erleben die Gefühle, aber als
Bilder. Im gewöhnlichen Leben nehmen uns die Gefühle, wo
sie auftreten, wirklich hin, sie werden unmittelbar zu Motiven
für Wollen und Handeln nach Massgabe der vorhandenen realen
Verhältnisse, sie sind lediglich Übergänge vom Theoretischen ins
Praktische. In der musikalischen Wirkung dagegen bleiben sie
selbst Inhalte eines gegenständlichen Auffassens und gehen nicht
über in wirkliches Wollen und Handeln, höchstens, dass sie vor-
übergehend Wünsche, Sehnsucht u. dgl. sich regen lassen. Vor-
wiegend subjektiv ist bei diesem Vorgange alles das, was von der
immittelbaren Nervenwirkung der Tonempfindungen im Einzelnen
wie im Zusammenklange zum Bewusstsein kommt, mehr nach der
Seite des Objektiven aber hegt dabei die Auffassung von Melodie
und Rhythmus in Verbindung mit der Art, wie in der Harmonie
eine Mehrheit von Tönen in imd trotz ihrer Verschmelzung sich
doch zugleich vermöge der physiologischen Einrichtung des Gehör-
sinns in gewissem Grade als gesondert und unterscheidbar zu er-
kennen gibt. Dasjenige nun, was auf Grund des Gleichgewichts
dieser beiden Momente im Reiche der Töne vermittelst der da-
durch bedingten Stimmung zur Einfühlung gelangt, ist das Bild
von Wesen, Eigenart und Wert unsrer Gefühlswelt selbst.
Ich meine das so: Wie das Gemälde uns nicht das Land und
Wasser, die Wolken und Berge, die Tiere und Menschen usw.
selbst vor Augen stellt, sondern ihre Bilder, so gibt uns auch die
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8 H, SIEBECK.
Musik nicht die Gefühle selbst, sondern ihre Bilder, diese freilich
nicht vermittelst des Auges, sondern durch das Gehör. Wir
haben nicht die Gefühle, die aus den Tönen zu uns sprechen,
sondern wir hören sie, d. h. wir verbinden mit dem Bewusst-
Seinsinhalt der gehörten Töne die anschauliche Vorstellung mehr
oder weniger bestimmter Gefühlsinhalte. Und (um es noch ein-
mal mit der früheren Wendung zu sagen) wir fühlen nicht eigent-
lich diese (die Gefühle) in die Töne hinein, sondern wir fühlen
die Töne in der Verschmelzung mit dieser unmittelbaren Gefühls-
anschauung in uns hinein: sie werden uns aus einem blossen
Hörreiz zu einem Gegenbild und damit zu einem Wert unsers
eignen Gemütslebens. ^) Inwiefern und in welcher Weise dies der
Fall ist, lässt sich psychologisch noch näher ausführen. Töne (im
Unterschiede von blossen Geräuschen), haben die eigenartige
Wirkung, dass ihre elementar -sinnliche Gefühlsbetonung in der
Richtung von Lust oder Unlust, von Excitation oder Depression,
sich vielfach als ein hörbares, also anschaulich vorstellungs-
mässiges Gegenbild komplizierterer geistiger Gefühle darstellt,
wie sie in ganzer WirkUchkeit erst aus bestimmten Eindrücken,
Ereignissen und Erfahrungen des realen Lebens sich ergeben.
Durch Töne kann man Gefühle bildlich sichtbar oder wenigstens
hörbar machen. Die Grundlage dazu liefert natürlich, wie bei
aller bildlichen Veranschaulichung, die Reproduktion, und zwar
hier die durch Ähnlichkeitsassoziation anhand der Gestalt-
qualität. Aber diese leistet nicht alles. Die Reproduktion eines
Gefühlsinhaltes als solchen ist an sich bekanntlich schattenhaft im
Vergleich mit den Erinnerungsinhalten von objektiven Wahr-
nehmungen. Reproduzieren können wir Gefühle eben auch nur
in der Form der Vorstellung, also nicht mit der ursprünglichen
Betonung; es fehlt sozusagen die Farbe. Die Musik aber ist im-
stande, Gefühlsreproduktionen zugleich mit der entsprechenden
Farbe in uns lebendig zu machen. Das zur Harmonie (bzw. Dis-
harmonie) Gehörige gibt den Untergrund der Anmutung im Sinne
von Lust oder Unlust; Rhythmus und Melodie auf diesem Grunde
die speziellere Zeichnung des betreffenden Gefühles. Sie ver-
mögen dies zu einem Teile dadurch, dass sie an die Art der Aus-
^) „Ich finde so in den Tönen Leidenschaft und Stille, Sehnsucht und
Friede, Jubel und Klage, ernstes Wollen und fröhliches Spiel, Kampf und
Versöhnung* (Th. Lipps, Grundlegung der Ästhetik, Lpz. 1903, S. 481).
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG,
drucksbewegungen erinnern, die mit jenem verbunden ist. Noch
wesentlicher ist dabei m. E. der Umstand, dass die drei Momente
der Harmonie (mit Einschluss der Klangfarbe), des Rhythmus imd
der Melodie in ihrem Zusammenwirken es fertig bringen, eine
Art hörbares Abbild der Modifikation des Lebens- oder Gemein-
gefühls zu geben, als welche ein bestimmtes Spezialgefühl, wenn
es in Wirklichkeit auftritt, sich darstellt. Man wird diese Be-
hauptung einleuchtend finden, wenn man folgendes erwägt. Es
ist eine Tatsache, dass bestimmte Gefühlslagen und Änderungen
der Gefühlslage oft unwillkürlich, besonders bei Kindern und
Naturmenschen in eine Art mehr oder weniger primitiven Gesang
ausbrechen, wobei (auch noch ohne Mitwirkung der Harmonie)
Rhythmus und Melodie in ihrer jeweiligen Bestimmtheit eben die
jeweilige Modifikation des Lebensgefühls zum entsprechenden Aus-
druck bringen. Stimmungen im allgemeineren Sinne, als be-
sondere Modifikationen jenes Gefühls wirken von Natur hin auf
Hervorbringung von Tönen und Rhythmen; sie beeinflussen die
motorischen Organe in entsprechender Weise. Wenn wir nun
rhythmisch geordnete Tonfolgen hören, so regen diese oft un-
merklich die Bewegungsorgane an, wirken jedenfalls entsprechend
ins Organische hinein und bedingen dadurch die Anregung von
Gefühlsbildern, und zwar von solchen, die da, wo sie als reale
Gefühle von Haus aus vorhanden sind, auf eine der gehörten
Tonfolge und dem Rhythmus ähnliche Organbewegung imd Laut-
äusserung hinwirken. In dieser Wirkung der Töne liegt aber
eben eine bestimmte Modifikation des Lebensgefühls. Die ursprüng-
lichste Art, wie Musik beim Menschen hervortritt, ist wohl das
eben bezeichnete Ausklingen von Gefühlen in primitiven, oft nicht
einmal wirkliche Worte bietenden Gesang. In diesem hat man
zunächst beides, das Gefühl selbst und sein objektiviertes Abbild
in den Tönen. In der Instrumentalmusik und im eigentüchen
Kunstgesang hat man lediglich das Letztere, und das Gefühl selbst
tritt nur in Form der anschaulichen Vorstellung auf, und sonach
nur eben wie ein Erinnerungsbild anklingend. Die Musik vermag
aber dieses schwache Bild des Gefühls lebensvoll auszugestalten
durch Harmonie und Klangfarbe. Sie gibt namentlich auch etwas
von der Art seiner Ausdrucksbewegung, vermittelst des Rhythmus,
etwa das tönende Gegenbild des klopfenden Herzens, des ver-
änderten Atmens, der Bewegungen der Gliedmassen. Eben hier**
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lo H. SIEBECK.
durch erzeugt sie ein hörbares Abbild einer bestimmten Modi-
fikation des Gemein- oder Lebensgefühls, die sie dadurch in der
eben bezeichneten Weise in der Seele des Hörers anklingen
lässt. Das reale Gefühl aber, das aus der simultanen und suk-
zessiven Wirkung dieser Gefühlsbilder hervorgeht, ist etwas
von ihnen noch zu unterscheidendes Eigenartiges, nämlich eben
die musikalische Stimmung eines Tonstücks als solche. Sie steht
wieder in direkter Beziehung zu dem, was ich das Symbol des
Persönlichen nennen möchte. Die ästhetische Wirkung eines Ton-
stückes als Ganzen besteht nämlich in dem Eindrucke, dass hier
ein dem Wesen des Persönlichen entsprechendes Gefühlsleben,
sei es im Sinn der Lust oder des Schmerzes, der Erhebung
oder Bedrückung vor unserm geistigen Anschauungsvermögen (in
diesem Falle durch sinnliche Vermittelung des Gehörs) vorüber-
zieht. Der Ausdruck in Tönen, den die Musik dem allem gibt,
ist nun aber nicht ein blosses Abmalen, sondern er dient ihr nur
als Grundlage für eine daran anschliessende freiwaltende Tätigkeit,
für ein künstlerisches Idealisieren, sofern das Material der Gefühls-
bilder sich muss ausgestalten lassen zum Aufbau eines Tonganzen,
das sich nach eignen künstlerischen Gesetzen vollendet und dadurch
zum Träger von idealisch erhöhten Stimmungen wird. Dadurch
eben hebt die Musik unser Gefühlsleben aus seiner empirischen
Beschränktheit über sich selbst hinaus und gibt uns zugleich eine
unmittelbare intuitive Erkenntnis seines Wertes. Denn was wir
im musikalischen Erlebnis als gehobene Stimmung bezeichnen,
ist wesentlich das selbst wieder gefühlsmässige Bewusstsein des
Wertes der aus den Tönen zu uns sprechenden Gefühle.
Die spezifisch musikalische Einfühlung beruht nach alledem
wesentlich mit darauf, dass hier nicht Gefühlsqualitäten, die an
der Vorstellung bestimmter Dinge haften, sich zu dem Effekt einer
Stimmung zusammenschiiessen, sondern dass die Stimmung sich
aus dem Gesamteffekt von Gefühlsqualitäten ergibt, die uns durch
die Töne direkt (also ohne den Umweg über bestimmte Dingvor-
stellimgen) übermittelt werden. Infolge ihres Losgelöstseins ins-
besondere auch von räumlicher Lokalisation sowie überhaupt von
realen Gegenständen und Lebensereignissen greifen sie nicht ein
in das Spiel imsrer realen Interessen imd können daher auch
nicht das Bewusstsein so ein- und hinnehmen, wie es die aus dem
unmittelbaren Leben und aus der dinglich -sachlichen Umgebung
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG. n
stammenden Gefühle tun. Daher kommt es auch, dass wir uns
verhältnismässig leicht und willkürlich aus dieser Stimmung wieder
heraus in die des wirklichen Lebens versetzen können, während
ein so beliebiges Abschütteln bei den dorther entsprungenen Ge-
fühlen nicht immer möglich ist. Im musikalischen Gefühl und
Genuss steht man am Weitesten abseits von den sozusagen brutalen
Beeinflussungen der Gefühlsseite durch das wirkliche Leben, man
ist auf der Höhe rein ästhetischer Stimmung.
Aber die musikalische Einfühlung hat nicht bloss reproduk-
tiven, sondern auch, wie schon angedeutet, in gewissem Grade
schöpferischen Charakter. Die überreiche Mannigfaltigkeit von
Folgen und Zusammenklängen der Töne kann in der Instrumental-
musik auch Inhalte hervorbringen, deren gefühlsmässige Anmutung
zwar immer auch in der Richtung entweder des Excitativen oder
des Depressiven liegen wird, die aber hiervon abgesehen indivi-
duell gar nicht zu benennen, die also nicht weiter zu klassifizieren
sind. Wir erhalten auf diese Weise in den Tönen Bilder von
Gefühlen, die es (um ein bekanntes Scherzwort zu gebrauchen)
„gar nicht gibt", die wir aber dennoch anerkennen müssen als in
Analogie mit den uns bekannten Gefühlen, die uns durch die
Töne auch hörbar anschaulich gemacht werden. Das Gebiet der
Wirklichkeit wird hier nach der Seite des Anschaulich-Seelischen
hin für uns um ein erhebliches Stück erweitert Die Seele, die
aus den Tönen zu uns spricht, zeigt überraschend neue und man-
nigfaltige Eigenheiten und Inhalte; es ist eine Art seelisches Mär-
chenland, das sich da vor uns auftut. „Das Unbeschreibliche,
hier ist es getan."
4. Werfen wir von hier aus noch einen Blick auf den Unter-
schied betreffs des Wesens der Einfühlung in der Musik und in
den anderweitigen Künsten. Die letzteren (z. B. Malerei und
Poesie) erreichen ihre ästhetische Wirkung dadurch, dass die
durch physiologische Vorgänge ausgelösten Bewusstseinseffekte
sich zu anschaulichen Wahrnehmungs- und Vorstellungsinhalten
zusammenschUessen, wie sie uns von der umgebenden Natur und
dem Leben her bekannt sind, und dass die auf solche Weise (auf
der Leinwand oder im Gedicht) gegebenen Inhalte wieder be-
stimmte Gefühlswirkungen bedingen. Die Art und Weise, wie
etwa der Maler es versteht, eine Anzahl bekannter und benenn-
barer Wahrnehmungsobjekte auf dem Bilde zueinander in simul-
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12 H. SIEBECK,
tane Beziehung zu setzen, erzeugt die beabsichtigte Stimmung und
gibt ihr den betreffenden Charakter. In der Poesie ist die Stim-
mung bedingt durch Vorstellungen und Gefühle, die an die ge-
lesenen oder gesprochenen Wortbilder und ihre Zusammenhänge
anschliessen. Für die Wirkung der Musik dagegen fallen solche
benennbaren Dingwahmehmungen und an Dinge anschliessende
Vorstellungen zunächst ausser Betracht. Die Stimmung entsteht
hier in erster Linie aus einer Mannigfaltigkeit von Tonempfindungen
und den mit und zwischen diesen rein akustisch gegebenen Verhält-
nissen und Beziehungen. Die Stimmung im musikalischen Sinn ist
der Gesamteffekt der mit den einzelnen Tonqualitäten zur Wirkung
kommenden Gefühlserregung. Man kann etwas Analoges zwar auch
auf malerischem Gebiet erzeugen, nämlich durch blosse Zusam-
menstellung von Farben oder durch das reine Formenspiel der
Arabeske ästhetische Wirkung, d. h. etv/as wie Stimmung erzielen.
Der Spielraum für diese Art der malerischen Betätigung ist aber
im Vergleich mit dem der Töne immer begrenzt, imd auch die ge-
fühlsmässige Wirkung im Vergleich mit jenem schwach. Die
Arabeske sagt uns auf die Dauer zu wenig, weil sie, sich vor-
wiegend als Aeusseres gebend, doch nicht die ausdrucksvolle Be-
stimmtheit eines äusseren (benennbaren) Gegenstandes erreicht;
die blosse Farbenharmonie aber sucht zugunsten ihrer Wirkung
den Charakter des Gegenständlichen, also das Aeussere möglichst
abzustreifen und sich dem der Töne möglichst anzunähern, ohne
doch der dort erreichbaren Mannigfaltigkeit irgendwie nachzukom-
men. Bei der Einfühlung vermittelst der Töne dagegen ist der
Charakter der Ausserlichkeit, des Aussenseins, wenn nicht voll-
ständig aufgehoben, doch jedenfalls auf ein nicht mehr in dieser
Richtung massgebendes Minimum herabgesetzt. Das Ergebnis
der Einfühlung, nämlich die Verwandlung des objektiv Gegen-
ständlichen in ein subjektiv gefühlsmässig Anklingendes ist hier
viel direkter, unmittelbarer als z. B. in den bildenden Künsten.
Wir vernehmen oder schauen nicht erst den Gegenstand, der das
Gefühl in uns erregt, sondern wir schauen hörend, wenn ich
mich so ausdrücken darf, das Gefühl selbst. Und die Summe der
so angeregten Gefühle ist nach dem vorhin Erörterten selbst der
Gegenstand, der die Stimmung in uns erzeugt. Von der Stimmung
ablenkende Einflüsse, wie sie durch die Gesichtswahrnehmung
eines Dinges oder durch die prosaische oder poetische Schilde-
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG, 13
rung eines Vorgangs jeweilen nahegelegt sind, sind hier viel mehr
ferngehalten. Statt eines viergliedrigen Vorgangs (Empfindung,
Gegenstandsanschauung, Gefühl auf Anlass dieser Anschauungen,
Stimmung) haben wir nur einen dreigliedrigen, da das zweite Glied
der Reihe ausgeschaltet ist. Der in der Stimmimg liegende Genuss
wird uns also auf kürzerem Wege und deshalb müheloser zuteil.
Hiermit hängt es nun immittelbar zusammen, dass in der
musikalischen Einfühlung im Unterschied von den übrigen Künsten
der Charakter des intuitiven Verhaltens über den des Diskur-
siven vorwiegt. Durch Töne kann man Stimmungen unmittelbar
hervorrufen und vollbewusst machen ohne gedankliche (diskursive)
Darlegung und Umschreibung; ja diese ist hierbei eben vielfach
gar nicht möglich. In derselben Weise kann man dann allerdings
auch Abfolgen von Stimmungen erzeugen, die zusammen ein
„Bild" geben, d. h. den Eindruck des Persönlich-Charaktermässigen
machen, auch ohne dass sich dessen individuelle Eigenart, wie es
in der Poesie geschieht, in begrifflichen Vorstellungen und Worten
ausdrücken liesse. In der Zusammenfassung dieser Abfolge zur
Einheit eines musikalischen Gedankens, sei es beim Komponieren
oder beim Anhören der Töne einer Melodie oder des Zusammen-
hangs einer Fuge oder eines Symphoniesatzes, kommt dann aller-
dings auch auf musikalischem Gebiet das diskursive Moment zur Gel-
tung. Harmonie aber und Klangfarbe geben dazu die sich
unmittelbar aufdrängende intuitive Färbung des melodischen Ge-
fühlseffekts, die verschieden ist je nach der Art und dem Zu-
sammenwirken der Instrumente. Das Verbindende zwischen dem
Intuitiven und Diskursiven bildet hierbei der Rhythmus. Er
veranschaulicht das zu der gegebenen Stimmung passende Be-
wegungs- (also Ausdrucks-)moment und ist andrerseits zugleich die
Unterlage und das Hilfsmittel für die Zusammenfassung und Ver-
einheitlichung der intuitiv aufeinanderfolgenden Stimmungsbilder.
Etwas anders liegt das Verhalten der beiden genannten Momente
in der Vokalmusik. Beim Gesang und in der Oper (Musikdrama)
wird der Musik der Zusammenhang ihrer spezifischen, d. h. mu-
sikalischen „Gedanken" durch die Abfolge und den Zusammenhang
der von Tönen begleiteten Worte und Handlungen unter- oder
nahegelegt. Sie übersetzt diese fortgehend in den intuitiven Aus-
druck ihres unmittelbaren Gemütswertes und kann hierbei auch
manches ergänzen, was Wort und Handlung nicht direkt besagen.
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14 H. SIEBECK,
5. Das Bisherige wollte einleuchtend machen, dass in der
musikalischen Einfühlung der ästhetische Gefühlswert des Wahr-
genommenen unmittelbarer zur Wirkung kommt als in andern
Künsten. Die diskursive Arbeit, um die uns der Preis des intui-
tiven Geniessens zuteil wird, ist vermindert. Diese Erkenntnis
tritt vielleicht noch deutlicher heraus an der Hand einer Erläute-
rung an dem Verhältnis der Begriffe von Wesen und Erschei-
nung (diese Begriffe hier nicht im transzendentalen, sondern im
empirischen Sinne genommen). Wir sind überall in der Welt
darauf angewiesen, uns zur Erfassung des Wesens einer Sache,
einer Person, eines Geschehnisses durch die Mannigfaltigkeit seiner
Erscheinung hindurchzufinden. Die wirkliche Erfassung des
Wesens, wo und soweit sie überhaupt möglich ist, kann immer
nur direkt intuitiv, d. h. unmittelbar anschaulich sein („anschau-
lich" im Sinne des direkten geistigen Gewahrwerdens und Auf-
sich wirkenlassens); diskursiv dagegen ist das geistige Verfolgen
und Zusammenfassen der Erscheinungen, also die Art und
Weise, wie ein Objekt sich in einer Anzahl von Eigenschaften
und einer Abfolge von Wirkungen für den denkenden Betrachter
zur Kundgebung bringt; wir suchen uns dadurch in die An-
schauung des Wesens zu versetzen. Wir haben überall die
Nötigung und das Bedürfnis, erst von der Erscheinung zum Wesen
zu kommen, und es gelingt uns das von Fall zu Fall immer nur
mehr oder weniger vollständig. Von diesem Verhältnis machen
auch die Werke der Poesie und der bildenden Künste keine Aus-
nahme. Vor einem Gemälde muss ich mich durch das Zusammen-
schauen vieler Einzelbilder bestimmter Dinge in das Wesen des
Kunstwerks, das heisst hier: in den darinliegenden Stimmungs-
gehalt erst versetzen. Für die Dichtung bedarf es, um vermittelst
der direkten geistigen Anschauung auf das Wesen, die Idee oder
wie man es sonst nennen will, zu kommen, der innern Verarbei-
tung, sozusagen UmschafTung der Erscheinung, nämlich der Worte
und der damit gegebenen Vorstellungen. In der Musik aber wird
uns diese Arbeit, wenn auch nicht ganz erspart, so doch wesent-
lich abgekürzt und erleichtert, weil hier der Stimmungsgehalt
durch die Art seiner Erscheinung in Tönen, Akkorden, Tonfolgen
viel direkter vermittelt wird als irgendwo anders. Und auch, wo
die Musik nicht rein für sich, sondern als Diener und Dolmetscher
von Worten und Handlungen auftritt, im Lied, im Musikdrama,
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG.
15
lässt sich diese ihre Eigenart und Wirkung erkennen. Die see-
lische Stimmung eines Liedes, der Wesensgehalt eines drama-
tischen Vorgangs ohne Melodie und musikalische Begleitung will
immer erst aus dem geistigen (diskursiven) Zusammenschauen des
Sinnes der Worte und ihrer Verbindung für das Gefühl erworben
und gewonnen werden. Vermittelst der Komposition aber wird
sie gleich von Anfang an in Melodie und Harmonie für die ge-
fühlsmässige Anschauung durchsichtig und direkt ansprechend
gemacht. Hiermit hängt es auch zusammen, dass eine bestimmte
Art von Programmmusik uns in der Regel nicht allzu lange
behagen will, diejenige nämlich, die uns zumutet, den bestimmten
Sinn einer Instumentalmusik ohne begleitenden Gesang aus einem
gedruckten Text zu entnehmen und in die Symphonie des Or-
chesters hineinzuhören. Der Gegensatz, auf dessen Aufhebung
es uns beim Musikgenuss von vornherein ankommt, nämlich der
von Erscheinung und Wesen, ist mit jenem Verfahren eben wieder
eingeführt: wir sollen den Gedanken (also das Wesentliche) und
seinen Ausdruck (die Erscheinung) in den Tönen, dies beides
nicht gleich in eins gefasst und geflossen erhalten, sondern es
uns erst selbst zusammendenken, also das was der Komponist
uns hätte entgegenbringen müssen, die Einheit jener beiden
Seiten, müssen wir durch ein beständig nebenhergehendes Ver-
gleichen selbst erst herstellen. Eine solche Vergleichung kann auf
viel Sinniges und aus diesem Grunde Ansprechendes treffen; auf
die Dauer aber verlangen wir doch wieder nach „absoluter'* Musik.
Man kann den hier besprochenen Gegensatz von Erscheinung
und Wesen im ästhetischen Sinne auch dahin verstehen, dass im
Kunstwerk ein einzelnes Sinnliches als Erscheinung das gat-
tungsmässige Wesen des Erfahrungsbereichs, welchem es an-
gehört, zur geistig -anschaulichen Erfassung bringt. Dabei muss
man aber, um der künstlerischen Leistung wirklich gerecht zu
werden, sich den Unterschied von Gattungsbegriff und Gattungs-
ideal gegenwärtig halten. Die künstlerische Produktion sucht das
Allgemeine im Sinne des Gattungsideals herauszugestalten und
stellt infolgedessen manche Merkmale, die vielleicht dem Gattungsbe-
griff im logischen Sinne besser entsprechen würden, zurück zugunsten
anderer, die den Eindruck vom Werte des gattungsmässigen Wesens
zu erhöhen geeignet sind.^) Dieser Weg vom Gattungsbegriff
*) Beispiele bei Gr 00s, Der ästhetische Genuss (Giessen 1902) S. 165 f.).
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l6 H, SIEBECK.
zum Gattungsideal erscheint nun (worauf ich hier nur eben hin-
deuten will), bei der Gattung der Töne, also in der Kunst der
Musik im Vergleich mit den andern Künsten ebenfalls als ver-
kürzt, wenn nicht überhaupt als erspart. Mit der durch die Töne
bewirkten Darstellung der Gattung (oder Art) des Gefühls zßigt
sich dasselbe für die Auffassung von seiten des Hörers ohne wei-
teres befreit von den Merkmalen, die beim empirischen Auftreten
in der Seele auf Anlass gegebener Eindrücke durch seine Be-
ziehung auf und seine Wechselwirkung mit anderweitigen see-
lischen Inhalten darin zur Geltung kommen. Das Gefühl tritt
viel mehr in seiner idealen Reinheit hervor und die von der Er-
fassung dieser Idealität ablenkenden Vorstellungen und überhaupt
Einflüsse sind hier von vornherein stärker und leichter auf die
Seite gedrängt als es z. B. in den bildenden Künsten und auch
in der Poesie der Fall ist.
6. Auf den Gegensatz von Wesen und Erscheinung hat be-
kanntlich auch Schopenhauer den Unterschied der Musik von den
Schwesterkünsten zurückführen wollen. Er nimmt diesen aber
im metaphysischen Sinn. Er betrachtet die Musik als den un-
mittelbaren Ausdruck des Wesens der Welt selbst, also des
Willens, während die andern Künste der Stufenfolge der in der
Welt sich verwirklichenden Ideen als der allgemeinen Erschei-
nungsformen jenes Wesens entsprechen sollen. Diese Ansicht
hat in der Ausführung zu sehr subjektiven Ausdeutungen des
Wesens und Unterschiedes der Künste geführt (ich erinnere nur
an die Auffassung der Architektur als derjenigen Kunst, welche
den Kampf zwischen Schwere und Starrheit auszudrücken habe).
Jedenfalls lässt sich die Eigenart der Musik, ihr Unterschied und,
wenn man will, Vorzug vor andern Künsten auch ohne die Be-
ziehung auf jene Willensmetaphysik ins Licht setzen. Die Wir-
kung im Sinne der Lust von seiten des Kunstwerks beruht, wie
ich schon sagte, im letzten Grunde darauf, dass hier das Natur-
hafte dem auffassenden Geiste nicht mehr wie ein Stück fremde
Welt gegenübersteht; es ist anscheinend seines Gleichen geworden.
Dieser Tatbestand hat nun allerdings eine metaphysische Unter-
lage, aber eine solche, die für alle Künste eine gemeinsame ist.
Der Eindruck und die Wirkung des Kunstwerks auf den mensch-
lichen Geist ist nämlich ein Beweis dafür, dass im Grunde der
Welt eine geistige oder geistartige Einheit waltet, die die Natur
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ÜBER MUSIKALISCHE EINFÜHLUNG, 17
auf der einen und den Menschengeist auf der andern Seite zu-
sammenhält und jene für diesen erst wirklich verständlich macht.
Eine Verschiedenheit aber liegt darin, wie sich die ästhetische
Wirkung des Naturhaften einerseits in den bildenden Künsten
und der Poesie, andrerseits in der Musik für den Geist zur Ver-
wirklichung bringt. In jenen bedarf es zur Erzielung dieser Wir-
kung für den Geist immer erst noch einer besondern Leistung:
er muss sich das aus dem Gegenstand zu ihm sprechende Geist-
artige, den Stimmungsgehalt, erst durch eine Art geistiger Er-
fassung imd Bewältigung der gegebenen Formen und Form-
verhältnisse, also der Erscheinung, vermitteln. In der Musik
aber darf er unmittelbar und ohne Mühe sich des Seelen-
haften bewusst werden, das aus dem Kunstwerke der Töne zu
ihm spricht und die Inhalte seines eignen Gefühlslebens in ihm
anklingen lässt.
Musikalische Naturen im spezifischen Sinne gehören zu der
Zahl derjenigen Menschen, die zufolge ihrer individuellen Bean-
lagung dazu neigen, sich ihre geistigen Anschauungsbilder weniger
an der Hand von Reproduktionen des Gefühlssinnes als von
solchen des Gehörs und der Bewegungsempfindungen zurechtzu-
legen. Sie sind in dieser Beziehung, um eine neuerdings ge-
machte Unterscheidung anzuwenden, weniger dem visuellen, als
dem auditiven und motorischen Erinnerungstypus zuzurechnen.
Es muss aber noch die Fähigkeit dazu kommen, sich gerade die
Welt der Gefühle in der geschilderten unmittelbaren Weise ver-
mittelst der Töne zu vergegenwärtigen, und ausserdem das Be-
dürfnis, hierdurch über die Zweiheit und den Gegensatz von Er-
scheinung und Wesen jeweilen hinauszugelangen. Die spezifisch
unmusikalischen Naturen dagegen sind diejenigen, die in dieser
Beziehung sozusagen nichts geschenkt haben wollen. Ihnen ist
die Bewältigung der Erscheinung selbst der wahre Guss des
Lebens, das Bewusstsein des Hindurchstrebens zum Kern
durch die Schale vermittelst des theoretischen oder praktischen
Verstandes. Das Verhältnis der Gefühlswelt zu den Tönen ist
ihnen deshalb belanglos, weil hier kein zu überwindender Gegensatz
von Umhüllung und Wesen mehr heraustritt und der Spruch vom
Segen als „der Mühe Preis" sich einmal nicht bestätigt findet.
Wenn Goethe von der Musik sagt, die Würde der Kunst erscheine
bei ihr vielleicht am eminentesten, weil sie keinen Stoff habe, der
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 127 2
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l8 H, SIEBECK,
abgerechnet werden müsste^), so dürfen wir das im Sinne des
hier Ausgeführten wohl dahin verstehen, dass bei ihr das Hin-
durcharbeiten durch den Stoff als Erscheinung zur Erfassung des
Wesens (des Gefühlsinhalts) uns leichter gemacht wird, als bei
den übrigen Künsten, daher beim Anhören von Musik uns der
Preis befriedigten Lebensgefühls wenigstens vorübergehend ein-
mal müheloser als sonst zuteil wird. Nur im direkten Genüsse der
lebendigen Natur findet sich etwas dem annähernd Analoges,
wenn wir etwa, im Walde gelagert, das Grün der Bäume zugleich
mit ihrem Rauschen und den dazwischen spielenden Sonnen-
strahlen — das alles zusammen als einen stimmungsvollen Natur-
akkord auf Sinn und Gemüt wirken lassen. Solche Musik der
Natur, (wie man es wohl nennen darf), heissen wir dann auch
wohl romantisch, und nicht mit Unrecht. Denn die Romantik
wurzelt überall in dem Streben, das Geheimnisvoll -Wesenhafte
der Dinge aus ihrer Erscheinung unmittelbar herauszufühlen und
zu erlauschen, und die Musik ist daher in der Tat die romantischeste
der Künste.
Zur Begründung des Theismus.
Von Karl Andresen.
In Band 126, Heft i dieser Zeitschrift sucht Anton Korwan
den Pantheismus Ed. von Hartmanns meiner Begründung des
Theismus^) gegenüber zu verteidigen, wobei er von der Hart-
mannschen Annahme, dass eine blinde Willensinitiative den An-
stoss zum Weltprozess gegeben habe, ausgeht, einer Annahme,
welche schon längst wiederholt ihre Widerlegung gefunden hat,
XL a. von Otto Pfleiderer in seiner „Geschichte der Religions-
philosophie". KoRWAN teilt ganz und gar den Hartmannschen
Fehler, dass er Gott in seinen Attributen Wille und Vorstellung
nicht als ursprüngliche strikte Einheit erfasst, sondern diese Attri-
bute sich verbinden lässt. Auch bei Korwan ruhten vorweltlich,
d. h. vor der Erhebung des Willens, „der Wille als blosses Ver-
mögen zum Wollen und die Vorstellung als blosse Möglichkeit
^) Sprüche 659 (Hempel).
*) In meinen „Ideen zu einer jesuzentrischen Weltreligion". Lotus
Verlag, Leipzig 1904.
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS. 19
^iner logischen Determination beziehungslos, existierten nicht für-
einander und hatten keinen Einfluss aufeinander. Erst nachdem
Kier Wille sich einseitig und grundlos zum Wollen erhoben hatte,
waren sie durch die daraufhin vom Logischen zum Willen hin-
übergesponnenen Beziehungen miteinander verbunden, während
vor seiner Erhebung der potentielle Wille noch leer und vor-
stellungslos war". Von der Voraussetzimg aus, dass Gott von
jeher ein einheitliches Wesen ist, dessen Attribute nur begriff-
lich von uns unterscheidbar sind, dass Gott nur wollende Vor-
-stellung oder vorstellendes Wollen ist, ist ein Zusammenschmieden
für sich seiender, nebeneinander ruhender Attribute, die Annahme
'einer sich vollziehenden Verbindung derselben undenkbar und
fällt hiermit der Standpunkt Hartmanns, insoweit er hiervon
ausgeht.
KoRWAN führt weiter aus, dass, nachdem der Wille sich
A^orstellungslos — ehe er mit der Vorstellung verbunden war —
und grundlos zum Wollen erhoben und die Vorstellung dieses
Wollen als ein Nicht-sein-soUendes durchschaut habe, sie es
.nicht sofort zu unterdrücken vermocht habe, weil sie ohne Willen
machtlos sei. Aber er lässt die Vorstellung trotzdem zur Auf-
hebung des WoUens die Welt setzen — als das beste Mittel
ihierzu — ; dieses hätte sie dann ja aber als machtlose Vorstellung
ebensowenig können, wenn nicht auch mit Hilfe des Willens.
KoRWAN fügt dann noch hinzu, dass, wenn die Vorstellung an-
statt erst eine Welt zu setzen, eine sofortige Aufhebung des
WoUens durch Erfüllung des Willens mit der Idee des Nicht-
wollens inszeniert hätte, der Wille doch immer ein Wollender,
nämlich ein das Nichtwollen-woUender geblieben wäre. Das heisst
.aber doch nur, dass er ruhender Wille geblieben wäre, und damit
wäre es denn ja gut und die Weltsetzung überflüssig gewesen.
Auch Hartmanns Weltprozess könnte wohl kaum ein anderes Er-
gebnis — als einen nichtwoUen-woUenden Willen — haben.
Wenn ich ausgeführt habe, dass nur ein mit Vorstellung
verbundener Wille eine Unlust haben, ein vorstellungsloser Wille
aber weder eine bestimmte, noch eine unbestimmte Unlust haben
Jcönne, da Unlust nur als logisches Ungenüge denkbar sei, so wird
dieses nicht entkräftet durch Korwans Behauptung, dass alles
Wollen mit Unlust verknüpft sei, da der Wille als ruhender kein
wollender ist und als solcher keine Unlust haben kann« Sobald
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20 KARL ANDRESEN.
Gottes Wille zu einem Wollen kommt, ist er aber mit einer Vor-
stellung verknüpft, deren Inhalt er will.
Hartmann ist zur Annahme der Notwendigkeit (!) einer
alogischen Willensinitiative nur dadurch geführt, dass er den
Wert der Welt von keinem höheren als vom eudämonologischen
Standpunkte aus beurteilt. Der Pessimismus, welchen Hartmann
als übles Erbe von Schopenhauer übernommen hat, besagt,
dass in der Welt die Unlust die Lust überwiege, und die Welt
daher schlechter sei als keine Welt, woraus Hartmann dann
schliesst, dass das Dass der Welt demnach nicht von einem
intelligenten, nicht von einem logischen Gott gewollt sein könne.
Es ist Hartmann von verschiedenen Seiten nachgewiesen worden,
dass der eudämonologische Massstab ein ganz unzulänglicher ist,
von welchem aus kein absolutes axiologisches Urteil über die
Welt und ihre Existenz möglich ist. Der Pessimismus würde,
selbst wenn er wahr wäre, durchaus nicht bedingen, dass die
Welt einem unvernünftigen Akt ihren Ursprung verdanke und es
rationell sei, dass sie aufgehoben würde, sondern ebensowohl die
Annahme zulassen, dass sie als schmerzvolles Mittel zu einem
transcendent-positiven Zweck wertvoll ist. Dass sie tatsächlich
wertvolles Mittel zu einem transcendent-positiven Zweck ist, hat
u. a. in vortrefflicher Weise Karl Stange in seiner „Christlichen
Ethik* dargelegt.
Bei normalen Zuständen dürfte die Lust in der Welt mit
der Unlust balancieren. Bei Völkern auf primitiver Kulturstufe,
welche sich betätigen, ohne über eine Lustbilanz zu reflektieren,
herrscht, wie ich in meinen I. z. e. j. W. dargelegt habe, Zu-
friedenheit; desgleichen dürfte Zufriedenheit herrschen bei Kultur-
völkern, welche sich mit der richtigen Erkenntnis betätigen, dass,
wie Goethe sagt, das höchste Glück der Erdenkinder die Per-
sönlichkeit ist, dass das Irdische nicht Selbstzweck und der Wert
der irdischen Güter, welche der Erhaltung der Persönlichkeiten
dienen sollen, diesen gegenüber nichtig ist. Die Unlust beginnt
freilich in progressivem Masse die Lust zu überwiegen, je mehr
intellektuell fortgeschrittene Menschen sich mit falscher Maxime
betätigen, z. B. mit irdischem eudämonologischem Optimismus.
Neben einer überwiegenden sittlichen Schlechtigkeit geht propor-
tionell eine eudämonologische Verschlechterung einher; handeln
die Menschen aber so, wie sie sollen, dürfte die Unlust die Lust
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS. 21
nicht überwiegen. Freilich wird innerweltlich wohl nur von einer
Lust- und Unlustbilanz, welche gleich Null ist, nicht von einer
positiven Lustbilanz die Rede sein können. Wäre letzteres der
Fall, so würde die Welt ja als Selbstzweck erscheinen können.
Ein solcher ist sie aber weder, noch darf sie als solcher er-
scheinen, denn sie kann ihren Zweck, Mittel zu einem Zweck zu
sein, nur erfüllen, wenn sie auch als solches erscheint und als
solches aufgefasst wird. Eine Welt mit positivem Lustüberschuss
würde den Menschen niemals nötigen, ein religiöses Verhältnis zu
einem über die Welt Erhabenen anzuknüpfen und damit die Re-
ligion überhaupt unmöglich machen.
Die Welt ist augenscheinlich nicht daraufhin organisiert, uns
ein vergnügtes und behagliches Leben zu sichern; auch aber
keineswegs, wie Hartmann annimmt, daraufhin, durch die Grösse
des Unlustüberschusses Persönlichkeiten hervorzubringen, welche
aus pessimistischer Stimmung heraus zu einer Verneinung der
Welt gelangen, sondern vielmehr daraufhin, durch den Kampf
ums Dasein sich nach eigenen Vorstellungen und Willensdisposi-
tionen betätigende Persönlichkeiten zu einer Vollendung zu führen,
welche in einer aus dem stets fortgeschrittenen Erkennen und
der sittlichen Betätigung resultierenden vollkommenen Logicität
ihres Willens bestehen wird, durch welche sie einen in sich selbst
wertvollen Inhalt bekommen und zur Gottgleichheit gelangen
werden. Das immanente Wirken des göttlichen Geistes in der
Welt ist nicht, wie Hegel sagt, ein Werden des göttlichen Geistes,
sondern zielt auf ein Werden realer gottgleicher Geister ab.
KoRWAN hätte, anstatt von dem unzulänglichen Wertmassstab
Hartmanns auszugehen, wenn er ernstlich daran gedacht hätte,
mich zu widerlegen, nachweisen müssen, dass ein transcendent-
positiver Zweck der Welt undenkbar oder dass die Welt zur Er-
reichung solches Zwecks ein untaugliches Mittel sei, was er aber
nicht tut und was auch nicht möglich sein würde, da meine,
nicht Hartmanns Annahme, mit der tatsächlichen Wirklichkeit
übereinstimmt.
Als wollende Substanz war Gott auch logische Substanz.
Eine logisch wollende Substanz erfordert aber einen logisch ge-
wollten vernünftigen Weltzweck. Die Annahme nun, dass ein
vollkommener Gott die Welt zu dem vernünftigen Zweck schuf,
um ein Bedürfnis, eine Leere in seinem eigenen Wesen auszu-
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22 KARL ANDRESEN.
füllen, wäre paradox. Freilich der Pantheismus erfordert geradezu
einen Gott, bei welchem das Bedürfnis vorhanden ist, seinen
gegenwärtigen Zustand zu verändern, nicht so der Theismus,
welcher annimmt, dass in selbstloser Liebe eine Quelle des Lebens
von Gott ausging, in welcher in unendlicher Progression seine
Vollkommenheit sich abspiegeln und eine Ähnlichkeit seines Wesens
realiter ihm gegenüber Existenz gewinnen konnte.
Da aus der substantiellen Einheit der Attribute für die
Substanz niemals die Veranlassung hätte erwachsen können, die
tote Starrheit der ewigen vorweltlichen potentiellen Subsistenz zu
überwinden, werden wir angesichts der Tatsächlichkeit der Welt-
setzung seitens eines logischen Gottes dazu geführt, ein ausser-
göttliches Prinzip anzunehmen. Schon Hegel sagte, dass das
Logische nur in Beziehung auf irgend etwas Alogisches (Hegel
sagt „Unlogisches", meint aber das, was ich als Alogisches be-
zeichnet habe, d. h. ein Nicht-logisches; Unlogisches wäre etwas
Logisches, aber ein falsches Logisches) einen Inhalt in sich ent-
falten konnte. „Wenn die Vernunft sich zur logischen Idee de-
terminiert hat," schreibt Hegel, „so würde daraus doch niemals
eine Welt entspringen, faUs nicht ein Alogisches entweder ausser-
halb ihrer gegeben wäre oder aber von ihr selbst als Gegenteil
ihrer selbst gesetzt würde."
Die Frage, ob das Logische das Alogische aus sich selbst
gesetzt hat oder ob das Alogische ein ausserhalb des Logischen
seiendes mit demselben gleich ursprüngliches Prinzip ist, kann
vom Panlogismus, welchem das ursprüngliche Realprinzip fehlt,
nur in ersterem Sinne entschieden werden. Hegel lässt daher
das Logische das Alogische — und das Unlogische — als das
absolute Gegenteil seiner selbst, wenn auch nur als ein zur steten
Überwindung bestimmtes setzen; für Hegel ist das Alogische
ein Moment des Logischen als solchen, wenngleich er es zum
Prinzip der Realität macht. Auch die panthelistischen Philosophen,
Schopenhauer und Bahnsen, konnten sich die Frage, ob das
Alogische vom Logischen gesetzt oder ein mit demselben gleich
ursprüngliches Prinzip sei, noch nicht stellen, weil bei ihnen das
Logische überhaupt nur ein auf unerklärliche Weise zu stände
gekommener Schein ist.
Hartmann, bei welchem Wille und Vorstellung in Gott ge-
eint sind, hat nun das Verdienst, gezeigt zu haben, dass das
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS. 23
Prinzip Wille der reinen Potenz nach unendlich ist im Gegensatz
zum Logischen, welches endlich, wenngleich in sich unendlicher
Durchbildung fähig ist. Hartmann konstatiert daher einen durch
das endliche Logische nicht erfüllten leeren Willen. Ist nun aber
Gott Wille und Vorstellung in ursprünglicher Einheit, d. h. logischer
Wille oder wollende Vorstellung, der Wille, insofern und inso-
weit er mit dem Logischen erfüllt ist, so darf der durch das
Logische nicht erfüllte leere Wille nicht in Gott hineingefasst
werden. Wenn Gott die Substanz in der unscheidbaren (nur be-
griflFlich zu unterscheidenden) Einheit von Wille und Vorstellung
ist, so fällt der Wille nur insoweit er logischer ist, in diese Ein-
heit; der Wille, soweit er als Teil des potentialiter unendlichen
Willens leerer, vorsellungsloser, alogischer Wille ist, ist nicht ein
Teil des logischen Willens (Gottes), sondern ein Gegensatz des-
selben. Ist Gott logischer Wille, so ist er nicht das Gegenteil,
nicht alogischer Wille. Der alogische Wille ist ein aussergött-
licher, ein durch seine alogische Beschaffenheit der ursprünglich
logischen Beschaffenheit des göttlichen Willens entgegengesetzter
Wille. Nur wo das Subjekt, das, was will und vorstellt, ein und
dasselbe ist, kann von Gott als von einer Substanz, deren Attri-
bute Wille und Vorstellung in untrennbarer Einheit sind, die Rede
sein; blosser leerer Wille ist mit einer Substanz, in welcher
Wollendes und Vorstellendes untrennbar eins sind, substantiell
nicht identisch, sonst wäre die Substanz nicht einheitlich, bzw.
Wille und Vorstellung in ihr keine Einheit. Die Substanz Gottes
ist eine Einheit, aber von den beiden Prinzipien Wille und Vor-
stellung ist das Prinzip (die eine Prinzipienart) Wille in sich keine
Einheit, sondern teils innergöttiich (als logischer Wille), teils ausser-
göttiich (als alogischer Wille).
Wo der einseitige Panlogismus sowohl wie der einseitige
Panthelismus, wie bei Schelling, Weisse, Carriere, Hartmann,
Drews usw. überwunden und Wille und Vorstellung als ursprüng-
liche Prinzipien erkannt sind, kann die Frage, ob Gott als das
Logische, als der mit dem Logischen verbundene Wille den
alogischen Willen aus sich selbst gesetzt hat, oder ob der alogische
Wille ein mit dem logischen Willen (Gott) gleich ursprüngliches
Prinzip ist, nur in letzterem Sinne entschieden werden, schon des-
halb, weil die Kategorialfunktionen nur als Beziehungen des
Logischen zu einem ihm koordinierten gleich ewigen Prinzip zu
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24 KARL ANDRESEN,
begreifen sind. Schon Lotze konstatiert, dass Gott seine Vor-
stellung auf etwas ausser ihm habe beziehen müssen. Auch
Hartmann kommt der Wahrheit so nahe, dass er das Alogische
als ein mit dem Logischen gleich Ewiges erkennt und daher die
Hegeische Annahme verwirft, dass das Logische das Alogische
gesetzt habe. Aber er betrachtet das Alogische trotzdem nicht
als aussergöttlich, sondern als innergöttlich, weil er Gott in erster
Linie als das Absolute im Sinne eines Pan, nicht in erster Linie
als geistiges logisches Wesen erfasst und festhält, worin der
Kardinalfehler der Hartmannschen Philosophie zu sehen ist. Das
Absolute ist immer nur ein dialektischer Begriff, welchem keine
Wesenheit zukommt, und ist es ein Fehler, Gott und den Begriff
d.es Absoluten schlechthin zu identifizieren und dann, wie die
Pantheisten es tun, von einer „Wesenheit des Absoluten" zu
sprechen. Das Wesen Gottes muss in seinem prinzipiellen Unter-
schiede vom Absoluten aufgefasst werden. Gott ist ein geistiges
Wesen, welches sich seiner Wesenheit gemäss logisch betätigt
und darf das mit dem göttlichen Wesen gleich ursprüngliche
alogische Prinzip nicht in die Wesenheit Gottes hineingetragen
werden.
Der Pantheismus pflegt stillschweigend von der Annahme
auszugehen, dass Gott als das Absolute (im Sinne eines Pan) auf-
zufassen sei, ohne vorerst in eine Untersuchung einzutreten, ob
ein metaphysischer Henismus (womit ich den numerischen oder
quantitativen Monismus bezeichnen will im Unterschiede vom
Monismus schlechthin, worunter ich allein den qualitativen Mo-
nismus verstanden wissen will, dessen Berechtigung ich selbst-
redend anerkenne) seine Berechtigung hat oder nicht.
Nicht nur die schwierige Frage nach dem Dass der Welt,
sondern auch das Was und Wie der Welt stellt denjenigen,
welcher erkannt hat, dass dieselbe einem logischen Gott ihren
Ursprung verdankt, angesichts der Tatsächlichkeit des Übels in
der Welt vor die Alternative: entweder als Ursache des Übels
ein absolut unlogisches oder doch alogisches Prinzip neben dem
Prinzip des Logischen, neben dem all weisen Gott anzunehmen,
oder ein Nicht-sein-soUendes in Gottes Wesen hineinzutragen. In
ersterem Falle ist Gott kein Absolutes im Sinne eines Pan; in
letzterem Falle ist er kein absolut logischer. Halten wir daran
fest, dass Gott ein absolut logischer ist, so wird für uns die An-
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS. 25
nähme eines aussergöttlichen alogischen Prinzips auch in Hinsicht
auf das Was und Wie der Welt denknotwendig. Die Annahme
eines unlogischen Prinzips in Gott, dem Prinzip des vollkommenen
Logischen, ja selbst die Annahme eines gesetzlos-zufälligen Dyna-
mischen in ihm neben dem Prinzip des Gesetzmässig- dynamischen
wäre in sich widerspruchsvoll; dagegen nicht die Annahme eines
gesetzlos-zufälligen Dynamischen im Absoluten neben dem Prinzip
des Gesetzmässig-dynamischen in Gott. Logisches und Alogisches
können nicht „zusammengehörende Seiten einer doppelseitigen
Wesenheit eines * logischen Gottes" sein, sondern Gott als das
Logische einerseits und das Alogische anderseits bilden die
Doppelseitigkeit des Absoluten.
Dass die Annahme eines unlogischen Prinzips in Gott, dem
Logischen, paradox wäre, hatte schon Platon erkannt, und nahm
derselbe neben dem Seienden als dem vernünftigen oder logischen
Prinzip ein Nicht-seiendes (to iitj Sv) an, welches als blindes und
unvernünftiges Prinzip dem logischen Prinzip gegenübersteht. Das
Nichtseiende ist bei Platon ein absolut Alogisches (äAoyov), nicht
etwa ein bloss relativ Alogisches, welches auch innerhalb des
Logischen Platz finden würde. Als ein mit dem seienden Logischen
gleich ursprüngliches Prinzip zerstört es dessen Einzigkeit; es ist
die Quelle des Übels und des Bösen. Während das Logische
der aktive Beweger ist, ist das Alogische bei Platon das passive,
aufnehmende, empfangende Prinzip. — Auch Augustin fasste das
Nichts als eine negative Kraft auf, so dass die Welt mit Nega-
tion gemischtes göttliches Sein enthielte. — Desgleichen sagte
ScHELLiNG, dass der Weltbau deutlich genug die Gegenwart einer
inneren geistigen Potenz bei seiner Entstehung zeige, aber ebenso
unverkennbar sei der Anteil, der Miteinfluss eines vernunftlosen
(irrationalen) Prinzips. — Auch A. Dorner nimmt zur Erklärung
der die mannigfachen Weltgestalten bildenden Gegensätze in der
Welt eine ursprüngliche Gegensätzlichkeit an und sagt, dass,
wenn solche Gegensätzlichkeit ursprünglich nicht in Gott vor-
handen sei, — was in einem vollkommenen logischen Gott un-
denkbar ist, — ein aussergöttliches Prinzip angenommen werden
müsse.
Der alogische Wille begleitet jede Kategorie als ihr Schatten.
Er ist das, was mitpassiert, ohne dass es logisch gewollt ist. Er
ist Zufall und hat als solcher eine teilweise Tendenz, dem was
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26 KARL ANDRESEN.
gesetzlich bestimmt ist, entgegen zu wirken; er erscheint somit
als Widerspruch gegen das Gesetzliche. Der Zufall ist ein Wollen,
welchem kein Ziel durch eine Vorstellung gesteckt ist; aber ein
Wille im metaphysischen Sinne muss dem in den Zufällen in die
Erscheinung tretenden leeren Wollen zugrunde liegen, andernfalls
würde der Widerstreit zwischen Logischem und Alogischem in
der Welt nur ein rein dialektischer auf ideellem Gebiet sein und
nicht mit schmerzlichen Kämpfen und schweren Willenskollisionen
ins reale Gebiet treten. Bei Hegel, welcher in seiner Logik auch
im Widerspruch den innersten Motor des Weltprozesses sieht»
bleibt der Widerspruch ein dialektischer, weil im Panlogismus
nichts existiert als die Idee. Bei Hartmann bleibt der ganze
Weltprozess ein Widerstreit zwischen der Idee und dem leeren
Willen als innergöttlichen. Beide Auffassungen sind nicht zu-
treffend, da der Weltprozess weder ein Widerstreit zwischen Idee
und Idee, noch zwischen Idee und Willen ist, sondern zwischen
Wille und Wille, nämlich zwischen dem göttlichen Willen und
dem ihm gegenüberstehenden alogischen Willen.
Die Zufälligkeiten, deren transcendentes Subjekt der alogische
Wille ist, sind als solche vom Logischen zugelassen und teleo-
logisch gewollt; aber sie sind deshalb immerhin nicht logisch,
sondern alogisch, bzw. antilogisch. Logisch sind sie nur, wo sie
als logische EntSchliessungen der Gott gegenüberstehenden realen
Individualseelen, in denen der alogische Wille logisch geworden
ist, logisch gewollte, d. h. nicht mehr Zufälle sind. Funktionen,
denen ein aussergöttliches transcendentes Subjekt zugrunde liegt,
können selbst dann nicht göttliche sein, wenn sie nicht nur von
Gott zugelassen, d. h. universal teleologisch gewollt sind, sondern
selbst dann nicht, wenn sie ausserdem auch noch in ihrer indi-
viduellen Willensrichtung mit Gottes Willen im Einklang stehen.
Hat der logische Gott die Welt in Hinsicht auf den ausser-
göttlichen alogischen Willen gesetzt, so erscheint als positiver
Weltzweck, dass der leere Wille ein ideeerfüllter wird. Da der
Wille, soweit er innergöttlicher ist, hinreichend ist zum Gesättigt-
sein des Logischen, ist für den leeren Willen zwar kein Vor-
stellungsinhalt übrig. Es wäre daher unlogisch, wenn Gott ver-
suchen wollte, sich selbst als unendliche Idee zu aktualisieren und
dadurch den Willen in unendlicher Breite zu erfüllen. Wohl aber
kann der leere Wille einen Vorstellungsinhalt bekommen, indem
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS,
27
er sich in Gott substantiell gegenüberstehenden Subjekten kon-
kresziert, welche dann dem göttlichen Logischen analoge Vor-
stellungsinhalte bekommen können. Dieses aber tut er in den
realen, Gott gegenüberstehenden menschlichen Persönlichkeiten,
in denen der alogische Wille logisch geworden ist.
Leider hat sich in meine „Ideen zu e. j. W.** ein Druck-
oder Schreibfehler eingeschlichen. Es heisst dort: „Der logische
Wille als Absolutes hätte niemals in sich die Veranlassung zum
Weltprozess finden können", während es heissen soll: „Der
logische Wille hätte als Absolutes (d. h. wenn er das Absolute
wäre) niemals in sich die Veranlassung zum Weltprozess finden
können". Von einem Leser, welcher überhaupt den ganzen Sinn
meiner Darlegungen verstanden hatte, hätte ich wohl erwarten
dürfen, dass er diesen Druck- oder Schreibfehler als solchen er-
kannt haben würde. Nicht so Korwan. Dieser folgert nun viel-
mehr, dass, da der logische Wille nach meiner Darlegung das
Absolute, also ausser ihm nichts vorhanden sei, die Initiative zum
Weltprozess nur nach der Hartmannschen Hypothese von einem
noch nicht logisch gewordenen Attribut Gottes allein inszeniert
worden sein könne. Er sieht zwar, dass dieses in krassem Wider-
spruch mit meinen sonstigen Ausführungen stehen würde, und
fügt dann ganz richtig hinzu: „Die in diesen verschiedenen An-
sichten über das Verhältnis zwischen Alogischem und Logischem
enthaltenen Widersprüche stören Andresen nicht, da er sie nicht
bemerkt" — es sind dieses die einzigen Widersprüche, welche
Korwan mir nachweist, — „mehr Sorge bereitet ihm die inter-
substantielle Beziehung zwischen den beiden Substanzen".
Die Möglichkeit intersubstantieller Beziehungen ist in der
Tat der entscheidende Pimkt, mit welchem mein Theismus, ja der
Theismus überhaupt, steht oder fällt. — In eine einseitige ideelle
Beziehung, in eine Beziehung, welche nur in der eigenen Idee
vorhanden ist, vermag ich selbst zu etwas zu treten, was rein
illusorisch ist, was weder existiert noch subsistiert. Diese ein-
seitige ideelle Beziehung wird aber dadurch nicht aufgehoben,
wenn nun dem, worauf sich meine Idee bezieht, tatsächlich eine
Realität, wenn auch eine Realität von anderer Substanz, entspricht.
Meine ideelle Beziehung wird im Gegenteil dadurch zu einer
solchen, welche einen realen Hintergrund hat. So war bei der
Entstehung der Welt die Beziehung Gottes zum noch weder
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28 KARL ANDRESEN.
subsistenten noch existenten leeren Willen eine einseitige, bloss
ideelle. Wie aber aus der einseitigen ideellen Beziehung Grottes
zum leeren Willen tatsächlich reelle explicite Beziehungen mittels
des Zwischengliedes „Welt" möglich wurden, habe ich ausführ-
lich in meinen J. z. e. j. W. dargelegt und stelle diese Dar-
legungen den vergeblichen Versuchen sowohl Lotzes, wie auch
Hartmanns, den Beweis für die Unmöglichkeit intersubstantieller
Beziehungen zu erbringen, gegenüber.
Hinsichtlich des Verhältnisses des Unbewussten zum Bewusst-
sein teile ich im grossen und ganzen Rickerts Ansicht, welche
dahin geht, dass das Bewusstsein nichts Substantielles, sondern
etwas Akzidentielles an der Substanz ist. Der Vorstellungsinhalt
einer geistigen Substanz, sowohl bei Gk>tt als auch bei den gei-
stigen Individualseelen, ist vor und hinter der Betätigung un-
bewusst; das Bewusstwerden ist in Gott und in den Individual-
seelen nur als bewusstseinstranszendente Potenz vorhanden. Reize
wirken nicht auf ein Bewusstsein, sondern auf das vorbewusste
und unbewusste Substrat desselben. Die unbewussten Funk-
tionen sind das Fundament und die Quelle alles Bcv/usstseins-
inhalts, ohne welche das Bewusstsein überhaupt nicht sein würde
Im Gegensatz zu Hartmann nehme ich nun mit Carri^re an,
dass die Bewusstseinspotenz Gottes schon deshalb als aktuelle
gedacht werden muss, weil er die Welt aus sich entfaltet und
sich als die gestaltende Urkraft in und über ihr ergreift und be-
greift. Ich betrachte daher das Wirken Gottes in der Welt
mittels der Naturgesetze in deren Ausgangspunkt als be-
wusste göttliche Funktion, während ich das unverändert bestehen-
bleibende Wirken mittels der Naturgesetze gleichwie Hartmann
als ein unbewusstes Funktionieren Gottes auffasse. Dieses ist
wohl der einzige Unterschied zwischen Hartmanns und meiner
Auffassung der Gesetzmässigkeit. Das aber, meine ich, bedarf keines
weiteren Nachweises, dass, wenn ein Vorstellungsakt nicht einseitiges
spontanes Produkt des realen vorstellenden Individuums ist, sondern
Reaktion desselben auf es von aussen her affizierende fremde Reali-
täten, er nicht als unbewusster, sondern als bewusster aufzufassen
ist. Bei intersubstantiellen Beziehungen zwischen Gott und den In-
dividualseelen sind daher die Funktionen Gottes nicht ausschliesslich
teleologisch durch den Endzweck, nicht nur durch vorausschauendes
Wissen, sondern auch durch Erfahrungswissen determiniert.
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS,
29
Gegen den naiven strikten Pantheismus Spinozas reagierend
haben speziell die nachhegelschen Theisten mit vorher uner-
reichter Feinheit und Vertiefung die Idee der Persönlichkeit
Gottes in der Philosophie zur Geltung zu bringen gesucht und
viele persönliche Momente bei Gott tatsächlich nachgewiesen.
Man zeigte, dass Gott ein sich selbst bestimmendes Subjekt sei
und ihm daher die Bezeichnung Persönlichkeit zukomme. Als
einheitliches Wesen imterscheide Gott sich von dem veränder-
lichen Wirken in der Welt und diese Selbstunterscheidung könne
nur als ein Akt des Selbstbewusstseins aufgefasst werden. Nach
Kant ist Persönlichkeit die Freiheit und Unabhängigkeit von dem
Mechanismus der ganzen Natur.
Es ist nun keine Frage, dass Gott, dem die genannten Merk-
male einer Persönlichkeit zukommen, nach diesen Definitionen als
Persönlichkeit zu bezeichnen ist. Nun behaupten aber die Pan-
theisten nicht mit Unrecht, „dass Gott dennoch nicht Persönlich-
keit im gewöhnlichen Sinne dieses Worts sei, weil er als Abso-
lutes alle seine Vorstellungen nur als seine eigenen Modifikationen
besitze. Die Natur als wahrhaft innergöttliche könne keinen der-
artigen Gegensatz zum Absoluten hervorbringen, um aus ihm eine
Persönlichkeit erwachsen zu lassen. Weil es für das Absolute
keinen realen Gegenschlag geben könne, an welchem als an einem
selbst Ungewollten seine subjektive Tätigkeit sich brechen und zu
einer bewussten werden könne, haben alle Versuche, den Theis-
mus als möglich oder wahrscheinlich zu erweisen, ihr Ziel ver-
fehlt". Auch Chr. Herm. Weisse sagt, dass die Persönlichkeit
nur dadurch Persönlichkeit in theistischem Sinne sei, dass sie
andere Persönlichkeiten gleichartigen Wesens und gleichartiger
Substanz sich gegenüber habe. Mit der Bestimmung des Persön-
lichkeitsbegriffs, wie sie sich bei den Nachhegelianem findet, ist
immerhin das nicht erreicht, was der Theist mit demselben be-
zweckt: Die Möglichkeit, Gott als reales Ich einem ebenfalls realen
Ich gegenüberzustellen. Bei solcher Persönlichkeitsbestimmung
würde immerhin die pantheistische Metaphysik als die richtige
gelten müssen, nicht die theistische; man könnte dann von einem
Persönlichkeitspan theismus sprechen, nicht von einem Theismus.
Wer Gott als Persönlichkeit und zugleich als das Absolute im
Sinne eines Pan ansieht und meint Theist zu sein, ist doch nur
ein Pseudotheist; tatsächlich ist er Pantheist. Pantheist ist, wer
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30 KARL ANDRESEN.
da glaubt, er selbst sei nur ein unselbständiger Modus der gött-
lichen Substanz, in welcher er sich mit allen anderen Phänomenen
wieder verliert; Theist ist, wer sich selbst als reales geistiges
Wesen Gott gegenüber weiss. Erst mit meinem in der alogischen
Willensrealität im Weltprozess wurzelnden transzendenten Indivi-
dualismus findet der Theismus dem Pantheismus gegenüber seine
abschliessende Begründung.
Eine Verschmelzung von Theismus mit pantheistischer Im-
manenz, wie sie zuerst Giordano Bruno und Jakob Böhme er-
strebten, muss nach Moritz Carri£:re das höchste Ziel und das
letzte Wort aller philosophischen Spekulation sein. Ein Theismus,
welcher durch Aufnahme der Immanenzlehre davor gesichert ist,
Gott imd Welt zu trennen, braucht nicht zu fürchten, Gott zu
verendlichen und zu beschränken, wenn er seine Persönlichkeit
anerkennt und seine Absolutheit fallen lässt Durch das Fehlen
der ontologischen Einzigkeit wird Gottes Wesen ebensowenig
beschränkt wie das Wesen eines Vaters durch das Vorhanden-
sein eines Sohnes. Gott braucht nicht neidisch zu sein und ist
nicht neidisch, dass er sich mitteilte. Eine Beschränkung des
Wesens Gottes liegt vielmehr darin, wenn das Übel in ihn als
das Absolute hineingetragen werden muss.
Ursprünglich wurde der Begriff des Absoluten nicht im
Sinne des Alleinigen gebraucht. Wenn die griechischen Philo-
sophen Gott als das Absolute bezeichneten, so wollten sie damit
nur ausdrücken, dass Gott ein An-sich {xaff" &vx6\ ein durch seine
eigene Natur und Kraft Existierendes, ein in und durch sich
Seiendes sei. Auch Christian Wolff definiert das Absolute noch
als „dasjenige Ding, welches den Grund seiner Wirklichkeit in
sich hat*. Unter der pantheistischen Auffassung Spinozas und
speziell später unter den Einflüssen des Panlogismus und des
Panthelismus hat der Begriff des Absoluten dann aber die Be-
deutung angenommen, dass unter ihm die Alleinheit, die Einzig-
keit des Seins, das ontologische alleinige Sein verstanden worden
ist, und diese Bedeutung hat sich so eingebürgert, dass sie heute
wohl als die allgemein giltige anzusehen ist Fechner nennt das
Absolute dasjenige Wesen, welches als oberste Einheit alles um-
fasst Chr. Krause definiert das Absolute als „das Wesen,
ausser welchem nichts ist". Schopenhauer freilich eifert
gegen diese über die ursprüngliche Bedeutung hinausgehende
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS,
31
Auffassung und sagt, dass das Wort absolut nichts bezeichne als
„an nichts geknüpft sein'*. — In der ursprünglichen Bedeutung
des Absoluten als ein An -sich ist und bleibt Gott selbstredend
das Absolute; in dieser Bedeutung wären aber auch die mensch-
lichen geistigen Individualseelen als absolute zu bezeichnen. In
dieser Bedeutung würde Gott das Absolute und Persönlichkeit
sein und der so oft erhobene Einwand der Pantheisten, dass Gott
nicht Persönlichkeit sein könne, da er das Absolute sei, hinfällig,
weil diese Begriffe einander dann nicht widersprechen. Wer aber
den Begriff des Absoluten in der heute üblichen Anwendung als
das Wesen, ausser welchem nichts ist, fasst, der hat nur die
Wahl, entweder den Begriff des Absoluten oder den der Persön-
lichkeit als auf Gott anwendbar, festzuhalten, aber nicht beide.
Welchen der beiden Begriffe wir dann fallen lassen müssen, kann
nach dem Gesagten nicht mehr zweifelhaft sein. Schon J. St.
MiLL gibt in seinen nachgelassenen Abhandlungen über die
Religion die Absolutheit Gottes auf zugunsten seiner Persönlich-
keit. Richard Rothe sagt in seiner „Theologischen Ethik", dass
man vor einem unpersönlichen Absoluten keinen Respekt haben
könne. Wer an der Absolutheit Gottes festhalten und die Per-
sönlichkeit Gottes fallen lassen würde, würde damit auch die
Möglichkeit einer Freiheit der Menschen aufheben, welche nur
unter dem Theismus denkbar ist.
KoRWAN nimmt Anstoss an meiner Ausführung, „dass, wenn
Hartmanns Metaphysik wahr wäre, wir nur von einem listigen
Gott hervorgebrachte Werkzeuge zur Erreichung seiner Erlösung
sein würden, dass aber unsere Ehrfurcht und in zweiter Linie
unsere Liebe einem Gott gegenüber schwinden müssten, welcher
nicht wusste, was er tat und was er wollte, als er die Welt her-
vorgehen liess". KoRWAN nennt dieses eine sittliche Verunglimp-
fimg des phanteistisch gedachten Gottes und tadelt, dass ich den
Theismus mit solchen Mitteln durchzusetzen suche. Ich habe hier-
mit zeigen wollen, dass sich das religiöse Gemüt gegen die Spitze
der Hartmannschen Metaphysik auflehnt, und dazu meine ich voll-
berechtigt zu sein, dass ich mich bei der Frage, ob der Pantheis-
mus oder der Theismus die Wahrheit ist, nicht nur auf den
Standpunkt des reinen Intellektualismus stelle, sondern mich auch
auf das religiöse Gemüt des Menschen berufe. Zwar weiss ich
wohl, dass das religiöse Gemüt keine konstante Grösse ist, son-
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32
KARL ANDRESEN.
dem sich unter dem Einfluss metaphysischer Vorstellungen
ändert. So gebe ich denn Korwan gern zu, dass der konse-
quente Pantheist aufhören mag, in einem Gott, welcher seine
Kinder fühllos peinigt und dann auffrisst, noch ein Ungeheuer zu
sehen, da er ja aufgehört hat, sich als ein Kind Gottes zu be-
trachten. So mag es denn auch wohl sein, dass sich das Gefühl
des Pantheisten zu einem Mitleid mit seinem unseligen Gott auf-
schwingen kann, einem Miüeid, welches weder ihm selbst noch
Gott frommen kann, zumal nicht seinem Gott, welcher sich keines
Leids bewusst ist. — So viel steht jedenfalls fest, dass das ur-
sprüngliche noch nicht durch spekulative Reflexionen beeinflusste
Menschengemüt sich den Gott oder die Götter als dem Menschen
persönlich gegenüberstehende Wesen vorstellte. Ja, die grosse
Masse des Volks hat pantheistischen Ideen gegenüber stets an
theistischen Vorstellungen festgehalten. Erst mit der spekulativen
Begründung des Theismus werden die divergierenden Entwicke-
lungsrichtungen von Religion und Wissenschaft wieder zu konver-
gierenden gemacht sein.
In seiner Religionsphilosophie sagt Herm. Siebeck: „Die
Religion hat im ansteigenden Gange ihrer Ausbildung den Per-
sönlichkeitsbegriff in bezug auf das Wesen Gottes immer mehr in
den Mittelpunkt gerückt: wenn die Anwendbarkeit dieses Begriffs
auf das Wesen Gottes verneint würde, würde die ganze geschicht-
liche Entwickelung des religiösen Bewusstseins als die einer
Illusion bezeichnet werden müssen". Schon Schelling sagte, dass
es Angelegenheit der Menschheit sei, dass der Theismus, der bis
jetzt bloss Glaube war, sich in wissenschaftliche Erkenntnis ver-
kläre und zum Mittelpunkt aller menschlichen Einsichten gemacht
werde. Auch Lotze schreibt, dass der Sehnsucht des Gemüts,
in Gott das Höchste als Wirklichkeit zu denken, keine andere
Gestalt als die der Persönlichkeit genügen könne.
Theismus und Pantheismus haben seit langer Zeit um den
Vorrang miteinander gestritten. Da auf der spekulativen Stufen-
leiter der Pantheismus dem Theismus gegenüber der nächst-
liegende Standpunkt ist, darf es uns nicht wundern, dass die
Pantheisten im allgemeinen spekulativ stärker waren als die
Theisten. Der Pantheismus ist eine notwendige Durchgangsstufe,
welcher wir vor allem die Immanenzlehre verdanken. Erst nach-
dem diese, sowie der transzendente Realismus unverlierbar fest-
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ZUR BEGRÜNDUNG DES THEISMUS. 33
gestellt waren, konnte ein spekulativer Theismus mit Hilfe der
spekulativ gewonnenen theistischen Momente mit Aussicht nach
Anerkennung auch von seite der Wissenschaft ringen. Neben
dem Pantheismus hat zugleich ein transzendenter Individualismus
stets sich zur Geltung zu bringen versucht, worin die gefühls-
mässige Oberzeugung des Menschen, dass seine Seele ein reales
Subjekt sei, ihren Ausdruck gefunden hat. Der Versuch, den
transzendenten Individualismus auf einer ursprünglichen Mehrheit
substantieller Monaden zu begründen, wie wir solchen bei LzroNiz
finden, war nicht widerspruchslos durchführbar. Lessing und
Herder traten nur intuitiv für den transzendenten Individualismus
ein, ohne den Versuch zu machen, denselben spekulativ zu be-
gründen. Die neueren spekulativen Vertreter desselben, Bahnsen,
Mainländer imd Hamerling, sowie auch du Prel und Hellen-
bach sind mehr oder weniger atheistisch, und steht bei ihnen der
transzendente Individualismus in der Luft. Derselbe findet seine
spekulative Begründung nur in der Konstatierung des aussergött-
lichen Willens, womit zugleich der Schritt vom Pantheismus zum
Theismus getan ist und der Pantheismus sich als überwundene
Stufe darstellt.
Den transzendenten Individualismus mit dem Theismus zu
verbinden und beide spekulativ zu begründen, hat vor mir jüngst
Karl Peters in seinem Werke „Weltwille imd Willenswelt"
unternommen. Auch Peters erkennt die Notwendigkeit der An-
nahme eines ursprünglichen zweiten Prinzips ausser Gott an, doch
sieht er, in Anlehnung an Platon, den Raum als dieses zweite
Prinzip an, was aber von vielen Pimkten, welche diese Annahme
unerklärt lässt, abgesehen, schon deshalb nicht richtig ist, weil der
Raum, ebenso wie die Zeit, nichts Reales ist. — Ohne es zu
wissen und zu wollen, hat nun Hartmann dadurch, dass er die
Nichterfüllung des unendlichen Prinzips Wille durch das Logische
nachwies und zugleich das Alogische als ein mit dem Logischen
gleich ursprüngliches Prinzip zeigte, die Vorbedingung zur Be-
gründung einer pol)ristischen Willensmetaphysik und des Theis-
mus gelegt. Ob er sich selbst dazu aufschwingen wird, ange-
sichts des nur logischen Willens Gottes den alogischen Willen
als einen aussergöttlichen zu erfassen imd damit seinen konkreten
Monismus, welcher schon von anderer Seite und aus anderen
Gründen als eine Vorstufe zu einem spekulativ begründeten Theis-
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 197 3
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34
IV. PAILLER.
mus bezeichnet worden ist, zu diesem heraufzuführen, entzieht
sich meiner Beurteilimg. Hartmann würde damit den dunklen
Schatten, welchen die nach seiner eigenen Aussage ablösbare und
durch eine andere ersetzbare Spitze seiner Gedankenpyramide
auf die vielen wertvollen metaphysischen Bausteine wirft, welche
er, über Kant und über Hegel weit hinausgehend, mit grosser
spekulativer Veranlagung in rastloser Arbeit herbeigeschafft hat,
entfernen; er würde damit den grössten aller Siege errungen
haben. Sollte er diesen Weg nicht einschlagen, dann würde die
weitere spekulative Durchführung des Theismus bald über ihn
hinwegschreiten. Korwan aber hat nur den aussichtslosen Ver-
such unternommen, von einer unhaltbaren Hartmannschen Position
aus den Pantheismus zu verteidigen.
Das Raumproblem.
(Eine unparteiische Kritik der Metageometrie.)
Von W. PalUer.
Motto: Die Welt konnte nicht bestehen,
wenn sie nicht so einfach wäre. (Goethe.)
In der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik*,
Band 122, ü, pag. 119, finde ich einen begrüssenswerten Passus:
„Auch die metageometrischen Spekulationen sind nicht möglich,
ohne vorausgesetzten, und zwar Euklidischen Raum."
So will ich hier im ersten Teile an der Metageometrie Kritik
üben und in der zweiten Hälfte für die Euklidische Geometrie
positive Werte geben.
L
Ich betone folgende gewichtige Bedenken gegen die Nicht-
euklidische Geometrie:
I. In der Geometrie verhält sich jede gerade Linie analytisch
so, als ob sie nur einen unendlich fernen Punkt hätte (Ld I pag. 33) i),
d. h. als ob das Parallelenaxiom Euklids Gültigkeit hätte. Werden
nun trotzdem jeder Geraden 2 unendliche Punkte zuerkannt (in
der Nichteuklidischen Geometrie), so ergibt
1) Ld » Dr. Lindemann, Vorlesungen Aber Geometrie von Clebsch
I. und n. Band, Leipzig 1876.
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DAS RAUMPROBLEM,
35
2. die Gleichung der hyperbolischen Geometrie, welche das
Doppelverhältnis von 4 Punkten in seiner Abhängigkeit von den
gegenseitigen Entfernungen dieser Punkte darstellt, einen offen-
kundigen Widerspruch mit der analogen Gleichung in der para-
bolischen (Euklidischen) Geometrie, so dass selbst die Metageome-
triker zugeben müssen, man könne daraus schliessen, es sei über-
flüssig, bei der Annahme zweier Punkte zu verharren (Ld ü, i,
pag. 467).
3. Es führt die analytische Geometrie zu der analytischen
Tatsache, dass alle unendlich fernen Punkte der Ebene auf einer
unendlich fernen Geraden liegen (was nach i. die Gültigkeit der
Euklidischen Geometrie erweisen würde), und eben diese Tatsache
wird dazu benutzt, den Sätzen der projektiven Geometrie (von
der man zum Aufbau der Nichteuklidischen Geometrie ausgeht)
allgemeine Gültigkeit zu geben (Ld I, pag. 67).
4. In der Nichteuklidischen Geometrie hängt jede Gerade von
einer Konstanten k ab, wie in der Euklidischen Geometrie die
Kurven (zweiter Ordnung).
5. Der Euklidische Raum ist nach Ansicht der Metageome-
triker ein Grenzfall und besitzt z. B. als Teil (!) eines Raumes
von 4 Dimensionen Existenz. Da aber die Gültigkeit des Eukli-
dischen Raumes allgemein erwiesen ist, sobald sie nur in einem
Falle zugegeben wird, so würde damit die Nichteuklidische Geo-
metrie hinfällig (Ld ü, i, pag. 533; II, i, pag. 551).
6. In der elliptischen (Nichteuklidischen) Geometrie schliessen
zwei Gerade einen Raum ein (Ld II, i, pag. 528). Damit wird
die Grundvoraussetzung der projektiven Geometrie (auf der ja
doch die Nichteuklidische Geometrie aufgebaut ist): „Eine Gerade
ist durch zwei Punkte bestimmt" hinfällig (Ld II, i, pag. 434).
(In der hyperbolischen Geometrie träfe man den gleichen Wider-
spruch darin, dass jede Gerade die unendlichferne Gerade in zwei
Punkten schneidet. Die Metageometriker aber beheben diesen
Widerspruch damit, dass sie statt der unendlichfemen Geraden
[Kurve erster Ordnung] eine Kurve zweiter Ordnung annehmen.)
7. Beim Aufbau der Nichteuklidischen Geometrie wird die
Voraussetzung gemacht, „dass sich jede gerade Linie durch
Drehung um einen ihrer Punkte mit sich in Lage und Richtung
zur Deckung bringen lasse ** (Ld 11 , i, pag. 443). Mit welchem
Rechte entnimmt man solche oder ähnliche Voraussetzimgen unserer
3*
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36 J^' PAILLER,
Anschauung, wenn ihr verwehrt wird, beliebige Kreise als möglich
zu denken (wodurch das Parallelenaxiom Euklids bereits erwiesen
wäre), oder wenn sie, in den Folgerungen des elliptischen Systems,
glauben muss: „Die elliptische Ebene wird durch eine beliebige
Gerade nicht in zwei Teile getrennt; jeder Punkt auf der einen
Seite liegt zugleich drüben* (Ld D, i, pag. 527). Man sieht auch
hieraus wieder, jede Metawissenschaft ist mystisch. Und die
Mathematik, die Hüterin der Logik, lässt es zu, dass die Geo-
metrie über solche äussere Widersprüche leichthin sich wegfindet,
mit der Begründung, es finde sich in den NichteukUdischen
Systemen kein innerer Widerspruch. Als ob, wenn man das
Unendliche weit, weit draussen sucht und behandelt, ein Widerspruch
dagegen sich im hmern finden Hesse!
IL
Es ist nicht sehr schwer zu kritisieren^ — man soll Besseres
dafür geben.
Hier handelt es sich um einen Beweis für Euklids V. For-
derung: „Werden zwei Gerade von einer dritten geschnitten und
sind die inneren Winkel, welche sie an einer ihrer Seiten mit
den beiden geschnittenen Geraden bildet, zusammen kleiner als
zwei Rechte, so sollen die beiden geschnittenen Geraden, ins Un-
endliche verlängert, auf der Seite, wo diese Winkel liegen,
schliesslich zusammentreffen. **
Je nachdem man nun „Parallele Gerade** definiert als
a) Gerade, welche keinen Punkt gemeinsam haben (Euklids
Definition) oder
b) Gerade, welche in der Unendlichkeit einen Punkt gemein-
sam haben (Desargues' Definition), hat man zwei ver-
schiedene Beweisverfahren einzuschlagen.
c) Hierzu kann sich noch ein drittes Beweisverfahren aus
der projektiven Geometrie gesellen.
Diese drei leicht verständlichen Beweise (Elementarbeweise)
wollen wir im folgenden aufstellen:
A.
Erklänmg.
Wenn eine Gerade AG parallel zu der Geraden BE ist, so
muss es durch den Punkt A andere Gerade geben, welche die
Gerade BE schneiden, wie dies bei der Geraden AB ganz sicher
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DAS RAÜMPROBLEM.
37
der FaU ist. Je mehr sich die schneidende Gerade der Lage der
Geraden AC nähert, um so kleiner wird der Winkel werden, den
die Gerade AC mit der die Gerade BE schneidenden Geraden
bildet
Insbesondere muss es eine schneidende Grerade AD geben,
welche die Grenzlage aller schneidenden Geraden repräsentiert,
die wir daher Grenzgerade heissen und die, solange die Defini-
tion a) gilt, einen Punkt D mit BE gemeinsam haben muss, weil
sie BE schneiden soll, während AC keinen Punkt mit BE ge-
meinsam hat, weil sie parallel BE sein soll.
Hier sind also Grenzgerade und Parallele wohl unterschieden.
Die Definition a) betont also das Reale im Kontinuitätsbegriffe,
weshalb wir hier im Gegensatz zu Definition b) auf kleinste
Winkeleinheiten d stossen, die ja eigentlich O® betragen müssten,
hier aber von O* verschieden sein und grösser, d. h. eine endliche
Grösse sein müssen. (S. Figur i.)
Es sei gegeben
1. Gerade HC parallel BE [unter Winkel CAB + Winkel
ABE = 2r — a (entgegen Euklids V. Forderung)],
2. Gerade AD Grenzgerade zu BE [unter Winkel DAB
-j-WinkelABD = 2r — a — d (auf Grund der Definition a)].
I. Behauptung: -^CAD muss die kleinste Winkeleinheit
d sein.
Beweis: Gäbe es einen kleineren Winkel, so müsste die
Gerade AX entweder parallel BE (nach Dat. i unmöglich) oder
AX Grenzgerade zu BE sein (nach Dat. 2 unmöglich). Mithin
ist Winkel CAD = i (kleinste, unteilbare Winkeleinheit) q. e. d.
Es sei gegeben 3. DF parallel CH [unter Winkel HAD
+ Winkel ADF = 2r — ß (Folgerung aus der hjrperbolischen
Geometrie)].
4. Gerade AG durch den Punkt A gelegt imter Winkel
HAG = 3 (kleinste Winkeleinheit).
IL Behauptung: AG muss DF in G schneiden.
Beweis: Schnitte sie nicht, so wäre AG parallel DF (nach
Dat. 3 unmöglich). Mithin schneidet AG die Gerade DF, und
zwar als Grenzgerade zu DF, da ja Winkel HAG = i ist
(Lehrs. I).
III. Behauptung: Dat. i ist falsch.
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38 ^. PAILLER.
Beweis: Man denke sich durch A gelegt Gerade YX pa-
rallel FD, so müsste nach Dat. i Winkel DGA kleiner als
Wechselwinkel YAG sein. Da nun nach Dat. 4 Winkel H A G = i
und nach Thes. I. Winkel JAH = i (als Scheitelwinkel zu CAD)
ist, so fällt YX mit JD zusammen, d. h.
Gerade YX schneidet FD q. e. d.
Ist aber Wechselwinkel YAG kleiner als Winkel JAG, so
fällt entweder die Parallele YX auf die Gerade HC, in welchem
Falle sofort die H3T)Othese der parabolischen Geometrie Platz
greift und somit die Hypothese der hyperbolischen Geometrie
(Dat i) widerlegt ist (q. e. d.) oder es fällt YX mit GA zu-
sammen, was unmöglich ist, da dann YX die Gerade FD in G
schneiden würde, q. e. d.
Es bliebe somit der einzige Ausweg für die hyperbolische
Geometrie, zwei kleinste Winkeleinheiten anzunehmen, was aber
gegen EuKLros V. Grundsatz: „Totum parte maius" verstiesse.
Mithin ist für die Definition a) die einzige Möglichkeit der
Euklidischen Geometrie erwiesen,
B. (S. Figur 2.)
Erklärung: Wenn eine zu der Geraden BE parallele Ge-
rade A C einen Punkt D in der Unendlichkeit mit B E gemeinsam
hat, so ist diese Parallele AC zugleich Grenzgerade zu der Ge-
raden BE. Damit, dass beiden Geraden der Punkt D zukommt,
ist nämlich die Bedingung des „Schneidens" (Zusammentreffens)
einer Grenzgeraden erfüllt, damit, dass der Winkel CDE = 0^
angenommen wird, die Bedingung des j^Nichtschneidens'' einer
Parallelen. Diese Definition b) betont einseitig das „Transcenden-
tale** im Continuitätsbegriffe, weshalb man hier im Gegensatz zu
Definition a) auf einen Winkel von O** (der ja eigentlich kein
Winkel ist), geführt wird: Das Unbefriedigende in jeder der
beiden Definitionen für sich wird durch die bzw. andere Definition
aufgehoben.
Es sei gegeben
1. Gerade ACD parallel Gerader BED,
2. Gerade ACD Grenzgerade zu Gerader BED.
Behauptung : Winkel C F G + Winkel F G E = 2 r.
Beweis: Man lege durch D eine Senkrechte zu CD=»LDK^
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DAS RAUMPROBLEM.
39
so ist LDK senkrecht zu ED (da Winkel CDE = Oo ist), folg-
lich ist
1. Winkel GDF 4- WinkelFDK = Winkel F DK,
2. Winkel G D F + Winkel G DL = Winkel G D L.
Wenn nun Gerade AD eine von Gerader BD in bezug auf
den unendlich fernen Punkt D unterschiedene Gerade ist, so sind
in D zwei verschiedene Lote AD und BD zu der Geraden KL
möglich. Das verstösst gegen Euklids 13. Lehrsatz des I. Buches,
wonach auf jeder Geraden nur i Lot möglich ist, und somit gegen
Euklids V. Grundsatz: „Das Ganze ist grösser als sein Teil*.
In der hyperbolischen Geometrie kommt der Geraden AD
ausser D der unendlich ferne Punkt X zu, der Geraden B D aber
ausser D noch der unendlich ferne Punkt Y. Folglich sind hier
D X und D Y tatsächlich zwei verschiedene Lote, was nach obigem
immöglich ist. Damit fällt die Nichteuklidische Geometrie.
In der parabolischen (Euklidischen) Geometrie aber kommt
der Geraden AD sowohl wie der Geraden BD ausser D noch
der unendlich ferne Punkt Z gemeinsam zu, und da eine Gerade
durch zwei Punkte bestimmt ist, so ist Gerade ZA CD und Ge-
rade ZBED in bezug auf den unendlich fernen Punkt D eine
und dieselbe Gerade. Es ist somit auf KL in D nur i Lot
möglich, wie dies hier der Fall ist, und gegen Euklids V. Grund-
satz liegt hier also kein Verstoss vor.
Lege ich somit durch Gerade BE eine beliebige Gerade JH so ist
Winkel JGD Nebenwinkel zu Winkel HFD
folglich Winkel DFG + Winkel FGD = 2r. q. e. d.
Der Einwand FG sei eine Strecke, folglich Gerade AC
nicht ein und dieselbe Gerade wie BE, fällt damit, dass der un-
endlich ferne Punkt D in bezug auf die endlich nahen Punkte F
und G mit dem unendlich fernen Punkte Z zusammenfällt, folglich
die Gerade AC im Endlichen sehr wohl von Gerader BE unter-
schieden sein kann, da ja eine Gerade durch einen Punkt noch
nicht bestimmt ist
Somit ist Euklids V. Forderung erwiesen.
C (S. Figur 3.)
Trotzdem bereits mit A und B alles erwiesen ist, werden
sich die Metageometriker auf die projektive Geometrie steifen, utn
nicht die hundertjährige Arbeit hervorragender Männer zum Teile
vergeblich getan zu wissen.
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40 ^. PAILLER,
Mit dem Begriffe eines Winkels verknüpfen wir immer die
Vorstellung zweier Punkte und eines Doppelpunktes, um eben die
Richtimg der beiden zusammentreffenden Geraden zu bestimmen.
Bei einem Winkel O® werden die zwei einfachen Punkte ebenfalls
zu einem Doppelpunkte, so dass wir hier zwei Doppelpunkte
haben, von denen je ein einfacher jeder der beiden Geraden zu-
kommt. Die beiden Geraden fallen also zusammen. Da nun in
der projektiven Geometrie im positiven imendlichen Punkte C
(vgl. Ld II, I, pag. 435 ff.) die Geraden OC und AC unter einem
Winkel von O® zusammentreffen, so verstiesse die Annahme zweier
unendlich femer Punkte für jede Gerade gegen die Grundvoraus-
setzung der projektiven Geometrie, wonach eine Gerade durch
2 Punkte bestimmt ist. Denn jeder der Geraden OC imd AC
kommen die beiden Doppelpunkte zu, folglich müssen beide Ge-
rade identisch in bezug auf den unendlich fernen Punkt C sein,
d. h. es ist nur die Euklidische Geometrie möglich, es müssen
also alle durch O' gezogenen Hilfsgeraden die Gerade AC treffen.
Wenn dies der Fall ist, so gibt die projektive Geometrie die
Eigenschaften der Unendlichkeit sehr charakteristisch wieder,
nämlich, dass man
1. Der Unendlichkeit beliebig nahe kommen kann, ohne sie
je zu erreichen,
2. in der Unendlichkeit die Summe aller Punkte vereinigt
nnd noch übertroffen denken kann.
In dem unendlich fernen Punkte C trifft dies auch bei der
Nichteuklidischen Geometrie zu. In dem imaginären (negativen)
unendlich fernen Punkte dagegen treffen wir diese Eigenschaften
nur dann wieder, wenn das Euklidische System Gültigkeit bat.
In der hyperbolischen Geometrie dagegen kann man für den
imaginären unendlich fernen Punkt stets einen Nachbarpunkt be-
stimmt angeben, imd die Richtung eines zweiten Nachbarpunktes
ebenfalls bestimmen.
Fordert man gar noch die 2. Eigenschaft der Unendlichkeit
auch für die imaginäre Hälfte, so ist es eine Leichtigkeit, die
h)rperbolische Geometrie umzustossen. Allein diese Entwicklungen
würden hier zu weit führen. Man kann dann nämlich beweisen,
dass Punkt O der projektiven Geometrie auf die Gerade O' — «
fällt, worauf sofort alle durch O' gezogenen Hülfslinien die Ge-
rade C A schneiden müssen, und somit die Euklidische Geometrie
die einzig mögliche ist.
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DAS RAUMPROBLEM,
41
Hier soll aber gezeigt werden, dass die Beziehung zwischen
den Punkten der projektiven Geometrie keine umkehrbare (Ld II, i,
pag. 430) ist sowie die Annahme der hyberbolischen Geometrie
richtig wäre, dass nämlich nicht alle durch O' gehenden Hülfs-
linien die Gerade AC schneiden (Ld 11, i, pag. 442).
Voraussetzung. (S. Fig. 3.)
1. Gerade O'fl Grenzgerade zu Cfl.
2. ^OQ-«+iO'>0® (Hypothese der hyp. Geometrie).
Thes. Gerade O' Q ist nicht Grenzgerade C Q (d. h. Dat. i
ist falsch).
Analyse: Ein Schnittpimkt ist unerreichbar, heisst: Der Schnitt-
punkt liegt im Unendlichen (Desargues).
Beweis: Wenn Gerade O'fl Grenzgerade zm CQ (Dat. i)
und < O Q--+1 O' > O« (Dat. 2) ist, so muss Gerade O Q-»+i
über Q"»+i hinaus verlängert die Gerade CQ \n Z wirklich im
Endlichen schneiden, weil sonst Dat. i oder 2 falsch wäre.
Folglich liegt Schnittpunkt Z im Endlichen (Folgg. a).
Da O'fl Grenzgerade ist, so liegt Schnittpunkt Q im Un-
endlichen = — 00.
A. Entweder käme dem Schnittpunkt Z ein beliebig grosser
endlicher Wert — x zu.
In diesem Falle ergeben sich von Z nach C insgesamt
— x + oo=-j-oo Pimkte (da — x im Verhältnis zu +00 ver-
schwindet, d. h. keine Mehrung oder Minderung bedeutet).
Daraus ergibt sich für — x der Wert =0. Folglich läge O
dem Werte — 00 benachbart, da nach den Beziehungen des Systems Z
benachbart Q li^. Daraus ergibt sich Zfl= — 00=1, was ein
offenbarer Widerspruch wäre.
Mithin ist Dat. i falsch.
B. Oder es käme dem Schnittpunkt Z der unendlich grosse
Wert — 00 -j- 1 zu.
Dann kommt Y der unendlich grosse Wert — co 4- 2 zu iL s. f.
Von allen diesen Punkten mit unendlich hohem Werte aus
ist Punkt A = unerreichbar, da ja um Summe O zu geben,
die Summe — «-j-i-j-x den Wert x=» + *^ — ^ ergeben muss,
so dass X ebenfalls ein unendlich grosser Wert ist. Da nun
A = O gegeben ist, so wäre, nachdem A von Z aus unerreichbar
ist, auch Z von A aus unerreichbar (Umkehrung), mithin läge Z
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42
W, PAILLER,
Figuren zu den drei Elementarbeweisen des II. Abschnittes.
Tig.^l.
Fi^.3
Vergleiche: Lindemann, „Clebsch's Vorlesungen über Geometrie 11, i".
Abschnitt: Projektive Geometrie.
bereits im Unendlichen (n. Analyse). Dies wäre ein Wider-
spruch mit unsrer Folgerung a.
Mithin ist Dat. i falsch.
Somit ist auch durch die projektive Geometrie die Unmöglich-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW, 43
keit der hyperbolischen Geometrie erwiesen, und es dürften alle
Beweise zusammen, immerhin nicht leichthin tibersehen werden,
zumal ja doch der Euklidische Raum durch die Erfahrung ge-
geben ist.
Damit glaube ich meinen IL Teil und damit die Abhandlung
beschliessen zu können und die metageometrischen Spekulationen
als Spekulationen genügend charakterisiert zu haben.
Bericht über die italienische philo-
sophische Literatur der Jahre
1903 und 1904.
Von Chr. D. Pflaum.
L Geschichtliches.
Mit den Gnmdzügen der Weltauffassung im Bhagavadgita
befasst sich eine kleine Arbeit von Oreste Nazari, dem Pro-
fessor für Sanskrit an der Universtiät Palermo, „La concezione
del mondo secondo il Bhagavadgita^ (Pavia 1903, Succ.
Bizzoni. 24 Seiten). Ihr Hauptwert hegt in der reichlichen Zitie-
rung der Quelle.
Ein literarisch sehr gründlich orientiertes Buch über Ebipe-
DOCLES bietet Emilio Bodrero, „II principio fondamentale
del siscema di Empedocle. Studio preceduto da un saggio
bibliograficoedalla traduzione dei frammentiEMPEDOCLEi''
(Roma 1904. Ermanno Loescher & Co. 173 Seiten. Preis 4 Lire.)
Der Verfasser gibt zuvörderst eine Bibliographie und eine auf
die Textausgabe Muixachs (nicht auf dessen Konjekturen) gegrün-
dete Übersetzung der Fragmente. In der Hauptsache erörtert er
alsdann, dass man bisher an Ebipedocles mit inadäquaten Kriterien
herangetreten sei und mit Unrecht Misstrauen gegen die bezüg-
Uchen Referate des Aristoteles gehegt habe, dass mithin die
geltenden Anschauungen über die Begriffe des Empedocles von
den Elementen, den Kräften, dem seelischen Geschehen und dem
Göttlichen erheblich modifiziert werden müssen. Seines Erachtens
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44 CHR, D. PFLAUM.
hat auch das Gedankengebäude des Empedocles ein e^es, be-
herrschendes und allenthalben sich äusserndes Prinzip: zweifach
ist die Entstehung der Dinge, zweifach der Tod, Kraft und Stoff;
es sind zu unterscheiden materielle Elemente und Kräfte, ideelle
Elemente imd Kräfte, Körper und Seelen, elementare Götter und
spirituale Götter. Mit diesem Dualismus hat sich Ebipedocles, so
vertritt der Verfasser, in logischer Beziehung zu den ihm vorauf-
gegangenen und zeitgenössischen griechischen Philosophen be-
funden, dieselben indes weit überholt und für die Arbeit Platos
und Aristoteles Bahn gebrochen.
Der griechischen Philosophie sind ferner gewidmet ein in
der „Rivista di filosofia e scienze afiini'' erschienener Aufsatz von
Francesco Moffa, ^L'etica del Democrito* (Bologna 1904.
41 Seiten), dem man bei aller Anerkennung der grossen Belesen-
heit und Gründlichkeit des Verfassers kaum nachsagen kann, dass
er unsre Kenntnis erweitert oder das herrschende Urteil modifi-
ziert, sodann eine Broschüre von Luigi Andrea Rostagno,
„ Ancora del naturalismo del Socrate. Appunti" (Turin 1904.
G. B. Petrini. 16 Seiten. Preis 0,60 Lire), die mit Bezug auf die
bezügUchen Arbeiten von Chiappelli dartut, was aus der Apologie
Platos, aus Diogenes Laertius und Seneca zur Beleuchtung des
Themas noch zu entnehmen ist, und endlich der erste Teil eines
Buches von demselben Verfasser über „Le idee pedagogiche
nella filosofia cinica e specialmente in Antistene*' (Turin
1904. Carlo Clausen. 61 Seiten. Preis 1,50 Lire). Der vorliegende
Teil dieses Buches behandelt im besondem die Erziehung in ihren
allgemeinen Merkmalen und die Geistesbildimg, während der zu
erwartende Teil die familiäre, soziale, ethisch-religiöse, physische,
intellektuelle, ästhetische Erziehung im Sinne der Kyniker betreffen
soll. Die Arbeit Joels hat den Verfasser von vornherein und im
einzelnen sehr beeinflusst, und Joels Angaben und Wertungen
begegnen so ungemein häufig, dass man wohl sagen darf, dass
dieser Teil des Buches nur eine — infolge des Rückgangs auf die
Quellen immerhin nicht ganz wertlose — Ausweitung von Joels
Werk ist.
In mehreren Beziehungen interessant ist eine philologisch
genaue Untersuchung über Petrarcas, sowie der ihm nächst-
stehenden Zeitgenossen Kenntnis der Dialoge Platos, die Gio-
vanni Gentile unter dem Titel „I dialoghi di Piatone posse-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW.
45
duti dal Petrarca* in der „Rass. crit. d. lett. ital/ (Bd. IX.
Neapel 1904. Giannini e figli. 27 Seiten) veröffentlicht hat. In der
Bibliothek Petrarcas befanden sich sechzehn oder noch mehr
Bücher Platos, mit deren Inhalt er selbst — durch Barlaam im
Griechischen unterrichtet, sowie vermittelst lateinischer Über-
setzungen — zwar nur unvollkommen, aber immerhin so vertraut
war, dass er seinen Zeitgenossen, die nur den TimAus kannten,
weit voraus war.
Eine gut geschriebene, selbständige Darstellung der Persön-
lichkeit und Leistung des Francesco Sanchez bietet ein Buch von
Cesare Giarratano, ,11 pensiero di Francesco Sanchez **
(Neapel 1903. Luigi Pierro e figlio, Preis 2 Lire). Im biographischen
Teile ist bemerkenswert die Verwerftmg sämtlicher bisheriger An-
nahmen über das Geburts- und Todesdatum; der Verfasser be-
gnügt sich mit der Behauptung, dass die Geburt zwischen 1540
und 1550 und der Tod zwischen 1612 und 1621 erfolgt ist. Der
Hauptteil ist eine gut disponierte Wiedergabe der erkenntnis-
theoretischen und kritischen Ansichten des Sanchez, wie sie so-
wohl in seinen positiven als namentlich in seinen gegen die Scho-
lastik gerichteten polemischen Arbeiten zum Ausdruck kommen.
Er enthält keine neue These, aber ist die Basis der Behauptung
des Verfassers, dass Sanchez im Gegensatz zu Agrippa von
Nettesheim und Montaigne und seiner Schule als methodischer
und sozusagen provisorischer Skeptiker, dem es mit seiner
Skepsis auf nichts mehr als auf Verbesserung des Wissens an-
kommt, anzusehen ist und insofern Baco und Descartes den Weg
gewiesen hat.
Zur Kenntnis von Giambattista Vico und dessen geschicht-
licher Bedeutung leistet einen sehr schätzbaren Beitrag Benedetto
Croce, der, wie ich in meinem vorigen Literaturbericht erwähnt
habe, auch die These aufgestellt und begründet hat, dass Vico
und nicht Baumgarten als eigentlicher Gründer der Ästhetik an-
zusprechen sei. Unter dem Titel „Bibliografia Vichiana, con-
tenente, nella parte I, il catalogo delle edizioni e tradu-
zioni e dei mss. delle opere di Giambattista Vico; nella
parte II, quello dei giudizii e lavori storico-critici in-
torno al Vico sino all' anno corrente; nella parte III,
lettere inedite dei Vico e al Vico, documenti e altri scritti
inediti o rari, e varie appendici illustrative. Saggio presen-
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46
CHR. D. PFLAUM.
tato air Accademia Pontaniana neue toraate del i, 7 e 15 novembre
1903" (Neapel 1904. Amministrazione della „Critica'' XII und 128
Seiten, gr. 4^. Preis 4 Lire) hat er eine wohlgeordnete Masse von
bibliographischen Angaben sowie teils unediertes, teils schwer zu
erlangendes Material zur Lebens- und Arbeitsgeschichte Vicos her-
ausgegeben. Eine gute Reproduktion des in der Accademia deir Arcadia
existierenden und von einem verloren gegangenen Gemälde von
F. SoLiMENA herrührenden Porträts von Vico leitet das Buch ein.
Es erhellt übrigens aus der Zusammenstellung des Verfassers, über
deren Vollständigkeit ich allerdings kein Urteil habe, dass man
sich seither in Deutschland verhältnismässig recht wenig mit Vico
befasst hat.
Der 12. Februar 1904 ist zwar auch in Italien nicht gerade
übersehen, indes ebenso im öffentlichen Leben wie in der literarischen
Betätigung doch nicht sonderlich betont worden. Die paar Auf-
sätze, die Kant und seinem Werke von Italienern gewidmet worden
sind, haben teils überhaupt keinen, teils einen rein didaktischen
Wert. Auch eine grössere Arbeit über Kant und im besondern
über die geschichtlichen Voraussetzungen und die sachliche Be-
.deutung von Kants Erkenntnistheorie, die Erminio Troilo unter
dem Titel „La dottrina della conoscenza nei moderni pre-
cursori di Kant* (Turin 1904. Fratelli Bocca. X und 304 Seiten.
Preis 5 Lire) veröffentlicht hat und die durch eine empfehlende
Vorrede von Roberto Ardigo eingeführt wird, bietet in keiner Hin-
sicht etwas Bedeutsames oder Neues. Der Verfasser hat sich
fleissig, wenn auch nicht eben erschöpfend imd nur zum teil unter
unmittelbarer Benutzimg der ersten Quellen und der bezüglichen
kommentierenden Literatur, mit Baco und sogar mit Galilei, mit
Descartes, LEffiNiz, Wulff imd Berkeley, mit Locke und Hume
sowie mit einigen kleineren Geistern beschäftigt, deren Doktrinen
untereinander und mit einigen Lehrsätzen Kants verglichen, um
endlich herauszubekommen, dass es ihm scheine, als wäre mit
Kants a priori die von der ^modernen Wissenschaft** gestützte
Position HuMEs keineswegs überwunden. Um den Leser aber
nicht hoffnungslos zu entlassen, drückt der Verfasser seinen Glau-
ben aus, dass es nunmehr an der Zeit wäre, eine wissenschaft-
liche, objektive und definitive Erkenntnistheorie zu schaffen, und
lässt ahnen, dass er selber gewillt sei, Hand an dieses Werk zu
legen. Inzwischen schenkt er ims noch eine Monographie über
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW. 47
die Erkenntnistheorie Spencers, ,,La dottrina della conos-
cenza di Herbert Spencer" (Bologna 1904. Zamorani e Alber-
tazzi. Aus der „Rivista di filosofia e scienze affini** 46 Seiten), die
darlegen will, wie Spencer der direkte Gegensatz zu Kant und
der Erkenntnistheoretiker für den modernen Geist sei, wenngleich
auch ihm allerlei Schwächen für Mythisches, d. h. für alles, was
in das positivistische Blickfeld des Verfassers nicht eingeht, an-
haften. Im Hinblick auf die obengenannte definitive Erkenntnis-
theorie stellt auch Spencers Leistung für den Verfasser nichts
mehr als den Ausgangspunkt dar.
Eine erheblich wertvollere Untersuchung über Spencer ent-
hält eine Schrift von V. Erminio Juvalta, „La dottrina delle
due etiche di H. Spencer e la morale come scienza** (Pavia
1904. Success. BizzonL „Rivista filosofica" 1, 11, III. VII u. 75 Seiten).
Im Anschluss an seine, in meinem vorigen Jahresbericht angezeigte
„Prolegomeni a una morale distinta della metafisica** sucht der
Verfasser die Kriterien von Spencers Unterscheidung zwischen
absoluter und relativer Ethik aufzuzeigen und auf der Basis von
Ausführungen über das Normative zu erweisen, dass es ange-
messener ist, zwischen „reiner Gerechtigkeitsethik" und „ange-
wandter Gerechtigkeitsethik'' oder zwischen „reiner Sympathie-
ethik" und „angewandter Sympathieethik" zu unterscheiden.
Sehr schätzbar ist femer eine Ende 1904 publizierte Arbeit
über die Determination und die theoretische und praktische Trag-
weite des Individualismus nach der Prägung John Stuart Mells:
A. L. Martinazzoli, „La teoria dell' individualismo
secondo John Stuart Mill" (Mailand 1905. Ulrico Hoepli. Vni
und 352 Seiten. Preis 4,50 Lire). Es handelt sich hier zugleich
um eine Untersuchung, inwieweit Mill trotz des vorwiegend indi-
vidualistischen Charakters seiner GnmdbegrifFe und entgegen seiner
Absicht doch auch als eine der Säulen des Sozialismus anerkannt
werden muss, in Anbetracht nämlich seiner vornehmlich analy-
tischen Denkweise, seiner unzulänglich fundierten Auffassung vom
Ursprung und Zweck des Staates, seiner vagen und schwankenden
Entwicklungsidee und seiner oszillierenden Psychologie sowie einer
Reihe von einzelnen Momenten. Als Prinzipien, die Mill haupt-
sächhch herausgestellt hat, werden hier angesprochen: der Anteil
des Individuums am sozialen Fortschritt und die Notwendigkeit
der Freiheit.
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48 CHR. D. PFLAUM.
Ansehnliche Ausführungen verschiedener Art zur Geschichte
der Philosophie nebst einigen Anregungen zu ihrer praktischen
Förderung bringt auch der Bericht über die Verhandlungen der
Sektion für Geschichte der Philosophie und der Religionen des
Anfang April 1903 in Rom abgehaltenen internationalen Kongresses
der Historiker: „Atti di Congresso Internationale di scienze
storiche. Vol. XL Atti della sezione VIII, storia della
filosofia, storia della religione. (Rom 1904. Ermanno
Loescher & Co., XVI und 266 Seiten. Preis 6 Lire). Giacomo
Barzellotti erörtert die Notwendigkeit, in der Geschichte der Philo-
sophie namentlich für die Periode von der Renaissance bis Kant
dem Umstände gebührend Rechnung zu tragen, dass auch der
Philosoph durch sein „Milieu" bestimmt ist. Adolf Lasson be-
streitet nicht nur eine solche Notwendigkeit, sondern erachtet sie
überdies als schädlich für den philosophisch -wissenschaftlichen
Charakter der Geschichte der Philosophie. Über den theoretischen
Wert der Geschichte der Philosophie verbreitet sich femer in
positiver und literarisch orientierter Weise Alessandro Chiappelli,
demzufolge die Geschichte der Philosophie am angemessensten
im Sinne einer Einleitung in die Philosophie zu betreiben ist.
Derselbe Autor bietet eine Abhandlung über die ägyptischen Ele-
mente in der Kosmogonie des Thales. Baldassare Labanca legt
die Zwecke der Bibel dar und zeigt ausführlich, wie die „christ-
liche Philosophie** bei sämtlichen Autoren sich auf die Bibel
gründet und von vornherein methodisch verfehlt ist und sein muss.
G. B. Milesi verweist auf die Beziehungen der Philosopheme des
Pythagoras, Democritos, Galilei und Borelli zu den modernen
mechanistischen Theorien. Giacomo Tauro will die Geschichte
der Pädagogik als induktiven Teil der Erziehungswissenschaft
behandelt wissen.
In spezifisch italienisches Gebiet des philosophischen Arbeits-
feldes führt uns eine Vorlesung von Giovanni GENTiLE-Neapel
ein: „La rinascita deir idealismo'' (Prolusione letta nella
R. Univers, di Napoli il 28. 11. 1903. Neapel 1903. Tessitore e figlio.
23 Seiten. Preis i Lire). Nach einer Skizze der mannigfaltigen
philosophischen, wissenschaftlichen und dogmatisch-religiösen Strö-
mungen der letzten Zeit spricht der Verfasser von einem Neu-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW. 49
erstehen eines Idealismus» der keine Grenzen anerkennt und sich
ebenso dem kritischen Idealismus oder dem Neo-Kantianismus wie
dem Naturalismus und dem Mystizismus und dem Materialismus
entgegenstellt, eines monistischen Idealismus, der indes der Dua-
lität von Natur und Geist voll Rechnung trägt. Der Idealismus,
zu dessen tüchtigsten Vertretern in Italien Gentile selbst zu rechnen
ist, bedeutet das Bemühen, die Einheit der Sinnlichkeit imd der
Ideen, der Natur und des Geistes begreiflich zu machen, imd zwar
unter Ausnutzung des Begriffs einer teleologischen Entwicklimg.
Der innern Ausbildung eines solchen Idealismus ebenso wie
der Durchdringung aller geistigen Arbeit mit idealistischem Geiste
widmet sich eine neue Zeitschrift, deren Herausgeber Benedetto
Croce ist und unter deren Mitarbeitern Giovanni Gentile eine
hervorragende Stelle einnimmt: „Critica. Rivista di lettera-
tura, storia e filosofia" (erscheint alle zwei Monate. Erstes
Heft ist vom 20. Januar 1903. Umfang der Hefte etwa 80 Seiten.
Abonnementspreis für den Jahrgang 9 Lire. Einzelne Hefte kosten
1,50 Lire. Geschäftsstelle der ^Critica* in Neapel, Tribunali 390).
Die Zeitschrift enthält vornehmlich Kritiken über bedeutsame lite-
rarische Erscheinungen und philosophische, wissenschaftliche imd
künstlerische Tendenzen, die bei aller Schärfe der Negation ein
lebhaftes Bemühen zur Aufzeigung alles Guten und jeder frucht-
baren Anregung erkennen lassen. Sie hat sich nebenher vorge-
setzt, das Material für eine Geschichte der literarischen und wissen-
schaftlichen italienischen Leistungen während der letzten fünf Jahr-
zehnte vorzubereiten und selbst ein Schema dieser Geschichte zu
entwerfen. Aus den Beiträgen ist an dieser Stelle zuvörderst
herauszuheben die Kennzeichnung der Philosophie m Italien seit
1850 aus der Feder von Giovanni Gentile (I, 2, 3, 4, 5, 6. II, 4, 5.
III, 2), auf die ich unten noch des nähern eingehen werde. Im
übrigen sind hier bemerkenswert: Kritiken über einige neueste
deutsche Arbeiten zur Ästhetik von B. Croce, die nebenher seine
im vorigen Jahresbericht besprochenen ästhetischen Anschauungen
gegen andersartige zu betonen imd zu verteidigen streben, aber
dies doch nur bis zu einer petitio principii an der Schwelle des
psychologischen Erfahrungsbereichs vermögen (I, 3, 4. II, 4. III, i);
eine Kritik der „Völkerpsychologie* Wundtscher Prägxmg von
B. Croce, die dieser „Völkerpsychologie" aus mehreren Ge-
sichtspunkten das Existenzrecht abstreitet (1,4); Ausführungen über
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 127 4
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5Ö
CHR. D, PFLAUM.
den Thomiömus in moderher Fassung aus Anlass der Arbeiten
von EucREN und M. de Wulf, aus der Feder von Gentu^e, die
auf entschiedene Ablehnung des thomistischen Prinzips heraus-
kommen (I, 5, III, 3).
Eine dankenswerte Unterweisung über die letzten Perioden
der philosophischen Arbeit in Italien bietet uns Gentile ausser in
der oben zitierten Serie von Aufsätzen in einem Buche von leider
unorganischem Gefüge, das den Titel trägt „Dal Genovesi al
Galluppi. Ricerche storiche" (Neapeligos. Verlag der „Critica*'.
XV und 383 Seiten. Preis 10 Lire). Der Verfasser hat geglaubt,
in Anbetracht der politischen Territorialordnung und der kulturellen
Scheidung der Stämme in Italien während der in Rede stehenden
Zeit von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sich
auf die Philosophen Neapels beschränken zu dürfen und zu sollen;
er bemerkt, dass die Philosophie in Neapel eine stetige empirische
Tendenz innehalte und in der Regel ausschliesslich von wissen-
schaftlichen Interessen bei ihren Untersuchungen sich leiten lasse,
Während hingegen in der gleichen Periode die Philosophie im
nördlichen Italien (von Gerdil bis Gioberti) idealistisch, und zwar
im Sinne der religiös-kirchlichen Dogmen geartet gewesen sei und
deren Begründung und Befestigung vornehmlich im Auge gehabt
habe. Die beiden ersten Kapitel des Buches behandeln Antonio
Genovesi (1710 — 1769) und dessen philosophisch ansehnlichsten,
indes trotzdem recht oberflächlichen und höchstens wegen seiner
Äusserungen in bezug auf Soziologisches und Kulturelles bemerkens-
werten Schüler Melchiorre Delfico (1744— 1835); ^^^ lernen die
Abhängigkeit Genovesis namentlich von Locke kennen und er-
fahren, dass er im Verfolg seines Empirismus auch zu einigen
Thesen gelangt ist, die sich mit denen Kants nahezu decken.
Das dritte Kapitel gilt Carlo Lauberg (1762— 1834), emem in der
Haltung auf philosophischem Gebiete dem Delfico nahe verwandten^
in der geistigen Potenz diesem aber überlegenen Manne, aus dessen
Thesen ausser den der Bekämpfung des französischen Materialis-
mus gewidmeten herausgehoben zu werden verdient, dass uns
keiner unserer Sinne über die Existenz der äusseren Objekte in-
formieren könne sowie dass die Weise der allerdings anzuerken-
nenden Existenz der äusseren Objekte nicht unseren Begriffen von
ihr zu entsprechen brauche, wie sehr auch immer unsere Empfin-
dungen den von den Objekten auf uns gemachten Eindrücken^
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BERICHT ÜBER DIE ITALIEt^ISCHE PHILOSOPHISCHE USW, 51
dife doch nur dfer Ausdruck der Bttithnng dieser Objekte ra uns
und nicht der Ausdruck d^s Seins dieser Objekte an sich seien,
entsprechen mögen. Eine verhältnismässig sehr umfangreiche Studie
(Kap. IV) Widmet der Verfasser dem Pasquale Borrelli (1782
bis 1849), dem er eine seither verkannte Bedeutung in der philo-
sophischen Entwicklung des südlichen Italiens beimisst, eine Be-
deuttmg, die allerdings mehr seiner hervorragenden socialen Stel-
lung und seinem sozusagen vielseitig agitatorischen Bemühen zu-
gunsten philosophischer Betrachtungen zuzuschreiben ist als seiner
in groben Missverständnissen Kants und in einer kurzsichtigen
Verwendung des KraftbegrifTs für die Ideologie bestehenden origi-
nalen Leistung. Einen sehr nachhaltigen Einfluss der französischen
und englischen Philosophie haben all die genannten Autoren er-
fahren, und er zeigt sich sogar als der massgebende in deil moral-
philosophischen Arbeiten von Francesco Paolo Bozzelli (1786
bis 1864), mit dem sich Kap. V befasst; wäre übrigens diesef
Bozzelli mit der deutschen Literatur Vertrauter gewesen, als er
war, so hätte er im Jahre 1825 kaum behauptet, dass man noch
immer die Moral unter der vagen Form einer Sammlung zersplit-
terter Beobachtungen behandle anstatt nach Art einer wahren
philosophischen Wisseiischaft; sein moralphilosophischef Kardinal-
satz war, dass das einzige Motiv aller menschlichen Handlungen
die angenehme Empfindung des Künftigen ist, ein Satz, mit dem
er auch Ursprung Und Wesen alter gesellschaftlichen Verhältnisse
und Einrichtungen in bisweilen sehr scharfsinniger und geistreicher
Weise zu erklären sich mühte. Nach einer Besprechung der ita-
lienischen Wörtführer einef mit den Argumenten der Schatten
arbeitenden ablehnenden Kritik des Materialismus, der Dragonetti,
SelvAgoi, Winspeare und Gallüppi (Kap. VI), geht der Verfasser
auf die positive Leistung des Pasquale Gallüppi (1770 — 1846),
des sogenannten grossen Reformators der italienischen Philosophie,
i<i Kap. VII genauer ein, zeigt uns, wie aus dem freilich keines-
wegs immer zureichend legitimierten und konsequenten Gegensatz
gegen Kant und aus der Anlehnung an Lockes Empirismus Gal-
LUPPis Psychologie und Erkenntnistheorie ihre wesentliche Eigen-
tümlichkeit bekommen hat, wie er jedoch den Sensualismus und
den Spiritualismus dogmatischer Haltung gleichermassen zu über-
winden und in Italien eine neue spekulative Periode zu inaugurieren
vermocht hat, in der das italienische Denken, „belebt von den
4*
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52 CHR. D, PFLAUM,
vitalsten Ideen der deutschen Philosophie, in Rosmini und Gioberti
sich zu einer Höhe erhebt, wie sie von den Italienern seit den
grossen Denkern der Renaissance nicht mehr erreicht worden
ist.** Im vierten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts war, wie Kap. VÜI
dartut, im südlichen Italien der Eklektizismus französischer Manier
Mode und literarisch ansehnlich vertreten. Eklektisch war nament-
lich auch Ottavio Colecchi (1773— 1847), einer der besten italie-
nischen Kenner und Künder der Kantischen und nachkantischen
deutschen Philosophie seiner Zeit (Kap. IX), für den sich der Be-
reich der Philosophie auf Ideologie und Psychologie beschränkte
und der die Aufnahme von Hegels Doktrin vorbereitete; in einem
Anhang gibt der Verfasser noch eine Anzahl unedierter kleiner
literarischer und privater Äussenmgen Colecchis. — Von den
Philosophen nach 1850 hat Gentile in der „Critica" bis jetzt be-
handelt die „Skeptiker'' Giuseppe Ferrari, Ausonio Franchi, Bo-
naventura Mazzarella und den „Platoniker** Terenzio Mamiani.
Ferrari ist, wie aus den Ausführungen erhellt, trotz seiner Skep-
sis in der Erkenntniskritik und allerlei Sophistereien doch sehr
positivistisch in seiner Begründung und Normierung soziologischer
Verhältnisse, Franchi ein Skeptiker im Rahmen der Doktrin des
heiligen Thomas, Mazzarella ein mystischer Skeptiker, der die
Gedanken Ferraris und zugleich Kants und sogar Hegels in
abstruse Verbindungen gebracht hat; Mamiani ist seiner Absicht
nach der Fortsetzer der von Rosmini und Gioberti ausgehenden
philosophischen Tradition, der im besondem einen wesentlich nach
Plato gedachten Idealismus mit den recht naiv von ihm deter-
minierten erfahrungswissenschaftlichen Bestrebungen in Einklang
bringen zu können sich einbildete und sich ganz besonderer Mittel
zur literarischen Propagierung dieser seiner Einbildung bediente.
Allenthalben erkennt man einen sehr weitgehenden Einfluss
der deutschen Philosophie auf die italienische, die bis auf sehr
wenige Ausnahmen derart unselbständig und unsystematisch ist,
dass man sie als philosophische Vulgärliteratur bezeichnen dürfte.
Dass der deutsche Einfluss übrigens sich auch gegenwärtig noch
erhält, zeigt die neueste Literatur, am flagrantesten die der italie-
nischen Übersetzung von Haeckels „ Welträtseln ** vorausgeschickte
„Einleitung" von Enrico Morselli, dem bekannten Anthropo-
logen und Psychiater, unter dem Titel „Sulla filosofia moni-
stica in Italia**; sie zeichnet sich durch ungefähr dieselben Eigen-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW. 53
Schäften aus wie die Doktrin des „Philosophen* Haeckel und hat
ebenso wie diese ihre gründliche Abfuhr (in einer Kritik von
Gentile in II, 5 der ^Critica**) bereits erlebt.
n. Erkenntnistheorie und Naturphilosophie.
Als ersten Teil einer „Einleitung in die Metaphysik" bietet
eine historisch-kritische und systematische erkenntnistheoretische
Studie der erste Band des Werkes von Piero Martinetti,
„Introduzione alla metafisica. I. Teoria della conos-
cenza" (Turin 1904. Carlo Clausen. VIII und 496 Seiten. Preis
10 Lire). Der Verfasser hat seine referierenden Ausführungen,
die sich durch fachliterarische Gründlichkeit und Umsicht sowie
durch gute Disposition auszeichnen, von den kritischen imd syste-
matischen im Rahmen der einzelnen Probleme gesondert. In dieser
Form behandelt er nach einigen Auseinandersetzimgen über den
Begriff von Philosophie und Metaphysik sowie einige ihrer allge-
meinen geschichtlichen und gegenwärtigen Bedingungen „die
sinnliche Erkenntnis" und die „rationale Erkenntnis". Des Ver-
fassers Begriff der Philosophie schliesst sich eng an denjenigen
WuNDTs an; von der Metaphysik im besondem, die sich bei dem
Verfasser einigermassen mit der Philosophie zusammenschiebt,
sagt er, dass sie den Inhalt der in den einzelnen Wissenschaften
systematisierten und der persönlichen Erfahrungen vereinheitliche
und so das Wesen imd die letzte Einheit der Dinge erkenne.
Die reinste und einzige absolut gewisse Erfahrung, von der alle
Erkenntnis auszugehen habe, vertritt der Verfasser, ist die des
Bewusstseins , und zwar des Bewusstseins im Sinne eines be-
wussten Komplexes, der betrachtet werden kann sowohl unter
dem Gesichtspimkte der Vielheit der Inhalte wie unter dem der
diese Inhalte zusammenfassenden Einheit; diese Erfahrung bietet
zugleich die intuitive Gewissheit der (empirischen) Realität des
Subjekts und der Aussen weit, imd zwar in dem Sinne, dass die
Aussenwelt Vorstellung und die Vorstellung Aussenwelt ist. Das
Erkennen, erklärt der Verfasser, ist stets und auf jeder Stufe ein
objektives Erkennen, ein Erkennen imd ein Sein zu gleicher Zeit;
die Wirklichkeit, die wir erkennen, ist ein Akt unsers Denkens,
aber dieser Akt ist der konstitutive Prozess dieser selben Wirk-
lichkeit: das, was ich die Welt nenne, ist derselbe Prozess meines
Bewusstseins betrachtet in seiner objektiven Vielheit, ist der kon-
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54 CHR' D, PFLAUM,
krete Inhalt meines Bewußstseins isoliert von der zugehörigen
subjektiven Einheit, Das gilt, sagt der Verfasser, eben^ für das
sinnliche wie für das rationale Erkennen; ^uch die höchsten Koa-
struktionen des logischen Denkens sind, so bekennt er, unvoll-
kommene Ausdrücke einer Wirklichkeit, deren absolute Einheit
jedes Bewusstsein übersteigt. In seiner Erörterung der „sinnlichen
Erkenntnis" legt der Verfasser auf die in der gekennzeichne^n
ersten Gegebenheit enthaltenen Prinzipien der Einheit und fort-
schreitenden Synthese nahezu ausschliesslich Gewicht und ver-
bleibt im Bereich des Formalen und Abstraktesten, ohne irgendwo
einer originalen AuflFassung Ausdruck oder einer alten Auffassung
originalen Ausdruck zu geben. Die Abschnitte über die „rationale
Erkenntnis** halten sich gleichfalls — und dies vielleicht in Kon-
sequenz der Annahme des Verfassers, dass die Erkenjitnistheorie
eine Art kritischer Einleitung oder negativer Vorarbeit zu dem
positiven Werk der Metaphysik zu sein habe — im Bereich des
Formalen, suchen indes den Ergebnissen der modernen analytischen
Psychologie Rechnung zu tragen; was der Verfasser hier über
Zeit und Raum, Formen a priori, mathematische und logische
Wahrheiten, Kausalität, Identität, psychologische und logische
Kategorien und Prozesse sowie das Intelligible vorbringt, legt
Zeugnis ab von seinem gründlichen und besonnenen Studium der
direkt zugehörigen grossen Literatur und einer gewissen systema-
tischen Konsequenz im Dienste idealistischer Auffassung, ist aber
doch nirgends zureichend, uns weiter zu bringen Mit dieser
Konstatierung soll das Verdienst des Verfassers, eine literarisch
auf der Höhe stehende, ebenso historisch gelehrte wie das aktuelle
Interesse anregende „Einleitung** in die Metaphysik gegeben zu
haben, nicht geschmälert sein.
Gleichfalls die Erkenntnistheorie betrifft eine der vier Schriften,
die mir aus der Feder von B. Varisco vorliegen, nämlich „La
Conoscenza. Stucli" (Pavia 1904. Success. Bizzoni. XIV und
234 Seiten). In der „Einleitung" nennt der Verfasser folgende
Hauptsätze seiner WeltaufTassung: i. Es existiert eine äussere
physische Welt, d. h. es ereignen sich physische Geschehnisse un-
abhängig von dem Bewusstsein des Beobachters. 2. Das physische
Geschehen ist in jeder Phase determiniert. 3. Das physische Ge-
schehen ist frei von aller Rationalität und aller Zweckmässigkeit.
4. Im physischen Geschehen gibt es messbare Grössen, die so-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW.
55
genannten Energien. Die Summe der Energien ist imveränderlich,
d. h. kann weder zu- noch abnehmen in einem Teil des Raumes,
ohne in gleichem Masse ab- oder zuzunehmen in einem andern
Teile des Raumes. 5. Jedes physische Geschehnis erfolgt zwi-
schen Elementen, die p h y s i s c h unveränderlich sind. (Hypothetisch).
6. Im Verlauf der physischen Geschehnisse, an denen es beteiligt
ist, erleidet jedes Element eine innere Abwandlung, die sich voll-
zieht ohne irgend welchen Verbrauch physischer Energie und die ein
psychisches Geschehnis ist 7. Die psychischen Tatsachen, die also
in einem Element determiniert sind, verbinden sich untereinander
nach einem ebenso strengen Determinismus, wie es der physische
ist, in welchem jedoch irgend welche quantitative Permanenz nach
Analogie der unter 4 gekennzeichneten nicht erkennbar ist. 8. Das
Ich ist eine Komplikation psychischer, in einem und demselben
Element determinierter (vgl. 6) und untereinander verbundener
(vgl. 7) Geschehnisse;' das Bewusstsein ist also im letzten Grunde
determiniert von dem physischen Geschehen. Mit anderen Worten,
es ist ein Produkt des Organismus; jedoch muss jedes Element
eine ursprüngliche psychische Potenzialität besitzen, oder es muss
ihm eine solche assoziiert sein, denn nur unter dieser Bedingung
determinieren die physischen Geschehnisse Psychisches und viel-
leicht ist sie sogar in gewissem Sinne Bedingung für das physische
Geschehen. 9. Ein Element wird sich, da es physisch unveränder-
lich ist, physisch immer in derselben Weise verhalten, wie auch
immer sein innerer Zustand sein möge. Mithin ist das ihm asso-
ziierte Psychische ohne Einfluss auf das physische Geschehen.
Es ist also auch unser Wille nicht wahrhaft Ursache unserer
äusseren Handlungen. Diese werden von unserm Körper voll-
zogen. Die von unserm Körper bei der Handlung verausgabte
Energie wird im Bewusstsein merkbar als Determinante jenes
psychischen Geschehnisses, das Wollen heisst. — Derlei Sätze —
ich habe sie so ausführlich wiedergeben zu sollen geglaubt, um
„Missverständnisse**, denen Varisco zu begegnen so häufig das
Unglück hat, nicht aufkommen zu lassen — in der Einleitung zu
erkenntnistheoretischen Studien sind wahrlich nicht geeignet, ein
günstiges Vorurteil für diese zu zeitigen. In der Tat handelt es
sich in den Aufsätzen über Bewusstsein und Wirklichkeit, kon-
sequenten Idealismus, die Ideen, das reine Denken, Denken und
Wirklichkeit sowie über Metaphysik, die das Buch zusammen-
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56 CHR, £>. PFLAUM.
fasst, nicht eigentlich um erkenntnistheoretische Bemühungen, viel-
mehr um mitunter sehr scharfsinnige und originell formulierte
Ausführungen, deren Ergebnisse nach der positiven oder negativen
Seite dasselbe versichern, was in den oben genannten Grund-
sätzen explicite oder implicite behauptet ist.
Verdienstlicher sind die Schriften Variscos zur Naturphilo-
sophie. In einer einleitenden Schrift ,,Introduzione alla filo-
sofia naturale" (Rom-Mailand 1903. Societa editrice ,,Dante
Alighieri**. 56 Seiten. Preis i Lira) verbreitet sich der Verfasser
darüber, dass es die Aufgabe der Naturphilosophie sei, die
„äussere Erfahrung" zu systematisieren und dass sie diese Auf-
gabe ohne Rücksicht auf alle sonstigen philosophischen und psy-
chologischen Angelegenheiten lösen könne und solle, wofür dann
allerdings — wie er anerkennt — die > Geltung ihrer Lösungen
eine relative imd ihr Arbeitsfeld ein beschränktes bleibe. Nichts-
destoweniger enthält das Buch „Studi di filosofia naturale"
(Rom-Mailand 1903. Soc. ed. „Dante Alighieri" IX und 286 Seiten.
Preis 3 Lire) vornehmlich Ausführungen allgemein-philosophischer
und psychologischer Art, wie sie aus dem Bereich der Natur-
philosophie gemäss der eignen Determination der Verfassers aus-
geschlossen sein sollen. Über ihren Inhalt im einzelnen sowie
über die physikalischen und naturphilosophischen Auseinander-
setzungen und die hauptsächlich Physiker betreffenden polemischen
Gänge hier Bericht zu erstatten, glaube ich mir — wiederum
namentlich in Rücksicht auf die obige Mitteilung der Grundsätze
und die Verwandtschaft dieser VeröflFentlichung mit früheren des
Verfassers — versagte zu dürfen. Die Themen lauten: Physik
und Metaphysik; die Tatsachen und die Ideen; Wirklichkeit und
Schein; Wissenschaft und Mechanismus; die natürlichen Ursachen;
Vergleich des Ursache-Begriffs des Verfassers mit dem von Hume,
Kant und Sigwart. Die Schrift ^Forza ed energia" (Pavia
1904. Success. Bizzoni. 52 Seiten) endlich ist eine Auseinander-
setzung mit Ostwald über die richtigeren Begriffe und Ausdrucks-
weisen von Materie, Kraft und Energie. Der Verfasser plädiert
hier u. a. für einen weitgehenden Ersatz von „Energie" durch
„Kraft* und gibt im übrigen eine sehr eingehende und bedeut-
same Kritik der ganzen Philosophie Ostwalds, eine Kritik, die
zugleich die Theorie Variscos selbst sehr prägnant herausstellt.
Eine sehr instruktive Arbeit über die zeitgenössische franzö-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW.
57
sische Philosophie des Indeterminismus, die zugleich eine sachliche
Behandlung des Problems von der Bedeutung der Annahme des
Zufalls sein will, bietet Adolfo Levi unter dem Titel „L'in-
determinismo nella filosofia francese contemporanea.
Lafilosofia della contingenza** (Florenz 1904. Bernardo Seeber.
X und 300 Seiten. Preis 4 Lire). Als Einleitung gibt der Ver-
fasser eine Skizze der allgemeinen Züge des französischen Den-
kens im 19. Jahrhundert, erörtert sodann die Gedankengänge von
Secretan, Renouvier und Ravaisson als den Philosophen der
Freiheit sowie hauptsächlich den Gedankengang von Emile Bou-
TROUX, den er als den Vermittler zwischen der Philosophie der
Freiheit und der Philosophie des Zufalls ansieht; anhangsweise
behandelt er noch Olle-Leprune. Der Hauptteil ist der Philo-
sophie des Zufalls in Beziehung auf die Psychologie, Erkenntnis-
theorie und Ethik, d. h. den Ansichten von Bergson, Remacle
und Jean Weber, und in Beziehung auf die logischen, mathema-
tischen und physikalischen Wissenschaften, d. h. den Ansichten
von MiLHAUD, Tannery und PoiNCARfe, gewidmet. Der Verfasser
unterscheidet eine anti-intellektualistische und eine intellektuali-
stische Zufallsphilosophie und kommt zu dem Schluss, dass weder
die eine noch die andere wirklich in der Lage sei, andere als
negative Resultate für das Ganze der theoretischen Weltbetrach-
tung und der Lebensgestaltung (Skeptizismus und Amoralismus)
zu zeitigen.
Aus dem Gedankengange der Zufallsphilosophie herausgelöst
sind Ausfühnmgen über das Sprechen als Bedingung des Irrtums,
des unzulänglichen Verständnisses, des nur einseitigen Aus-
drucks usw., die G. Prezzolini unter dem Titel „II linguaggio
come causa d'errore. H. Bergson* veröffentlicht (Florenz 1904.
G. Spinelli & Co. Bibliotheca del „Leonardo** No. 2. 28 Seiten.
Lex.-8. Preis i Lire). Es heisst bezeichnender Weise zu Anfang
der sehr geistreichen und, wie wohl sie Kennern des Sprachproblems
und der sprachkritischen Literatur nichts Neues bzw. Wahreres
sagt, allgemein lesenswerten Schrift: „Die Worte gehören zu
unseren Feinden ; und wofern ein Philosoph spricht, sind sie sogar
unsere grössten Feinde."
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58 CHR, D, PFLAUM.
in. Psychologie.
Eine Kennzeichnung der wissenschaftlichen Arbeit im Be-
reiche der Psychologie, insoweit sie von Italienern geleistet wird,
bieten die Berichte über die Verhandlungen des letzten Psychologen-
kongresses in Rom, auf die hier zu verweisen ich nicht unterlassen
möchte. Auch ein anderes, nichtliterarisches Zeichen für die Be-
deutung der Psychologie in ItaUen scheint mir an dieser Stelle
bemerkenswert: der Versuch des Unterrichtsministeriums, den
neuen Lehrplan der Elementarschule durchgreifend gemäss den
Ergebnissen der wissenschaftlichen Psychologie zu gestalten.
Dass die Psychologie ein ähnliches Verhältnis zur Philo-
sophie habe wie etwa die Naturwissenschaften zur Naturphilo-
sophie, dass die Psychologie der Basierung und Ergänzung durch
philosophische bzw. metaphysische Untersuchung bedürfe, ist das
Leitmotiv eines Buches von Giovanni Cesca, „L'attivitä psi-
chica. Studio dipsicologiafilosofica** (Messina 1904. Vincenzo
Muglia. 182 Seiten. Preis 4 Lire.) Der Verfasser grenzt em-
pirische und philosophische Psychologie derart voneinander ab,
dass er der empirischen die „subjektive und objektive* und
experimentelle Beobachtung des seelischen Geschehens sowie die
Analyse der psychischen Phänomene und die Aufzeigung der die
Bildung der psychischen Komplexe beherrschenden Gesetze zu-
weist, während die philosophische über das von der Erfahrung
unmittelbar Gegebene hinausgehen und die Voraussetzungen, Be-
dingungen, Faktoren und den Wert der psychischen Phänomene
untersuchen soll, um so das psychophysische Subjekt und die
psychische Aktivität bei ihren verschiedenen Äusserungsweisen
zu determinieren. Indessen, man kann Ober diese Opportunitäts-
angelegenheit sehr wohl anderer Meinung sein und dem Verfasser
doch einräumen, dass er unter der Marke „philosophische Psycho-
logie** eine sehr schätzbare kritische Arbeit gegen vorherrschende
Begriffe und Richtungen darbietet, die nur bisweilen selbst sich stark
anfechtbarer dogmatischer Argumente bedient und bereits ge-
öffnete Türen einrennt. Wertvoll erscheinen mir die Ausführungen
über die psychische Erfahrung, die psychische Aktivität, die Or-
ganisation der psychischen Komplexe und die psychische Ent-
wickelung. Nebenbei: der Verfasser zitiert noch die 2. Auflage
von WuNDTs „Grundz. d. physiol. Psychol.*, die doch von der
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USfV, 59
heute vorliegenden 5. Auflage wahrlich qualitativ und quantitativ
bedeutend differiert.
Reiner, modern-empirischer, mit dem Materialismus lieb-
äugelnder Psychologe mOsste gemäss Cescas Ansichten N. R.
D'Alfonso genannt werden. Nach D'Alfonso, der seine Auf-
fassung neuerdings systematisch in der zweiten Auflage „Lezione
elementari di psicologia normale" (Turin 1904. Fratelli
Bocca. 192 Seiten. Preis 3 Lire) darlegt, haben Anatomie und
Physiologie die Bedingungen und Faktoren des seelischen Ge-
schehens aufzuzeigen, und er glaubt, die Genesis der Seele aus
der Genesis des organischen Lebens überhaupt zureichend ent-
wickeln zu können. Seele bedeutet bei ihm so viel wie Energie
des Organismus, organische Aktivität, Funktion, die Einheit von
Ernährung, Verbrauch, Empfindlichkeit und Bewegung. Er sagt
von der „psychischen Funktion" in ihrer höchsten Vollendung,
dass sie sei ein vollkommenes und spezialisiertes Sinnessystem, ver-
möge dessen man „die Empfindung von allen Dingen der Welt"
in der Mannigfaltigkeit ihrer Attribute haben kann und dem eine
„äquivalente Bewahnmg aller von dem Individuum während seiner
Geschichte erlebten sinnlichen Bilder entspricht", dass femer, „diese
unendliche zuerst gewissermassen gehäufte und konfuse Menge
von Bildern" „werden könne" „ein kleiner geordneter und ge-
bundener Kosmos entsprechend dem Kosmos und dem GefOge,
das die äussere Natur darbietet", dass „auf ähnliche Weise" „eine
ausserordentliche Vielheit von Bewegungen" zustande komme,
„die, in innigster Verbindung mit dem zentralen psychischen Zu-
stand" sind und diesen in allen Hinsichten und auf vielfache
Weise äussern. Es ist in Anbetracht dieser Determinationen
nicht verwunderlich, dass es dem Verfasser nicht die mindeste
Schwierigkeit macht, von der speziellen Beschreibung des Nerven-
systems ohne weiteres zur speziellen Behandlung der psychischen
Aktivität überzugehen. Was er zur Charakteristik dieser und
ihrer Genesis im einzelnen auseinandersetzt, ist zumeist sehr
schätzbar und dem neuesten Stande der bezüglichen Forschungen
genügend, — es kommt nur eben darauf an, dass man sich bei
der Würdigung dieser Charakteristik all der Bedenken gründlich
entschlägt, die man gegen die Nervenpsychologie überhaupt und
die Konsequenzen aus den obigen Determinationen der „psy-
chischen Funktion" im besonderen hegt. — Ebenso steht es um
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70 CHR. D, PFLAUM.
eine Schrift von D'Alfonso über „psychologische Vererbung":
„Pregiudizi sulla ereditä psicologica (genio, delin-
quenza, follia). Considerazioni riassuntive" (Rom 1904.
Soc. editr. ^Dante Alighieri.'' 57 Seiten. Preis 1,50 Lire.) Hier
dreht es sich zuvörderst natürlich um den „Instinkt* , zu dem der
Verfasser auch die eigentlichen menschlichen psychischen Betä-
tigungen — er nennt als solche die perzeptiven, repräsentativen,
logischen, leidenschaftlichen, volitiven, künstlerischen und die
sprachlichen — rechnet, insofern dieselben spontan ohne vorauf-
gehende spezielle Erziehung, wenngleich in primitiver und roher
Form geschehen und das sie bedingende körperliche Organ vom
Beginne des Lebens an gegeben und ausgebildet ist. Die Ver-
erbung von Psychischem beschränkt der Verfasser alsdann auf
die spezielle und lediglich „potentielle psychische Aktivität" alias
Konstitution des Nervensystems, und er räumt ein, dass alle psy-
chische Aktivität, die Erziehungsprodukt ist und ein individuelles
Gepräge besitzt, nicht vererblich ist, und dies um so weniger, je
eigenartiger und höher sie ist. Was der Verfasser von Vererbung
von Genialität und Geisteskrankheit sagt, ist konsequent zur
Grundannahme.
Bedeutung für den wissenschaftlichen Fortschritt darf eine
auf neue Forschungen gegründete Arbeit von Sante de Sanctis
über die mimische Aussenmg der Denkvorgänge in Anspruch
nehmen. Unter dem Titel „La mimica del pensiero. Studi
e ricerche (Palermo 1904. Remo Sandron. Piccola Enciclopedia
del Secolo XX, Bd. IX. 208 Seiten. Preis 2 Lire) veröflFentlicht
er unter Beigabe bildlichen Materials sehr umsichtig kompilierte
und durch Experiment gewonnene Daten über den Ausdruck des
tierischen und menschlichen, kindlichen, normalen und patho-
logischen seelischen Geschehens, namentlich im Stadium der Auf-
merksamkeit, — Daten, deren Wichtigkeit für die Physiologie
grösser, aber auch für die Psychologie gross ist. Der Verfasser
kommt zu dem Ergebnis, dass das Vorstellen und Denken im
Antlitz des erwachsenen Menschen einen spezifischen, von dem
der Gefühle unterschiedenen Ausdruck hat, dass es hauptsächlich
in der okularen mimischen Zone lokalisiert ist und in der Aktion
der drei übrigens auch aus anderen Ursachen funktionierenden
mimischen Muskeln der okularen Zone besteht; dass ferner die
Mimik des Denkens und der Aufmerksamkeit eine individual- und
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^
BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USfV. 6l
Stammesgeschichtliche Entwicklung hat, in deren Verlauf die
mimische Zone an verschiedenen erheblich ausgedehnten Partien
des Körpers und im besonderen des Gesichts anzutreffen ist und
die Mimik selbst an Intensität abnimmt mit der Zunahme der
intellektuellen Leistung.
IV. Ästhetik.
Über Ästhetik handelt nur ein Buch: Adolfo Padovan,
„L'uomo di genio come poeta** (Mailand 1904. Ulrico Hoepli.
VIII und 376 Seiten. Preis 4 Lire.) Der Verfasser bietet, ohne
sich um die Literatm* zu seinem Thema zu kümmern, eine Er-
örterung über die Unterscheidbarkeit einer vornehmlich plastischen,
einer vornehmlich malerischen und einer vomehmhch musikalischen
Weise des dichterischen Schaffens und exemplifiziert diese drei
Weisen nicht ohne Glück hauptsächlich an den Dichtungen von
Dante und Carducci bzw. Petrarca und Pascoli bzw. Metastasio.
Plastisch nennt der Verfasser eine Poesie, wenn der Vers syn-
thetisch, die Strophe rasch und gedrängt, dicht und konzis ist;
malerisch, wenn sie reich an chromatischen Worten, an geschickt
wiedergegebenen Bildern imd Gesichtspimkten ist; musikalisch,
wenn der Dichter auf den Klang, die Harmonie der Verse und
auf Bewegung das grösste Gewicht legt und viel Adjektiva und
klangvolle Wörter verwendet. Zu diesen Unterscheidungen kom-
men noch belanglose, auf phraseologische Konversations-Psycho-
logie fundierte Ausführungen über das Wesen von Genie und
Talent.
y. Soziologie.
Adolfo Ravä behandelt in einem Buche „La classificazione
delle scienze e le discipline sociali" (Rom 1904, Ermanno
Loescher & Co. IX und 172 Seiten. Preis 2,50 Lire) das dank-
bare Problem von der Klassifizierung der Wissenschaften mit be-
sonderer Rücksicht auf die soziologischen Postulate, und zwar
historisch imd aktuell. Das Kriterium, das er annimmt, ist, dass
die Erkenntnis eine Beziehung zwischen einem erkennenden
Subjekt imd einem erkannten Objekt ist und dass somit die wesent-
lichen Unterschiede zwischen den Erkenntnisformen abhängen
von den verschiedenen Arten der Beziehung. Offenbar, sagt der
Verfasser, gibt es drei Arten von Beziehungen zwischen Subjekt
und Objekt der Erkenntnis: entweder ist das Objekt ganz ver-
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6d CHR. D. PFLAUM
öchiedefli vom Subjekt, oder es ist identisch mit dem Subjekt,
oder es ist weder völlig identisch noch völlig verschieden vom
Subjekt; im ersten Falle haben wir die Wissenschaft von der
Aussenwelt, die Naturwissenschaften, im zweiten Falle die Psycho-
logie, im dritten die Wissenschaften von der sozialen Welt.
Unter der Voraussetzung, dass das kennzeichnende Moment für
das Soziale „die Handlung** ist, unterscheidet der Verfasser sodann
die Wissenschaften Von der sozialen Welt folgendermassen: solche,
die die Handlungen und ihre Erzeugnisse studieren, um in ihnen
eine Gesetzmässigkeit aufzuzeigen (Sprachwissenschaft, National-
ökonomie, gewisse Teile der Statistik); solche, die die mensch-
lichen Handlungen in ihrer individuellen Gegebenheit studieren
(Geschichte aller Art); solche, die den Wert der Handlungen zu
beurteilen suchefn, um Normen ftlr sie aufzustellen (Ethik, Juris-
prudenz). Auch der Philosophie lässt der Verfasser die Existenz-
betechtigung als einer Disziplin der höchsten Wertungen und
Normen und der für alle Wissenschaften massgebenden Kriterien;
der Soziologie im besonderen gibt er auf zu untersuchen, ob und
in welchem Sinne von sozialen Gesetzen gesprochen werden und
wie man sie entdecken kann, welches die allgemeingültigen
sozialen BegriflFe und Gesetze sind und welche Bedeutimg sie
haben.
Wissenschaf thche Soziologie zu determinieren, sucht unter
Darlegung sowohl sachlicher wie formaler Argumente eine sehr
scharfsinnige Schrift von Cesare Rivera: „Determinismo
sociologico. Saggio critico d'un programma di socio-
logia scientifica" (Rom 1903. Federico Setth. 116 Seiten.
Preis 3 Lire.) De^ Verfasser ist überzeugt, dass die gesamte
Funktion des kollektiven Lebens gebunden ist an eine konstante
Grundform und von aus dem wissenschaftlichen Determinismus
begreifenden Gesetzen und Gesetzsystemen beherrscht ist. Unter
der Wissenschafüichkeit des Determinismus versteht der Verfasser,
dass die verschiedenen Grade der Beziehung des „objektiven
Substrats des Gesetzes** zu dem Gesetze selbst in Rechnung ge-
stellt werden; d. h. in dem mathematischen Determinismus fällt
das Objekt der Notwendigkeit mit der logischen Determina-
tion zusammen y auf den höheren Skalen des Determinismus aber
entfernt sich das Objekt der Determination immer mehr von der
Determination selbst, so dass im biologischen und psychologischen
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USfV, 63
Gebiet von einer sehr vagen und labilen Determination des Ob-
jekts, die der Annahme einer Willensfreiheit den weitesten Spiel-
raum lässt, die Rede sein darf. Eine wissenschaftliche Soziologie
konnte nach dem Verfasser sich nur mit dem Studium der kon-
stanten und notwendigen Funktionen der Sozietät oder deren
typischer Anwendungen befassen und müsste bei der Beweglich-
keit und Mannigfaltigkeit der Entwicklungsziele imd des historischen
Fortschritts das geschichtiiche Leben ganz ausser ihrem Bereich
lassen. Diese Soziologie, führt der Verfasser aus, „die sich nicht
auf eine soziale Logik reduziert in dem Sinne einer reinen und
einfachen Übertragung der Kategorien des menschlichen Ver-
standes auf die Vergesellschaftung mehrerer bidividuen, hat nicht
historischen Charakter, wie sehr sie auch mehr aus der Kom-
bination von Erscheinungselehienten psychisch^soziologischer Natur
resultiert als aus dem wenngleich organischen Komplexe denkender
Individuen, die als gleichwertig und kommensurabel angesetzt
werden und nur als Bedingung und objektives Substrat in Be-
tracht kommen". Der Philosophie setzt der Verfasser in bezug
auf das soziale Geschehen die Aufgabe, in der Entwicklung der
verschiedenen sozialen Tatsachen die mannigfachen Äusserungs-
weiöen der menschlichen Aktivität, deren wechselseitiges Band,
deren Struktur und integrale Evolution zu erkennen, die Lebens-
bedingungen der Gesellschaft, die Lebensphasen, deren kennzeich-
nende Merkmale, die Gesetze ihrer Aufeinanderfolge und die
künftig mögliche Entwicklung zu skizzieren.
Die Schrift „GH studl di psicologica e la storlografia.
Appunti" von Paolino Barbati (Neapel 1903. F. Sangiovarini.
36 Seiten) behandelt einige der in Deutschland teils bereits er-
ledigten, teils noch diskutierten Fr*agen nach dem Aufgabenbereich
und der Methode der Geschichtschreiburig und im besonderen der
Nutzbarkeit der modernen Psychologie für die Interessen der Ge-
schichte. Die Schrift, die natürlich mehr andeutet als erschöpft,
und dem Keilner der deutschen Literatur nichts Neues bietet, ist
bedeutsam als Anregung für die betreffenden italienischen Ge-
lehrteti, auch ihrerseits die unkritisch begangenen traditionellen
Bahnen zu verlassen.
Eine literarisch vorzüglich orientierte Abhandlung über das
„Redhtsgefühl* „II sentimento giuridico* von Giorgio del
Vecchio (Turin 1902. Fratelli Bocca. Aus der „Rivista italiana
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64 CHR, D. PFLAUM.
per le scienze giuridiche" XXXIII, 3. 18 Seiten. Preis i Lire)
erörtert die Bedingtheit aller idealen und historischen Formen
des Rechts durch das „Rechtsgefühl". Ohne über die Genesis
des „Rechtsgefühls" etwas auszumachen, lässt es der Verfasser
gelten als „eine primäre und allgemeine Gegebenheit des ethischen
Bewusstseins, als ein Element oder eine Seite von diesem" sowie
als zugleich aflFektiv und ideologisch (im Sinne: ein sachliches
Kriterium).
VL Ethik.
„La metafisica nella morale moderna" von Giulio
ScoTTi (Mailand 1903. Ulrico Hoepli. Von der R. Accademia
scientifico-letteraria in Mailand preisgekrönte Arbeit. XV imd
343 Seiten. Preis 5 Lire.) Der Verfasser hat sich die Aufgabe
gestellt, die wichtigsten Moralsysteme von Kant bis zur Gegen-
wart durchzuprüfen, um festzustellen, ob bei dem gegenwärtigen
Stande unserer Erkenntnis eine Moral, die das praktische Ver-
halten nach streng wissenschaftlichen Deduktionen wirksam zu
regeln unternimmt, der Einführung metaphischer Hypothesen ent-
raten kann, sowie zu untersuchen, ob eine Physik der Sitten, wie
sie von den induktiven Schulen versucht wurde, das Recht hat,
logischerweise eine moralische Verpflichtung gelten zu lassen,
und nicht vielmehr auf sie verzichten müsste. Er erörtert die als
transzendent und kritisch von ihm bezeichneten Anschauungen
von Kant, Renouvier und Schopenhauer, die „induktiven Systeme**
von John St. Mill, Sidgwick, Herbert Spencer und Ardigo,
den „Spiritualismus" von Rosmini, den „Voluntarismus* von
Wundt, den „idealistischen Naturalismus** von Fouille und
Guyau, — nebenher auch die sonstigen Moraltheoreme der Gegen-
wart berührend. Das Ergebnis dieser Erörterung ist das Dilemma:
entweder eine wissenschaftliche Moral ohne metaphysische Daten,
aber frei von Verpflichtung und nicht immer praktisch wirksam;
oder eine transzendente, ultrawissenschaftliche aber verpflichtende
Moral. Als eigne These vertritt der Verfasser, dass in der Ethik
der Naturalismus (alias Sozial -UtiUtarismus) sein Komplement im
Idealismus zu suchen habe, und zwar über die Brücke einiger
rationaler, moralischer und metaphysischer Glaubenssätze.
In einem bereits 1902 erschienenen, mir indes erst später
bekannt gewordenen Werke „La religione morale dell' uma-
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BERICHT ÜBER DIE ITALIENISCHE PHILOSOPHISCHE USW. 65
nitä" (Bologna 1902. Nicola Zanichelli. VII und 584 Seiten. Preis
6 Lire) unternimmt es Giovanni Cesca, in Ansehung der in
mehrerer Hinsicht unbefriedigenden gegenwärtigen Verhältnisse
ein moralistisch-religiöses System zu statuieren, das einerseits die
aus dem Charakter und den Ergebnissen der modernen Wissen-
schaft und kritisch-idealistischen Philosophie erwachsenen intellek-
tuellen Bedürfnisse befriedigt und andererseits vermöge Be-
tonung des emotionalen Elements des Religiösen unmittelbar die
religiöse und moralische Kultur der gesamten Menschheit hebt.
Der Verfasser erörtert mit Scharfsinn und ausgezeichneter
litterarischer Umsicht die Bedeutung der verschiedenen theistischen
und atheistischen Religionen sowie das vielverzweigte religiöse bzw.
theologische Problem, von dem die deutsche Litteratur der Gegen-
wart so erfüllt ist, und lässt es dabei an Hieben gegen die Theo-
logen aller Schattierungen nicht fehlen, ohne indes auch deren
günstige historische Mission völlig zu vergessen. Das Positive,
was ims der Verfasser nun darbietet, um aus ihm das neue mora-
listisch-religiöse System zu bauen, beschränkt sich auf „das
ethische Element", welches der einzig notwendige Bestandteil der
Religion sein soll. Wesentliche Merkmale dieses ethischen Ele-
ments sind die Anerkennung der Notwendigkeit der Gesellschaft
und der sie ermöglichenden Normen der Solidarität und Zusammen-
arbeit und die Befolgung eines sehr weitgehenden Altruismus,
der über alle Grenzen hinweg die Ideale der Humanität zur Ver-
wirklichung bringt. Im übrigen deutet der Verfasser an, wie Er-
fahrungswissenschaft und wissenschaftliche Philosophie den Inhalt
des religiösen Bewusstseins ohne weitere Ausgestalttmg zu ent-
nehmen gestatten, sagt er uns, wie die moralische Religion nicht
sein dürfe und welche Folgen ihre Übung auf unser gesamtes
soziales Leben zu zeitigen nicht verfehlen würde.
Als erste Bedingung einer Hebung der geistigen und sitt-
lichen Lebensführung erachtet es Giovanni Marchesini, dass
das faktische Fundament des Sittlichen von all den bewusst und
unbewusst, historisch und alltäglich, vulgär und wissenschaftiich-
philosophisch ihm beigesellten Fiktionen befreit erkannt werde.
In diesem Sinne bietet er in seinem Buche „Le finzioni delT
anima. Saggio di etica pedagogica" (Bari 1904/05. Gius.
Laterza e figli. Biblioteca di cultura modema X. VIII. und 302
Seiten. Preis 3 Lire) eine Reihe feinsinniger und treffender Ana-
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 127 5
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66 CHR, D. PFLAUM.
lysen der auf wissenschaftlichem, sittlichem und praktischem Ge-
biete anzutreffenden Denk- und Verhaltungs weisen, in deren Er-
gebnis er freilich mit anderweit bereits ausgesprochenen Auffas-
sungen übereinzukommen pflegt. Im übrigen bemüht sich der
Verfasser um eine psychologische, logische und ethische Charak-
teristik der Fiktionen und im besondern um eine Kennzeichnung
der subjektiven und objektiven Bedeutung des ethischen Ideals
sowie eine Kritik der Voraussetzungen, des Wesens und der Kon-
sequenzen des Pragmatismus. Der „rationale Pragmatismus*, den
der Verfasser aut eigne Rechnung sodann entwickelt, basiert auf
dem Postulat: „Handle so, wie wenn das, was sozial richtig ist,
und sozial ein absolutes Gebot ist, auch richtig und absolut wäre
für dich!" Bei der vielfach von hoher Lebensweisheit des Ver-
fassers zeugenden Darstellung der individual- und sozialpädago-
gischen Normen, die der „rationale Pragmatismus" zur Konsequenz
hat oder haben soll, weiss der Verfasser von seinen eignen vor-
aufgehenden Forschungen einen rhetorisch glänzenden Nutzen zu
ziehen, bringt aber ein gut Teil von Fiktionen, die nun allerdings
als durch die altbekannte praktische Vernunft und die Konsequenz
zu „gegebenen* Tendenzen legitimiert werden, wieder zu unge-
schwächter Geltung.
Mit dem psychologischen Fundament der Moral befasst sich
auch GuGLiELMO Salvadori in einer kritisch und eklek-
tisch ihr Thema erledigenden Schrift „Saggio di uno studio
sui sentimenti morali" (Florenz 1903. Francesco Lumachi.
VIII und 138 Seiten. Preis 3 Lire). Man findet naturgemäss vieles
wieder, was schon in dem im vorigen Jahresbericht angezeigten
Werke des Verfassers über die evolutionistische Ethik zu lesen
war. Der Verfasser wünscht nach Spencers Vorbild den utilita-
ristischen Empirismus und die idealistische Spekulationsethik mit-
einander zu versöhnen und verhält sich dementsprechend zu den
von ihm sehr übersichtlich, wenngleich bei weitem nicht erschö-
pfend dargelegten Theoremen über die Natur der „moralischen
Gefühle". Er sagt im besondem von diesen, dass sie bestehen
aus einem subjektiven und einem objektiven Element, aus der
eudämonistischen Tendenz und dem dieser Tendenz erst den
moralischen Charakter gebenden philosophisch-rational (will heissen:
im Sinne des Evolutionismus) gefundenen Ziele der Vervoll-
kommnung.
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SCHUPPE: DER ZUSAMMENHANG VON LEIB UND SEELE, 67
Zur philosophischen Litteratur über Ethik lassen sich endlich
auch zwei kleine Schriften von M. R. d'Alfonso rechnen: „Prin-
cipii economici dell' etica" und „L'educazione deir
organismo deir uomo* (Rom 1903. Soc. edito „Dante Alighieri'*.
46 bzw. 32 Seiten. Preis je i Lire). In der ersten plädiert der
Verfasser nach einer etwas schematischen Argumentation für die
Beachtung der gegebenen Art und Menge wirtschaftlicher Werte
und der Bedingungen für ihre Verteilung, rationale Nutzbarkeit,
Steigerung und Vermehrung seitens der Ethiker. In der zweiten
geisselt der Verfasser die modernen Übertreibungen der Körper-
ausbildung und fordert aus rational-pädagogischen und sittlichen
Gründen eine die psychophysische Einheit des Organismus all-
seitig und gründlich berücksichtigende Erziehungsweise.
Rezensionen.
Schuppe: Der Zusammenbang von Leib und Seele (Das Grund-
problem der Psychologie). Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens.
Xm. Bergmann, Wiesbaden 1902.
Schuppe, der Vertreter der immanenten Philosophie, verficht
auch in dieser Arbeit wieder seinen Standpunkt, wonach der Begriff
•der Substanz einer unklaren, dogmatischen Metaphysik angehört
und wonach das Ich oder das Bewusstsein nicht nur keines Sub-
strates, dem es anhaftet, bedarf, sondern auch keines haben kann.
Aber wie steht es dann mit einer Einwirkung auf das Bewusstsein?
„Wenn jedes Ich", meint Schuppe, „nur durch die Bestimmtheit
seines Bewusstseinsinhaltes dieses bestimmte Ich ist, so kann man ja
in jeder Änderung desselben eine Änderung dieses Ich, also auch
eine Einwirkung auf dieses Ich finden, und was diese Änderung be-
wirkt, hat somit auf dieses Ich eingewirkt.** Soweit gibt Schuppe
also die Berechtigung einer Frage nach der Ursache der Bewusst-
seinsänderungen zu, und er wendet sich nur gegen die Auffassung,
als ob eine derartige Ursache dem „Coincidenzpunkt" der Bewusst-
^einsinhalte, dem abstrakten Moment Bewusstsein gegenübertrete und
in Wechselwirkung mit demselben die Bewusstseinserscheinungen er-
zeuge. Dagegen wird man nun kaum etwas einwenden können.
Schuppe betont aber weiter, er meine nicht, dass an eine Erklärung
der Kausalzusammenhänge keine weitere Anforderung gestellt werden
-dürfe als die Beobachtung, dass weder a ohne x, noch x ohne a
vorkomme, dass also eine ausnahmslose Suksession zweier Erschei-
5*
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68 REZENSIONEN,
nungen stattfinde. Er ist also keineswegs einverstanden mit den
phänomenologischen Konstatierungen des psychophysischen Parallelis-
mus und er bekämpft Petzoldts These, das Geistesleben müsse
durchgängig und eindeutig Änderungen des Gehirns zugeordnet wer-
den, als eben so rätselhaft wie die Behauptung, dass Ortsverände-
rungen von Hirnmolekulen einen Gedanken hervorbringen. Er ver-
wirft aber auch die Anschauung von Lipps, wonach wir über das den
Bewusstseinserscheinungen zugrunde liegende Reale, das reale Ich
und seine Veränderungen, nicht mehr aussagen können, als dass es
gefordert wird, ohne dass wir in der Identifizierung desselben mit
physiologischen Gehirnprozessen eine tiefere Erkenntnis gewännen.
Aber was setzt er an die Stelle der abgelehnten Auffassungen?
Sein Versuch, die Abhängigkeit der Bewusstseinserscheinungen von
einem Organismus zu erklären, scheint uns weit unbefriedigender als
die Lehre des psychophysischen Parallelismus. Wenn er den Leib
als primären Bewusstseinsinhalt bezeichnet, das Ich als das sich als
seinen Leib wissende Bewusstsein auffasst, und hinsichtlich dessen,
was das Individuum von seinem Körper nie sehen und tasten kann,
z. B. hinsichtlich des Gehirns behauptet, dass es doch nur als Sicht-
und Tastbares gedacht werden könne, so wollen wir auf die oft her-
vorgehobenen Schwierigkeiten des „esse = percipi" hier garnicht
weiter eingehen. Aber wieso es verständlicher sein soll, dass die
Vorstellung organischer Veränderungen mit irgend einer Bewusstseins-
erscheinung, die nach der Lehre des psychophysischen Parallelismus
jenen organischen Veränderungen zugeordnet ist, in einer Art psy-
chischer Kausalität stehe, ohne dass doch jene Vorstellung jedesmal,
ja ohne dass sie überhaupt nur irgend einmal unmittelbar vor dieser
Bewusstseinserscheinung bewusst zu werden brauchte, wieso dieses
Rätsel verständlicher sein soll, als die selbstverständliche Zuordnung
physiologischer und psychischer Prozesse, das vermögen wir nicht
einzusehen. Schuppe selbst gesteht zu, dass „die gesehene Körper-
welt nicht zu dem Leibe gehört, als welchem ich mich weiss". Und
doch meint er: „Weiss erst das Ich sich selbst als in seinem Leibe
räumlich ausgedehntes, ein Stück Raum erfüllendes, so ist es nur
konsequent, wenn auch die spezielleren Bestimmtheiten, in denen es
sich findet, in diesem Ausgedehnten sosusagen lokalisiert sind.'^ Und
er hält solche Argumente für hinreichend, um auf die Behauptung
zurückzukommen: „Mein Auge sieht, mein Ohr hört, und so sehe und
höre ich, weil ich mein Auge und mein Ohr bin." Schuppe versucht
wohl auch, die Abhängigkeitsbeziehung, in welcher all unsere Be-
wusstseinsinhalte zum Leib d. h. nach seiner Auffassung zum pri-
mären Bewusstseinsinhalt stehen, dadurch begreiflich zu machen, dass
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SCHUl'FE. ADAMKIEWICZ. 69
er zeigt, die Vorstellung der räumlich geordneten Aussenwelt setze
die Vorstellung eines Punktes im Raum voraus, nach dem sie orien-
tiert werde. Das könnte man zunächst ebenso gut umkehren. Wenn
die Bewusstseinsinhalte , welche wir Aussenwelt nennen, als gegeben
angenommen werden, so ist durch sie der Ichpunkt ebenso bestimmt,
wie der Mittelpunkt eines vorgefundenen Kreises oder einer Kugel.
Aber davon abgesehen; selbst wenn das „sich als seinen Leib wis-
sende Ich" die logische Voraussetzung für das durch die Bewusst-
seinsinhalte der Aussenwelt bestimmte Ich wäre, würde dann diese
logische Beziehung die zu erklärende Abhängigkeit von Leib und
Seele begreiflich machen? Ist etwa das Verhältnis, in welchem die
Zahl Eins zur Zahlenreihe steht, ein Analogon zu den psychophysi-
schen Koordinationen? Und wenn man selbst dies behaupten wollte:
Muss deshalb, weil ein Punkt im Raum Voraussetzung für die Orien-
tierung ist, dieser Punkt ein räumlich ausgedehnter Leib sein? Und
ist die Sichtbarkeit und Tastbarkeit des Leibes wirklich, wie Schuppe
annimmt, wenigstens logische Voraussetzung für die gesehene und
getastete Aussenwelt? Wir müssen all diese Fragen verneinen.
Schuppe kann die Schwierigkeiten, die sich von seinem Standpunkte
aus ergeben, sobald man ihn mit den Ergebnissen der Naturwissen-
schaft in Einklang bringen will, ebenso wenig lösen wir irgend
jemand vor ihm. Aber obwohl die in Rede stehende Arbeit im
Ringen nach der Lösung des selbstgeschaffenen und bis zur Un-
lösbarkeit komplizierten Problems sich zu Trugschlüssen und Er-
schleichungen hinreissen lässt, scheint sie uns für den Fortschritt des
erkenntnistheoretischen Denkens nicht ohne Wert. Die Frage: „Wie
entstehen im individuellen Bewusstsein immer neue Bewusstseinsin-
halte, wenn die Gegebenheit des Seins in Subjekt und Objekt, in
Bewusstsein und Bewusstseinsinhalt Voraussetzung ist?" ist zwar
nicht beantwortet, aber der Erkenntnis ihrer Unlösbarkeit um einen
Schritt näher gerückt worden. Die Einsicht, dass man bei konse-
quenter Durchführung des Standpunktes der immanenten Philosophie
auf die Entdeckung strenger Gesetzmässigkeit verzichten müsse, drängt
sich bei der Vertiefung in die Schuppesche Arbeit mit stets verstärkter
Macht uns auf.
Würzburg. DÜPP.
Adamkiewicz: Die Grosshirnrinde als Organ der Seele. Grenz-
fragen des Nerven- und Seelenlebens. XI. Bergmann, Wiesbaden, 1902.
Nach einer kurzen anatomischen Darlegung über die Ganglien
der Grosshirnrinde, welche nicht Zellen im gewöhnlichen Sinne des
Wortes, sondern Organe mit eigenem Ernährungsapparat, einem kom-
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70 REZENSIONEN.
plizierten Blutgefässsystem für jede einzelne Ganglie, seien, geht Verf.
dazu über, die Physiologie der Grosshirnrinde zu behandeln. Aber
obgleich er hierbei wichtige Kapitel der Psychologie abtut, scheinen
ihm die Arbeiten der Psychologen nur wenig die Originalität des
Urteils getrübt zu haben. Einige Proben mögen genügen, zu zeigen,
welche Stelle in der psychologischen Literatur dem Werke anzu-
weisen ist
In dem ersten Kapitel über Gedächtniskraft lesen wir: „Jede
Anregung zu einer Lebensäusserung kann materiell oder immateriell
sein. Der immaterielle Anlass ist das Bild oder der seelische Aus-
druck des , Reizes*. So wird der Magensaft ebenso durch den Reiz
der Speisen angeregt, als er auch von selbst fliesst, wenn die Zeit
der gewöhnlichen Nahrungsaufnahme heranrückt. Daraus folgt, dass
die Magendrüsen Erinnerung haben. Erinnern ist die Eigenschaft des
Gedächtnisses. Das Gedächtnis ist überhaupt eine allgemeine Eigen-
schaft aller Organe des Körpers. Es ist daher nichts Geistiges. Es
ist physikalischer Natur.* Der einzige richtige Gedanke, der in diesen
unglücklichen Ausführungen steckt, ist der, dass „Gedächtnis" ein
Begriff für eine Disposition ist, während die Erinnerungsbilder, für
deren Auftreten jene Disposition, über welche die Psychologie bisher
nichts Befriedigendes gelehrt hat, eine Teilursache darstellt, selbstver-
ständlich psychischer Natur sind. Dass die Absonderung des Magen-
saftes, auch ojine dass die Magendrüsen sich erinnern, durch die
Erinnerungsvorgänge des Gehirns bedingt sein könnte, scheint unserm
Autor gar nicht in den Sinn gekommen zu sein.
In dem Abschnitt über Gedächtnisschwäche wird der anatomi-
schen eine psychische Ursache derselben gegenübergestellt. Die
letztere soll darin bestehen, dass die Seele nicht aus ihren Träumen
erwacht. Träume aber seien ohne Urteil und Bewusstsein automa-
tisch vom Gehirn produzierte geistige Bilder. Es wäre zweifellos
interessant, zu erfahren, was A. sich unter einem mit Bewusstsein
produzierten Bewusstseinsphänomen denkt, wenn man derartige Aus-
führungen liest, die sich in einem der folgenden Kapitel, welches
von der Aktivität und Inaktivität der Rindenganglien handelt, bis zu
der Behauptung versteigen, dass es logisches Denken ohne Bewusst-
sein gebe.
Das schwierige psychologische Problem, warum uns beim Denken
und Handeln zur rechten Zeit das Richtige einfällt, löst A. in höchst
einfacher Weise durch ein Bild: Die Seele oder die Ganglienzelle der
Rinde orientiert sich im offen vor ihr liegenden Buch des Gedächt-
nisses und es ist Sache der Übung, dass sie sich in diesem Buche
schliesslich ebenso auskennt, wie der Musiker in den Tönen seines
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ADAMKIEWICZ: DIE GROSSHIRNRINDE ALS ORGAN USW.
71
Instrumentes und die Erfahrung ebenso virtuos d. h. ohne An-
strengung und mit Geschick gebraucht wie dieser seine Tasten.
Wir überschlagen das psychologisch Unmögliche, was A. in dem
Kapitel über die Empfindung behauptet, und wollen nur noch einen
Passus seiner Willenslehre anführen: Es ist ganz falsch, heisst es
da, wenn die Existenz eines „freien" Willens noch ganz besonders
geleugnet wird. Denn frei ist der Wille beim Tier, welcher weder
von der Intelligenz noch von der Überlegung erheblich in Schranken
gehalten wird. Und es ist verkehrt, wenn manche Psychologen be-
haupten, es gebe keinen Willen. Denn „gäbe es keinen Willen, dann
wären Tiere und Menschen Geschöpfe, die sich bewegen würden —
ohne Willen. Ohne Willen sich zu bewegen aber ist Eigentümlich-
keit der Automaten. Folglich wären Tiere und Menschen, wenn es
keinen Willen gäbe, Automaten. Das zu behaupten, wagt wohl selbst
die die Existenz des Willens leugnende Philosophie nicht. Also
widerlegt sie sich selbst.* Es gibt einen Willen, q. e. d.
Nach diesen Proben dürfen wir auf eine weitere Besprechung
der psychologischen Theorien unseres Autors wohl verzichten. Da-
gegen wollen wir noch kurz auf denjenigen Teil der in Rede stehen-
den Arbeit eingehen, der die Frage der Lokalisation einzelner psy-
chischer Funktionen in gewissen Regionen der Grosshirnrinde behandelt.
Nach einem kurzen historischen Überblick über die Entwicklung der
Lokalisation stheorien findet A. das letzte Stadium dieser Entwicklung
durch seine Entdeckung bedingt, dass die sensorischen Rindengebiete
zugleich die Innervation des dem betreffenden Sinnesorgan zugehörigen
motorischen Apparates besorgen. Er behandelt dann die einzelnen
Seelenfelder der Bewegung, des Sehens, Hörens, Schmeckens, Riechens,
indem er die bisher hierüber gewonnenen Resultate zusammenfasst,
ohne wesentlich Neues hinzuzufügen, da er auch die Resultate seiner
eigenen Forschungen zur Pathologie der Hirnkompression nur re-
kapituliert. Schliesslich polemisiert er gegen die „unphysiologische
und daher verfehlte* Einteilung der Hirnrinde in Sinneszentren und
Assoziationszentren, wie sie Flechsig vorschlägt, mit merkwürdigen
„logischen" Gründen und behauptet, dass die sogenannten Assozia-
tionszentren anfangs neutrale Regionen der Rinde seien, die später
von den wachsenden Seelenfunktionen in Anspruch genommen und
also Sinneszentren werden. Wie diese von A. unter allen Umständen
ungenügend begründete Auffassung sich zu den Tatsachen verhält,
kann nur die auf klare psychologische Begriffe gestützte Gehim-
forschung entscheiden. Wir enthalten uns deshalb an dieser Stelle
eines abschliessenden Urteils.
Würzburg Dürr.
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72
REZENSIONEN.
KowALEwsKi) A., Studien zur Psychologie des Pessimismus. X u.
122 S. Wiesbaden 1904. Verlag von J. F. Bergmann.
Die Grundlagen des weitverbreiteten pessimistischen Werturteils
müssen Tatsachen sein, welche die GefOhlspsychologie ergründen
kann. Das ist die Überzeugung, die Kowalewski zu den vorliegenden
Untersuchungen veranlasst hat. Nach einer kritischen Auseinander-
setzung mit den verschiedenen gegenwärtig geltenden GefOhlstheorien
gelangt er zu dem Resultat, dass die Lust- Unlustdimension , selbst
wenn daneben noch andere Gefühlsrichtungen bestehen sollten, „prak-
tisch ganz im Vordergrund steht, insofern alle Schätzungen in den
anderen Dimensionen sich nach ihr richten". Innerhalb der Lust-
und Unlustqualität nimmt Kowalewski ausser Intensitätsdifferenzen
Unterschiede der „Innigkeit" an. Auf diese letzteren führt er den
Gegensatz höherer und niederer Gefühle |zurück. Die höheren Ge-
fühle sollen nämlich einen grösseren Vorstellungskomplex zur Grund-
lage haben, also gewissermassen mehr Ansatzpunkte in der Seele
finden als die niederen sinnlichen Gefühle. Qualitätsdifferenzen inner-
halb der Lust- und innerhalb der Unlustgefühle lässt unser Autor
übrigens nicht gelten. Eine besondere Ansicht entwickelt er bezüg-
lich der Frage nach der Kompensation der Lust- und Unlustgefühle.
Er meint, dass nicht ohne weiteres ein beliebiger Lusteindruck als
Kompensation eines beliebigen Unlusteindrucks von geeigneter Inten-
sität angesehen werden könne, sondern zu einer gründlichen Kom-
pensation sei erforderlich, „dass der kompensierende Reiz sozusagen
an der wunden Stelle selbst ansetzt". So müsse an einem sinnlichen
Unlusteindruck nicht bloss der reine Gefühlsbestandteil, sondern auch
der Organempfindungsbestandteil ausgelöscht werden ebenso wie bei
geistiger Unlust der „miterregte Vorstellungskomplex". Diese Ansicht
und die damit zusammenhängende Auffassung, wonach eine Gesamt-
stimmung gleichzeitig Lust- und Unlustelemente soll entfalten können,
dürften wohl nicht allgemeine Anerkennung finden.
Von etwaigem Widerspruche unberührt aber bleibt wohl die auf
Grund der theoretischen Ausführungen formulierte Fragestellung Ko-
WALEWsKis: Lassen sich Asymmetrien zwischen der Lust- und Un-
lustfunktion empirisch konstatieren? Man muss auch zugeben, dass
die zur Beantwortung dieser Frage benützten Methoden geistreich er-
dacht und durchgearbeitet sind, obwohl man in der Deutung der Er-
gebnisse fast beständig zu entgegengesetzten Schlüssen wie der Autor
sich gedrängt fühlt.
Zuerst benutzt Kowalewski ein „Stimmungstagebuch", das
Münsterberg zu anderen Zwecken, nicht etwa um eine Statistik der
Gefühle zu gewinnen, geführt hat. Für Münsterberg handelte es
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KOWALEWSKI: STUDIEN ZUR PSYCHOLOGIE USW.
73
sich einfach um die protokollarische Festlegung der jeweiligen psycho-
physischen Verfassung, in der psychologische Experimente unter-
nommen wurden. Dabei unterschied Münsterberg drei Paare von
gegensätzlichen Zuständen, nämlich ausser Lust und Unlust Mattigkeit
und Aufgeregtheit sowie Ernst und Lustigkeit. Von diesen Zuständen
wurde Mattigkeit i6mal, Aufgeregtheit 24 mal, Ernst 31 mal, lebhafte
Unlust 27 mal, Lustigkeit i4.mal, starke Lust 51 mal konstatiert. Wie
gelingt es nun Kowalewski auf Grund dieser Angaben eine Asymmetrie
im Auftreten von Lust- und Unluststimmungen nachzuweisen? Er
macht einfach die Annahme, dass Mattigkeit, Aufgeregtheit und Ernst
unangenehme Stimmungen seien, während die Lustigkeit als angenehme
Stimmung aufzufassen sei. So kommt er zu dem Resultat, dass nach
der Münsterbergschen Statistik die Häufigkeit der Luststimmungen sich
zu der der Unluststimmungen verhält wie 2 : 3. Diesem Verfahren
gegenüber wollen wir gar nicht darauf hinweisen, dass es gewagt ist,
jede Stimmung als angenehm oder unangenehm zu betrachten und
von den Indifferenzzuständen ganz zu abstrahieren. Entschieden be-
stritten werden aber muss die Behauptung, dass Mattigkeit, Aufge-
regtheit und Ernst stets unangenehme Stimmungen seien. Wenn
Münsterberg, wie Kowalewski selbst berichtet, den nach lebhaften
wissenschaftlichen Debatten auftretenden Zustand als Aufgeregtheit,
die unter der Einwirkung eines Buches entstehende Stimmung als
Ernst bezeichnet, so dürfte der unter Umständen angenehme Cha-
rakter dieser Zustände ausser Zweifel stehen. Und wenn man nur
die Hälfte der Fälle, in denen Aufgeregtheit und Ernst konstatiert
wurde, auf die Lustseite bringt, so ergibt sich statt der pessimi-
stischen die optimistische Konsequenz.
Eine weitere Methode, durch welche Kowalewski den Pessimis-
mus empirisch zu begründen sucht, knüpft an die Tatsache an, dass
in verschiedenen Stimmungen ein verschiedener Rhythmus in der
Sukzession von Eindrücken und Bewegungen als angenehmster em-
pfunden wird. Der Wechsel des angenehmsten Tempos in der Auf-
einanderfolge von Metronomschlägen, von optischen Eindrücken, von
Klopf- und von Hüpftakten, wie er konstatiert werden kann, wenn
bei einer und derselben Versuchsperson von morgens 8 Uhr bis
abends 10 Uhr alle zwei Stunden Ermittelungen in dieser Richtung
angestellt werden — dieser einem Stimmungswechsel parallel gehende
Tempowechsel zeigt nach Kowalewski die Eigentümlichkeit, dass er
überwiegend in einer Verminderung der Geschwindigkeit besteht. Das
ist sehr erklärlich bei der fortschreitenden Ermüdung, die im allge-
meinen während der Tagesarbeit eintritt. Kowalewski aber glaubt
wiederum diese fortschreitende Ermüdung mit einer Lustabnahme und
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74 REZENSIONEN.
Unlustzunahme gleichsetzen zu dürfen. Die Anfechtbarkeit dieser
Meinung tritt wohl am deutlichsten zutage, wenn man bedenkt, dass
nach unserm Autor das Unlustmaximum nachmittags um 2 Uhr, also
wahrscheinlich in der „Afterdinnerstimmung'' erreicht wird.
Dass die Erholung während der Nacht grösstenteils unbewusst
sich vollzieht, wird als Argument fOr den Pessimismus angefahrt: auf
Grund der Voraussetzung, dass eine Zunahme der Erholung während
des Wachzustandes mit einer Zunahme der Luststimmung verbunden
sein mOsste, um welche wir nun durch die Bewusstlosigkeit des
Schlafes betrogen werden. Aber nicht genug damit, Kowalewski
weist auch auf die Ergebnisse traumstatistischer Untersuchungen von
Calkins, Weed und Hallam hin, wonach die Bewusstseinsvorgänge
während des Schlafes, die Träume, überwiegend unlustvoll sind.
Wenn umgekehrt aus dem schnellen Rhythmus des Traumlebens in-
direkt ein besonderer Lustcharakter desselben abgeleitet würde, so
wäre dies vom Standpunkt Kowalewskis aus eigentlich nur konsequent.
Eine ganz besondere Asymmetrie der Lust- und der Unlust-
funktion glaubt unser Autor nachweisen zu können durch Versuche
über die Unterschiedsempfindlichkeit gegenüber süssen und bitteren
Geschmacksreizen sowie gegenüber verschiedenen GeruchsstoflFen. Er
findet, dass die Unterschiedsschwelle grösser ist für Bitter als für
Süss, dass also die Unterschiedsempfindlichkeit für unangenehme Ge-
schmacksreize geringer ist als für angenehme. Analoges soll sich im
Gebiet des Geruchssinnes nachweisen lassen. In Zusammenhang
damit bringt Kowalewski femer die Tatsache, dass eine bestimmte
Anzahl Einheiten unangenehmer Geruchs- und Geschmacksreize eine
viel grössere Anzahl Einheiten angenehmer Geruchs- und Geschmacks-
reize kompensieren kann, wenn als Einheit jeweils der Wert der
Reizschwelle (genannt Olfaktie bzw. Gustie) verwendet wird. Er unter-
scheidet demgemäss eine Asymmetrie der Valenz und eine Asymmetrie
der Unterschiedsempfindlichkeit. Soweit wollen wir ihm einmal alle
Prämissen zugeben, obwohl man die Identifizierung süsser und bitterer
Geschmacks- und verschiedenartiger Geruchsempfindung mit angenehmen
und unangenehmen Eindrücken nicht unter allen Umständen anzuerkennen
braucht. Aber nun zieht Kowalewski wieder seine pessimistischen Kon-
sequenzen und wiederum regt sich unser Widerspruch. Zunächst bringt
Kowalewski die Asymmetrie der Valenz und diejenige der Unterschieds-
empfindlichkeit gerade in die umgekehrte Beziehung, wie wir zu tun
geneigt sind. Er betrachtet die Asymmetrie der Unterschiedsempfind-
lichkeit als einen Spezialfall der Valenzasymmetrie und kommt zu dem
merkwürdigen Resultat, dass „eine Unterschiedsschwelle der un-
angenehmen Komponente stärker ins Gewicht falle als eine Unter-
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KOWALEfVSKl: STUDIEN ZUR PSYCHOLOGIE USW.
75
schiedsschwelle der angenehmen". Wie diese Behauptung vertreten
werden kann angesichts der Tatsache, dass die Unterschiedsschwelle
der unangenehmen Komponente grösser ist, bleibt unerfindlich. Man
darf dagegen wohl umgekehrt die Valenzasymmetrie als Spezialfall der
Empfindlichkeitsasymmetrie auffassen. Wenn man nämlich daraus,
dass mehr Olfaktien und Gustien angenehmer Art zur Kompensation
einer kleineren Anzahl unangenehmer Olfaktien und Gustien nötig
sind, den Schluss zieht, dass jene Olfakfien und Gustien kleiner sind
als diese, dann heisst das nichts anderes als: Die Reizschwelle ist
ebenso wie die Unterschiedsschwelle für unangenehme Eindrücke
grösser. Wie man aber aus der geringeren Empfindlichkeit für un-
angenehme Eindrücke pessimistische Konsequenzen ziehen will, ist
schwer einzusehen. Kowalewski bringt freilich auch dies Kunststück
fertig. Er sagt: „Nehmen wir an, dass auf die menschliche Seele
Lustreize und Unlustreize in objektiv gleicher Abstufung und Menge
einwirken. Dann wird infolge der feineren Organisation der Lust-
auffassung in je einer subjektiven Unluststufe sozusagen eine grössere
Menge von Eindrücken sich konzentrieren als in einer Luststufe. Da-
durch erhält jede Unluststufe eine wuchtigere Ausprägung und wird
also dem reflektierenden Subjekt lebhafter erscheinen als eine Lust-
stufe.* Dagegen ist zunächst zu bemerken, dass die Lebhaftigkeit
eines Gefühls nicht dadurch erhöht wird, dass es durch recht viele
Reize erregt wird, also zu den möglichst alltäglichen Erlebnissen ge-
hört. Ferner muss man doch bedenken, dass die Quantität der er-
lebten Lust grösser ist als die Quantität der erlebten Unlust, wenn
die Empfindlichkeit und Unterschiedsempfindlichkeit für diese geringer
ist als für jene und objektiv gleich viele Lust- und Unlustreize ein-
wirken. Die Annahme, dass dieses Verhältnis der erlebten Gefühle
für die Reflexion auf Gefühle sich umkehre, müsste doch erst gründ-
lich bewiesen werden und würde dann immer noch nicht die Berech-
tigung des Pessimismus, sondern höchstens die Notwendigkeit des
pessimistischen Wahnes dartun.
Aber Kowalewski scheint unbewusst im Laufe seiner Ausfüh-
rungen die eine Frage — nach der faktischen Asymmetrie der Lust-
Unlustfunktioa — mit der andern Frage — nach dem Grund irrtüm-
licher Annahme solcher Asymmetrie — zu vertauschen. Das zeigt
sich besonders in seiner Behandlung der temporalen Seite der Lust-
und Unlusteindrücke. Hier beweist er nämlich eingehend, nicht etwa,
dass die unlustvollen Ereignisse längere Dauer besitzen als die lust-
vollen, sondern vielmehr, dass die unlustvollen Ereignisse bezüglich
ihrer Dauer überschätzt werden.
Eine eigentümliche Argumentation finden wir ferner zugunsten
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76 REZENSIONEN.
des Satzes durchgeführt, dass die Abstumpfung für Unlust später ein-
trete als die Lustsättigung. Dieser Satz wird damit begründet, dass
die Seele die Tendenz habe, die sich darbietende Lust möglichst
auszukosten, der Unlust dagegen möglichst wenig sich hinzugeben.
Die Tendenz an sich vermag natürlich die verschiedene Grösse des
Sättigungsintervalls für Lust und Unlust nicht zu erklären. Nur wenn
die Tendenz erfolgreich ist, wird es verständlich, dass die jeweils
grössere Quantität Lust in kürzerer Zeit gewissermassen ebensoviel
physische Energie aufbraucht als die jeweils kleinere Quantität Unlust
in längerer Zeit. Ein solcher Tatbestand würde aber sicherlich keinen
Anlass zu pessimistischen Reflexionen bieten.
Weiter muss an Kowalewskis Ausführungen zum Widerspruch
reizen die Art, wie er „die grössere praktische Fruchtbarkeit schlechter
gegenüber guten Charaktereigenschaften" beweist. Er findet nämlich
in der ethischen Terminologie des Cornelius Nepos viel mehr Sub-
stantiva und Adjektiva, die gute, im Vergleich zu solchen, die schlechte
Charaktereigenschaften ausdrücken. Dagegen sind die Substantiva
und Verba, welche persönliche Handlungen schlechten Charakters be-
zeichnen, den entgegengesetzten gegenüber entschieden in der Über-
zahl. Dieser Befund erklärt sich möglicherweise sehr einfach aus der
Tatsache, dass Cornelius Nepos grosse Männer behandelt, die wohl
vorwiegend gute Charaktereigenschaften besitzen, während die Hand-
lungen, die von ihnen und ihnen gegenüber verübt werden, von vorn-
herein nicht erwarten lassen, dass ein Obergewicht lobender Prädikate
durch sie veranlasst werde. Eine grössere praktische Fruchtbarkeit
schlechter Charaktereigenschaften anzunehmen wäre man erst dann
berechtigt, wenn den Charaktereigenschaften eines Menschen die
Handlungen desselben Menschen gegenübergestellt würden und wenn
sie, nicht die für sie aufgestellten Bezeichnungen, das angegebene
Verhältnis erkennen Hessen.
Wie verschiedenartig man das Überwiegen von Wörtern mit
bestimmter Bedeutung gegenüber solchen mit entgegengesetzter Be-
deutung interpretieren kann, zeigt uns Kowalewski selbst, wenn er
das Oberwiegen von Wörtern mit guter Bedeutung in einer Serie
Goethescher Gedichte auf die geringere Ausdrucksfülle dieser Wörter
zurückführt, während er das Überwiegen der schlechte Handlungen
bezeichnenden Wörter bei Nepos als Hinweis auf eine Mehrzahl
schlechter Handlungen betrachtet.
Ganz kurz sei auch hingewiesen auf den aus einer Katalogi-
sierung der Freuden und Leiden von Schulkindern gewonnenen Satz,
dass die Leiden eine grössere Universalität besässen als die Freuden.
Grundlage für diese Behauptung ist der Befund, wonach eine Anzahl
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KOWALEWSKI: STUDIEN ZUR PSYCHOLOGIE USW. 77
Kinder, aufgefordert, ihre hauptsächlichsten Freuden und Leiden zu
nennen, häufiger die gleichen Leiden als die gleichen Freuden nam-
haft machen. Dieser Befund lässt sich indessen ebensowohl daraus
erklären, dass es mehr Freuden als Leiden gibt, oder dass die ge-
wöhnlichsten Freuden zu alltäglich sind, um besonders betrachtet und
genannt zu werden, wie daraus, dass jede Art von Freuden nur
selten bei wenigen Personen vorkommt. Wenn Kowalewski
ohne weiteres der letzteren Interpretation den Vorzug gibt, so be-
weist das nur wiederum eine gewisse pessimistische Voreingenommen-
heit, die fast sämtlichen Schlussfolgerungen unsers Autors ihre be-
sondere Färbung verleiht.
Dabei will Kowalewski übrigens keineswegs Pessimist sein. Er
behandelt sogar am Schluss seiner Ausführungen über die Asymmetrie
der Lust- und Unlustfunktion „ausgleichende Faktoren, die in ent-
gegengesetztem Sinne wirken und das bedrohte Gleichgewicht des
Gemüts unter normalen Verhältnissen bis zu einem gewissen
Grade sicher stellen'*. Unter diesen Faktoren nennt er die Abwehr-
lust, den Erinnerungsoptimismus, die Hoffnung und eine Anzahl teleo-
logischer Reflexionen. Aus dieser Zusammenstellung sieht man ohne
weiteres wieder das Durcheinanderschillern der beiden Standpunkte,
worauf oben schon hingewiesen wurde. Die tatsächlichen Gefühls-
grundlagen für Pessimusraus und Optimismus werden unbedenklich
neben die reflektierende Verarbeitung derselben gestellt ohne Rück-
sicht darauf, ob durch die letztere eine tatsächliche Asymmetrie auf-
gehoben oder durch die ersteren eine mit psychologischer Notwen-
digkeit sich einstellende Reflexion korrigiert werden kann. Im übrigen
wird ein Optimist mit der Vertretung seiner Sache durch Kowa-
lewski keineswegs zufrieden sein; denn es ist doch offenbar eine
schlechte Rechtfertigung des Optimismus, wenn dem allgemeinen
Nachweis von der Inferiorität aller Lust der Hinweis auf einige spe-
zielle Lustgefühle, auf die Abwehrlust und die Hoffnung gegenüber-
gestellt wird — ein Hinweis, der nicht etwa verwendet wird, zu
zeigen, dass die Bedingungen für Lustgefühle zahlreicher seien als
diejenigen für Unlustgefühle. Wenn nur wenigstens gezeigt würde^
dass die Abwehrlust zu der aus dem Verschwinden von Lust sich
ergebenden Unlust, dass die Hoffnung zu der Furcht in einem andern
Verhältnis steht als in demjenigen, das Kowalewski ganz allgemein
für Lust und Unlust nachgewiesen zu haben glaubt, dann wäre doch
wenigstens ein ernsthaftes Argument gegen den einseitigen Pessimis-
mus bei unserm Autor zu finden. Der Erinnerungsoptimismus könnte,
selbst wenn er allgemein verbreitet wäre, ein derartiges Argument
gegen die Berechtigung des Pessimismus natürlich nicht sein. Zu
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78 REZENSIONEN.
allem Überfluss aber weist Kowalewski selbst noch darauf hin, dass
man sich vor einer Überschätzung des Erinnerungsoptimismus hüten
solle. Nur 60 Prozent der daraufhin untersuchten Personen zeigten
deutlichere und klarere Erinnerungen an lustvolle Erlebnisse, während
40 Prozent an Unlustvolles sich besser erinnern konnten. Die Haupt-
frage, ob mehr lustbetonte oder mehr unlustbetonte Erinnerungen
in den meisten Menschen fortleben, diese Hauptfrage lässt Kowalewski
unberücksichtigt. Was endlich die teleologischen Reflexionen zu
gunsten des Optimismus anlangt, so bleibt von vornherein unklar,
welche Rolle sie spielen sollen. Wenn ein ganzes Buch geschrieben ist
zu dem Zweck, die Berechtigung oder doch die psychologische Not-
wendigkeit pessimistischer Auffassung darzutun, dann kann doch
höchstens durch die Begründung, nicht aber durch den Hinweis auf
das tatsächliche Vorkommen optimistischer Gedankengänge die Sache
des Optimismus vertreten werden. Alle Betrachtungen „über eine
Lichtseite der Asymmetrie der Unterschiedsempfindlichkeit**, über „die
warnende Funktion der Unlust**, über „die läuternde Wirkung des
Leidens** und über „Lichtseiten der Universalitätsasymmetrie** ver-
mögen doch die Tatsache nicht zu beseitigen, dass in der Welt ganz
allgemein eine Asymmetrie zwischen Lust und Unlust besteht — wenn
dies nämlich mit Kowalewski einmal als Tatsache hingenommen ist
Sollte aber Kowalewski nicht die teleologischen Betrachtungen, die
doch höchstens den Wert vereinzelter Lustreize haben können, son-
dern den Gegenstand dieser Betrachtungen, also z. B. nicht die Re-
flexion über die läuternde Wirkung des Leidens, sondern die Tat-
sache dieser läuternden Wirkung als Argument gegen den einseitigen
Pessimismus anführen wollen, dann musste er doch wenigstens zeigen,
inwiefern solche Tatsachen einen Lustzuwachs bedeuten. Der durch
Leiden Geläuterte oder der durch die warnende Funktion der Unlust
vor dem Untergang Bewahrte braucht vom Standpunkt des Pessi-
mismus aus durch seine Läuterung oder Rettung noch lange nicht
glücklicher oder für das Glücksgefühl empfänglicher geworden zu sein.
Man wird nach alledem nicht sagen können, dass es Kowalewski ge-
lungen sei, den Streit zwischen Optimismus und Pessimismus wissen-
schaftlich zu entscheiden. Die Ausführungen Kowalewskis zeigen
vielmehr, dass wir von einer streng wissenschaftlichen Beurteilung
der beiden entgegengesetzten Lebensanschauungen noch sehr weit
entfernt sind. Dessenungeachtet bleibt es das Verdienst des in Rede
stehenden Buches, den Weg gezeigt zu haben, der zu streng wissen-
schafdicher Behandlung des Pessimismusproblems führen kann.
Würzburg. DÜrrw
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VAIHINGER: NIETZSCHE ALS PHILOSOPH
79
Hans Vaihinger: Nietzsche als Philosoph. Dritte vermehrte, billige
Auflage. Berlin , Reuther & Reichard. 1905. 126 S. i Mk.
In der immer stärker anschwellenden Literatur über Nietzsche
sind es wohl nicht viele Leistungen, die bleibende Bedeutung be-
haupten werden. Vorliegende, bereits in dritter Auflage erschienene
Schrift dürfte zu ihnen gehören* Der Verf. will lediglich objektiv
Nietzsches Gedanken wiedergeben ,und verzichtet durchaus auf deren
Kritik. Eine solche Behandlung des Gegenstandes ist umso ver-
dienstlicher, je mehr Nietzsche sonst fast alle, die über ihn ge-
schrieben haben, sei es zu irgendwelcher Kritik, sei es zu einer oft
recht kritik- und urteilslosen Verherrlichung herausgefordert hat. Da
aber Vaihinger ihn im Widerspruch zu anderen, die ihn nicht als
Philosophen gelten lassen wollen, gerade in dieser Eigenschaft zu
würdigen und verstehen zu lehren sucht, so hat er auch sehr recht
daran getan, sich seine Aufgabe lediglich in jenem objektiven Sinne
zu stellen. Und mir scheint, er ist ihr auch in hohem Grade gerecht
geworden. Jedenfalls hat er den zerstreuten und vielgestaltigen StoflF
sehr wohl zu konzentrieren verstanden. Er schaut die Aphorismen,
Einfälle, Ausfälle, Paradoxen, Sentenzen Nietzsches als ein innerlich
zusammenhängendes Ganzes von einheitlichem Grundcharakter und
stellt sie als solches in schlichter, nüchterner, leidenschaftsloser Weise
dar. Sieben Haupttendenzen hebt er als charakteristisch hervor: die
antimoralistische, die antisozialistische, die antidemokratische, die anti-
feministische, die antiintellektualistische, die antipessimistische, die
antichristliche. Sie alle führt er zurück auf den Kern der Weltan-
schauung ihres Vertreters, die er als unter Darwinistischem Einfluss
positiv gewendeten Schopenhauerianismus bestimmt. Die Ableitung
derselben sieben Haupttendenzen aus diesem Prinzip ei^ibt dann die
Probe auf das Exempel. In einem Anhange, der erst jetzt in der
neuen Auflage des Buches hinzugekommen ist, werden noch eine
Anzahl von „anderen Fäden des Gewebes der Nietzscheschen Philo-
sophie" charakterisiert. Auch diese ZiXgt werden zutreffend nicht
positiv, sondern in der Form der Antithese zum Ausdruck ge-
bracht: Nietzsche ist Antimetaphysiker, Antiplatoniker, Anti-
kantianer, Antiabsolutist, Antispiritualist usw. Fein beobachtet ist
der Einfluss, den Nietzsches Standpunkt als klassischer Philologe
oder genauer als „Renaissance -Humanist*^ auf die Bildung seiner Ur-
teile namentlich Ober das Christentum geübt hat. Erinnert darf je-
doch daran werden, dass Nietzsche, wie schon Schopenhauer, nur
die Typen des weltflüchtigen katholischen Christentums und dessen
protestantischen Absenkers, des pietistischen, im Auge gehabt hat
und gegenüber dem in dem ursprünglichen Protestantismus so kraft-
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8o REZENSIONEN.
voll hervortretenden Willen zur Macht noch farbenblinder gewesen
ist, als gegenüber dem in der römischen Hierarchie unter jesuitischer
Führung noch immer lebendigen und überaus wirkungskräftigen
Streben nach äusserer Herrschaft über die Welt. Zur Einführung in
Nietzsches Philosophie ist Vaihingers Schrift in hervorragendem
Masse geeignet.
Bonn, O. RltSClÜ.
Richard Loening: Geschichte der strafrechtlichen Zurechnungs-
lehre. I. Bd.: Die Zurechnungslehre des Aristoteles. Jena,
Gustav Fischer. 1903. 359 S. 9 Mk. (Der zweite Band soll das spätere
Altertum und das Mittelalter behandeln.)
Auf psychologischer Basis wird die ethische Beurteilung der
Handlungen quellenmässig und höchst übersichtlich dargestellt. Die
grundlegenden Begriffe (pQovrjoigj ngoaigeoig^ ig? ^/uv elvcu, ixovotov,
ayvota usw. werden scharf definiert. Besonders beachtlich sind auch
die Ausführungen über die iyxgareia (S. ii6fF., 180, 200) und die
daran geknüpfte Behauptung, A. habe mit dem ethischen Intellektualis-
mus seiner Vorgänger (M. Mor. I 9 1187^ Berol.; Zeller* II 1 S. i43f.,
853) grundsätzlich gebrochen. Wichtig und interessant sind weiter
auch die Betrachtungen über ignorantia juris (S. 181, 213), auctor
delicti (S. 146), coactus volui (S. 201 ff.), Kausalität der Unterlassung
(S. 253). In besonders eingehender Erörterung verficht der Verf. seine
These, A. sei Determinist gewesen, gegen die herrschende Meinung.
(S. 273 fr.) M. E. ist dieser Kampf müssig; A. war keines von beiden.
Die Frage der Willensfreiheit lag ihm noch gar nicht vor; die Problem-
stellung selbst ist nacharistotelisch. Den Kern des Buches bildet der
Abschnitt: „Das Prinzip der Zurechnung", S. 267fr. Verf. gelangt
hier zusammenfassend zu folgenden Sätzen: Zuvörderst kommt es
darauf an, ob die Handlung jemandem zur Kausalität zugerechnet
werden könne. Die ägxtj h avxco reo TtgazTovri: das ist der erste Grund-
satz, der leitende Gesichtspunkt für die ganze Zurechnungslehre
unseres Philosophen (S. 268). Ist diese Frage bejaht, so erhebt sich
die Frage der Zurechnung zur Schuld. Verf. stellt fest, dass A. bei
an sich unsittlichen Handlungen teils den Tadel ausschliesst, teils
wenigstens ovyyvco/jLrj gewährt, wenn der Täter unter physischem oder
psychischem Zwange, oder in Unkenntnis der sittlichen Norm, oder
im Zustand völliger Sinnlosigkeit gehandelt hat. Diese Sätze des A.
enthalten ausserordentlich wichtige Bausteine für eine Zurechnungs-
lehre; aber noch nicht die Lehre selbst. Ich möchte dafür halten,
dass die Zurechnungslehre ihr wahres Prinzip erst suchen lernte,
nachdem durch die Stoa — und ihr folgte insoweit das Christen-
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RICHARD LOENING, FRHR, ALEX. HOLD VON FERNECK. 8l
tum — eine bedeutsame Vertiefung ethischen und metaphysischen
Denkens angebahnt worden war. Insbesondere aus den theologischen
Kämpfen Ober Sünde, Gnade und Verdienst, scheint sich wie das
Problem der Willensfreiheit, so auch das Problem der Zurechnung in
seinem tiefsten Bestand erst entfaltet zu haben; das wissenschaftliche
Rüstzeug zur Behandlung dieser fundamentalen Frage aber, ins-
besondere die Kasuistik und die psychologische Fundierung, ent-
nahmen die späteren Scholastiker christlichen wie muhammedanischen
Bekenntnisses das ganze Mittelalter hindurch in erster Linie aus A.
Insofern, aber auch nur insofern, wird man sagen dürfen, die aus
der Scholastik an die moderne Jurisprudenz überkommene Zurech-
nungslehre führe auf A. zurück.
Ich habe das anregende Buch mit herzlicher Freude gelesen.
Um der Philosophie willen: der Jurist hat in diesen Fragen dem
Philosophen mancherlei zu sagen. Und an der kristallklaren Schreib-
weise des Juristen könnte sich mancher Philosoph ein leuchtendes
Beispiel nehmen. Aber auch um der Juristerei willen: der Rechts-
gelehrte LoENiNG bekennt durch Wort und Tat, dass eine wahrhaft
wissenschaftliche Behandlung grundlegender juristischer Probleme not-
wendig auf die allgemeine Ethik, also auf die Philosophie zurückgehen
muss. Und als Jurist führt er seine Fachgenossen in die Rechts-
philosophie des grossen Philosophen ein. Sollte ich völlig fehlgehen,
wenn ich das Loeningsche Buch samt anderen gleichartigen Erschei-
nungen für symptomatisch ansehe und nach dem Abwirtschaften des
historischen Positivismus neue, bessere Tage für die Rechtswissen-
schaft daraus zu erhoffen wage?
Leipzig. Hans Relchel.
Dr. iur. Frhr. Alex. Hold v. Ferneck (Wien): Die Rechtswidrig-
keit. Eine Untersuchung zu den allgemeinen Lehren des Strafrechts.
Bd. I.: Der Begriff der Rechtswidrigkeit. Jena, Gustav Fischer. 1903.
400 S. 8 Mk.
Ein tüchtiges Buch, das den Problemen mutig zu Leibe geht.
Verf. zeigt erfreuliche philosophische Schulung und ausgreifende
juristische Belesenheit. Einige störende Austriazismen (z. B. „nachdem"
für quoniam), beeinträchtigen die scharfe, klare Darstellung nicht
wesentlich. Verf. bestrebt sich, den Begriff der (bloss) objektiven R.
. — im Gegensatz zur subjektiven — als nichtig zu erweisen. Er po-
lemisiert scharf, zuweilen schroff gegen die gangbaren Lehren, be-
sonders gegen A. Merkel und Binding. Er gelangt zu folgenden
Sätzen: Da nur das Einzelne real ist (Nominalismus), so gibt es nicht
„ein objektives Recht", sondern nur Rechtssätze. Jeder Rechtssatz
ZeiUchrift f Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 127 6
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82 REZENSIONEN.
ist ein (durch Zwang sanktionierter) Imperativ (Imperativentheorie;
Thon). Die Realität der Norm beruht in ihrer psychologischen Wirk-
samkeit: sie wirkt als determinierendes Motiv (konsequenter Determi-
nismus; Theorie der Generalprävention; Feuerbach, Schopenhauer).
Inhalt des Imperativs ist eih Pflichtgebot. Das subjektive Recht ist
nur der Reflex der dem Nebenmenschen auferlegten Pflicht: das durch
Pflichtgebote garantierte Können. Leges permissivae als konstitutive
Normen gibt es nicht. Da alles Recht Norm, alle Norm Pflichtgebot,
so ist alle Rechtswidrigkeit notwendig Pflichtwidrigkeit. Pflichtwidrig-
keit ist undenkbar, wo keine Pflicht besteht: also gibt es keine Rechts-
widrigkeit, wo keine Pflicht vorliegt. Objektive Rechtswidrigkeit ist
also ein Unding. An den Zurechnungsunfähigen, den Arzt, Krieger,
Henker, an den in Notwehr, Notstand Befindlichen ergeht nicht eine
berechtigende oder schuldausschliessende „Gegennorm'', sondern über-
haupt keine Norm, kein Verbot. Die Ausführungen des Verf. sind
anregend und klärend, sohin für den Ausbau der allgemeinen Rechts-
lehre von unbestreitbarem Werte. Freilich ist Verf. nicht immer von
Radikalismus freizusprechen. So z. B., wenn er dem Gesetzgeber
das „Wünschen" versagt (288), folgerecht das Unverbotene schlecht-
weg mit dem Erlaubten ineinssetzt (284fr), das bloss Erlaubte aber
in eine indifferente Sphäre verweiset (303). Es gibt m. E. ein
Adiaphoron auf dem Gebiete des Rechtes so wenig, als auf dem-
jenigen der Moral. — Grundsätzlich antipodisch gegen v. Hold stellt
sich neuerlich der Stammlerianer Gf. z. Dohna (Rechtswidrigkeit 1905),
wozu vgl. meine Besprechung in Krit. Bl. f. d. ges. Soz. Wiss. I 115 ff.
Leipzig. Hans Relchel.
Hans Cornelius: Einleitung in die Philosophie. Leipzig, B. G.
Teubner. 1903. 357 S. 4.80 Mk.
Was pflegt die Einleitung in eine Wissenschaft zu bieten?
Eine orientierende Abbreviatur propädeutischer oder historischer Art
Wie wird nun die Philosophie aufgefasst, zu welcher Einleitungen
geschrieben werden? Entweder als Einleitung zu allen Wissen-
schaften oder als encyklopädische Zusammenfassung ihrer letzten Er-
gebnisse, als metaphysisches System oder als Erkenntnistheorie. Die
Verfasser haben ihre eigene Philosophie im Auge oder sie rechnen
mit jeder möglichen. Das Buch des Münchner Professors lässt sich
unter keine von diesen Bestimmungen einfach subsumieren. „Meine
Absicht ist vielmehr — so erklärt er — dem Leser in die Entstehung
aller philosophischen Systeme einen Einblick zu verschaffen durch
den Nachweis des Ursprungs der philosophischen Fragestellungen in
der Entwicklung des menschlichen Denkens und durch die allgemeine
Untersuchung der Bedingungen, von welchen die Antwort auf diese
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CORNELIUS: EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE. 83
Fragestellungen abhängt.'' (V.) Es handelt sich um Darstellung und
Analyse der Denkarbeit, welche die Weltanschauung schafft auf Grund
eines spontanen „Mechanismus, welcher dem Spieleder Beunruhigung und
Beruhigung unseres Erkenntnistriebes überall zugrunde liegt." C. unter-
nimmt den konsequenten Fortschritt festzustellen, ausgehend von
dem „vorwissenschaftlichen Denken" mit seinem „natürlichen Welt-
bild", d. h. von naiven Vorstellungen über Eigenschaften, Dinge,
Veränderungen, Ich als Körper und Geist, Bewusstseinstatsachen und
Werte. Dieser Denkweise fehlt Kontinuität, Konsequenz und Einheit
des Gesichtspunktes und darum vermag sie nicht vor dem Postulat
der Einheitlichkeit der Erkenntnis standzuhalten. Es entsteht Meta-
physik, d. h. einseitige Generalisation, die zu verschiedenen Systemen
des Materialismus, Idealismus und Dualismus erwächst. Der Verf.
legt ungemein klar und konzis die Argumentation dieser Richtungen
dar, um zu zeigen, wie sie alle als fruchtlose Bestrebungen zum
Skepticismus führen, welcher den Mangel an Klarheit in jenen
,ynaturalistischen Begriffen" aufzeigt. Hiermit bildet sich die dritte,
erkenntnistheoretische Phase des Denkens, welches vom Dogmatismus
zum Empirismus geführt wird: die psychologische Analyse der Grund-
begriffe reduziert ihren Inhalt auf das empirische Material, dann be-
ginnt von neuem der Aufbau , um sowohl dem Einheits- als dem Klar-
heitsbedürfnisse zu genügen. „ Beide Aufgaben des philosophischen Den-
kens würden somit endgültig gelöst sein, wenn die Beantwortung der meta-
physischen Fragen mit Hilfe der erkenntnistheoretisch geklärten Begriffe
gewonnen würde, mit anderen Worten, wenn es gelänge, die Gesamt-
heit aller Tatsachen mit Hilfe solcher Begriffe einheitlich zu erklären,
welche in sich keinerlei Probleme mehr enthielten" (13). Bereits
auf der niedrigsten Stufe des Denkens bilden sich Begriffe, und zwar
in derselben Weise, wie auf den höheren Stufen alles Begreifen und
jede Theorie überhaupt; denn Theorie ist nichts anderes als umfassende
und vereinfachende Beschreibung der Erscheinungen auf Grund des
ökonomischen Denkgesetzes. Beim Streben zur Vollkommenheit des
Denkens handelt es sich um die „Rekonstruktion derjenigen Prozesse,
durch die das erste Stadium unserer Entwicklung dem Prinzip der
Ökonomie des Denkens Genüge geleistet hat" (54). Das treibende
Motiv dieses Fortschritts ist in dem Streben zur Klarheit gelegen.
Demgemäss kann die Philosophie als das Streben zur Erklärung der
letzten Fragen bestimmt werden. Sie ist zuletzt Erkenntnistheorie.
Die Erkenntnistheorie findet, so führt C. aus (167), dass unsere
Weltanschauung weder aus sinnlichen Wahrnehmungen noch aus
begrifflichen Denkformen ausschliesslich sich aufbaut, sondern viel-
mehr dem Zusammenwirken beider Faktoren ihre Entstehung ver-
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84 REZENSIONEN.
dankt. Die Erforschung der Erkenntniselemente sowie der Gesetze
des Erkennens bat die Grenzen aufzuzeigen, über welcbe das Denken
aus seiner Natur nicbt binauszugeben vermag. Den Ausgangspunkt
muss das im Strom des psycbiscben Lebens gegebene Einzelerlebnis bilden^
der in jedem Moment gegebene Bewusstseinsinbalt. Schon das naive
Denken unterscheidet hier und fasst begrifflich manche Arten der
Zustande wie: einfache und zusammengesetzte Inhalte, worauf sich
die Unterscheidung der Mehrheit der Inhalte und der Mehrheit der
Merkmale in einem Inhalte gründet, ferner Empfindungen und Vor-
stellungen mit ihren charakteristischen Momenten der Gegenwart und
der Vergangenheit, alsdann äussere und innere Wahrnehmungen oder
die sogenannten physischen und psychischen Erscheinungen, konkrete^
einzelne Vorstellungen und abstrakte Begriffe, Gefühle der Lust, des
Strebens usw. Hiermit sind die Elemente unseres Erkennens gegeben^
und es ist nun die Aufgabe, die Gesetze ihrer Verbindungen aus-
findig zu machen. Die Assoziationspsychologie verallgemeinert das
Verhältnis zwischen den Vorstellungen und begegnet unüberwind-
lichen Schwierigkeiten. Ihr prinzipieller Fehler ist, dass sie die
Elemente isoliert, während die gegebenen Erlebnisse stets als Zu-
sammenhänge im Bewusstseinsverlauf auftreten. Man muss vielmehr
die Frage so stellen: vermöge welcher F^toren greift die Erkenntnis
über den unmittelbar gegebenen Inhalt hinaus? Als solche Faktoren
erweisen sich: i. Die Unterscheidung des Ganzen und des Teils^
2. das Gedächtnis, 3. die Ahnlichkeitserkenntnis. Sie machen den
zeitlichen Verlauf des geistigen Lebens, die Ordnung der Begriffe
und die Einheit der Erfahrung möglich. „Die Assoziationsgesetze
sind notwendige Folgen der Bedingungen, ohne welche die Einheit
unseres Bewusstseins nicht gedacht werden kann** (204).
Nach dieser Grundlegung erläutert C, auf welche Weise jeder
neue Inhalt im zeitlichen und qualitativen Zusammenhang im Bewusstsein
seine Stelle erhält, indem er gleichzeitig einen Begriff als Erklärung bildet.
Der einfachste Fall liegt im Wiedererkennen vor, im Subsumieren
eines Inhalts unter eine bekannte Erscheinungsklasse. Es bilden sich
hierbei Worte als Prädikate und es entstehen Wahmehmungsbegriffe^
Das Wiedererkennen der Komplexe geht vor sich ohne Erkenntnis
der Teile, und dann sind die Relationen das Bindeglied, und zwar
sind es: Zahlen, Zeit, verschiedene Arten der Anordnung und der
Mannigfaltigkeit; das sind die Kategorien. Einen mehr komplizierten
Fall stellen die regelmässigen Verbindungen verschiedener Inhalte
dar, die auf der Erwartung gewisser Inhalte unter gewissen Be-
dingungen beruhen. Pflegt uns der Inhalt a in den Zusammen-
hängen aPp, aQq, aRr gegeben zu sein, so können wir bei ge-
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CORNELIUS: EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE, 85
gebenem a jede dieser Gruppen gleicherweise erwarten. Wird uns
aber in der Folge der Inhalt P gegeben, so erwarten wir mit Ge-
wissheit p; wir nennen P Bedingung und bilden mit gesetzmässiger
Notwendigkeit den Begriff des Zusammenhanges. So entstehen alle
Erfahrungsb^riffe. Der Begriff des Dinges ist nichts anderes als
Ausdruck der regelmässigen Verbindung verschiedener Inhalte bei ge-
wissen Bedingungen, eine Abbreviatur ihres gleichmässigen Zusammen-
hanges. So wird auch die Tatsache, dass wir die Existenz der von
uns nicht wahrgenommenen Dinge annehmen, leicht begreiflich (263).
C. bekämpft die voluntaristische Theorie der Realität der Aussenwelt
durch den Hinweis darauf, dass Schmerzen und selbst Vorstellungen
auch etwas dem Willen Widerstand Bietendes sind und doch nicht zur An-
nahme einer ausserpsychischen Existenz veranlassen (274). Auf
gleiche Weise, wie der Begriff des Dinges, bildet sich der Begriff
der Veränderung und dann der allgemeiste Begriff des Naturgesetzes.
Bei diesen Komplikationen tritt uns ein neues Merkmal entgegen:
der Charakter des Wissens, und wir müssen fragen, wie kommt es,
dass die Erwartung eine allgemeingOltige zu sein beansprucht? Die
AllgemeingQltigkeit tritt zunächst da auf, wo der Inhalt aus dem Be-
griff der Bedingung unmittelbar folgt, d. h. in analytischen Urteilen.
Alsdann ist sie bei denjenigen Urteilen über Wahmehmungsbegriffe
vorhanden, welche logische Axiome zur Voraussetzung haben. Diese
Tatsache benutzt C, um die logischen Axiome aufzufinden, und er
tut es, nicht ohne gewisse Neuerungen zu erreichen. In den Er-
fahrungsurteilen femer kann die Allgemeingültigkeit schon aus der
Definition selbst folgen, sonst bildet sie sich induktiv, wobei sie
aber von der vollständigen Kenntnis der Bedingungen abhängig wird.
Warum sie trotz der Unerreichbarkeit dieses Zieles sich behauptet,
erklärt C. negativ: werden wir in unserer Erwartung enttäuscht, so
suchen wir unablässig nach der Ursache des Wechsels, und wir be-
reichem unseren Begriff, indem wir der Forderung der Einheit des
Bewusstseins Genüge leisten. Denn aus der Einheit des Bewusstseins
fliesst unser Glaube an die Gesetzmässigkeit des Naturlaufs (296).
Hierin ist auch das Kausalgesetz begründet, welches „nichts anderes
ist, als die für die Einheit unserer Erfahrung unentbehrliche For-
derung der Einordnung aller Erscheinungen unter konstante empirische
Zusammenhänge" (294). Und „das Prinzip der Ökonomie des Denkens
ist nichts anderes als der einfachste zusammenfassende Ausdruck der
Gesetze unserer vorwissenschaftlichen wie unserer wissenschaftlichen
Begriffsbildungen, welche aus den notwendigen Bedingungen für die
Einheit unserer Erfahrung herfliessen** (257).
Auf dieselbe genetische Weise erklärt C. die Bildung des Be-
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86 REZENSIONEN.
griffes vom Ich, wobei er die unbewussten psychischen Erscheinungen
ebenfalls als Abbreviaturen interpretiert (305), den nicht wahrge-
nommenen Dingen analog. Die Frage nach dem Verhalten des
Körpers zum Geist erscheint durch begriffliche Entwicklung leicht
auflösbar. „Die physische Bedingtheit unserer Empfindungen ist eine
selbstverständliche Folge der Begriffsbildungen, die wir vollziehen»
wo wir von der physischen Welt sprechen: weil wir die sinnlichen
Wahrnehmungen den Begriffen physischer Zusammenhänge ein-
ordnen, erscheinen rückwärts jene Wahrnehmungen durch diese
physischen Tatsachen bedingt" (310). Und was die willkürlichen Be-
wegungen betrifft, so sind sie auch nur ein besonderer Fall jenes
Zusammenhanges, „das Ergebnis einer physiologischen Entwicklung,
die mit einer bestimmten psychischen Entwicklung Hand in Hand
geht« (317).
Parallel zu diesen Ausführungen analysiert C. die ethische Wert-
schätzung. Inmitten der Motive und Postulate lässt er den Wert
der Persönlichkeit in ihrer Abhängigkeit von der Übereinstimmung
mit den sittlichen Normen sich erheben. Diese Normen aber lässt er
durch unsere Organisation bedingt sein.
Wollten wir die Grundgedanken der „Einleitung* alle wieder-
geben, so müssten wir sie vielfach abschreiben, denn das prägnant
und ungemein durchsichtig geschriebene Buch ist selbst ein Resümee
weitläufiger Gedankenfolgen. Der Standpunkt des Verfassers ist
Empiriokritizismus. Er bemüht sich, seine Übereinstimmung mit dem
Apriorismus Kants hervorzuheben, dessen Wesen und Mechanismus
aber er in Annäherung an Hume psychologisch erklärt. Es bleibt
sein Verdienst, dass er nicht in den Empfindungen, die ihm schon
Abstraktionen sind, sondern in dem unmittelbar gegebenen Erlebnis
den Ausgangspunkt findet und den Verknüpfungen und Beziehungen
dieses ursprünglich aufgefassten Datums höchst methodisch nachgeht.
Femer ist es ein Verdienst, dass C. den Begriff der Einheit des Be-
wusstseins, wenn auch diese Fassung unvollkommen ist, möglichst
fruktifiziert und aus ihm das Postulat der Einheit der Erkenntnis und
das Gesetz der Denkökonomie ableitet. Schwach ist aber seine Exposition
insofern, als sie in den Rahmen eines Systems hineingedrängt wird,
wobei er vergisst, dass er doch bloss mit den Begriffen der Mechanik
und Ethik zu tun hat. Denn er bietet seine Erörterungen in einer
solchen Verallgemeinerung, dass sie nicht als partikulare Lösungen
oder als Beispiele für die Methode, sondern als erschöpfende Dar-
stellung erscheinen, wodurch viele Probleme nicht bloss verschwiegen,
sondern in ihrer Existenz verdunkelt werden. Das beruht darauf,
dass C. den Begriff der Weltanschauung unanalysiert gelassen hat,
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CORNELIUS: EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE. 87
der doch bei dem heutigen Betrieb der Wissenschaften nicht mehr
so einfach ist, wie in vergangenen Zeiten, wo er sich aus einer theo-
retischen und praktischen oder physischen und ethischen Hälfte zu-
sammensetzte. Diese traditionelle Spaltung wird von C. einfach über-
nommen, während sie gerade vom richtig erfassten kantischen Er-
kenntnisstandpunkt überwunden werden sollte. Eine offenbare Unzu-
länglichkeit liegt im Prinzip der Klarheit; schon die Erklärung der
Metaphysik, deren Fortschritt C. darin setzt, dass sie bloss dem Prinzip der
Einheit Genüge zu tun hat, erweist dies. Überdies berücksichtigt C.
nicht, dass die logische Klarheit anders als die psychologische ge-
artet ist, braucht doch ein klares Denken durchaus nicht das Denken
eines klaren Inhalts zu sein. C. operiert eben mit dem Element
„Inhalt^, welcher ein Amalgam der psychologischen und logischen
Merkmale ist und deshalb den problemvollen Übergang vom psycho-
logischen Charakter der Denkerscheinungen zum logischen zu einem
subreptiven Herübergleiten gestaltet. In dem „Inhalt" liegt ein ge-
wisser Rationalismus, der von der Empirie entfernt und diejenige Ge-
neralisation ermöglicht, welche in der Meinung, dass sie alle Erkennt-
nisse auf einen Nenner gebracht hat, in der Gestalt des Systems
hervortreten kann. So kommt es, dass das Induktionsproblem, welches
C. psychologisch vorzüglich beleuchtet, von seiner logischen Seite
nur negativ sich zu zeigen vermag. Die Erklärung der Allgemein-
gültigkeit durch Bereicherung des Begriffs ist dann eine allzu grosse
Vereinfachung. Mit der rationalistischen Ableitung ist die solipsistische
Schwierigkeit verbunden. C. überwindet sie dadurch, dass er den Soli-
psismus als „Welt im Kopfe" darstellt, eine Absurdität, die nirgends
ernsthaft entwickelt worden ist. Der psychologische Rationalismus
von C. führt ihn dazu, die voluntaristische Theorie der Realität der
Aussenwelt zu bekämpfen. Sind es aber nicht gerade Schmerzen
und dem Willen zum Trotz sich behauptende Vorstellungen, die uns
zur besorgten Annahme ausserpsychischer Veränderungen in unseren
Organen veranlassen?
Nun haben wir einen Einwand ausführlicher darzulegen. Wie
ist die „Entwicklung des Denkens", von welcher in der „Einleitung"
fortwährend die Rede ist, vorzustellen? Das Werk von C. ist die
Darstellung dieser Entwicklung in ganzer Vieldeutigkeit dieses Wortes.
Zunächst ist hier die Entwicklung ein logisches Fortschreiten der
sachlichen Argumentation: der methodische Gang führt stufenweise
vom naiven Denken zu erkenntnistheoretisch durchgebildeter Denk-
weise. Zugleich bietet sich die Entwicklung als didaktisch zweck-
mässiger Vortrag, der mit einfachen Denkerscheinungen beginnt und
zu komplizierteren fortschreitet. Derselbe Gedankenlauf bietet sich
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88 REZENSIONEN.
auch als deduktive psychologische Konstruktion, welche komplizierte
Denkprozesse aus einem Prinzip deduziert. In demselben Fortschritt
haben wir femer eine historische Darstellung der grossen systematischen
Standpunkte von den griechischen bis auf den kantischen. Schliesslich
lässt sich aufdecken, dass das Buch eine systematische Entfaltung der
Weltanschauung im Rahmen der uralten Trias Dialektik, Physik und
Ethik bietet. Dem Verf. verschmelzen alle diese durchaus nicht ein-
deutigen Entwicklungen zu einer abstrakten Naturgeschichte des
Denkens, indem er sie dialektisch und stilistisch verknüpft und somit
an die Phänomenologie Hegels erinnert. Er sagt selbst darüber,
dass die Untersuchung der Entwicklung der psychischen Zustände
die Erforschung des Induktionsmechanismus in sich schliesse (170),
oder was auf dasselbe hinauskommt, dass die Frage nach dem Ur-
sprung und der Bedeutung der Begriffe mit der Frage nach der
psychischen Entwicklung der unmittelbar gegebenen Zustände zu-
sammenfällt (169); so werden die psychische und die psychologische
Entwicklung vermengt. An anderen Stellen wiederholt C, dass die
historische Entwicklung zwar mit der des sachlichen Fortschritts nicht
kongruiert, doch sich ihr annähert (VII, 55, 171). Einmal lässt er
die logische Notwendigkeit mit der Naturnotwendigkeit zusammen-
fallen (296). Aus diesen sporadischen Äusserungen geht hervor, dass
der Verf. nicht mit der Absicht ausgeht, die verschiedenen Stand-
punkte zu vereinheitlichen. Dies ergibt sich ihm aber als die Folge
seines Strebens ein System aufzustellen, einen theoretischen Abschluss
zu bieten.
Wir sahen oben, wie die rationalistische Einseitigkeit und die
evolutionistische Darstellung, die nur zum Teil psychologisch ist, den
Aufbau bestimmen. Nun erklärt aber C. zweimal, dass die erkenntnis-
theoretische Wendung der Philosophie notwendig eine psychologische
ist, weil sie auf die Bewusstseinstatsachen zurückgeht und sich
der psychologischen Analyse bedient (§7, S. 168). Nur soll sie
keine theoretische Psychologie voraussetzen, denn sie hat allein eine
einfache Beschreibung zu sein. Diese Erklärung erregt in mancherlei
Beziehung unser Bedenken und veranlasst uns die Stellung des Verf.
zu der heute brennenden Frage des Primats in der Verwicklung der
Erkenntnistheorie mit der Psychologie ins Auge zu fassen. Wir
greifen zu der vor 6 Jahren veröffentlichten „Psychologie* des Verf.
Bereits ein oberflächlicher Vergleich beider Werke zeigt, dass die
„Einleitung" ein ausführlicher Auszug aus der „Psychologie" ist, be-
reichert durch philosophiegeschichtliche Ausführungen, während die
„Psychologie" um das Kapitel 6 reicher ist, welches über Wahrheit
und Irrtum handelt und deshalb eher in jenem Werk am Platze
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CORNELIUS: EINLEITUNG IN DIE PHILOSOPHIE, 89
wäre, und dann noch um das Schlusskapitel, in welches die Lehre
von der emotionellen Seite des Seelenlebens zusammengeschrumpft
ist. In der Einleitung zur „Psychologie" erklärt C, dass er sich die
Aufgabe stellt, die erkenntnistheoretische Begründung der Psycho-
logie vorzunehmen (III). Wir haben also einen Zirkel. Aber auf
S. 6 lesen wir wieder, dass die Psychologie die einzig mögliche
Grundlage für die Philosophie sein kann. Und auf S. 11 wiederum,
wo der Verf. seine Methode als eine genetische hinstellt, treffen wir
die Erklärung an, dass er Tatsachen suche, welche den ersten An-
fängen psychischen Lebens zugrunde liegen. Die „Psychologie**
von C. setzt tatsächlich die Erkenntnistheorie voraus, wie diese in
der „Einleitung" die Psychologie voraussetzt. Der Verf. ist sich
über das Verhältnis der Psychologie der Erkenntnis zu der Erkenntnis
der Psychologie oder des Bewusstseins zum Wissen nicht klar ge-
worden. Die Folge davon ist, dass Methode und System verwechselt
werden. Weil C. sich der erkenntnistheoretischen Methode als einer
unter vielen nicht bewusst geworden ist, wird ihm das Systematisieren
zum System, welches alle unerörterten- Fragen untergeordnet sein
lässt, als ob ihre Lösungen sich aus den gegebenen konsequent er-
schliessen Hessen. Der Eifer für die neue Richtung bringt mit sich,
wie es stets der Fall war, einseitige Übertreibung, welche sich als
Rückschritt in verändertem Gewände zu erweisen pflegt. Und es
ist C. bereits passiert, dass ein metaphysikfreundlicher Rezensent (in
den Preuss. Jahrb. 1904, i) ihn für keinen vollendeten Apostaten
hält trotz der ausdrücklichen Erklärung von C, dass er die Wissen-
schaft von aller Metaphysik zu reinigen strebe. In der Tat steht die
„Entstehung" in merkwürdiger Analogie zur „Kritik der reinen Ver-
nunft", welche zwischen der Bestimmung als „Traktat über die Methode"
und als „System" für Kant selbst „schwankte. Es ist aber ein Vor-
teil der „Einleitung**, dass sie die oben ausgesprochenen Bedenken
leicht nahelegt, die nichts anderes als Probleme der heutigen Wissen-
schaft sind und namentiich durch die fragliche Konsolidierung der
heterogenen Entwicklungsreihen des Denkens ins Licht gesetzt werden.
Diese Konsolidierung hat eben zur Folge, dass die „Einleitung" keiner
der von uns eingangs für eine solche hingestellten Möglichkeiten,
sondern allen zugleich entspricht, und darum ist das Buch die vor-
züglichste Einführung in das philosophische Gewirr, aus welchem die
erkenntnistheoretische Methode herausführt.
L Halpern.
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90 REZENSIONEN,
Benno Erdmann: Über Inhalt und Geltung des Kausalgesetzes.
Halle, Niemeyer. 1905. 5a S. 1.70 Mk.
Die Arbeit bietet die erweiterte Niederschrift des Vortrages, den
der Verf. in der Sektion für Methodology of Science des Kongresses
in St. Louis im September 1904 gehalten hat. Die Einleitung gibt
eine kurze, die Kernpunkte charakterisierende Entwickelung des Kausal-
begriffes in der Geschichte des Denkens: Humes Empirismus und
Kants Rationalismus bezeichnen noch heut die beiden einander gegen-
überstehenden Lösungsversuche des Kausalproblems. Es ist darum
der modernen Philosophie die Aufgabe geblieben, eine eindeutige
Antwort auf die Frage nach Inhalt und Geltung des Problems zu
finden. Nur durch diese Lösung kann eine allgemeingültige methodo-
logische Grundlage für alle Wissenschaften von Tatsachen gewonnen
werden; denn sie alle sind das Ergebnis induktiven Denkens, und
dieses hat die Gültigkeit des Kausalgesetzes zur Voraussetzung. Die
Daten, die uns veranlassen, die Begriffe „Ursache" und „Wirkung"
und den einer gesetzlichen Beziehung zwischen jenen beiden zu
bilden, liegen in der Erfahrung, die uns in wiederholter Wahr-
nehmung gleichförmige Aufeinanderfolgen darbietet, und zugleich in
unserer psychologischen Anlage. Denn die Möglichkeit dieser
Erfahrung setzt — für die kritische Analyse — in unserm Geiste die
Fähigkeit reproduktiver Rekognition dessen, was in früherer Wahr-
nehmung gegeben war, voraus. Auf Grund dieser Daten nennen wir
„Ursache" das gleichförmige anticedens und „Wirkung" das regel-
mässige unmittelbare consequens.
Verbindet nun in der Tat nichts als die stete unmittelbare
gleichförmige Zeitfolge die Vorgänge zu Ursache und Wirkung,
oder ist in diesen Begriffen noch ein anderes gedankliches Moment
enthalten? Die beiden möglichen Antworten auf diese Frage be-
zeichnen die empiristische und die rationalistische Auffassung des
Kausalzusammenhanges. Unter der (im Verlauf der Untersuchung zu
rechtfertigenden) Voraussetzung, dass jeder Vorgang der Weltwirk-
lichkeit in einem gesetzmässigen Zusammenhange von Ursache und
Wirkung steht, formuliert der Verf. das Kausalgesetz: jeder Vor-
gang fordert in anderen gleichförmig vorhergehenden Vor-
gängen zureichende Ursachen seiner Wirklichkeit. Welche
Geltung kommt diesem Gesetz nun auf dem Boden des Empiris-
mus zu? Es gilt ihm lediglich als hypothetische Erweiterung der
beobachteten Fälle gleichförmiger Zeitfolge; es ist demnach eine
Hypothese, die durch Erfahrung zu verifizieren ist, deren Nichtzu-
treffen aber durchaus möglich bleibt. Der Charakter des Unabänder-
lichen, der den Zusammenhang von Ursache und Wirkung auszeichnet,
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ERDMANN: ÜBER INHALT UND GELTUNG DES (JSJV, 91
hat auf empiristischera Boden keine Gültigkeit. Auch der Zusammen-
hang der tatsächlich beobachteten Ursachen und Wirkungen muss für
den konsequenten Empirismus seine Eigenart verlieren; er kann nichts
als regelmässige temporale Folge sein; denn von einem inneren,
realen Zusammenhang beider lehrt die Erfahrung nichts. Die Begriffe
„Kraft" und „dynamischer Zusammenhang'' sind dem strengen Em-
pirismus „unberechtigter Fetischismus". Aber auch die Begriffe Ur-
sache und Wirkung haben in seinem System schliesslich keine Gültig-
keit; denn die Natur ist nur einmal da, und die Wiederholungen
gleicher Fälle, das Wesentliche des ursächlichen Zusammenhanges,
existieren nur in unserm abstrahierenden Denken. Die empiristische
Kausalauffassung führt somit nicht zur Lösung, sondern zur völligen
Zersetzung des Kausalbegriffes. Ihre Voraussetzung, dass unsere
kausalen Begriffe nichts als die Erweiterung erfahrener gleichförmiger
Aufeinanderfolgen seien, kann darum nicht zu recht bestehen; es
muss noch ein anderes gedankliches Moment in ihnen enthalten sein.
Und zwar müssen wir, sofern wir stets b in gleichförmiger un-
mittelbarer Folge auf a eintreten sehen, denknotwendig voraussetzen,
dass diesen beiden ein realer, notwendiger innerer Zusammenhang
zugrunde liegt, der an den Eintritt des a den des b unaufhebbar
knüpft. Bestände ein solcher realer, notwendig wirkender Zusammen-
hang nicht, dann wäre denknotwendig anzunehmen, dass auf a ein-
mal b, einmal c, kurz in regellosem Wechsel jeder beUebige Vorgang
folge. Das jedoch widerspricht der Erfahrung, damit aber auch den Be-
dingungen unseres Denkens, das sich auf der Grundlage der Er-
fahrung gleichförmiger Aufeinanderfolgen entwickelt hat. Denn eine
Welt, in der diese Regellosigkeit für alle Vorgangsweisen gälte,
würde einem Chaos gleichkommen; einen solchen Zustand aber können
wir in unserm Vorstellen und Denken nicht erfassen. Denn sein Be-
griff verneint alle die Bedingungen, unter denen unser Erkennen und
Denken allein zustande kommen kann: dass eine Gleichförmigkeit von
Eindrücken uns simultan oder succesiv wiederholt gegeben werde.
Darum ist eine Gesetzmässigkeit der Vorgänge, die Gegenstand unseres
Vorstellens und Denkens sollen werden können, notwendig. Somit
ist auch die Bedingung dieser Gesetzmässigkeit — ein realer Wirkungs-
zusammenhang, der den Eintritt der Folge nach der Ursache unum-
gänglich erzwingt — eine uns denknotwendige Forderung. So haben
wir das Moment gewonnen, das die richtige Wertung des Kausal-
zusammenhanges, über die empiristische Auffassung hinausgehend, im
Ursachbegriff anerkennen muss: den Gedanken, dass zwischen den
als Ursache und Wirkung verbundenen Gliedern eine innere reale
Abhängigkeit bestehen, dass somit der Gesamtheit des uns erkenn-
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92
REZENSIONEN.
baren Wirklichen ein Wirkendes, ein Kräftezusammenhang zu-
grunde liegen muss, der die Aufeinanderfolge der Vorgänge zu not-
wendig einander fordernden Reihen von Ursachen und Wirkungen
verbindet.
Dieser gesetzmässige Wirkungszusammenhang darf aber nicht
nur als Grundlage des succesiven Geschehens vorausgesetzt werden;
der weiteren Analyse lösen sich vielmehr auch die scheinbar behar-
renden Komplexe, die Substanzen, in Inbegriffe gesetzmässiger Wir-
kungsweisen auf. So wird das gesamte Wirkliche zu einem kausal ver-
ketteten Kosmos, dem wir einen gesetzmässigen dynamischen Zusammen-
hang als Grundlage notwendig postulieren müssen. Das Kausalgesetz
ist somit für Erdmann ähnlich wie für Lotze ein denknotwendiges
Postulat; aber es ist ihm doch kein „Gesetz unseres reinen
Denkens **; denn die Erfahrung ist nicht allein für uns Anlass, das
Gesetz zu bilden; wir müssen auch annehmen, dass die Betätigungs-
weisen unseres Geistes sich zum Teil unter dem Einfluss der Erfahrung
zu diesen bestimmten Formen ausgeprägt haben. Diese Auffassung
von der Natur unseres Geistes trennt den Verf. wieder von Lotze,
denn sie schliesst jeden Versuch einer Wesensbestimmung des jen-
seits unserer Erfahrung liegenden Transzendenten aus. Er gelangt
darum, ähnlich wie Helmholtz, zu einer phänomenalistischen Auf-
fassung des Wirklichen (vgl. Helmholtz: Physiologische Optik und
Tatsachen in der Wahrnehmung): auf Grund der Erfahrung gesetz-
mässiger Wirkungen müssen wir einen transzendenten dynamischen
Ursachzusammenhang, ein wirkendes Transzendentes, voraussetzen;
aber von dessen Wesen und der Art seines Wirkens haben wir gar
keine Erkenntnis; ebensowenig begreifen wir, wie die Kräfte, die wir
auf Grund der Erfolge, die sie zeitigen, voraussetzen müssen, es an-
fangen, wirksam zu sein.
So unterscheidet sich die gewonnene Analyse ebenso deutiich
vom historisch ausgeprägten Rationalismus, wie sie andererseits über
den Empirismus hinausgehen musste. Aufgabe der Metaphysik ist es,
den phänomenologischen Dynamismus, zu dem die Analyse des
Kausalzusammenhanges geführt hat, erkenntnistheoretisch näher zu
begründen und auszuführen.
Königsberg i. Fr. Else 'WentBOher.
O. BüTSCHLi: Mechanismus und Vitalismus. Leipzig, Verlag von
Wilhelm Engelmann, 1901. 107 S. 1,60 Mk.
Die Schrift ist aus einem Kongressvortrage hervorgegangen.
B. präzisiert zunächst seinen erkenntnistheoretischen Standpunkt (S. 20".),
der der Hauptsache nach auf einen universellen psychophysischen
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^v^^ve9^3=p^
O. BÜTSCHLI. AUGUST FOREL. 93
Parallelismus hinausläuft. Als zweite Vorfrage wird (S. 6 f.) das Ver-
hältnis der exakten Naturwissenschaften zu den beschreibenden einer
knappen kritischen Betrachtung unterzogen. Treffend macht der Verf.
auf die leider immer noch nicht genügend beachtete Tatsache auf-
merksam , dass die exakten Naturwissenschaften es mit künstlich ver-
einfachten Abhängigkeitsbeziehungen zu tun haben und darum in der
Anwendung auf die wirklichen anorganischen Naturdinge „fast nie zu
scharf bestimmten, eindeutigen Ergebnissen** führen. Nach einer sorg-
fältigen begrifflichen Abgrenzung des „Mechanismus" sucht dann B.
diese Auffassung der Organismen gegenüber der vitalistischen An-
schauung, wonach zur Erklärung des organischen Lebens das gewöhn-
liche physiko- chemische Geschehen nicht genügen soll, ausführlich zu
verteidigen. Vor allem werden auf rein anorganischem Gebiet Ana-
logien zu organischen Vorgängen und Formbildungen aufgespürt, die
geeignet sind, die Kluft zwischen den beiden grossen Naturgebieten
zu überbrücken (S. 19 ff.). Das ist ohne Zweifel ein glücklicher Ver-
teidigungsweg, dessen weitere Verfolgung noch reiche Ausbeute ver-
spricht. B. stützt sich hierbei auf eigene Forschungen. Die Polemik
gegen den Zweckbegriff (S. 29 ff.) ist wohl etwas zu scharf. Wenn
Zweckgeschehen und Bewusstsein zusammengehören, wie B. behauptet,
weshalb sollen die beseelten Organismen nicht zu primitiven Zweck-
handlungen fähig sein, durch die allmählich gewisse funktionale
Zweckmässigkeiten geschaffen werden? Die Darwinisten vernachläs-
sigen überhaupt noch zu sehr den psychischen Faktor des organischen
Lebens. Und doch liegt in diesem Faktor die Lösung der Rätsel, mit
denen sich Mechanismus und Vitalismus abquälen. Die „Anmerkungen"
(S. 49 ff.) enthalten ausführliche kritische Auseinandersetzungen mit
den neuesten biologischen Autoren, Dem Ganzen ist ein alphabeti-
sches Literaturverzeichnis angefügt. Die erkenntnistheoretische Be-
sonnenheit, die aus allen Erörterungen des Buches hervorleuchtet,
wird jeden philosophischen Leser sympathisch berühren.
Königsberg. Arnold Kowalewski.
August Forel: Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen und
einiger anderer Insekten; mit einem Anhang über die Eigentümlich-
keiten des Gerüchsinnes bei jenen Tieren. Vorträge gehalten den
13. August 1901 am V. Internationalen Zoologen - Kongress zu Berlin.
München, 1901. Ernst Reinhardt, Verlagsbuchhandlung. 57 S. 1,50 Mk.
Der Verf. gibt eine systematische psychologische Charakteristik
jener Tierklasse, die durch ihre an interessanten Momenten so reiche
Lebensweise seit alten Zeiten die Forscher angezogen hat. Mit
grossem Geschick wird namentlich an dem Beispiel der Ameisen
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94
REZENSIONEN.
(S. 17 f.) nachgewiesen, wie mit der verschiedenen Ausbildung des
Gehirns das Niveau der psychischen Leistungen wechselt. In einer
Ameisenkolonie stehen faktisch die Arbeiter, die durch ein grosses
Gehirn ausgezeichnet sind, geistig am höchsten. Dann folgen die mit
einem viel kleineren Gehirn begabten Weibchen. Die tiefste Stufe
nehmen die Männchen ein, deren Nervenzentrum am kümmerlichsten
entwickelt ist. Sehr beachtenswert sind die Experimente, die F. mit
natürlichen und künstlichen Blumeli an Bienen angestellt hat (S. 28fr.).
Es scheint daraus u. a. hervorzugehen, dass diese Tierchen „einfache,
instinktive Analogieschlüsse aus individuellen Erfahrungen" ziehen
können. Für die richtige Einschätzung der tierischen Intelligenz ist
aber meines Erachtens die bekannte Bemerkung Kants über physisches
und logisches Unterscheiden immer noch recht nützlich. Die durch
instruktive Details erläuterte „Zähigkeit des Ameisen willens" (S. 35ff.),
verliert etwas von ihrem moralischen Nimbus, wenn man erstens die
gewaltige relative Körperkraft dieser Insekten berücksichtigt, die es
ihnen gestattet, sich lange ohne merkliche Ermüdung an Hindernissen
zu versuchen, sowie zweitens ihren natürlichen Spieltrieb, der zu einer
periodischen Wiederholung gleicher Tätigkeit drängt. Der Anhang
(S. 43 ff.) beschäftigt sich mit dem Fühlhörner- Geruchssinn, der be
den Ameisen und anderen Landinsekten jene wunderbare räumliche
Orientierung ermöglicht. Was speziell die Unterscheidung von vor-
wärts und rückwärts auf einem zurückgelegten Wege anlangt, so ist
diese Leistung wohl einfacher zu erklären, als der Verf. will. Ich
denke, dass die Geruchsspuren in der Vorwärtsrichtung eine Reihe
von wachsenden Intensitäten bilden, in der Rückwärtsrichtung eine
Reihe von abnehmenden Intensitäten: weil die älteren (rückwärts ge-
legenen) Spuren doch stets mehr verduften, als die jüngeren (vor-
wärts gelegenen) Spuren. Danach hat eine eindeutige Sonderung der
beiden Wegrichtungen keine Schwierigkeit. Die lehrreiche Schrift sei
den Psychologen bestens empfohlen.
Königsberg. Arnold KowalewBkl.
August Forel: Über die Zurechnungsfähigkeit des normalen
Menschen. Ein Vortrag gehalten in der Schweizerischen Gesellschaft
für ethische Kultur in Zürich. 3. Auflage. München, 1901. Ernst Rein-
hardt, Verlagsbuchhandlung. 27 S. 0,80 Mk.
Die Zurechnungsfähigkeit beruht nach Ansicht des Veri. auf der
„Plastizität der Seele oder des Gehirns", d. b. auf der Fähigkeit sich
neuen, äusseren Verhältnissen anzuschmiegen. Plastische Seelentätig-
keit erscheint uns als frei im Gegensatz zur Gebundenheit der in-
stinktiven oder automatischen Triebe. „Es gibt unzählige Übergänge
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AUGUST FOREL. MARCEL FOUCAULT. 95
zwischen den reinsten Automatismen und der allerfeinsten , schmieg-
samsten Seelentätigkeit." Dementsprechend haben wir auch ver-
schiedene Grade von Zurechnungsfähigkeit zu unterscheiden. Der in
der modernen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis so lebhaft disku-
tierte Begriff der „verminderten Zurechnungsfähigkeit" erhält damit
eine natürliche Erklärung. Weiterhin betont aber F., dass Zurech-
nungsf^higkeit „eine solidarische Gemeinschaft gleicher Wesen mit
gleichen Rechten und Pflichten" voraussetze. Demgemäss sollen vor-
nehmlich „die sozialen Notwendigkeiten" das Objekt für die plastische
Anpassung bilden. Eine instinktive Parallele zu solcher plastischen
Anpassung bietet uns, wie in einem geistreichen Exkurs ausgeführt
wird, die Organisation des Ameisenstaats. Wenn der schillernde Be-
griff der Plastizität auch das Dunkel der Willensfreiheit und Zurech-
nungsfähigkeit nicht zu beseitigen vermag und die materialistische
Gleichsetzung von Gehirn und Seele jeden philosophischen Leser zum
Widerspruch reizen muss, so ist das Schriftchen doch sehr anregend.
Königsberg. Arnold Kowalewski.
Marcel Foucault: La psychophysique. Paris, F6lix Alcan. 1901.
(Biblioth^que de philosophie contemporaine).
Das vorliegende Buch gibt gewissermassen einen Einblick in
das ganze Aktenmaterial der Psychophysik. Das erste Kapitel ent-
wickelt Fechners allgemeine Prinzipien der Empfindungsmessung.
Das Webersche Gesetz wird in seiner fundamentalen Bedeutung für
die Psychophysik scharf herausgekehrt. Das zweite Kapitel zeigt kurz,
wie die Erkenntnis dieses wichtigen Gesetzes vor Fechner teils durch
spezielle empirische Ermittelungen, teils durch mathematisches Räson-
nement angebahnt wurde. Es liegt ein pädagogischer Zug in der
Tatsache, dass die mehr theoretischen Formulierungsversuche des
Weberschen Gesetzes anfangs relativ unabhängig neben den empi-
rischen Begründungsversuchen einhergingen. In solcher isolierten
Züchtung erreichte sowohl der formale wie der materiale Genauig-
keitssinn jenen Grad von Vollkommenheit, der nachmals eine frucht-
bare Synthese ermöglichte. Das dritte Kapitel erläutert die psycho-
pbysischen Methoden, die der Hauptsache nach schon vor Fechner
benutzt wurden, aber von diesem erst eine feinere Ausbildung und
kritische Rechtfertigung erhielten. Die „Methode der richtigen und
falschen Fälle", die mit den grössten Schwierigkeiten behaftet ist,
wird am eingehendsten behandelt. Im vierten Kapitel berichtet F.
über die Experimente, die Fechner bzw. sein Schwager Volkmann
zur Prüfung des Weberschen Gesetzes für verschiedene Reizklassen
ausgeführt hat. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Gesetz
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96 REZENSIONEN,
der Schwelle und den einschlägigen empirischen Feststellungen ältesten
Datums. Das sechste Kapitel stellt Fechners mathematische Ab-
leitung der bekannten logarithmischen Formel für das Webersche
Gesetz dar. Das siebente Kapitel endlich erörtert Fechners meta-
physische Deutung des erwähnten Gesetzes. Damit schliesst der erste
Hauptteil des Buches ab. Der zweite Hauptteil ist vorwiegend kri-
tischen Inhalts. Der Verfasser bemängelt in erster Linie Fechners
Begriff der Empfindung. Die blosse Empfindung (Sensation) sei nicht
von der inneren Auffassung (perception) unterschieden. Bei der in-
neren Auffassung eines Objekts beteilige sich ein zusammenfassendes
Vorstellungsbild von den früheren Wahrnehmungen dieses Objekts.
Eine regelmässige funktionale Beziehung zwischen Reiz und innerer
Auffassung könne es nicht geben, höchstens zwischen Reiz und ein-
facher Sinnesempfindung, falls man wirklich von einer Intensität der
Sinnesempfindungen sprechen dürfe. Das Vergleichen von Sinnes-
eindrücken, das dem Weberschen Gesetze zugrunde liegt, sei offenbar
Sache der inneren Auffassung, nicht der blossen Empfindung. Damit
tritt FoucAULT Fechners Interpretation entgegen. Ein weiteres Ka-
pitel diskutiert eine Reihe von theoretischen Einwänden, die gegen
Fechners Psychophysik erhoben worden sind: die merkwürdige Kon-
sequenz, dass es Nullempfindungen und negative Empfindungen gibt;
das teleologische Argument von Hering; den Widerspruch mit dem
Prinzip der Proportionalität von Wirkung und Ursache; die Schwierig-
keit, die sich an die Messung von angeblichen Empfindungsintensi-
täten knüpft; die problematischen Voraussetzungen, die bei der
Interpretation des Weberschen Gesetzes gemacht werden (besonders
die Annahme der arithmetischen Gleichheit ebenmerklicher Empfindungs-
unterschiede). Das dritte Kapitel des zweiten Hauptteils skizziert die
verschiedenen Modifikationen, die Helmholtz, Plateau und Brentano,
Delboeuf, Hering und Funke, Langer, Breton, Charpentier ohne
besondere physiologische Hypothesen an den Fechnerschen Theorien
bzw. Formeln vorzunehmen suchten, die physiologischen Interpre-
tationen des Weberschen Gesetzes von Mach, Bernstein, Dewar
und Mac Kendrick, G. E. Müller, F. C. Müller, Titchener,
Orchansky sowie die rein psychologische Auffassung Wundts und
seiner Schüler. Das vierte Kapitel bespricht die tiefgreifenderen Re-
konstruktionen der Psychophysik, die nicht die Intensität als mess-
bare Eigenschaft der Empfindungen benutzen. Dahin gehören vor
allem die auf eine Messung der Verwandtschaft bzw. Verschiedenheit
oder Unähnlichkeit abzielenden Theorien von Boas, Stumpf, Ebbing-
haus und Meinong. Die Kapitel 5 — 7 suchen eine Psychophysik zu
begründen, die an Stelle der Intensität die Klarheit (clart6) der
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MARCEL FOUCAÜLT: LA PSYCHO PHYSIQUE 97
Empfindungen quantitativ bebandelt. Von diesexn Standpunkte aus
werden in den beiden letzten Kapiteln die überlieferten psycho-
physischen Methoden sowie die Experimentaluntersuchungen Ober das
Webersche Gesetz einer systematisch -kritischen Betrachtung unter-
zogen. Dabei hat F. auch die neueste einschlägige Literatur sorg-
fältig berücksichtigt.
Bei dem Berichte über die Psychophysik der Hautsinnes-
empfindungen hätte F. die Blix-Goldscheidersche Punktetheorie nicht
übersehen sollen. Durch diese Theorie haben doch die Schwellen-
bestimmungen für Druck, Wärme und Kälte erst eine exakte Grund-
lage erhalten. Ebenso müssten die wichtigen Arbeiten M. von Freys
herangezogen werden. Dieser Forscher hat u. a. eine „Schwellen-
wage" konstruiert, die in sinnvoller Weise eine Registrierung der
Belastungsgeschwindigkeit applizierter Druckreize gestattet.
Die merkwürdige Variation der Empfindlichkeit für Druckreiz-
distanzen auf die verschiedenen Hautstellen erklärt Foucault nur
durch E. H. Webers Hypothese der „Empfindungskreise", ohne zu
bemerken, dass diese H)rpothese durch spätere Forscher (Czermak,
Wundt) wesentlich verbessert worden ist. Ganz befriedigend er-
scheint mir freilich diese anatomisch fundierte Erklärungsweise auch
nach den neuesten Verbesserungen nicht. Dass wir auf einem Finger-
gliede einen kleineren Schwellenwert für Druckreizdistanzen haben,
als etwa auf dem Oberarm oder gar dem Rücken, rührt wohl haupt-
sächlich von den natürlichen Dimensionen der betreffenden Hautfelder
her. Auf einem kleinen Hautfeld kann eine geringe Punktedistanz
leichter zur Geltung kommen, als auf einem grossen Hautfeld. Viel-
leicht besteht überhaupt eine funktionale Beziehung zwischen der
Reizschwelle und der zugeordneten Maximalempfindung, die ein Reiz
seinen natürlichen Bedingungen nach günstigstenfalls auslösen kann
oder aber durchschnittlich faktisch auslöst. Es wäre sehr lohnend,
diese Frage einmal experimentell zu verfolgen.
Die Klarheitsmessung, die die gewöhnliche Intensitätsmessung
ersetzen soll, ist gleichfalls nicht einwandsfrei. Schon der Begriff
der Klarheit dürfte kaum präziser sein, als der Begriff der Intensität.
Trotzdem ist es löblich, dass der Verfasser einmal neues Leben in
die leicht stagnierenden Prinzipien der Psj^chophysik bringt. Das
elegant geschriebene Buch wird auch deutschen Lesern willkommen
sein als Orientierung über jenen denkwürdigen Forschungszweig, aus
dem sich die moderne experimentelle Psychologie entwickelt hat.
Königsberg. Ajpnold Kowalewski.
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. lorj 7
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98
REZENSIONEN,
Dr. Eduard Martinak, a. o. Universitdtsprofessor und Gymnasialdirektor
in Graz, Psychologische Untersuchungen zur Bedeutungs-
lehre. Leipzig, Verlag von Joh. Ambr. Barth. 1901. 98 S. Preis:
3 Mark.
Der Verfasser analysiert zunächst unabhängig von dem Fall der
Wortbedeutungen ganz allgemein das Wesen des Bedeutens. Er
unterscheidet hauptsächlich zwei Arten von Bedeuten. Die eine Art,
das „reale Bedeuten**, ist dadurch charakterisiert, dass zwischen den
dem Zeichen und seiner Bedeutung entsprechenden Tatbeständen ob-
jektiv ein „reines naturgesetzliches Kausalverhältnis oder noch allge-
meiner: notwendiger gesetzlicher Zusammenhang besteht**. Bei der
anderen Art, dem „finalen Bedeuten", handelt es sich um eine ab-
sichtliche, planmässige Zeichengebung. Der terminologischen Kon-
zinnität wegen wäre es vielleicht besser, dem „finalen" Bedeuten nicht
ein „reales", sondern „kausales" gegenüberzustellen: man kann ja
das Kausalitätsprinzip so weit fassen, dass auch alle objektiven ge-
setzlichen Koexistenzen darunter fallen. Der Verfasser geht dann
S. 21 ff. näher auf das „finale Bedeuten" ein und erörtert die wich-
tige Frage nach der Zweckmässigkeit der Zeichengebungen. Die be-
kannte Einteilung der Zeichen in „natürliche" und „künstliche" erfährt
bei dieser Gelegenheit eine treffliche logische Präzisierung. Das
Wort „natürlich" wird, wie M. bemerkt, in dreifachem Sinne ge-
braucht. (I. = von selbst verständlich, 2. == naturgesetzlich be-
gründet, 3. = durch inneren Zusammenhang, Ähnlichkeit begründet.)
Demgemäss ist auch der Ausdruck „künstlich" dreideutig. Über die
Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit von Zeichen Hessen sich meines Er-
achtens sehr einfach experimentelle Untersuchungen anstellen, die zu
den schematischen Klassifikationen M.s ohne Zweifel manche wert-
volle Ergänzung bringen würden. Je rascher und übereinstimmender
eine grössere Anzahl von Versuchspersonen ein vorgelegtes Zeichen
deutet, desto höher muss der Grad seiner Natürlichkeit ver-
anschlagt werden. Die Ableitung spezieller Massbegriffe aus diesem
Prinzip hat keine Schwierigkeit. Eine sehr wichtige Differenzierung
der Zeichen dürfte übrigens aus ihrer relativen Konkretheit ent-
springen. Das Zeichen kann entweder abstrakter oder konkreter sein,
als die zugeordnete Bedeutungsvorstellung, und zwischen diesen
beiden Typen gibt es natürlich mannigfache Übergangsformen.
S. 34 ff. mustert M. die verschiedenen Arten des Verstehens bzw.
Missverstehens von Zeichen und Zeichengeber. Wie gründlich er
dabei zu Werke geht, ersieht man schon daraus, dass er nicht weniger
als 21 Möglichkeiten diskutiert. Ein besonderer Abschnitt zergliedert
genauer das „Zeichen und Bedeutung verknüpfende psychische Band".
(S. 49ff.) Die Abgrenzung gegenüber der „reinen Vorstellungs-
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MÜLLER. DESSOIR UND MENZER. GILLE.
99
assoziation'' kommt hier vor allem in Betracht. S. 65 ff. werden die
„Verkürzungen im psychischen Vollzuge von Zeichen und Bedeutung**,
S. 73ff. die „Veränderungen in der Zuordnung von Zeichen und Be-
deutung'' nach ihren typischen Formen besprochen. Mit einem
„Ausblick auf die Hauptmerkmale des sprachlichen Bedeutens''
(S. 78 ff.) schliesst die gediegene Abhandlung, die wieder einmal die
Fruchtbarkeit der altbewährten deskriptiven Psychologie beweist.
Königsberg. Arnold Kowalewski.
D. Adolf Müller, Scheinchristentum und Haeckels Welträtsel.
Ein Vergleich. Gotha, Friedrich Andreas Perthes. 1901. 165 S.
Das Büchlein sucht in gemeinverständlicher Form die bleibenden
Grundideen der christlich - religiösen Weltanschauung gegenüber
Haeckel zu verteidigen. Es bietet noch mehr, als der Titel ver-
spricht, insofern alle Hauptlehren der „Welträtsel" systematisch dar-
gestellt und kritisch beleuchtet werden. Die Substanztheorie und
Kosmologie, die Zoologie, die Psychologie, Theologie und Ethik
Haeckels durchmustert Müller der Reihe nach in besonderen Kapiteln,
um dann zum Schluss die „Grundzüge der christlichen Lebens-
anschauung" — ohne spezielle dogmatische Zuspitzung — zu ent-
wickeln. Treffend hebt er in seinen kritischen Bemerkungen nament-
lich die erkenntnistheoretische Unexaktheit hervor, deren sich der
Verfasser der „Welträtsel" bei seinen metaphysischen Aufstellungen
schuldig macht, und beruft sich verschiedentlich auf die abweichenden
Ansichten anderer grosser Naturforscher. Der ruhige, massvolle Ton
der Schrift sticht vorteilhaft gegen die leidenschaftliche Schreibweise
mancher HAECKEL-Kritiker ab.
Königsberg. Ajpnold Kowalewski.
Max Dessoir und Paul Menzer, Philosophisches Lesebuch. Stutt-
gart. Verlag von Ferd. Enke. 1903. VIII u. 358 S.
A. Gille, Philosophisches Lesebuch in systematischer An-
ordnung. Halle a. S. Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.
1904. VI u. 148 S.
Das Buch von Dessoir und Menzer enthält Abschnitte aus den
Werken folgender Philosophen: Plato, Aristoteles, Plotin, Thomas
v. Aquino, Meister Eckhart, Francis Bacon, Descartes, Spinoza,
Locke, Berkeley, Leibniz, Hubie, Kant, Fichte, Hegel, Herbart,
Schopenhauer.
Die Anordnung der Stücke ist eine zeitliche. „Inhaltlich be-
ziehen sich die meisten", so erklären die Herausgeber im Vorwort,
„auf die allgemeine Richtung des Denkens und die Grundfragen der
Erkenntnistheorie". Die Stücke fremder Sprache sind in deutscher
7*
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loo REZENSIONEN.
Übertragung geboten; Erläuterungen besonders sdawieriger Stellen
und einige Hinweise auf wertvolle Behamdlungen der einzelnen Phi*
losophen und vollständige Ausgaben ihrer Werke sind beigefügt
Einem dreifachen Zwecke soll nach den Darlegungen des Vor-
worts das Lesebuch dienen.
Zunächst ist an solche Leser gedacht, die „auf eigenem Wege
der Philosophie sich nähern*. Zwar begännen sie in der Regel mit
der neuesten Literatur, bald aber müssten sie bemerken, dass auch die
„geschichtliche Kenntnis zum Wesen der Sache gehöre und daher
nicht entbehrt werden könnte". Sie ständen nun einer unüberseh-
baren Schriftenmasse aller Zeiten und Länder gegenüber. Das Buch
solle darum anleiten, das Wichtigste herauszufinden.
Weiterhin soll das Buch Studierenden erläuterndes Anschauungs-
material als Ergänzung zu den Vorlesungen über Geschichte der Phi-
losophie bieten.
Endlich soll es der philosophischen Propädeutik dienen, deren
Aufnahme in den Lehrplan der höheren Schulen dringend wünschens-
wert sei.
Was zunächst den letzten Punkt betrifft, so scheint mir das
Buch zu einer Verwendung im propädeutischen Unterricht an höheren
Schulen nicht geeignet zu sein. Die Frage nämlich, ob ein solcher
Unterricht nach dem historischen oder nach dem systematischen
Prinzip zu erfolgen habe, scheint mir durchaus in dem letzteren
Sinne entschieden werden zu müssen. Gerade der philosophische
Anfangsunterricht muss aufs emstlichste bedacht sein, an das anzu-
knüpfen, was an philosophischen Interessen in dem Schüler selbst
sich keimhaft regt. Er wird dem Schüler zu helfen suchen, das,
was zunächst ganz unklar und verworren in ihm pocht und drängt
und was ihm keine volle Befriedigung finden lässt bei den Erkennt-
nissen, die ihm die einzelnen Disziplinen bieten, in das Licht des Be-
wusstseins zu heben und zu bestimmten Fragestellungen zu verdichten.
Natürlich werden die Probleme dann diejenige Gestaltung zeigen, die
dem heutigen Stand der Wissenschaften und des Geisteslebens ent-
spricht. Und der philosophierende Jüngling bei seinem ungeduldigen
Drängen nach Wahrheit und bei seiner Hoffnung, ihrer leicht hab-
haft werden zu können, wird nur durch solche Lösungsversuche
seiner Fragen sich innerlich gefördert fühlen, die auch heute noch
Giltigkeit in Anspruch nehmen können. Dazu kommt noch weiter,
dass dasjenige, was den philosophischen Kopf vor allem über die
Grenzen der Einzelwissenschaften hinausführt, das tiefe Bedürfnis
nach Oberblick über das Gesamtgebiet der Wirklichkeit und damit
zugleich nach innerer Einheit in der Mannigfaltigkeit und dem schein-
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DESSOIR UND MENZER. GILLE, loi
baren Widerstreit der Erkenntnisinhalte und der Wertschätzungen ist.
So ist das Fragen nach dem schlechthin und zeitlos Geltenden
und das Streben nach einheitlicher systematischer Betrachtung das
Erste; erst von hier aus wird normalerweise das Interesse an der
geschichtlichen Entwicklung der Fassungen der Probleme und
ihrer Lösungsversuche erwachsen; und nicht bloss Anregung und
Nahnmg, sondern auch Leitung muss das historische Erkenntnis-
streben vom systematischen empfangen.
Die Herausgeber bemerken zwar, dass ihr Buch nicht nur der
historischen, sondern auch der systematischen Unterweisung dienen
könne. Dies erscheint jedoch höchst zweifelhaft, wenn man bedenkt,
dass gerade diejenigen philosophischen Disziplinen, die für einen
propädeutischen Kursus besonders geeignet sind, Psychologie und
Ästhetik, von der Sammlung ausgeschlossen sind, dass dagegen die
für Anfänger im allgemeinen zu schwierige Erkenntnistheorie die aus-
gedehnteste Berücksichtigung gefunden hat.
Es bliebe nun noch die Frage zu erwägen, ob das Lesebuch
die beiden anderen Klassen von Lesern, an die die Herausgeber
denken, Studierenden und solchen, die selbständig den Zugang zur
Philosophie suchen, wesentliche Dienste leisten kann. Hier darf an-
erkannt werden, dass die Herausgeber mit feinem Sinne wertvolle
und charakteristische Stücke aus den Werken der genannten Philo-
sophen zusammengestellt haben, und es ist kein Zweifel, dass auch
die beste Darstellung einer Geschichte der Philosophie durch die
Lektüre von Originalabschnitten eine höchst wünschenswerte Er-
gänzung findet. Aber immerhin dürfte es für die philosophische
Bildung förderlicher sein, einen Philosophen möglichst vollständig
aus eigenem Studium kennen zu lernen als siebzehn bruchstücks-
weise. —
Für das philosophische Lesebuch von Gille ist gerade der
systematische Gesichtspunkt, den wir als massgebend für einen propä-
deutischen Unterricht ansehen müssen, der leitende gewesen.
Ein Aufsatz von Zeller über die Aufgabe der Philosophie
und ihre Stellung zu den übrigen Wissenschaften bildet die Ein-
leitung. Es folgen dann Abschnitte über die Sprachwissenschaft,
die zumeist Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte entnommen sind.
Die sich anschliessenden erkenntnistheoretischen Betrachtungen
über Naturwissenschaften und Mathematik sind meist Volkmamn, die
Abschnitte über Logik meist Mill entlehnt. Ein breiter Raum ist
der Psychologie zugewiesen; hier sind Höffding, Nahlowsky,
Bain, Wundt hauptsächlich die Quellen; einige Seiten über Rechts -
und Staatsphilosophie sind Ihering und Lotze entnommen und
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I02 REZENSIONEN.
den Schluss bilden Aufsätze zur Ethik und Religionsphilosophie,
die aus Werken von Kant, Paulsen, Zeller, Reinke ausgewählt sind.
Wenn ich nun auch den leitenden Gesichtspunkt Gilles för
richtig halte, so möchte ich doch bezweifeln, ob sein Lesebuch als
Hilfsbuch für den — hoffentlich bald zur Wirklichkeit werdenden —
propädeutischen Philosophieunterricht in besonderem Masse geeignet
sei. Mir will scheinen, als gingen die Stücke teilweise über den
Standpunkt des Primaners hinaus. Noch bedeutsamer dürfte sein,
dass bei einer solchen Sammlung, so sorgfältig und geschickt auch
die Wahl getroffen ist, Inkongruenzen in der Betrachtungsweise wie
in der Terminologie gar nicht zu vermeiden sind; sind ja doch im
ganzen i6 Autoren vertreten, die zum Teil auf recht verschiedenem
Standpunkte stehen; auch haben diese zumeist nicht gerade für An-
fänger geschrieben. Endlich wird man doch zugeben müssen, dass
in einem philosophischen Unterricht an den höheren Schulen der
Schwerpunkt durchaus in der mündlichen Erörtenmg zwischen Lehrer
und Schüler liegen muss. Es wird die Hauptaufgabe sein, die Schüler
zu Fragen, zur Äusserung ihrer Bedenken und Einwürfe zu veran-
anlassen, damit hieran angeknüpft werden kann. Wenn ein Hilfs-
buch überhaupt dabei benutzt werden soll, so wird dies möglichst
elementar gehalten sein müssen und hauptsächlich als Gedächtnisstütze
für die häusliche Repetition und für erneute Überlegung zu dienen
haben.
Gi essen. A. Messer.
Fritz Mauthner, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Drei
Bände. Stuttgart, Cotta. 1901 — 02. (Erster Band: Sprache und
Psychologie, 1901; zweiter Band: Zur Sprachwissenschaft,
1901; dritter Band: Zur Grammatik und Logik, 1902. — X [+ 2]
u. 657, Vm [+ 2] u. 735, [VIII] u. 666 S.). Preis: la.— Mk.; 14.— Mk.;
12.— Mk. (Geb. 14.— ; 16.— Mk.; 14.— Mk.)
Wenn ein Philologe das Werk eines Journalisten zu besprechen
hat, [und zwar eines Journalisten, der zur Abwechselung einmal auf
sprachphilosophischem Gebiete dilettiert, so wird es schwierig sein,
sich über einen gemeinsamen, und daher in jeder Beziehung einwands-
freien, Standpunkt der Beurteilung zu vereinigen. Der Rezensent
wird geneigt sein, zu behaupten, der Autor spreche über das Thema
ähnlich so, wie etwa der Blinde über die Farbe; umgekehrt wird der
Autor dem Rezensenten zunftmässige Befangenheit vorwerfen. Der
Philosoph kommt hierbei vorläufig überhaupt noch nicht zu seinem
Rechte. Er wird daher eine dritte Art der referierenden Betrachtungs-
weise verlangen müssen.
Versuchen wir, allen drei Parteien gerecht zu werden und stets
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MAUTHNER: BEITRÄGE ZU EINER KRITIK DER SPRACHE. 103
unparteiisch zu entscheiden. — Zunächst das Journalistische be-
treffend, so ist anzuerkennen, dass der Autor durch seine oft bis zur
unerträglichen Aufdringlichkeit skurrile Darstellungsweise dem Ge-
schmacke, den das grössere Publikum der Tagespresse zu haben
pflegt, mit Glück entgegenkommt. Stellenweise macht das Werk den
Eindruck einer Anekdotensammlung, die ein in Ehren ergrauter Lokal-
reporter während seiner langjährigen Berufstätigkeit zusammengebracht
hat. Am Ende des Lebens angelangt, schüttet er nun die Früchte
seines Fleisses („Heiteres vom Tage") vor dem erstaunten Publikum
aus. Wie sich zu diesem Inhalte freilich der anspruchsvolle Titel
des Werkes und seine pompöse Ausstattung in Beziehung setzen
lassen, das ist eine Frage, die uns hier ja nicht weiter zu inter-
essieren braucht. — Wir wenden uns zweitens dem Philologischen
zu. Hier macht sich zuerst eine grosse Nachlässigkeit in der Art des
Zitierens unangenehm bemerkbar. Die Buchtitel werden nur ange-
deutet, und nicht immer richtig (II, 202: „Kluges etymologisches
Lexikon der deutschen Sprache**). Unschön ist es auch, dass die
lateinischen Zitate nicht kursiv gedruckt sind. Dies beeinträchtigt
die Übersichtlichkeit und hätte vom Verleger leicht vermieden werden
können. Was dann die Art von Philologie anlangt, die hier betrieben
wird, so kann diese als ein abschreckendes Beispiel hingestellt werden.
Max Müllers „Vorlesungen" (ein im edlen Sinne populäres Werk!)
haben eine ganze Literatur hervorgerufen, die aber das Vorbild in
keinem Falle erreicht hat. Der Verfasser der „Vorlesungen" (über
den sich Mauthner in ganz ungehöriger Weise äussert), ist aber ein
Fachmann gewesen, der von der Pike auf gedient hatte. Das war
nun leider bei den allermeisten seiner Nachahmer keineswegs der
Fall. Trotzdem hielten Viele (und so auch M.) es für eine leichte
Aufgabe, diesen blendenden Stil nachzuahmen. M. wollte wieder einmal
„nach berühmten Mustern" schreiben, ohne jedoch die unumgänglich
notwendige Vorbildung zu besitzen (vgl. 11, 332: „. . . ich . . . mit
meinen oberflächlichen Kenntnissen aus zweiter Hand ..."). Ein
Beispiel für viele: M. hält III, 31 die Bildung: „das Geschwister" für
den Singular. Kennt er kein Collectivum? Der Anschein der
Wissenschaftlichkeit wird äusserlich erweckt durch die orientierenden
Randbemerkungen; vgl. z. B. II, 309 ff.: „Der gelehrte Australneger.
Englisch. Einteilung nach der Schätzung. Keilschrift. Phantastische
Vergleichungen usw." Diese Musterkarte verrät uns ohne weiteres die
planlose Anordnung des Ganzen und erinnert ausserdem bedenklich
an das berüchtigte Buch, das vor mehr denn zehn Jahren so grossen
Erfolg hatte: „Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen."
Diese Randbemerkungen wurden in den polemischen Nachahmungen,
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I04
REZENSIONEN,
die Dr. Langbehns Buch seinerzeit erlebte, mit Glück parodiert.
Wer solche bunt zusammengewürfelte Randbemerkungen liebt, der
beweist damit, dass er, wie man zu sagen pflegt, de omnibus et
quibusdam aliis rebus perorieret. Gleich wie die Randbemer-
kungen, so sind auch die Abschnitte und Kapitel der drei Bände die
reinen Zufallsprodukte. Ja, die Einteilung des ganzen Werkes in
drei Bände beruht ebenfalls nur auf rein äusserlichen Rücksichten.
Dem entspricht es, wenn der Autor dem Zufall eine so grosse Rolle
n der Sprachgeschichte anweist. Es gibt für M. keine „Prinzipien*, trotz
Hermann Paul, der im übrigen als Autorität verehrt wird; was,
nebenbeigesagt, für ihn unmöglich schmeichelhaft sein kann. Wir
haben hier den Rückschlag gegen die „Lautgesetze* der Jung-
grammatiker zu verzeichnen. Aus dem einen Extrem fällt man in
das andere. Dieses Rütteln am Dogma hat aber noch einen tieferen
Hintergrund, und bei dieser Gelegenheit kommen wir, drittens, auf das
Philosophische zu sprechen. — In dem ganzen Werke spukt die
Nietzschesche „Umwertung*, die der Autor nun auf die sprachpsycho-
logischen Begriffe ausdehnt. Seit Wh^helm von Humboldts Zeiten
bis auf Wilhelm Wundt hat man im Dunkeln getappt. Diese beiden
Forscher stehen würdig an Max Müllers Seite. Ein Unding ist die
indogermanische Ursprache, Undinge sind die Wurzeln, ein Unding
ist die innere Sprachform. Hier zeigt sich so recht, wie unhistorisch
(und wie unkritisch infolgedessen) M. sein Thema angreift. Man
glaubt einen Primaner, dem zufällig theologische Streitschriften in die
Hände gefallen sind, das Dasein Gottes mit VerstandesgrOnden
negieren zu hören. Dabei spricht M. selber vom „Urworte*. Er
schilt auf die Pedanten und klammert sich z. B. ängstlich an die drei
Schulbegriffe der Isolierung, Agglutination und Flexion. Spottet
seiner selbst und weiss nicht wie. Selbstüberhebung ist ein gelinder
Ausdruck für den Grundton des Werkes. Am stärksten ist wohl die
Stelle in, 7, wo M. edelmütig zugesteht, Kant habe in der Kategorien-
lehre bereits vor ihm etwas Ähnliches dargelegt. Kant den Autor
„vorahnend* (vgl. a. a. O. „die Ahnung dieser meiner Lehre*): —
risum teneatis amici! Es wäre in der Tat zum Lachen, wenn es
nicht zum Weinen wäre. Gesamturteil: eine unerfreuliche Lektüre,
in mehrfacher Beziehung unerfreulich. Das Beste an dem Werke ist
noch das dem dritten Bande beigefügte Register (zur Anekdoten-
sammlung). Weit höher als M.s Arbeit steht das ebenfalls drei Bände
umfassende Werk des populären Schriftstellers Dr. Rudolf Klein-
paul, Das Leben der Sprache .... Leipzig 1893.
Königsberg. W^llhelm Uhl.
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SELBSTANZEIGE,
105
Selbstanzelgre.
Die 8ellwtan2elgen sollen den Autoren Qelegeohelt geben, in Form eines kurzen
Referates über Inhalt und Tendenz der von ihnen verfassten Werlce die Leser
selbst zu orientieren. Die Referate, welche durchschnittlich nicht mehr als
eine halbe Druckseite fQllen, sind an den Herausgeber der Zeitschrift, Professor
Dr. L. Busse in Münster i. W. einzusenden.
Dr. Heinrich Pudor, Neues Leben. Essays. Dresden und Leipzig, Verlag
von Carl Reissner.
Das neue Leben, von dem in diesem Buche die Rede ist, geht
wesentlich die Moral an. Ich habe in den Grundzügen einer natür-
lichen Sittenlehre meine Moral skizziert, unabhängig von den herr-
schenden Glaubenslehren, frei vom Glauben an einen persönlichen
Gott und eher einen feindlichen als einen freundlichen Stand-
punkt zum Christentum einnehmend. Aber meine Hauptabsicht war
die, zu zeigen, wie man unabhängig von der religiösen Autorität sich
selber bilden und wie jemand edel werden könne, ohne der traditio-
nellen Religion zu folgen. Wenn man will, mag man eine solche
natürliche Sittenlehre auch Religion nennen. Ellen Key sagt einmal,
Religion ist alles, wofür wir sterben. Und jedenfalls ist die wahre
Religiosität weit mehr individuell und weit mehr persönlich, als die
herkömmlichen Glaubenslehren es sind, die in der Tradition erstickt
und im Unindividuellen vertrocknet und im Unpersönlichen ver-
knöchert sind. Dogma ist Lüge. Es ist undenkbar, dass jetzt der
heranwachsende Mensch in diesem zusammengepappten Religions-
dogma Befriedigung finden kann. Jeder Mensch, der die Wahrheit
liebt, wird sich unabhängig von diesem für an stumpfen Gehorsam
gewohnte Hofhunde passenden Religionsdogma eine eigne persön-
liche Religion bilden. Aber die meisten Menschen sind leider nicht
stark genug, in den wichtigsten Lebensfragen sich eine eigne An-
schauung zu bilden. Sie wagen nicht, um die Ecke zu sehen, sie
sehnen sich nach Befehlen, nach Gesetzen, nach Vorschriften, oder im
besten Falle noch nach Vorbildern: es soll ihnen alles vorgemacht
sein — schade nur, dass ihnen niemand ihre eigene Persönlichkeit
vormachen kann.
Der zweite Teil des vorliegenden Buches enthält zwölf moderne
Essays über Reform- und Erziehungsfragen des Lebens von heute und
morgen. Meinen lieben Landsleuten empfehle ich zur Lektüre die
Artikel „Beamtenvergötterung in Deutschland^' und „Bureaukratischer
Grössenwahn". Denn der heutige Deutsche ist nicht ein zoon po-
litikon, sondern ein zoon bureaukratikon. — Harmonische Ausbildung
des Menschen behandelt der Essay „Menschenbildung*. Die Themen
der anderen Essays sind: Zur Philosophie der Maschine; Moralunter-
richt; Hygieine als Unterrichtsgegenstand; Volkswirtschaft als Unter-
richtsgegenstand; Die Dienstbotenbewegung; Frauenstudium; Phantasie
und Wahnsinn; Freiluftmuseen und Zur Entwicklung der Maschine.
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lo6 SELBSTANZEIGE, NACHTRAG, NOTIZEN,
Der erste Teil endlich betitelt sich „Das RauschbedQrfnis im
Menschen". Dieser Essay ist den verknöcherten und vertrockneten
Philologen und anderen Doktrinären in herzlicher Verachtung ge-
widmet.
Nachtragr.
In dem „Bericht über die italienische philosophische Literatur
der Jahre 1903 und 1904" ist auf Seite 45 hinter den Worten:
„weit voraus war** einzuschieben: „Den Gedanken zu verfolgen,
inwieweit Petrarcas Bedeutung für die Renaissance und den
Humanismus in seiner Kenntnis Platos begründet gewesen sein
mag, veranlasst überdies eine Abhandlung von Alessandro Paoli
„II concetto dell umanesimo del Pastor. Si confronta con
le opinioni che suir umanesimo hanno espresso il Rosmini, il
Saint- Beuve, il Gregorovius, il Paulsen" (Pisa 1904. Tipografia
Vannucchi. S.-A. aus „Annali delle Universitä Toscane** Band
XXIV. 97 Seiten), die sich in vielseitig interessanter positiver
und (namentlich gegen Pastor gewandter) kritischer Weise mit der
Determination der Renaissanceperiode im allgemeinen und ihrerphilo-
sophischen Signatur im besonderen befasst. Die sehr starke Dosis
Verachtung der Scholastik, die dem Petrarca eigen war und
durch ihn in erheblichem Masse zu ihrer historischen Mission ge-
langte, würde sich meines Erachtens mehr als aus den mannig-
faltigen anderen Gründen, die gemeinhin genannt werden, aus
seinem Studium Platos erklären lassen.
Notizen.
Professor Dr. A. Riehl (Halle) hat einen Ruf an die Universität
Berlin (als Nachfolger W. Diltheys) erhalten und angenommen. Sein Nach-
folger in Halle wird Prof. Dr. H. Ebbinghaus (Breslau). Der ordentliche
Professor der Philosophie an der Universität Zürich Dr. Meumann ist (als
Nachfolger L. Busses) an die Universität Königsberg i. Pr. berufen worden.
Der a. o. Professor an der Universität Graz Dr. H. Spitzer ist zum
Ordinarius daselbst ernannt worden. Dem Privatdozenten der Philosophie
an der Universität Halle Dr. H. Schwarz ist der Titel Professor verliehen
worden.
Habilitiert: Dr. E. v. Aster an der Universität München.
NB. Mitteilungen, Personalien betreuend, werden von der Redaktion
jederzeit gern entgegengenommen. Der Herausgeber.
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NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN 107
Neu elngregrangrene Schriften.
(Eine ausführliche Besprechung der na^chstehend aufgeführten Bücher und
Schriften bleibt ausdrückhch vorbehalten!)
D'Alfonso, N. R., Lo Spiritismo secondo Shakespeare. 46 S. Rom 1905.
Loescher & Cie.
Berolzheiher, Dr. jur. Fritz, System der Rechts- und Wirtschaftsphilo-
sophie. IL Band. 500 S. Müncnen 1905. C. H. Beck'sche Verlagsbuch-
handlung, brosch. 13 Jt^ eeb. 15 Ji.
Brix, Theodor, Wider die Halben im Namen der Ganzen, oder: Die Ver-
nichtung Kants durch die Entwicklungslehre. 51 S. BerUn 1904. Her-
mann Walther. G. m. b. H. i Ji,
Bryce, J., On the aims and programme of the Sociological Society. (Address).
With first annual report and list of members. 47 S. Westminster 1905.
The Sociological Society.
Croce, Benedetto, Aesthetik als Wissenschaft des Ausdruckes und all-
gemeine Linguistik. Theorie und Geschichte. Nach der zweiten durchge-
sehenen Auflage aus dem Italienischen übersetzt von K. Federa. äIV
u. 494 S. Leipzig 1905. £. A. Seemann.
Eleutheropulos, Dr. Abr., Das Schöne. Aesthetik auf das allgemein
Menschliche und das Künstler-Bewusstsein begründet. XV u. 272 S.
BerUn 19c«. C. A. Schwetschke &. Sohn.
Ewald, Dr. Oskar, (Dr. O. FriedlAnder), Richard Avenarius als Be-
gründer des Empiriokritizismus. Eine erkenntniskritische Untersuchung
über das Verhältnis von Wert und WirkUchkeit. IV u. 170 S. Beriin
1905. Ernst Hofmann & Co.
FoGEL, Philip H, Dr., Metaphysical Elements in Sociology. (Princeton Con-
tributions to Philosophy edited by Professor Alexander T. Ormond. Vol. I
No. 4, April 1905). University of Chicago Press.
Flügel, J. F. Herbart (Männer der Wissenschaft Eine Sammlung von
Lebensbeschreibungen zur Geschichte der wissenschaftlichen Forschung
und Praxis. Herausgegeben von Dr. Juuus ZiEHEN-Berlin. Heft I). 47 S.
Leipzig 19^. Wilhelm Weichert. i Jü,
Freud, Prof. Dr. Sich., Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten,
204 S. Leipzig und Wien 1905. Franz Deuticke. 5 J$,
Frost, Laura, Johanna Schopenhauer, Ein Frauenleben aus der
klassischen Zeit. Mit 4 Porträts. 117 S. Berlin 1905. C. A. Schwetschke
& Sohn. 2 >l 80 (^.
Haacke, Dr. Wilhelm, Vom Strome des Seins. Blicke auf unser künftiges
Weltbild. 63 S. Leipzig 1^05. Theod. Thomas, i >» 50 f
Haag, C, Prof. Dr., Versuch emer graphischen Sprache auf logischer Grund-
lage. 69 S. u. 13 Tafeln. Stuttgart 1902. W. Kohlhammer.
Jerusalem, Prof. Dr. Wilh.. Gedanken und Denker. VIII u. 292 S. Wien
und Leipzig 1905. Wilhelm Braumüller. 5 Ji.
— Der Kritische Idealismus und die reine Logik. Ein Ruf im Streite. XII
u. 226 S. Wien und Leipzig 1905. Wilhelm Braumüller. 5 Ji,
Larsen, Prof. Karl, Krieg und Menschen. Psychologische Bilder aus einem
modernen Kriege. Zur vierzigjährigen Gedenkfeier des Krieges von 1864,
herausgegeben von Prof. Dr. R. von Fischer -Benzon. 60 S. Kiel 1905.
Lipsius & Tischer. i J6,
Maillet, M. Edmond, Les Röves et l'inspiration mathömatiques (Enquete
et Resultats) Extrait du Bulletin de la äociötö Philomatique 1905. K6ve
math^matique (Extrait de Tlntermidiaire des Math^maticiens. (IX. Dez.
1902). 4 S.
— Sur THomme de G^nie de M. Lombroso et la Facult6 inventive. Extrait
des Comptes rendus de FAssociation Fran^aise pour TAvancement des
Sciences. Congr^s d' Angers — 1903. Paris Secr^tariat de TAssociation. 14 S.
Marin owsKi, Dr. J., Nervosität und Weltanschauung. VIÜ und 108 S.
Berlin 1905. Otto Salle.
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Io8 NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN,
Marucci, Prof. AcHiLLE, La Nuova Filosofia del Diritto Criminale con Pre-
fazione del Barone R. Garofalo. VUI n. 333 S. Rom 1904. Loesbher
&. Co. 4 Ji.
Medicus, Fritz, H. G. Fichte, Dreizehn Vorlesungen gehalten an der
Universität Halle. VIII u. 269 S. Berlin 1905. Reuther & Reichard. 3^.
MicHELis, Wilhelm Heinrich, Antisophie. 45 S. Berlin 1905.
Goethes Philosophie aus seinen Werken. Herausgegeben von Max Hei-
nacher. (Philosophische Bibliothek Band 109). VuI u. 428 S. Leipzig
1905- 3 ^ 60 ^.
Hegel, Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse.
In II. Auflage herausgegeben von Georg Lasson. (Philosophische Bib-
liothek Band 33). LlüCVl u. 522 S. Leipzig 1905. Dtuysche Buchhand-
lung. ^ Ji 60 ^.
HuMEj Dialoge über natürliche Religion, über Selbstmord und Unsterblich-
keit der Seele. 3. Auflage. Ins Deutsche übersetzt und mit einer Ein-
leitung versehen von Friedrich Paulsen. (Philosophische Bibliothek
Band 36). 165 S. Leipzig 1905. Dürr'sche Buchhandlung, i J$ ^ ^,
Kants, kleinere Schriften zur Logik und Metaphysik. 2. Auflage. Heraus-
gegeben und mit Einleitungen sowie Personen- und Sachregistern ver-
sehen von Karl Vorländer. XXXII u. 169, XL u. 172, XX u. 175, XXXI
u. 176 S. Leipzig 1905. Dürr' sehe Buchhandlung. $ J$ ao ^,
Kant, Physische Geographie. 2. Auflage. Herausgegeben und mit einer
Einleitung, Anmerkungen sowie einem Personen- und Sachregister ver-
sehen von Paul Gedan. XXX u. 386 S. Leipzig 1905. DOrr'sche Buch-
handlung. 2 ^ 80 4.
Raich, Dr. Maria, Fichte, seine Ethik und seine Stellung zum Problme
des Individualismus. VII u. 196 S. Tübingen und Leipzig 1905. J. C. B.
Mohr (Paul Siebeck). 4 Ji,
Ramm, Zur Lehre von den Ideen in Schopenhauers Aethetik. 43 S. Wissen-
schaftliche Beilage zum Jahresbericht des Humboldt-Gymnasiums zu Berlin.
Ostern 1905. Berlin. Weidmannsche Buchhandlung.
Reinach, Dr. Adolf, Ueber den Ursachenbegriflf im geltenden Strafrecht
69 S. Leipzig 1905. Joh. Ambr. Barth.
Rivera, C, Determinismo sociologico. Saggio critico d'un programma di
Sociologia scientifica. 116 S. Rom 1903. Loescher & Co. 3 Jf,
Sc h API RA, Dr. A., Erkenntnistheoretische Strömungen der Gegenwart.
Schuppe, WuNDTund SiGWARrals Erkenntnistheoretiker (Bemer Studien zur
Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von L. Stein. Band
XXXlÄ). 83 S. Bern 1904. Scheitlm, Spring & Co.
Schell, Hermann, Die kulturgeschichtliche Bedeutung der grossen Welt-
religionen. 28 S. München 1905. St. Bernhards Verlag, G. m. b. H. 70 «J.
ScHRADER, Dr. Ernst, Elemente der Psychologie des Urteils, i. Band:
Analyse des Urteils. 222 S. Leipzig 1905. Jon. Ambr. Barth. 7 Jf.
Schriften der Gesellschaft für Psychologische Forschung. Heft 15.
(III. Sammlung) Baerwald, Dr. phil. Richard, Psychologische Fak-
toren des mooemen Zeitgeistes. Möller, Dr. med. Faul, Die Bedeu-
tung des Urteils für die Auffassung, iio S. Leipzig 1505. Joh. Ambr.
Barth, s J$ 60 ^. 4
Schultz, Dr. Julius, Die Bilder von der Materie. Eine psychologische
Untersuchung über die Grundlagen der Physik. VIII u. 201 S. Göttingen
^9PS- Vandenhoeck Sc Ruprecht. 6 Jf.
Sentroul, L'Objet de la M^taphysique selon Kant et selon Aristote. XII
u. 240 S. Louvain 1905. Institut Supörieur de Philosophie.
SiEBERT, Dr. Ol. Ein kurzer Abriss der Geschichte der Philosophie, im An-
schluss an Rudolf Hayms philosophische Vorlesungen herausgegeben.
XVI u. 318 S. Langensalza 1905. Hermann Beyer & Söhne.
Spranger, E., Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Eine erkennt-
nistheoretisch- psychologische Untersuchung. XI u. 146 S. Berlin 1905.
Reuther & Reichard. 3 ^.
Stern, William, Helen, Keller, Die Entwicklung und Erziehung einer
Taubstummblinden als psychologisches, pädagogisches und sprachtheore-
tisches Problem. 76 S. (Sammmng von Abhandlungen aus oem Gebiete
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NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN. AUS ZEITSCHRIFTEN
109
der pädagogischen Psychologie und Physiologie. Ziegler &. Ziehen, VIII.
Band, 2. Heft). Berlin 1905. Reuther & Reichard. i ^ 80 ^.
Stephan, Lic. theol. Horst, Herder in Bückeburg und seine Bedeutung
für die Kirchengeschichte. EI u. 255 S. Tübingen und Leipzig 1905.
J. C. B. Mohr. (Paul Siebeck). 4 ^ 50 ij.
Sterrett, J. Macbride. The Freedom of Authority. Essays in Apologe-
tics. VIT u. 318 S. New York 1905. The Macmillan Co.
Umfrid, Otto Ludw., Weissagung und Erfüllung. I. Teil. VI u. 59 S.
Esslingen a. N. 1905. Wiih. Lan^guth. i .^^ 20 ^.
V A s c H I D E , Index Philosophiaue. Philosophie et Sciences. Deuxi^me Annöe
S*ublication annuelle de la Revue de Philosophie. Sous la direction de
. E. Peillaube). 464 S. Paris 190$. Chevafier & Rivi^re.
DelVecchio, Giorgio, I Presupposti Filosofici della Nozione del Diritto,
192 S. Bologna 1905. Ditta Nicola Zanichelli.
Wallaschek, Richard, Psychologie und Pathologie der Vorstellung.
Beiträge zur Grundlegung der Aesthetik. X u. 322 S. Leipzig 1905.
Joh. Ambr. Barth, geh. 8 ^, geb. 9 Ji,
WiHAN, Prof. R., Veritas, Organ zur Feststellung der Wahrheit in den wich-
tigsten Fragen der Menscnheit und zur Herstellung eines geistigen Kon-
taktes aller Denker. I. Jahrg. No. 9, 10. Trautenau 1905. Selbstverlag
des Herausgebers.
Wize, K. f., „In der Stunde der Gedanken". Ueber die schönen Künste.
VI u. III S. Berlin 1905. R. Trenkel.
Aus Zeltschriften.
Archiv für Philosophie.
IL Abteilung: Archiv für systematische Philosophie (L. Stein).
Berlin 1905. XL Band, Heft 2: Weiss, Vorbemerkung zu einer
„Allgemeinen Entwicklungsgeschichte*. — Vi^orm, Künstlerische Regel-
mässigkeit. — Lifschütz, Zur Methodologie der Wirtschaftswissen-
schaft. — Bos, La phUosophie en France. — Guida Della Valle, La
dualita oggettiva universale come riflesso della forma dualistica dell*
appercezione mediata. ^ Jahresbericht über sämtliche Erscheinungen
auf dem Gebiete der systematischen Philosophie. — II. Anna Tu-
markin, Bericht über die deutsche ästhetische Literatur aus den Jahren
1900— 1905. — Die neuesten Erscheittungen auf dem Gebiete der syste-
matischen Philosophie. — Zeitschriften. — Eingegangene Bücher.
Archives de Psychologie (Flournoy et Claparede). Geneve 1905.
Tome IV,' No. 15 — 16: Claparede, Esquisse d'une Theorie biolo-
ffique du dbmmeil. — Senet, Sur la Nyctophobie chez les enfants. —
Lemaltre,* A propos des Suicides de jeunes gens. — Degallier,
Notes psychologiques sur les Nfegres Pahouins. — Faits et Discussions. —
Bibliogrt^hie.
The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific
Methods (Woodbridge). Lancaster, Pa. and New York 1905.
VoL II, No, 9: Colvin, Is Subjective Idealism a Necessary Point of
View for Psychology? — Pitkin, Logical Problems Old and New. —
Discussion: James, Is Radical Empiricism Solipsistic? — Reviews and
Aöstracts of Literature. -- Journals and New Bocks. — Notes and News.
No. 10: Rebec, Natural vs. Artistic Beauty. — Kellogg, The Possi-
bility of a Psychological Consideration of Freedom. — Discussion: Sid-
gwick, Mr. Bode*s Review of „Applied Axioms" — Reviews usw.
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HO AUS ZEITSCHRIFTEN,
No. II : James, The Place of Affectional Facts in a World of Pure
Experience. — Mac Dougall, On the Discrimination of Critical and
Creative Attitudes. — Pierce, An Unusual Feature of the Hypnagogic
State. — Reviews usw.
No. 12: Montague, The Relational Theory of Consciousness and its
Realistic Implications. — Overstreet, A Deduction of the Law of
Synthesis. — Discttssion, — Reviews usw.
Kantstudien. (Vaihinger und Bauch.) Berlin 1905. Band 10.
Heft 3. (Festheft zu Schillers hundertstem Todestage). Liebmann ,
In Schillers Garten. — Eucken, Was können wir heute aus Schiller
gewinnen? — Fr. A. Schmid, Schiller als theoretischer Philosoph. —
Cohn, Das kantische Element in Goethes Weltanschauung. — Bauch,
Schiller und die Idee der Freiheit. — Vaihinger, Zwei Quellenfunde
zu Schillers philosophischer Entwicklung: I. Eine Disputation in der
Karlsschule im November 1786. II. Ein Freimaurerliederbuch als Quelle
des Liedes an die Freude? ~ M. Kunze, Karl Rosenkranz über
Schiller. — Fr. A. Schmid, Schillers letztes Bildnis. — Vaihinger,
Das Schillerportrait von Gerhard von Kügelgen. — Windel band,
Schillers transcendentaler Idealismus. — Tim, Klein, Kant und Schiller.
Mitteilung beireffend die Preisaufg€d)e der Kantgesellschaft.
The Monist (Carus). Chicago 1905. Vol. XV, No. 3: Noble, The
Relational Element in Monism. — Hilbert, On the Foundations of
Logic and Arithmetic. — Godbey, Shylock in the Old Testament.
Gros, Quality and Quantity. — Carus, The Significance of Quality. —
Day, The Search for the Prophets. — Motora, Conflict of Religion
and Science. — Carus, The Conception of the Soul among the Egyp-
tians. — Criticisms and Discussions, — Book Reviews,
Philosophisches Jahrbuch (Gutberlet). Fulda 1905. XVIIL Band,
Heft 3: Dyroff, Der Ichgedanke. — A dl hoch, Zur wissenschaftlichen
Erklärung des Atheismus. — Seh midiin. Die Philosophie Ottos von
Freising (Fortsetzung). — Rezensionen und Keferate, — Zeitschriftenschau,
— Miszellen und Nachrichten,
The Philosophical Review (Creighton, Albee, Seth). Lancaster,
Pa. 1905. Vol. XIV, 4: Ladd, Philosophy in the Ninetcenth Cen-
tury. — La lande, Philosophy in France. — Norman Smith, Trait6
de l'infini cr66 (Translation). — Reviews of Books. — Notices of New
Books. — Summaries of Articles. — Notes,
Revue de M^taphysique et de Morale (X. Leon). Paris 1905.
13®. ann^e, No. 3: Numöro sp6cialement consacr^ ä Coumot. — Philo-
sophisches: Poincar^, Coumot et les principes du calcul Infinit^simaL
— Müh au d, Note sur „la raison chez Cournot". — Parodi, Le criti-
cisme de Coumot. — Mentr6, Les racines histori<iues du probabilisme
rationneide Coumot. — Audierne, La Classification des connaissances
dans Comte et dans Coumot. — Moore, Antoine- Augustine Coumot.
— Supplement,
Revue N^o-Scolastique (Mercier). Louvain 1905. 12*^. ann6e,
No. 2. No€l, Le principe du d^terminisme (Suite et fin). — Halle z,
De la methode phuosopnique. — Piat, Dieu d*apr^s Piaton. — Van
Roey, La monnaie d*apr6s saint Thomas d'Aquin: Sa nature, ses fonc-
tions, sa productivitö dans les contrats, (jui s'y rapportent (suite et fin).
— M4langes et Documents: Legrand, L'immoralit^ de l'art — Thidry,
Constantin Mennier. — Pelzer, Le mouvement n6o-thomiste. — Comptes
Rendus, — Bulletin de flnstitut de Philosophie. — Ouvrages envoyes a
la Redaction.
Revue de Philosophie (Peillaube). Paris 1905. 5* annöe. No. 6:
Duhem, La Theorie physique. XIII. Le choix des hypothdses (Demier
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AUS ZEITSCHRIFTEN. m
article). — Vailati, Distinction entre connaissance et volonte. — Mentr^,
Le probidme du gönie. — Niceforo, Influences öconomiques sur les
variations de la taille humaine (suite et fin). — Peillaube, 5« Congr^s
international de psychologie. — Congris. — Anafyses et Comptes rendus.
— UEnseignement phüosophique.
Rivista di Filosofia e Science Affini (Marchesini). Padova 1905.
Anno VII, Vol. I, No. 3—4: Brugi, II fattore psicologico del diritto
naturale secondo Ardigö. — Salvadori, Le correlazioni psichiche. —
Alemanni, Pensiero e azione. Appunti di psicologia descrittiva. —
Benini, Nel campe dei sentimenti. — DelGreco, Subiettivismo e dise-
quiiibri nella ideazione geniale. — Maestrini, Sguardo alla Pedologia
negli Stati Uniti ed in Europa. — Analisi e Cenni. — NotMe. — Necrolo-
gia. — Sommari di Rivtste. — Sommari dei/ascicoli delle anncUa precidmti,
No. 5 — 6: De Sarlo, La psicologia come scienza empirica. Ranzoli,
Ancora suUa terminologia nlosofica (I vocaboli filosofici). — Alemanni,
Pensiero e azione. Appunti di psicologia descritiva (cont. e fine). —
Vailati, Sul carattere del contributo apportato dal Leibniz allo sviluppo
della logica formale. — Maestrini, Sguardo alla Pedologia negli Stati
Uniti ed in Europa (cont. e fine). Cosmo, La lettura di Dante nell*
Universitä. — Orestano, Brevi note sul V Congresso di Psicologia. —
Marchesini, Nota al V Congresso di Psicologia. — Analisi e Cenni etc.
Rivista Filosofica (Cantoni e Juvalta). Pavia 1905. Anno VII.
Volume VIII. Fase. 3: Vailati, L'influenza della MatematicasuUateoria
della conoszenza nella Filosofia modema. — Varisco, La fine del Posi-
tivismo. — Bonfigliole, TertuUiano e la Filosofia Pagana. — Rassegna
Biblio0rafica. — Notizie e Pubblicazioni. — II V* Congresso Internationale
di Psicologia. — Sommari delle reviste siraniere. — Libri ricevuti.
Rivista di Psicologia applicata alla Pedagogia ed alla Psico-
patologia (Ferrari). Bologna 1905. Anno I, No. 4: Ferrari,
II V Congresso intemazionale di Psicologia in Roma. — Vailati, „La
concezione della coscienza" di William James. — Loreta, Contributo
allo studio del senso estetico nel fanciuUo. — Del Greco, La psicolo-
f'a del carattere e i contributi delle ricerche psichiatriche. — Neyroz,
metodo grafice in Psicopatologia. — Lamieri, Due bestemmiatrici.
Fnmagalli, II sento della vita neu* educazione dell* infanzia. — Rassegne
critiche, — ß^oie e discussioni, — Bibliografie e Recensioni.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Soziologie (Barth). Leipzig 1905. XXIX. Jahrgang. Heft 2:
Renner, Absolute, kritische und relative Philosophie. — Stosch, Die
Gliederung der Gesellschaft bei Schleiermacher etc. — Freytag,
Ueber die Erkenntnistheorie der Inder. — Hart mann, Abstammungs-
lehre, Selektionstheorie und Wege der Artentstehung. — Barth, Zum
100. Todestage Schillers. — Besprechungen,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und
Hygiene (Kemsies und Hirschlaff). Berlin 1905. VII. Jahr-
gang, Heft 2: Elisabeth Kölling, Charakterbilder der schwach-
sinnigen Kinder. — Löwin sky, Hypothesen, Methoden und Anwen-
dung in der Hallschen Kinder-Psychologie. — Ben da, Besonderheiten
in ^lage und Erziehung der modernen Jugend, I. — Sitaungsberichfe.
Berichteund Besprechungen. -— Mitteilungen. — Sibliotheca-pOdo-psychologica.
Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik (Flügel und Rein).
Langensalza 1905. XII. Jahrgang, Hefts: Lob sin: Kind und Kunst
(Fortsetzung). -- Pfannstiehl, Leitsätze für den biologischen Unter-
richt (Schluss). — Mitteilungen. — Besprechungen.
Glauben und Wissen. Blätter zur Verteidigung und Vertiefung
des christlichen Weltbildes. (Dennert.) Stuttgart 1905. III. Jahr-
gang. Heft 5—7. Philosophisches: Heft 5: Kinzel, Schiüers Welt-
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112 AUS ZEITSCHRIFTEN.
anschauung in seinen Dramen. — Heft 6: Basse, lieber den Materialis-
mus. — Heft 7: Gallwitz, Portigs Weltgesetz des kleinsten Kraft-
aufwandes in den Reichen der Natur. — Succo, Weltanschauung und
Musik. — Riem, Die modernen Weltbildungslelu-en.
The Hib her t Journal. (L. P. Jacks und G. Dawes Hicks.) London
and Oxford 1905. Vol. III, No. 2. Philosophisches: Allen,
A Plea for Mysticism. — Newman Howard, The Warp of the
World. — Keyser, The Universe and Beyond. — Oliver Lodge,
,,Mind and Matter". — Discussions. — Reviews. — Bibliography ofrecent
Li/erature.
Neue Metaphysische Rundschau. (Zillmann.) Gross-Lichter-
felde 1905. XII. Band. Heft 3. Philosophisches: von Lessei,
Die metaphysische Grundlage von Richard Wagners «Der Ring des
Nibelungen* (Fortsetzung Kap. 5: Ueber die Götterwelt).
Die Dorfschule. Halbmonatsschrift ausschliesslich für die Interessen
der Landschule und ihrer Lehrer. (Melinet.) Langensalza 1905.
I. Jahrgang. No. 5 — 9. Philosophisches und Pädagogisches:
No. 5: Rosenthal, Bilder aus dem „Lied von der Glocke". — No. 6:
Grün, Ein schwerer Psalm für die Oberstufe. — No. 7: C. von Brock-
dorff, die Verteidigung der Wissenschaft Galileis durch Thomas Cam-
panella. — Grün, Ein schwerer Psalm für die Oberstufe II. — No. 7:
C. von Brockdorff, Die Verteidigung der Wissenschaft etc. II. —
Ro'^enmüller, Der 2. allgemeine Tag für deutsche Erziehung in Wei-
mar. — Grün, Ein Blick ins Reich des Ringens um Erkenntnis. —
Heft 9: Lorentz, Die Förderung sozialpfldagogischer Bestrebungen
durch die Dorfschule.
Allgemeines Literaturblatt. (Schnürer.) Wien 1905. XIV. Jahr-
gang, No. 8 — II.
Wochenschrift für klassische Philologie. (Andresen, Draheim,
Härder.) Berlin 1905. XXII. Jahrgang, No. 18 — 28.
Classic! e Neo-Latini. (Peluni). Aosta 1905. Anno I. No. 3-
Besprechungsexemplare für die JZeitaohilft für Philosophie und philoBO*
phieohe Kritik'* sind nicht an den Herausgeber, sondern ausschliesslich an
R. Voigtländer« Verlag in Leipzig zu senden.
Herausgeber und Verlag übernehmen keine Garantie bezüglich der Rück-
sendung unverlangt eingereichter Manuskripte und Drucksachen!
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalte dieser Zeitschrift ist verboten.
Übersetzungsrecht vorbehalten!
Verantwortlicher Herausgeber Professor Dr. L. Basse in MOnster i. W.
Eifentom von R. Voigtländer« Verlag in Leipzig. — Druck von Radelli $t Hille in Leipzig..
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ZEITSCHRIFT
FÜR
PHILOSOPHIE UND PHILOSOPHISCHE KRITIK
R. VOIOTLÄNDEBs VEBLAO IN LEIPZIG
Bimd 127. Heft 2
Die Wmensfi-eiheit.
Von G. Noth.
Die Möglichkeit des sittlichen Lebens scheint zu stehen und
zu fallen mit der Möglichkeit der Freiheit des Willens. Wird
das menschhche Handeln vorgestellt unter der Form des Natur-
mechanismus, wie es die materialistische Weltanschauung tat-
sächlich in der Theorie tut, so kann man von einem sittlichen
Leben im eigentlichen Sinne nicht reden; man kann dann nur,
da ja doch die sittlichen Tatsachen als grossartige Erscheinungen
des menschlichen Lebens in seiner allmählichen Entwicklung, die
demselben doch unleugbar einen hohen Vorzug auch vor den
entwickeltsten Formen tierischen Lebens geben, nicht übersehen
werden können, eine, sei es bewusste, sei es unbewusste Teleo-
logie im Entwicklungsverlauf der Menschheit behaupten. Gegen
diese absolute Gesetzmässigkeit alles menschlichen Handelns, die ,
allerdings den logischen Vorzug der einheitlichen Erklärung aller
Erscheinungen des Weltalls hat, bäumt sich das sittliche Bewusst-
sein des Menschen auf, und sowohl die sittliche Selbstbeurteilimg
als die Beurteilung anderer verfährt praktisch immer nach dem
entgegengesetzten Grundsatz der sittlichen Freiheit. Das ist nun
freilich noch kein Beweis für die Richtigkeit dieses Grund-
satzes, so wenig die naive Auffassung der Aussen weit an sich
schon die richtige ist. Das Gefühl der sittlichen Verantwortlich-
keit und die übliche Form der sittlichen Beurteilung könnten ja
zu den Vorurteilen gehören, die durch jahrhundertlange Ver-
erbung sich so zum Bestand unsers Bewusstseinslebens verfestigt
haben, dass sie uns in begreiflicher Selbsttäuschung als notwendig
und ursprünglich imd darum als wahr erscheinen, während sie
doch nicht authören, Vorurteile zu bleiben, mit denen endlich das
aufgeklärte Geschlecht unserer Tage brechen muss. Das ist die
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 107 8
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114
G, NOTH.
Forderung, von der der radikale Subjektivismus eines Nietzsche
ausgeht.
Immerhin sehen wir, wie in der entgegengesetzten Beurteilung
des sittlichen Handelns zwei mächtige Bedürfnisse sich gegen-
überstehen, ein intellektuelles und ein praktisches, die beide den
Menschen so beherrschen, dass keines dem andern sich unterordnen
will, weshalb Kant den eigentümlichen Versuch machte, sie beide
zu ihrem Rechte kommen zu lassen, indem er in jedem sittlichen
Geschehen einen phänomenalen, dem allgemeinen Naturzusammen-
hang einzuordnenden, und einen intelligiblen, dem Reiche der
Freiheit angehörigen Faktor unterschied, eine verzweifelte Lösung,
die aber zeigt, wie sehr jene beiden Bedürfnisse nach Berück-
sichtigung verlangen.
Die Schwierigkeit der Frage wird nun noch erhöht, wenn
wir uns Rechenschaft geben über die Art der unter Voraussetzung
sittlicher Freiheit erfolgenden sittlichen Beurteilung. Da bemerken
wir einerseits, wie wir nicht nach dem Grundsatze absoluter
Willensfreiheit verfahren, sondern erklärend und entschuldigend
alle Einflüsse hervorsuchen, unter denen das zu beurteilende Indi-
viduum gestanden hat oder noch steht, und andererseits, wie wir
nicht schon von dem ersten Momente menschlichen Daseins ab an
die Handlungen des Menschen den Massstab sittlicher Beurteilung
anlegen.
So muss also der Begriff der Freiheit ein irgendwie be-
schränkter sein; sie muss femer eine allmählich erst entstehende
Grösse sein, für die aber doch, wenn sie überhaupt entstehen soll,
eine adäquate Ursache vorhanden sein muss. Wenn wir nun
endlich noch die noch offen gelassene Frage, ob es überhaupt
eine Willensfreiheit gibt oder nicht, hinzunehmen, so erhalten
wir folgende vier Punkte, über die wir uns auszulassen haben:
der B^riff der Willensfreiheit, Willensfreiheit und Naturkausalität,
die Freiheit als Voraussetzung des sittlichen Prozesses, die Frei-
heit als Ziel des sittlichen Prozesses.
L Begriff der WiUensfrelheit
Der Begriff der Freiheit gehört zu denjenigen, die in vielfach
verschiedenem Sinne gefasst werden und darum zu manchem Miss-
verständnisse und unnötigen Streitigkeiten führen. Oft wird sie
als eine inhaltlich bestimmte Grösse gefasst, und zwar teils mehr
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DIE WILLENSFREIHEIT.
J^
religiös, teils mehr ethisch gefärbt Im ersteren Falle versteht
man darunter die Selbstbehauptimg des Ichs gegenüber den
Hemmungen und Widerwärtigkeiten des Lebens, den bewussten
Akt des SichzurQckziehens von aussen nach innen, das Verlegen
des Schwerpxmktes des Lebens in die Tiefe des Gemütes, um
hier Schätze aufzuspeichern, die ziemlich unabhängig sind von
Welt und Schicksal, im letzteren Falle die bereits zu einer festen
Disposition entwickelte Bejahung der als solcher erkannten Idee
des Guten gegenüber den natürlichen Regungen und Trieben.
Beides versetzt uns in einen bereits weit entwickelten Zustand
des menschlichen Selbstbewusstseins und muss daher zunächst,
wo es sich um die Entscheidung der Frage handelt, ob sich das
menschliche Bewusstseinsleben und damit auch das sittliche Leben
in den Formen der Naturnotwendigkeit entwickelt oder nicht,
ausser Betracht bleiben. Es kann sich also zunächst nur um eine
formale Bestimmung der Freiheit handeln. Aber auch da gehen
die Fassungen des Begriffes weit auseinander. Einig ist man
höchstens darüber, dass es sich nicht nur um ein Fehlen von
äusserem Zwange handelt. Wo ein solcher vorhanden ist, kann
überhaupt von sittlichem Leben nicht die Rede sein, und niemals
findet in solchem Falle eine Beurteilung nach sittlichen Mass-
stäben statt. Doch nun fragt es sich, ob es sich nur um das
Fehlen auch eines inneren Zwanges oder überhaupt um das Fehlen
jeder Kausalität des Willens handelt. Der konsequente Indeter-
minismus behauptet das letztere. Nach ihm ist jeder Willensakt
eine freie schöpferische Tat. Indessen es lässt sich leicht zeigen,
dass diese Anschauung weder die Tatsachen des sittlichen Lebens
richtig beurteilt noch die Erscheinimgen der sittlichen Bildung
und Erziehung irgendwie erklären kann. Es gehört noch kein
grosses Mass von Selbstbeobachtung dazu, um zu erkennen, dass
eine einzelne WUlensentscheidung durchaus nicht so isoliert in
dem Zusammenhang unsers Bewusstseinslebens dasteht, dass alle
Verbindungsglieder zwischen ihr und den übrigen Bewusstseins-
inhalten fehlten. Oft können wir in einem weitgehenden Regressus
das Entstehen eines Willensaktes zurückverfolgen, ja bisweilen
stehen wir unter dem Eindrucke, dass irgend eine Willensent-
scheidung nach allem Vorangegangenen notwendig erfolgen musste.
Wenn man trotz dieser Erfahrungen, die jeder mit sich selbst
machen kann, eine absolute Freiheit der Willensentscheidung be-
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Il6 G, NOTH.
hauptet, so erklärt sich das aus dem Gefühle der Verantwortung,
das nach einer Entscheidung sich regt und das man bei einer kausalen
Bestimmtheit des Willens gefährdet sieht. Allein dies würde noch
nicht fallen, wenn auch der letzte Akt der Willensentscheidung
nicht absolut frei wäre; es würde nur weiter zurückzuwenden
sein oft bis auf die Anfänge unserer sittlichen Entwicklung, jeden-
falls bis dahin, wo wir die ersten versteckten Ausgangspunkte der
oft langen Reihe der Ursachen, die als Endeffekt die in Frage
stehende Willensentscheidung hervorgerufen haben, entdecken.
So beruht das unmittelbare Selbstgericht, das wir nach begangener
Tat an ims vollziehen, insofern es bei der letzten Willensent-
scheidung stehen bleibt, allerdings auf einer gewissen Selbst-
täuschung, die aber als völlige Täuschung erst dann sich erweisen
würde, wenn von jedem Gliede der Kette sittlicher Entschei-
dungen, auf denen die letzte beruht, dasselbe zu sagen wäre.
Darüber kann erst weiter unten entschieden werden. Lehrt schon
diese Betrachtung, dass, wenn wir im Gebiete der Ethik von
Freiheit des Willens reden, nicht eine völlige Unbestimmtheit des
letzteren gemeint ist, so ergibt sich auch leicht, dass mit dieser
Art Freiheit für das sittliche Leben gar nichts gewonnen wäre.
Von einer Erziehung zu sittlichem Leben könnte dann weder bei
dem einzelnen noch bei der Gesamtheit die Rede sein, und es
wäre das grösste Wunder, wie bei einer solchen Willkür in den
Willensentscheidungen das sitüiche Leben im ganzen angesehen
doch mit einer gewissen Gesetzmässigkeit in aufsteigender Linie
sich entwickelt hat. Das Werk der Erziehung des einzelnen und
der sittlichen Bildung der Gesamtheit besteht doch eben darin,
gewisse Richtungen und Neigungen in solcher Stärke auszubilden,
dass sie mit einer gewissen Stetigkeit, mit einer Art von Gesetz-
mässigkeit funktionieren. Das würde vollkommen illusorisch ge-
macht, wenn jedesmal im entscheidenden Augenblicke der Wille
mit voller Souveränität ohne jede Bestimmtheit in Aktion träte.
Wir werden also, wenn der Begriff der Freiheit für die
Ethik überhaupt einen Wert haben soll, denselben anders zu
fassen haben. Es handelt sich um eine Form der psychologischen
Erscheinungen, die wir als Wille bezeichnen. Die psychologische
Betrachtung zeigt uns, dass wir es hier mit einer Reihe ver-
schiedenartiger Funktionen zu tun haben, die wohl mannigfach
ineinander übergehen, aber doch deutlich eine dreifache Stufen-
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DIE WILLENSFREIHEIT.
117
folge unterscheiden lassen: Reflexhandlungen, Triebhandlungen
und willkürliche Handlungen. Für die ersteren kann der Begriff
der Freiheit nicht in Betracht kommen, da sie ohne Bewusstsein
erfolgen, wenn sie in früherer Zeit auch als einfache Triebhand-
lungen erfolgt sein mögen. Aber auch bei den Triebhandlungen
reden wir nicht von Freiheit. Ihr Wesen besteht ja eben darin,
dass sie nur auf ein einziges Motiv hin erfolgen, das, wenn nicht
ein äusseres Hindernis hemmend in den Weg tritt, mit Notwen-
digkeit sich in einem Willensakt auslöst. Dieser Willensakt ist
daher ein eindeutig bestimmter und darum notwendiger. Diese
Form begegnet uns bei den meisten Erscheinungen des Lebens
der Tiere, denen wir darum die Freiheit absprechen; sie begegnet
uns aber auch in den Anfängen des menschlichen Einzeldaseins;
die Handlungen des Kindes sind Triebhandlungen, darum reden
wir bei ihm noch nicht von Freiheit, darum legen wir bei ihm
noch nicht den Massstab sittlicher Beurteilung an. Dasselbe gilt
aber auch von gewissen Erscheinimgen auf der späteren Stufe
des Bewusstseinslebens. Manche Handlungen tragen da ganz den
Charakter von Triebhandlungen, indem das eine bestimmende
Motiv mit solcher Gewalt sich vordrängt, dass alle anderen völlig
dahinter verschwinden und nur das eine noch bleibt, das nim
mit einer gewissen Notwendigkeit zur Auslösung in einem Willens-
akt drängt. Das begegnet ims bei starken Leidenschaften, die bei
ihrem Auftreten so sehr von dem Bewusstsein Besitz ergreifen,
dass alle anderen Inhalte desselben entfernt sind. Das sittliche
Urteil trifft gewiss das Richtige, wenn es bei solchen Erschei-
nungen das Vorhandensein der Freiheit des Willens in Abrede
stellt. Das Gefühl, das wir oft nach Äusserungen besonders star-
ker Affekte haben, dass wir unsrer selbst nicht mächtig waren
und einem gleichsam unwiderstehlichen Zwange nachgegeben haben,
beruht nicht auf blosser Täuschung, wenn damit auch nicht die
Verantwortlichkeit für derartige Handlungen aufgehoben werden
soll; sie muss nur weiter zurückverlegt werden auf die Willens-
akte, die es zu einem solchen Schwinden freier Entscheidung
haben kommen lassen. Wir sehen also, die Freiheit des Willens
kann nur für die dritte Stufe der Willenshandlungen bleiben, für
die Wahlhandlungen. Ihr Wesen besteht darin, dass von ver-
schiedenen sich widerstreitenden Motiven eines ausgewählt wird,
das nun den Willen zur Äusserung bestimmt. Mit dem Begriff
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Ii8 G, NOTH,
der Freiheit im formalen sittlichen Sinn ist somit stets der Begriff
der Wahl verbunden; von Freiheit kann nur da die Rede sein,
wo wenigstens zwei Motive gleichzeitig den Willen bestimmen.
Dazu kommt aber noch ein weiteres charakteristisches Merkmal.
Wir reden nicht von Freiheit des Willens bei einem Träumenden,
in dessen Bewusstsein doch gleichfalls mannigfache Motive neben-
einanderruhen; wir tun es gleichfalls nicht bei einem Geistes-
kranken, obwohl es bei seinen Willensentscheidungen nicht an
einem abwägenden Vergleichen verschiedener Motive fehlt; ja
selbst bei scheinbar vernünftigen Handlungen sprechen wir ihm
die Freiheit ab. Wo von Freiheit die Rede sein soll, muss eine
klar bewusste Wahl stattfinden; d. h. die verschiedenen nach
Herrschaft strebenden Motive müssen mit dem jeweiligen Gesamt-
zustand unsers Bewusstseins in Verbindung gebracht werden und
je nach der grossem oder geringem Verwandtschaft mit dem-
selben vorgeschoben oder zurückgedrängt werden, bis endlich das
eine die absolute Herrschaft erringt, das nun mit Notwendigkeit zum
Willensakt führt. So verstehen wir also unter Willensfreiheit
die Fähigkeit der klar bewussten Wahl zwischen mehre-
ren auf den Willen einwirkenden Motiven. Diese Definition
lehnt beide Extreme ab: in ihrem ersten Teil die Übertragung
des Naturmechanismus auf die Willenshandlungen, in ihrem zweiten
Teil die Ablösung der Willenshandlungen von jeder Motivation.
In diesem Sinne soll also von Willensfreiheit zunächst die Rede
sein. Es erhebt sich aber nun die Frage: Gibt es überhaupt
eine solche Fähigkeit bewusster Wahl? Oder ist nicht vielmehr
eben jene Wahl eine so wenig willkürliche, dass sie vielmehr nur
das Produkt notwendiger Prozesse ist und dass somit das, was
man Freiheit nennt, nur eine in maiorem gloriam hominis erfun-
dene Bezeichnung eines Naturvorganges ist? Davon soll nun die
Rede sein.
n. Willensfreiheit und Naturkausalitat
Es handelt sich in diesem Abschnitte zunächst um die allge-
meine Möglichkeit der Freiheit des Willens, noch nicht um die
Wirklichkeit derselben. Diese Möglichkeit ist nur vorhanden,
wenn dem geistigen Geschehen, zu dem offenbar die Äusserungen
des Willens gehören, eine Selbständigkeit gegenüber dem Natur-
geschehen zukommt und es nicht mit unter das letztere sub-
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DIE WILLENSFREIHEIT, 119
sumiert wird. Dass dies letztere vielfach geschieht, ist wohl
erklärlich aus dem logischen Bedürfnis der menschlichen Vernunft
nach letzten einheitlichen Ideen, durch das von vornherein einer
monistischen Weltanschauung der Vorzug gegeben wird. Dazu
kommt die Beobachtung, dass allem psychischen Geschehen phy-
siologische Erscheinungen in solchem Umfange parallel gehen,
dass wir sie auch da voraussetzen, wo nur die psychischen Vor-
gänge der Beobachtung zugänglich sind, und die weitere, dass im
Verlaufe der generellen und individuellen Entwickelung tatsächlich
Übergänge von geistigen Kausalitäten in rein mechanische vorzu-
liegen scheinen, sofern Handlungen, die offenbar auf einer frühem
Stufe der Entwickelung mit Bewusstsein vollzogen worden sind,
durch fortgesetzte Übungen bis zu Reflexhandlungen erstarrt sind,
die ganz auf der Linie des Naturgeschehens zu liegen scheinen.
Freilich alles dies würde ebenso wie in der Weltanschauung eines
materialistischen Monismus oder Substanzmonismus, wie ihn Häckel
vertritt, in der eines spiritualistischen oder voluntaristischen Mo-
nismus, wie ihn z. B. Wundt in seinem System der Philosophie
entwickelt, seine Erklärung finden. Als metaphysische Idee selbst-
verständlich ebensowenig vorstellbar wie die erstere, die nur dem
Scheine nach leichter fassbar ist und nur dem nicht philosophisch
geschulten, naiven Denken begreiflich erscheint, während sie schon
bei dem ihr zugrunde liegenden Begriff der Substanz oder
Materie mit einer Abstraktion des Verstandes operiert, wird jene
voluntaristische Auffassung doch viel mehr den wirklichen Er-
scheinungen des Lebens gerecht und vermag sie besser zu deuten.
Denken wir uns begrifflich die ganze Welt aus Willenseinheiten
bestehend, die zum Teil allmählich erstarrt sind zu unbewussten
Grössen, so kommt damit zum Ausdruck einmal die richtige Be-
obachtung, dass wir die ganze Welt auch ausser uns doch nur
als einen Bestandteil unsers Bewusstseins haben und dass nicht
umgekehrt auch unser Bewusstsein in eine ausser uns stehende
Welt projiziert werden muss, femer die Erkenntnis der hohen
Bedeutung, die gerade dem Willen im Bewusstsein des einzelnen
zukommt wie in der Entwickelung der Gesamtheit, drittens ent-
geht man damit der logischen Unmöglichkeit der Verknüpfung so
disparater Erscheinungen wie Bewusstseinsvorgänge und objektiver
Naturvorgänge, um die der materialistische Monismus nicht her-
umkommt, da er bei der Behauptung der Objektivität des Natur-
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I20 G. NOTH.
geschehens doch auch die Wirklichkeit der Bewusstseinsvorgänge,
die wir als das Objektivste kennen, anerkennen muss, aber doch
als etwas der Art nach von dem ersteren Verschiedenes, trotzdem
aber durch dasselbe Hervorgebrachtes; hier dagegen findet dann
stets nur eine Wirkung von Willen auf Willen, von geistigen
Grössen auf geistige Grössen statt, und auch die Vorstellungen
sind dann nur eine Wirkung von Willensatomen auf uns; endlich
geht diese Anschauung von der wirklichen Erfahrung aus, indem
sie zur Konstruktion des Weltbildes die Tatsache benutzt von
der Mechanisierung der psychischen Vorgänge, nach der ursprüng-
lich bewusste Akte durch fortgesetzte Übung zu unbewussten,
mechanischen werden und so das, was die Ethik als regulative
Idee in unendlichem Progressus aufstellt, eine immer vollkomme-
nere Organisierung der Natur durch den Willen, ebenso in einem
unendlichen Regressus als ontologische Idee benutzt, während der
materialistische Monismus niemals das Rätsel zu lösen vermag,
wie aus rein mechanischen Bewegungen oder Energien geistige
Grössen hervorgebracht werden können.
Diese kurzen Andeutungen, welche zeigen, zu welchem Ende
die reine philosophische, von dem Verlangen nach einem einheit-
lichen Prinzip der Welterklärung geleitete Spekulation führt und
die zugleich den Beweis geben, wie sehr für die Gewinnung eines
solchen letzten Prinzips die persönliche Stellung des Philosophen
zu den beiden grossen Gebieten des Naturgeschehens und des
Geisteslebens von Bedeutung ist, haben nicht die Absicht, durch-
aus einer monistischen Welterklärung das Wort zu reden. Sie
sollen nur deutlich machen, dass der materialistische Monismus,
bei dem von vornherein eine Freiheit des Willens auszuschliessen
ist, durchaus nicht die einzige in sich geschlossene und die einzig
vernünftige Weltanschauung ist, die alle Rätsel einfach löst, wie
er gern behauptet, dass er vielmehr die schwierige Frage, auf die
es uns hier ankommt, nach dem Verhältnis von Naturvorgängen
und Bewusstseinsvorgängen, von mechanischer und psychischer
Kausalität nicht beantwortet. Gerade darauf aber müssen wir
unser Augenmerk richten.
Es lässt sich leicht zeigen, dass die psychische Kausalität
sich nicht einfach auf die mechanische zurückführen oder unter
sie unterordnen lässt. Freilich den Begriff der Kausalität wenden
wir ebenso bei psychologischen wie bei naturwissenschaftlichen
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mm
DIE WILLENSFREIHEIT. 121
Betrachtungen an. Er ist die regulative Idee für alle wissenschaft-
lichen Untersuchungen, die das Ziel verfolgen, irgend eine Er-
scheinung des Naturgeschehens oder des geistigen Lebens in eine
nirgends unterbrochene Kette von Ursache und Wirkung einzu-
gliedern, wobei freilich nicht zu vergessen ist, dass eben diese
Idee nicht eine über den Einzelvorgängen stehende objektive
Macht ist, die wie ein Gott sie bestimmt, sondern ein von uns
gebildeter, allerdings für eine begriffliche Erkenntnis unentbehr-
licher Verstandesbegriff, der aber seinen Ursprung im geistigen
Leben hat, sofern er ein Ausdruck des Verhältnisses verschiedener
Bewusstseinsinhalte zueinander ist. Alles wissenschaftliche Denken
ist an diesen Begriff gebunden. Aber unter diesem gemeinsamen
Begriff stellt sich nun das Naturgeschehen anders dar als das Be-
wusstsemsleben. Die naturwissenschaftliche Betrachtung kommt
von ihm aus zu einem weiteren, freilich hypothetischen, aber über-
aus fruchtbaren Begriff, dem der Materie oder Substanz, mit dem
der Regressus geschlossen ist. Ihm kommen die beiden Merkmale
der Unendlichkeit und der Konstanz zu. Von da aus hat dann
die neuere Naturwissenschaft die beiden Gesetze der Erhaltung
der Materie und der Erhaltung der Kraft aufgestellt, die sich als
überaus erfolgreich für die Erkenntnis der Naturvorgänge erwiesen
haben. Damit erhalten alle Naturvorgänge zwei charakteristische
Eigenschaften, die der Notwendigkeit und die der eindeutigen Be-
stimmtheit. Sind alle erforderlichen Bedingungen gegeben, so
muss der betreffende Vorgang eintreten, und treffen alle diese
Bedingungen unter sonst völlig gleichen Umständen zusammen, so
muss eben dieser bestimmte Vorgang eintreten und kein andrer.
Damit hängt es zusammen, dass man die Naturvorgänge nicht nur
in den sie bestimmenden Ursachen rückwärts verfolgen kann,
sondern dass man sie auch vorherbestimmen kann. So ver-
schiedenartig und mannigfaltig aber auch diese Vorgänge sind
und so sehr dabei auch einzelne Kräfte in andere umgesetzt oder
aktuelle in latente Energien umgewandelt werden, die Summe der
Materie und der Kraft bleibt immer dieselbe. Zu diesem Ergeb-
nisse hat uns die fruchtbare Arbeit der Naturwissenschaft des
19. Jahrhunderts gebracht.
In die Reihe dieser Naturvorgänge gehören nun auch alle
physiologischen Erscheinungen in den peripherischen oder zen-
tralen Organen unsers Körpers, die wir als Parallelvorgänge zu
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122 G. NOTH.
allen psychologischen Grössen sei es wirklich nachweisen können,
sei es mit gutem Gnmde, gestützt vor allem mit auf die Beob-
achtungen der physiologischen Pathologie, voraussetzen, wo es
nicht möglich ist, sie als vorhanden zu erkennen. Als physika-
lische und chemische Prozesse unterliegen sie derselben Deutung
und Beurteilimg wie jene Vorgänge und reihen sich mit ein in
den allgemeinen Naturmechanismus. Das ist denn auch der Grund,
weshalb man auch das geistige Geschehen, dem diese Prozesse
parallel gehen, in der Form dieser mechanischen Kausalität zu
deuten sucht und eine besondre Art der geistigen Kausalität ver-
neint. Doch man begeht dabei den logischen Fehler, dass man
eine Beurteilung, die man dadurch gewonnen hat, dass man bei
einer Gruppe von Bewusstseinsvorgängen, als die wir doch auch
die Aussenwelt haben, davon abstrahiert, dass sie Bewusstseins-
inhalte sind, wodurch sie erst als etwas Objektives, ausser ims
Liegendes erscheinen, nun doch wieder auf die Bewusstseinsvor-
gänge selbst anwendet. Daraus ergibt sich schon, wie wenig
davon die Rede sein kann, dass die psychischen Grössen durch
physische kausal bestimmt sein sollen. Man könnte im Gegenteil
mit viel grösserm Rechte sagen, dass alles Geschehen der Natur
nur ein psychisches Geschehen sei. Ich gestehe nun freilich, dass
ich mich zu einer solchen idealistischen Auffassung, zu der eine
rein erkenntnistheoretische Betrachtung führt, einer Auffassung,
die die ganze uns umgebende Welt nur in Bewusstseinsvorgänge
auflöst, nicht entschliessen kann, vielmehr meine ich, dass wir
als notwendiges Postulat die objektive Wirklichkeit der Erschei-
nungswelt aufstellen müssen, weil wir nur unter dieser Voraus-
setzung handeln können, wobei wir aber dessen eingedenk bleiben
müssen, dass wir von ihr nur wissen und etwas aussagen können,
soweit sie Inhalt unsers Bewusstseins ist. Aber das scheint mir
doch eine unumgängliche Forderung zu sein, dass wir bei der Be-
urteilimg der Bewusstseinsvorgänge als solcher nicht nach dem-
selben Prinzip verfahren, wie bei der Deutung der uns als objek-
tiver Grösse gegenübertretenden Aussenwelt, weil wir bei dieser
von vornherein eine Voraussetzimg machen, die von jenen jnicht
gilt, die des beharrenden Seins. So gilt es also das Bewusstsein
für sich zu betrachten. Da finden wir nun freilich, dass wir den
Begriff der Kausalität auch hier anwenden müssen, weil dieser
überhaupt die Form all unsers wissenschaftlichen Denkens ist
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DIE WILLENSFREIHEIT.
123
Wir sehen, wie auch alle Bewusstseinsinhalte kausal bestimmt
sind, wie auch alle Willensakte nur die Endpunkte einer langen
Reihe psychischer Ursachen sind. Da sind es Gefühle, die den
Willen in eine bestimmte Richtung drängen, hervorgerufen durch
irgend welche Vorstellungen, die vielleicht wieder durch Gefühle
über die Schwelle des Bewusstseins gehoben werden, oder auch
durch neue Vorstellungen auf dem Wege der Assoziation im Be-
wusstsein auftauchen. Ja gerade bei der Erklärung der Willens-
akte suchen wir die Reihe der kausalen Glieder immer weiter
rückwärts zu verfolgen, bis wir etwa bei gewissen angebornen
Dispositionen ankommen. Doch selbst da bleibt das Bestreben
kausaler Erklärung nicht stehen, sondern sucht nun wieder nach
den verursachenden Gliedern dieser Dispositionen; es über-
schreitet damit den Bereich des individuellen Lebens und führt
die Reihe immer weiter zurück in das unübersehbare Gebiet der
generellen Entwickelung, wo sie sich immer mehr ins Dunkle
verliert. Aber wenn nun auch die einzelnen Glieder in diesem
unendlichen Regressus nicht aufgefunden werden können, werden
sie doch vorausgesetzt. Wir sehen jedenfalls, auch die psycho-
logische Betrachtung vor allem der Willensakte, die ja für unsem
Zweck vor allem in Betracht kommen, kann des Begriffs der Kau-
salität nicht entbehren. Schon die oberflächliche Selbstbeobach-
tung zeigt einem jeden, dass ein Willensakt nicht mit einem Male
unvermittelt auftritt und nicht wie die Minerva aus dem Haupte
des Zeus ganz plötzlich hervorspringt, sondern kausal bestimmt
ist Dann aber ist man aufgefordert, die Reihe der verursachenden
Glieder nicht mit einem Male abzubrechen, sondern im fortgehen-
den Regressus weiter zu verfolgen und eine solche Reihe auch da
vorauszusetzen, wo wir sie nicht zu erkennen vermögen. Wir
kommen also zu dem Ergebnis, alle Willensakte sind kausal be-
stimmt und sind die Endpunkte einer unendlich nach rückwärts
gehenden Reihe. Aber trotz dieser formalen Übereinstimmung
mit den Naturvorgängen lassen sie sich doch nicht in die letztem
einreihen. Da ist zunächst ausdrücklich hervorzuheben, dass alle
Bewusstseinsinhalte nur gedacht werden können als wieder durch
Bewusstseinsinhalte verursacht, alle Willensakte also gleichfalls
nur durch psychische Glieder. Es ist ein ganz unvollziehbarer
Gedanke, dass durch Vorgänge der als objektiv gedachten Aussen-
welt, zu der wir auch unsem Körper rechnen, psychische Werte
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124
G. NOTH.
geschaffen werden können. Zwar scheint die Beobachtung, dass
durch ein Einwirken von Naturvorgängen auf unsern Körper in
den peripherischen Organen physikalische und chemische Prozesse
geweckt werden, die dann weiter durch die Vermittelung der
Nerven nach den Zentralorganen geleitet werden und dort gleich-
falls Veränderungen hervorrufen, in deren Gefolge die psychischen
Erscheinungen der Vorstellungen, Gefühle und Willensakte auf-
treten, ebenso die Tatsache, dass man auch in der wissenschaft-
lichen Psychologie für psychologische Erscheinungen physiologische
Ursachen aufsucht, und endlich die weitere Tatsache, dass die
Willensakte sich in äusserlich erkennbaren Handlungen auslösen,
das Gegenteil zu beweisen. Das alles ist aber nur ein Beweis
dafür, dass wir es nur mit einem völligen Parallelismus des psy-
chischen und physiologischen Geschehens zu tun haben und dass
wir darum mit mehr oder weniger Recht da, wo uns in der einen
Reihe des kausalen Zusammenhanges die verbindenden Glieder
fehlen, die parallelen Glieder aus der andern unsrer Erkenntnis
vielleicht zugänglicheren Reihe substituieren. Das ändert aber
nichts an der Tatsache, dass geistige Werte nur durch geistige
Werte verursacht sein können. Meines Erachtens wenigstens
lässt sich gar nicht denken, wie aus materiellen Vorgängen psy-
chische Grössen entstehen sollen. Es sind doch nur Worte, die
nichts erklären, wenn von einem Umsetzen der physiologischen
Vorgänge in psychologische gesprochen wird. Darum vermag
keine materialistische Anschauung das Bewusstseinsleben zu er-
klären. Ein schwieriges Problem bleibt freilich dieser Parallelis-
mus, dessen Lösung in verschiedenen metaphysischen Versuchen
unternommen worden ist. Wir brauchen für unsern Zweck hier
eine solche Lösung nicht. Wir wollen nur das eine nochmals be-
tonen, dass das psychische Geschehen trotz kausalem Zusammen-
hang in seinen verschiedenen Äusserungen wesentlich von dem
physischen verschieden ist. Das zeigt uns noch deutlicher eine
nähere Betrachtung dieser geistigen Kausalität. Da sehen wir vor
allem, dass der Begriff der Konstanz, das Gesetz der Erhaltung
der Materie und Kraft, für das geistige Leben gar keine Anwen-
dung findet. Das hängt schon damit zusammen, dass wir es hier
nicht wie bei dem hypothetischen Begriff der Substanz mit einem
ruhenden Sein zu tun haben, sondern mit einem fortgesetzten
Fluss. So kommt es, dass wir es im geistigen Leben im Gegen-
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DIE WILLENSFREIHEIT. 125
teil mit einem Gesetz des Wachstums der geistigen Energien zu
tun haben. Die ganze Kulturarbeit hat ja das Ziel, die geistigen
Werte an Umfang und Energie immer mehr zu steigern. Ferner
fällt für das geistige Leben der B^riff der Notwendigkeit und
eindeutigen Bestimmtheit hinweg; denn auch diese sind an den
Substanzbegriff gebunden. Man muss sich hüten, Notwendigkeit
mit Kausalität zu identifizieren. Ist das geistige Leben auch in
der Form kausalen Zusammenhangs zu verstehen, so doch nicht
in der absoluter Notwendigkeit. Im Naturgeschehen ist die Wir-
kung die einfache Resultante aus den bestimmenden Ursachen;
deshalb l^st sie sich aus diesen auch vorherbestimmen. Im gei-
stigen Geschehen gilt vielmehr das von Wundt aufgestellte Gesetz
der schöpferischen Synthese, d. h. das Bewusstsein bringt durch
freie Kombination aus den verschiedenen als Ursachen vorhan-
denen Elementen etwas Neues hervor, das mehr ist als die Summe
der einzelnen Elemente; darauf aber beruht die Möglichkeit des
Wachstums der geistigen Energie. Daher kommt es zugleich, dass
man einen Bewusstseinsakt wohl rückwärts in seine einzelnen
Elemente zerlegen kann, dass es aber nicht möglich ist, aus den
einzelnen Elementen ihn vorherzubestimmen.
Wir kommen also zu dem Ergebnis, dass die Willens-
freiheit jedenfalls nicht in den Begriff des Naturmecha-
nismus aufzulösen ist, da der Wille zu dem geistigen
Leben gehört, dem ein eigentümliches Sein neben dem
Naturgeschehen zukommt; andrerseits aber, dass eine kau-
sale Erklärung der Willensakte notwendig ist, wenn da-
mit auch nicht wie bei dem Naturgeschehen eine ein-
deutig bestimmte Notwendigkeit ausgesprochen ist. Da-
mit haben wir freilich nur so viel gewonnen, dass wir sagen
können: Freiheit des Willens ist nicht von vornherein ausge-
schlossen. Aber ist nun der Wille wirklich frei in der oben ge-
gebenen Form? Davon sei im folgenden die Rede.
ni. WiUensfreiheit
als Voraussetzung des sittlichen Prozesses.
Dass wir praktisch stets die Freiheit des Willens irgendwie
voraussetzen, ist eine Tatsache, die sich nicht wegleugnen lässt.
Und das ist nicht nur der Fall bei denen, die aus moralischen
oder religiösen Gründen den Menschen für sein Tun verantwort-
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ia6 G. NOTH,
lieh machen wollen, nicht nur bei den Hütern der staatlichen
Ordnung, nicht nur bei Erziehern und wohlmeinenden Tugend-
lehrern oder frommen Theologen. Selbst die konsequenten Frei-
heitsleugner , die alle Willensakte und somit die ganze sittliche
Entwickelung der Menschheit und des einzelnen zu einem not-
wendigen Produkt eines alles beherrschenden Naturmechanismus
machen, verfahren in praxi nach dem entgegengesetzten Prinzip,
als wollten sie zeigen, dass auch sie dem Ammenmärchen
der Willensfreiheit noch nicht ganz entwachsen sind und dass
die praktischen Bedürfnisse gewaltiger sind als alle schönen
Theorien.
Was sollen sonst die oft bittern Vorwürfe und Anklagen gegen
die, welche ihre Anschauungen nicht teilen, die Vorwürfe von
Unehrlichkeit und Unwahrhaftigkeit auch wirklich ehrlichen Gegnern
gegenüber? Warum verurteilen sie und begnügen sich nicht mit
einem blossen Beurteilen derjenigen, deren Bewusstseinsleben in
dem notwendig bestimmten Entwickelungsprozess so weit zurück-
geblieben ist? Warum klagen sie an, wo keine Schuld vorliegt,
und bedauern nicht nur, dass die grosse Natur in ihrem Ent-
wickelungsprozess solche Missgestalten hat hervorbringen können?
Oder ist vielleicht der Begriff der Schuld nur ein von der Natur
weise erfundener Begriff zum Zwecke der moralischen Erziehung
des Menschengeschlechts als mächtiges Zwangsmittel zur Förde-
rung sittlicher Ideen, an sich freilich eine Unwahrheit, aber not-
wendig, damit aus Bösem Gutes folge? Operieren jene Freiheits-
leugner vielleicht darum mit diesem Begriff, damit sie um so
leichter die Menschheit zu der Höhe emporheben, auf die sie die
Natur gestellt hat, damit das drückende Gefühl der Schuld sie mit
nicht geringem Zwange hintreibt zu dieser geförderten, aufge-
klärten Weltanschauung, wo sie dann erkennt, dass es doch nicht
Schuld war, was sie bisher zurückgehalten? Nun, ich meine, es
zeigt dies alles nur, dass jeder praktisch mit der Freiheit des
Willens rechnet und dass auch eine Weltanschauung, die diese
völlig leugnet, eben schon durch die Forderung — und mit dieser
tritt sie fast immer auf — , sich ihr zuzuwenden, sich an die
Selbstbestimmung des Menschen wendet. Ja es ist ein seltsames
Geschick, dass gerade bei den konsequentesten Freiheitsleugnem
an irgend einem Punkte die Freiheit sich einschleicht. Nehmen wir
den materialistischen Monismus, so sehen wir in seiner Entwicke-
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DIE WILLENSFREIHEIT.
127
lungslehre das Selektionsprinzip stehen^ nach dem unter verschie-
denen Arten mit Bewusstsein die brauchbaren ausgewählt werden;
denn ohne irgend eine Form von Bewusstsein, mag man dies
auch der schaffenden Natur zusprechen, geht eine solche ver-
nünftige Wahl doch wohl nicht ab. Nehmen wir andrerseits den
konsequentesten Determinismus, wie er in der christlichen Philo-
sophie aufgetreten ist, die Anschauung des Augustinismus, so
sehen wir, wie überall da, wo überhaupt von sittlichem Leben
und Schuld die Rede ist, eine Freiheit des Willens angenommen
wird. Den ersten Menschen als Urhebern der Gesamtschuld wird
das liberum arbitrium zugesprochen, und in dem christlich-sittlichen
Prozess wird die freie Willenstat dem Menschen wohl genommen,
aber nur, um sie weiter zurück in Gott zu verlegen; dieser ist es,
der als freies, bewusstes Wesen durch die Menschen das sittliche
Leben wirkt
Nur in dieser religiösen Färbung ist nach meiner Meinung
die Behauptung einer absoluten Notwendigkeit auch für das sitt-
liche Leben erträglich; nur unter der Voraussetzung einer das
menschliche Leben beherrschenden höchsten Intelligenz lässt sich
selbst bei Aufhebimg jeder Freiheit die nicht zu leugnende Tat-
sache der sittüchen Entwickelung der Menschheit begreifen. Frei-
lich erträglich ist diese Anschauung doch auch nur bei einer Be-
trachtung des Gesamtbildes. Sobald wir an die Erfassung des
sittlichen Lebens des einzelnen gehen, zerrinnt sie uns unter den
Händen. Darum kommt es wohl auch, dass diese notwendige
Bestimmtheit des Willens mehr nur in der Theorie bei der Auf-
stellung einer allgemeinen Weltansicht festgehalten wird, im ein-
zelnen konkreten Falle dagegen nach der entgegengesetzten An-
sicht verfahren wird. Wo kämen wir auch hin, wenn wir anders
verfahren wollten? Hiesse das nicht, der sittlichen Laxheit und
Frivolität das Wort reden? Aber freilich, wo es sich um wissen-
schaftliche Erfassung eines Problems handelt, müssen zunächst
praktische Bedürfnisse und Gefühlsmomente schweigen und dürfen
erst dann zu Worte kommen, wo jene an der Grenze ihrer Mög-
lichkeit angelangt, diese nicht zu befriedigen vermag, obwohl sie
so stark sind, dass sie sich nicht niederdrücken lassen; ist das
der Fall, dann tritt wohl an Stelle des dem Erkennen Erreich-
baren in Form einer H)rpothese oder eines praktischen Postulates
ihre Forderung nach Beachtung wieder auf. So müssen auch wir
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128 G. NOTH.
zunächst uns ruhig fragen, ob die Beobachtung unsers Bewusst-
seinslebens, zu dem, wie wir im vorigen Abschnitt sahen, die
Aeusserungen des Willens gehören, uns den Beweis gibt für eine
Freiheit oder Notwendigkeit des Willens, Freiheit in dem oben
angegebenen Sinn gefasst als Fähigkeit der bewussten Wahl
zwischen mehreren Motiven. Und zwar soll hier von der Frei-
heit als Voraussetzung des sittlichen Prozesses im Leben des ein-
zelnen und der Gesamtheit die Rede sein.
Offenbar setzt eine solche bewusste Wahl zwischen mehreren
Motiven, wie sie im Begriff der Freiheit liegt, schon einen einiger-
massen entwickelten Zustand des Bewusstseins voraus, ja in der
vollendetsten Form, die uns der nächste Abschnitt zeigen wird,
die höchste Entwickelung des Bewusstseins zum klarsten Selbst-
bewusstsein. Wir können darum eine Antwort auf unsre Frage
nicht erwarten, wenn wir das menschliche Einzeldasein in seinen
ersten Anfängen, wo es offenbar nur von eindeutig bestimmenden
Trieben beherrscht ist, betrachten. Für diesen Zustand können
wir nur in Form von noch unentwickelten Dispositionen die Fähig-
keit zu dem, was auf späterer Stufe Wirklichkeit wird, postu-
lieren. Wir müssen also uns damit begnügen, das uns als ent-
wickeltes gegebene Bewusstseinsleben zu betrachten. Und da ist
es der Vorgang des Denkens, der uns gewünschten Aufschluss
bietet. Gewiss ist dieser Vorgang ebensowenig wie andere Be-
wusstseinsvorgänge eine rein schöpferische Tat. Ohne die grosse
Fülle von Vorstellungen, die wir in uns tragen und die sich immer
neu bilden, wäre er undenkbar. Aber was das Denken von
diesen Einzelvorstellungen und Vorstellungsgruppen unterscheidet,
das ist die besondere Beteiligung des Willens und zwar des be-
wussten Willens, wodurch es entsteht. Darum bezeichnen wir die
Gruppierung von Vorstellungen zu Gesamtbildern, wie sie ohne
aktive, bewusste Tätigkeit des Willens, durch das freie Spiel der
Assoziationen etwa im Traume oder in den traumähnlichen Zu-
ständen im Wachen, in dem unbewussten Spiel unserer Gedanken
entsteht, nicht als Denken. Vielmehr kommt es zum Denken da-
durch, dass wir mit Bewusstsein unsre Aufmerksamkeit auf be-
stimmte Vorstellungskreise richten und diese willkürlich aus der
Masse anderer Vorstellungen ausscheiden, dass wir dann weitere
bereitliegende Vorstellungen mit diesen Vorstellungskreisen in Be-
ziehung setzen, sie zurückdrängen, wenn sie nicht dazu sich fügen,
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DIE WILLENSFREIHEIT.
129
oder andere deutlicher in den Bereich des Bewussten emporheben,
wenn sie sich als geeignet erweisen, ja manche halb unbewusste
über die Schwelle des Bewusstseins bringen. Wer hier die be-
wusste, freie Tätigkeit nicht anerkennen will, der muss überhaupt
die Möglichkeit des Denkens leugnen. Freilich ist diese freie
Tätigkeit bei den Denkprozessen weder eine kausal nicht be-
stimmte, noch eine prinziplose, absolut willkürliche. Das würde
den Begriff des Denkens aufheben; darum können wir bei den
dem Denken analogen Bewusstseinsvorgängen in dem gestörten
Bewusstsein des Geisteskranken von einem eigentlichen Denken
nicht reden; denn hier findet wohl auch eine Wahl zwischen ver-
schiedenen Vorstellungen, wenn es sich nicht nur wie wohl viel-
fach um einfache willkürliche Assoziationen handelt, statt, aber
diese Wahl ist keine klar bewusste. Ebensowenig soll geleugnet
werden , dass auch bei dem Denken, wie bei allen Bewusstseins-
vorgängen, die Uebung von der allergrössten Bedeutung ist, so
dass die bei ihm zutage tretende freie Wahl einerseits zur Iröch-
sten Vollendung sich entfalten kann, andererseits aber auch so gut
wie völlig verschwinden kann, bis fast nur noch unwillkürliche
Kombinationen von Vorstellungen übrig bleiben. Innerhalb dieser
Grenzen vollzieht sich nun der Vorgang des Denkens so, dass
vermöge besonderer Bestimmtheiten, namentlich infolge ihrer Ver-
bundenheit mit starken Gefühlsmomenten, gewisse Vorstellungen
oder Vorstellungsreihen sich so in den Vordergrund unsers Be-
wusstseins drängen, dass wir auf sie unsere besondere Aufmerk-
samkeit richten. Sind jene Gefühlsmomente stark genug, wofür
vielfache Gewöhnung von besonderer Wichtigkeit ist, so werden
wir immer mehr mit Bewusstsein unsere Aufmerksamkeit bei
diesen Vorstellungsreihen festhalten. Durch die mannigfachsten
Assoziationen steigen nun immer neue Vorstellungen in unserm
Bewusstsein auf. Mit diesen verfahren wir nach den uns an-
geborenen oder anerzogenen Denkgesetzen mit voller Freiheit,
drängen die einen völlig zurück, bis sie aus dem Bereiche des Be-
wussten verschwinden, wenn sie bei einem Vergleich mit den
ersten Vorstellungen nicht zusammenstimmen wollen, heben andere
immer mehr heraus, wenn sie zu jenen sich fügen oder ziehen
andere halb unbewusste mit Absicht über die Schwelle des Be-
wusstseins. Durch diese Tätigkeit entstehen zugleich ganz neue
Gebilde, indem neue Kombinationen geschaffen werden, die bisher
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 137 9
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130 O, NOTK
im Bewusstsein noch nicht vorhanden waren, Kombinationen, die
infolge der verschiedenen Möglichkeit der Art der Verknüpfung
der bereitliegenden Elemente nicht die eindeutig bestimmten Re-
sultanten dieser Elemente sind, sondern die mannigfachsten Formen
annehmen können. Es ist das eine Erscheinung, die man mit dem
oben erwälmten Namen der schöpferischen Synthese bezeichnet.
Das Resultat bei diesem Vorgange des Denkens kann nun aber
auch das sein, dass die ursprünglichen Vorstellungsgruppen, die
das Denken angeregt und zunächst die Aufmerksamkeit auf sich
gezogen hatten, selbst mit Bewusstsein zurückgedrängt werden,
bis sie völlig verschwinden, wenn andere im Verlaufe des Denk-
prozesses emporgehobene Vorstellungs- und Begriffsreihen sich dem
denkenden Bewusstsein als zu bevorzugende erweisen, so dass nun
eine bewusste Hinlenkung der Aufmerksamkeit auf diese statt-
findet Das Massgebende für die hierbei stattfindende Entschei-
dung in der Richtung unserer Aufmerksamkeit ist die Art der
Herrschaft der uns als Erbe langer Entwickelung des Bewusstseins
im Leben der Gesamtheit angeborenen und durch Übung mehr
oder minder entwickelten Denkgesetze, auf die als alleingiltige
Norm bei allen Denkprozessen eine richtige Bildung und Er-
ziehung des geistigen Lebens mit solchem Nachdrucke hinweisen
wird, dass bei allem Denken auf sie die besondere Aufmerksam-
keit sich richtet, so dass jedes Abweichen von ihnen als wirk-
licher Mangel und Fehler mit Recht empfunden wird.
Wir finden also bei dem Vorgange des Denkens alle die
Momente, die wir oben als Merkmale der Freiheit des Willens
genannt haben: kausale Bestimmtheit, willkürliche Auswahl und
bewusstes Handeln. Betrachten wir darum nun die Willensakte
unter der Form der Denkprozesse. Das ist schon darum nicht
eine Hereinziehung eines völlig fremdartigen Gebietes, weil, wie
beim Denken eine besonders starke Beteiligung des Willens statt-
findet, so die Willenshandlungen neben den sie begleitenden Ge-
fühlsmomenten gerade auf den höheren Stufen der Bewusstseins-
ent Wickelung, wo überhaupt erst von Willensfreiheit die Rede
sein kann, aufs innigste mit Vorstellungen und Vorstellungskom-
plexen verbunden sind. Setzen wir an Stelle der bei den Denk-
prozessen wirksamen Denkgesetze das jedenfalls als Tatsache vor-
handene, sei es nun angeborene oder anerzogene oder beide
Momente in sich vereinigende Gewissen und an Stelle der ver-
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DIE WILLENSFREIHEIT. 131
schiedenen Vorstellungsreihen die verschiedenen auf den Willen
einwirkenden Motive, so erhalten wir den Vorgang, der bei den
Willensentscheidungen stattfindet.
Zu einer Willenshandlung — ausdrücklich sei noch einmal
hervorgehoben, dass die Triebhandlungen, bei denen der Wille
durch ein einziges Motiv bestimmt ist, das, falls nicht gerade
äussere Hindernisse hemmend dazwischentreten, sich notwendig
in einer Handlung auslöst, hier nicht in Betracht kommen —
kommt es, wenn durch Vorstellungen oder Gefühle oder besser
durch eine Verbindung von Vorstellungen und Gefühlen eine
Spannung der Willenskraft hervorgerufen wird, die also, wie wir
sehen, kausal bestimmt ist, so dass also auch der Wille schon auf
der ersten Stufe kausal bestimmt erscheint, ohne dass darum von
Notwendigkeit die Rede wäre. Jene Spannung lenkt nun die Auf-
merksamkeit auf die als erstes Motiv wirksamen Vorstellungen und
Gefühle. Durch die vielfachen Associationen, wobei vor allem
auch der Kontrast eine grosse Rolle spielt, tauchen eine Fülle von
andern Vorstellungen und Gefühlen, die der Ertrag bisheriger Be-
wusstseinsentwickelung sind, im Bewusstsein empor und werden
nun gleichfalls als Motive wirksam, sei es, dass sie das erste
Motiv verstärken oder schwächen. Die durch solche Spannung
gesteigerte Aufmerksamkeit holt nun auch selbständig nicht klar
bewusste Vorstellungen und Gefühle empor, die in der Richtung
der jeweils gerichteten Aufmerksamkeit li^en. Durch diese
komplizierten Vorgänge im Bewusstsein kann das erste Motiv
mannigfach umgestaltet werden, wie auch die daneben ent-
standenen Motive mannigfaltige Veränderungen erfahren werden.
Schliesslich aber wird der ganze Prozess dahin führen, dass zwei
den Willen in entgegengesetzter Richtung bestimmende Motive
herausgehoben werden, auf die mit Bewusstsein die Fülle der be-
reitliegenden Elemente verteilt werden. Wir finden also schon
hier ein bewusstes Handeln, was freilich nicht gleichbedeutend
mit einem irrtumslosen zu sein braucht. Die Spannung ist
aber erst gelöst, wenn von diesen zwei Motiven eines soweit in
den Vordergrund gehoben wird, dass es nun eindeutig den Willen
bestimmt. Diese Wahl ist nun keine freie in dem Sinne, dass
sie in vollkommener Willkür geschehe. Dann wäre sie ganz dem
Zufall überlassen, und niemand könnte für sie verantwortlich ge-
macht werden. Selbst in dem Falle, dass die beiden wider-
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132 G, NOTH.
Strebenden Motive in ihrem Gewichte sich völlig die Wage halten
und doch die auf die Dauer unerträgliche Spannung mit unwider-
stehlicher Gewalt nach einer Lösung drängt, so dass schliesslich
scheinbar der Knoten zerhauen, statt gelöst wird und anscheinend
ihr Wille in voller Willkür nach irgend einer Richtung gedrängt
wird, müssen wir, auch wenn wir es nicht nachweisen können,
einen wenn auch noch so imscheinbaren Grund voraussetzen, der
gerade zu dieser Entscheidung führt. Das Bestimmende für die
endliche Wahl wird schliesslich das Verlangen nach Lebens-
förderung und Lust und das Widerstreben gegen Lebenshemmung
und Unlust sein, beides selbstverständlich nicht auf die sinnliche
Seite des Daseins beschränkt, sondern im weitesten Sinne ge-
fasst. Auch zu dieser Entscheidung bedarf es eines klar bewussten
Handelns, des ruhigen Abwägens der auf der einen Seite in Be-
tracht kommenden Momente gegen die auf der andern Seite. Frei-
lich mit diesem Ergebnis scheint nicht viel wenigstens für das
sittliche Leben gewonnen zu sein. Denn dann scheint, abgesehen
von den Fällen, wo der Wille durch vielfache Übung nach einer
bestimmten Richtung hin fast mechanich nach dieser Richtung
funktioniert, so dass es kaum zu einer besonnenen Erwägung bei
der Wahl der Motive kommt, alles unsittliche und widersittliche
Handeln nur auf Irrtum oder mangelnder Erkenntnis zu beruhen,
und Förderung des sittlichen Lebens würde gleichbedeutend sein
mit Förderung richtigen Verständnisses, eine Auffassung, die be-
kanntlich bereits von Sokrates vertreten worden ist, die aber
durchaus nicht den unsrer Beobachtung zugänglichen Erscheinungen
des sittlichen Lebens gerecht wird, die uns zeigen, dass in vielen
Fällen nicht die Erkenntnis davon, auf welcher Seite die grössere
Lebensförderung zu finden ist, den Willen bestimmt, dass er viel-
mehr oft trotz dieser Erkenntnis nach der entgegengesetzten Seite
gelenkt wird. Auch würde bei dieser Auffassung wohl in dem
Sinne die Freiheit des Willens gerettet sein, sofern die Entschei-
dung eine mit Bewusstsein vollzogene ist, nicht aber würde dem
praktischen Bedürfnis genügt sein, den Einzelnen für sein Tun
verantwortlich zu machen, sofern das Fehlen der richtigen Er-
kenntnis diesem nicht als Schuld angerechnet werden könnte,
sondern nur als angeborener Mangel oder als Mangel der Er-
ziehung anzusehen wäre, für den höchstens die Erzieher verant-
wortlich zu machen wären. Wir müssen darum noch ein weiteres
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DIE WILLENSFREIHEIT.
133
Moment ins Auge fassen. Wie wir bei den Denkprozessen eine
regulierende Norm fanden in den Denkgesetzen, so haben wir
für das Handeln eine solche in dem Gewissen. Man mag über
diese Erscheinung urteilen, wie man will, sie ist jedenfalls eine
Tatsache, die sich nicht leugnen lässt. Dies Gewissen ist nun
freilich keine eindeutig bestimmte Grösse seinem Inhalte nach;
das zeigt ein Vergleich der sittlichen Beurteilung der gleichen
Handlungen bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen
Zeiten. Ja auch bei den verschiedenen Individuen derselben Stufe
der Kulturentwickelung finden wir weitgehende Unterschiede, die
um so grösser sind, je grösser der gemeinsame Kreis ist, dem sie
angehören, die aber selbst in den engsten Kreisen nicht ganz ver-
schwinden; sogar in der Lebensentwickelung des einzelnen ist der
Inhalt der Gewissensbeurteilung ein bisweilen sogar stark wechseln-
der. Auch der Grad der Stärke, in der das Gewissen redet, ist
bei den einzelnen Individuen ein äusserst mannigfaltiger. Aber
bei all diesen Unterschieden bleibt dem Gewissen ein gemein-
sames Formales, das ist die Absolutheit und Rücksichtslosigkeit
der Forderung, die es stellt. Dies Gewissen macht sich nun bei
Willensentscheidungen mehr oder weniger geltend; nicht bei allen
freilich, vor allem nicht bei denen, die wir infolge langer Gewöh-
nung fast mechanisch vollziehen, aber bei allen denen, die wir
einer sittlichen Beurteilung unterstellen, und der Kreis dieser wird
mit der Zunahme der sittlichen Entwickelung und der Verfeinerung
des sittlichen Gefühls immer grösser werden. Werden wir nun
vor eine Willensentscheidung gestellt, die nach unsrer ganzen
Entwickelung einer sittlichen Beurteilung von unserer Seite unter-
worfen wird — und zwar wollen wir den Fall setzen, dass es
sich um eine Entscheidung handelt, wie wir sie noch nicht ge-
troffen, wie es namentlich im Anfang der sittlichen Entwicke-
lung vorkommt, weil in andern Fällen die bisherige Art der
Willensentscheidungen von vornherein für die gleiche Art der
Entscheidung im erneuten Falle ein wichtiges Moment ist — so
tritt alsbald als Motiv auch »das Gewissen mit auf, sei es, dass es
die als erstes Motiv den Willen in Spannung setzenden Vor-
stellungs- und Gefühlskomplexe verstärkt, sei es, dass es in ent-
gegengesetzter Richtung wirkt. Dass dies geschieht, beruht da-
rauf, dass wir durch einen anfangs bewussten, dann immer mehr
halb unbewussten Akt die Motive zu unsrer bisherigen Entwicke-
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134
G. NOTH,
lung in Beziehung setzen, denn diese, wie sie sich gebildet hat
auf Grund gewisser angeborener Dispositionen unter dem Ein-
flüsse der Erziehung und der mannigfaltigsten Beziehung, in die
die individuellen Bewusstseinsinhalte zu diesen beiden Faktoren
gestellt worden sind, bildet den Inhalt des individuellen Ge-
wissens, natürlich nur, soweit es sich dabei um das als gut Er-
kannte oder für gut Gehaltene handelt. Der Grund wiederum
für diese Inbeziehungsetzung liegt in der wohl vor allem durch
die mannigfaltigen erziehenden Einflüsse, die die schon angeborene
Neigung nach dieser Richtung verstärken, dem bildsamen Einzel-
bewusstsein aufs tiefste eingeprägten und darum mit einer Art
Mechanismus funktionierenden Forderung, dass dies geschieht.
Wir finden hier denselben Vorgang des Vergleichens und Be-
ziehens, wie bei den Denkakten. Wird nun unser Wille durch
ein oder mehrere Motive bestimmt, so findet eine solche Beziehung
regelmässig statt. Finden sich hierbei keine Berührungspunkte
zwischen den verschiedenen Motiven und dem Gewissen, so
empfinden wir die zu erwartende Willensentscheidung als ausser-
halb der sittlichen Beurteilung stehend, was um so öfter der Fall
sein wird, je weiter die sittliche Entwickelung noch zurücksteht
und je geringer ihr Umfang daher noch ist. Dann wird die Ent-
scheidung stattfinden in der oben angegebenen Weise, je nach-
dem die bewusste Abwägung der verschiedenen Vorstellungs-
und Gefühlsreihen oder die bisherige Gewöhnung der einen Seite
vor der andern den Vorzug gibt. Sobald nun aber eine Be-
ziehung der Motive zu dem Gewissen sich auffinden lässt, tritt
dieses zugleich als Motiv mit auf, und zwar mit der Forderung,
ausschlaggebend zu sein. Dann ist der Fall denkbar, dass das
irgendwie den Willen bestimmende Motiv in derselben Richtung
liegt, wie das Gewissen, also ganz in der Richtung der bisherigen
sittlichen Entwickelung und dass es dadurch so verstärkt wird,
dass andere entgegenwirkende Motive gar nicht recht zum Be-
wusstsein kommen. Dann wird der Willensakt mit besonderer
Leichtigkeit erfolgen. Meist aber wird der Fall so liegen, dass
sich neben dem in der Gewissensforderung liegenden Motiv zwei
sich widerstrebende andere Motive vorfinden oder dass das Motiv,
das zunächst den Willen anregt, im Gegensatz zu der Gewissens-
forderung steht, so dass auf diese Weise zwei Motive sich wider-
streben. Ist das letztere der Fall, so fragt es sich, welches Motiv
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DIE WILLENSFREIHEIT,
135
das stärkere ist; denn danach wird die Entscheidung ausfallen;
ebenso kommt es in dem ersteren Falle darauf an, ob das in der
Richtung des Gewissens liegende Motiv verstärkt durch das im
Gewissen selbst liegende Motiv, also die Summe dieser beiden
Motive, stärker ist als das entgegenwirkende Motiv. Da wir aber
so auf beiden Seiten kausale Bestimmtheit haben, auf der einen
in den nicht selbst geschaffenen Ursachen der Willensanregung
durch neue oder wieder hervorgerufene Vorstellungen und Ge-
ftihle, auf der andern in dem durch die Erziehung imd Selbst-
bildbng bestimmten Grad der Stärke der Gewissensforderung, so
scheint auch hier von vornherein die Willensentscheidung bestimmt
und von Freiheit des Willens nicht die Rede zu sein. Indessen
wir haben, wie wir bei der Betrachtung der Denkprozesse sahen,
die Fähigkeit, unsere Aufmerksamkeit nach bestimmter Richtung
zu fixieren, so lange diese Fähigkeit noch nicht durch fortgesetzte
Gewohnheit in bestimmte Bahnen gelenkt ist. Diese Fähigkeit
kommt auch hier in Betracht. Die beiden widerstrebenden Motive
nehmen imsere Aufmerksamkeit in Anspruch, die Gewissensforde-
rung zugleich mit dem Gebot, dass wir die Aufmerksamkeit dar-
auf richten. Wir können diese Aufmerksamkeit festhalten, wenn
wir wissen, dass wir es sollen, solange noch nicht durch verkehrte
Entwickelung der Wille in ganz andere Bahnen gedrängt ist. Dass
wir es sollen, wissen wir aber durch den Einfluss der Erziehung.
Durch dies bewusste Festhalten der Aufmerksamkeit auf die Ge-
wissensforderung werden immer neue in gleicher Richtung hegende
Bewusstseinselemente, die bisher nur latent waren, hervorgehoben,
und diese dienen dazu, dies Motiv zu verstärken. Damit geht
Hand in Hand ein bewusstes Zurückziehen der Aufmerksamkeit
von dem entgegengesetzten Motiv, ein bewusstes Unterbinden der
Assoziationstätigkeit, die in dieser Richtung liegt, bis schliesslich
jenes erstere Motiv so sehr in den Vordergrund des Bewusstseins
gehoben wird, dass es den Willen bestimmt. Freilich kann eben-
so die Aufmerksamkeit auf das entgegengesetzte Motiv gerichtet
werden, wodurch dann bei diesem derselbe Vorgang stattfindet.
Darauf beruht es wohl auch, dass wir bisweilen unter dem Ein-
drucke stehen, dass wir im Anfange den Willen nach der guten
Seite hin noch hätten bestimmen können, dass wir dann im weitern
Verlaufe der Entwickelung des Willensaktes diese Freiheit nicht
mehr gehabt. Ich glaube, es ist dies nicht nur Selbsttäuschung.
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136 G. NOTH. LUDWIG GOLDSCHMIDl.
Man muss dabei bedenken, dass im allgemeinen bei dem Kampfe
der Motive nicht eines von vornherein das Übergewicht hat,
wenigstens bei noch nicht völlig ausgeprägter sittlicher Entwicke-
lung, sondern dass ein Oscillieren stattfindet. Ich behaupte
also, dass wir die Aufmerksamkeit bei einem Bewusst-
seinsinhalt festhalten können und dadurch die Bewusst-
seinsvorgänge beeinflussen, dass wir also auch durch
die Art, wie wir die Aufmerksamkeit auf die verschie-
denen Motive verteilen, diese bald verstärken, bald
schwächen, ja ganz zurückdrängen können; das aber
heisst doch wohl nichts anderes, als dass wir die Frei-
heit des Willens haben. (Schluss folgt.)
Beiträge zur Textkritik der
Kr. d. r. V.
Von Ludwig Goldschmidt.
I. Eine Stelle der Veraunftkritik.
Wir haben verschiedentlich die völlige Ratlosigkeit der Kant-
philologie gegenüber dem Texte der Kritik d. r. V. zu beurteilen
gehabt; hier wollen wir mit einem einfachen Beispiele belegen,
wie leicht und sicher ihre verständnislosen Bedenken sich auf-
heben lassen.
In der Kritik (i. Aufl., S. 223, 2. Aufl., S. 270) finden sich
folgende Worte:
„Aber ich lasse alles vorbei, dessen Möglichkeit aus der
Wirklichkeit in der Erfahrung kann abgenommen werden, und
erwäge hier nur die Möglichkeit der Dinge durch Begriffe a priori,
von denen ich fortfahre, zu behaupten, dass sie niemals aus
solchen Begriffen für sich allein, sondern jederzeit nur als for-
male und objektive Bedingungen einer Erfahrung überhaupt statt-
finden können."
Hier haben nach Erdmanns „Beiträgen zur Geschichte
und Revision des Textes von Kants Kritik d. r. V." Harten-
stein, Erdmann und Max Müller verbessert, „dass sie niemals
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BEITRÄGE ZUR TEXTKRITIK DER KR. D. R. V.
137
als solche Begriffe . . .** Erdmann fügt dem in einer Anmerkung
hinzu:
„Der Satz ist sinnlos. Die Änderung H.s führt nur zu
einem neuen Widersinn; denn die Begriffe a priori, welche hier
in Frage stehen, finden als solche durchaus für sich allein statt,
sofern sie wie von aller Erfahrung, so auch von aller Sinnlichkeit
unabhängig sind. Allem Anscheine nach wollte Kant sagen: von
der (welcher Möglichkeit der Dinge) ich fortfahre, zu behaupten,
dass sie niemals aus solchen Begriffen für sich allein erkannt
werden könne (268, 7 u. f.), sondern dass jene Begriffe a priori
jederzeit nur als Oder auch: „von der ich fortfahre, zu
behaupten, dass sie niemals aus solchen Begriffen für sich allein,
sondern jederzeit nur aus ihnen als formalen und objektiven Be-
dingungen . . . überhaupt erkannt werden könne."
Inzwischen habe ich nun in der Altpreussischen Monats-
schrift behauptet, dass Kant an jener völlig zweifellosen Stelle
genau hat sagen wollen — was er eben gesagt hat. Erdmann
beweist durch seine Bemerkung zur Evidenz, dass ihm die Kantische
Aufgabe in der Kritik und die hier vorgenommenen Untersuchungen
völlig fremd geblieben sind.
In der neuen Ausgabe der Akademie sagt Erdmann trotz
meiner Ausführungen, die ihn doch wenigstens hätten stutzig
machen können: „Der Sinn wird durch Hartensteins Änderung
als solche Begriffe nicht gebessert. Kant hat anscheinend
sagen wollen, entweder von der (welcher Möglichkeit der Dinge)
ich fortfahre, zu behaupten, dass sie niemals aus solchen Begriffen
für sich allein erkannt werden könne (245, 2 ff.) sondern, dass
jene Begriffe a priori jederzeit — oder: von denen ich — allein,
sondern jederzeit nur aus ihnen als formalen und objektiven Be-
dingungen — überhaupt erkannt werden können."
Nun ist doch das Nächstliegende immer, dass man den Text
daraufhin prüft, was er bedeuten soll, wie er vorliegt und wenn
man sich belehren lassen wollte, so hätte das auch entdeckt
werden können. Kant behandelt an jener Stelle das erste „Postulat
des empirischen Denkens überhaupt". Das lautet:
„Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der
Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich"
(d. h. es kann stattfinden). In dem beanstandeten Satze sagt
Kant nun negativ genau dasselbe, was in diesem Postulat der
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138 LUDWIG GOLDSCHMIDT,
Möglichkeit zum Ausdruck kommt. Er sagt dem Sinne nach: Ich
„erwäge hier nur die Möglichkeit der Dinge durch Begriffe a priori
und fahre fort, von diesen Dingen zu behaupten, dass sie niemals
aus solchen Begriffen für sich allein, sondern jederzeit nur als
formale und objektive Bedingungen einer Erfahrung überhaupt
stattfinden können, d. h. dass sie nur möglich sind, wenn sie (die
Dinge) mit den Bedingungen der Erfahrung übereinkommen." In
der Tat kann kein Ding aus blossen Begriffen a priori „statt-
finden" oder „möglich sein" und eben deshalb kann auch kein
Ding aus blossen Begriffen a priori erkannt werden. Dies be-
hauptet die Kritik d. r. V. von allen Dingen, die man aus Be-
griffen a priori für sich allein jemals hat stattfinden lassen oder
für möglich erklärt hat.
Auch darauf hatte ich in der Altpreuss. Monatsschrift auf-
merksam gemacht, dass die unmittelbar folgenden Ausführungen
ein Beispiel für die beanstandete Stelle geben. Es scheine so, als
ob ein „Triangel" aus seinem Begriffe an sich selbst könne er-
kannt werden, weil er gänzlich a priori konstruierbar ist. Es
scheint also, als ob ein Triangel aus seinem blossen Begriffe „für
sich allein" möglich sei oder „stattfinde". Weil aber das Dreieck
auf diese Weise nur die Form von einem Gegenstande ist, so
würde es doch immer nur ein Produkt der Einbildung, die Mög-
lichkeit des Gegenstandes also noch zweifelhaft bleiben, wenn
nicht noch etwas mehr erfordert würde: nämlich dass eine solche
Figur, unter lauter Bedingungen, auf denen aUe Gegenstände der
Erfahrung beruhen, gedacht sei. Dies Beispiel zeigt also, wie ein
Ding nicht aus einem blossen Begriffe stattfinden kann und dass
es nur „als formale und objektive Bedingung einer Erfahrung*
ein mögliches Ding ist. „Dass nun der Raum eine formale Be-
dingung a priori von äusseren Erfahrungen ist, dass eben dieselbe
bildende Synthesis, wodurch wir in der Einbildungskraft einen
Triangel konstruieren, mit derjenigen gänzlich einerlei sei, welche
wir in der Apprehension einer Erscheinung ausüben, um uns
davon einen Erfahrungsbegriff zu machen, das ist es allein,^
was mit diesem Begriffe die Vorstellung von der Möglichkeit
eines solchen Dinges verknüpft." Also nochmals: Dinge sind
niemals aus Begriffen a priori, sondern, wo sie a priori statt-
finden, weil sie konstruiert werden können, nur als formale und
objektive Bedingungen einer Erfahrung möglich.
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BEITRÄGE ZUR TEXTKRITIK DER KR. D. R. V.
139
Der Text ist nicht allein ohne den mindesten Zweifel richtig,
sondern der Zweifel beweist auch, dass niemals mit den Worten
ein vernünftiger Sinn verbunden worden ist. —
Wir knüpfen hieran eine kurze Bemerkung. Es kann un-
möglich verlangt werden, dass wir den ganzen Schutt aufräumen,
den die Kantphilologie allmählich aufgehäuft hat. Aber man ist
dann noch nicht bei Kant, wenn der Nonsens dieser fruchtlosen
Anstrengungen eingesehen worden ist. Ausserhalb dieser „Philo-
logie" findet sich dasselbe Missverstehen. Wir wollen ein Bei-
spiel dafür geben. Vor uns liegt ein Aufsatz von Cohen aus dem
Jahre 1887 aus den Philosophischen Monatsheften XXIV. Darin
heisst es wörtlich: „Die Grösse ist keine Anschauung und auch
kein blosser Begriff, sondern ein Grundsatz; das will sagen: sie
besteht in Verbindung von Anschauung und Begriff*. Aus diesem
Citat allein ist zu folgern, dass der Autor Kants Kategorienlehre
unmöglich verstanden haben kann. Grösse ist und bleibt ein
reiner Verstandesbegriff, nicht anders wie jede Kategorie;
es wird auch aus dem Begriff kein Grundsatz, wenn Prin-
zipien der Anwendung der Verstandesbegriffe wiederum nur in
Sätzen ausgesprochen werden können, die sich wie jene Be-
griffe nur in möglicher Erfahrung realisieren lassen. Angesichts
solcher Lehren von Seiten eines Vertreters Kantischer Philosophie
kann sich niemand wundem, wenn der Streit um Hirngespinste
kein Ende nimmt. Bis in die neueste Zeit sind Phantasiegebilde
für eine völlig eindeutige Erkennislehre gegeben worden, deren
Fragen sowenig wie ihre Beantwortung den Schriftstellern ge-
läufig sind. Wie wäre es sonst möglich, irgendwo zu lesen, dass
„Grösse ein Grundsatz sei" und dass ein „Grundsatz in der Ver-
bindung von Anschauung und Begriff bestehe". Das sind ja
völlige sinnlose Äusserungen, mit denen Kant nichts gemein hat.
II. Eine Textveränderung der Akademie-Ausgabe.
Wie bekannt, modifiziert Kant die in der allgemeinen Logik
hergebrachte Aufzählung der Urteifsformen in einigen, „obgleich
nicht wesentlichen Stücken" mit Rücksicht auf wirkliche Unter-
schiede, die von der transcendentalen Logik zu erörtern sind.
Diese, so sagt er z. B. S. 97, müsse unendliche Urteile von
bejahendem noch unterscheiden, wenngleich sie in der allge-
meinen Logik kein besonderes Glied der Einteilung ausmachen.
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140
LUDWIG GOLDSCHMIDT.
Die allgemeine Logik abstrahiere von allem Inhalte des Prädikats.
Für sie sei es gleich, ob das Prädikat des Urteils bejahend oder
verneinend sei, sie zähle unendliche Urteile bei den bejahenden
mit, wozu sie auch ein unzweifelhaftes Recht habe, da sie nur auf
die logische Form sehe. Die transcendentale Logik hingegen be-
trachte das Urteil auch „nach dem Werte oder Inhalte dieser
logischen Bejahung vermittelst eines bloss verneinenden Prädikats
und was diese in Ansehung des gesamten Erkenntnisses für
einen Gewinn verschaffe". In den folgenden Worten des Textes
verbirgt sich nun eine kleine Schwierigkeit, die allem Anscheine
nach niemals aufgelöst worden ist. Die Redaktion der aka-
demischen Ausgabe bringt aber im Text eine Veränderung, die
ihn verschlimmert und den Leser in Verwirrung versetzt. Es
zeigt sich bei dieser Gelegenheit wieder, dass es unmöglich ist,
ohne genaue Kenntnis äer Logik irgend eine Veränderung vorzu-
nehmen. —
Dem Schreiber dieser Zeilen ist vor einer Reihe von Jahren
der Vorwurf gemacht worden, dass er mit seiner Logik noch bei
Immanuel Kant stehe. Da will ich bei diesem Anlass gern be-
kennen, dass ich den lebhaftesten Wunsch habe, es möchte dieser
Vorwurf begründet sein. Denn wir haben auch in dieser Dis-
ziplin, wie es angesichts der Lehrbücher nicht anders möglich ist,
keinen Fortschritt, sondern Rückschritte gemacht. Was hat es
nun mit jenem Unterschiede der bejahenden und unendlichen Ur-
teile auf sich? Wir wollen zu dem Ende einfach einen Passus
aus einer vorkantischen Vernunftlehre zitieren: „Die Sätze ver-
binden entweder die Hauptsache mit der Nebensache, und als-
dann sind sie bejahende Sätze; als z. E. der Mond ist bewohnt.
Oder sie trennen eins von dem anderen, vermöge des Wörtchens
Nicht, und alsdann heissen sie verneinende Sätze; als wenn
ich sage: die Erde steht nicht stille. Hieraus ersieht man,
dass die Verneinung Nicht in einem Satze, die verknüpfende
Kraft des Verbindungsworts Ist aufheben und vernichten muss.
Und also sind nicht eben alle Sätze verneinend, darin ein Nicht
vorkommt. Wenn nämlich dasselbe zum Subjekte, oder zum
Prädikate gehöret, so bleibt der Satz bejahend z. E.: Die Seele
des Menschen ist nicht sterblich; das heisst: die Seele ist ein un-
sterbliches oder ewigdauemdes Wesen.**
Wir wählen diese Stelle, weil aus ihr hervorgeht, dass man
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BEITRAGE ZUR TEXTKRITIK DER KR. D. R. V.
141
die ,,Propositio infinita" erkannte, auch wenn das Prädikat „nicht
sterblich" getrennt geschrieben wurde. Es liegt auf der Hand,
dass der Satz, „die Seele ist nicht sterblich", je nach der Absicht
des Urteilenden auch der logischen Form nach wie als verneinendes,
so als unendliches Urteil angesehen werden kann. Wenn mich
jemand fragt: Ist die Seele sterblich? und ich antworte: Nein, die
Seele ist nicht sterblich, so ist das Urteil ein verneinendes.
Wenn aber ein Lehrbuch der Metaphysik, das den Begriff der
Seele bestimmen möchte, den Satz ausspricht: „die Seele ist
nicht sterblich", so liegt auf der Hand, dass es sich hierbei nicht
um eine Aufhebung der Copula ist, sondern um ein verneinendes
Prädikat handelt, wie auch in obigem Beispiel erläutert wird.
Und nun wollen wir wieder zum Kantischen Texte zurück-
kehren. Dort heisst es als Fortsetzung der oben entwickelten Ge-
danken: „Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich,
so hätte ich durch ein verneinendes Urteil wenigstens einen Irr-
tum abgehalten. Nun habe ich durch den Salz: die Seele ist
nicht sterbhch, zwar der logischen Form nach wirklich bejahet,
indem ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nicht-
sterbenden Wesen setze."
Wir wollen diese Äusserung interpretieren, und zwar unter
der Voraussetzung, dass der Text richtig ist. Kant würde mit
diesen Worten nur folgenden Gedanken ausdrücken können:
„Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich, so hätte
ich, wofern ich nur ein verneinendes Urteil aussprechen wollte,
wenigstens einen Irrtum abgehalten. Das aber war nicht meine
Absicht. Nun habe ich durch den Satz: die Seele ist nicht
sterblich zwar der logischen Form nach wirklich bejahet, indem
ich die Seele in den unbeschränkten Umfang der nichtsterbenden
Wesen setze." Und nun fährt er fort, zu zeigen, dass trotz dieser
logischen Bejahung nur eine Beschränkung der unendlichen Sphäre
möglicher Wesen beabsichtigt und bewirkt sei, so dass trotz der
Einteilung der Logiker, die nur bejahende und verneinende Urteile
aufzuzählen brauchen, die hierdurch (durch Einschränkung) aus-
geübte Funktion des Verstandes in dem Felde seiner reinen Er-
kenntnis a priori wichtig sein könne. Wie bekannt, lässt er dem
unendlichen Urteil die Kategorie der Limitation, die, wie das Ur-
teil Bejahung mit einem verneinenden Prädikat, Realität mit Nega-
tion verbindet, entsprechen.
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142
LUDWIG GOLDSCHMIDT.
Vielleicht achtet der Leser auf den Unterschied, den KAifr
hier zwischen Urteil und Satz macht. Der Satz lautet in der
Sprache beide Male übereinstimmend, das Urteil konnte aber denk-
barerweise verschieden beabsichtigt sein. „Wie viel man,* sagt
ein Kant sehr wohl bekannter Logiker seiner Zeit, „zur Copula
rechnen solle, das kommt in jedem Falle auf die Willkür und den
Zweck des Denkenden an.**
Nach diesen Ausführungen wird jedermann einsehen müssen,
dass die Korrektur der akademischen Ausgabe „die Seele ist
nichtsterblich* nicht bloss unberechtigt, sondern auch irre-
führend ist.
Es versteht sich von selbst, dass die Textkritik bei schwierigen
Stellen zunächst fragen muss: Welcher Gedanke kann dem Texte,
wie er vorliegt, innewohnen? In dem behandelten Falle aber lässt
sich sehr wohl ein Zweifel an der Korrektheit des Textes recht-
fertigen, und wir wollen zeigen, wie eine Korrektur ihn voll-
ständig zu ebnen vermöchte. Kant will an jener Stelle den Wert
oder Inhalt der logischen Bejahung vermittelst eines bloss ver-
neinenden Prädikats feststellen. Er würde also haben schreiben
können, wo er von allgemeinen Erörterungen zu einem Beispiel
übergeht: „Hätte ich von der Seele gesagt, sie ist nicht sterblich,
so hätte ich durch ein verneinendes Prädikat [oder Merkmal
anstatt: Urteil] wenigstens einen Irrtum abgehalten.* Und nun
fährt Kant fort, auseinanderzusetzen, was darüber hinaus durch
jenen Satz mit seinem verneinenden Prädikat, d. h. was mit dem
unendlichen Urteil in Ansehimg des Inhalts der Erkenntnis ge-
leistet wird.
Für diese Konjektur spricht folgendes. Man kann nämlich
mit Recht fragen: Wie kam Kant dazu, unvermittelt vom ver-
neinenden Urteil zu sprechen, da er doch nach der Einführung
vom unendlichen reden will? Die Stelle wird durch die Ver-
änderung wesentlich gebessert, indessen gibt der Text, wie er
vorliegt, ebenfalls einen guten Sinn. Die Veränderung der aka-
demischen Ausgabe aber ist ebenso unzutreffend, wie die Vor-
lAnders, der zweimal nichtsterblich druckt. Das letztere würde
überhaupt nur dann einen Sinn geben, wenn die von uns an
zweiter Stelle erörterte Korrektur zugleich bewirkt wäre. — Was
ferner die Möglichkeit dieser Korrektur angeht, so ist klar, dass
man von verneinenden Urteilen sowohl als von verneinenden Merk-
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BEITRÄGE ZUR TEXTKRITIK DER KR. D, R. V.
H3
malen sagen kann, dass durch sie unter Umständen wenigstens ein
Irrtum abgehalten werden kann.
In demselben Abschnitt der Kritik gibt die Redaktion der aka-
demischen Ausgaben noch zu weiteren Ausstellungen Anlass. Dieser
Abschnitt fängt mit den Worten an : ^Ebenso müssen in einer trans-
cendentalen Logik unendliche Urteile von bejahenden noch
unterschieden werden, wenn sie gleich in der allgemeinen Logik
jenen mit Recht beigezählt sind und kein besonderes Glied der
Einteilung ausmachen." Hier hätte man mit Recht das jenen
durch das Wort diesen ersetzen können, jedenfalls wäre ein
Hinweis am Platze gewesen, dass Kant das jenen auf bejahende
Urteile bezogen wissen will.
Von minderem Belang ist, dass die akademische Ausgabe
das Wort „Nichtsterbende" (S. 97 Z. 6 v. u.) nach der ersten
Ausgabe wieder in ,^Nichtsterbliche* verwandelt. Es ist ebenso
möglich, dass Kant diese Veränderung selbst vorgenommen hat,
als es geradezu wahrscheinlich ist, dass Kant S. 98 der zweiten Auf-
lage Z. I die Worte der ersten Auflage „in den übrigen Raum ihres
Umfangs" umstellt: „in dem übrigen Umfang ihres Raumes*. Auch
in diesem Falle hat die akademische Ausgabe völlig willkürlich
den Text der ersten Auflage wiederhergestellt.
Wir haben ims bei dieser Notiz auf einen kleinen Abschnitt
der Kritik beschränkt, der eine Seite des Buches um weniges
überschreitet. Von wohlmeinender Seite war uns der Vorhalt
gemacht, dass in unserer besonders erschienenen Schrift i) über
die akademische Ausgabe nicht vollständige Arbeit geliefert worden
sei. Aus den hier vorliegenden Bemerkungen aber lässt sich
schliessen, wie umfangreich eine solche vollständige Kritik hätte
werden müssen.
') Kants „Privatmeinungen" über das Jenseits und Die Kant- Ausgabe
der Königl. preuss. Akademie der Wissenschaften. Gotha 1905.
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144
TH, LINDEMANN,
H. Talnes Philosophie der Kunst.
Von Dr. H. Th. Lindemann.
Taines Philosophie der Kunst beginnt mit einer kurzen ein-
leitenden Darlegung der in einer Geschichte der Kunst und weiter-
hin auch in einer Philosophie der Kunst einzuschlagenden Methode.
„Der Ausgangspunkt dieser Methode*, sagt Taine, „besteht darin,
zu erkennen, dass ein Kunstwerk nicht isoliert ist, folglich das
Ganze zu suchen, wovon es abhängt.* Und da findet Taine:
I. Gehört das einzelne Kunstwerk zu dem Ganzen, was der
Künstler geschaffen hat. 2. Steht der Künstler nie allein, er ist
Glied einer Familie von Künstlern, die ihn umgeben. 3. Diese
Familie von Künstlern, und das ist die Hauptsache, ist eingefasst
von einem noch grösseren Ganzen, der umgebenden Welt. Um
also „ein Kunstwerk, einen Künstler, eine Gruppe von Künstlern
zu verstehen, muss man sich mit Genauigkeit den allgemeinen
Geistes- und Sittenzustand der Zeit, welcher sie angehören, ver-
gegenwärtigen. ** Wie die Pflanze von der Zone, der physischen
Temperatur abhängt, so erklärt sich das Kunstwerk aus seinem
Milieu, aus der geistigen Temperatur. Hat man nun durch das
Studium der Umgebung die verschiedenen Geisteszustände ge-
funden, welche Entstehung, Entwickelung, Blüte, Verschieden-
heiten, Niedergang der Kunst herbeiführen, hat man diese Unter-
suchung durch die verschiedenen Jahrhunderte, in den verschie-
denen Ländern und für die verschiedenen Kunstarten ausgeführt;
und ist man auf diese Weise dazu gelangt, „die Natur jeder Kunst
zu definieren und die Existenzbedingungen jeder Kunst festzu-
stellen, so hat man damit eine vollkommene Erklärung der schönen
Künste und der Kunst im allgemeinen, d. h. eine Philosophie der
schönen Künste; das ist das, was man Ästhetik nennt." Seine
Ästhetik, sagt Taine weiter, soll nicht dogmatisch sein, wie die
„alte" Ästhetik, welche freisprach, verdammte, ermahnte und
leitete; seine Ästhetik konstatiert nur und erklärt nur, weiter
nichts, oder, wie es auch heisst, sie gibt keine Vorschriften, son-
dern erklärt Gesetze. Hier schon müssen wir einige Einwände
erheben. Die Umgebung soll Taine über alles Aufschluss geben,
was für Geschichte und Philosophie der Kunst in Frage kommt.
Es muss zugegeben werden, dass das Milieu für die geschicht-
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H. TAINES PHILOSOPHIE DER KUNST.
145
liehe Erkenntnis ein wichtiges Moment bildet, wie man aber
aus dem Studium der Umgebung zu einer Philosophie der Kunst
gelangen, ja auch nur das Kunstwerk definieren soll, ist nicht ein-
zusehen. Ferner befindet sich Taine in einer Selbsttäuschung,
wenn er sagt, dass seine Ästhetik nur erklärt. Gesetze erklärt
sie; aber wenn sie etwas als Gesetz ausspricht, liegt darin nicht
eine Vorschrift? Wenn anders sie Wissenschaft sein soll, muss
sie induktiv und deduktiv zugleich sein.
Nach den methodischen Vorbemerkungen beginnt Taine den
ersten Teil seiner Philosophie der Kunst. Er handelt von der
Natur des Kunstwerkes. Was ist Kunst, und worin besteht ihre
Natur? Natürlich kann Taine nicht aus dem Milieu die Kunst
definieren. Um nun aber wenigstens äusserlich nicht mit seiner
Methode in Widerspruch zu geraten, hilft er sich in folgender
Weise. Aus dem Studium der Umgebung ergeben sich Tatsachen
und Gesetze. Die Tatsachen, auf die es hier ankommt, sind nun
die in den Museen und Bibliotheken nach Familien rangierten
Kunstwerke. Wie man nun durch Analyse eines Herbariums zu
dem Begriff der Pflanze gelangen kann, so erhält man durch die
Analyse der in den. Museen und Bibliotheken aufgespeicherten
Kunstwerke den Begriff der Kunst. Von den fünf grossen Künsten:
Dichtkunst, Skulptur, Malerei, Architektur und Musik lässt Taine
Architektur und Musik zunächst für die Untersuchung der Natur
des Kunstwerkes unberücksichtigt.
Dichtkunst, Skulptur und Malerei haben nun auf den ersten
Blick alle einen gemeinsamen Zug: sie sind „Künste der Nach-
ahmung". Das lehrt uns die Betrachtung der Kunstwerke un-
mittelbar; das lehren uns die Künste und Schulen, welche nieder-
gehen, sobald die Künstler aufhören, das lebende Modell zu
studieren. Hieraus könnte man folgern, Gegenstand der Kunst
wäre vollständige und genaue Nachahmung. Wäre das der Fall,
so wären die genauesten Nachahmungen die höchsten Kunstwerke.
Natürlich sind sie das nicht, was uns die Erfahrung lehrt. Also
ahmt die Kunst irgend etwas an einem Modell nach, aber nicht
alles. Was ist dieses etwas? Die Beziehungen und die wechsel-
seitigen Abhängigkeiten der Teile. Diese nennt Taine auch die
Logik eines Gegenstandes, und zwar kann diese Logik eine innere,
bei einem Charakter, oder eine äussere, bei einem Körper, sein.
Mit dieser Logik meint er nun nichts anderes, als dass die Körper
Zeitschritt t Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 197 lO
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146 TH, LINDEMANN.
und Charaktere den in der Wirklichkeit bestehenden Verhältnissen
entsprechen müssen. Dadurch, dass die Logik einer Sache wieder-
gegeben wird, steht die Kunst schon höher als die mechanische Nach-
ahmung, dadurch wird sie eine Sache der geistigen Tätigkeit, der
^intelligence**. Aber auch die Reproduktion der Beziehungen der
Teile genügt noch nicht zur Schaffung eines Kunstwerkes, „denn
die grössten Schulen sind gerade die, welche die wirklichen Be-
ziehungen am meisten verändern". Also: die Logik der Bezieh-
ungen ahmt man nach, die Beziehungen selbst ändert man, wie
z. B. besonders Michel Angeld, Rubens zeigen. Diese Beispiele
lassen erkennen, dass der Künstler, indem er die Beziehungen der
Teile modifiziert, dieses in demselben Sinne tut, mit Absicht, um
auf diese Weise einen gewissen wesentlichen Charakter des
Objektes und folglich die hauptsächliche Idee, die er sich davon
bildet, sinnenfällig zu machen. ^Dieser Charakter ist das, was die
Philosophen das Wesen der Dinge nennen; und deswegen sagen
sie, dass die Kunst den Zweck hat, das Wesen der Dinge zu offen-
baren. Wir werden das Wort , Wesen* (essence), welches ein
technischer Ausdruck ist, beiseite lassen ....*' Wir sehen, es
fehlt nicht viel, und wir sind bei den Ideen Platos angelangt.
Ein wesentlicher Charakter ist nun eine solche Eigenschaft, von
der alle anderen, oder wenigstens viele anderen nach festem Zu-
sammenhang herkommen. Der wesentliche Charakter eines Löwen
ist, dass er zu den grossen Fleischfressern gehört, der wesentliche
Charakter der Niederlande ist, dass sie aus Schwemmland be-
stehen. Um nun einen wesentlichen Charakter möglichst zum
Beherrscher zu machen, deshalb beschneidet der Künstler die
Züge, welche ihn verbergen, wählt die, welche ihn offenbar
machen, verbessert die, in denen er verändert ist, stellt die wieder
her, in denen er aufgehoben ist. Auch das Wesen des Künstlers
entspricht dieser Definition, Ein Charakter des Objekts macht
einen starken und reinen Eindruck auf ihn; seine ganze Denk-
und Nervenmaschine erhält durch die Gegenwirkung eine Er-
schüttenmg, und unwillkürlich drückt er seinen inneren Eindruck
aus. Nun hat Taine alles für seine Definition der Kunstwerke
gewonnen. Das Resultat zusammenfassend, sagt er: „Das Kunst-
werk hat zum Zweck, irgend einen wesentlichen oder hervor-
springenden Charakter darzustellen, folglich eine bedeutende Idee,
klarer und vollkommener als es die wirklichen Gegenstände tun.
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H, TAINES PHILOSOPHIE DER KUNST. 147
Es gelangt dazu durch ein Ganzes verbundener Teile, deren Be-
ziehungen es systematisch modifiziert. In den drei Künsten der
Nachahmung, Skulptur, Malerei und Dichtkunst entspricht dieses
Ganze wirklichen Gegenständen."
Wenn wir uns nun zunächst nicht damit aufhalten, was wir in
Taines Definition vermissen, sondern das Vorliegende betrachten,
so sehen wir leicht ein, zu welcher unheilvollen Konsequenz seine
Definition führt. Die Forderung, das Wesentliche, die Idee in der
Kunst möglichst zum Beherrscher zu machen, lässt sich nämlich,
ohne ihr grossen Zwang anzutun, als eine Unterdrückung des In-
dividuellen und als eine Bevorzugung fleischloser Typen auslegen.
Diese Folgerung hat der Franzose Eug. Veron bereits mit uner-
bittlicher Schärfe gezogen i). Er bemerkt, dass, wenn es die Auf-
gabe der Kunst wäre, das Wesen der Dinge, ihre einzige und be-
herrschende Qualität zu enthüllen, die grössten Künstler diejenigen
wären, denen die Aufdeckung dieses Wesens am besten gelungen
wäre . . . ., und die grössten Werke diejenigen, die einander am
ähnlichsten wären. Ja, man müsste in den Werken wahrer Kunst
geradezu eine Identität finden, während doch in Wirklichkeit
gerade das Gegenteil der Fall sei.***)
Es fragt sich nun, wie sich die anderen Künste zu Taines
Definition stellen? In dieser Frage liegt zugleich eine Erklärung
für all das Schiefe, was Taine jetzt vorbringt. Denn offenbar ist
seine Definition nur den drei Künsten der „Nachahmung" ent-
nommen und muss jetzt mit den beiden übrigen Künsten, Archi-
tektur und Musik, in Einklang gebracht werden. Seine Forderung,
es müsse von der aus den Kunstwerken geschöpften Erfahrung
ausgegangen werden, erfüllt Taine somit selbst nur teilweise. Zu-
nächst erfahren wir nun, dass seine Definition in zwei Teile zer-
fällt, von denen der eine wesentlich, der andere nebensächlich
(accessoire) ist. „In jeder Kunst muss ein Ganzes verknüpfter
Teile vorhanden sein, welche der Künstler derart ändert, dass er
einen Charakter ausdrückt; aber es ist nicht nötig, dass dieses
Ganze wirklichen Objekten entspricht, es genügt, dass es existiert."
*) Eug. Veron, L'esth^tique, 2. Auflage, Paris 1883.
') Zitiert nach Benedetto Croce „Ästhetik als Wissenschaft des Aus-
drucks", Teil n, Geschichte der Ästhetik, S. 397—398. Daselbst auch weitere
Bemerkungen über V6ron. Leipzig, E. A. Seemann, 1905. Deutsch von Karl
Federn.
10'
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148 TH, LINDEMANN,
Hier sind wir mitten in der Deduktion, jedoch in einer unzulässigen.
Denn woher, fragen wir, wissen wir das? Unsere Definition, die
doch ganz allein von wirklichen Objekten ausgegangen ist, kann
uns das doch unmöglich lehren. Weiter heisst es dann: „Also
wenn man einem Ganzen verbundener Teile begegnen kann, die
nicht wirklichen Objekten nachgeahmt sind, so wird es Künste
geben, die nicht die Nachahmung zum Ausgangspunkt haben.''
Diese Schlussfolgerung schliesst aus einer Definition, welche drei
Kunstarten entnommen ist, auf das Vorhandensein von anderen
Kunstarten.
Sehen wir nun von diesem Übergang zur Architektur und
Musik durch eine zwangsmässige Erweiterung der vorher ge-
gebenen Definition ab, dann fragt es sich weiter: wie passt nun
diese, solchergestalt erweiterte Definition auf die Architektur und
Musik? Die Beziehungen, auf die sich diese Künste aufbauen,
sind für Taine mathematische Beziehungen. Diese können ein-
mal durch den Gesichtssinn perzipiert werden; das geschieht bei
der Architektur. Geometrische Formen, einfache, durchs Auge
leicht ergreifbare Proportionen xmd symmetrische Beziehungen
machen nun das Ganze verbundener Teile aus, worauf sich die
Architektur auibaut. Der Architekt hat diesen oder jenen herrschen-
den Charakter, z. B. die Heiterkeit, Einfachheit, Kraft erfasst und
nun wählt und kombiniert er diese Grössen, um den Charakter
auszudrücken. Hier macht sich nun ganz besonders ein anderer
Mangel der Definition Taines bemerkbar, nämlich die gänzliche
Ausserachtlassung der ästhetischen Anschauung. Dieser Fehler,
dessen Beleuchtung wir uns bis hierher aufgespart haben, hatte
sich noch nicht so augenfällig gerächt bei der Definition der drei
„nachahmenden" Künste. Die wirklichen Objekte, die den Gegen-
stand (besser: Ausgangspunkt) dieser drei Künste bilden, erregen
unter Umständen unmittelbar unser ästhetisches Interesse, aber
bei der Architektur sind uns die Objekte und ihre Formverhält-
nisse an sich gleichgültig. Wie können diese nun Kunstwerke
werden? Wie kann der Architekt durch sie ästhetisch wirken?
Die Architekturformen sind die physischen Objektivierungen der
durch innere Anschauung aus Eindrücken gewonnenen Ausdrücke
des Architekturkünstlers. Die Architekturformen sind seine äussere
ästhetische Sprache. Zuerst also, xmd so ist es bei jeder Kunst,
formt sich der Künstler in seine Anschauung aus einem äusseren
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H, TAINES PHILOSOPHIE DER KUNST.
149
Eindruck einen Ausdruck, ein Ideal. Hier liegt der Kardinalpunkt
des ästhetischen Vorganges. Dann erst erfolgt, worauf Taine das
Gewicht legt; dann erst geht der Künstler daran, einen Gegen-
stand, ein Modell seinen Zwecken gemäss umzugestalten. Denn,
wie Croce sagt, „der Künstler macht keinen Pinselstrich, den er
nicht vorher in seiner Phantasie gesehen".^) Und warum sind die
architektonischen, ebenso wie die plastischen, malerischen und
dichterischen Schöpfungen für uns Kunstwerke? Sie erregen Ein-
drücke in uns, die wir in der Anschauung, in der anschaulichen,
phantasiemässigen (im Gegensatz zur logischen) Erkenntnis zu
inneren ästhetischen Ausdrücken fortbilden. In Taines Aus-
führungen bleibt gänzlich unverständlich, wieso die Architektur
zur Kunst gehört. Die mathematischen Beziehungen werden direkt
gleich der Summe der für die Ästhetik in Betracht kommenden
Architekturformen gesetzt. Aber ihre ästhetische Bedeutung er-
halten diese Formen erst dadurch, dass wir mittels der Anschau-
ung, mittels der schöpferischen Phantasie Inhalte in sie hinein-
legen, d. h. sie in uns zu einem Ausdruck weiterformen. Erst
diese Vorgänge sind ästhetisch und präzisieren das, was sowohl
bei den drei Künsten der „ Nachahmung **, wie Taine sie ober-
flächlich genug nennt, wie bei jeder Kunst die ästhetische Tätig-
keit ausmacht.
Wir kommen zur Musik, diesem Prüfstein der Ästhetiker.
Die mathematischen Beziehungen der Musik nun, welche durch
das Gehör perzipiert werden, sind für Taine die Schnelligkeiten
der Schwingungen eines Tones. Da diese Schwingungen Grössen
sind, können sie auch ein Ganzes nach mathematischen Gesetzen
verbundener Teile bilden, i. Stellt die Gleichheit der Schwin-
gungsgeschwindigkeiten eines musikalischen Tones eine mathema-
tische Beziehung für die Schwingungen her. 2. Haben mehrere
Bei dieser und allen weiteren Stellungnahmen zu den ästhetischen
Problemen schliessen wir uns eng an Croces Ästhetik (a. a. O.) an,
besonders an Teil I: „Die Ästhetik als Wissenschaft des Ausdrucks und all-
gemeine Linguistik*. 145 S. Croces Ästhetik ist unseres Erachtens eine
geniale und ungemein glückliche Schöpfung, da sie eine überraschende Fülle
von Licht in die verwickeltesten ästhetischen Probleme bringt. — Unter Ein-
drücken als Ausgangspunkten des inneren Ausdruckes haben wir natürlich
nicht organische, sondern, wie Croce sie nennt, geistig-organische Eindrücke,
d. h. solche, welche von geistigen Vorgängen begleitet sind, zu verstehen.
Ästh., Teil I, S. 73-74.
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I50
r//. LINDEMANN.
Töne eine mathematische Beziehung untereinander, indem der
eine von zwei Tönen, zwei-, drei- oder viermal schneller schwingt
als der erste. Wenn man nun in der Architektur wenigstens von
sinnenfälligen mathematischen Beziehungen sprechen kann, welche
den Ausgangspunkt für die ästhetische Betrachtungsweise bilden,
ist es für die Musik als Kunst ganz und gar gleichgültig, dass
die Töne auf mathematischen Schwingungen beruhen, Schwin-
gungen, die bei denselben Tönen gleich sind und bei den ver-
schiedenen Tönen durch das Verhältnis der ganzen Zahlen sich
unterscheiden. Selber fühlend, dass das Ganze nach mathema-
tischen Gesetzen verbundener Teile das Wesen der Musik noch
nicht erklärt, abstrahiert Taine nunmehr von dem mathematischen
Charakter der Töne und stützt sich lediglich darauf, dass in der
Musik verbundene Teile vorkommen, womit er nunmehr plötz-
lich nicht mehr die Schwingungen meint. „Die successiv verbun-
denen Töne ergeben die Melodie, die gleichzeitig verbundenen die
Harmonie." Hier, bei den successiv verbundenen Tönen, d. h.
dem Rhythmus, wäre der Ort gewesen, von mathematischen Be-
ziehungen zu reden. Denn diese und nur diese Beziehungen er-
regen einen ästhetischen Eindruck in uns. Sie sind demnach bei
der Beurteilung der Musik als Kunstgattung unentbehrlich, während
die mathematischen Beziehungen der Tonschwingungen nur den
Physiker interessieren. Nachdem Taine sich mit Hilfe seiner
Definition so weit mühsam durchgequält hat, steht er immer noch
vor der Frage, welches ist die Natur der Musik als Kunstgattung?
Hier endlich entschliesst sich Taine, seine Definition für einen
Augenblick aufzugeben und ohne Umschweife etwas für die Be-
antwortung dieser Frage ungemein Wichtiges zu sagen. Es
lautet: Die Musik hat ein zweites Prinzip; der Ton drückt, analog
dem Schrei, die Affekte, die Leidenschaften, die Gärungen und
Erregungen des lebenden Wesens bis in die feinsten Nuancen
direkt aus. Nur Affekte? Nur Leidenschaften? Nein, das gesamte
Reich der Eindrücke kann für das musikalische Genie wie für
jedes andere Gegenstand der ästhetischen Anschauung sein. Sie
alle kann es innerlich, und, wenn es will, auch äusserlich (durch
das physische Mittel der Töne) musikalisch ausdrücken. Es ist
nun interessant zu sehen, wie Taine, sogleich nachdem er die
Ausdrucksfähigkeit der Töne erwähnt hat, wieder in seine Defi-
nition schlüpft. Und zwar kommt abermals der Stelzfuss der
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H. T AINES PHILOSOPHIE DER KUNST.
J51
verbundenen Teile zum Vorschein. Die Affekte nennt Taine
geistige Verbindungen, aus denen und den mathematischen der
Künstler nach Belieben wählen kann, um einen bedeutenden
Charakter darzustellen! Hiemach gibt es für Tmne sogar zwei
Sorten von Musik: Die ausdrucksvolle, diejenige Glucks und der
Deutschen, welche auf den geistigen Verbindungen beruht, und
im Gegensatz dazu die singende, diejenige Rossinis und der
Italiener, welche demnach wohl auf den mathematischen Ver-
bindungen beruht. Anders lässt sich wenigstens diese Einteilung
nicht auffassen. Somit sind auch Taines Bemühungen, die Natur
des musikalischen Kunstwerks zu definieren, abgesehen von dem
Hinweis auf die Affekte, als gescheitert zu betrachten.
Nachdem Taine nunmehr die Hauptkünste durchwandert
hat, schliesst er mit einer Hervorhebxmg der Bedeutung der Kunst
für das Leben. Dadurch steht für Taine die Kunst über der
Wissenschaft, dass sie die wenigen und erzeugenden Ursachen,
die Grundgesetze nicht wie diese in exakten Formeln und ab-
strakten Ausdrücken auslöst, die der Menge unzulänglich und
nur einigen besonderen Menschen verständlich sind, sondern, dass
sie diese auf eine sinnenfällige Art, und nicht nur sich an die
Vernunft, sondern an die Sinne und an das Herz des gewöhn-
lichsten Menschen wendend, darstellt. Das ist das Besondere der
Kunst, dass sie zugleich etwas Höheres und etwas Populäres ist,
dass sie darstellt, was das Höchste ist, und dass sie es allen dar-
stellt. Wir sehen schon hier Taines Neigung, die Kunst prak-
tischen und pädagogischen Zwecken dienstbar zu machen, eine
Neigung, die in seiner zweiten kunstphilosophischen Schrift
„Vom Ideal in der Kunst** in einen glatten Moralismus ausartet.
Als Ganzes betrachtet ist nun Taines Definition ein Erbteil
der alten Metaphysiker, insbesondere Hegels. Auch im einzelnen
finden wir verschiedene Anklänge an Hegel, den Taine hier, wo
er seine naturwissenschaftliche Methode einführen, wo er eine
soziologische Ästhetik schaffen will, jedoch nirgends anführt. So
folgt er Hegfx in der Wahl des Titels „Philosophie der Kunst",
den schon Hegel, freilich nur theoretisch, dem Titel „Ästhetik"
vorgezogen hatte, i) Wörtlich fast spricht Hegel aus ihm in dem
Räsonnement über die Nachahmung, wodurch Taine seine Defi-
*) Hegel, Ästhetik, Berlin 1835, Bd. I, Einleitung, S. 3.
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152
r//. LINDEMANN.
nition gewinnt, i) Die Erwähnung des Gesichtssinnes (bei der
Architektur) und des Gehörssinnes (bei der Musik), erinnert
ebenfalls an die Metaphysiker, welche diesen Sinnen besondere
ästhetische Qualitäten zuwiesen. Die beiden einzigen Äusserungen
Taines über die künstlerische Tätigkeit, welche wir oben ver-
zeichnet haben, 2) zeigen femer, dass Taine, gleich vielen Ästhe-
tikern vor ihm — wir brauchen nur Kant zu nennen — das
Wesen der künstlerischen Tätigkeit als intuitive, anschauende, in
der Phantasie beruhende, Ausdruck gebende Erkenntnis, welche
allein bei der künstlerischen Produktion tätig ist, nicht klar er-
kannt hat. Vielmehr lassen sowohl diese Äusserungen wie auch
seine aus lauter Abstraktionen gewonnene Definition vermuten,
dass die künstlerische Tätigkeit für ihn auf einer Art intellektueller,
also logischer Erkenntnis beruht.
Die zweite Hauptfrage, welche Taine sich in seiner Philo-
sophie der Kunst stellt, lautet: Wie wird das Kunstwerk hervor-
gebracht? Beileibe nun nicht etwa durch die künstlerische Tätig-
keit, sondern, wie Taine prompt zur Antwort gibt, durch das
Milieu. Jetzt, wo Taine mit geschäftigem Eifer für seine Milieu-
theorie Propaganda machen kann, jetzt fühlt er sich wohl, jetzt
fühlt er sich zu Hause. Jetzt ist er auch bei dem Hauptpunkte
seiner Philosophie der Kunst. Schon in der Einleitung Hess er es
durchblicken, dass ihm die Erklärung des Kunstwerks aus der
Umgebung als das Wichtigste seiner Ästhetik erschien. Die
Definition der Kunst Hess sich dabei leider nicht übergehen ; aber
sie war ihm offenbar nur ein Durchgangsstadium, das er nur
widerwillig betrat und möglichst schnell hinter sich zu lassen
suchte. Wir aber, die Taines Philosophie interessierte, können
ihm hier nicht mehr folgen. Taines MiHeutheorie hat nichts mit
der Philosophie der Kunst zu tun. Sie gehört in eine Methodik
der Geschichtschreibung, in der ihr zweifeUos ein hervorragender
Platz gebührt. Immerhin interessiert uns noch die Frage, wie
Taine dazu gekommen ist, hier noch von Philosophie zu sprechen?
Verführt ist er dazu offenbar durch die Naturwissenschaften.
Er befindet sich in dem Irrtum, dass er das Aufstellen natur-
wissenschaftlicher Gesetze für Philosophieren hält. Seine Sozio-
logie aber ist keine besondere philosophische Disziplin; seine
*) Man vergleiche hierzu Hegels Ästhetik, Bd. I, S. 39, 55—61, 200—214.
') S. 5 und 6 [des Manuskripts].
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H. TAINES PHILOSOPHIE DRR KUNST. 153
soziologische Ästhetik ist überhaupt keine Ästhetik mehr, sondern
ein willkürliches Zusammentragen und Ausbeuten individueller
Tatsachen, um sie der Milieutheorie dienstbar zu machen.
Das einzige, was ausser der Definition der Kunst in Taines
zweibändiger Philosophie der Kunst noch den Anspruch auf den
Titel Philosophie machen kann, ist ihr letzter Abschnitt: „Vom
Ideal in der Kunst'^ Was dazwischen liegt, sind kunsthistorische
Abhandlungen. 1) Mit dem letzten Stück ,,Vom Ideal in der
Kunst*" kehrt Taine jedoch zur Philosophie zurück und stellt die
Frage: Gibt es ein höchstes Erreichbares in der Kunst, und
welches ist dieses Ideal? Hier nun entfernt sich Taine bedauer-
licherweise noch mehr von seinem etwas pomphaft verkündeten
Liberalismus, der nicht freisprechen und verurteilen, also jedem
seinen Geschmack lassen wollte. Denn: um das Ideal zu er-
reichen, müssen die Kunstwerke drei Forderungen erfüllen. Es
gibt für sie eine dreifache Wertskala. Wieder eine Erbschaft
Hegels und der Metaphysiker: die Kunstwerke werden nach
dem Grade ihrer Werte klassifiziert. Die drei Forderungen
Taines sind folgende: i. der dargestellte Charakter muss ein
hervorragender sein; 2. der dargestellte Charakter muss ein
wohltuender sein; 3. die Wirkungen müssen zusammenstimmen.
Je hervorragender, wohltuender und einheitlicher in den Wirkungen
ein Kunstwerk ist, desto grösser ist sein Grad der Vollkommen-
heit, desto näher ist es dem Ideal.
Mit der ersten Bedingung gibt Taine uns nur eine weitere
Ausführung der Forderung seiner Definition. Aus der Natur
gewinnt er für den Begriff „hervorragend'* zwei nähere Be-
deutimgen : elementar und beständig, die wechselseitig voneinander
abhängen. Je elementarer ein Charakter bei einer Gruppe von
Tieren und Pflanzen auftritt, desto allgemeiner zeigt er sich, desto
*) Die Chronologie von Taines kunstphilosophischen und kunst-
historischen Schriften ist folgende: Philosophie de l'art: 1865 (Teil I von der
Natur, Teil II von der Hervorbringung des Kunstwerks); Philosophie de Tart
en Italie: 1866; De l'id^al dans l'art: 1867; Phil, de Tart dans les Pays-Bas:
1868; Phil, de Tart en Grece: 1869. Im Jahre 1881 ist dann dieses alles in
zwei Bänden unter dem gemeinsamen Titel: Philosophie de l'art vereinigt
worden. Dabei Hess Taine die unmöglichen Titel: Phil, de l'art en Italie etc.
fort, nannte die einzelnen kunsthistorischen Abhandlungen also wenigstens
beim Namen, z. B. : La peinture de la renaissance en Italie, und setzte die
Schrift De Tid^al dans l'art ans Ende.
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154
TH, LINDEMANN.
widerstandsfähiger ist er gegenüber zerstörenden Einwirkungen.
In diesem Sinne müssen die Kunstwerke möglichst hervorragend
sein. Die beständigsten Charaktere sind in der Geschichte des
Menschen wie in der Naturgeschichte die elementarsten, intimsten
und allgemeinsten. Diese elementaren Mächte sind das Prinzip
der Natur imd zeigen uns die Verwandtschaft der Kunst mit der
Wissenschaft (!). Kunst und Natur sind nach Taine also ver-
wandt, da in beiden elementare Charaktere vorkommen. Etwas
Trivialeres kann kaum ausgesprochen werden. Denn, gibt es
überhaupt irgend etwas in der Erfahrungswelt, bei dem wir nicht
diese abstrahierende Reduktion auf einen elementaren Charakter
vornehmen können? Was die Brauchbarkeit dieser ersten Wert-
skala selber anlangt, haben wir nur nötig, auf die Kritik Verons
hinzuweisen.
Auch das zweite Wertprinzip für die Kunstwerke darf sich
beileibe nicht als ein dogmatisches geben, obgleich es im Grunde
nichts anderes ist, sondern muss tant bien que mal aus der Ana-
logie mit der Natur gewonnen werden. Es gibt eine zweite Wert-
skala in der Natur: „Die Charaktere ordnen sich hier, je nachdem
sie uns mehr oder weniger nützlich oder schädlich sind". Oder
beim Menschen: „Alle Charaktere des Willens und Verstandes,
welche dem Menschen im Handeln und in der Erkenntnis helfen,
sind wohltuend, imd die entgegengesetzten schädlich**. Wir
sehen, auf welche Irrpfade Taine hier in seinem Streben, mit den
wesentlichen Charakteren, welche er in seiner Definition als
Gegenstand der Kunst proklamiert hat, nicht in Widerspruch zu
kommen, gerät. Er, der sich so stolz zu den Naturwissenschaften
bekennt, redet von nützlichen und schädlichen Charakteren in der
Natur. Und was bedeutet dies, auf die Kunst übertragen? Nichts
weniger als einen niedrigen Moralismus, wie denn überhaupt
Taines Wertuntersuchungen bald moralischer, bald metaphysischer
Natur sind, wie Croce in seiner Kritik der Ästhetik Taines be-
merkt. ^) Eine ganz verstiegene Schlussbemerkimg soll die Einheit
der ersten beiden Wertgrade wiederherstellen. „Die Bedeutung
und die Wohltätigkeit sind zwei Seiten einer einzigen Qualität,
der Kraft, bald in ihren Beziehungen nach aussen, bald in ihren
Beziehungen auf sich selbst betrachtet. Im ersten Falle ist sie
*) Teil U, Geschichte der Ästhetik, S. 378—381.
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H. TAINES PHILOSOPHIE DER KUNST. 155
mehr oder weniger bedeutend, je nachdem sie mehr oder weniger
grossen Kräften widersteht. Im zweiten Falle ist sie schädlich
oder wohltätig, je nachdem sie auf ihre eigne Schwäche oder ihr
eignes Anwachsen abzielt Diese beiden Gesichtspunkte sind die
höchsten, unter denen man die Natur betrachten kann; denn sie
richten unsre Augen bald auf ihr Wesen, bald auf ihren Zweck."
Erst die dritte Wertskala, welche Taine aufstellt, scheint
unsere Zustimmmung finden zu können. „Der Wert der Kunst-
werke richtet sich nach dem Grad der Übereinstimmung der
Wirkungen. ** „Alle Teile des Kunstwerks müssen dazu beitragen,
die Charaktere zu offenbaren.*' Hier kommt Taine somit auf die
Form des Kunstwerks zu sprechen, wobei er unter Form die
physischen Ausdrucksmittel des Künstlers versteht, denen gegen-
über die Charaktere, das Wesen der Dinge für Taine der In-
halt ist „Nachdem wir", so beginnt Taine die Aufstellung seiner
dritten Skala, „die Charaktere an sich betrachtet haben, bleibt
uns noch übrig, sie zu prüfen, wenn sie sich ins Kunstwerk über-
tragen**. Abgesehen davon, dass ;Taine das Problem des Ver-
hältnisses von Inhalt xmd Form überhaupt nicht streift, so wirkt
es doch peinlich zu sehen, wie äusserlich er hier Inhalt und
Form verknüpft oder, man könnte auch sagen — voneinander
loslöst. Wie leicht hätte ihn schon seine Defmition dahin führen
können, das Formproblem tiefer zu fassen. Denn wie kann man
einen Charakter, wie Taine will, zum hervorragenden, beherrschen-
den, allgemeinen machen, wenn nicht durch eine Tätygkeit, die
man schon Formen nennen muss? Für uns, denen mit Croce
das gesamte Reich der individuellen Eindrücke Ausgangspunkt
der ästhetischen Tätigkeit ist, bedeutet Formen schon das erste
Ordnen der Eindrücke, weiterhin das Bilden des inneren Aus-
drucks von einem Eindruck und schliesslich als ein Mitbestandteil
seine physische Objektivierang. Der gesamte ästhetische Vorgang
ist demnach Formen und nichts als Formen.^)
Werfen wir nun noch einen kurzen Rückblick auf den ganzen
mit Taine zurückgelegten Weg, so müssen wir sagen: Taines
Versuch einer Definition der Kunst ist als misslungen zu be-
zeichnen und mit Recht von der Kritik zurückgewiesen. Seine
Milieutheorie gehört nicht in die Ästhetik. Ein Grundirrtum ist
») Teil l, S. 16—17, S. 25-26.
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156
E, DUTOIT.
es femer, Wertskalen für die Kunstwerke aufzustellen. Nur eins
entscheidet, worauf Taine in seiner dritten Skala, freilich in nur
äusserlicher Weise hindeutet: die Vollkommenheit eines Kunst-
werkes an sich, d. h. der vollständige, gelungene Ausdruck eines
Eindrucks.
Bericht über die Erscheinungen
der französischen philosophischen
Literatur Im Jahre 1902.
Bovet. — Schoen. — Lagr^süle. — Jaures. — Rib^ry. — Bourdon.
Von Dr. B. Dutoit.
Unter den im Jahre 1902 erschienenen Werken sei zunächst
Pierre Bovets Buch über Le Dieu de Platon d'aprds Tordre
chronologique des dialogues (i vol in 12 184 p. Gendve, Kündig,
1902) erwähnt. Wenn der Verfasser es wagt, den vielen histo-
risch kritischen Versuchen über die platonischen Dialoge noch
einen weiteren hinzuzufügen, so hofft er damit eine Bereicherung,
etwas wirklich Neues zu erbringen. Er stützt sich bei seiner Unter-
suchung auf die von Lutoslawski eingeführte, stylometrische Me-
thode und nimmt für die Entstehung und Abfassung der Dialoge
einen Zeitraum von etwa 50 Jahren an. Zwischen denjenigen der
sokratischen Periode und den später entstandenen konstatiert er
nicht zu verkennende Abweichungen in der Formulierung der
Seelenlehre und des GottesbegrifTes — mit anderen Worten, deut-
liche Spuren einer Evolution. Darauf gründet sich seine Beweis-
führung.
Bis jetzt wurde von den meisten Kommentatoren angenommen,
die Idee des Guten sei identisch mit Gott. Dies wird vom Ver-
fasser aufs entschiedenste bestritten, indem er durch sorgfältige
Textkritik beweist, dass keine einzige Stelle der die Ideenlehre
enthaltenden Dialoge — Kratylus, Gastmahl, Phädo, Republik,
Phädrus — uns berechtigt, von einem GottesbegrifT zu sprechen;
auch ist, rein logisch gesprochen, für denselben kein Raum, weder
über, noch unter, noch ausser den Ideen. Sollte Plato den
GottesbegrifT gar nicht in die Ideenlehre aufgenommen haben,
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZOS. USW. 157
weil er zwischen Religion und Philosophie eine reinliche Schei-
dung aufrechthalten wollte? Oder weil er den daraus ent-
stehenden Konflikt zu vermeiden wünschte? Der Gedanke liegt
uns modern denkenden Menschen nahe genug, nicht aber einem
Griechen des IV. Jahrhunderts; sicher dachte Plato ebensowenig
an die Möglichkeit eines Konfliktes, als an die S3mthese der beiden
Disziplinen; warum sollte diese Identifizierung mit dem Gottes-
begriff' in der Konsequenz der platonischen Ideenlehre liegen,
mehr als z. B. in derjenigen der pythagoräischen Zahlenlehre
oder der Lehre vom Wasser, vom Feuer, vom Unbegrenzten der
alten Jonier?
Wenn je und je das Wort „Gott" in den früheren Dialogen
vorkommt, dann ist es höchstens als Metapher, nie als Äqui-
valent des Begriffs gebraucht. Anders jedoch in den späteren
Dialogen (nach Lutoslawski: Timäus, Gesetze, Kritias, Sophist,
Politikus, Philebus), die in dieser Beziehung deutlich eine Wand-
lung zeigen. An Stelle der Idee als vollkommene Substanz tritt
die Idee als vollkommener Begriff*, und die Seele wird Sitz und
Ursprung dieses Begriffes. Das Bedürfnis, den Begriff", der in der
Seele des Philosophen nur im Zustand ewigen Werdens möglich
ist, in absoluter Vollkommenheit zu postulieren, führt Plato zu
der Annahme einer vollkommenen Weltseele = Gott. Von da
bis zur Gleichsetzung desselben mit dem Grund alles Geschehens,
mit dem Schöpfer des Universums, war nur ein Schritt, und zwar
einer, der in der Konsequenz des platonischen Systems lag und
der ebenso wie der Übergang von der Vielheit der griechischen
Götterwelt zum philosophischen Monotheismus für Platos Denken
durchaus natürlich war. Ejf yerlässt die noch in der Republik und
im Phädrus postulierte Tripartität der Seele, um in den letzten
Dialogen ihre Göttlichkeit zu betonen und geht, trotz einiger
Schwankungen — so die von Bovet selbst p. 157 zitierte Stelle
im Timäus, wo von drei Göttern die Rede ist — allmählig zum
Begriff* des höchsten Gottes, und sogar von der Immanenz
zur Transzendenz über.
Es wäre ein leichtes gewesen, das Denken und Suchen des
modernen Menschen in bezug auf eine Versöhnung von Glauben
und Wissen in Plato hinein zu projizieren, und es kann dem Ver-
fasser nur zur Ehre gereichen, dass er anstatt des pikanten Essais
eine streng wissenschaftliche, auf Textkritik gegründete Arbeit ge-
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158
E, DUTOIT.
liefert hat und dieselbe nicht mit der blendenden aber unver-
ständlichen und im Grunde nichtssagenden Synthesis Fouillees
schliesst (cit. p. 174), sondern mit den einfachen, seiner Über-
zeugung entsprechenden Worten: „der Gott Platos ist ein
realer, individueller und persönlicher Gott; er ist eine vollkommene
Seele."
Als ein kritischer Versuch muss ferner die Abhandlung über
„La M6taphysiq'.ue de Hermann Lotze, ou la philosophie des
actions et des reactions r^ciproques par Henri Schoen*' (i vol. in.
8® 291 p. Paris, Fischbacher, 1902), angesehen werden. Sie ist auf
etwas zu breiter Basis angelegt: ein Überblick über die Entwicke-
lung der deutschen Philosophie seit Kant, eine Charakterisierung
der verschiedenen philosophischen Strömungen beim Erscheinen
des „Mikrokosmus", eine ausführliche Biographie und Bibliographie
LoTZEs, endlich eine Zusammenstellung der Urteile seiner Zeit-
genossen in deutscher und fremder Zunge — gehen der eigent-
lichen philosophischen Untersuchung voran. Lotzes Stellung zu
Herbart und besonders zu Kant wird richtig erkannt und
scharf gezeichnet; das Pikante daran, — nämlich dass Lotze, der
sich bewusst in Gegensatz zu Kant stellt, eigentlich so denkt imd
argumentiert, und manche Seite des Kritizismus so ausbaut, wie
Kant selbst es im 19. Jahrhundert den Angriffen seiner Feinde
und den Missverständnissen seiner Jünger gegenüber wohl getan
hätte — ist geschickt herausgearbeitet. Lotze war der Ansicht,
dass nicht mehr die idealistische Seite des Kritizismus —
dessen Triumph so verhängnisvoll geworden war — , sondern
die ebenfalls darin enthaltenen Keime des Realismus hervorge-
hoben werden müssten. So z. B. in dem Problem der Idealität
von Raum und Zeit. Was für Kant blosse Anschauungsform war
und daher in die Sackgasse des extremen Subjektivismus geführt
hatte, das wird bei Lotze zum Ausgangspunkt neuer fruchtbarer
Gedankengänge: der Raum- und Zeitbegriff ist uns nicht gegeben,
— inn6, wohl aber die Fähigkeit, auf das Nebeneinander im Raum
und das Nacheinander in der Zeit in einer Weise zu reagieren,
die zu diesen abstrahierten Begriffen führt. Aber diese Abstrak-
tion entspricht Zug für Zug einem „Etwas" in der Erscheinungs-
welt. Raum und Zeit besitzen zwar keine objektive Realität, ent-
sprechen aber einem Realen im Ding an sich. Es handelt sich
also, hier wie überall der Erscheinungswelt gegenüber, um eine
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZÖS. USW. 159
Wechselwirkung von Subjekt und Objekt und diese ist das
charakteristische Prinzip von Lotzes Metaphysik. Einige der
Schwierigkeiten des Kantschen Systems werden dadurch gehoben,
andere dagegen noch verschärft. Die Methode der Wechselwir-
kung ist an sich zweifellos eine fruchtbare; stellt man sich doch
mit der Ansicht, dass nur die Beziehungen der Dinge zu uns,
nicht aber die Dinge selbst erkannt werden können, auf den
sicheren Boden der Erfahrung. Aber damit nicht zufrieden, geht
LoTZE einen Schritt weiter und ersetzt Seinsurteile durch Wert-
urteile, denen er wissenschaftliche Gültigkeit beimisst, ohne zu be-
gründen, woher denselben Notwendigkeit und Evidenz für andere
erwachsen soll! In seiner Erkenntnistheorie geht Lotze ebenfalls
von der Wechselwirkung aus und bestreitet, dass es a priori mög-
lich sei, dem menschlichen Geiste die Fähigkeit, das Ding an sich
zu erkennen, zu- oder abzusprechen. Doch hat er die Klippe
vieler, besonders der griechischen Denker, metaphysische Pro-
bleme durch logische Analyse des Vorstellungsbildes erklären zu
wollen, zu umgehen verstanden, was sein Kommentator sehr zu
betonen weiss. Zwischen unserm Erkennen und dem Ding an
sich besteht vielmehr ein Austausch, bei dem es sich um zwei
Faktoren handelt: hier unsere Vorstellungsbilder, dort ein Reales,
dessen Übertragung sie sind; und zwar so, dass unser Apercep-
tionsvermögen sich dem wahrzunehmenden Gegenstande der Er-
scheinungswelt anpasst; nichts berechtigt uns anzunehmen, dass
das Ding an sich etwas total Verschiedenes sein sollte von dem
Ding wie es uns erscheint. Lotze bringt also das Phänomenon
in kausale Verbindung mit dem Noumenon, dessen blosse Er-
scheinungsform es ist Ebenfalls aus dem Prinzip der Wechsel-
wirkung ergibt sich sein SubstanzbegrifT: aktions- und reaktions-
fähige Kraftzentren, deren Existenz mit ihrer gegenseitigen Tätig-
keit zusammenfällt und geradezu durch dieselbe bedingt ist. Dass
nun diese Wechselwirkung der Atome oder Monaden nicht nur
Intelligenz, sondern auch Bewusstsein voraussetzt, welches, um
der Einheit der Methode willen sowohl der anorganischen als der
organischen Welt zugesprochen wird, das erscheint dem Kommen-
tator als eine zum mindesten sehr gewagte Behauptung. Da-
gegen betont er rühmend, dass Lotze die von Kant dialektisch
zertrümmerten scholastischen Beweise für das Dasein Gottes in
seiner Religionsphilosophie wieder verwertet und so die Anfangs-
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l6o E, DUTOIT.
gründe seiner Dogmatik mit den Ergebnissen der Metaphysik in
Einklang gebracht hätte, ja wie er hier und überall eine deutlich
wahrnehmbare Tendenz zeige, die Bedürfnisse des Herzens mit
denjenigen des Verstandes zu versöhnen. Dagegen bedauert er
sehr, dass Lotze in seiner Religionsphilosophie genau wie in seiner
Psychologie die Werturteile den wissenschaftlichen Argumenten
gleichstellt und die daraus entstehenden Antinomien nicht nur
nicht löst, sondern durch eine, wie Schoen meint, unnötige Be-
tonung des tragenden Prinzips der Wechselwirkung noch ver-
schärft. So indem er, „um dem religiösen Gefühl zu genügen"
(Lotze cit. bei Schoen p. 225) einen persönlichen Gott annimmt»
dem er aber dogmatisch die Attribute des Absoluten und Unend-
lichen beilegt; ferner indem er als oberste Eigenschaft Gottes die
Liebe postuliert, jedoch keinen Versuch macht, das Übel und die
Ungerechtigkeit praktisch mit derselben zu versöhnen. Ungelöst
ist femer die Antinomie zwischen der von Lotze garantierten
Freiheit der Individuen und dem allwaltenden Universalgeist,
dessen Einzelatome sie sind; endlich das Problem der Unsterb-
lichkeit der Seele, deren persönliches Fortleben neben der alles ab-
sorbierenden Weltseele ganz imbegründet erscheint. Lotze er-
klärt dieselbe zwar durch die Berechtigimg des moralischen
Wertes der Einzelnen, die kraft der Wechselwirkung in die Ge-
schicke des Weltganzen eingegriffen haben; die Frage jedoch
nach dem Kriterium dieses Verdienstes für die bedingte Unsterb-
lichkeit wirft Lotze gar nicht einmal auf; was Schoen zu einer
harten Kritik veranlasst über den Fehlgriff Lotzes, Werturteile an
Stelle der Seinsurteile treten zu lassen und ihnen wissenschaft-
liche Gültigkeit zuzusprechen. Er verlangt andere Argumente, um
die Überzeugung von der Liebe Gottes, der Freiheit, der Unsterb-
lichkeit, perfekt zu machen. Aber uns will scheinen, als ob seine
Kritik nicht am richtigen Ort einsetzte, bzw. als ob er etwas
tadelte, dessen er sich selbst schuldig zu machen im Begriff steht.
Nicht dass Lotze die Wertiuteile in den Vordergrund stellt, ihnen
eine Wichtigkeit und Gültigkeit beimisst, die ihnen von Rechts
wegen gar nicht zukommt; wohl aber dass er sie zur Basis seines
metaphysischen Aufbaus macht, dürfte ein methodologischer Fehler
sein imd zu scharfer Kritik herausfordern. Schoen aber scheint
enttäuscht, dass auch Lotze nicht zu finden vermag, was er selbst
wohl vergeblich sucht: ein System, das, auf streng wissenschaft-
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZÖS. USW. i6i
lieber Grundlage ruhend, doch den Bedürfnissen des Herzens ge-
nügen würde. Er vergisst, dass Gott, Freiheit, Unsterblichkeit
Postulate des metaphysischen Aufbaues bleiben müssen, oder
aber, wenn auf anderem Wege, dem der persönlichen Überzeu-
gung und Erfahrung gewonnen, jeglicher Beweise entraten
können.
Mit den Arbeiten von Lagresille und jAURfes über „Le
monde sensible" steigen wir hinab in die Fluten metaphysischer
Erörterungen, und zwar da „wo es am tiefsten ist". Die Über-
schrift, „Le fonctionnisme universel", scheint anzudeuten, dass der
vorliegende Essai de Synthese philosophique, der sich „Monde
sensible par Henry Lagresille, ing^nieur des arts et manu-
factures" betitelt (i vol. in 8® 580 p. Paris, Fischbacher 1902), nur
als Teil eines umfangreichen Werkes gedacht ist. Der Verfasser,
Ingenieur von Beruf, nimmt sich vor, die ganze Erscheinungswelt
mit all ihren Phänomenen und der Gesetzmässigkeit ihres Ge-
schehens von einem neuen Gesichtspunkte aus, dem des Funktio-
nismus zu betrachten und zu beurteilen. Unser Geist erkennt die
Dinge, auch diejenigen der sogenannten exakten Wissenschaften,
nur insofern er in ihnen Funktion wahrzunehmen vermag; sie
selbst bleiben ihm verschlossen. Aller Funktion aber liegt eine
leitende Idee zugrunde, und da diese nur vom menschlichen
Geiste erkannt imd verstanden werden kann, so ist Metaphysik
die grundlegende und zugleich die vollendetste aller Wissen-
schaften — die Wissenschaft an sich. Sie basiert auf dem, was
aller Erkenntnis vorausgeht und doch alle Erfahnmg übersteigt,
nämlich auf der Intuition unserer Vernunft und ihrer Identität mit
der Intelligenz an sich und ihrer Tätigkeit. Der Verfasser geht
also a priori von der Setzung seines Geistes — von dem cogito
ergo sum — aus und weissagt der Metaphysik unsterbliche Macht
und Blüte, insofern sie es nur versteht aus der Gleichung
von Denken und Sein auch die Erkenntnis vemunftgemässen
Handelns, die implizite darin liegt, logisch zu deduzieren. In
der Tat wird, da der menschliche Geist nur unvollkommen
operiert, auch die Metaphysik nie ein vollendetes, in sich abge-
schlossenes Ganze bilden; auch benötigt sie unausgesetzt der
künstlichen (!) Nachhilfe durch die empirische Erfahrung der Tat-
sachen und Ergebnisse der exakten Wissenschaften! — Aus der
Setzung der Einzelvemunft ergibt sich ganz natürlich der Schritt
* Zeitschrift f. Philo«, u. philosoph. Kritik. Bd. 197 II
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i62 ^- DUTorr.
zur Universal Vernunft, denn erkennt nicht der menschliche Geist
in allen Gebieten positiven Wissens die in Tätigkeit — in Funk-
tion — umgesetzte Idee? Daher überall das deutlich wahrnehm-
bare leitende Prinzip, — das zu erkennen Ziel und Aufgabe der
rationellen Intuition ist — , die oberste Idee, die erste Ursache,
das absolute Sein, Gott! So weit die Prolegomena des „Funktio-
nismus''.
Und nun geht der Verfasser daran, in einer 570 Seiten
langen Abhandlung diese Beziehung zwischen Einzel Vernunft und
Allvemunft, insoweit sie als Resultate positiver Wissenschaft sich
kristallisiert haben, darzutun und aus ihnen das eine Prinzip, die
Realität des Absoluten, zu deduzieren. Denn ist nicht die wissen-
schaftliche Spekulation das hypothetische und zugleich einzig
rationelle Gebiet, dessen sich die Metaphysik zu bemächtigen hat,
sollen anders die Naturwissenschaften nicht sinnlos aufgehäufte tote
Fakta bleiben, sondern ihren Zweck als Prämissen einer allge-
meinen Wissenschaft im höchsten Sinne des Wortes erfüllen? Es
folgt eine Verteidigung der Hypothese als wissenschaftlichem Hilfs-
mittel, femer eine ausführliche Erklärung der Genesis unserer Be-
griffe als Abbilder der in der Natur und ihren Fimktionen nieder-
gelegten Idee: Zeit, Raum, Substanz, Energie, Funktion; hierauf
wird nach Analogie der Atome überall, im Äther, in festen, in
flüssigen, in gasförmigen Körpern die Teilbarkeit in kleinste Atome
nachgewiesen und an diesen endlich, weil einen einheitlichen Plan
des rationellen Aufbaus verratend, das Vorhandensein von Mo-
naden demonstriert. Dieselbe Analogie in allen Gebieten findet
sich auch in der Untersuchung der Bewegung: Wärme, Licht,
Elektrizität, radioaktive Elemente verraten überall Spuren von In-
telligenz, d. h. von psychischem Leben (denn die Bewegung ent-
steht aus Leben, p. 349), und dessen Vorhandensein deutet immer
wieder auf das der leitenden Idee. Noch ersichtlicher wird dies
natürlich im Gebiet des organischen Lebens, von der Zelle als
unbewusster psychischer Einheit aufsteigend zum Bewusstsein des
animalischen Organismus und endlich zum menschlichen Selbst-
bewusstsein. Sehr befremdlich sind in diesem Abschnitte die
beiden Kapitel: „Sp6culation anthropologique" und „Legende pr6-
histörique" ! Mehr noch wundert man sich aber beim Weiter-
lesen, dass die Skala psychischen Lebens, deren langsames Auf-
steigen wir soeben verfolgt, in der Kosmologie (!) ihren Höhe-
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZÖS, USW, 163
punkt erreichen soll! Denn nach einem sehr interessanten, durch
zahlreiche Abbildungen verdeutlichten Überblick über die Genesis
unserer Erde nebst ihrem Verhältnis zu anderen Sonnensystemen,
und einem Ausblick in die Unendlichkeit der Nebulosen, die
Werkstatt neuer Welten, verliert sich der Verfasser in astrobiolo-
gische Spekulationen, in Träumereien über astrale Mächte und
deren Beziehungen zum Menschen, in dunkle Analogien über
homogene Struktur von Sternen, Blumen und Tieren, um endlich
in einen Ditjrrambus über den unendlichen Tempel, den die AU-
vemunft sich errichtet, über deren Baumeister, Gott, und dessen
zahllose, mit Geschmack und Intelligenz ausgerüsteten Unter-
nehmer — entrepreneurs — , die Monaden, auszubrechen!
Wenn der Verfasser am Ende seines umfangreichen Buches
zu dieser Anschauung gelangt, so ist das Geschmackssache, über
welche sich bekanntlich nicht streiten lässt. Die Grundlage des
Werkes, die mathematischen Berechnungen, die zahlreichen, sehr
interessanten Ausführungen aus dem Gebiete der Physik und
Chemie, der Miperalogie und Astronomie sind, so lange es sich um
Fakta handelt, streng wissenschaftlich gehalten und beweisen hin-
reichend, dass man es mit einem in allen Gebieten seines Be-
rufes sachlich erfahrenen Ingenieur zu tun hat. Ob mit einem
Philosophen? Jedenfalls nicht mit einem von der Tragweite
Descartes*, mit dem Lagresille sich gern in eine Linie stellt!
Sonst hätte er doch wohl zuerst danach getrachtet, die Analogie,
auf die er das stolze Gebäude seiner Spekulation aufrichtet, etwas
besser zu prüfen, und vor allem den menschlichen Geist selbst,
diesen einen Grundpfeiler seines ganzen Systems, auf seine Trag-
fähigkeit hin zu untersuchen. Eine erkenntnistheoretische Basis
war hier unbedingt nötig; Gleichungen wie Naturgesetz — Staats-
gesetz, p. 360, Nerventätigkeit — Elektrizität, p. 363, Entwicklung
eines Sternes — soziale Evolution, p. 472; ferner Voraussetzungen
über die Seele der Pflanzen, p. 401, über die natürliche und die
übernatürliche Seele des Menschen, p. 447; endlich die Herbei-
ziehung von Graphologie imd Chiromantie (!) als Beweis für die
transzendentalen Gesetze der Analogie, p. 545 — solche Argu-
mente dürften denn doch dem Descartes'schen cogito ergo sum
nicht ohne weiteres an die Seite gestellt werden!
Wendet man sich dem andern, dasselbe Thema behandelnden
Buche zu, Jean Jaur^s' De la R6alit6 du Monde Sensible
II*
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164 ^ DUTOIT.
(I vol. 429, p. 7,50 Fr., Paris, Alcani902, biblioth^que de philosophie
contemporaine), so meint man, der Kapiteleinteilung nach zu
schliessen, es diesmal wirklich mit einer streng wissenschaftlichen,
erkenntnistheoretischen Untersuchung zu tun zu haben, wie das
auch bei der Aufgabe, die Erscheinungswelt auf ihre Realität hin
zu prüfen, nicht anders erwartet werden darf. Bei näherer
Durchsicht jedoch der Argumente und Beweisführungen, be-
sonders aber der Schlussfolgenmgen, wird man gewahr, dass es
dem Verfasser lediglich darum zu tun war, nicht einen neuen
fruchtbaren Gesichtspimkt zu entdecken, sondern einen bereits ein-
genommenen Standpunkt zu verteidigen. Die Erscheinungswelt
als solche, nicht nur etwa die sie ims vermittelnde Sinnes-
empfindung, ist eine Realität; das übereinstimmende Zeugnis der
verschiedenen Sinne ist ein erster Beweis dafür und bewahrt mich
vor der Gefahr einer gemeinen Sinnestäuschung; dazu kommt der
Begriff der Substanzialität ; endlich entgehe ich der Verwechslung
von Traum und Wirklichkeit schon dadurch, dass ich eben den
Begriff des Traumbildes habe, was nicht der Fall wäre, wenn sich
dasselbe in nichts von den Vorstellungsbildem der Wirklichkeit
unterschiede. Endlich stehen diese untereinander in gewissen
logischen, hauptsächlich kausalen Beziehungen, so dass die Konti-
nuität von Zeit und Raum all unseren Wahrnehmungen den
Stempel der Wirklichkeit aufdrückt: wirklich ist, was intelligibel ist.
Nach diesen Erörterungen, die ebenfalls stark an die
Descartes'sche Gleichung von Denken und Sein erinnern, geht
der Verfasser daran, das Problem der Realität mit dem Problem
des Seins überhaupt zu identifizieren. Bewegung, die nur durch
Empfindung wahrgenommen wird, schliesst den Begriff der Aus-
dehnung, diese den Begriff des Seins ein; Bewegung, potentielle
Tätigkeit ist Veränderung, ist ein Streben nach Einheit, und diese
wiederum setzt Bewusstsein voraus. Bewusstsein jedoch wird
durch Druckempfindug lokalisiert, indem das berührende Subjekt
sich vom berührten Objekt scharf unterscheidet; Bewegung inso-
fern als Lageveränderung ist also ein Beweis des Seins. War
ihm vorher der Intellekt ein Beweis für die Realität der Sinnes-
welt, so wird ihm jetzt umgekehrt das Greifbare zur Quelle der
Erkenntnis des eignen Bewusstseins. So gewinnt er das schlecht-
hin Wirkliche, die Realität der Aussenwelt, unabhängig vom Be-
wusstsein. Weder Bewegung, noch Ausdehnimg, noch Empfindimg
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZÖS. USW. 165
— die Anschauungsformen, in denen die Sinneswelt uns erscheint,
involvieren die Abhängigkeit des Seins an sich vom Einzel-
bewusstsein, wenn auch das Bewusstsein als solches der Subjek-
tivität aller Erkenntnis unterworfen ist. Aber das Einzelbewusst-
sein, die Ichwahrnehmung, der Träger der Erkenntnis wird in allen
philosophischen Abhandlungen in doppeltem Sinne — dies die
eigentliche These des Buches — gebraucht. Die Einheit des
Denkens, die die Anschauungsform von Raum, Zeit und Kategorie
sucht imd findet; das schöpferische Ich, das dem individuellen zu-
grunde liegt; die ideale Realität; das Unendliche im Endlichen,
das Ewige im Zeitlichen, der Typus im Gewirre des Indivi-
duellen — alles dieses wird unter der Ichvorstellung zusammen-
gefasst; daher eine unentrinnbare Begriffsverwechslung. So bei
Schopenhauer zwischen Welt und Vorstellung, bei Descartes
zwischen dem Absoluten und dem individuellen Bewusstsein; hier
wie dort zwei Zentren, die abwechselnd im philosophischen Auf-
bau als ,,Ich* fungieren. Der Verfasser, um nicht selbst in den
gefährlichen Identifikationsfehler zu verfallen, anerkennt das Gött-
liche im Menschen; deshalb nimmt er es auch in der ihm um-
gebenden Natur wahr, die dadurch für ihn ein Verwandtes, ein
Beseeltes — ein Reales ist. Dass er aber diese seine Über-
zeugung zum Ausgangspunkte seiner Spekulation macht und er-
kenntnistheoretische Untersuchungen durch Beweise stützen will,
die ihren Ursprung lediglich im Gefühlsleben haben, ist oft be-
denklich; so die Ableitung der Kategorie der Quantität durch
Argumente wie „la fusion de la quantit^ et de räme", p. 190;
die Hypothese der Sinnesempfindung tiurch „Videe de Tharmonie
du monde*, p. 276; das Problem des Bewusstseins durch die
„emotion fraternelle", die er empfindet, p. 381, und die ihm dessen
Existenz gewährleistet; die Realität des Seins durch das Spiel
von Licht und Schatten, p. 347, die Realität des Raumes durch
„cette amiti6 fratemelle et myst^rieuse de l'äme et de respace**,
p. 296, die er je und je geniesst und die ihn bis zu Tränen
rührt; alle diese naiven Beweisführungen neben streng wissenschaft-
lichen Prätensionen und Stellen, die die selten hohe moralische
Überzeugung des Verfassers verraten, geben dem Buche jenes
charakteristisch Zwitterhafte, welches das unverkennbare Merkmal
derjenigen Schriften ist, die mit bester Absicht eine vorgefasste
Meinung zu vertreten wünschen.
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i66 ^. DUTOIT,
Mit Ch. Rib^ry's Essai de Classification naturelle des
Caract^res (I. vol. in 8<>, 199 p. Paris, Alcan 1902, bibliotheque
de Philosophie contemporaine) wenden wir uns dem Gebiete
der Psychologie, und wie der Verfasser verheisst, der praktischen
Psychologie zu. Der Versuch, die unendliche Verschiedenheit der
menschlichen Eigenart in feste Klassen und Formeln zu bannen,
ist schon oft gemacht worden, so von Malapert, „les 6l6ments
du caract^re" imd von Paulhan, „les caract^res**, denen Ribery
sich bewusst gegenüberstellt. Hatten jene versucht, die Ver-
schiedenheit, die sie in der Natur beobachtet, in fertige, a priori
aufgestellte Rubriken einzureihen, wobei Theorie und Praxis sich
nie decken wollten, so will der Verfasser die von jenen als im-
möglich erklärte Synthese nun zustande bringen, indem er seine
Klassifikation nicht auf die den Charakter zusammensetzenden
Elemente, sondern auf die grundlegende Tendenz desselben auf-
baut. Das Th. Ribot gewidmete, und deutliche Anklänge an
dessen „Psychologie des sentiments" enthaltende Buch definiert
den Charakter als Resultante der verschiedensten Einflüsse des
Milieu, der Wertung, die einem von der Umgebung zuteil wird etc.,
und zwar als eine sich stetig verändernde Resultante. Intelligenz,
diese Eigenschaft des Unpersönlichen, gehört nicht zu den konsti-
tuierenden Faktoren des Charakters, wohl aber Willen und Sensi-
bilität ; dementsprechend sind zwei Arten von Temperamenten mög-
lich: aktive und sensitive, und je zwei Unterarten: rasch — schwach
und langsam — stark, die zu den oft belachten, doch von Kant
in seiner Anthropologie wiederaufgenommenen vier Grundtempe-
ramenten des HiPPOKRATES führen. Das Temperament selbst
wird durch die Schnelligkeit und Intensität der Nervenschwingungen
bedingt, die bei den Aktiven in gegenseitiger Wechselwirkung,
bei den Sensitiven jedoch in umgekehrtem Verhältnis zueinander
stehen; jene operieren eher mit Bildern, als mit Ideen, sie neigen
zu Taten — diese zu Gefühlen, zur beschaulichen Selbstanalyse,
zum modernen Pessimismus. Die Aktiven dagegen handeln unter
dem Zwange einer Leidenschaft, und zwar einer permanenten,
gleichviel, ob sie in den schönen Künsten, dem Kriegshandwerk
oder der Politik sich auszeichnen. Diesen zwei grossen Klassen
werden noch einzelne Unterabteilungen angegliedert, um die
vielen hybriden Spezies, die weder zu den entschieden aktiven,
noch zu den entschieden sensitiven gehören, unterzubringen; jede
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BERICHT ÜBER DIE ERSCHEINUNGEN DER FRANZÖS. USW. 167
derselben wird regelrecht deduziert, analysiert und mit Beispielen
versehen, welche jedenfalls beweisen, dass „Raum für Alle" und
genug, geboten ist, wenn auch die Klassifizierung eine etwas
überraschende sein dürfte. So kommen z. B. Luther, Byron
und Dante in dieselbe Unterabteilung, die der „passionnes volon-
taires"; Mme de Sevigne gehört zu den apathischen, ebenso Kant
und Goethe — allerdings Apathie mit besonderer Schattierung!
Solche Ergebnisse zeigen, dass auch dieser Versuch, trotz der
neuen fruchtbaren Methode an den Schwierigkeiten des Problems
scheiterte: entweder es werden einige wenige massgebende
Typen aufgestellt, denen die einzelnen Individuen mit Gewalt
untergeordnet werden, oder aber die Arten und Unterarten der
menschlichen Natur gliedern sich ins Unendliche. Dazu kommt
noch, dass die gebrauchten Beispiele stets typische, d. h. bereits
durch den Sprachgebrauch so oder so gestempelte Individuen
sind, die wegen der ihnen anhaftenden Assoziationen kaum zu
neuen Zusammenstellungen zu gebrauchen sind. Wirklich erfolg-
reich wäre hier nur die induktive Methode, die der Verfasser,
trotz eifriger Versicherungen, eben nicht anwandte — weil sie auf
diesem Gebiete überhaupt nur schwer anwendbar sein dürfte.
B. BouRDONs La Perception visuelle de l'espace (I vol.
in 8®, 439 p. 12 fs. Paris, Schleicher, 1902), gehört dem Grenz-
gebiete der Psychophysik an. Der Verfasser vertritt darin die
Ansicht, dass die Wahrnehmung des Raumes nicht wie die Farben-
empfindung durch Netzhautbilder zustande kommt, sondern
zum grossen Teile das Resultat von Tast- und Muskelempfindungen
ist. Diese These erläutert und begründet er durch ein reiches
Beweismaterial von Experimenten und Beispielen, sowie durch
zahlreiche Illustrationen, die ein teilweises Nachprüfen der
von ihm gemachten Versuche gestattet. Zu bedauern ist nur der
allzu gedrängte, ermüdende Druck des Buches, der ein eingehendes
Studium desselben sehr erschwert.
Es bleiben noch einige Übersetzungen zu erwähnen, so
Herbert Spencers, Les Premiers Principes traduit sur la
sixieme edition anglaise par M. Guymiot (I vol. in 8®, 505 p.
Paris, Schleicher, 1902); ferner Haeckels Les Enigmes de
l'univers traduit de TAllemand par Camille Bos (I vol. in 8^
460 p., Paris, Schleicher, 1902); endlich S. S. Lauries Ethica
ou Ethique de la raison traduit sur la deuxi^me edition
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l68 ^. DUTOIT, A. VIERKANDT,
anglaise par Georges Remacle (I vol. in 12, 398 p. Toumai,
Decallonne-Liagre, ed. 1902), die Ergänzung des früher erschie-
nenen, und ebenfalls vom Übersetzer ins Deutsche übertragenen
Buches Metaphysica Nova et Vetusta — sämtlich tüchtige Ar-
beiten, wenn sie auch an Klarheit und Eleganz des Ausdrucks
— dies gilt besonders von dem Spencerschen Buche — dem
Originale immerhin nachstehen.
Endlich weisen die Akten des 1900 in Paris abgehaltenen
I. internationalen Kongresses für Philosophie das Druckjahr 1902
auf. Der hier vorliegende IV. Band Histoire de la Philo-
sophie (I vol. in 8®, 520 p., 12 fs. 50. Paris, Armand Colin
1902) enthält 18 Referate — leider ohne die durch sie hervor-
gerufenen Diskussionen abgedruckt — unter denen wohl diejenigen
von E. BouTROUX über „De Tobjet et de la m^thode dans Thistoire
de la Philosophie", von A. Brochard und Dauriac über „le
devenir dans la philosophie de Platon"; und von Vaminger
über „la philosophie de Nietzsche" zu den hervorragendsten zählen
dürften. Sämtliche Arbeiten sind in französischer Sprache redigiert.
Bin Einbruch
der Naturwissenschaften in die
Geisteswissenschaften ?
Eine Besprechung von A. Vierkandt.
Dr. Wilhelm Schallmayer, Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker.
Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie. Verlag
von Gustav Fischer in Jena 1903. (Dritter Teil des Werkes: .^Natur und
Staat, Beiträge zur naturwissenschaftlichen Gesellschaftslehre. Eine Sammlung
von Preisschriften, herausgegeben von Prof. Dr. H. E. Ziegler in Verbindung
mit Prof. Dr. Conrad und Prof Dr. Haeckel.*)
Das vorliegende Werk tritt, wie das ganze Sammelwerk, von
dem es einen Teil bildet, mit dem Anspruch auf gnmdsätzliche
Wichtigkeit und Neuheit auf. Das Vorwort sagt: ^Das 20. Jahr-
hundert dürfte dazu berufen sein, aus der Deszendenztheorie die
Nutzanwendung für das praktische Leben zu ziehen." Eine solche
Nutzanwendung beansprucht das vorliegende Werk zu enthalten. Es
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EIN EINBRUCH DER NATURWISSENSCHAFTEN USW. 169
will die Konsequenzen aus der modernen Entwicklungstheorie für die
innere Politik ziehen; es will dieser auf Grund jener völlig sichere
Leitlinien und Normen vorschreiben. Angesichts so gewichtiger
Ansprüche möge uns ein näheres Eingehen auf das Buch ge-
stattet sein.
Zunächst eine kurze Inhaltsangabe. Ein erster Teil ent-
wickelt die Deszendenztheorie in der Gestalt, die ihr Weissmann
gegeben hat. Bei ihrer Anwendung auf die menschliche Gesell-
schaft muss man unterscheiden zwischen denjenigen Kräften, mit
welchen die menschliche Kultur, und denjenigen, mit welchen die
angeborene körperlich -geistige Organisation den Einzelnen und
die Gesamtheit ausstattet, oder wie Schallmayer es nennt,
zwischen Traditions- imd Generationswerten. Das Buch beant-
wortet nun die Frage: Wie weit sind beiden gegenüber die Kräfte
der Auslese noch wirksam? Bei den generativen Werten hat diese
Wirksamkeit, die bei den Naturvölkern noch ungeschwächt ist,
auf der Stufe unserer Kultur in bedrohlicher Weise abgenommen ;
dieses Schwinden hat bereits den Tod mancher höheren Kultur
herbeigeführt und bedroht auch die unserige entsprechend. Die
chinesische Kultur ist die einzige von den seit alten Zeiten be-
stehenden, die dem Schicksal des Unterganges bis jetzt entgangen
ist — eine Ausnahme, für die der Verf. eine Reihe biologischer
Gründe anführen zu können glaubt — Der Wirksamkeit der
Auslese gegenüber den Traditionswerten ist nur ein kleiner Ab-
schnitt gewidmet, der zu keinen bemerkenswerten abschliessenden
Ergebnissen führt. Es folgen nun die Nutzanwendungen; zunächst
eine interessante Erörterung über die mögliche und erspriessliche
Fortschrittsgeschwindigkeit der Staaten und sodann eine Reihe
von Reform vorschlagen für die soziale Wohlfahrt, die, von der
Rücksicht auf die körperliche Auslese getragen, sich auf Recht,
Erziehung, Bevölkerungspolitik erstrecken.
Manche Erörterungen des Buches sind anregend und be-
herzigungswert, obschon nicht immer neu; denn diese Dinge sind
seit etwa zwei Jahrzehnten ja nicht selten erörtert worden;
manches reizt auch zum Widerspruch, wie das ja bei so jungen
Untersuchungen und auf einem so unfertigen Gebiete nicht anders
der Fall sein kann. Einen Anlass zu prinzipiellen Einwendungen
bietet aber eine Eigenschaft des Buches: sein dogmatischer
Ton. Grundlagen für eine Erklärung und Normierung des
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170
A. VIERKANDT.
sozialen Lebens müssen vor allem sicher, neue Grundlagen
müssen von Voraussetzungen ausgehen, die bis dahin uns noch
nicht geläufig waren. In beiden Beziehungen gibt das vor-
liegende Werk zu gewichtigen Einwendungen Anlass.
I. Die ganze Darstellung baut sich auf Weissmanns Lehre
von der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften und seiner da-
durch wesentlich bestimmten Auslesetheorie auf. Der Verf. gibt
selbst zu, dass diese Lehre noch heute unter den Fachmännern
Gegner hat. In der Tat werden die Lehre von der Vererbung er-
worbener Eigenschaften, von dem Einfluss der Übung im Sinne
LAifARCKs, von der passiven Einwirkung der Naturumgebung, so-
wie von der Artveränderung durch sprunghafte Wandlungen in
der Fachliteratur bis auf den heutigen Tag, vielleicht gegenwärtig
mehr als einige Zeit früher, eingehend erwogen. Insbesondere ist
die von dem Verfasser für seine Beweisführung öfter verwertete
Voraussetzung, dass Auslese die Bedingung für jeden Fortschritt
ist, keineswegs vor jedem Zweifel gesichert. Von einem ab-
schliessenden Ergebnis kann daher heute noch kaum gesprochen
werden; wahrscheinlich wird sich herausstellen, dass von einer
einheitlichen Erklärung aller Wandlungen überhaupt nicht die
Rede sein kann.
2. Die Übertragung der Weissmannschen Lehre auf das
menschliche Leben hat zur Voraussetzung die strenge Scheidung
zwischen angeborenen und durch die Kultur anerzogenen Eigen-
schaften, zwischen generativen imd traditiven Werten. Die
Schwierigkeit dieser Unterscheidung unterschätzt der Verfasser
erheblich. Er bietet (S. 81 — 88) ein vermeintliches Inventar an-
geborener geistiger Eigenschaften, gegen das sich sehr viel ein-
wenden lässt. Es hat folgenden Inhalt: Selbsterhaltimgs- und
Fortpflanzungsinstinkte, sozialer Altruismus, Ehrbedürfnis, Mit-
gefühl, sexuelles Schamgefühl, moralische Anlage überhaupt,
Denkkraft. Von einer weiteren Analyse dieser Eigenschaften ist
nicht die Rede. Der Verfasser erwähnt dabei gelegentlich das
Buch von Carl Grogs über die menschlichen Spiele, das allein
vor einer so summarischen Erledigung hätte bewahren können.
Tatsächlich handelt es sich hier um eine Aufgabe der Psychologie
und Soziologie, zu deren Lösung heute kaum die ersten Ansätze
vorliegen.
3. Noch verhängnisvoller wird der Mangel einer sicheren und
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EIN EINBRUCH DER NATURWISSENSCHAFTEN USW.
171
hinreichenden soziologischen Grundlage bei den Erörterungen des
Verfassers über die Anwendung des Auslesegedankens auf die
Kulturgüter. Sitte und Recht z. B. appellieren nicht nur an Furcht
und Hoffnung des Menschen (S. 217), sie stehen durchaus nicht
immer in Gegensatz zu seinen Neigungen, sondern wachsen
vielfach organisch aus diesen hervor. Ebenso sind die Zusammen-
hänge zwischen den wirtschaftlichen Zuständen einerseits und
Sitte und Recht, insbesondere den Familienverhältnissen anderer-
seits bei den Naturvölkern weder durch die Arbeiten von Hilde-
brand noch überhaupt keineswegs so völlig ausser Zweifel ge-
stellt, wie der Verfasser meint (S. 219). Auf verfehlten intellek-
tualistischen Anschauungen beruht es ähnlich, wenn Schallmayer
sich von einem zweckmässig organisierten Moralimterricht in der
Schule wesentliche Fortschritte im sittlichen Leben verspricht.
Über die Bedeutung der Religion für den Kampf ums Dasein bei
den primitiven und anderen Völkern kann man nicht urteilen
wenn man nichts anderes von ihnen kennt als das wenig ein-
wandfreie Buch von KiDD und einige Aufsätze von Balfour. An-
gemessener wäre es schon gewesen an die bekannten Erörterungen
über die disziplinierende Wirkung der religiösen Riten zu erinnern.
Niemand wird von dem vorliegenden Buch verlangen, dass es so
nebenbei den Grundriss einer allgemeinen Kultur- und Gesell-
schaftslehre entwirft; aber so lange ein solcher fehlt, schweben
derartige Betrachtungen in der Luft.
4. Durch das Buch zieht sich die in der einschlägigen
Literatur auch sonst beliebte Anschauung, dass der Auslese-
mechanismus erst auf höheren Kulturstufen vielfach nachteilige
Einschränkungen erfährt, bei den Naturvölkern dagegen in un-
beschränkter Wirksamkeit steht. Auch das ist ein unberechtigter
Dogmatismus. Was zunächst die Kollektivauslese durch den
Krieg anbetrifft, so wissen wir über die Kriegführung bei den
Naturvölkern noch viel zu wenig; es scheint aber, dass vielfach
auch bei ihnen stabile Verhältnisse herrschen, bei denen die
einzelnen Stämme sich gegenseitig wenig an Raum abgewinnen
und die Kriegsführung verhältnismässig harmlos ist und wenig
einschneidend wirkt. Ebenso beschränkt ist wahrscheinlich die
individuelle Auslese innerhalb des Stammes. Kranke und Ge-
brechliche werden zwar vielfach ausgestossen, andererseits werden
wahrscheinlich aber viele schwächere Personen bei dem aus-
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172
A, VIERKANDT,
gedehnten Kommunismus der Gebrauchs- und Nahrungsmittel
gleichsam mit durchgefüttert. Dass die tüchtigsten Männer die
günstigste Gelegenheit zur Ehe haben, trifft ebenfalls durchaus
nicht immer zu. Schon bei den australischen Stämmen haben in
der Regel erst die Männer über vierzig Jahre die Möglichkeit zu
heiraten, die dann noch durch alle möglichen Heirats verböte sehr
eingeschränkt ist.
Diesen Schwächen der Grundlagen entsprechen diejenigen
der Ergebnisse; auch von ihnen sind manche nicht neu, manche
neuen nicht einwandsfrei, manche ziemlich trivialer Natur. Das
Aussterben der Naturvölker bei ihrer Berührung mit den Europäern
kann gewiss auf ihre geringere „Anpassung an den Kampf ums
Dasein^ (S. 177) zurückgeführt werden, falls man unter diesen
dehnbaren Begriff jegliche Art von Unterlegenheit subsumiert;
aber bedarf man wirkhch der Theorie Darwins und Weissbianns,
um diese Tatsache einzusehen? heisst das nicht mit Kanonen
nach Spatzen schiessen? Die Vorschläge zur Reform unserer
öffentlichen Zustände, die der Verfasser im Interesse der Auslese
vorschlägt, sind sicher anregend und beachtenswert, wie der Ge-
danke einer Heersteuer, einer möglichsten Zurückhaltung untaug-
licher Elemente von der Fortpflanzung, oder gewisser Reformen
in der Erziehung und der Behandlung der Verbrecher. Bei der
Schwäche und Einseitigkeit der menschlichen Intelligenz ist es
gewiss auch ein förderliches Anregungsmittel gewesen, um den
Sinn für den Wert dieser Reformen zu erwecken, die Aufmerk-
samkeit auf die Auslesevorgänge in der organischen Welt über-
haupt zu richten. Heute aber ist für uns der Wert eines ge-
sunden Körpers oder einer starken Intelligenz doch wohl bereits
so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass der Appell an
ihn allein schon eine hinreichende Grundlage für derartige Vor-
schläge bildet
Sehr anfechtbar ist femer die folgende Deduktion der Un-
erkennbarkeit eines letztes Zweckes des Daseins (S. 240): Das
Wesen der Dinge im metaphysischen Sinne ist uns deswegen
verschlossen, weil die Intelligenz als eine Waffe im Kampf ums
Dasein nur so weit entwickelt werden kann, als sie diesen fördert.
Aus seinen naturwissenschafüichen Voraussetzungen zieht der
Verfasser diese Konsequenz allerdings mit vollem Rechte, aber
sie ist gewiss geeignet an der Sicherheit dieser Voraussetzungen
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EIN EINBRUCH DER NATURW1SSENSCHJ{I'TEN USW. 173
Zweifel zu erwecken. Kann man denn z. B. von dem Scharf-
sinn, wie er sich in den höchsten mathematischen Spekulationen
betätigt, oder von dem Kunsttriebe, der sich bis zu den Schöpfungen
eines Homer oder Shakespeare steigert, einen derartigen Nutzen
ebenfalls mit Sicherheit behaupten?
Soweit das Buch überhaupt sichere Ergebnisse hat, stehen
sie mit seinen biologischen Voraussetzungen nur in einem äusser-
lichen, assoziativen, psychologisch aber nicht logisch vermittelten
Zusammenhange. Die Notwendigkeit dieses negativen Ergebnisses
resultiert aus folgender Erwägung. Die Methode des ganzen Buches
soll bestehen in einer direkten Übertragung des Auslese-
gedankens von der Pflanzen- und Tier- auf die Menschenwelt.
Vorausgesetzt ist dabei also die Möglichkeit einer solchen, d. h.
die Existenz einer hinreichenden Analogie zwischen beiden Ge-
bieten. Eine solche fehlt aber. Demgemäss muss zuvörderst die
Frage beantwortet werden, ob die Auslesetheorie überhaupt über-
tragen werden kann und eventuell in welcher Weise sie dabei
modifiziert werden muss; kurz, die Fragestellung muss ent-
sprechend den abweichenden Verhältnissen der menschlichen Welt
völlig verändert werden; die Begriffe der Anpassung und Aus-
lese können daher nur einen heuristischen Wert besitzen.
Diese Schwierigkeit, auf die jede Anwendung der Entwick-
lungslehre auf die menschliche Gesellschaft stösst, hat der Ver-
fasser leider viel zu wenig beachtet, während sie vor jeder
weiteren Erörterung einer prinzipiellen Klärung bedürfte. Sie
zeigt sich uns sowohl bei der Erklärung wie bei der Nor-
mierung der menschlichen Dinge auf Grund der Entwicklungs-
lehre. Die Erklärungsversuche der letzteren, um mit ihnen
zu beginnen, können sich sowohl auf das Kollektivleben der
Völker wie auf das individuelle Leben innerhalb eines Volkes be-
ziehen. Für das erstere wäre eine einfache Übertragung des
Auslesegedankens nur dann möglich, wenn wir einen Fall der
folgenden Art vor uns hätten. Denken wir uns ganz Australien
von lauter Stämmen bevölkert, die in ihren körperlichen Eigen-
schaften und in ihrem Kulturbesitz, wie auch in ihrem geo-
graphischen Milieu völlig übereinstimmen und diese Überein-
stimmung bereits seit Jahrtausenden besessen haben; nehmen wir
ferner an, dass in diesem Zeitraum lediglich die Religionen aller
Völker in derselben Weise sich geändert haben; dann könnte
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174
A. VIERKANDT,
man, die Giltigkeit der Entwicklungslehre im Sinne Weissmanns
für das Völkerleben vorausgesetzt, die Abwandlung der Religion
durch den Auslesemechanismus erklären, vorausgesetzt, dass sie
sich als nützlich für die Erhaltung des Ganzen begreifen lässt:
alle Völker mit abweichenden religiösen Variationen wären dann
eben ausgerottet. Selbst dann würde aber unser Erklärungs-
bedürfnis noch nicht befriedigt sein; wir würden zu wissen
wünschen, wie die religiösen Variationen, sowohl die erhaltenen
wie die eliminierten, eigentlich zu stände gekommen sind; und
das Interesse an der Beantwortung dieser Frage würde viel
grösser sein als dasjenige an der entsprechenden Frage gegen-
über einer Tier- oder Pflanzenart, unter anderm auch deswegen,
weil eine religiöse Entwicklung sich nicht in lauter sehr kleine
allmähliche Änderungen auflösen lässt, vielmehr wenigstens einige
grosse Sprünge in sich enthält. Selbstverständlich würde die Be-
antwortung dieser Frage dem Bereich der Naturwissenschaften
völlig entrückt sein. In Wirklichkeit liegen natürlich die Ver-
hältnisse völlig anders: jedes Volk ist ein Individuum mit einer
völlig individuellen Ausstattung; die Übertragung des Auslese-
gedankens belehrt uns hier zxmächst über weiter nichts als über
die Selbstverständlichkeit, dass nur solche Völker sich erhalten
haben, die eben vermöge ihrer Ausstattung dazu befähigt waren.
Aber welchen Stücken ihrer Ausstattung verdanken sie diesen
Vorsprung vor den etwa ausgerotteten? Ausser den körperlichen
Eigenschaften kommt hier die Gesamtheit der kulturellen Aus-
rüstung, ferner die Kopfzahl sowie endlich der geographische Zu-
stand ihres Gebietes in Betracht. Wie unendlich schwer ist es,
aus der Fülle aller dieser einander durchkreuzenden Einflüsse
einige einzelne mit Sicherheit herauszupräparieren und für den
Erfolg verantwortlich zu machen, zumal da die meisten Kultur-
güter, wie Sitte und religiöse Institutionen, sowohl fördernde wie
hemmende Einflüsse ausüben, deren Abgleichen gegeneinander
meist sehr schwer ist; zumal da femer der Einfluss einzebier
führender Männer oder die anregende Einwirkung benachbarter
Stämme, von denen Kulturgüter entlehnt werden, so viel irra-
tionale Elemente in das Geschick eines Volkes hineinbringen, dass
der innere Zusammenhang zwischen Schicksal und Verdienst bei
ihm sehr in Frage gestellt werden kann. Die Entwicklungslehre
kann hier lediglich dazu anregen, den biologischen Wert der
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EIN EINBRUCH DER NATURWISSENSCHAFTEN USW
175
einzelnen Kulturgüter zu untersuchen. Wir erinnern z. B. an
die Erörterungen über die biologische Bedeutung der Illusion oder
an diejenigen über den Zusammenhang unserer Denk- und An-
schauungsformen mit der Lebenserhaltung. Natürlich sind der-
artige Untersuchungen viel zu schwierig, als dass sie sich vom
Naturforscher im Nebenamt erledigen Hessen.
Entsprechende Betrachtungen kommen zur Anwendung gegen-
über der Frage der Einzelauslese innerhalb eines Volkes. Wären
wiederum alle Personen in ihrer persönlichen und sozialen Aus-
stattung einander völlig gleich und hätte sich im Laufe längerer
Zeit bei ihnen allen nur eine einzige Eigenschaft geändert, so
wäre die Aufgabe der Entwicklungstheoretiker leicht gelöst.
Freilich betonen diese ja selbst, dass auf diesem Gebiet die
Wirkung der Auslese durch soziale Einflüsse sehr zurückgedrängt
ist. Sicherlich ist es ein wichtiges Problem, für dessen Formu-
lierung xmd die Betonung seiner Wichtigkeit wir den Natur-
forschem Dank schulden, wie weit die grösste Fähigkeit das
soziale Gedeihen zu fördern mit der grössten Intensität der Fort-
pflanzung und der sozialen Beeinflussung zusammen oder ausein-
ander fällt. Nur liegen auch hier die Verhältnisse ziemlich ver-
wickelt. Ausser der einfachen Erhaltung des Geschlechtes kommt,
wie soeben bemerkt, auch die soziale Stellung der Individuen und
ihre Möglichkeit dadurch und durch ihre Persönlichkeit das Ganze
zu beeinflussen, in Betracht; von welchen Faktoren dabei die
Autorität und der Erfolg im Leben abhängen, ist gewiss eine
wichtige Frage — aber nicht für den Naturforscher sondern
für den Sociologen.
Ebenso gewichtige Bedenken erheben sich gegen die ein-
fache Übertragung des Auslesegedankens bei der Normierung
des menschlichen Lebens. Für ein Volk als ganzes, so wird ge-
sagt, fordert die Entwicklungslehre Selbsterhaltung um jeden
Preis. Wir haben schon oben bemerkt, dass dieses Gebot im
allgemeinen ohne weiteres einleuchtend ist, aber für die Ethik ist
damit durchaus nicht das abschliessende Wort gesprochen. Wir
sehen ganz davon ab, dass unter Umständen, wie schon die
grossen jüdischen Propheten zeigen, die unmittelbare Selbst-
erhaltimg eines Volkes nicht als höchste Pflicht erscheint; wich-
tiger ist die Möglichkeit und Tendenz, mit zunehmender Kultur
diejenigen Kreise zu vergrössern, innerhalb deren der Krieg durch
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1^6 A' VIERKANDT.
friedliche Mittel ersetzt wird. Es gehört zu den grossen sittlichen
Aufgaben fortgesetzt die Möglichkeit und Zweckmässigkeit einer
solchen Erweiterung zu prüfen. Hier zeigt sich eine tiefe
Kluft zwischen den vormenschlichen und menschlichen Zuständen:
dort nur passive Anpassung der Lebewesen an die gegebenen
Verhältnisse, hier zugleich die umgekehrte Möglichkeit der aktiven
Anpassung der Verhältnisse an die Menschen.^)
Ähnliche Bedenken gelten gegenüber der Anwendung des
Entwicklungsgedankens auf die Normierung des Zusammenlebens
innerhalb eines Volkes. Selbst zugegeben, dass Selbsterhaltung
das oberste Ziel dabei sei, so fragt es sich weiter: Welches sind
dazu die tauglichsten Mittel, und diese Frage ist, wie wir oben
schon sahen, sehr verwickelt wegen der ausserordentlich mannig-
fachen und sich durchkreuzenden Wirkungen, die von fast jeder
Institution ausgehen. Niemand wird heute mehr im Ernst fordern,
dass wir den Ausleseprozess in seiner vollen Härte in Gestalt
einer fortgesetzten Beseitigung der überzählig geborenen und am
wenigsten angepassten Lidividuen walten lassen sollen, schon
allein deswegen, weil die Nebeneffekte in Gestalt fortgesetzter
Verhärtimg des Gemütes auf selten der überlebenden Zuschauer
zu gefährlich wären. Ähnliche Bedenken kann man erheben
gegenüber dem Drängen auf das Anwachsen der Bevölkerung
innerhalb der Grenzen des Möglichen: es ist möglich, dass die
Nachteile einer geringeren Propagation durch höhere Kulturwerte,
wie sorgfältigere Erziehung oder grösseren Wohlstand, ausge-
glichen werden. Es ist durchaus nicht so selbstverständlich, wie
man es in der Regel in den einschlägigen Schriften darstellt, dass
das etwaige Zurückbleiben Frankreichs hinter andern Völkern
gerade durch seine geringere Bevölkerungszunahme bewirkt werde.
Sicherlich ist es ein Ideal, jedem Einzelnen im Verhältnis zu seiner
Fähigkeit das Ganze zu fördern zu einer sozialen Stellung und
zur Propagationsmöglichkeit zu verhelfen; aber auch hier bilden
die körperlichen Eigenschaften nur ein Glied in der Kette der
massgebenden Bedingungen. Und vor allem ist zu bedenken,
dass die verschiedenen fördernden Eigenschaften, wie körperliche
und geistige Vorzüge, Geist und Charakter usw. vielfach die
*) Besonders betont jüngst von Rudolf Goldscheid in seinem Bttche:
Grundlinien einer Kritik der Willenskraft. Wien und Leipzig 1905, S. 167.
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EIN EINBRUCH usw. EIN RAUMPROBLEM.
177
Tendenz haben, sich wechselseitig auszuschliessen oder wenigstens
zu beeinträchtigen.
Schon aus äusseren Gründen müssen wir uns mit den
wenigen vorstehenden Andeutungen begnügen. Sie reichen aber
hoffentlich hin, um das Urteil zu begründen, dass wir uns hier
auf einem fast völlig unbearbeiteten Boden befinden, dass eine
Fülle von prinzipiellen und von tatsächlichen Fragen der Beant-
wortung bedarf, ehe die hier angeschnittenen Probleme sich ge-
winnbringend behandeln lassen, und dass diese Vorarbeiten nicht
vom Naturforscher nebenbei bewältigt werden können. Dem
Buche Schallmayers bleibt dabei der Wert der Anregung durch-
aus gesichert. Was er selbst an einer andern Stelle über den
Wert der Outsiders in der Wissenschaft gesagt hat, kann der
Soziologe am wenigsten bestreiten. Wäre der Mensch ein
logischer Automat, so könnte sich jede Disziplin ohne Schaden
auf die rein sachlichen Beziehungen zu ihren Nachbargebieten be-
schränken. Tatsächlich birgt aber vermöge der Schwäche der
menschlichen Natur der ausschliessliche Schulbetrieb der gelehrten
Arbeit grosse Gefahren in sich, verführt insbesondere zu Vor-
urteilen und Einseitigkeiten, von denen derjenige, der von einer
andern Disziplin herkommt, frei ist.
Das Kaumproblem.
Ein Beweis der fünften Forderung Euklids.
Von W. Pailler.
In Band 127 Heft I der „Zeitschrift für Philosophie und philo-
sophische Kritik" bringt eine Abhandlung von mir dreierlei An-
sätze zu einem Beweis der als unbeweisbar geltenden fünften
Euklidschen Forderung. Da die Mathematiker wohl nicht gerne
an eine Prüfung jener Beweise gehen werden, so sollen hier die
drei Ansätze zu einem unwiderleglichen Beweise kurz und bündig
verdichtet werden, wobei ich allerdings wenigstens den Teil L,
den Teil II B und von Teil II C jener Abhandlung Seite 40 dieses
Bandes der Beachtung empfehlen möchte. Trotzdem will ich hier
ganz unabhängig von jener Abhandlung vorgehen, und deshalb
Zeitschrift f. Philos. a. phUosoph. Kritik. Bd. lay 12
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178 ^. PAILLEtL
sehe ich mich zu einer teilweisen Wiederholung aus ihrem
Teile II A gezwungen.
Zu Figur i:
Analysis:
a) Wenn eine Gerade AC parallel zu der Geraden DF ist,
so muss es durch den Punkt B andere Gerade geben, welche die
Gerade DF schneiden, wie dies bei der Geraden BE ganz sicher
der Fall ist. Je mehr sich die schneidende Gerade der Lage der
Geraden AC nähert, um so kleiner wird der Winkel werden,
den die Gerade AC mit der die Gerade DF schneidenden Ge-
raden bildet.
Insbesondere muss es eine schneidende Gerade GJ geben,
welche die Grenzlage aller schneidenden Geraden repräsentiert,
die wir daher Grenzgerade heissen wollen, und die einen Punkt H
mit der Geraden DF gemeinsam haben muss, weil sieDF schneiden
soll, während AC keinen Punkt mit DF gemeinsam hat, weil sie
parallel DF sein soll, mithin DF nicht schneiden kann.
b) Durch den Punkt B kann es zwischen der Geraden BC
und der Geraden BH keine Gerade mehr geben, da eine solche
Gerade dann entweder parallel oder Grenzgerade sein müsste, was
nach unserer Voraussetzung unmöglich ist, weil eine solche Gerade
dann eben entweder mit der Geraden BC oder mit BH iden-
tisch wäre.
Es sei gegeben:
1. Gerade AC parallel DF unter Winkel CBE -f Winkel
BEF = 2r — a (entgegen Euklids V. Forderung).
2. Gerade GJ Grenzgerade zu DF unter Winkel HBE -\-
Winkel BEH = 2r — a — b (Folgerung aus Dat. i).
Es werde durch Punkt H eine Gerade KL parallel zu Gerader
CA gelegt, so ist diese Gerade KL zu CA unter (Winkel ABH -}-
Winkel BHL =) Winkel ABH + Winkel BHD — Winkel LHD
parallel (Folgerung aus Dat. i).
Behauptung: Winkel LHD^O»
Beweis:
Es werde durch den Punkt B eine Parallele zur Geraden LK
gesucht.
Die Gerade BH kann diese gesuchte Parallele nicht sein, da
BH in Punkt H die Gerade LK schneidet.
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EIN RAUMPROBLEM,
179
Da aber Gerade BH Grenzgerade ist, folglich muss Gerade BC
die gesuchte Parallele zu LK sein (Anal. b).
Es ist also: Gerade BC parallel LK
folglich: Gerade LK parallel BC
Es ist aber nach Voraussetzung i auch
Gerade AC parallel EF
mithin: Gerade EF parallel BC
Wenn nun Gerade LK parallel BC ist unter Winkel CBH -f-
Winkel BHK und
Winkel KHF grösser als O«
dann müsste Gerade EF die Gerade BC schneiden unter Winkel
CBH + Winkel BHK — Winkel KHF
Gerade EF ist aber parallel BC unter Winkel CBH + Winkel
BHK — Winkel KHF
Folglich ist Winkel KHF = Oo
Folglich ist auch Winkel LHD = 0^ (q.e.d)
d. h. die Gerade KL fällt mit der Geraden FD zusammen.
Fig. I.
Zu Fig. 2:
Wird nun dieser Beweis mit der Figur 2 auf die projektive
Geometrie übertragen, so kann der Schnittpunkt H dem hier sich
ergebenden unendlich fernen Punkte C sich beliebig nähern, es
wird die parallele Gerade HL stets mit der parallelen Geraden DC
zusammenfallen,
la'
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i8o
IV, PAILLER, REZENSIONEN,
d. h. die V. Forderung Euklids ist hiermit aus der
projektiven Geometrie bewiesen.
Fig. 2.
Rezensionen.
Natorp, Paul: Philosophische Propädeutik. (Allgemeine Einleitung
in die Philosophie und Anfangsgründe der Logik, Ethik und Psychologie),
in Leitsätzen zu akademischen Vorlesungen. Marburg. (Elwertsche Ver-
lagsbuchhandlung.) 1903. 68 S.
Im Unterschiede von Wundts „Einleitung in die Philosophie*,
die Ref. kürzlich gleichfalls in dieser Zeitschrift zu besprechen hatte,
ist N.'s Büchlein nicht historisch, sondern rein systematisch gehalten.
Im Unterschiede von anderm systematischen Einleitungen, die die ver-
schiedensten (erkenntnistheoretischen, metaphysischen, ethischen) Stand-
punkte darstellen und kritisieren, führt N. ausschliesslich in dasjenige
System ein, das durch Cohen und ihn zu verdientem Ansehen ge-
kommen ist, in das des Neukantianismus. Diese Beschränkung auf
den eigenen Standpunkt ermöglicht eine Erweiterung des Stoffes:
die Anfangsgründe der Logik und Psychologie, die in anderen Ein-
leitungen meist vernachlässigt werden, kommen, immer unter dem
gleichen massgebenden Hauptgesichtspunkte, mit zu Worte, so dass
der Leser bei aller Kürze den eindrucksvollen Anblick eines ge-
schlossenen Systems erhält. Jede dieser drei Behandlungsweisen von
„Einleitungen in die Philosophie* ist an ihrem Platze. Die von N.
gewählte Darstellungsart zwingt diejenigen, die ihren Standpunkt in
solcher Weise gleichsam zugespitzt darlegen möchten, zu äusserster
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PAUL NATORP. WALTER KINKEL. i8i
Sammlung, Präzision und Selbstkritik. Sie ist nur dort möglich, wo
ein und dieselbe Methode, die oft unfügsamen Dinge anzusehen,
Oberall mit gleich strenger Konsequenz festgehalten und durchgeführt
wird. Geschlossenheit und Konsequenz sind das Auszeichnende des
Werkes von N. Er bietet denen, die vom Neukantianismus oder über
ihn lernen möchten, eine summarische, so klare und verständliche
wie eindringende Auseinanderfaltung dieses Standpunkts. Charakte-
ristisch und wohlberechtigt ist vor allem die Stellung der Psychologie
nach den Disziplinen der Erkenntnistheorie, Logik und Ethik. In der
näheren Ausführung der Psychologie kommt, wie bei der Anlage des
Büchleins überall, nur der neukantische Standpunkt zu Wort Ver-
treter anderer Standpunkte würden, was über Empfindung, Streben,
Fühlen gesagt ist, wohl mehrfach anders bestimmen. Ähnliches gilt
von der Ethik und Erkenntnistheorie. Letztere lässt auch auf dem
eigenen Boden des Verf.*s noch einige Fragen offen. Nicht die Sub-
jekte der Veränderungen und Beziehungen, sondern nur diese selbst
sollen im voraus gegeben sein (§ 4); aber es ist nicht leicht, sich das
Gegebensein subjektloser Veränderungen und Beziehungen klar zu
machen. Die Materie der Erkenntnis sei, im Gegensatz zur begriff-
lichen Form, ein bloss Bestimmbares, aber für sich weder inhaldich
noch in Raum und Zeit bestimmt (§ 10). Ref. möchte meinen, dass
man solche Materie überhaupt nicht denken zu können erklären
müsse. Unser Autor verleiht ihr trotzdem gedankliche Bestimmungen,
nämlich Mannigfaltigkeit und Unterschiedlichkeit (ib. u. § 19). Auch
der Begriff der „Erscheinung", der ja vom Neukantianismus anders
als von Kant gefasst wird, nämlich unter Verwerfung der Dinge an
sich, wird in § 6 und § 42, für die wichtigen Gedankengänge, die an
ihn geknüpft werden, etwas zu unvermittelt eingeführt. Am Wert
vorliegender Propädeutik mindern solche gelegentliche Bedenken
nichts. Dem Verf. dürfte es leicht sein, in eventueller Neuauflage
seines willkommenen Büchleins dem Interesse des Lesers an diesen
und ähnlichen Dingen durch nähere Ausführungen zu entsprechen,
bzw. in dasselbe in präzisester Kürze aufzunehmen, was hierüber
der Schlussverweis auf andere seiner Schriften offen lässt.
Halle a. S. Hermann Schwarz.
Kinkel, Walter: Privatdozent an der Univers. Giessen. Joh.Fr.Herbart,
sein Leben und seine Philosophie, Giessen, Rickersche Verlags-
buchhandlung. 1903. (Vin, 204.) 204 S. 3 Mk.
K. bietet mit vorliegendem Bande eine abersichtliche und klare
Darstellung von Herbarts Leben und Lehre. Letztere wird in ihrer
Gesamtheit geschildert. Der Leser lernt der Reihe nach Herbarts
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l82 REZENSIONEN.
Metaphysik, Psychologie, praktische Philosophie, Religionsphilosophie
und Ästhetik kennen, und zwar tritt bei K., abweichend von manchen
anderen Bearbeitungen desselben Themas, die Pädagogik Herbarts
gegenüber dessen Philosophie zurück. Recht anschaulich gemacht ist
unter anderm Herbarts Methode der Beziehungen. Fast durchweg
und mit Recht glaubt Verf. die Ansichten Herbarts ablehnen zu
müssen. Ebendeswegen trennt er Darstellung und Kritik, indem er
die meist treffenden kritischen Bemerkungen, die vom antipsycholo-
gistischen kantianisierenden Standpunkte aus gefällt werden, der
Besprechung des jeweilig behandelten Teils aus Herbarts System
überall nachfolgen lässt. Alles in allem für den Leser eine zweck-
mässige Orientierung über das behandelte Thema.
Halle a. S. Hermann Schwarz.
Hensel, Paul, Prof. Dr.: Hauptprobleme der Ethik, sieben Vorträge.
Leipzig, Teabner. 1903. 106 S. 1,60 Mk.
Obige Vortrage sind im Frühjahr 1902 im Mannheimer Verein
für Volkshochschulkurse gehalten worden. H. weiss seinen Stoff klar
zu gliedern und flüssig zu entwickeln. Es ist dem Leser, auch dem
dann und wann dissentierenden, ein Genuss ihm zu folgen, wie es
solcher den Hörern gewesen sein wird. Wohl geglückt ist die Kritik
des Utilitarismus und Evolutionismus. Allen, die ihre ethische Auf-
fassung an das moderne Schlagwort „Evolutionismus^ anlehnen, und
denen, weil sie das Spätere sogleich als das Vollkommnere und
Bessere ansehen, schon „der reine Zeitverlauf einen geheiligten
Charakter bekommt^, sollten H.s lichtvolle Ausführungen Nachdenken
und Selbstbesinnung wecken. H.s eigener Standpunkt ist der richtige
einer Gesinnungsethik, mit der er Kants ethischen Grundbegriff, die
Autonomie des sittlichen Willens, verbinden will. Für letztere sieht
er nicht in Kants einzebien Fassungen des kategorischen Imperativs
den adäquaten Ausdruck. Sie besteht ihm einzig und allein in der
Tatsache, dass Handlungen immer nur durch das Bewusstsein, als
pflichtmässige zu geschehen, d. h. in eigner Bejahung einer irgend-
wie gebotenen Pflicht, sittlich werden. Die Betonung dieser Tatsache
entspricht allerdings durchaus der Gesinnungsethik; den Autonomie-
Gedanken scheint sie Ref. noch nicht einzuschliessen. Die Autonomie
besagt doch wohl nicht, dass jemand auch sich selbst etwas ge-
bietet, was ihm etwa durch andere Gebote nahegelegt ist. Sie be-
sagt, dass ein Gesetz {v6fwg) sich selbst (aeatrrdr), kein StcqoVj befiehlt.
Deshalb gebietet nach Kant das sittliche Gesetz nicht die Verwirk-
lichung von Gütern, auch nicht eines „höchsten Guts**, es befiehlt
Oberhaupt kein Objekt, das ihm voranginge (ein ftc^ov), zu verwirk-
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PAUL MENSEL, ßJLIUS GOLDSTEIN, 183
liehen, sondern es befiehlt sich, das Gesetz, selbst = qua Gesetz. Der
Gegensatz von Autonomie und Heteronomie geht m. a. W. nicht auf
die Gesinnung des Handelnden, sondern auf die Art des sittlichen
Gebots. Da H. nicht ebenso unterscheidet, entfernt er sich m. E.
mehr als er meint vom Sinne Kants und setzt sich gerade dadurch
in den Stand, eine Reihe sittlicher Erscheinungen freier als dieser
selbst zu würdigen. Man lese z. B. die feinen Ausführungen darüber,
wie sich „sittlich", „unsittlich", „aussersittlich" und „böse" unter-
scheiden, die ' treffliche Kritik des BegrifTs der „schönen Seele" usw.
Andererseits konnte ebendeshalb die Gefahr des Relativismus nicht
ebenso wirksam vermieden werden, wie sie Kant zu vermeiden ver-
mocht hat. Möge sich das sympathische Büchlein viele Freunde er-
werben.
Halle a. S. , Hermann Schwarz.
Dr. Julius Goldstein: Die empiristische Geschichtsauffassung
David Humes mit Berücksichtigung methodologischer und erkenntnis-
theoretischer Probleme. Eine philosophische Studie. Leipzig, Verlag
der Dürrschcn Buchhandlung. 1903 57 S.
Im I. und Hauptabschnitt seiner Studie sucht der Verfasser zu
beweisen, dass Humes empiristische Geschichtsauffassung namentlich
auch in ihrer praktischen Durchführung in seinem Geschichtswerk,
der „History of England", abhängig sei von den allgemeinen er-
kenntnistheoretischen und methodologischen Voraussetzungen seiner
Philosophie, vor allem von seinem einseitig an der Naturwissenschaft
orientierten Kausalprinzip. Nur darauf bedacht, auch in der geschicht-
lichen Welt die zur Aufstellung allgemeiner Kausalverhältnisse not-
wendige Gleichförmigkeit der Ereignisse ausfindig zu machen, zerlege
er auch das menschliche Seelenleben in wenige sich immer gleich-
bleibende Motive, aus deren mechanischer Zusammensetzung sich die
historischen Charaktere ergäben. Den Beweis hierfür hat der Ver-
fasser schwerlich erbracht. Ebenso häufig wie auf die Gleichheit der
Menschen in ihren Grundtrieben weist Hume schon in seinen Essays
auf die unendliche Mannigfaltigkeit ihrer Charaktere hin, auf die
widerspruchsvolle Unberechenbarkeit ihrer Natur.
Noch weniger tritt in der History of England eine derartige
Versimpelung seiner oft sehr feinsinnig beobachteten historischen Per-
sonen hervor, wie sich notwendig aus einer Mischung weniger an
Quantität und Qualität immer gleicher Motive ergeben würde. Es ist
wahr, er verkennt häufig die politische Grösse und gänzlich das reli-
giöse Genie eines Luther. Aber der Grund hiervon liegt in der
Enge seines persönlichen Geschmacks, nicht in der Einseitigkeit einer
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184 REZENSIONEN.
bewusst angewandten naturwissenschaftlichen Methode und der da-
durch bedingten unhistorischen Auffassung von der psychologischen
Gleichheit aller Menschen. Denn ausdrücklich legt er z. B. an einem
Cromwel oder De Retz einen ausserordentlichen Massstab an
(Ess. II, VI, I), und keineswegs fehlt ihm der Blick für menschliche
Grösse. Nur hat er seine eignen Werturteile; ein Eroberer und ein
Märtjrrer gilt ihm wenig, ein Gesetzgeber und ein Napier sehr viel
(vgl. diese Zeitschr. Bd. 114, S. 136 ff.). Alles Radikale, jede grosse
Leidenschaft ist ihm schon persönlich fatal, ja verhasst wegen ihres
stürmischen Charakters. Dies hat auch Verfasser in anderem Zu-
sammenhange richtig hervorgehoben und ebensowohl erwogen, wie
weit sich Hume durch die einseitigen Massstäbe seiner Zeit be-
herrschen liess.
Durchaus nicht stelle ich die psychologistische Tendenz der
Humeschen Geschichtsschreibung gänzlich in Abrede. Nur erhält
seine „erkenntnistheoretische und methodologische Position*' in der
Geschichte eine andere und festere Basis, als Goldstein ihr gegeben
hat, durch einen vom Verfasser nicht erwähnten Grundsatz von grosser
Tragweite: Was von wenigen Personen abhängt, muss zum grossen
Teil dem Zufall zugeschrieben werden oder geheimen und unbe-
kannten Ursachen; was aber von einer grossen Anzahl ausgeht, kann
häufig durch bekannte und bestimmte Gründe erklärt werden.
(Ess. I, I. XIV.) Dieser Satz zeigt in der Tat, das Humes erkenntnis-
theoretischer Empirismus zum Allgemeinen in der Geschichte hin-
strebt. Aber nicht wie Goldstein will, in der Einzelmotivierung auf
dem G-biet der Personengeschichte. Nur dort, wo allgemeine und
konstante Prinzipien, wie z. B. Gesetze und Regierungsformen, die
Sitten eines Volkes, die herrschenden Leidenschaften einer Zeit zur
Wirkung kommen, findet der vorsichtige Empirist den sicheren Boden
für die Aufstellung allgemeiner Erfahrungssätze, nur aus ihnen er-
geben sich nach Humes eignen Worten Schlussfolgerungen von fast
mathematischer Sicherheit und Allgemeinheit. Dieser Punkt hätte um
so mehr Beachtung verdient, als sich Hume gerade hier mit den mo-
dernen Bestrebungen, die Geschichte zu einer Naturwissenschaft zu
machen, berührt, insbesondere mit der psychologisch -kausalistischen
Geschichtstheorie eines Lamprecht.
In einem 2. Abschnitt legt Verfasser dar, wie verständnislos
Hume den sittlichen und religiösen Erscheinungen des geschichtlichen
Lebens und bei aller richtigen Kritik der Theorien der Aufklärung
auch den politisch-rechtlichen und sozialen Bewegungen der Mensch-
heit gegenüberstehe. Der 3. Abschnitt spricht Hume die Fähigkeit
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ßJLlUS GOLDSTEJN, LUDWIG STEIN. 185
ab, von seinem empiristischen Standpunkte aus die Geschichte als
ein sinnvolles Ganze zu verstehen.
An dem praktischen Falle Humes glaubt Verfasser die Unfrucht-
barkeit des Empirismus als eines erkenntnistheoretischen Prinzips in
der Geschichte überhaupt nachgewiesen zu haben. Er knüpft damit
an die berechtigte Forderung an, dass die allgemeinen Erkenntnis-
mittel des menschlichen Geistes, die bisher einseitig an der Natur-
wissenschaft orientiert waren, so zu erweitem sind, dass sie auch
dem eigentümlichen Erfahrungskreise der Geschichte gerecht werden.
— Den Empirismus aber lehnt Verfasser nochmals in einer „Vorrede"
ausdrücklich ab, „gerade aus Gründen der Empirie," weil er nicht
das zu geben vermöge, „was vom Geist an die Geschichte heran-
gebracht wird".
Mein Urteil muss ich dahin zusammenfassen, dass die Studie
Goldsteins zwar viel Anregendes enthält, aber in ihrem Hauptpunkte
weder eine vollständige noch ganz zutreffende Skizze von den Grund-
linien der Humeschen Geschichtsauffassung.
Hildesheim. Heinr. Ooebel.
Dr. Ludwig Stein. Die soziale Frage im Lichte der Philosophie.
Vorlesungen über Sozialphilosophie ;und ihre Geschichte, a. verbesserte
Auflage. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1903. XVl. u. 598. S.
Die I. Auflage dieses umfangreichen Handbuches der Soziologie
ist in dieser Zeitschrift in einer grundsätzlichen Auseinandersetzung
über „Ethische Prinzipienfragen" (B. 117, S. 38 — 70) von Erich
Adickes besprochen worden. In der 2. Auflage hat der Verfasser die
losere Vorlesungsform beibehalten, dennoch aber das Buch durch
viele Kürzungen, besonders in den kritischen Erörterungen und älteren
Literaturnachweisen, die durch neuere bis 1903 ergänzt sind, hand-
licher gestaltet. Der Verfasser hat sich auch entschlossen, „manches
rhetorische Beiwerk .... geräuschlos fallen zu lassen". Dennoch
muss ich mich dem scharf ablehnenden Urteil von Adickes auch für
die 2. Auflage im ganzen anschliessen. Denn der Charakter des
Buches ist derselbe geblieben. So sind alle die von Adickes ge-
rügten „Geschmacklosigkeiten ärgster Art", soweit ich verglichen
habe, stehen geblieben. Sie würden m. E. nicht so auffallen, wenn
der Verfasser nicht eine so hohe Meinung von der Vortrefflichkeit
seines Werkes und der Vornehmheit seines Stiles hätte. Über „das
Eintagsfliegentum der politischen Presse oder gar das geräuschvolle
Schönrednertum alkoholerhitzter Bierbankpolitiker" weiss er sich er-
haben. „Ich halte vielmehr etwas auf literarische Schamhaftigkeit
und Gedankenkeuschheit" (S. 34). Dabei ist sein Stil trotz seiner
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i86 REZENSIONEN.
j^reinen Freude am Gestalten'' keineswegs immer original, es laufen
Trivialitäten unter wie folgende: „Wem das Ungefähr den Gefallen
erwiesen hat, ihn in eine goldene Wiege zu legen oder ihm gar zum
Überfluss einige Blutstropfen von eingebildet blauer Färbung mitzu-
geben, der ist für den Kampf ums Dasein ganz anders ausgerüstet
als der armselige Wicht, dem das Verhängnis den Possen gespielt
hat, dass er entweder rechtmässig in einer elenden Hütte oder gar
unrechtmässig zur Welt gekommen ist." (S. 561.)
Wenn ich den philosophischen Charakter des Buches zwar nicht
gänzlich bestreite, wie Adickes es tut, ihn aber doch in Zweifel ziehe,
so ist es meine Pflicht, dies harte Verdikt auch selbständig zu be-
gründen, um so mehr, als das Buch einen grossen Erfolg gehabt hat.
Denn es ist ins Russische und in seinem systematischen Teil auch
ins Französische übersetzt worden; die i. Auflage war schon nach
5 Jahren vergriffen und die vorliegende 2. ist Herbert Spencer mit
dessen Genehmigung gewidmet. Was der Verfasser zunächst unter
„Plan und Methode der philosophischen Erfassung der sozialen
Frage" versteht (3. Vorlesung, S. 34 — 48), zeigt sich sogleich bei der
Gruppierung seines Stoffes. „Jedes Problem bietet der philo-
sophischen Beleuchtung 3 verschiedene Seiten dar, sofern man sich
in die letzten Tiefen — namentlich seiner zeitlichen Entwicklungs-
momente — versenken will: seinen Ursprung, seinen geschichtlichen
Werdegang, seinen augenblicklichen Stand." (S. 36.) Unter An-
wendung dieser überraschend einfachen „drei Momente der philo-
sophischen Betrachtungsweise" ergibt sich die Disposition seines
Buches: I. Abschnitt. Urformen des Gemeinschafts- und Gesellschafts-
lebens. S. 62 — 144. II. Abschnitt. Umriss einer Geschichte der
Sozialphilosophie. S. 145 — 395. III. Abschnitt. Grundzüge eines
Systems der Sozialphilosophie. S. 396 — 584.
Nicht besser steht es mit der „Sozialphilosophischen Grund-
legung" (4. Vorlesung, S. 49 — 61). Auch hier nicht viel mehr als
ein prunkvoller Aufputz, ein Raketenfeuer, aber kein solides Fun-
dament! Ein Beispiel für viele: es ist ganz unmöglich, dahinterzu-
kommen, was Stein unter Kausalität versteht. S. 51 ist sie ihm „ein
blosses Moment der Entwicklung**, S. 52 nennt er sie „ein Grundgesetz
des Lebens", S. 53 ist es ihm einerlei, wie es sich mit dem Wesen
und Ursprung des Kausalgesetzes verhalten möge; „für uns ist die
kausale Verknüpfung alles Geschehens eine unausweichliche psycho-
logische Auschauungsnotwendigkeit, wenn nicht gar logische Denk-
notwendigkeit". S. 54 sagt er schlechtweg: „Unter Kausalität ver-
stehen wir in diesem Zusammenhange natürlich die Denkmäler der
Literatur und Kunst, die rechtlichen und religiösen Institutionen, die
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LUDWIG STEIN. 187
politischen uod sozialen Traditionen ** Und trotz dieses
proteusartigen Charakters seiner Kausalität rechnet er sie unter die
drei „Hauptfaktoren" seiner Sozialphilosophie (S. 425) oder unter die
„sozialphilosophischen Motivationen". (S. 489.) Ebenso tritt bei
andern grundlegenden Begriffen die schon von Adickes hart ange-
lassene „grosse Verschwommenheit und Vieldeutigkeit der Termi-
nologie" hervor.
Stein will aber nicht nur seinen soziologischen Theorien eine
erkenntnistheoretische und psychologische Basis geben, er will sie
auch zu einer philosophischen Weltanschauung vertiefen. Diese kann
hier nur mit einem Blick gestreift werden. Im Gegensatz zu
Nietzsche legt er den Hauptakzent auf die fortschreitende Soziali-
sierung des Menschen. Ein höherer Typus „der soziale Mensch" ist
der letzte Sinn der sozialen Evolution. Dieses „Hochziel" kann nur
auf dem Wege des „Rechtssozialismus" (dessen Formel S. 46a) er-
reicht werden. Das sozialisierte Recht erweist sich als eine „Sozial-
pädagogik fQr Erwachsene", es erzieht durch seine Institutionen den
sozialen (= sozial empfindenden) Menschen. Ein sozialisiertes Milieu
wird so geschaffen, und damit wird sich der soziale Staat von selbst
einstellen. Erforderlich ist hierzu aber auch die Sozialisie rung der
5 „ideologischen Faktoren". (Religion, Moral, Kunst, Wissenschaft
und Pädagogik.) Dabei geht es der Religion besonders schlecht:
aller Mystik wird sie entkleidet, alle Jenseitigkeitsmotivationen werden
ihr geraubt, und es verbleibt dem verweltlichten Klerus nur als
Hauptaufgabe, „auf Grund statistischer Nachweise" den Gläubigen die
Solidarität des Menschengeschlechtes zu predigen. — Schliesslich
mündet Steins evolutionistische Weltanschauung in einen „sozialen
Optimismus", der das nahe, diesseitige Ziel der physiologischen,
intellektuellen und moralischen Höherbildung des Typus Mensch greif-
bar vor Augen sieht.
Bei genauerer Betrachtung erweist sich Steins Weltanschauung
als ein blasser Eklektizismus; ein vielfach schon paktierender recht-
licher und wirtschaftlicher Sozialismus — nach einem Aufsatz Steins
im »Tag" 1904, Nr. 347 hat sein „Rechtssozialismus" gar „den Vor-
zug eines gewollten Doppelsinns" als eines rechtsstehenden und recht-
lichen Sozialismus — wird religiös - ethisch gewandt, mit der regula-
tiven Idee des „sozialen Menschen" ausgestattet und schliesslich mit
einem philosophischen Optimismus der unbedingten Lebensbejahung
verquickt: fertig ist eine sozialphilosophische Weltanschauung, welche
alle Bedürfnisse des Menschen, auch seine metaphysischen, zu be-
friedigen den Anspruch macht und im Grunde so schal und nüch-
tern ist.
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l88 REZENSIONEN.
So komme auch ich zu dem Ergebnis, dass Steins Buch, wie
K. Vorländer Ober ein anderes Buch desselben Verfassers in dieser
Zeitschrift, Bd. 119, S. 210 urteilt, philosophische Förderung im
ernsten Sinne nicht zu geben vermag. Sein Wert als Handbuch der
sozialen Frage entzieht sich natürlich ganz meiner Beurteilung.
Hildesheim. Helnp. Qoebel.
Dr. phil. Arno Scheunert: Der Pantragismus als System der
Weltanschauung und Ästhetik Friedrich Hebbels. Hamburg
und Leipzig, 1903. Verlag von Leop. Voss. 330 S.
Mit logischer Schärfe, freUich auch mit vielen Wiederholungen,
wird das metaphysisch-ethische Weltbild zusammengestellt, das hinter
Hebbels Schöpfungen steht, der Pan-Tragismus, die Auflassung des
Weltprozesses als einer Ungeheuern Tragödie. Des Dichters Geist
wurzelt tief in der absoluten Philosophie, deren Schicksal er auch in-
sofern teilt, als alle wertvollen mit echt dichterischer Plastik hin-
gestellten Einzelurteile der Zweifelhaftigkeit der universalen Prämissen
nichts nehmen können. Dass Philosophieren, dichterisches Schaffen
und Leben aufs innigste zusammengehören, dass der Dichter seinen
Geschöpfen gegenüber oberste Instanz der ethischen Beurteilung ist, trifft
wohl nicht nur bei Hebbel zu. Der wiederholt gebrauchte Ausdruck
„Philosophie pro domo" kommt mir da zu geringschätzig vor. Auch
„frostig und gemütlos'' kann ich diese in schwer durchkämpften Ge-
dankengängen errungene Weltanschauung, die sehr richtig als „Not-
wehr gegen den Pessimismus" bezeichnet wird, nicht ünden. Femer
darf man nicht vergessen, dass eine isolierte Behandlung des Philo-
sophen Hebbel sein ganzes Schaffen in einseitige Beleuchtung rückt,
die freilich manch eigenartigen Zug daran deutlich macht, aber ein
Allgemeinurteil nicht begründet. Der Lebenssaft einer „Maria Magda-
lena" z. B. entquillt in erster Linie, trotz des metaphysischen Vor-
worts, der im Eltemhause und in München gewonnenen Erfahrung
und Menschenkenntnis, und noch mehr ist für die reifsten Werke,
insbesondere die „Nibelungen", der „psychologische Realismus" und
die wuchtige, an mühsam behauene Felsquadern erinnernde Sprach-
form sehr viel bedeutsamer, als der Umstand, dass der Dichter das
von ihm so tief nachgefühlte und so mächtig wiedergegebene Leben
immer noch unter dem Gesichtspunkt des „Pantragismus" auffasst.
Inwiefern aber die Universalperspektive, die dieser eröffnet, einen
Sinn hat, lässt sich nur dann richtig beurteilen, wenn man die Stellung
des Dichters in der Entwicklungsgeschichte des Dramas, speziell der
Tragödie, berücksichtigt. Da stellt seine Philosophie mit ihren Kämpfen,
Zweifeln, Widersprüchen, Unklarheiten, die Scheunert selbst oft
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ARNO SCHEUNERT. ALFONS BILHARZ. 189
genug hervorhebt, die Geburtswehen neuer Kunstanschauungen dar,
wie sie den Werken eines Ibsen, Hauptmann u. a. zugrunde liegen,
spiegelt die Auflehnung des gesunden, poetischen Instinkts gegen ab-
strakte Schematisierung. Hebbel operiert zwar noch mit den alt-
üblichen Ausdrücken „tragische Schuld" und „Versöhnung**, gibt
ihnen aber einen Inhalt, der sie in Wahrheit völlig sprengt. Die
Willensfreiheit des Individuums tritt ganz zurück, und im Anblick der
erhabenen, wenn auch noch so furchtbaren Notwendigkeit alles Ge-
schehens findet er eine „Versöhnung'', die nun freilich aller bis dahin
gewohnten Massstäbe spottet. Sehr begreiflich daher, dass die
„Ethik** eine „schmerzlich empfundene Lücke** in seinem System ge-
blieben ist! Man darf ihn aber deshalb nicht härter beurteilen, als
etwa Goethe die „Braut von Messina**:
Gleichschlecht ergeht's dem Guten wie dem Bösen,
Ein schwierig Rätsel, rätselhaft zu lösen.
Sehr bezeichnend ist auch, dass Hebbel an Stelle der zur
Wiedervereinheitlichung strebenden „Idee** symbolischer Weise die
„Menschheit** treten lässt; so verwandelt sich, zunächst ihm selber
unbewusst, der metaphysische Hintergrund bereits in den sozialen. In
vieler Beziehung vollzieht sich demnach in Hebbels Denken ein müh-
sames Losringen von tief durchdrungenen alten Ideen, ohne dass für
die einer neuen Zeit schon die entsprechenden klaren Formen ge-
funden wären. Dieser Einblick ist der Gewinn aus der Lektüre des
vorliegenden Buches, wenngleich der Verfasser selbst diesen Gesichts-
punkt nicht deutlich herausgearbeitet hat.
Bad Nauheim. Dr. Strecker, Gymnasialoberlehrer.
Alfons Bilharz: Die Lehre vom Leben. Wiesbaden, 1902 Verlag
J. F, Bergmann. Mit 22 Abbildungen im Text. XIV und 502 Seiten.
Gr. 8. Preis 10 Mk
In seiner 1897 erschienenen „Metaphysik als Lehre vom Vor-
bewussten** (im gleichen Verlage), hat Bilharz die Prinzipien seiner
Denkweise sowie die Grundzüge einer diesen Prinzipien gemässen Er-
kenntnistheorie, Logik, Mathematik und Physik entwickelt, und im
vorliegenden Werke bietet er die Konsequenzen seiner, hier in er-
heblichem Umfange wiederholt vorgetragenen, Denkweise im Bereiche
der im weitesten Sinne des Wortes zu fassenden Biologie.
B. bezeichnet seine Philosophie als heliozentrisch und betont als
ihre Besonderheit die mathematische Form. Der Begriff des Seins
muss seines Erachtens jedem anderen Begriff übergeordnet sein,
„weil jeder ihm angehören muss**. Das Sein geht der Vorstellung
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190
REZENSIONEN.
vorher, und es kann im Bewusstsein nichts sein, was nicht vom Sein
herbezogen wäre. Um das Sein zu erkennen, um ins „Vorbewusste*
zu dringen, muss unser gewohntes Denken „gedreht" werden, und
zwar „rechtwinklig**; Philosoph ist derjenige, der die rechtwinklige
Drehung des Denkens von der physischen Form auf den metaphysi-
schen Inhalt zu vollziehen vermag. (Form und Inhalt, Physik und
Metaphysik sind Gegensätze, die B. als aufeinander senkrecht deter-
miniert; er lehrt: „i. kontradiktorische oder inhaltlich gleiche Gegen-
sätze stehen sich diametral gegenüber, wie die Wagebalken einer
Wage; 2. konträre oder inhaltlich verschiedene Gegensätze stehen
aufeinander senkrecht**). Im Gebiete des Erkennens sind nach B.
Inhaltsunterschiede, d. h. Unterschiede im Qualitativen durch Rich-
tungs- bzw. Lageunterschiede, ja Oberhaupt nur durch solche aus-
zudrücken, und nur so wird es möglich, „die bisherige Unbestimmt-
heit** der Begriffe aufzuheben. Das Qualitative ist ganz allgemein
gleichbedeutend dem Intensiven, das aus der physikalischen Auf-
fassung geläufig ist. „Denke ich,** sag^ B. „das Intensive unter dem
Bild einer Ordinate, das Extensive unter dem Bild einer Abszisse,
und besteht das Erkennen oder die Begriffsbildung in der S3mthese
beider zu einem Ganzen, oder vielmehr in einer Umwandlung der
zuerst gegebenen intensiven Grösse in die extensive Grösse, so
müssen auch die Abmessungen der beiden rechtwinklig aufeinander
stehenden Linien gleich gemacht werden, woraus folgt, dass das
Quadrat das anschauliche Bild eines jeden Begriffs ist.** Der Begriff
der Grösse, „der oberste Begriff der Vernunft**, ist „der unmittelbare
Abdruck des Vorbewussten im Bewusstsein** ; m. a. W. das Sein im
Vorbewussten, das Sein vor und unabhängig von allem Denken „ist**
„Seinsgrösse**, ist „begrenztes Sein**. Was wir Objekte nennen, sind
„nur Ebenen, die einen stereometrischen Inhalt heucheln, selbst aber
in unendlicher Reihenfolge den Inhalt der das Ich begrenzenden
Seinsgrösse darstellen**. Nach B. kann man sich „die punktuelle
Seinsgrösse der inneren Erfahrung, die subjektive Welthälfte oder das
Sein des Ich als ausgedehnten (aber dennoch unteilbaren) kubischen
Körper von quadratischem Querschnitt und unendlicher Länge"
denken. Der metaphysische Inhalt des Universums lässt sich kenn-
zeichnen durch die rechtwinkligen Koordinaten des Raumes und
der Zeit.
Ob nun eine nach diesen, dem ersten Bande passim entnom-
menen Sätzen aufgebaute Philosophie uns weiter zu bringen vermag
als die traditionelle, wage ich nicht zu entscheiden. Das philosophische
Gebäude, das Bilharz aufgeführt hat, ist freilich solide, aber — nach
Abrechnung des Accessorischen — sehr, sehr ärmlich: die Drehung
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ALFONS BILHARZ,
191
des Denkens in den Raum schafft leicht ein ungemein einfaches
Schema für die Welt, aber dieses Schema hat den bösen Fehler, ohne
mehr oder minder willkOrliche und dogmatische Zutaten — auf dogma-
tische Annahmen hat es B. auch fundiert — weder direkt noch
durch Deduktion etwas Evidentes oder sachlich Aufklärendes (wir
können uns doch trotz aller Konzession der Betrachtung nach Grösse
und Form vom Inhaltlichen nicht völlig emanzipieren; und der von
B. besonders gerühmte Satz z. B., dass Raum und Zeit aufeinander
senkrecht stehen, ist in der Tat verblüffend einfach, aber er wird
günstigstenfalls nur denen etwas bedeuten, die trotz Kant etc. über
Wesen und Genesis von Raum und von Zeit sich die gleiche, im
Grunde naive Auffassung wie B. bewahrt haben) über die Welt und
ihren Grund zu besagen.
Die „Lehre vom Leben" ist nicht so durchaus vom Prinzip der
strengen Gegensätzlichkeit im Denken oder der Rectangularität be-
stimmt, sie enthält die Konzession der Unentbehrlichkeit gewisser
logozentrischer Verfahren. B. hält vorerst eine Auseinandersetzung
mit Kant, Schopenhauer, v. Hartmann und Wundt Ober das Recht
und die Besonderheit seiner ontozentrischen Auffassung doch für an-
gebracht. Das Leben, definiert B. sodann, ist „vermöge seiner Ein-
heitlichkeit, ein blosser Punkt, aber auch das Zusammenbestehen eines
eindimensionalen, eines zweidimensionalen oder eines dreidimensio-
nalen metaphysischen Begriffs''. Die metaphysische Bedingung der
Entstehung des Organismus besteht „in der Erreichung eines inneren
Gleichgewichts nach allen drei Dimensionen, oder im Auftreten der
zeitlichen Veränderung, die eine Veränderung nach einer bestimmten
Richtung ist, die ihrerseits durch das eine Objekt bestimmt ist, das
dem Subjekt gegenüber steht; daher ist Organismus Welthälfte, das
Unorganische Bruchteil einer solchen". In analogem Stile bietet B.
die Entwickelungsgeschichte der Organismen (er spricht von eliptischer
Laufbahn des Organischen und von einer bestimmten, von dem „Zu-
sammenwirken des metaphysischen Triebes der Veränderlichkeit und
der Konstanz'' abhängigen Entwickelungsrichtung der Spezies) und
der tierischen Seele („der dreidimensionalen, aus Sein, Wollen und
Denken bestehenden"). Den wesentlichen Unterschied zwischen
tierischer und menschlicher Seele determiniert B. im Hinblick auf die
Sprache; er sagt, beim Tiere ist nur synthetische Begriffsbildung
(Verstand) vermöge Zusammenfassens der Empfindungsgrössen , beim
Menschen ist auch analytische Begriffsbildung (Vernunft) vermöge
„Hinausdenkens der qualitativen Verschiedenheiten*: „Gehört Emp-
findung, als vorbewusst, dem Sein an, ist sie also Form in halt, so
steht die sinnliche Vorstellung dem Wortbegriff wie Inhalt und Form
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192
REZENSIONEN.
gegenaber, und, wie diese, sind daher auch die seelischen Tätigkeiten,
die dabei wirksam werden, gegensätzlicher Art. Verstand und Ver-
nunft, kann man sagen, stehen aufeinander senkrecht." — Was B.
im einzelnen vorträgt Ober Struktur und Funktion des Organischen,
über Haeckel und Joh. Müller, Ober seelisches Geschehen, über „die
Entwickelungsgeschichte der menschlichen Vernunft als Kulturgeschichte
der Menschheit* und die Probleme der Gegenwart, femer Ober den
Begriff der Zweckmässigkeit und des Schönen, über ethische Grund-
sätze und faktische und erstrebenswerte Sozialverfassung und über
Nietzsche, das ist vielseitig interessant, scheint mir aber nicht in
notwendiger Beziehung zu seinen Prinzipien und ist überdies den von
anderen Autoren ausgesprochenen Ansichten und Theoremen nahe
verwandt, wo nicht von ihnen abhängig und aus der Diskussion der-
selben hervorgegangen; ich glaube darum, auf die Kennzeichnung des
Inhalts dieser Teile des Werkes hier verzichten zu dürfen.
Tivoli bei Rom. Chr. D. Pflaum.
Julius Pikler: Physik des Seelenlebens mit dem Ergebnisse
der Wesensgleichheit aller Bewusstseinszustände. Allgemein-
verständliche Skizze eines Systems der Psychophysiologie und einer Kritik
der herrschenden Lehre. Leipzig, 1901. Verlag von Joh. Ambr. Barth,
40 S. Preis 1,20 Mk.
Die in freiem Plauderton entwickelte psycho -physiologische
Theorie des Verf.s gipfelt in der Annahme, dass allen seelischen
Erlebnissen „Bewegungen derselben Teilchen der nervösen Zentral-
substanz" entsprechen. Damit meint P. namentlich das Rätsel der
Einheit des Bewusstseins erklären zu können. Er betont femer, dass
das Nervensystem auch unabhängig von äusseren Einwirkungen eine
„stete Lebensbewegung** hat, die „während aller Erlebnisse fortdauert**.
Die seelischen Grundphänomene werden als Modifikationen der „steten
Urlebensbewegung" charakterisiert. Wie freilich aus der Mechanik
von Gehimteilchen Bewusstsein entsteht, weiss der Verf. ebensowenig
zu sagen, als die früheren materialistischen Psychologen. Obersetzt
man seine Lehre aus dem Mechanischen ins rein Psychologische, so
enthält sie besonders den wichtigen Gedanken, dass die Seele vor
allen äusseren Eindrücken keine tabula rasa ist, sondern einen kon-
stanten Komplex innerer Erlebnisse hat
Königsberg. Arnold Kowalewski.
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RUDOLF HOLZAPFEL: PANIDEAL.
193
RudolfHolzapfel: Panideal. Psychologie der sozialen Gefühle. Leipzig,
1901. Verlag von Joh. Ambr. Barth. Mit einem Vorwort von E. Mach.
233 S. Preis 7 Mk.
In dieser Schrift ist der Versuch gemacht, die treibenden Kräfte
und Ideale des höheren Geisteslebens nach ihren typischen Formen
zu charakterisieren. Eine Reihe von bedeutsamen Gefahlskomplexen,
die man sonst selten einer psychologischen Analyse zu unterziehen
pflegt, lernen wir hier in neuer Beleuchtung kennen. Das blosse
Definieren und Klassifizieren drängt sich etwas stark in den Vorder-
grund und gibt der Darstellung eine gewisse scholastische Färbung.
Dazu kommen einige terminologische Monstrositäten, die bei einem
Schüler von Avenarius allerdings nicht überraschen. So findet man
Ausdrücke wie „unterschiedsgraduell hygiopsychische Menschheitsent-
wickelung", „selbstdegenereszenzharmonische Billigungsfreiheit", „unter-
schiedsgraduell hygiopsychische Menschheitsdegenereszenzharmonie der
Billigungen", „unterschiedsgraduell hygiopsychische menschheitsent-
wickelungsrevolutionäre Moral", ,, unterschiedsgraduell hygiopsychische
menschheitsentwickelungsrevolutionär ethische Kunstrevolution". Mit
diesen vielstöckigen Wortgebäuden kontrastiert die aphoristische Basis^
aus der sie hervorragen. Die einzelnen Paragraphen bestehen fast
alle aus einem Satz. Die auch sonst in der modernen Literatur
bemerkbare Vorliebe für den Aphorismus scheint ein Zeichen von
Degeneration der philosophischen Kraft zu sein. Abrupte Sentenzen
sind wohl der Kindheitsstufe des Denkens angemessen. Nach den
reiferen Entwickelungsstadien umfassender Räsonnements und Systeme
bedeuten sie einen Rückschritt. Bei dem vorliegenden Buch, das oft
so viele Gedanken in einen Satz presst, wird freilich mancher Leser
die häufigen Absätze auch als angenehme Ruhepausen empfinden.
Am interessantesten ist wohl der Abschnitt über die „Einsamkeit"
(S. 1 — 22), der mit grossem Geschick zahlreiche intime Varietäten
dieser seelischen Situation skizziert. Von der ^Sehnsucht" (S. 23ff.),
der „Hoffnung" (S. 4iff.), dem ^Gewissen" (S. 81 ff.), der „Kunst"
(S. 157 ff.), weiss H. gleichfalls feine ZiXge aufzudecken. Am un-
befriedigendsten dürfte der Abschnitt über das „Gebet" (S. 62 ff.) sein
wo diese spezifisch religiöse Funktion teilweise mit einer rein ästheti-
schen Begeisterung verwechselt und dadurch entwertet wird.
Königsberg. Arnold KowalewBkL
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. 127 13
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194 REZENSIONEN,
Ernst Sänger. Kants Lehre vom Glauben. Eine Preisschrift der
Krugstiftnng der Universität Halle -Wittenberg. Mit einem Geleitwort
von Prof. Dr. Hans Vaihinger. Leipzig, DOrrsche Buchhandlang. 1903.
XVm IV 170 S. - 3 Mk.
Sängers Arbeit, eine mit dem vollen Preise der Krugstiftung
gekrönte und spflter erweiterte Schrift, umfasst drei Hauptabschnitte,
in denen der Verfasser i. die | vorkritischen, 2. die kritischen Schriften,
3. den Nachlass Kants behandelt. Er kommt zu folgendem Resultat
(S. 162): „In den vorkritischen Schriften ist der Ausdruck und Be-
griff des Glaubens nur einmal in spezifisch Kantischem Sinne gefasst.
(Und zwar in den Träumen eines Geistersehers, [Ha. II', 376 — ^381],
vgl. Sänger, S. 8). Das erklärt sich aus dem starken Übergewicht,
welches in dieser Periode der Dogmatismus hat; wo das dogmatische
Wissen sich breit macht, bleibt für den Glauben in Kants Sinne
wenig oder kein Raum übrig. So muss denn Kant, um seinem
Glauben Platz zu schaffen, erst das angemasste eitle Wissen des
Dogmatismus „aufheben **. Das tut er in seinen kritischen Schriften.
In ihnen vollzieht er die strenge Scheidung zwischen dem Gebiet des
erfahrungsmässigen Wissens und dem des praktischen Glaubens, und
in ihnen nennt er seinen Glauben bei Namen, er nennt ihn den
reinen moralischen Vemunftglauben oder das Postulat der reinen
praktischen Vernunft. Der Nachlass Kants zeigt ein Doppelgesicht:
wir sehen neben dem Kritizismus den Dogmatismus wieder auftauchen,
speziell in den Vorlesungen. Doch besteht im Nachlass das umge-
kehrte Verhältnis wie in den vorkritischen Schriften: Wirken in der
vorkritischen Periode Kants dogmatische Anschauungen bedrückend
auf den erwachenden Kritizismus, so im Nachlass die kritischen An-
schauungen erdrückend auf die letzten Regungen des Dogmatismus.**
Bietet diese Übersicht kaum etwas Neues, so liegt auch der
Hauptwert der fleissigen, sorgfältigen und besonnenen Arbeit in der
Zusammenstellung aller derjenigen Stellen aus den Kantischen Schriften,
die über seinen Glaubensbegriff handeln. Der Verfasser beginnt mit
der Naturgeschichte des Himmels, lässt keine nur irgendwie in Be-
tracht kommende Schrift Kants unbeachtet und unterzieht auch den
Nachlass, die losen Blätter, die Reflexionen und die Briefe seiner
Untersuchung. Er hat es sich dabei „zur Aufgabe gemacht, Kants
Lehre vom Glauben selbst zunächst bloss treu und objektiv wieder-
zugeben. Eine allgemeine Kritik, speziell über den Wert der Kantischen
Glaubenstheorie für Wissenschaft und Leben liegt deshalb nicht im
Kreise seiner Arbeit" (S. 2). Diese Aufgabe hat er durchaus erfüllt.
Mit Interesse lässt man die allmähliche Entwicklung und Ausführung
der erhebenden Kantischen Lehre an sich vorüberziehen. Dass dabei
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ERNST SINGER: KANTS LEHRE VOM GLAUBEN. 195
einzelne Partieen, wie besonders die Stellen aus den Losen Blättern,
wenig bieten, ist nicht des Verfassers Schuld. S. stellt unter anderm
fest, dass der gegen K. gerichtete Vorwurf, dass „in der 2. Auflage
der Kr. d. r. V. der Glaubensbegriff in einer Weise betont sei, die
der I. Auflage widerspreche** (S.| 59 ff.), ganz unbegründet ist. Dass
aber die Freiheit in der Kr. d. pr. V. bald als Idee, bald als Postulat
bezeichnet wird, ist, wenn auch bemerkenswert, so doch kaum „auf-
fäUig** (S. 62). Ist doch erstens jedes Postulat auch eine Idee, d. h.
^,ein Begriff, dem man die okjektive Realität theoretisch nicht sichern
kann (Kr. d. U. [Kehrbach], S. 371), und bleibt doch andrerseits die
Freiheit immerhin ein Postulat, da nach des Verfassers eignen Worten
(S. 63) „ihre reale Gültigkeit von Kant als Voraussetzung des Sitten-
gesetzes angenommen wird.** Dass Kant die Freiheit den beiden
andern Postulaten, der Unsterblichkeit und dem Dasein Gottes, bald
überordnet — wie er tun sollte — , bald auch als gleichwertig neben
sie stellt, ist als Ungenauigkeit zuzugeben. Trotzdem aber hat m. E.
der Verfasser kein Recht, diese Ungenauigkeit als ein Argument da-
für zu betrachten, dass K. den „ursprünglichen Plan der Kr. d. pr. V.
in weiterem Verlaufe aufgegeben hat** (S. 62). Da zeigt er sich, wie
auch an einigen wenigen andern Stellen, etwas angesteckt von der
modernen, ganz zu verwerfenden krankhaften Sucht, in Kants Schriften
nicht einheitliche, wohlüberlegte Werke eines grossen Philosophen zu
sehen, sondern sie als durchaus widerspruchsvolle, ohne rechten Plan
zusammengestoppelte Konglomerate eines philosophischen Stümpers
zu betrachten.
Mit Recht wird dagegen mehrfach von dem Verfasser hervor-
gehoben, dass K. den in der Kr. d. r. V. aufgestellten Begriff des
doktrinalen oder theoretischen Glaubens (Kr. d. r. V. [Kehrbach],
S. 624 f.) später ganz fallen lässt. Dieser Begriff ist auch in der
Tat ein Unbegriff, ein „Mittelding, aus dem man machen kann, was
man will**. (Ha. 1838. I, 183.) Es ist nur ein gesteigertes Meinen,
d. h. „ein mit Bewusstsein sowohl subjektiv als objektiv unzureichendes
Fürwahrhalten**, wenn ich es für sehr wahrscheinlich halte, dass es
wenigstens in irgend einem der Planeten Einwohner gebe (Kr. d. r. V.,
S. 624); die Lehre vom Dasein Gottes dagegen, die K. an jener
Stelle der Kr. d. r. V. ebenso wie das Vorige zum doktrinalen Glauben
rechnet, kann auf theoretischem Wege nicht eirmial wahrscheinlich
gemacht werden, zu ihr führen gar keine objektiven Gründe; sie
ist, theoretisch betrachtet, nur eine „Vemunfthypothese, d. i. eine
Meinung, die aus subjektiven Gründen zum Fürwahrhalten zureichend
ist**, (Was heisst sich im Denken orientieren? Ha. 1835. I, 130)
— sie ist eine regulative Idee. Die theoretische Vernunft reflektiert,
13*
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ig6 REZENSIONEN.
als ob ein intelligenter Welturheber vorhanden wäre, und bleibt sich
stets dessen bewusst, dass sie weder für noch gegen seine Existenz
das Geringste aussagen kann, die praktische nur glaubt oder postu-
liert, dass er vorhanden ist. (Vgl. Emil Arnoldt, Über Kants Idee
vom höchsten Gut. Königsberg 1874, S. 20.) „Es gibt keinen theo-
retischen Glauben an das Übersinnliche," sagt daher K. später selbst
mit Recht. (Ha. 1838. I, 184. Von einem neuerdings erhob, v. T.)
Die Erklärung, die Sänger für das Hervortreten des Dogma-
tismus in Kants Vorlesungen gibt: „er musste, auch als er schon
Kritiker, nicht mehr Dogmatiker war, seinen Zuhörern über die bis-
herigen Lösungsversuche der philosophischen Probleme Aufklärung
verschaffen" (S. 132 Anm.), befriedigt wenig; aber es dürfte auch
schwer sein, hierfür eine befriedigende Erklärung zu geben.
Zum Schluss skizziert der Verfasser in einem Anhang noch
kurz „die doppelte Richtung, — die negative: Zertrümmerung des
spekulativen Unterbaus des Dogmas und die positive: Aufrichtung
des neuen Fundaments für die Religion — , in der Kants Einfluss
auf die Theologie wirksam war und ist, und gibt in Kürze an, in
welcher Weise dieser Einfluss bei den beiden leitenden Theologen
des 19. Jahrhunderts, bei Schleiermacher und Albrecht Rjtschl,
bemerkbar wird". (S. 163.)
Königsberg i. Pr. Otto SohOndOrfTer.
S. Wernick: Zur Psychologie des ästhetischen Genusses. Leipzig,
1903. Engelmann. 148 S. Preis 2.40 Mk.
Von dem Standpunkt ausgehend, dass eine sichere Grundlage
für die wissenschaftliche Ästhetik nur in der psychologischen Ana-
lyse des subjektiven ästhetischen Zustandes zu finden sei, entwirft
Wernick unter obigem Titel ein ästhetisches System, dabei immer vom
gegebenen Zustand zu dessen Erklärung, von der Wirkung zur Ur-
sache fortschreitend. Allerdings wird schon der Zustand selbst nicht
immer unvoreingenommen, ohne Rücksicht auf die nachfolgende Er-
klärung dargestellt. So wird gleich am Anfang das ästhetische
Wohlgefallen nicht ohne eine gewisse Willkür abgegrenzt gegen den
sinnlichen Genuss, insofern es nicht wie dieser an Elementarvorstel-
lungen, sondern an Vorstellungskomplexe gebunden sei, und gegen
die übrigen „praktischen" Arten des Wohlgefallens, insofern es, sein
Ziel in sich selbst tragend, kein Auseinandertreten von Wunsch und
Erfüllung zulasse; gegen widersprechende Tatsachen, wie komplizierte
sinnliche Genüsse und unerwartet eintretendes Glücksgefühl, glaubt
Wernick seine Theorie geschützt durch die bei rein psychologischer
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S. WERNICK.
197
Untersuchung doch bedenkliche Annahme, „dass die begriflFlich fixierten
Unterschiede in Wirklichkeit fliessen* (S. 3). Die Erklärung des so
aufgefassten ästhetischen Zustandes, Mannigfaltigkeit der Eindrücke
auf der einen, Einheit in deren Zusammenfassung auf der anderen
Seite , gewinnt W. durch die Einführung der unbewussten Vorstel-
lungen, die „in ganz überwiegender Weise unsre Gefühle bestimmen*
(S. 27). Die Fülle dieser halbbewussten mitschwingenden Vorstel-
lungen, wie sie niemals gleichzeitig über die Schwelle des Bewusst-
seins treten könnte (S. 39), und die Verbindung dieser Vorstellungen
zu einem einzigen einheitlichen Komplex, wie sie wieder nur möglich
sei, wenn nicht verschiedene bewusste Vorstellungen einander fremd
gegenübertreten (S. 41), mache das Wesen des ästhetischen Zu-
standes aus. Das ästhetische Verhalten werde aufgehoben, wenn zu
der reinen Kontemplation ein Willensimpuls hinzukomme, weil jede
dem vorhandenen Vorstellungskomplex fremd gegenObertretende , mit
ihm nicht assoziierte Vorstellung „die Entwickelung desselben nach
der Tiefe des Unbewussten hin beschränkt, indem sie selbst einen
Teil der disponiblen Energie für sich beansprucht* (S. 73). Den
Kontrast zwischen dem Reichtum des Unbewussten, durch den wir
uns dem Absoluten selbst nähern, und der Enge des Bewusstseins,
in der sich um so eindringlicher die Endlichkeit unserer Natur offen-
bare, für unser Fühlen verschwinden zu machen, sei die Wirkung des
ästhetischen Objektes (S. 34). „Den Begriff empfinden wir als
schrankensetzend, den ästhetischen Genuss als schrankenaufhebend''
(S. 45). — Die Analogie mit Kants inexponibler „ästhetischer Idee",
noch viel mehr aber mit LEiBNizens „petites perceptions", oder auch
Baumgartens klarer, aber undeutlicher „sinnlicher Erkenntnis" liegt
auf der Hand.
Nach allgemeinen Betrachtungen über ästhetische Wirkungen
untersucht der Verfasser die Gesetze der Assoziation (worunter er
die Verbindung „bereits vorhandener Vorstellungen zu einer neuen
Einheit", im Sinne der Kantischen „S3mthesis" versteht, S. 46 — 72),
der Reproduktion früherer „ruhender" Vorstellungen (S. 73 — 103)
und der Sinnesempfindung (S. 104 — 147) in ihrer Bedeutung
für das ästhetische Verhalten, d. h. darauf hin, unter welchen Be-
dingungen die grösste Weite des Bewusstseinsinhalts sich mit der
Einheitlichkeit seiner Zusammenfassung verbinden, die grösste Fülle
von Vorstellungen mit dem geringsten Aufwand von psychischer
Energie rezipiert, reproduziert, assoziiert werden kann. Und immer
wird auf dieselbe negative Bedingung hingewiesen, dass der Vorgang
nicht die Schwelle des Bewusstseins übersteige (S. 69: Assoziation,
S. 94 ff.: Reproduktion, S. 105 f., 129 f.: Sinnesempfindung). Gewiss
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198 REZENSIONEN.
ist der Hinweis auf die Bedeutung der halbbewussten Vorstellungen
für das ästhetische Verhalten berechtigt (wie ja auch von diesem Hin-
weis die ganze Reform des ästhetischen Denkens im achtzehnten Jahr-
hundert, die Opposition gegen den klassischen Rationalismus ausgeht).
Aber es ist doch wohl zu weit gegangen, wenn der Verf. die Ursache
des ästhetischen Eindrucks nur in den mitschwingenden VorsteUungen
sehen will (S. 35, 63 f.). Und wenn wieder als Bedingung dieser Fülle
mitschwingender Vorstellungen bei der ästhetischen Betrachtung die
einheitliche Vorstellungsverbindung hingestellt wird (S. 41 , 49), so
drängt sich uns da die Frage auf: wie verhält es sich denn mit der
wissenschaftlichen Konzentration, in welcher doch auch jene einheit-
liche Vorstellungsverbindung stattfindet, ohne dass den mitschwingen-
den Vorstellungen eine besondere Bedeutung zukäme?
Bern (Schweiz). Anna Tumarldn.
Johann Caspar Lavater 1741 — 1801: Denkschrift zur hundertsten Wieder-
kehr seines Todestages, herausgegeben von der Stiftung von Schnyder
von Wartensee. Zürich, 1902. 4®. Kommissionsverlag von Alb. Müller
VIII und 502 S.
Fünf Fachgelehrte haben sich zu dieser würdig ausgestatteten,
mit 2 Tafeln und 33 Textbildern geschmückten Denkschrift zusammen-
getan. An dieser Stelle kommt nur der von Heinrich Maier ver-
fasste Aufsatz: „Lavater als Philosoph und Physiognomiker** S. 333
bis 494 in Betracht und teilweise in glücklicher Ergänzung dazu der
Hauptaufsatz des Buches: „Lavater als religiöse Persönlichkeit" von
G. VON ScHULTHEss- Rechberg S. 151 — 309. — Am Schlüsse seiner
Untersuchung muss Maier zugeben, dass Lavater im Grunde kein
Philosoph gewesen sei. Sicher geht ihm trotz aller logischen Schärfe
im einzelnen und vieler wissenschaftlicher Ideen die strenge Zucht
systematischen Denkens, die Einstimmigkeit in der Gesamtanschauung
völlig ab. Und er ist um so weniger Philosoph, als er mit dem Un-
gestüm seiner impulsiven Natur die Schranken der natürlichen Er-
kenntnis weit überfliegt und mit seinem immer dominierenden Gefühl
nach einem sinnlich -wahrnehmbaren Verkehr mit Gott, nach Wundem
und übernatürlichen Gebetserhörungen dürstet.
Gerechtfertigt wird dennoch die selbständige Behandlung
Lavaters als Philosophen durch manche von Maier lichtvoll dar-
gesteUte einzelne Züge, die unser philosophisches Interesse vollauf in
Anspruch nehmen. Man findet bei Lavater erstaunliche Tiefblicke
in das innerste Wesen der Menschennatur, ist er doch „der philo-
sophische Repräsentant'' der Geniezeit, ein Prophet des höheren,
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JOHANN CASPAR LAVATER 1741-1801. 199
ganz persönlichen Menschen der genialen Intuition und des lebendigsten
unmittelbaren Empfindens. Überall tritt seine Subjektivität, sein In-
dividualismus hervor, und trotz seines Wunderglaubens darf man ihn
keineswegs für einen unfreien Geist halten. Auch in der Religion
vertritt er die Rechte der Individualität: jeder hat seinen eignen
Gott nach den Bedürfnissen seiner Organisation. Lavater geht so-
gar soweit, das eigentliche Wesen der Religion „diese Götterzauberei,
EngelerschafFung , Gottesrealisierung — diese Hypostasis m uns — "
(S. 465) Magie zu nennen. — Recht eigenartig ist auch seine der
Geniestimmung so nahe liegende Idee der unbegrenzten Vervollkomm-
nungs- und Entwickelungsfähigkeit der menschlichen Natur. Sie gibt
ihm die stärksten religiösen und sittlichen Impulse, sie nährt in ihm
die überschwenglichsten Erwartungen und Hoffnungen auf die Er-
höhung und Steigerung unseres Wesens bis zur göttlichen Vollkom-
menheit und Machtfülle. In den glühendsten Farben, in einem sprung-
haften taumelnden Stil zeichnet er das Bild des zukünftigen Menschen.
„Das ist fast die Sprache," bemerkt Maier S. 449 treffend, „in der
später Nietzsche seinen Übermenschen charakterisiert". Dennoch
welch fundamentaler Unterschied zu dem Geniepropheten vom Ende
des 19. Jahrhunderts! Für Lavater ist Christus das ideale Vorbild
und Urbild der Menschheit, sein Mensch wird erst im jenseitigen
Leben, welches das diesseitige in kontinuierlicher Entwickelung fort-
setzt, die höchsten Vollendungen seines Wesens erreichen, und nicht
durch eigne Kraft, sondern durch göttliche Erleuchtung und Offen-
barung. — Von philosophischem Interesse ist auch der erkenntnis-
theoretische Sensualismus, der Lavaters gesamter Weltanschauung
zugrunde liegt. Es ist ein „genialer Sensualismus der gefühls-
mässigen Erfahrung, dem sinnliche Wahrnehmung und inneres Er-
leben zusammenflicssen." (S. 484.) Eine auf das lebendige Ganze,
auf das Geistleibliche des Menschen gerichtete Erkenntnis weise, welche
in den Physiognomischen Fragmenten ihren adäquatesten Ausdruck
fand. Maier weist darauf hin, wie dieser Sensualismus auch in dem
innerlich verwandten Glaubensphilosophen Friedrich Jacobi wider-
klingt (S. 461) und später von Feuerbach weiter entwickelt
worden ist.
Das sind die Hauptzüge in dem von Maier entworfenen Bilde
des Philosophen Lavater, der freilich immer vor dem religiösen
Menschen in ihm eine dienende Stellung einnahm. Der Verf. ist sich
bewusst, nur eine Vorarbeit für einen künftigen Biographen geliefert
zu haben, der den ganzen Menschen Lavater als Persönlichkeit zu
begreifen, „diese ganze reiche Eigenart in ihrem Werden und
Wachsen" zu verstehen vermöchte. Man muss anerkennen, dass der
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200 REZENSIONEN.
Verf. seiner begrenzten Aufgabe auf Grund eines umfänglichen
Quellenmaterials in jeder Beziehung gerecht geworden ist.
Hildesheim. Heinr, Goebel.
W. Lexis: Abhandlungen zur Theorie der Bevölkerungs- und
Moralstatistik. Mit lo Figuren. Jena, Gustav Fischer. 1903. 253 S.
Preis 6 Mk.
Wie Röscher und BtJCHER von der Philologie, Schmoller von
der Geschichte, F. A. Lange von der Philosophie, so ist Wilhelm
Lexis von den mathemat. und Naturwissenschaften zur Staatswissen-
schaft gekommen. Auf diesem biographischen Umstände beruht seine
besondere Vorliebe und seine besondere Bedeutung für die Statistik,
insonders die Demographie. Das vorliegende wertvolle Buch ist eine
Sammlung teils alter, grösserenteils neuer Abhandlungen zur Methodik
der Demographie. In der ersten wird diejenige Methode der Elimi-
nation gewisser notwendiger Fehler der gangbaren Mortalitätstabellen,
welche der Verf. schon 1875 in seiner „Einleitung" aufgestellt hatte,
neu aus- und an Beispielen durchgeführt. Die von L. vorgeschlagene
geometrische Konstruktionsmethode hat den praktischen Vorteil, dass
sie zur Not auch ohne Integralrechnungen auskommt. Besonders lehr-
reich sind weiter die im Anschluss an Quetelet gegebenen variations-
statistischen Erörterungen über die sogenannten Typischen Grössen
und das Gausssche Fehlergesetz (S. loiff.), und deren besondere
Anwendung auf die Statistik der Zahlenverhältnisse der Geschlechter
(S. 176 ff.). Das Zahlenverhältnis der Knaben- zu den Mädchen-
geburten stellt sich prima facie als ein Koordinationsverhältnis
dar (S. 84, 132); es lässt sich aber auf ein Wahrscheinlichkeits Ver-
hältnis reduzieren (S. 164). — Von erkenntnistheoretischem Interesse
sind vornehmlich die Ausführungen über die Wahrscheinlichkeit
a priori und a posteriori und das Bernoullische Gesetz (S. 41 ff.,
45). Dabei wird der Begriff der „statistischen Wahrscheinlichkeit"
aufgestellt und definiert als „ein echter Bruch, dessen Zähler eine
Anzahl beobachteter besonderer Fälle oder Elemente angibt, die aus
der vom Nenner angegebenen Anzahl beobachteter Fälle oder Ele-
mente entweder hervorgegangen sind oder einen Teil dieses letzteren
bilden" (S. 62). Die naturgesetzliche Geltung dieser Wahrscheinlich-
keitsgesetze wird mit Fug verneint (S. 182), vor kritiklosen Deduk-
tionen gewarnt (vgl. S. 178). Naturgesetze und statistische Wahr-
scheinlichkeiten sind schon um deswillen toto coelo verschieden, weil
es sich bei letzteren stets auch um Intellekts- und Willensvorgänge
handelt. (Ein Bekenntnis zum metaphysischen Indeterminismus soll
darin nicht liegen: S. 220.) Abgelehnt wird demnach der sowohl von
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WILIjTZKL A. ELEÜTHEROPULOS. 20I
den Klassikern als auch von den sozialen Materialisten so gern ge-
brauchte Ausdruck „Naturgesetze der Volkswirtschaft" (S. 220); ja
schon das Spielen mit naturwissenschaftlichen Analogien (Carey u. a.)
ist mindestens gefährlich (S. 247). Dies gilt für die Demologie über-
haupt, ganz besonders aber für die „empirische Sozialethik" (S.249).
Leipzig. Hans Reiohel.
WiLUTZKi: Vorgeschichte des Rechts. Teil I. Mann und Weib. Breslau,
1903. Trewendt. 251 S.
Der vorliegende Band erörtert an der Hand umfänglichen
Quellenmaterials die Urgeschichte der Eheverfassungen: Gesamt-,
Gruppen-, Einzelehe, Raub- und Kauf ehe, Mutter- und Vaterrecht.
Bezüglich der umstrittenen Zeitfolge der einzelnen Figuren beschränkt
sich Verf. auf vorsichtige Andeutungen. Die Schlussfolgerungen
Bachofens sind ihm zweifelhaft (S. 130) ; freilich pflichtet er hin-
wiederum Köhler bei (S.^128), wenn dieser die Priorität des Mutter-
rechtes verficht (Ztschr. f. vergl. RWss. XV, 32 ff.). Prinzipielle Be-
trachtungen fehlen ; Verf. bekennt sich zu einer agnostizistischen Auf-
fassung (S. 237 f.). Auch die Fällung ethischer Werturteile wird von
der Hand gewiesen: „statt uns zu entsetzen, müssen wir uns hinein-
versetzen" (S. 54). Leider verstösst Verf. zuweilen selbst gegen
diesen löblichen Grundsatz („haarsträubend" S. 29, 49, „unbegreiflich,
scheusslich" S. 37, „Unsitte" S. 49, „die Scham verhüllt sich trauernd"
S. 44). Von frivoler Witzelei hält Verf. sich frei; die einzige Ent-
gleisung findet sich S. 156, Z. 8. Die eindringentife, mit wissenschaft-
lichem Ernste gearbeitete Materialsammlung sei warm empfohlen. Der
Verf. ist ein schon wiederholt literarisch hervorgetretener Praktiker
von aussergewöhnlicher Belesenheit.
Bezüglich des inzwischen 1903 erschienenen II. und III. Teiles,
der hauptsächlich auf die Staatenbildung und die Anfänge des Straf-
rechtes eingeht, verweise ich auf die zutreffende Besprechung von
Eccius in Gruchots Beiträgen Bd. 48, S. 182.
Leipzig. Hans Reiohel.
Dr. A. Eleutheropulos: Gott, Religion (zweiter Band von: Individual-
osychische Erscheinungen zur Grundlegung einer wissenschaftlichen
Philosophie). Berlin, 1903. E. Hofmann & Co. 138 S.
Der Verf. , der u. a. sich in einem zweibändigen Werke: „Wirt-
schaft und Philosophie" 1900/1901, die Aufgabe gestellt hat, den
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202 REZENSIONEN.
gesamten Betrieb der Philosophie auszubauen und gründlich zu
revidieren, will mit dem etwas vagen Titel der angegebenen Arbeit
ausdrücklich keine ,, sogenannte Religionsphilosophie" bieten, wie es
denn solche Wissenschaft überhaupt nicht gebe (S. 2 Anm.), sondern „im
Volksbewusstsein" (richtiger wohl im Sinne des Autors: Völker-
psychologie) die „Vorstellungen von Geistern und Gott prüfen".
Das soll nicht „vor dem Forum der Psychologie" geschehen, weil
diese nicht die Merkmale der Religion bestimme, sondern nur die
Wurzel derselben; freilich ist das ein Widerspruch zu dem Obertitel
der Arbeit, den Verf., abgesehen von Anderem, noch lösen müsste.
Es ist wohl eine religiöse Erfahrungskritik gemeint im Sinne, nicht
aber mit den Terminis von Avenarius, den er auch nicht zitiert,
Götter-, Gottes- oder Geisterglaube soll dabei für die Untersuchung
indifferent sein, eine psychologische Unebenheit, die den Begriff der
Religion nicht nur verflacht, sondern sogar an klarer Bestimmung
hindert: denn wie etwa bei der Ehe, z. B. je ob Mono- oder Poly-
gamie, wird sich vollends bei der Religion je nach der Eigenart des
objektiven Gegengliedes (Gott oder Geist) auch das subjektive Zentral-
glied verschieben. Dies Moment, durch das der Verf. irrtümlich die
Religion unter Anderem S. 73 bestimmt, nämlich dass der Mensch die
Gottheit versöhne, trifft dann nicht mehr zu, wenn wie in den reforma-
torischen Religionen Gott als Gnädiger gewusst wird. Wenn schon
hier die Wertung der Religion als psychologischer Tatsache vermisst
wird, so geschieht das erst recht, wenn sich Verf. schon im Vorwort
und hier in ergreifender Weise als Atheisten vorsteUt: die ver-
knöchernde Orthodoxie seines griechischen Vaterlandes hat ihn ohne
Zweifel religiös entleert, anders als Tolstoj in seiner „Kritik der
dogmatischen Theologie", Leipzig (E. Diederichs), 1904, es an sich
erfahren hat. Wenn nun zwar Psychologie ohne Psyche, Biologie
ohne Leben, organische Chemie ohne Annahme von Organismen heute
aus hier nicht zu erörternden Gründen bearbeitet werden kann, so
müssen wir doch im Namen der Empirie dagegen protestieren, dass
ein Blinder über Malerei, ein Irreligiöser über Religion wissenschaft-
lich sich äussere. Der vom Verf. vertretene Atheismus möchte als
Spezialfall des extremen Neukantianismus aufzufassen sein, der die
Aussenwelt überhaupt leugnet, wie Verf. die Gotteswelt. Religion ist
aber ein so zartes Gewächs mit unendlich vielen Gefühlsfasern, dass
man diese innerlich kennen oder verstehen muss, wenn man die
Religion auf eine wissenschaftliche Koordinate abtragen will; Verf
kennt innerlich nur seinen „orthodoxen* Glauben und legt diesen
ablehnend allen seinen Erwägungen zugrunde (vergl. auch meinen
Artikel im Jahrbuch der Glogau-Gesellschaft 1904, S. 15: Glogaus Reli-
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A. ELEUTHEROPULOS. L. WEIS.
203
gionspsychologie). Ohne Zweifel hat Verf. eine Reihe von richtigen
methodischen Gesichtspunkten an- und ausgeführt, die in der noch
immer recht im argen liegenden Religionsphilosophie nach modernen
Grundsätzen wirksamer werden müssen. Dabei hindert ihn jedoch
eine wenig dem prätentiösen Tone des Buches entsprechende Un-
kenntnis der neueren Theologie und — wie es scheint — der Psycho-
logie an dem Fortschritt, den er bei seinem Scharfsinn hätte anbahnen
können. Nur weniges: Harnack zitiert er in irgend einer Anmerkung,
hat aber ihn und die durch ihn angeregte Debatte über das „Wesen
des Christentums", das Verf. eingehend behandelt, kaum verarbeitet.
Wer femer heute über Altes und Neues Testament wie Verf. wissen-
schaftlich urteilen will, darf sich nicht mehr mit Aper9us seines augen-
blicklichen common sense begnügen.
Alt-Jessnitz. G. Vorbrodt.
Prof. Dr. L. Weis: Kant, Naturgesetze, Natur- und Gotteserkennen,
eine Kritik der reinen Vernunft. Berlin, C. A. Schwetschke S
1903- 257 S. 3,60 Mk.
Der etwas ungelenke Titel weist auf die Arbeit eines durch Her-
ausgabe von naturwissenschaftlichen Lehrbüchern, philosophischen wie
theologischen Studien hervorgetretenen Mannes hin, der in seinem
höheren Alter die Kritik der reinen Vernunft richtig interpretieren
will. In einem Aufsatze der „Theolog. Studien und Kritiken", 1904,
S. 554 ff. über den „ spekulativen und praktischen Gottesbegriff
Kants", in dem Verfasser viel klarer und straffer als in der vor-
liegenden Arbeit vorgeht, wird der Inhalt dieser letzteren dahin zu-
sammengefasst, dass „sowohl dem Naturwissenschaftler als dem
Kritiker Kant die Welt eine Wirklichkeit, eine Schöpfung ist, in
welcher die Naturgesetze wie Sittengesetze von Gott gewollt sind".
Gewisse Momente, die der Verfasser als Naturwissenschaftler und
Theolog bei Kant betont, mögen dazu dienen, die bekannten Schwierig-
keiten der Auslegung zu mindern, aber zur vollen Beherrschung der
Kritik gehörte doch wohl mindestens etwas Einsicht in die exegetischen
Arbeiten Anderer, die freilich Verfasser absichtlich zurückgestellt zu
haben angibt: er will die transcendentale Methode Kants mit dem
naturwissenschaftlichen Erfahrungsinhalte vereinigen, was jedoch nie
in der Absicht Kants lag, auch wohl nicht möglich war. Es fehlt
ferner zum Versuche solcher Vereinbarung u. a. noch ziemlich an der
Ausdeutung Kants in der Sprache der modernen Psychologie. Wenn
aber Verfasser die hierher gehörigen Probleme der Psychologie der
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204
REZENSIONEN,
höheren Zentren schon jetzt hätte lösen wollen, dann würde er sich
m. £. an eine zweite Unmöglichkeit gewagt haben. Die Arbeit zeugt
von eindringendem Interesse für den, dessen loo jährigen Todestag
wir vor einiger Zeit feierten, ist auch aus reichem Schatze allgemeinen
Wissens und tiefen Gemüts geflossen; ob gerade das interessante
Problem der Gotteserkenntnis einige neue Klarheit aus dieser Arbeit
gewinnt, erlaube ich mir zu bezweifeln.
Alt-Jessnitz. G. Vorbrodt.
Dr. J. Fröhlich: Das Gesetz von der Erhaltung der Kraft und der
Geist des Christentums (die stetig steigende natürliche Umwertung
aller Werte im Willen zur höheren Einheit). Leipzig, Dieterichschc Ver-
lagsbuchhandlung. 1903. 59 S. 1,50 Mk.
Die Arbeit des bereits mit medizinischen und theologischen Ab-
handlungen hervorgetretenen Verfassers will das „ Weltgeschehen
unter dem Gesichtspunkt einer Entwicklung im Willen zur höheren
Einheit" betrachten und deshalb das Gesetz von der Erhaltung der
Kraft umstossen, das im Widerspruch stehe zu jedweder Entwicklung
zum Vollkommenen und zugleich zum Geiste des Christentums, der
Liebe. Verfasser ist sich der Kühnheit seines Vorhabens bewusst,
das „oberste Dogma der Wissenschaft" anzutasten; er will auch an
dem praktischen Wert des Konstanzgesetzes für naturwissenschaft-
liche oder technische Untersuchungen und Berechnungen in keiner
Weise (S. 20) rühren, aber das Konstanzgesetz soll „nicht die Wissen-
schaft beherrschen und ihren lebendigen, d. h. anwachsenden Geist
ertöten". Wenn S. 1—28 die Hauptthese behandelt wird, nämlich
das Gesetz von der Erhaltung der Kraft i) widerspreche der christ-
lichen Weltanschauung und daher fordere das Wesen derselben ein
anderes Weltgesetz, eben jenes metaphysische Gesetz des Willens
zur höheren Einheit, so ist im ganzen 2. Teil des Buches eine Reihe
von „Zusätzen und Erläuterungen" gegeben, in denen eine Menge
der dem Verfasser aufgestossenen Probleme erörtert werden mit
Aufwand von logisch -erkenntnis theo retischem Scharfsinn, aber zu
aphoristisch, z. B. Glauben und Wissen; das Wesen der Kraft; das
Gesetz von der Erhaltung der Kraft, der Satz der Identität und der
Substanzbegriff; zur Entstehung des Lebens; die Willensfreiheit u. A.
Der nicht immer straffe Zusammenhang der verschiedenartigsten
*) Behufs richtiger Interpretation des Energiegesetzes ist zu verweisen
auf die tüchtige Arbeit von H. Schwarz, der moderne Materialismus als Welt-
anschauung und Geschichtsprinzip, Leipzig 1904. S. 53, sowie auf den Aufsatz
von L. W. Stern in dieser Zeitschrift Bd. 122, S. 14 ff.
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^im
J, FRÖHLICH. 205
Fragen erklärt sich daraus, dass, wie das Vorwort angibt, das vor-
liegende Heft den Inhalt einer langjährigen Arbeit^) zusammenfasst,
die ein ^Gesetz steigender Kraftwerte im Physischen wie im Geistigen"
feststellen will. Bei der etwaigen Veröffentlichung dieses Systems
einer Metaphysik, das bei dem Ernst des Verfassers dankenswert
sein könnte, möchte ich bitten, nicht nur dasselbe etwas fester auf
dem Boden der Empirie zu gründen, sondern dazu auch die ein-
schlägige Literatur der Sonderdisziplinen, namentlich der Psychologie,
Biologie und Theologie ein wenig mehr einzusehen.
Wenn Verfasser zunächst das Konstanzgesetz in seiner Ver-
allgemeinerung als kosmologisches Prinzip ablehnt, so dürfte
das nicht ein so schwerer Verstoss gegen die Wissenschaft sein, als
den er es sich anrechnet. In solcher Form stehen sich allerdings
Konstanz- und Entwicklungsgesetz hart gegenüber, aber deswegen
darf man nicht das eine oder das andere leugnen, sondern muss sie
ergänzend auf gemeinsamen Boden ineinander fügen. An dem
grundlegenden Bewegungs- oder Vorgangsproblem nämlich
scheint mir eine Doppelreihe von Erscheinungen unterschieden werden
zu müssen, deren eine dem Konstanzgesetz, deren andere dem Ent-
wicklungsgesetz unterfällt. Kurz seien diese beiderlei Faktoren der
Bewegung als Form und Inhalt, Mittel und Zweck, Vorgang und Er-
folg, Weg und Richtung bzw. Ursache getrennt. In einer chemischen
Veränderung derselben Elemente ist die Menge der Energie unver-
änderlich, aber die Einfügung der Elemente in verschiedene Kom-
binationskomplexe fördert, bereichert das Weltgeschehen; ohne diese
Einfügung bleibt die Energie latent. Bei allem Drängen auf durch-
gehende Einheit der Gesetze überwiegt in der Naturwissenschaft die
Betrachtung des Mechanischen, der Erscheinung, der „Energie", die
man nicht, wie Fröhlich in Gefahr ist, mit „Kraft" vermengen darf,
kurz die Betrachtung der Form. Dagegen wird in der Psychologie
das Konstanzgesetz minder auftreten, weil hier alles mehr oder weniger
von bewusst persönlichen Kräften getragen ist. Jedenfalls müssen
wir uns hüten, ohne weiteres unter einer „Einheit" heterogene Tat-
bestände wie Form und Inhalt zu verklammern und dann über Wider-
sprüche zu klagen, wie es Fröhlich tut. Das ist freilich die Art, wie
ein Fechner und Lotze den Mechanismus und Idealismus als Nacht-
und Tagesansicht unterschieden.
*) Diese Studie ist mittlerweile erschienen: Der Wille zur höheren Ein-
heit VIII u. 168 S. Heidelberg 1905, nachdem Verf. seine Theorie in einem
geschichtlichen Überblick des Kraftbegriffs populär dargelegt hat in: Radium-
strahlen, ein Beitrag znr Frage: Mechanistische oder sittliche Weltanschauung?
Stuttgart 1904.
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2o6 REZENSIONEN,
Die „Basis" zu den metaphysischen Prinzipien des Willens zur
höheren Einheit sind für Fröhlich die Gnmdanschauungen etwa von
LoTZE, den er jedoch nicht zitiert. Die „Monaden" betätigen sich
innerhalb ihrer „Subjekt-Objektbeziehungen in Empfinden und Wirken".
Ein ursächliches Verhältnis besteht nicht zwischen diesen verschie-
denen Kraftäusserungen und Bewegungen von Empfinden und Wirken,
sondern jenes Verhältnis liegt tiefer und weist auf den Willen der
Glieder des Subjekt-Objektverhältnisses der Monaden zurück. Wenn
Wirken und Empfinden darum gar nicht konstant sein können, so
spiegelt sich im Empfinden das Wirken wieder, beide sind getragen
vom Willen der Monaden. So schliesst sich für Fröhlich wie für
LoTZE, mit dem er das christliche Verständnis teilt, das Welt-
geschehen zu einem Pantheismus ab in der Färbung eines voluntaristi-
schem Panpsychismus mit breitem Begleitstreifen von Evolutionismus
eines Hegel.
Wenn mir auch das sensorium für derartige Spekulationen
etwas abgeht, so habe ich doch den Eindruck, dass hier nicht nur eine
Lücke philosophiegeschichtsnotwendiger Kombination neben ScHOPen-
HAUER u. A. ausgefüllt wird, sondern auch eine originelle Begabung
vorliegt, die Wahrheit approximativ auf eine Weltformel zu bringen.
Alt-Jessnitz. G. Vorbrodt.
Dr. Manfred Fuhrmann: Das psychotische Moment. Studien eines
Psychiaters über Theorie, System und Ziel der Psychiatrie. Leipzig
^903- 93 S. Preis 2 Mk.
Der Gegenstand des kleinen Büchleins liegt eigentlich etwas ab-
seits von den Interessen, die in dieser Zeitschrift gepflegt werden.
Immerhin seien einige hinweisende Worte für den, der aus dem psycho-
logischen Gebiet sich auch einmal ins Studium des Psychopatho-
logischen begibt, gestattet. Die kleine Abhandlung sucht an Ein-
seitigkeit des Gesichtspunktes, aus dem sie entstanden ist, wohl
ihresgleichen und kann sich nicht genug tun in möglichst paradoxen,
kraftvollen Ausdrücken. Man liesst die Schrift trotzdem nicht ohne
Vergnügen, denn sie ist frisch geschrieben und lässt Geist und Kon-
sequenz nicht vermissen. Der Grundgedanke aller Ausführungen ist
— „das psychotische Moment" ; die „endogene" Anlage aller psycho-
pathologischen Individualität. Das psychotische Moment ist so alt
wie die Menschheit, es ist latent in jeder Persönlichkeit und kommt
zur Entfaltung als zerstörendes Fatum in der Psychose, die bei jedem
Geisteskranken aus seiner individuellen Anlage, der endogenen von
den Ascendenten übertragenen Disposition, erwächst. Alles Gerede
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M, FUHRMANN. SELBST AN ZEIGE, 207
von äusseren Einflüssen ist Unsinn. In einem Kapitel „spekulative
Psychiatrie", wird ein Gesetz der Konstanz des psychotischen Mo-
ments in Analogie zu dem Gesetz der Erhaltung der Energie aufzu-
stellen gesucht. Das psychotische Moment ist eine konstante Grösse,
„danach müssten notwendigerweise zu einer bestimmten Zeit so und
so viele Diebe, Verbrecher, so und so viele Genies und Psychotiker,
so und so viele Idioten und Epileptiker vorhanden sein. Die Idee,
durch Ausschliessung Epileptischer und Geisteskranker von der Ehe
das psychotische Moment auszurotten, erscheint sinn- und zweck-
los; das psychotische Moment, als auf endogener Basis beruhend,
muss immer wieder zur Entfaltung kommen, wenn es auch vorüber-
gehend latent werden kann." Es gibt keine Degeneration, so wenig
als es einen Fortschritt gibt. Somit ist auch die letzte menschliche
Illusion, der evolutionistische Optimismus, zerstört, was bleibt, ist
nur der Fluch der Existenz und der ruchlose Trieb zum Dasein! Und
doch schliesst das Buch: „laboremus" — ja warum und wozu? Das
ist die merklichste Inkonsequenz des Büchleins, dem man sonst bei
aller Einseitigkeit Folgerichtigkeit nicht absprechen kann. Sehr
hübsch sind die Äusserungen zur praktischen Psychiatrie, in denen
das Aufgeben zweckloser therapeutischer Versuche und die Erziehung
der Geisteskranken zur Arbeit empfohlen wird; auch für die Krimi-
nellen will Autor ähnliche Grundsätze durchgeführt wissen, natürlich
unter besonderer Berücksichtigung des psychotischen Moments in
ihnen. — Man wird die Schrift vielleicht nicht gerade mit unge-
trübter Freude, sicher aber auch nicht ohne Anregung aus der
Hand legen.
Giessen. Dr. M. Isserlln.
Selbstanzelgre.
Die Selbstanzeigen sollen den Autoren Gelegenheit geben, in Form eines kurzen
Referates über Inhalt und Tendenz der von ihnen verfassten Werke die Leser
selbst zu orientieren. Die Referate, welche durchschnittlich nicht mehr als
eine halbe Druckseite füllen sollen, sind an den Herausgeber der Zeitschrift,
Professor Dr. L. Busse in Münster i. W. einzusenden.
Dr. Oscar Ewald: Richard Avenarius als Begründer des Empirio-
kritizismus. Berlin, 1905. Ernst Hof mann & Co.
Das vorliegende Buch gliedert sich organisch an meine Schrift
„Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen" an. Was dort auf dem
Boden der Moralphilosophie geleistet werden sollte, erfährt hier einen Um-
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2o8 SELBSTANZEIGE.
satz zur Erkenntnistheorie. Der erkenntniskritische Psychologismus und
Relativismus« soll an seinem extremsten und kühnsten Vertreter, an
Richard Avenarius, dem Begründer des Empiriokritizismus, widerlegt
werden. Ein solches Unternehmen hat wegen der wachsenden An-
hängerschaft an jene Theorie heute aktuelleren Charakter. Richard
Avenarius ist mir nicht bloss deswegen interessant, weil er aufrichtiger
und radikaler als viele andere Parteigänger dieser und ähnlicher Systeme
die weitgehendsten Konsequenzen gezogen und insbesondere das Ver-
hältnis seiner Auffassung zu der Kants beleuchtet hat. Was mir noch
bedeutsamer schien, das ist seine positive auf Aufstellung eines neuen
Weltbegriffes gerichtete Tendenz. Dieser erhob trotz seines rela-
tivistischen Ursprunges Anspruch auf absolute Allgemeinheit. Meine
Kritik unternimmt es, die inneren Paradoxien dieses interessanten Ver-
suches nachzuweisen, in dem die biologische Weltanschauung eine
noch höhere Entfaltung feiert als in Huxley oder Spencer. Dem
Thema entsprechend weist das Buch zwei Teile auf: der erste will
die negative, antimetaphysische Wirksamkeit des Empiriokritizismus
aufhellen, der zweite den positiven Weltbegriff auf seine innere Halt-
barkeit und Leistungsfähigkeit prüfen. Dort steht zunächst die Theorie
der Introjektion im Vordergrunde, der Avenarius die Aufgabe zu-
erteilt, das Einströmen des Dualismus von Bewusstsein und Sein, von
Objekt und Subjekt in den monistischen, natürlichen Weltbegriflf als
Illu.sion zu enthüllen. Diese Theorie wird einer genauen und aus-
führlichen Analyse unterzogen: das Ergebnis derselben stempelt sie
zu einer petitio principii. Sie setzt die Werte, die nach Avenarius
erst durch sie hervorgebracht werden, Geist, Bewusstsein, Aussenwelt,
Innenwelt bereits voraus. Für den Dualismus ist mithin nicht die
Introjektion verantwortlich zu machen, sondern bloss für die irrige
Vermengung der einen mit der andern Sphäre, zumal für die räum-
liche Charakterisierung des Bewusstseins als eines Ortes, in dem
Phänomene untergebracht werden. Sodann wird der Nachweis er-
bracht, dass in der psychologisierenden Immanenztheorie des Avenarius
sich insgeheim, seinen eignen Absichten entgegen, relativistische Ten-
denzen bergen, die stellenweise zum Nihilismus auswachsen. Auf Seite
des Objekts: da erklärt Avenarius die absolute Weltbetrachtung, die
die Phänomene in ihrer beziehungsfreien Objektivität erfasst und die
relative, die sie in Beziehung auf das Subjekt perzipiert, nebeneinander
in Permanenz, so dass zwischen Realismus und Idealismus, zwischen
zwei unvereinbaren Standpunkten der UniversalbegriflF in der Schwebe
gelassen wird. Auf Seite des Subjektes: da verflüchtigt sich ihm der
Subjektsbegriff zu einem losen Aggregate von Phänomenen, so dass
der spezifische Sinn seiner Korrelation zu den Phänomenen, seiner
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SELBSTANZEIGE. NOTIZEN. ' 209
Gegenüberstellung, verloren geht. Schliesslich ereilt das gleiche Ver-
hängnis seinen UniversalbegriflF, den er positiv zu gestalten dachte.
Das Prinzip des kleinsten Kraftmasses, das er als systemschaffenden
Faktor einführt, ist teils biologischer, teils psychologischer Herkunft.
Daher nicht geeignet, allgemeine Wahrheiten zu bieten. Denn die
psychologische Konstitution ist niemals als Konstante gegeben, und
demnach sind es auch bloss variable Werte, die darauf fussen.
Transzendentale und formale Logik erhalten so ein relativistisches
Gepräge.
Sodann wird der Empiriokritizismus historisch abgeleitet. Er
weist über Laas zu Hume zurück. Auch seine Anhänger Petzoldt
bis zu Willy werden einer ausführlichen Kritik unterzogen. Von
zeitgenössischen Denkern wird hauptsächlich Mach berücksichtigt.
Zum Schluss wird die empiriokritische Schule unter kulturelle Aspekte
gerückt. Sie ist ein Ausfluss jener Denkrichtung, die sonst im Natura-
lismus und Impressionismus ihre Verkörperung feiert, einer Denk-
richtung, die autonome Werte nicht anerkennt, sondern sie aus der
gegebenen, veränderlichen Erfahrung begreift.
Notizen.
Gestorben: am 16. Oktober in Königsberg i. Pr. der bekannte und
verdiente Kantforscher Oberbibliothekar a. D. Dr. R. Reicke, 81 Jahre alt;
in Jena Privatdozent Dr. H. Stoy, 59 Jahre alt.
Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. K. Schaarschmidt in Bonn feierte am
8. Dezember sein öojähriges Doktorjubiläum. Geh. Rat Prof. Dr. M. Heinze
in Leipzig beging am 13. Dezember den 70., Prof. Dr. R. Eucken in Jena
am 5. Januar dieses Jahres den 60. Geburtstag.
Der Privatdozent an der Universität Berlin Prof. Dr. Fr. Schumann ist
(als Nachfolger Meumanns) zum ordentiichen Professor der Philosophie an
der Universität Zürich, Privatdozent Dr. H. Dinger in Jena zum a. o. Prof.
daselbst, der a. o. Prof. Dr. E. Arleth in Prag zum o. Prof. in Innsbruck
ernannt worden.
Es haben sich für Philosophie habilitiert: Dr. G. Misch in Berlin,
Dr. W. Frost in Bonn, Dr. H. Gomperz in Wien, Dr. H. Swoboda
ebendaselbst, Dr. V. Benussi in Graz.
NB. Mitteilungen, Personalien betreffend, werden von der Redaktion
jederzeit gern entgegengenommen. Der Herausgeber.
Zeitschrift f. Philos. u. philosoph. Kritik. Bd. ^arj
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2IO NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN,
Neu elngregrangrene Schriften.
(Eine ausführliche Besprechung der nachstehend aufgefQhrten Bftcher und
Schriften bleibt ausdrflcklich vorbehalten!)
Ach, Narziss, Dr. med. et phil.. Über die Willenstätigkeit und das Denken.
Eine experimentelle Untersuchung mit einem Anhange : Über das Hippsche
Chronoskop. X u. 294 S. Göttingen 1905. Vandenhoeck & Ruprecht 10 J$,
Adler, Dr. Friedrich Wolfgang, Die Metaphysik in der Ostwaldschen
Energetik. 47 S. Leipzig 1905. O. R. Reisland, i J$.
AwxENTiEFF, Dr. NicoLAUS, Kultur-ethisches Ideal Nietzsches. Darstellung
und Kritik. 153 Seiten. Halle a. S. 1905. C. A. Kfimmerer Sc Co. 2^.
Baumann, Julius, Anti-Kant. Mit Benutzung von Tiedemanns JTheätet'
und auf Grund jetziger Wissenschaft. VI, 194 S. Gotha 1905. rriedrich
Andreas Perthes Aktiengesellschaft, geh. 4 M.
Becher, Dr. phil. Erich, Der Begriff des Attributes bei Spinoza in seiner
Entwicklung und seinen Beziehungen zu den Begriffen der Substanz und
des Modus. (Abhandlungen zur rnilosophie und ihre Geschichte. Hrsg.
V. B. Erdmann.) 61 S. Halle a. S. 1905. Max Niemeyer. 1 Ji 60 ^,
Billia, Lorenzo Michelangelo, Per la dignitä della scuola Tetralogia.
27 S. Turin 1905. (Periodico „Ijbl Gioventir.) 0,20 L.
Birch-Reichenwald Aars, K., La responsabilit6 morale. (Congrte inter-
national de Philosophie. II. Morale g^n^rale.) 6 S. Paris 1905. Armand
Colin.
— Les hypothöses comme base des id^es g^nörales et des abstractions.
(S.-A. aus : Congr^s international de philosophie.) Genf 1905. Henry KOndig.
— Les id6es morales et Th^r^dit^ antimorale. (S.-A. aus Congrds international
de Philosophie.) 9 S. Gent 1904. Henry Kündig.
Bolin, Wilhelm, Pierre Bayle. Sein Leben und seine Schriften, iii S.
Stuttgart 1905. Fr. Frommanns Verlag (E. Hauff), geh. 2 Jt,
Bunge, G. von, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 2 Bflnde. II. Aufl.
I.Band: Sinne, Nerven, Muskeln, Fortpflanzung in 29 Vorträgen. VI u.
436 S. geh. 11 Jij geb. 13 Ji. II. Band: Ernährung, Kreislauf, Atmung,
Stoffwecnsel in 36 Vorträgen. X u. 670 S. Leipzig 1905. F. C. W. Vogel,
geh. 17 Jt, geb. 19 Jt.
Busse, L., Die Weltanschauungen der grossen Philosophen der Neuzeit
(Aus Natur uud Geisteswelt, Bd. 56.) 2. Auflage. VI u. 164 S. Leipzig-
Berlin 1905. B. G. Teubner. i Ji^ geb. i ^ 25 ^.
Chapmann, Dr. William John, Die Teleologie Kants. 54 S. Halle a. S.
1905. C. A. Kämmerer & Co. 80 ^.
Claparede, Dr. Ed., Congr^s international de Philosophie. 11«»« Session.
Tenne ä Geneve du 4 au 8 Sept. 1904. Rapports et Comj^tes rendus.
Avec 17 figures et 5 portraits hors texte. Vn u. 974 S. Genive 1905.
Henry Kündig.
Dessoir, Max und Menzer, Paul, Philosophisches Lesebuch. 2. Aufl.
Vin u. 300 S. Stuttgart 1905. Ferdinand Enke. geb. 5 ^ 60 ^.
DiTTRicH, Ottmar, Die Grenzen der Geschichte. 32 S. Leipzig u. Berlin
1905. B. G. Teubner. 80 (J.
Erdmann, Benno, Über Inhalt und Geltung des Kausalgesetzes. 52 S.
Halle 1905. geh. 1 Ji 70 ^.
Fischer, Ernst, Die geschichtlichen Vorlagen zur Dialektik in Kants Kritik
der reinen Vernunft. 63 S. Berlin 1905. Druck: Ehering.
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NEU EINGEGANGENE SCHRIf TEN 21 1
Friedländer, M., Die religiösen Bewe^ngen innerhalb des Judentums im
Zeilalter Jesu. XXX u. 380 S. Berlin 1905. Georg Reimer, geh. 7 J$.
Gasser, Herman, M. D.. The Law of Atomic Weight and Law of Gravi-
tation. 39 S. Plattevilie, Wis. 1904. H. Gasser. 15 c.
Gerhardt, Carl, Spinozas Abhandlung über die Verbesserung des Ver-
standes. Eine entwicklungsgeschichtliche Untersuchung. 117 S. Heidel-
berg 190^ Carl Winters Universitatsbuchhandlung. 3 Ji.
Hagemann, Prof. Dr. Georg, Psychologie. Ein Leitfaden für akademische
Vorlesungen sowie zum Selbstunterricht. 7. Aufl. teilweise neu bearbeitet
und vermehrt von Dr. Adolf Dyroff, Prof. in Bonn. Mit 27 Ab-
bildungen. XII und 354 S. Freiburg 1905. Herdersche Verlagsbuch-
handlung. 4 Jt, geb. 4 .^ 80 ^.
Hauff, Dr. Walt her, Die Überwindung des Schopenhanerschen Pessi-
mismus durch Friedrich Nietzsche. VI u. 80 S. Halle a. S. 1904. C. A.
Kämmerer & Co. i «4^ 20 ^.
Herbertz, Richard, Die Lehre vom Unbewussten im System des Leibniz.
(Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Hrsg. Von Benno
Erdmann. XX.) 68 S. ^ Ji, Halle a. S. 1905. Max Niemeyer.
Hoffmann, Abraham, Ren6 Descartes. (Frommanns Klassiker der Philo-
sophie Bd. XVni.) X u. 194 S. Stuttgart 1905. Fr. Frommanns Verlag.
2 Ji.
Hold von Ferneck, Alexander, Die Rechtswidrigkeit. Eine Unter-
suchung zu den allgemeinen Lehren des Straf rechtes. II. Band, i. Ab-
teilung: Notstand und Notwehr. 159 S. Jena 1905. Gustav Fischer.
3 -^ 50 <^.
Is BERLIN, Dr. Max, Assoziationsversuche bei einem forensisch begutachteten
Falle von epileptischer Geistesstörung. (S.-A. aus: Monatsschrift für
Psychiatrie und Neurologie. Bd. XVIli, Ergänzungsheft.) 27 S. Berlin
1905. Kargen.
Kant, Immanuel, Prolegomena zu einer jeden kQnftisen Metaphysik, die
als Wissenschaft wird auftreten können. Herausgegeb. von Karl Vor-
länder. (Philosophische Bibliothek Bd. ^o.) 4. Aufl. XLVI u. 208 S.
Leipzig 1905. Dürrsche Buchhandlung, gen. 2 J$,
Klein, F., Probleme des mathematisch-physikalischen Hochschulunterrichts.
(S-A. aus dem Jahresbericht der deutschen Mathematiker- Vereinigung
14. Bd.) 16 S. Leipzig 1905. B. G. Teubner.
KowALEWsKi, Dr. Arnold, Moltke als Philosoph. 85 S. Bonn 1905.
Röhrscheid & Ebbecke.
Kraus, Dr. Oskar, Die Lehre von Lob, Lohn, Tadel und Strafe bei
Aristoteles. X u. 79 S. Halle 1905. Max Niemeyer. 2 .^ 40 ^.
— Über eine altüberlieferte Missdeutung der epideiktischen Redegattung bei
Aristoteles. 30 S. Halle 1905. Max Niemayer, i J$.
Kr o ELL, Dr. med. H., Die GrundzQge der Kantschen und der physiologischen
Erkenntnistheorie. 48 S. Strassburg 1904. Ludolf Beust. i .^ 80 ^.
Kronenberg, Dr. M., Kant, Sein Leben und seine Lehre. 3. Aufl. XI
und 409 Seiten. Manchen 1905. C. H. Beck. geb. 4 ^ 80 ^.
Kronthal, Dr. Paul, Ober den Seelenbeeriff. Vortrag geh. in der Berliner
psychologischen Gesellschaft am 19. Oktober 1905. 32 S. Jena 1905.
G. Fischer.
Kuberka, Dr. Felix, Kants Lehre von der Sinnlichkeit. Gekrönte Preis-
schrift der Krug-Stiftung der Universität Halle- Wittenberg. VIII u. 146 S.
Halle a. S. 1905. C. A. Kammerer & Co. 2 Ji.
Lagerborg, Dr. Rolf, Studium zum peripherischen Mechanismus des Be-
wusstseinslebens: Das Gefühlsproblero. VI und 141 S. Leipzig 1905.
Joh. Ambr. Barth. 3 Ji.
14*
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212 NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN.
Landmann-Kalischer, Edith. Über den Erkenntniswert ästhetischer Ur-
teile 65 S. Leipzig 1905. Wilh. Engelmann.
Langen, Dr. phil. K., Der ästhetische Wert. Eine philosophische Studie mit
bes. Beziehung auf den metaphysischen Pessimismus, den monistisch-
naturalistischen Optimismus des modernen Lebens. 71 S. Berlin 1905.
R. Trenkel.
Lefevre, Dr., Du Mode de Transmission des Id^es. Conception mat6rialiste
de rintelligence humaine. 51 S. Brüssel 1905. P. Weissenbruch.
Lehmen, Alfons S. J., Lehrbuch der Philosophie auf aristotelisch-scholas-
tischer Grundlage zum Gebrauche an höheren Lehranstalten und zum
Selbstunterricht. II. Band: Kosmologie und Psychologie. 2 Aufl. XIX
u. 540 S. Freiburg i. B. 1905. Herdersche Verlagsbuchhandlung, geh.
6 Ji, geb. 7 ^ 80 ij.
Lipps, Theodor, Psychologische Studien. 2. umgearb. u. erweiterte Aufl.
287 S. Leipzig 1905. Dürr. 5 Ji.
Mantovani, Psicologia Fisiologica. 2. Aufl. 175 S. Mailand 1905. Ulrico
Hoepli. L. 1.50.
MoNDOLFO, RoDOLFO, Saggi per la Storia della Morale utilitaria. II. Le
teorie morali e politiche di C. A. Helvetius. 141 S. Padua- Verona
1904. Fratelli Drucker.
— II dubbio metodico e la storia della filosofia. Prolusione a un corso libero
di storia della filosofia nell' Universitä di Padova. Con Appendice storico-
critica. 190 S. Padua- Verona 1905. Fratelli Drucker.
MüHLENHARDT, Karl, Gott Und Meusch als Weltschöpfer. Philosophische
Betrachtungen. 241 S. Berlin- Wilmersdorf 1905. Selbstverlag. 3 Ji.
Newest, Th., Einige Weltprobleme. II. Teil: Gegen die Wahnvorstellung
vom heissen Erdinnern. Populär-wissenschaftliche Abhandlung. I. — V.
Tausend. 90 S. Wien 1906. Karl Konegen. i ul 50 ^.
Nietzsche, Friedrich, Gesammelte Briefe. Dritter Band. 11. Hälfte.
S. 333— -671. Berlin und Leipzig 1905. Schuster & Loeffler.
Paulsen, Friedrich, Zur Ethik und Politik. Gesammelte Vorträge und
Aufsätze. I. u. II. Band. (Deutsche Bücherei Bd. 31 u. 32.) 126 u. 119 S.
Berlin 1905. H. Neelmeyer. ä 50 ^.
Porena, Manfredi, Che cos'^ il hello? Schema D*Un'Estetica Psicologica.
XI u. 483 S. Mailand 1905. Ulrico Hoepli.
Post, Dr. phil. Karl, Johannes Müllers Philosophische Anschauungen.
(Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte. Herausgegeb. von
Benno Erdmann. Bd. XaI.) 147 S. Halle 1905. Max Niemeyer. ^ J$.
Renda, A., Le Passioni. Vlll u. 123 S. Turin 1906. Fratelli Bocca.
Richert, H., Schopenhauer. Seine Persönlichkeit, seine Lehre, seine Be-
deutung. (Aus Natur und Geisteswelt. Bd. 81.) 120 S. Leipzig und
Berlin 1905. B. G. Teubner. geh. i Ji^ geb. i .^ 25 <J.
RoLLA, Alfred o, Storia della Idee estetiche in Italia. IX ü. 439 S. Turin
1905. Fratelli Bocca.
Schneider, Dr. K. C, Grundzüge der vergleichenden Tierpsychologie. (S.-A.
aus dem Biologischen Centralblatt. Bd. XXV. No. 20 u. 21.) 47 S.
Leipzig 1905. G. Thieme.
— Der psychophysische Parallelismus. (S.-A. aus der Wiener klinischen
Rundschau No. 24, 26, 27, 28, 29.) 25 S. Wien 1905. M. Werthner.
— Das Wesen der Zeit. (S.-A. aus der Wiener klinischen Rundschau No. 11
u. 12.J Wien 1905. M. Werthner. 19 S.
— Vitalismus. (S.-A. aus dem Biologischen Centralblatt. Bd. XXV, No. 11.)
17 S. Leipzig 1905. G. Thieme.
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NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN
213
Schreiber, Dr. Hermann, Schopenhauers Urteile über Aristoteles. 64 S.
Breslau 1905. Kommissionsverlag der Koebnerschen Buchhandlung.
1 J(, 20 i;^.
V. Schubert-Soldern, Richard, Die menschliche Erziehung. Versuch
einer theoretischen Grundlegung der Pädagogik. VIII u. 197 S. Tübingen
1905. Lauppsche Buchhandhmg. 3 ^ 60 ^.
Seilliere, Ernest, Apollo oder Dionysos? Kritische Studie über Fried-
rich Nietzsche Autorisierte Übersetzung von Theodor Schmidt. XII
u. 317 S. Berlin 1906. H. Barsdorf. geh. 7 Ji^ geb. 8 ^ 50 ^ u. 9 ^.
Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend. Ins Deutsche übertragen
und mit einer Einleitung versehen von Paul Ziertmann, Oberlehrer.
(Philosophische Bibliothek Bd. iio.) XV u. 122 S. Leipzig 1905.
Dürrsche Buchhandlung, geh. i ^ 40 ^.
Sie BERT, Dr. O.. Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hesel.
Ein Handbuch zur Einführung in das philos. Studium der neuesten ^it.
a. verm. u. verb. Aufl. X u. 598 S. Göttingen 1905. Vandenhoeck &
Ruprecht. 10 Jt geb. 11 Ji,
Spaventa, Bertrando, Da Socrate a Hegel. XVI u. 432 S. Bari 1905.
Gius. Laterza & Figli.
Spengler, Dr. phil. Oswald^ Heraklit. Eine Studie über den energetischen
Grundgedanken seiner Philosophie. 5a S. Halle 1904. C. A. Käm-
merer & Co.
Terwin, Johannes, Wanderungen eines Menschen am Berge der Erkenntnis.
Philosophische Skizzen. ia6 S. Zürich 1905. Art. Institut Orell Füssli.
3 «^•
Unger, Dr. phil. Rudolf. Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange
seine Denkens. Grundlegung zu einer Würdigung der geistesgesichtlichen
Stellung des Magus im Norden. VII u. 272 S. München 1905. C. H.
Becksche Verlagsbuchhandlung. 6 ^ 50 ^.
Del Vecchio, Prof. Giorgo, Diritto e Personalitä umana nella Storia del
Pensiero. Prolusione al Corso di Filosofia del Diritto neir Universita di
Ferrara. 32 S. Bologna 1904. Zamorani e Albertazzi.
— II Comunismo Giuridico del Fichte. Nota critica. (S.-A. aus yRivista
ItaUana di Sociologia". IX, i.) 8 S. Roma 1905.
— L'Etica evoluzionista. Nota critica. (S.-A. aus ,,Rivista Italiana di Socio-
logia**. VI, 5~6). 8 S. Roma 1905.
— 1 Presupposti Filosofici della Nozione del Diritto. 192 S. Bologna 1905.
Zanichelli.
Verworn, Max, Prinzipienfragen in der Naturwissenschaft. 28 S. Jena
1905. Gustav Fischer. 80 1^.
Volkelt, Johannes, Was Schiller uns heute bedeutet. Ein Nachwort
zur SchiUerfeier. 26 S. Leipzig 1905. Edelmann.
Vossler, Karl, Sprache als Schöpfung; und Entwicklung. Eine theoretische
Untersuchung mit praktischen Beispielen. VIII u. 154 S. Heidelberg 1905.
Carl Winters Universitätsbuchhandlung. 4 J6.
Weise, Prof. Dr. O , Kurzer Abriss der Logik und der Psychologie für höhere
Lehranstalten. 26 S. Leipzig und Berlin 1905. B. G. Teubner. 50 ^.
Wentscher, Max, Ethik. IL Teil. XII n. 396 S. Leipzig 1905. Joh.
Ambr. Barth.
Wihan, Prof. R., Veritas, Organ zur Feststellung der Wahrheit in den
wichtigsten Fragen der Menschheit und zur Herstellung eines geistigen
Kontaktes aller Denker, i. Jahrg. No. 11, 12, 13. Trautenau 1905. Selbst-
verlag des Herausgebers.
Wilhelmi, Rudolf, Das Geschlechtsleben eine Kunst 102 S. Berlin und
Leipzig 1905. Paul Speier & Co.
W INTELER, Allerhand neue und alte Gedanken über die Weltordnung.
2. Aufl. X u. 127 S. Zürich und Leipzig 1905. Th. Schröter.
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214
NEU EINGEGANGENE SCHRIFTEN. AUS ZEITSCHRIFTEN.
Wüst, Fritz, Eine Entgegnung auf pDie Grundlagen des 19. Jahrhunderts
von Houston Stewart Chamberlain''. 3. Aufl. 245 S. Stuttgart 1905.
Strecker & Schroeder. geh. 3 Jt^ geb. 4 M.
Zerbst, Dr. Max, Zu Zarathustra! 2 Vorträge. 81 S. Leipzig 19G5.
C. G. Naumann.
Aus Zeitschriften.
Annales de Philosophie Chr^tienne (L. Laberthonniere). Paris
i?o5- VT^'Ann^e. No. 1: La Redaction, Notre programme. —
Birot, Le röle de la philosophie religieuse au temps präsent. —
Duhem, Physique de croyant. — Mallet, L*oeuvre du Cardinal
Dechamps et la m6thode de l'Apologetique. — Bibliographie. — Reimes
des revues. — Renseignements et nouvelles. — Livres refus.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung: Archiv für Geschichte der Philosophie (L. Stein),
Berlin 1905. XVIII. Band, Heft 4: Gomperz, Piatons Ideenlehre.
— Lindsay, Some Criticisms on Spinoza*s Ethics. — Wapler, Die
geschichtlichen Grundlagen der Weltanschauung Schopenhauers (Schluss).
— Maldidier, Bossuet probabiliste. — Lorenz, Weitere Beiträge
zur Lebensgeschichte Georg Berkeleys. — Jahresbericht über sämtliche
Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie:
v. Struve, Die polnische Philosophie der letzten 10 Jahre. — Di^
neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie.
(Forts.). — Eingegangene Bücher. — Zeitschriften.
XIX. Band, Heft 1: Weidel, Mechanismus und Teleologie in der
Philosophie Lotzes. — Salinger, Kants Antinomien und Xenons Be-
weise gegen die Bewegung. — Jahresbericht über sämtliche Erschei-
nungen auf dem Gebiete der Geschichte der Philosophie: Struve
(Schluss). — Die neuesten Erscheinungen etc. — Eingegangene Bücher.
— Zeitschriften.
II. Abteilung: Archiv für systematische Philosophie (L. Stein).
Berlin 1905. XI. Band, Heft 3: Leser, Über die Möglichkeit der
Betrachtung von unten und von oben in der Kulturphiiosophie. —
Müller, Quellen und Ziele sittlicher Entwickelung. — Hotfmann,
Exakte Darstellung aller Urteile und Schlüsse. - Planck, Das Problem
der morJEÜischen Willensfreiheit — Posch, Ober einige metaphysische
Ansichten. — Jahresbericht über sämtliche Erscheinungen aut dem Ge-
biete der systematischen Philosophie: A. Tumarkin, Bericht über die
deutsche ästhetische Literatur aus den Jahren 1900— 1905. — Die nettesten
Erscheinungen auf dem Gebiete der systematischen Philosophie. —
Zeitschriften. — Eingegangene Bücher.
Archives de Psychologie (Flournoy et Claparede). Geneve 1905.
Tome V, No. 17: James, La notion de conscience. — Claparede,
La Psychologie compar^e est-elle l^gidme? — Miller, Quelques faits
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AUS ZEITSCHRIFTEN.
215
d'iniagination cröatrice subconsciente. — Bibliographie, — Publications
refues. — Notes diverses.
Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie(E.CoMMER).
Paderborn 1905. XX. Band, Heft i: Glossner, Theologisches,
Philosophisches und Verwandtes. — Rolf es, Zur Kontroverse Ober
den Wortlaut des Textes in der philosophischen Summa des hl. Thomas
i,iq: „Ergo ad quietem unius partis eius (non) sequitur quies totius".
V. Ho) tum, Die „Contritio'' in ihrem Vernältnis zum Busssacrament
nach der Lehre des hl. Thomas. — Graf, Philosophisch-theologische
Schriften des Paulus Al-Rfthib, Bischofs von SidoR. — Ter Haar, Das
Dekret des Papstes Innocenz äI. tlber den Probalismus. — Pietkin,
Zur amerikanischen Psychologie. — Literarische Besprechungen.
Heft 2: Glossner, W. v. Humboldts Sprachwissenschaft in ihrem Ver-
hältnis zu den philosophischen Systemen seiner Zeit. — Graf, Philo-
sophisch-theologische Schriften des Paulus Al-Rähib, Bischofs von Sidon
(Forts.). — Literarische Besprechungen.
The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific
Methods (Woodbridge). Lancaster, Pa. and New York 1905.
Vol. II, No, 13: Lloyd, The Personal and the Factional in the Life
of Society. — Woodbridee Riley, Recent Theories of Genius. —
Discussion: Davies, Mr. Jonnston*s Review of „An Analysis of Elemen-
tary Psychic Process". — Reinews and Absiracts of Liter aiure. — Journals
and New Books. — Notes and News.
No. 14: Boodin, The Concept of Time. — Leighton, Seif and Not-
Self in Primitive Experience. — Societies: Lovejoy, Fifth Annual
Meeting of the Western Philosophical Association. — Keviews usw.
No. 15: Dewey, The Postulate of Immediate Empiricism. — Tower,
A Neglected -Context* in Radical Empiricism. — Ogden, The Esthetic
Attitüde.. — Reviews usw.
No. 16: Tower, The Total Context of Transcendentalism. — Herrick,
A Functional View of Nature as Seen by a Biologist. — Reviews usw.
No. 17: Pitkin, The Psychology of Etemal Truths. — Osborn, The
Ideas and Terms of Modem JPhüosophical Anatomy. — Discussion:
Alexander, Quantity, Quality, and the Function of Knowledge. —
Reviews usw.
No. 19: Swenson, The Category of the Unknowable. — Stoops, The
Psychology of Religion. — Discussion: Bake well. An Open Letter to
Professor Dewey concerning Immediate Empiricism. — Reviews usw.
No. 20: An gell, Psychology at the St. Louis Congress. — Thorndike,
Measurement of Twms. — Review usw.
No. 21: Bush, An Empirical Definition of Consciousness. — Pillbury,
An apparent jContradiction in the Modem Theory of Judgment. —
Discussion: — Reviews usw.
No. 22: Franz, The Reeducation of an Aphasie. — Discussion:
Dewey, Immediate Empiricism. — Pitkin, iJniversals: A criticism.
— Reviews usw.
Mind. (Stout.) London 1905. Vol. XIV. NewSeries. No. 55: Hoernlö,
Pragmatism v. Absolutism (1.) — Smith, The Naturalism of Hume (II.)
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2i6 AUS ZEITSCHRIFTEN.
— Schiller, Empiricism and the Absolute. — Roberts, Plato's View
of the Soul. — - Mac Coli, Symbolic Reasoning (VII.). — Discussion:
Russell, The Existential Import of Propositions. — Criticai NoÜces, —
New Books. — PhiiosophicaJ Periodicals, — Notes and Correspondence,
No. 56: Hoernl^, Pragmatism v, Absolutism (11.). — Russell, On
Denoting. — Boyce Gioson, Predetermination and Personal Endea-
vour. — Mellone, Is Humanism a Philosophical Advance? — Criticai
Notices. — New Bocks. — Philosophical Periodicals. — Notes.
The Monist (Carus). Chicago 1905. Vol. XV, No. 4: Peirce. The
Issues of Pragmatism, — - Carus, Chinese Occultism (Illustrated). —
Andrews, Ma^ic Squares (Concluded). — Bedineer Mitchell, The
Problem of Unity and the Noetic Power of the Heart — Godbey,
The Semitlc City of Refuge. — Mc. Farland, A Mathematical Analogy
in Theological Reasoning. — Criticisms and Discussions. — Book Reviews.
Philosophisches Jahrbuch (Gutberlet). Fulda 1905. XVIII, Band,
Heft 4: Adlhoch, Zur wissenschaftlichen Erklärung des Atheismus
(Schluss). — Haas, Über den Unterschied, näherhin über den Unter-
schied von Wesenheit und Dasein. — Hol tum. Die scholastische Philo-
sophie in ihrem Verhältnis zu Wissenschaft, Philosophie und Theologie
mit besonderer Berücksichtigung der modernen Zeit. — Seh midiin.
Die Philosophie Ottos von Freismg (Schluss). — Dyroff, Das Selbst-
bewusstsein. — Rezensionen und Referate. — Zeitsckri/tenschau. — Mis-
Zellen und Nachrichten.
The Philosophical Review (Creighton, Albee, Seth). Lancaster,
Pa. 1905. Vol. XIV, 5: Sorley, The Method of a Metaphysic of
Ethics. — Becher, The Philosophical Views of Ernst Mach. — Ladd,
Philosophy in the Nineteenth Century (11.). — de Laguna, Stages of
the Discussion of Evolutionary Ethics. — Reviews of Books. — Notices
of New Books. — Summaries of Artkles. — Notes.
6: Urban, Appreciation and Description and the Psychology of Values.
— Leighton, The Psychological Seif and the actual Personality. —
Bode, The Concept of Pure Experiment. — Discussion: Sabine, Ra-
dical Empiricism as a Logical Method. — Notices of New Books. —
Summaries of articles. — Notes.
The Psychological Review (Baldwin, Warren, Judd). Mono-
graph Supplements. Lancaster Pa. 1905. Vol. VII, No. 2.
Pace, Psychological Studies from the Catholic University of America.
— Dubray, The Theory of Psychical Dispositions.
Przeglad Filozoficzny. Warschau 1905. Bd. VIII, Heft 3: Jawic,
Jugements ndgatifs et affirmatifs. — Kozlowski, Individuel et Social.
— Revue criHque. — Supplement: Sommaire Ideologique des ouvrages de
Philosophie Polonaise Nr. 2.
Revue de M^taphysique et de Morale (X. Lf:oN). Paris 1905.
13®. annde, No. 4: Espinas Xönophon: L'economie naturelle et
rimperialisme h^ll^nique. — Belot, En guete d'une morale positive
(Suite). — Winter, Metaphysique et logique mathömatique. — Dis-
cussion: Boutroux, Correspondance mathematique et relation logique.
— Etudes critiques: Lacombe, Taine historien litt^raire. — Questtons
pratiques: Lanson, Le droit du pere de famille et le droit de Tenfant.
— Nicrologie, — Livres nouveaux. — Retmes et piriodiques. -— Thises
de doctoral.
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AUS ZEITSCHRIFTEN, 217
Revue N^o-Scolastique (Mercier). Louvain 1905. 12*^. annde,
No. 3: Cevolani, „Utraque si praemissa neget, nihil inde sequetur"?
Piat, Dieu, d*apres Piaton (suite). — Nys, Discussion sur certaines
thdories cosmologiques (suite;. — Mercier, Apropos de i'enseigement
de la scolastique. — MSlanges et Documents: Ned, Le mouvement
philosophique en Belgique depuis 1830. — Pelzer, Le pfere Henri Suso
Denifle des Freres-Precheurs (1844—1995). — Bulletin de ^Institut de
Philosophie: II. Liste des etudiants admis aux grades pendants l'annee
1905. — III. Nominations et concours. —- Comptes Renaus. — Ouvrages
envoyis ä la Redaction,
Revue philosophique de la France et de TEtranger (Ribot).
Paris 1905. XXX. Bd., No. 7 (No. 6 ist nicht eingegangen):
De Montmorand, Les dtats mystiques. — Schinz, La question
d*une langue internationale artificielle. — Le Dantec, La m^thode
pathologique (2« et dernier articlö). — Rageot, Le V« congres inter-
national cfe Psychologie. — Analyses et comptes rendus. — Notices biblio-
graphiques.
No. 8: Worms, La philosophie sociale de G. Tarde. — Schinz, La
question d'une langue internationale artificielle (2« et demier article). —
Lacombe, La psychologie de Taine appliqu^e ä Thistoire litt^raire. —
Analyses et comptes rendus. — Reime des piriodiques etrangers. — Corre-
spondance. — Aicrologie.
No. 9: Gignoux, Le röie du jucement dans les phönom^nes affectivs.
— de la Grasserie, La psycnologie de TArgot. — Girsard, Sur
l'expression num^rique de 1 intelligence des esp^ces animales. — Truc,
Une Illusion de la conscience morale. — Notices bibliographiques.
No. 10: Sollier, La conscience et ses degrös. — Bos, Les ddments
affectivs du language. — Draghicesco, De la possibilitd des sciences
sociales. — Matienzo, La logique comme science objective. — Reime
critique. — Analyses et comptes rendus. — Revue des piriodiques etrangers.
No. 11: Richard, Les lois de la solidarit^ morale. — Dugas, Sur
les abstraits ^motionnels. — Gaultier, La moralite de l'art. — Revue
generale: Picavet, Le mat^rialisme historique et son Evolution. —
Analyses et comptes rendus. — Revue des piriodiques itrangers.
Revue de Philosophie (Peillaube). Paris 1905. 5* annee. No. 7:
iames: La Religion comme fait psychologique. — de Lapparent,
es Fondements de la m6canique. — Motora, Essai sur la philosophie
Orientale. — Vurgey, Apercus esthötiques. — Dessoulavy, Le Prag-
matisme. — Analyses et Comptes rendus. — Periodiques. — UEnseigne-
ment plnlosophique.
No. 8: Noblet, De la culture de Timagination morale. — Breuil,
L'art ä ses debuts. — de Back, La th^se associationniste ou intel-
lectualiste en pathologie mentale. — Vaschide, V^ Congrfes international
de Psychologie. — Lubecki, £tude philosophique sur la morale catho-
lique. — Analyses et Comptes rendus. — Piriodiques.
No. 9: Desvall^es, La science et le r6el. — Bernies, Obsessions
et Possessions. — Vaschide, V« Congres international de psychologie
(Fin.). — Analyses et Comptes rendus. — Piriodiques.
No. 10: Grasset, Le Psychisme inf^rieur et la responsabilite. —
Desvalldes, La science et le reel (Fin.). — Kozlowski, La concep-
tion de force est-elle un d^faut de la möcanique? — Cartier, Revue
critique de morale (3* article). — Analyses et Comptes rendus. — Pirio-
diques. — U Enseignement philosophique.
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2i8 AUS ZEITSCHRIFTEN.
No. II : Hermant, La Conscience. — Warrains, La logique de la
beaut^. — Bernies, L'origine des id6es. — deLubecki, Caractdre
de Test^tiqae polonaise. — Lettre de M. le comte de Vorges. — Analyses
et Comptes rendus, — Piriodiqtus.
No. 12: S^rol, Analyse de Tattention — Boucaud, L'initiative pjer-
sonelle et Tautorit^ sociale. — Dr. de Bück: La th^se associationniste
ou intellectualiste en paüiologie mentale (Fin). — Vaschide, La per-
sonnalitö humaine. — r. de Pascal, Revue de Sociologie. — Anatyses
et Comptes rendus, — Uenseignement pkilosopkique.
Rivista di Filosofia e Science Affini (Marchesini). Padova 1905.
Vol. II, No. I — 3: Ardigö, Marchesini, Rabzoli, Mondolfo,
L*insegnamento liceale della Filosofia (I. La scuola classica e la Filosofia.
— IL 1 critert pedagogici. — III. In Italia e in Francia. — IV. Consi-
derazioni pratiche). — Ardigö, Monismo metafisico e monismo seien-
tifico. — Dandolo, Studi di Psicologia gnoseologica. — Marchesini,
La Filosofia come „Poesia sofisticata''. -— Ferro, Considerazioni sulla
storia della Filosofia. — Mazzalorso, II concetto di pena in H. Spencer.
— Tarozzi, Alcuni appunti sulla (üdattica matetnatica. — Marche-
sini, Per la critica della „Finzioni dell* anima^. — Marsili, Nella Pe-
dagogia ufficiale. — Eass^na di filosofia scientifica. — Anaiisi e Cenm.
— Nötigte e Sommari di Kiviste usw.
Rivista Filosofica (Cantoni e Juvalta). Pavia 1905. Band VIII.
Heft 4: Tuvalta, Per una scienza normativa morale. — Bonfiglioli,
La Psicologia di Tartulliano nei suoi rapporti coUa Psicologia Stoica. —
Pagano, Vicende del termine e del concetto di legge nella Filosofia
Naturale. — Montanelli, II Meccanismo delle emozioni. — Bonatelli,
Multa renascentur (Apologo). — Rassegtia BiÖlio^rafica. — Pto Phäo-
Sophia (Nicoli, La Filosofica nei Ginnasi Prussiani) — Notiede e Pub-
blicaeioni. — Necrologio (P. de Nardi). — Sommari delle reviste stromere,
— Libri ricevuti,
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und
Sociologie (Barth). Leipzig 1905. XXIX. Jahrgang. Heft 3:
Adler, Bemerkungen über die Metaphysik in der Ostwaldschen Ener-
getik. — Alexejeff, N. W. Bugajew und die idealistischen Probleme
der Moskauer mathematischen Schule. — Geissler, Ober Lehren vom
Wesen des Seins, besonders in neuester Zeit. — Besprechungen. —
Philosophische Zeitschriften. — Bibliographie,
Heft 4: Planck, Die Grundlagen des natürlichen Monismus bei Karl
Christian Planck (Schluss). — Schallmayer, Zur sozial wissenschaft-
lichen und sozialpolitischen Bedeutung der Naturwissenschaften, be-
sonders der Biologie. — Besprechungen. — Philosophische Zeitschriften,
— Bibliographie.
Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik (Flügel und Rein).
Langensalza 1905. XU. Jahrgang, Heft 6: Lobsien: Kind und Kunst
(Schluss). — Stimmen zur Reform des Religionsunterrichts (Fortsetzung).
Mitteilungen. — Besprechungen, — Fachpresse,
Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und
Hygiene (Kemsies und Hirschlaff). Berlin 1905. VII. Jahr-
gang, Heft 3: Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der Kinder-
lügen und Kinderaussagen. I, II, in, IV, V. — Ben da, Besonderheiten
in Anlage und Erziehung der modernen Jugend 11 (Schluss). —
Sitzungsberichte, — Berichte und Besprechungen, — Mitteilungen. —
Bibliotneca-pado-psychologica.
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AUS ZEITSCHRIFTEN.
219
Zeitschrift für Psychologie undPhysiologie derSinnesorgane
(Ebbinghaus und Nagel). Leipzig 1905. Band XXXVIII, Heft 4:
Th. Lipps, Zur Verstfindigung über die geometrisch -optischen Tau-
schunden. — Sternberg, uTtQmliches und Tatsächliches aus der Phy-
siologie des süssen Geschmackes. — Literaturbericht.
Heft 5 u. 6: LiteraturberichL Hirschlaff, Bibliographie der psycho-
physiologischen Literatur des Jahres 1903. — Ntimenverzmchnis der
Bwliographie. — Namenregister.
Band XXXIX, Heft i u. 2: Weygandt, Experimentelle Beitrage zur
Psychologie des Schlafes. — Giering, Das Augenmass bei Schulkindern.
— Na^el u. Piper, Über die Bleicnung des Sehpurpurs durch Lichter
verschiedener WellenlAnge. — Nagel, Dichromadscne Fovea, trichro-
matische Peripherie. — Fick, Über die Verlegung der Netzhautbilder
nach aussen. — Besprechungen. — LitereUurbericht.
Heft 3: Heilbronner, Zur Frage der motorischen Asymbolie (Apratie).
Alexander-Schafer, Zur Frage der Beeinflussung des Gedächtnisses
durch Tuschreize. — Literaturbericht.
Heft 4. u. 5: Stumpf, Über zusammengesetzte Wellenformen. —
Stumpf, DifTerenztöne und Konsonanz. — Angier u. Trendelen-
burg, Bestimmungen über das Mengenverhältnis komplementärer Spek-
tralfarben in Weissmischungen. — Giessler, Das Ich im Traume nebst
einer kritischen Beleuchtung der Ich -Kontroverse. — R6v6sz, Wird
die Lichtempfindlichkeit eines Auges durch gleichzeitige Lichtreizung
des andern Auges verändert? — Stiele r. Beitrage zur Kenntnis von
der entoptischen Wahrnehmung der Netzhautgefasse. — Stigler, Eine
neue subjektive Gesichtserschemung. — Literaturbericht.
Heft 6: Peters, Aufmerksamkeit und Zeitverschiebung in der Auf-
fassung disparater Sinnesreize. — Angier, Die Schätzung von Be-
wegungsgrOssen bei Vorderarmbewegungen. — Seashore, Aufmerk-
samkeitsschwankungen. — Literaturbericht.
Band XXXX. Heft i u. 2: Marty, Über Annahmen. ~ Alexander-
Schaf er, Zur Frage über den zeitlichen Verlauf des Gedachtnisbildes
für verschiedene Sinnesreize (mit 6 Tafeln). — Müller, Über den
Einfluss der Blickrichtimg auf die Gestalt des Himmelsgewölbes. —
Literaturbericht.
Heft 3: Saxinger, Beitrage zur Lehre von der emotionalen Phantasie.
— Lorta, Untersuchungen über das periphere Sehen. — Lohmann,
Über den Wettstreit der Sehfelder und seine Bedeutung für das pla-
stische Sehen. — Literaturbericht.
Heft 4: Clifton of Tailor, Über das Verstehen von Worten und
Sätzen. — Schneider, Die Orientierung der Brieftauben. — Literatur-
bericht.
Die Dorfschule. Halbmonatsschrift ausschliesslich für die Interessen
der Landschule und ihrer Lehrer (Melinet). Langensalza 1905.
I. Jahrgang. No. 11 — 17. Philosophisches und Pädagogisches:
No. 11: KOster, Die Bedeutung des Gothaischen Schulmethodus hin-
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220 ^US ZEITSCHRIFTEN.
sichtlich seiner Fortschritte gegen das damalige Unterrichtsverfahren.
— No. 13 : Koste r, Die Becfeutung usw. (Schiuss). — No. i6: Bern-
heim, Ober die Solidarität aller Unterrichtsstufen.
Leonardo (Rivista d'Idee). Anno III. (Seconda Serie.) Firenze
1905. Philosophisches: James, La Concezione Della Coscienza. —
Falco, Friedrich Nietzsche. — - Neal, Per L*Ospite Velato E Presente.
— Sera, II preteso paralogismo psico-fisiologico. — Papini, La logica
di B. Croce. — Papini, Gli Psicologi a Roma. — Calderoni, Papini.
Vailati, Credenze e Volontä. — Scherntaglie. — Alleati e Nemici.
Neue Bahnen, Zeitschrift für Erziehung und Unterricht. (Hiemann,
Lindemann, Schulze.) Leipzig 1905. 17. Jahrgang. Heft i.
Philosophisches und Pädagogisches: Schubert, Bureaukratismus
in der Schule. — Schmarsow, Gymnastik und Kunstsinn. — Pabst,
Wirklichkeitsunterricht.
Heft 2. Göhler, Die Musik im Leben des Kindes. — Kraner, Was
singen unsre Kinder? — Der dritte Kunsterziehungstag. — Anthes,
Genuss und Arbeit in der Erziehung.
Heft 3: Tuch, Weihnachtsfreude zu Hause und in der Schule. —
Gansberg, Das Fibelproblem. — Kontroverspredigt eines Vaters: Der
Christbaum als Erzieher. - Kückenhörner, Volksschulideale. —
Pudor, Moralunterricht in Japan.
Heft 4: Rudolf Schulze, Die Mimik der Kinder beim künstlerischen
Geniessen. — Dr. MaxBrahn, Entwicklung und Bedeutung der experi-
mentellen Psychologie.
Wochenschrift für klassische Philologie. (Andresen, Draheim,
Härder.) Berlin 1905. XXII. Jahrgang, No. 26 — ^45.
Allgemeines Literaturblatt. (Schnürer.) ..Wien 1905. XIV. Jahr-
gang, No. 12 — 20.
Besprechungsexemplare ftlr die JSeitsohrift für Philosophie und philoso-
phische Kritik" sind nicht an den Herausgeber, sondern ausschliesslich an
R. Voigtländer* Verlag in Leipzig zu senden.
Herausgeber und Verlag übernehmen keine Garantie bezüglich der Rück-
sendung unverlangt eingereichter Manuskripte und Drucksachen!
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalte dieser Zeitschrift ist verboten.
Übersetzungsrecht vorbehalten!
Verantwortlicher Herausgeber Professor Dr. L. Busse in Manster i. W.
Ei^ntuxn vun R. VoigtUnder» Verlag in Leipzig. — Druck von Radelli ft Hille in Leipzig.
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r'
FÜR
PHILOSOPHIE
'HILOSOPHISCHE KRITIK
nrHTE-UtRICI'
DR H. SIEBECK DR. J. VOl T
DR. R. FA
'.ERO
DR, LUDWIG Bt
BAND t27 HBPT 2
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LimWTO COLDSCHMIDT ,
H MOEMANM
Dl« WiUtöifrcmclt.
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